Geschichte des globalen Christentums: Teil 2: 19. Jahrhundert 9783170315037, 9783170315044, 9783170315051

The way in which the world's religions are intertwined in the dynamics of global development has become obvious in

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German Pages 583 [584] Year 2017

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Table of contents :
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Titelseite
Impressum
Inhalt
Vorwort
Das globale Christentum im 19. Jahrhundert
Einführung in Band II
Die Revolutionen und die Kirche: Die neue Ära der Moderne
1. Eine neue Ära?
2. Revolution und Krieg
2.1. Die Revolution
2.2. Säkularisierung und Erweckung
3. Der Triumph der Konservativen
3.1. Die Restauration
3.2. Die Liberalen
3.3. Die Suche nach Religionsfreiheit
3.4. Konflikt und Konversion
3.5. Feminisierung?
3.6. Die Situation auf dem Land
3.7. Die Industrialisierung Großbritanniens
4. 1848
4.1. Das Jahr der Revolutionen
4.2. Kirchliche Strömungen
4.3. Widerstand gegen die Säkularisierung
4.4. Nationalismus
4.5. Die soziale Revolution
5. Die Morgenröte der Demokratie
5.1. Religion und Politik
5.2. Die "Ghettos"
5.3. Die Soziale Frage
6. Europa in einer globaler werdenden Welt
6.1. Imperialismus und Mission
6.2. Die neue Vielfalt
7. Fazit
Katholizismus, Europäischer Ultramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil
1. Déchristianisation und Gewalt: Die Französische Revolution als Ur-Ereignis der europäischen Christentumsgeschichte
2. Typen des Konflikts: Europas Katholizismen und die Moderne seit dem frühen 19. Jahrhundert
2.1. Deutschland: Säkularisation, Staatskirchentum und die strittige Mentalität des Ultramontanismus
Säkularisation und Staatskirchentum
Romantik und Ultramontanismus
Neuthomismus und Mystizismus einer "Theologie der Vorzeit"
Gemäßigter Ultramontanismus und Widerstand gegen die päpstliche Unfehlbarkeit
2.2. Frankreich: Ultramontanismus und Laizismus
2.3. Italien: Ultramontanismus gegen das Risorgimento der nationalen Einigung
2.4. Belgien: Ultramontanismus im Rahmen der liberalen Volksdemokratie
2.5. Der Minderheiten-Katholizismus der anglophonen Welt
3. Ultramontanismus und Infallibilität: Das Erste Vatikanische Konzil
3.1. Das Setting des Konzils
3.2. Startbedingungen und Debatten - Majorität und Minorität
3.3. Deutungen der Konstitution Pastor aeternus
4. Kulturkampf und Modernismuskrise: Der europäische Katholizismus nach dem Ersten Vatikanischen Konzil
4.1. Deutschland, der Kulturkampf und das "Katholische Milieu"
Altkatholizismus, Krieg und Kulturkampf
Das "katholische Milieu"
4.2. Frankreich, das Ralliement und die Trennung von Staat und Kirche
4.3. Europas Theologie zwischen Modernismus und Antimodernismus
Literatur
Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert (vom späten 18. Jahrhundert bis 1914)
1. Die Ursprünge des protestantischen Interesses an der Mission
2. Die Rekrutierung und Ausbildung der Missionare
3. Die Missionsstation: Familie, Geschlecht, Frauen, Kinder
4. Der missionarische Auftrag: Die Übersetzung der Bibel und die kulturelle Begegnung
5. Protestantische christliche Erziehung
6. Die "Euthanasie der Mission"
7. Die Missionen und der Kolonialismus
8. Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh im Jahr 1910
Literatur
Das Christentum in Russland 1700-1917
1. Russlands Konturen vom frühen 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert
2. Die Reformen Peters des Großen
2.1. Die Kirchenreform Peters des Großen
2.2. Das Synodale System in der Praxis im 18. und 19. Jahrhundert
Das 18. Jahrhundert
Das 19. Jahrhundert
3. "Fremde Religionen": Von der Norm abweichende christliche Konfessionen
4. Orthodoxe Mission
5. Christliches Denken und Spiritualität in der Synodalzeit
6. Die Orthodoxe Kirche im frühen 20. Jahrhundert
Literatur
Das Christentum im Nahen Osten zwischen 1799 und 1917
Eine Vorbemerkung zum Begriff "Naher Osten"
1. Die Kirchen unter osmanischer Herrschaft
1.1. Die Landkarte der Kirchen im Osmanischen Reich im frühen 19. Jahrhundert
1.2. Die sozialen Gegebenheiten für das Christentum im Nahen Osten um die Mitte des 19. Jahrhunderts
1.3. Das Millet-System
1.4. Die Ära von Muhammad Ali und der Tanzimat
2. Die protestantischen Missionen und die Entstehung der protestantischen Kirchen
2.1. Die erste protestantische Kirche in Palästina
2.2. Die protestantische Kirche im Libanon
2.3. Die protestantische Kirche in Ägypten
2.4. Die protestantische Kirche im Irak und am Persischen Golf
3. Die Reaktion der Kirchen im Nahen Osten auf die protestantischen Missionen und die Entstehung der protestantischen Kirchen
3.1. Angriffe und Verfolgung
3.2. Die Reaktion in Jerusalem
3.3. Eine "Gegenreformation" als Reaktion auf die Protestanten
4. Die Umgestaltung der christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten des 19. Jahrhunderts
4.1. Die Revolution der Presse
4.2. Sozioökonomische Veränderungen
4.3. Die Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten
5. Die Folgen des Imperialismus
5.1. Kolonialismus
5.2. Nationalismus
5.3. Zionismus
Literatur
Das Christentum in Nordamerika im 19. Jahrhundert
1. Die Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten und Kanada
2. Pluralismus und Toleranz
3. Christliche Nationen
Literatur
Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert
1. Das christliche Asien um 1800
2. Südasien (Schwerpunkt Indien): Mission als Faktor der Modernisierung
2.1. Serampore
2.2. Stationen der Missions- und Kolonialgeschichte
2.3. Mission als Faktor der Modernisierung
2.4. Reaktionen, Rezeption und Impulse außerhalb der Missionskirchen
2.5. "Pioneers of Indigenous Christianity"
2.6. Mass Movements
2.7. Indische Christen als "progressive community"
2.8. Sri Lanka
2.9. Myanmar
3. Nordostasien (China, Japan, Korea): Opiumhandel und Bibelschmuggel
3.1. China
3.2. Japan
3.3. Korea
4. Thailand, Indochina, Indonesien, Philippinen: Vielfalt kolonialer und außerkolonialer Kontexte
4.1. Thailand
4.2. Vietnam
4.3. Indonesien
4.4. Philippinen
5. Indigene Christentumsvarianten
5.1. Indien: Die Thomaschristen
5.2. Japans "Verborgene Christen"
5.3. China: Die Taiping-Bewegung
5.4. Ausbreitung durch Migranten und Indentured Labourers
6. Transregionale Entwicklungen und Herausforderungen seit 1890
Merkmale der Indigenisierung:
7. Nationalkirchen, Ökumene und Vernetzungen
Literatur
Übergreifend
Indien
China
Japan
Korea
Vietnam
Indonesien
Philippinen
Das Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914
1. Überblick
2. Neue Ansätze in der Mission
3. Kampf gegen die Sklaverei in Westafrika
4. Südliches Afrika
5. Ost- und Zentralafrika
6. Die altorientalischen Kirchen Afrikas
7. Der Wettlauf um Afrika und das stillschweigende Einverständnis der Missionen
8. Afrikanische Reaktionen auf den Kolonialismus
9. Afrikanische spirituelle Erneuerung
10. Fazit
Literatur
Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert
1. Das lange Jahrhundert
2. Die Französische Revolution
3. Aufklärung und kirchliches Leben
4. Kirchliches Leben am Vorabend der Emanzipation
5. Kirche und Emanzipation
6. Die Unabhängigkeit Brasiliens
7. Patronat und Liberalismus
8. Die Krise der Christianitas in Lateinamerika
9. Rom und der lateinamerikanische Katholizismus
Literatur
Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen: Interreligiöse Dynamiken und Entwicklungen im 19. Jahrhundert
1. Zu den interreligiösen Verhältnisbestimmungen im 19. Jahrhundert: Forschungsansätze und Begriffsklärungen
2. Interreligiöse Kontakte und Dynamiken: Ein schlaglichtartiger Überblick
3. Konkretionen
3.1. Indien
Christliche Mission und interreligiöse Fremdwahrnehmung
Die Kastenpraxis als transreligiöses Identitätsmerkmal
Lokale interreligiöse Aushandlungsprozesse
Missionarisch-orientalistische Religionstheorien in Südindien
Die Rezeption missionarisch-orientalistischer Religionstheorien im kolonialen und postkolonialen Diskurs
3.2. Westafrika
3.3. Das Weltparlament der Religionen im Jahr 1893
Literatur
Reflexion und Ausblick
Kurzbiographien der beteiligten Personen in alphabetischer Reihenfolge
Ortsregister
Personenregister
Abbildungsverzeichnis
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Geschichte des globalen Christentums: Teil 2: 19. Jahrhundert
 9783170315037, 9783170315044, 9783170315051

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Die Religionen der Menschheit Begründet von Christel Matthias Schröder

Fortgeführt und herausgegeben von Peter Antes, Manfred Hutter, Jörg Rüpke und Bettina Schmidt

Band 33

Jens Holger Schjørring Norman A. Hjelm (Hrsg.)

Geschichte des globalen Christentums

2. Teil: 19. Jahrhundert

Verlag W. Kohlhammer

Übersetzungen: Norbert Reck

1. Auflage 2017 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-21932-8 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-031503-7 epub: ISBN 978-3-17-031504-4 mobi: ISBN 978-3-17-031505-1 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

INHALT

VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Das globale Christentum im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

EINFÜHRUNG

21

IN

BAND II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hugh McLeod

DIE REVOLUTIONEN

MODERNE . . .

53

1.

Eine neue Ära? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

2.

Revolution und Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Säkularisierung und Erweckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65 65 69

3.

Der Triumph der Konservativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Restauration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die Liberalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Die Suche nach Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Konflikt und Konversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Feminisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Die Situation auf dem Land . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Die Industrialisierung Großbritanniens . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 74 76 80 82 87 92 99

4.

1848 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.

UND DIE

KIRCHE: DIE

NEUE

ÄRA

DER

Hugh McLeod

......................................................... Das Jahr der Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirchliche Strömungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widerstand gegen die Säkularisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die soziale Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

101 101 103 105 115 120

Inhalt

5.

Die Morgenröte der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Religion und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Die „Ghettos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Die Soziale Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 123 129 133

6.

Europa in einer globaler werdenden Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1. Imperialismus und Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Die neue Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

138 138 143

7.

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

KATHOLIZISMUS, EUROPÄISCHER ULTRAMONTANISMUS UND DAS ERSTE VATIKANISCHE KONZIL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Andreas Holzem 1. 2.

3.

4.

Déchristianisation und Gewalt: Die Französische Revolution als Ur-Ereignis der europäischen Christentumsgeschichte . . . . . . . . Typen des Konflikts: Europas Katholizismen und die Moderne seit dem frühen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Deutschland: Säkularisation, Staatskirchentum und die strittige Mentalität des Ultramontanismus . . . . . . . . . . . . . 2.2. Frankreich: Ultramontanismus und Laizismus . . . . . . . . . . 2.3. Italien: Ultramontanismus gegen das Risorgimento der nationalen Einigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Belgien: Ultramontanismus im Rahmen der liberalen Volksdemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Der Minderheiten-Katholizismus der anglophonen Welt Ultramontanismus und Infallibilität: Das Erste Vatikanische Konzil 3.1. Das Setting des Konzils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Startbedingungen und Debatten – Majorität und Minorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Deutungen der Konstitution Pastor aeternus . . . . . . . . . . . . . Kulturkampf und Modernismuskrise: Der europäische Katholizismus nach dem Ersten Vatikanischen Konzil . . . . . . . . . 4.1. Deutschland, der Kulturkampf und das „Katholische Milieu“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Frankreich, das Ralliement und die Trennung von Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Europas Theologie zwischen Modernismus und Antimodernismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

161 163 164 178 184 188 190 194 194 196 200 202 203 215 220

Inhalt

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

DIE PROTESTANTISCHE MISSIONSBEWEGUNG IM 19. JAHRHUNDERT (VOM SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT BIS 1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Kevin Ward 1.

Die Ursprünge des protestantischen Interesses an der Mission

235

2.

Die Rekrutierung und Ausbildung der Missionare . . . . . . . . . . . . .

241

3.

Die Missionsstation: Familie, Geschlecht, Frauen, Kinder . . . . . .

243

4.

Der missionarische Auftrag: Die Übersetzung der Bibel und die kulturelle Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

5.

Protestantische christliche Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

254

6.

Die „Euthanasie der Mission“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

256

7.

Die Missionen und der Kolonialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

8.

Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh im Jahr 1910 . . . . . . . .

264

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

268

DAS CHRISTENTUM

IN

RUSSLAND 1700–1917 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Christian Gottlieb 1. 2.

3.

Russlands Konturen vom frühen 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reformen Peters des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Kirchenreform Peters des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Das Synodale System in der Praxis im 18. und 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271 276 279 289

„Fremde Religionen“: Von der Norm abweichende christliche Konfessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

304

4.

Orthodoxe Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

312

5.

Christliches Denken und Spiritualität in der Synodalzeit . . . . . .

315

6.

Die Orthodoxe Kirche im frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . .

318

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

326

7

Inhalt

DAS CHRISTENTUM

IM

NAHEN OSTEN

ZWISCHEN

1799

UND

1917 . . . . 329

Mitri Raheb Eine Vorbemerkung zum Begriff „Naher Osten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

1.

330

2.

3.

4.

Die Kirchen unter osmanischer Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die Landkarte der Kirchen im Osmanischen Reich im frühen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die sozialen Gegebenheiten für das Christentum im Nahen Osten um die Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . 1.3. Das Millet-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Die Ära von Muhammad Ali und der Tanzimat . . . . . . . . . Die protestantischen Missionen und die Entstehung der protestantischen Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die erste protestantische Kirche in Palästina . . . . . . . . . . . 2.2. Die protestantische Kirche im Libanon . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Die protestantische Kirche in Ägypten . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die protestantische Kirche im Irak und am Persischen Golf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reaktion der Kirchen im Nahen Osten auf die protestantischen Missionen und die Entstehung der protestantischen Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Angriffe und Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die Reaktion in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Eine „Gegenreformation“ als Reaktion auf die Protestanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

330 332 332 333 335 335 338 339 340

340 340 342 343

Die Umgestaltung der christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Die Revolution der Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Sozioökonomische Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Die Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . .

345 345 346 347

Die Folgen des Imperialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Kolonialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Zionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

350 350 351 354

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

358

5.

8

Inhalt

DAS CHRISTENTUM

IN

NORDAMERIKA

IM

19. JAHRHUNDERT . . . . . . . . . . 359

Margaret Bendroth 1.

Die Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten und Kanada

361

2.

Pluralismus und Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

3.

Christliche Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

384

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

397

ASIEN

IM

19.

UND FRÜHEN

20. JAHRHUNDERT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

Klaus Koschorke 1.

Das christliche Asien um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2.

Südasien (Schwerpunkt Indien): Mission als Faktor der Modernisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Serampore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Stationen der Missions- und Kolonialgeschichte . . . . . . . . 2.3. Mission als Faktor der Modernisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Reaktionen, Rezeption und Impulse außerhalb der Missionskirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. „Pioneers of Indigenous Christianity“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Mass Movements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7. Indische Christen als „progressive community“ . . . . . . . . 2.8. Sri Lanka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9. Myanmar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3.

4.

5.

399 403 403 404 405 406 407 408 409 410 410

Nordostasien (China, Japan, Korea): Opiumhandel und Bibelschmuggel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Korea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

411 411 414 417

Thailand, Indochina, Indonesien, Philippinen: Vielfalt kolonialer und außerkolonialer Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Thailand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Vietnam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Indonesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Philippinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419 419 421 423 424

Indigene Christentumsvarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Indien: Die Thomaschristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

427 427

9

Inhalt

5.2. 5.3. 5.4.

Japans „Verborgene Christen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . China: Die Taiping-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbreitung durch Migranten und Indentured Labourers

429 431 432

6.

Transregionale Entwicklungen und Herausforderungen seit 1890

434

7.

Nationalkirchen, Ökumene und Vernetzungen . . . . . . . . . . . . . . . .

440

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

446

DAS CHRISTENTUM IN AFRIKA VOM SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT BIS 1914 . . . 451 Kevin Ward 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

451

2. Neue Ansätze in der Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

455

3. Kampf gegen die Sklaverei in Westafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

458

4. Südliches Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

463

5. Ost- und Zentralafrika

......................................

471

6. Die altorientalischen Kirchen Afrikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

475

7. Der Wettlauf um Afrika und das stillschweigende Einverständnis der Missionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

478

8. Afrikanische Reaktionen auf den Kolonialismus . . . . . . . . . . . . . .

480

9. Afrikanische spirituelle Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

483

10. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

485

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

LATEINAMERIKA

UND DIE

KARIBIK

IM

19. JAHRHUNDERT . . . . . . . . . . . . . 489

Martin N. Dreher 1.

Das lange Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

489

2.

Die Französische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

490

3.

Aufklärung und kirchliches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

491

4.

Kirchliches Leben am Vorabend der Emanzipation . . . . . . . . . . . .

494

5.

Kirche und Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

494

10

Inhalt

6.

Die Unabhängigkeit Brasiliens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

497

7.

Patronat und Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

498

8.

Die Krise der Christianitas in Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . .

503

9.

Rom und der lateinamerikanische Katholizismus . . . . . . . . . . . . .

509

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

513

DAS CHRISTENTUM IM KONTEXT ANDERER WELTRELIGIONEN: INTERRELIGIÖSE DYNAMIKEN UND ENTWICKLUNGEN IM 19. JAHRHUNDERT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Ulrike Schröder & Frieder Ludwig 1.

Zu den interreligiösen Verhältnisbestimmungen im 19. Jahrhundert: Forschungsansätze und Begriffsklärungen . . .

515

Interreligiöse Kontakte und Dynamiken: Ein schlaglichtartiger Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

519

Konkretionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Indien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Westafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Das Weltparlament der Religionen im Jahr 1893 . . . . . . . .

522 522 535 544

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

551

2. 3.

REFLEXION

UND

AUSBLICK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553

Hugh McLeod

KURZBIOGRAPHIEN DER BETEILIGTEN PERSONEN IN ALPHABETISCHER REIHENFOLGE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567

ORTSREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569

PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575

ABBILDUNGSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 11

VORWORT

Am Anfang dieser drei Bände zur Geschichte des Christentums seit der Reformation im 16. Jahrhundert stand der Gedanke, dass die bekannte Reihe Religionen der Menschheit des Kohlhammer-Verlags einer Erweiterung bedürfe. Aus der Sicht der Herausgeber sollte es darum gehen, den Inhalt und die Herangehensweise dieser Bücher aus anspruchsvollen Studien zu gewinnen und im Zusammenwirken aller Beteiligten zu entwickeln. Jens Holger Schjørring, emeritierter Professor für Kirchengeschichte an der Universität Aarhus in Dänemark, wurde vom Kohlhammer-Verlag angefragt, die Leitung dieses Projekts zu übernehmen. Er wiederum bat den amerikanischen theologischen Lektor Norman Hjelm, mit einzusteigen. Beide verband bereits eine lange und fruchtbare Geschichte der wissenschaftlichen Zusammenarbeit, und diese Verbindung besteht fort. Von Beginn an waren sich Schjørring und Hjelm darüber einig, dass die geplanten drei Bände von einer globalen Perspektive getragen und dass die Gruppe der Autorinnen und Autoren international und interkonfessionell zusammengesetzt sein sollte. Mehr als dreißig Wissenschaftler aus Afrika, Asien, Europa, dem Nahen Osten sowie aus Nord- und Lateinamerika beteiligten sich an diesem Projekt. Sie arbeiteten eng zusammen, um den Inhalt ihrer Beiträge aufeinander abzustimmen. Alle bereiteten zu Beginn Entwürfe vor, die dann gemeinsam diskutiert und überarbeitet wurden. Zuletzt aber bestimmten die Autoren selbst über den Inhalt und Stil ihrer Beiträge und sind natürlich selbst für sie verantwortlich. Einer der Autoren, Professor Hugh McLeod von der Universität Birmingham in Großbritannien, hat dieses Projekt – über seine Beiträge für den vorliegenden Band hinaus – schon von der Planungsphase an redaktionell intensiv unterstützt. Es fanden zwei große Autorentreffen statt: eines am Konferenzzentrum der Universität Aarhus im dänischen Sandbjerg im September 2011 und eines an der Universität Göttingen in Deutschland im Mai 2015. Kleinere Gruppen von Autoren trafen sich 2012 in Göttingen und 2013 in Chichester in Großbritannien. Diese Zusammenkünfte wurden durch großzügige Zuschüsse der Universität Aarhus, des Kohlhammer-Verlags, der Universität Göttingen und der George-Bell-Stiftung in Chichester möglich gemacht. Gastgeberin des abschließenden und größten Treffens im Jahr 2015 unter Leitung von Professor Thomas Kaufmann war die Universität Göttingen; finanziert wurde es von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Theologischen Fakultät der Universität.

13

Vorwort

Es spiegelt den globalen Charakter dieses Projekts, dass seine Bände sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch erscheinen. Der Kohlhammer-Verlag bringt die deutschsprachige Ausgabe heraus, und der internationale Wissenschaftsverlag Brill in Leiden und Boston ist für die englischsprachige Ausgabe verantwortlich. Unser Dank gilt Daniel Wünsch vom Kohlhammer-Verlag und Ingrid HeijckersVelt und Tessel Jonquière von Brill. Anke Silomon trug die Verantwortung für die redaktionelle Bearbeitung; Norbert Reck übersetzte die englischen Texte dieses Bandes ins Deutsche, und David Orton steuerte die englischen Übersetzungen der deutschen Beiträge bei. Die mühevolle Aufgabe des Übersetzens erfüllten beide mit großem Sprachgefühl und viel Sachverstand. Neben den schon erwähnten Institutionen und Personen möchten die Herausgeber und Verlage den drei dänischen Stiftungen danken, die dieses Projekt großzügig unterstützt haben: der Velux-Stiftung in Kopenhagen, der Forschungsstiftung der Universität Aarhus und dem G.E.C. Gads Fond in Kopenhagen. In den drei aus diesem Projekt hervorgegangenen Bänden geht es darum, einen umfassenderen Zugang zur Geschichte des Christentums zu finden, der sich von den traditionellen Perspektiven der „Kirchengeschichte“ deutlich abhebt. Selbstverständlich bilden die Kirchen einen wesentlichen Teil dieser Geschichte, doch kann ein institutionell oder dogmatisch eingegrenzter Blick die Auswirkungen des Christentums auf das menschliche Leben nicht ausreichend erfassen. Die Kultur im weitesten Sinne muss mitberücksichtigt werden. Die zahlreichen Wechselbeziehungen zwischen Christentum und Gesellschaft, Politik, Philosophie, Kunst und der Vielzahl von Unternehmungen, in denen sich Zivilisationen, Nationen und menschliche Gemeinschaften herausbilden, dürfen nicht aus dem Blick geraten. Welchen Anteil hat das Christentum an den übergreifenden Strukturen des menschlichen Lebens? Darüber hinaus fragen die drei Bände nach der globalen Entwicklung des Christentums in den vergangenen vier oder fünf Jahrhunderten. War das Christentum zu Beginn dieses Zeitraums – bis auf ein paar Außenposten in anderen Zentren der Welt – auf Europa und Russland begrenzt, so erreichte es auf dem Wege der Mission an der Seite wirtschaftlicher Großmächte sowie durch Eroberungen und Migrationsbewegungen schließlich eine Verbreitung, deren demografische Schwerpunkte an der Schwelle des 21. Jahrhunderts nicht mehr in der nördlichen Hemisphäre liegen, sondern eindeutig im Süden. Die Geschichte dieser globalen Verlagerung nachzuzeichnen ist eines der zentralen Ziele dieses Projekts.

Das globale Christentum im 19. Jahrhundert Die Französische Revolution von 1789 war ein Wendepunkt in der modernen europäischen Geschichte. Das führte dazu, dass das 19. Jahrhundert gemeinhin als „das

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Vorwort

lange Jahrhundert“ bezeichnet wird, das sich von jener Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 erstreckt. Offenkundig waren die zentralen Ideen der Aufklärung, die in der Französischen Revolution umgesetzt wurden, unverwechselbar europäisch. Dennoch kann nicht bestritten werden, dass das Ideal der Befreiung von verschiedenen Formen der „Unterjochung“ früherer Jahrhunderte überall auf der Welt existierten. Diese transkontinentale Realität legt nahe, den Periodisierungen dieser Epoche zurückhaltend zu begegnen. In seiner Einführung in den vorliegenden Band hebt Hugh McLeod hervor, dass die „Christenheit“ um 1800 noch weitgehend auf Europa und Nordamerika begrenzt war – sowie auf wenige andere Länder wie Äthiopien und jene Gebiete, die nach 1500 von den europäischen Eroberern unterworfen wurden, insbesondere Lateinamerika und die Philippinen. Das europäische Christentum selbst war von einer tiefen Spaltung gekennzeichnet – zwischen Ost und West ebenso wie zwischen den katholischen Kirchen das „alten Glaubens“ und den Kirchen der Reformation, dem „neuen Glauben“. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich das Bild radikal gewandelt. Die intensive Verbreitung der christlichen Botschaft hatte die Karte des globalen Christentums umgestaltet und vergrößert. Gleichzeitig war die christliche Identität zum Thema einer dramatischen Kontroverse geworden, sowohl im Hinblick auf die Frage der Emanzipation, die von den neuen politischen Ideologien, vor allem dem Liberalismus und dem Sozialismus, auf die Tagesordnung gebracht wurde, als auch hinsichtlich des Fortschritts der modernen Wissenschaften, die in den Augen vieler die „Christenheit“ überholt erscheinen ließen. Nicht weniger dramatisch verlief in vielen Fällen die Begegnung des Christentums mit anderen Weltreligionen, die vielfach mit den protestantischen Missionen einherging. Wenn das „lange Jahrhundert“ von Neuerungen und Modernität geprägt war, dann könnte es angebracht sein, es aus der Perspektive der Revolutionen zu betrachten, die darauf zielten, alle Spuren des Ancien Régime zu tilgen. Folgte man diesem Argument, wäre die Moderne ein Synonym für Säkularisierung. In seiner genau durchdachten Darstellung aber zeigt Hugh McLeod, dass eine so einseitige Sicht zwangsläufig jenen Tendenzen widerspricht, die in andere Richtungen weisen. Das Jahrhundert war auch Schauplatz einer Reihe von Erweckungsbewegungen, deren Dynamik durchaus den Begriff „Rechristianisierung“ rechtfertigt. Das sich daraus ergebende Oszillieren zwischen äußerer politischer und wissenschaftlicher Kritik einerseits und den Erweckungsbemühungen andererseits muss in der Wechselwirkung mit den sozialen, wirtschaftlichen und demografischen Umwälzungen interpretiert werden, die der langandauernde Prozess der Industrialisierung mit sich brachte. Hinzu kommen die damit zusammenhängenden Kämpfe um politische Partizipation und Demokratie, die Europas unterprivilegierte Klassen führten. Die daraus resultierenden Machtverschiebungen und Reformen hatten auch weitreichende Auswirkungen auf Europas Identität und Rolle unter den Kon-

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Vorwort

tinenten der Welt, wie man aus anderen Beiträgen zum vorliegenden Band ersehen kann. Das Zusammentreffen der Dynamik der Moderne mit dem Christentum nahm im Europa des 19. Jahrhunderts verschiedene Formen an. Die Reaktionsmuster unterschieden sich nicht nur zwischen den europäischen Ländern, sondern auch innerhalb der konfessionellen Familien der Kirchen. Die Römisch-Katholische Kirche war die bedeutendste Gegnerin der Ideen der Französischen Revolution. Aus anfänglichen Konfrontationen auf Leben oder Tod wurden aber bald komplexe Geflechte von Positionen auf beiden Seiten. Es gab sehr unterschiedliche Ausprägungen dieses Konflikts, wie Andreas Holzem in seiner Darstellung des römischen Katholizismus im 19. Jahrhundert zeigt. Eine neue Dynamik entstand aus den spirituellen Aufbrüchen, die oft mit einer tiefen Marienfrömmigkeit einhergingen, und es wurden auch neue Strategien entwickelt, die die Kirche in ihren Auseinandersetzungen mit den neuen Nationalstaaten stärken sollten, wobei insbesondere der Ultramontanismus mit Blick auf das Papsttum eine wichtige Rolle spielte. Diese Erwiderung der Katholischen Kirche auf die Nationalstaaten fand ihren machtvollsten Ausdruck im Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70). Dennoch waren sich Theologen und Kirchenleitungen keineswegs in allen Punkten einig. Deutschland erlebte einen Kulturkampf zwischen der Katholischen Kirche und der neuformulierten Idee eines Deutschen Reichs. In Frankreich spitzte sich der Konflikt immer weiter zu, bis er in den Gesetzen zur Trennung von Kirche und Staat (1905/06) kulminierte. Die globale Dimension des Christentums erfuhr im Laufe des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche Erweiterung. Es ist eine Tatsache, dass es außerhalb Europas autochthone Kirchen gab und gibt, deren Wurzeln bis in frühkirchliche Zeiten zurückreichen, und es stimmt ebenso, dass die Globalisierung des Christentums in der Ära der spanischen und portugiesischen Kolonialisierung einen ersten Höhepunkt erreichte, der bereits in Band 1 dieser Trilogie beschrieben wurde. Zudem kam es im 18. Jahrhundert zu einer Reihe missionarischer Anstrengungen seitens europäischer protestantischer Kirchen, vor allem solcher mit pietistischem Hintergrund. Doch es war das 19. Jahrhundert, dessen große Bandbreite missionarischer Expeditionen schließlich die Landkarte des globalen Christentums grundlegend veränderte. Viele Probleme rückten infolge dieser Expeditionen deutlicher ins Bewusstsein, nicht zuletzt jene, die sich aus dem Verhältnis zwischen den „aussendenden“ Kirchen und der kulturellen Identität der Menschen in den „empfangenden“ Missionsgebieten ergaben. Auch die vieldiskutierten Fragen nach dem Zusammenhang von Mission und Kolonialismus traten scharf hervor, wie Kevin Ward in seinem Überblick über die Missionsbewegung zeigt. Russland wiederum unterschied sich völlig von West-und Mitteleuropa, wie Christian Gottlieb ausführt. Schon die zeitliche Dimension ist eine andere; eine sinnvolle Periodisierung mit Blick auf das russische Christentum reicht von der Zeit Peters des Großen im frühen 18. Jahrhundert bis zur Revolution von 1917.

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Vorwort

Zudem wurden die Reformen von Peter dem Großen erbittert infrage gestellt von jenen, die die grundlegende Identität des orthodoxen Christentums als unvereinbar mit allen Formen der westlichen Christenheit betrachteten. Die debattierten Probleme berührten fundamentale Fragen zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat, aber auch Fragen der Liturgie und der Frömmigkeit. Das Christentum, das in Nordamerika Gestalt annahm, hielt noch eine ganze Reihe anderer Varianten bereit, wie Margaret Bendroth zeigt. Ernste Fragen ergaben sich aus der massiven Zuwanderung, aus den Idealen der Religionsfreiheit, wie sie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) verankert sind, und aus dem typisch amerikanischen Phänomen des Voluntarismus, der die bedeutenden Erweckungsbewegungen der Kirchen prägte. Ein weiteres wichtiges Ereignis, das weitreichende Auswirkungen auf die Kirchen hatte, war der Amerikanische Bürgerkrieg (1861–1865), dessen Vor- und Nachgeschichte Probleme bereiteten, die weit über die Grundfrage der Sklaverei und ihrer Abschaffung hinausreichten. Lateinamerika unterschied sich, wie Martin Dreher herausstellt, grundlegend von den anderen Kontinenten, teils, weil es ein überwiegend katholischer Kontinent war und teils, weil die Mehrheit der Länder mindestens ein Jahrhundert früher unabhängig wurde als andere Länder der südlichen Hemisphäre. Die Ideale der Freiheit, der Autonomie und der nationalen Unabhängigkeit waren die Parolen auf dem gesamten Kontinent, wenn auch mit Unterschieden in der Dynamik und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Es entstand eine besondere Art der Emanzipation, die eine grundsätzliche Zustimmung zu den Ideen der Aufklärung mit einer Fortführung der konservativen Elemente des traditionellen Patronagesystems verband. Die Hauptmerkmale der römisch-katholischen Herrschaft in Lateinamerika führten zu anhaltenden Konflikten zwischen lokalen wie nationalen Kirchenbehörden und dem Vatikan. In Afrika befand sich das Christentum allgemein gesprochen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer schwachen Position. Gewiss gab es die historischen Kirchen in Ägypten und Äthiopien, und die katholischen Missionsaktivitäten hatten in den französischen Kolonien zu positiven Ergebnissen geführt. Aus der Perspektive des Gesamtkontinents schien dennoch der Islam, wie Kevin Ward in seinem Beitrag über das Christentum im Afrika des 19. Jahrhunderts zeigt, größeren missionarischen Erfolg gehabt zu haben. Im Verlauf des Jahrhunderts kam es jedoch zu umfassenderen christlichen Missionsbemühungen, zunächst von britischen und schottischen Kirchen, dann auch von Missionsgesellschaften vieler anderer kirchlicher Organisationen Europas. Unausweichlich führten die Wechselwirkungen zwischen missionarischen Projekten und kolonialen Interessen zu extremen Empfindlichkeiten. Das wurde wohl auf spektakulärste Weise deutlich im Zusammenhang mit der Berliner Konferenz über Afrika 1884/85, auf der die Kolonialmächte sich grundsätzlich über den „Wettlauf um Afrika“ einigten. Die anschließende Aufteilung der Territorien hatte für die Missionsarbeit weitreichende Konsequenzen. Ungeachtet der kolonialen Interessen und ihrer Dynamik hatten die Kirchen oft auch ihre eigenen, unabhän-

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Vorwort

gigen Strategien, die sich manchmal sogar ausdrücklich gegen die Weisungen der europäischen Staaten und Regierungen richteten. Nicht zuletzt wurde die Bewegung gegen die Sklaverei zu einem zentralen Moment bei der Arbeit vieler Missionare. Es wäre allerdings irreführend zu behaupten, die Bewegung sei nur einseitig von den europäischen Missionswerken in die Missionsgebiete ausgegangen. Auf vielen Missionsfeldern nahmen die afrikanischen Reaktionen auf den Kolonialismus erkennbar zu, und sie wurden begleitet von Anzeichen neuer, unverwechselbar afrikanischer Formen der Spiritualität. Die Begriffe „Mittlerer Osten“ und „Naher Osten“ verraten eine eurozentrische Perspektive. Wie Mitri Raheb in seiner Analyse der Geschichte des Christentums im Nahen Osten des 19. Jahrhunderts deutlich macht, wandelte sich die Rolle der christlichen Kirchen im Lauf des Jahrhunderts erheblich. Die osmanische Herrschaft gab eindeutig die Rahmenbedingungen vor, dennoch wurden die Anstrengungen der europäischen, russischen und amerikanischen Missionswerke intensiviert. Ihre Arbeit erwies sich als besonders wichtig für die verschiedenen örtlichen Bildungssysteme. Das ursprüngliche Modell einer multireligiösen Gesellschaft im Rahmen des Osmanischen Reichs veränderte sich schrittweise mit dem voranschreitenden Zerfall der Herrschaft. Zugleich entstanden neue Strategien des europäischen Kolonialismus, wobei insbesondere die Briten ihre kolonialen Interessen mit dem zionistischen Anspruch auf das „Heilige Land“ in Verbindung brachten. Auf dem asiatischen Kontinent stagnierte die katholische Mission am Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehend. Im Gegensatz dazu gewann die Missionsarbeit der Protestanten im Lauf des Jahrhunderts eine neue Dynamik. Die Erfolge waren jedoch, wie Klaus Koschorke herausarbeitet, in den verschiedenen Teilen Asiens recht unterschiedlich. Auf dem indischen Subkontinent und auf Sri Lanka war die Mission – in mehrfacher Hinsicht – ein Faktor der Modernisierung. Die Länder im Nordosten Asiens, vor allem China und Japan, waren für missionarische Aktivitäten von außerhalb weitestgehend verschlossen. Darum galten die Bemühungen häufig der Unterstützung indigener Ausdrucksformen und der Schaffung von Nationalkirchen sowie dem Aufbau transnationaler Netzwerke unter den Eliten bestimmter Länder. Ulrike Schröder und Frieder Ludwig analysieren die transkontinentale Dynamik der Begegnung zwischen dem Christentum und den anderen Weltreligionen auf der südlichen Erdhalbkugel und zeigen die Auswirkungen dieser Begegnungen auch auf die Kirchen im Norden. Es ist offensichtlich, dass die jeweiligen Haltungen und Praktiken von Land zu Land unterschiedlich waren, wie etwa detaillierte Fallstudien zum Kastensystem in Indien und zu den Beziehungen zwischen Christen und Muslimen in Westafrika zeigen. Darüber hinaus wird in diesem Beitrag das breite Spektrum der Positionen auf dem Weltparlament der Religionen im Jahr 1893 in Chicago und auf der Weltmissionskonferenz, die 1910 in Edinburgh stattfand, beschrieben. Es ist das Ziel dieses Bandes – zusammen mit dem ersten Band zum globalen Christentum von ca. 1500 bis zum 18. Jahrhundert und dem nachfolgenden Band

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Vorwort

über das 20. Jahrhundert –, die Auswirkungen der christlichen Bewegung auf den demografischen, kulturellen, sozialen und politischen Lauf der Weltgeschichte im Guten wie im Schlechten nachzuzeichnen. Alle Autorinnen und Autoren dieser Bände haben ihre Texte wissenschaftlich gediegen und in Treue zu ihren persönlichen Überzeugungen hinsichtlich ihres Stoffs erstellt – getragen von dem kollegialen Wunsch, zu globaler und umfassender Verständigung beizutragen. Übersetzung: Norbert Reck Jens Holger Schjørring Aarhus, Dänemark Norman A. Hjelm Wynnewood, Pennsylvania, USA August 2017

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EINFÜHRUNG

IN

BAND II

Hugh McLeod

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts lebte die überwiegende Mehrheit der Christen dieser Welt noch in den „Christentümern“ Europas und Äthiopiens oder in den christlichen Gemeinschaften auf dem amerikanischen Doppelkontinent und auf den Philippinen, die erst in jüngerer Zeit im Gefolge der Eroberungen des 16. und 17. Jahrhunderts entstanden waren. Daneben existierten noch historische christliche Minderheiten in Südindien und in einigen Teilen des Mittleren Ostens sowie in Nordafrika, das einstmals weitgehend christianisiert war, nun aber seit vielen Jahrhunderten unter muslimischer Herrschaft lebte. In China und Japan wiederum hatten Verfolgungen das Christentum stark dezimiert, während es in Vietnam trotz ähnlicher Verfolgungen immer noch eine beachtliche christliche Gemeinschaft gab. Die Entwicklung, innerhalb derer das Christentum nach China und Japan zurückkehrte und in anderen Regionen Asiens und Afrikas zumindest Fuß fasste, hatte noch kaum eingesetzt. Die „Christenheit“ setzte sich zu jener Zeit aus Gesellschaften zusammen, die sich insgesamt als christlich bezeichneten – und üblicherweise war dies eine spezifische Form von Christlichkeit: Sie war entweder katholisch, orthodox, lutherisch, reformiert oder anglikanisch. Nichtchristen oder etwa Christen der falschen Art galten in diesen Gesellschaften als Bürger zweiter Klasse – falls ihre Existenz überhaupt anerkannt oder toleriert wurde. Das bedeutete zum Beispiel, dass man den Gesetzen und den zentralen gesellschaftlichen Institutionen ein christliches Fundament attestierte und dass es enge Verbindungen zwischen den religiösen und den anderen Eliten gab. Regierungen, Grundbesitzer und städtische Eliten erkannten an, dass es zu ihren Pflichten gehörte, die Kirche zu unterstützen – auch wenn diese Unterstützung natürlich an zahlreiche Bedingungen geknüpft war. Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat waren zwar nicht immer harmonisch, doch es war unwahrscheinlich, dass Kirchenleitungen gewisse Grenzen allzu sehr missachteten. Selbst in katholischen Staaten wie Frankreich, Spanien und Portugal, in denen der Papst die höchste Autorität für die Kirche war, wurden die Bischöfe vom Monarchen ernannt. Noch direktere Macht über die Kirche hatte der Staat in Russland, wo ein Heiliger Synod, dessen Mitglieder vom Zaren ausgewählt wurden, die höchste Kontrolle über die Orthodoxe Kirche ausübte. Aber auch in protestantischen Ländern wie England oder Preußen war der Monarch der „höchste Herrscher“ oder „oberste Bischof“ der Kirche. Die Kirche und der rechte christliche Glaube (wie man ihn im jeweiligen Land verstand) wurden von der

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Zensur und von Gesetzen geschützt, die Häresie und Blasphemie unter Strafe stellten sowie Kirchenbesuch und Sakramentenempfang zur Pflicht machten. Auf dem amerikanischen Doppelkontinent waren die Menschen europäischer oder gemischter Abstammung zumindest nominell Christen, doch viele indigene Völker hielten weiter an ihren traditionellen Praktiken fest –, ebenso wie die als Sklaven gehaltenen Afrikaner. Doch in manchen Gebieten wie im Süden der USA setzte unter ihnen eine Massenbewegung hin zum Christentum ein. In der Praxis gab es ständig Spannungen zwischen der Idealvorstellung von einer christlichen Gesellschaft und den gesellschaftlichen Realitäten, in denen die unterschiedlichsten Werte beträchtlichen Einfluss hatten. Für die Spitzen der Gesellschaft zählte Ehre oft mehr als christliche Ethik, und für die Menschen am unteren Ende hatte das Überleben um jeden Preis höchste Priorität. So wurde das Duellieren immer wieder von der Kirche verurteilt, doch unter Aristokraten blieb es eine weitgehend übliche Art der Auseinandersetzung. Die Prostitution wurde gleichermaßen verdammt, war jedoch gleichermaßen verbreitet und wurde von Männern aller Klassen in Anspruch genommen und somit begünstigt. Im Osmanischen Reich sorgte das Millet-System dafür, dass nicht muslimische Minderheiten, unter ihnen auch die zu verschiedenen Kirchen gehörenden Christen, ein beträchtliches Maß an Autonomie genossen: Sie konnten unter ihren eigenen religiösen Führern leben, die für das Eintreiben der Steuern, das Bildungswesen, die Wohltätigkeit und die Rechtsprechung verantwortlich waren. Zugleich aber mussten sie zusätzliche Steuern bezahlen und wurden so immer wieder daran erinnert, dass sie als tolerierte Minderheit in einem Staat und einer Gesellschaft von Muslimen existierten. Im späteren 18. Jahrhundert war ihre Situation besser als diejenige religiöser Minderheiten – ob christlich oder nicht christlich – in vielen christlichen Ländern, doch im Laufe des 19. Jahrhunderts verschlechterte sich die Lage im Osmanischen Reich. Christliche und muslimische Gesellschaften glichen sich darin, dass die konfessionelle Identität sowohl für das Leben der Einzelnen als auch für die gesellschaftliche Ordnung von grundlegender Bedeutung war. Ungeachtet des persönlichen Glaubens oder Unglaubens gehörte jeder einem spezifischen religiösen Bekenntnis an, und das bestimmte zu einem wesentlichen Teil, wie man von anderen wahrgenommen wurde. Der Position der Christen im Osmanischen Reich entsprach die Position der Juden im christlichen Europa. Sie besaßen keine politischen Rechte und waren oft von der Ausübung vieler Berufe ausgeschlossen, aber im Allgemeinen genossen sie die Freiheit der Religionsausübung. Sie bildeten eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft. In manchen Teilen Europas, vor allem in Deutschland, wurden die Schranken zwischen Juden und Nichtjuden allmählich eingerissen, als im Gefolge der Haskala, der jüdischen Aufklärung, Juden begannen, sich als „Deutsche jüdischen Glaubens“ zu verstehen und staatsbürgerliche Rechte einzufordern. Ihre Emanzipation erwies sich als langwieriger Prozess, und im 19. Jahrhundert wurde die gesellschaftliche Position

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der Juden im christlichen Europa unter dem Einfluss liberaler Ideen zu einer wichtigen politischen Frage. Zwischen dem östlichen und westlichen Christentum Europas bestand noch immer eine grundlegende Teilung, die von der formalen Trennung im 11. Jahrhundert herrührte und darüber hinaus auch noch auf ältere Differenzen zurückging. So gab es auf der östlichen Seite orthodoxe Kirchen wie die griechische, die die Autorität des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel anerkannten, und es gab die russisch-orthodoxe Kirche, die syrisch -orthodoxe Kirche, die äthiopisch -orthodoxe Kirche und die koptische Kirche in Ägypten. Irgendwo zwischen Ost und West gab es dann noch Kirchen, die, wie die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine und den benachbarten europäischen Gebieten, eine orthodoxe Form der Liturgie mit der Anerkennung der Oberhoheit des Papstes verbanden. Im Westen war die römisch-katholische Kirche bei Weitem die größte; in Südeuropa war sie die vorherrschende Konfession, ebenso in großen Teilen Mittel- und Osteuropas sowie in den riesigen Territorien der spanischen und portugiesischen Imperien in Amerika und Asien. Außerdem waren da auch noch die Lutheraner, die in vielen deutschen Staaten und in den nordischen Ländern die Oberhand hatten, sodann die Reformierten, Anhänger von Johannes Calvin mit Hochburgen in der Schweiz, den Niederlanden, in Schottland und einigen deutschen Staaten, und schließlich die Anglikaner, die nicht nur in England, sondern auch in Wales und Irland einen privilegierten Status hatten. Die Reformation des 16. Jahrhunderts hatte zudem auch zahlreiche Freikirchen hervorgebracht – im offiziellen Sprachgebrauch „Sekten“ –, die keine Vergünstigungen vom Staat erhielten und häufig verfolgt wurden. In den britischen Kolonien Nordamerikas fanden diese „Sekten“ ihre Freiheit; nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika wurde eine von ihnen, die Kirche der Kongregationalisten, sogar zur offiziellen Kirche von Massachusetts und Connecticut, und eine andere, die methodistische Kirche, war eine Zeitlang die größte Konfession in den Vereinigten Staaten. Bei vielen Fragen bildeten die protestantischen „Sekten“ das eine Extrem eines sehr weitgefächerten Spektrums der christlichen Praxis. Das spiegelte sich am lebhaftesten in der Architektur und Ikonografie der gottesdienstlichen Orte wieder. Hier finden sich einerseits die orthodoxen Kirchen, deren Wände bedeckt waren mit Abbildungen von Szenen aus der Bibel und aus dem Leben von Heiligen, andererseits die schmucklosen weißgetünchten Wände der reformierten Kirchen oder die noch schlichteren Bauten von Mennoniten und Quäkern. Die Lutheraner und Anglikaner standen irgendwo zwischen diesen Extremen. Ihre Kirchen muteten nach katholischen, geschweige denn nach orthodoxen Maßstäben relativ nüchtern an, doch sie hatten während der Reformation manchmal Altarbilder oder Wandgemälde behalten, die andere Protestanten heruntergerissen oder übermalt hätten. In ähnlicher Weise lässt sich sagen, dass die Bedeutung der Tradition, die in den östlichen Kirchen sehr groß und in der römisch-katholischen Kirche groß war, in den protestantischen „Sekten“ einen sehr niedrigen Stellenwert hatte,

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während das persönliche Studium der Schrift und vor allem die direkte Inspiration mehr zählte. Einige Ausdrucksformen des Glaubens, wie beispielsweise das Mönchstum und die Wallfahrt, blieben für die Ostkirchen und den Katholizismus von zentraler Wichtigkeit, wurden aber von allen Protestanten weiterhin abgelehnt – obwohl im 19. Jahrhundert in Luthertum und Anglikanismus „hochkirchliche“ Bewegungen aufkamen, die eine neue Offenheit für Gebräuche mit sich brachten, die bis dahin als „katholisch“ verurteilt worden waren. Die protestantische Frömmigkeit konzentrierte sich vor allem auf das Lesen der Bibel und auf das Singen von Hymnen und Psalmen. Wegen der Bedeutung der Bibellektüre waren protestantische Staaten wie Schweden richtungsweisend bei der Alphabetisierung der Massen. Um 1800 konnte die überwiegende Mehrheit der Schweden lesen, wohingegen ein ähnliches Niveau der Lese- und Schreibfähigkeit in den meisten Teilen Europas erst gegen Ende des Jahrhunderts erreicht wurde. In Ländern mit einer langen christlichen Geschichte – ob in Europa oder in den verbliebenen Hochburgen im Mittleren Osten, aber auch in vielen Teilen Amerikas – waren der christliche Glaube und seine Sprache zusammen mit einer Reihe frommer Übungen selbstverständliche Bestandteile des täglichen Lebens, oft vermischt mit vielem, was strengere Kritiker als „Volksglauben“ oder gar „Aberglauben“ bezeichneten. Im späteren 18. Jahrhundert vertiefte sich jedoch der Graben zwischen jenem Christentum, das von großen Teilen der Bevölkerung gelebt wurde, und den Varianten, die viele Geistliche, aber auch Regierungen und ganz allgemein gebildete Eliten bevorzugten. Letztere blickten mit wachsender Skepsis auf Wunder, Zauberei und den Teufel – die allesamt fest zur Volksreligiosität gehörten. Sie wünschten sich eine rationale und gesittete Religion sowie eine Kirche, die dem sozialen Fortschritt und der Steigerung des moralischen und bildungsmäßigen Niveaus der Menschen verpflichtet war. Der berühmteste Vertreter dieser „aufgeklärten“ Religion war Kaiser Joseph II. (Regierungszeit 1780–1790), der nicht nur zahlreiche Klöster schließen ließ und ihre Mittel an Gemeinden und Schulen umleitete, sondern durch seine Versuche, Wallfahrtsorte aufzulösen, breiten Widerstand hervorrief. Ähnliche Tendenzen sah man auch in Russland, wo Katharina II. (Regierungszeit 1762–1796) ebenfalls zahlreiche Klöster schloss, oder in Schottland, wo viele Wortführer der Aufklärung im 18. Jahrhundert Geistliche der Church of Scotland waren und wo die rationale und moralisierende Theologie der über lange Zeit tonangebenden Gemäßigten Partei regionale Widerstände provozierte, was die Kirche im 19. Jahrhundert schließlich auseinanderriss. Am Ende des 19. Jahrhunderts war zwar die oben skizzierte grundlegende Topografie immer noch wiederzuerkennen, aber es hatten bedeutende Veränderungen stattgefunden. Zum einen war die „Christenheit“ in Europa ebenso wie in Amerika erheblich ausgehöhlt worden. Die Vorherrschaft der Staatskirchen und ihre engen Verbindungen zu den politischen und gesellschaftlichen Eliten waren beträchtlich geschwächt durch eine liberale Gesetzgebung, die die Religionsfreiheit erweiterte, Kircheneigentum konfiszierte und Kirche und Staat trennte. Das Christentum

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selbst wurde intellektuell und politisch angegriffen, und das jahrhundertealte System der Kirchengemeinden wurde von den sozialen Veränderungen und insbesondere von der rapiden Landflucht unterminiert. Zugleich aber breitete sich das Christentum weit über jene Grenzen hinaus aus, die ein Jahrhundert zuvor noch alles bestimmt hatten. Eine starke Bewegung katholischer, protestantischer und (seltener) orthodoxer Missionen, meist unterstützt von der militärischen und wirtschaftlichen Macht Europas und der Vereinigten Staaten, brachte das Christentum in fast alle Gebiete Schwarzafrikas, auf die Inseln im Pazifik und in die meisten Länder Asiens. Vielen Christen schien es am Anfang des 20. Jahrhunderts, als habe sich das Blatt tatsächlich gewendet und als sei – in den Worten des Leiters einer dieser Missionsbewegung John R. Mott (1865–1955) – „die Evangelisierung der Welt in dieser Generation“ nun eine realistische Möglichkeit.

I Während die Frommen für ein widerspruchsloses Christentum plädierten, hatten viele andere nichts dagegen, mit den Widersprüchen, die der „Christenheit“ anhafteten, zu leben. Dasselbe lässt sich wahrscheinlich auch von den „Philosophen“ und ihren Anhängern in Aristokratie und Bürgertum sagen. Sie hatten im 18. Jahrhundert und besonders von 1750 an bestimmte christliche Lehren im Namen eines allgemeineren Deismus in Frage gestellt. Manche waren sogar noch weiter gegangen und hatten sich für den Atheismus oder einen völligen Skeptizismus ausgesprochen. Doch diese avancierten Anschauungen waren nur etwas für eine „aufgeklärte“ Elite, die einstweilen noch nicht den Wunsch verspürte, die Massen zu überzeugen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die „Christenheit“ jedenfalls aus vier sehr unterschiedlichen Richtungen unmittelbar in Frage gestellt. In der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 hieß es: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“ Diese neuen Grundsätze hatten offenkundige Auswirkungen auf die Religion. Im Jahr 1791 verfügte der berühmte Erste Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten: „Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat oder die freie Religionsausübung verbietet […].“ Die gerade gegründeten Vereinigten Staaten wurden damit zum ersten christlichen Land, das die Verbindung zwischen Kirche und Staat löste und zumindest theoretisch die Möglichkeit eines freien Wettbewerbs zwischen den Religionen und zwischen religiösen und nicht religiösen Weltanschauungen schuf. Tatsächlich aber hinkte die

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Praxis der Theorie hinterher, denn der Protestantismus behielt seine beherrschende Stellung in der amerikanischen Gesellschaft noch viele Jahre lang. Anders jedoch als in vielen europäischen Regionen hatte dieser Protestantismus zahlreiche unterschiedliche Gesichter. Manchmal geschah es durch Abspaltungen, manchmal durch einen Prediger, der neue Lehren verkündete – im 19. Jahrhundert entstand eine Vielzahl protestantischer Gemeinschaften. Einige von ihnen richteten sich vornehmlich an bestimmte Gruppen, die sich über ihre soziale Herkunft, Hautfarbe oder Ethnie definierten. Etliche Amerikaner fühlten sich auch von völlig neuen Formen des Christentums angezogen, etwa vom Mormonentum, dem Adventismus oder der Christlichen Wissenschaft. Sowohl mit der entschiedenen Befreiung von den europäischen Herrschern als auch mit der Trennung von Kirche und Staat statuierten die Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) ein Exempel, dem man in den folgenden Jahrzehnten in vielen anderen Teilen der Neuen Welt folgte. Währenddessen untergruben in Großbritannien die rapiden sozialen Veränderungen im Zusammenhang mit der Industrialisierung die Basis der „Christenheit“ in einer bis dahin stabilen und hauptsächlich agrarisch ausgerichteten Gesellschaft. An den Schauplätzen der Industrialisierung in Nordengland, im Westen Schottlands und im Süden von Wales gerieten die Church of England und die Church of Scotland in ernste Schwierigkeiten, denn die explosionsartige Zunahme abweichender religiöser Standpunkte sowie die – etwas bescheidenere – Zunahme säkularer Ansichten führten dazu, dass viele Menschen den aktiven Kontakt zur Kirche verloren. Der religiöse Pluralismus in England war ein Vermächtnis der Bürgerkriege im 17. Jahrhundert; Kongregationalisten, Presbyterianer, Baptisten und Quäker gewannen damals in großer Zahl Anhänger, und sie überlebten die Verfolgungen, die auf die Stuart-Restauration, die Wiederherstellung der Monarchie, folgten. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich dieser Pluralismus noch erheblich weiter, als in England der Methodismus, in Schottland neue presbyterianische Kirchen und in Wales methodistische und calvinistische Dissenters ein starkes Wachstum erlebten. Zur dritten und einschneidendsten Infragestellung der „Christenheit“ kam es in Frankreich. Die Große Revolution von 1789 hatte in einer Atmosphäre der Harmonie zwischen der katholischen Kirche und der neuen Ordnung begonnen. Doch dabei blieb es nicht. Im Jahr 1791 verurteilte der Papst die Revolution, und die französische Kirche spaltete sich: Auf der einen Seite standen diejenigen, die dem Papst treu blieben, auf der anderen die, deren Loyalität der Revolution galt und die deswegen zusehends unter Druck gerieten. Denn 1793 setzten die Behörden ein schonungsloses Programm der „Entchristianisierung“ ins Werk. Es wurde bereits im folgenden Jahr wieder aufgegeben, und 1801 schloss der Erste Konsul und spätere Kaiser Napoleon Bonaparte (1769–1821) ein Konkordat mit dem Papst, das die Rückkehr der katholischen Kirche als staatlich finanzierte (und staatlich kontrollierte) Institution möglich machte. Doch die Ereignisse von 1793/94 wirk-

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ten lange nach. Nicht nur für Katholiken und die nachfolgenden Päpste, sondern auch für viele konservative Christen anderer Konfessionen waren die Verfolgungen der Beweis dafür, dass es zwischen Religion und Revolution keinen gemeinsamen Nenner gab. Viele andere glaubten indessen, dass die Kirche die Revolution verraten habe und dass eine fortschrittliche Politik unbedingt die Macht der Kirche brechen müsse. Die vierte Infragestellung war zunächst ein isoliertes Ereignis, doch lag darin schon ein Fingerzeig auf Entwicklungen im 19. und mehr noch im 20. Jahrhundert. 1791 erhoben sich die versklavten Afrikaner von Haiti gegen ihre französischen Herrscher und klagten ihr Recht auf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ein, wie es die Französische Revolution versprochen hatte. Die Franzosen reagierten darauf mit der Abschaffung der Sklaverei in ihren Kolonien, doch gelang es ihnen dann nicht mehr, die Kontrolle zurückgewinnen. Im Jahr 1804 wurde die Republik Haiti ausgerufen. War die Amerikanische Revolution noch eine Rebellion europäischer Siedler gegen ihre Herrscher in Europa gewesen, so war die Haitianische Revolution nun die erste, mit der sich die von europäischen Christen eroberten oder versklavten Völker erfolgreich befreiten. In diesem Fall spielte die Religion bei den Fragen, um die gestritten wurde, keine Rolle, doch in den späteren antikolonialistischen Bewegungen und Sklavenaufständen waren die Aufrührer meist entweder gegen das Christentum eingestellt oder von einem Christentum inspiriert, das sich von dem ihrer Herrscher unterschied.

II Zwischen 1792 und 1815 befand sich Frankreich fast durchgängig im Krieg mit den Monarchien Europas, und in den meisten Fällen behielt es dabei die Oberhand. Die französische Armee besetzte weite Teile Europas und hatte französische Ideen und Institutionen im Gepäck. Der spektakulärste aller Schläge gegen alles, was als heilig galt, war die Vertreibung von Papst Pius VI. aus Rom im Jahr 1798. Erst mit dessen Nachfolger erreichte Napoleon später eine zeitweise Übereinkunft. Um 1815 wendete sich das Blatt. Napoleon hatte in Waterloo seine endgültige Niederlage erlitten und ging ins Exil auf eine ferne Insel im Atlantik. Eine ultrakonservative Allianz von Monarchien – unter ihnen die Österreicher, Preußen, Russen, Briten, die wieder eingesetzten Bourbonen sowie Papst Pius VII. – herrschte nun über Europa. Auf dem Wiener Kongress trafen sie sich, um über die Zukunft des Kontinents zu entscheiden und in einigen Fällen seine Grenzen neu zu ziehen. So wurden im Jahr 1815 die Weichen gestellt für viele der Schlachten, die im folgenden Jahrhundert die religiöse und politische Geschichte Europas und Amerikas beherrschten. Doch zunächst sah es tatsächlich so aus, als sei das Ancien Régime

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erfolgreich wiederhergestellt worden. Riesige multinationale Reiche herrschten über weite Teile Europas – die Russen im Osten, die Österreicher in der östlichen Mitte, die Osmanen im Südosten, die Briten im Westen. Die Belgier wurden von den Siegermächten dem Königreich der Niederlande zugeschlagen und die Norweger dem Königreich Schweden. Deutschland hingegen bestand weiterhin aus vielen kleinen Staaten, aber auch aus großen wie Bayern und Preußen, die beide viele widerstrebende neue Untertanen erbeuteten, von Seiten Napoleons ebenso wie seitens der Alliierten. Auch Italiens Karte war immer noch zersplittert; zu den vielen verschiedenen Herrschern des Landes gehörte auch der Papst, der Rom und große Teile Mittelitaliens regierte. Fast überall in Europa herrschten Landadel und Oberschicht über die ländlichen Regionen und handeltreibende Patrizier über die Städte. Irgendeine Art politischer Vertretung gab es in den meisten europäischen Ländern, doch waren ihre Rechte überall sehr eingeschränkt. Alle europäischen Staaten reagierten auf abweichende religiöse Anschauungen mit Sanktionen, die allerdings unterschiedlich streng ausfielen und unterschiedlich rigoros gehandhabt wurden. Frankreich und die Niederlande gehörten zu den Staaten, die den höchsten Grad an Toleranz aufwiesen. Frankreich erkannte die reformierte, die lutherische, die jüdische und die katholische Religion an; auch die Mitglieder von Minderheitsreligionen unterlagen keinen rechtlichen Einschränkungen. Der Preis für diese Duldung waren aber weitreichende staatliche Eingriffsrechte in die Angelegenheiten der verschiedenen religiösen Gemeinschaften. Und wer versuchte, eine andere Konfession als die vier anerkannten aufzubauen, lenkte damit mit großer Sicherheit die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich. Am tolerantesten hinsichtlich der verschiedenen Religionen war vermutlich Großbritannien. Dennoch waren Katholiken, Juden und protestantische „Dissenters“ (Abweichler) immer noch von der Mitwirkung im Parlament und von der Übernahme öffentlicher Ämter ausgeschlossen. Am anderen Ende des Spektrums befanden sich Schweden und Dänemark, wo nur die lutherische Kirche anerkannt war und jene, die zu einem anderen Glauben konvertierten, das Land verlassen mussten, sodann Russland, wo zwar einige Minderheiten geduldet wurden, aber der „Abfall“ von der orthodoxen Kirche verboten war, und schließlich Spanien, das nicht nur das Recht auf Religionsfreiheit nicht anerkannte, sondern noch immer die Inquisition aufrechterhielt. Doch gegenüber Freidenkern waren selbst Länder wie Großbritannien, die das Recht von christlichen Minderheiten und Juden auf freie Religionsausübung respektierten, wesentlich weniger respektvoll. Anklagen wegen gotteslästerlicher Reden oder wegen der Veröffentlichung und des Verkaufs blasphemischer Literatur fanden immer noch mit einer gewissen Regelmäßigkeit statt. Die gewaltigen Imperien Spaniens und Portugals, hauptsächlich in Amerika, aber auch in Teilen Asiens und Afrikas, waren 1815 immer noch intakt. Das Russische Reich dehnte sich über ähnlich gewaltige Territorien in Asien aus, bis hin zur Beringstraße und nach Alaska (auch wenn Alaska im Jahr 1867 an die USA verkauft wurde). Die Briten hatten die 13 Kolonien, aus denen Vereinigte Staaten

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von Amerika wurden, verloren, aber sie herrschten noch über Kanada, sie weiteten ihre Macht über Indien aus und erwarben neue Kolonien in Australien und am Kap der Guten Hoffnung. Zum niederländischen Imperium gehörten viele der ostindischen Inseln und ebenso Teile der Karibik. Dänemark herrschte über Grönland und über seine indische Kolonie Serampore. Das französische Imperium war im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert bereits im Niedergang begriffen, doch im Jahr 1815 besaß es noch Kolonien in der Karibik und im Indischen Ozean. Die meisten dieser Kolonien basierten von Anfang an auf Sklaverei oder anderen Formen der Zwangsarbeit, und trotz zunehmender Kritik daran war dies auch noch 1815 der Fall. Die Franzosen waren die ersten, die im Zuge der Revolution die Sklaverei in ihren Kolonien abschafften, doch Napoleon führte sie bald darauf wieder ein. Die endgültige Abschaffung kam erst mit der Revolution von 1848. Die Briten beendeten die Sklaverei in ihren Kolonien im Jahr 1833, die Niederländer 1863. Der US-Bundesstaat Pennsylvania hatte die Sklaverei bereits 1780 abgeschafft, doch in den Südstaaten kam es erst 1865 im Gefolge der Niederlage im Bürgerkrieg zur Abschaffung. Viele der gerade erst unabhängig gewordenen lateinamerikanischen Republiken schafften die Sklaverei in den 1820er Jahren ab, nur in Kuba und Brasilien dauerte es bis ins Jahr 1886 bzw. 1888.

III Wenn die alte Ordnung überhaupt überlebensfähig sein konnte – das wurde bereits in den 1830er Jahren deutlich –, dann waren zahlreiche Kompromisse mit den neuen gesellschaftlichen Kräften und den neuen Ideen nötig. Unter den neuen Ideen war der Nationalismus die explosivste. In Europa fand die erste der erfolgreichen Rebellionen, die im Laufe der Zeit alle großen europäischen multinationalen Reiche zu Fall brachten, in Griechenland statt. Die Griechen sagten sich vom Osmanischen Reich los, wobei die Geistlichen der orthodoxen Kirche oft in prominenten Rollen auftraten, und sie gründeten 1832 eine unabhängige Monarchie. Sie lösten sich auch von der Oberhoheit des Ökumenischen Patriarchen in Istanbul und errichteten ihre eigene, autokephale orthodoxe Kirche mit einem Patriarchen in Athen. Wie Paschalis Kitromilides schreibt, begann damit „die schrittweise Transformation der universalen orthodoxen Kirche zu Nationalkirchen“.1 Diese doppelte Auflehnung gegen die säkularen und die religiösen Autoritäten in Istanbul inspirierte auch die anderen orthodoxen Völker, die über Jahrhunderte unter

1 Kitromilides, Paschalis, The Legacy of the French Revolution. Orthodoxy and Nationalism, in: Angold, Michael (Hrsg.), Cambridge History of Christianity, Bd. V, The Eastern Churches, Cambridge 2006, 229–250, 232f.

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türkischer Herrschaft gelebt hatten: die Bulgaren, die Rumänen und die Serben. Ein Volk nach dem anderen riss sich los, um den eigenen Staat zu gründen, in welchem die orthodoxe Kirche zwar eine privilegierte Position innehatte, zugleich aber umfassender staatlicher Kontrolle unterworfen war. Wo die kirchliche Eigenständigkeit nach der Gründung eines neuen Staates gefordert wurde, gestand sie der Ökumenische Patriarch zu, wenn auch widerstrebend, wo aber, wie im Fall der Bulgaren, die Erklärung der kirchlichen Unabhängigkeit der Existenz eines eigenen Staats vorausging, verweigerte er sie. Nach einem Beschluss der Synode in Konstantinopel von 1872 machten sie sich der Häresie des „Ethnophyletismus“ schuldig, das heißt der Vorstellung, dass ethnische und nationale Eigenarten die Bildung einer abgesonderten Kirche erforderlich machten. Ob dies nun wirklich häretisch war oder nicht – diese Vorstellung spiegelte in der Tat die Realität in den meisten Gegenden Osteuropas wider, wo religiöse und nationale Identitäten eng miteinander verknüpft waren. Angesichts der oftmals schroffen Behandlung religiöser Minderheiten in christlichen Ländern in der frühen Neuzeit hielten viele Autoren die Bedingungen, unter denen Christen und Juden im Osmanischen Reich lebten, für relativ günstig. Als allerdings der Zusammenhalt dieses Reichs zunehmend von nationalstaatlichen Bestrebungen bedroht wurde – meist unterstützt von Russland und anderen christlichen Mächten –, trat man christlichen Minderheiten auch dort mit Furcht und manchmal mit Gewalt entgegen. So reagierten die osmanischen Machthaber auf den griechischen Aufstand, indem sie den Patriarchen von Konstantinopel und weitere hochrangige Prälaten am Ostersonntag des Jahres 1821 vor dem Haupttor des Patriarchats aufhängten – obwohl der Patriarch die Rebellion verurteilt hatte. Viele griechische Geistliche erlitten in anderen Teilen des Reichs ein ähnliches Schicksal. Im Ersten Weltkrieg nahm die antichristliche Gewalt schließlich extreme Formen an, doch war dies nur der Gipfelpunkt einer langen Entwicklung. Zunächst gewährten die Reformen von 1839 und 1856 den Nichtmuslimen im Reich völlige Rechtsgleichheit, doch konnte dies weder dem wachsenden Nationalismus Einhalt gebieten noch den starken Modernisierungsbestrebungen in manchen christlichen Gemeinschaften, die ebenfalls Misstrauen und Feindseligkeit wecken konnten. Das bekannteste Beispiel dafür ist das Schicksal der Armenier, von denen Hunderttausende zusammen mit anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1895/96 und 1911/12 getötet wurden. Im Vergleich zur allmählichen Auflösung des Osmanischen Reichs erreichte der Aufstand gegen das spanische Kolonialreich ein viel umfassenderes Ausmaß. Er begann 1810 und setzte bis zum Jahr 1824 das Ende der spanischen Herrschaft auf dem amerikanischen Festland durch. Trotz anfänglicher Hoffnungen auf ein zweites Projekt „Vereinigter Staaten“ führte der Aufstand letztlich zur Gründung von etwa zwanzig unabhängigen Republiken. In der Zwischenzeit hatte sich 1822 Brasilien friedlich vom portugiesischen Imperium gelöst, wenn es auch erst 1899 eine Republik wurde. Die überwältigende Mehrheit der Menschen in diesen neuen Re-

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publiken war katholisch, und deren Verfassungen bestätigten im Allgemeinen die Stellung der katholischen Kirche als Staatsreligion und zugleich die Patronatsrechte des Staates. Manche gewährten den Protestanten die Duldung, manche nicht. Der Status der katholischen Kirche, die Rechte der Minderheiten und die Zuständigkeit staatlicher Rechtsprechung in kirchlichen Belangen wurden bald zu brennenden politischen Fragen und zur Ursache erbitterter Differenzen zwischen Liberalen und Konservativen. Zum ersten Opfer der neuen Ordnung, die auf dem Wiener Kongress verfügt wurde, wurde in Europa das Königreich der Niederlande. Im Jahr 1830 spalteten sich die Belgier von der protestantischen Monarchie ab und gründeten ein eigenes Königreich, das der Konfession nach katholisch und der politischen Ausrichtung nach liberal sein sollte. 1831 erhoben sich polnische Nationalisten gegen die russische Herrschaft. Der Aufstand endete mit einer Niederlage, und viele Anführer fanden den Tod. Wie viele andere nationalistische Aufstände brachte auch dieser Helden und Märtyrer hervor, aber zumindest kurzfristig keine konkreten Ergebnisse. Ähnlich erging es zum Beispiel Irland in den Jahren 1798, 1848 und 1867, Venedig, Mailand, Budapest und vielen anderen Städten im „Jahr der Revolution“ 1848, dann erneut Polen im Jahr 1863. Es gab auch ein paar erfolgreiche Unternehmen, vor allem die Eroberung Siziliens und der sich anschließende Sturz des Königreichs von Neapel und damit die Befreiung von der Herrschaft der spanischen Bourbonen durch Giuseppe Garibaldi (1807–1882) und seine „Tausend“ im Jahr 1860. Ein Jahr später wurde Viktor Emanuel II. von Piemont zum König des neuen, fast geeinten Königreichs Italien, wenn auch immer noch ohne Rom. Das kam 1870 hinzu, als der Rückzug der Franzosen angesichts des preußischen Einfalls in ihr eigenes Land die italienische Armee in die Lage versetzte, in die Ewige Stadt einzumarschieren und Papst Pius IX. (Amtszeit 1846– 1878) zu zwingen, sich in den Vatikan zurückzuziehen. Das andere große Projekt einer nationalen Einigung, das 1871 mit der Gründung des Deutschen Reichs seinen Höhepunkt erreichte, war noch weit mehr eine „Revolution von oben“, angeführt vom preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck (1815–1898). In Italien wie in Deutschland waren die glühendsten Verfechter der nationalen Einheit politisch zumeist liberal, doch ihr Erfolg hing von Männern in Machtpositionen ab, die oft ganz andere Absichten hatten. Norwegen, das sich im Jahr 1905 von Schweden abspaltete, war das seltene Beispiel einer nationalen Revolution, die ohne gewalttätige Erhebung und ohne militärische Unterstützung gelang und deren liberale Ziele einschließlich des partiellen Frauenwahlrechts tatsächlich erreicht wurden. In vielen Gegenden Europas konnten die Früchte der Nationalbewegungen allerdings nur in dem kurzen Zeitraum von 1918 bis 1919 geerntet werden, als die Niederlage der Imperien Deutschlands, Österreich-Ungarns, Russlands und des Osmanischen Reiches die Gründung einer ganzen Reihe neuer Staaten gemäß dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung ermöglichte. Wenn die Vorkämpfer der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert sich fragten, was ihre Nation von anderen unterscheide und sie deshalb dazu legitimiere, einen

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eigenen Staat zu gründen, dann spielten zwei Momente der Identität eine herausragende Rolle: Sprache und Religion. Natürlich gab es säkulare Nationalstaatsbefürworter, die bestenfalls ein zwiespältiges Verhältnis zur Religionsgeschichte ihrer Nation hatten. Doch konnte man der Religion hier kaum entkommen, hatten doch die Nationalhelden und die eine neue Epoche begründenden Augenblicke der nationalen Geschichte häufig auch eine offenkundige religiöse Dimension. Das könnte man anhand der Reformation in Deutschland zeigen. Mit Blick darauf war die deutsche Nationalbewegung im 19. Jahrhundert oft stark protestantisch geprägt, was die Identifikation mit ihr für Katholiken natürlich erschwerte. Dementsprechend sahen sie sich nach konkurrierenden Symbolen und einer alternativen Nationalgeschichte um. In dem Bestreben, ein Volk zu einen, fanden die Aktivisten für den Nationalstaat oft neue Wege, es zu entzweien. Etwas überschaubarer war die Situation, wenn Völker mit einheitlichen religiösen Traditionen Herrschern gegenüberstanden, deren Traditionen sich von den ihren stark unterschieden. Aus diesem Grund hatten an den westlichen Rändern des Russischen Reichs die Konflikte zwischen Herrscher und Beherrschten immer eine religiöse Dimension. Die orthodoxen Kirchen wurden als machtvolle Symbole der russischen Herrschaft wahrgenommen, dadurch aber bestärkten sie die meisten Polen und Litauer in ihrer katholischen Identität und die Finnen in ihrem Luthertum. Das Verhältnis zwischen einer Nationalbewegung und der Religion eines Landes konnte aber auch die Form der Abgrenzung annehmen, wie im Fall der estnischen Kämpfer für den Nationalstaat, die die lutherische Kirche mit der deutschsprachigen Elite der Großgrundbesitzer identifizierten. In den frühen und mittleren Jahren des 19. Jahrhunderts waren die Nationalbewegungen in den meisten Fällen mit dem Liberalismus im Bunde; im letzten Abschnitt des Jahrhunderts aber entwickelten sich zahlreiche neuere Nationalismen einer eher konservativen Art. Unter Ihnen nimmt der Deutsche Nationalismus, unter anderem in seiner völkischen Spielart, die später auch zu einer der ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus wurde, eine besondere Rolle ein. Der Liberalismus hingegen, die einflussreichste politische Ideologie im Europa des 19. Jahrhunderts, war in erster Linie eine Bewegung des Bürgertums. Diese Bewegung wollte die Macht der Monarchen, Aristokraten und Staatskirchen begrenzen und im Interesse von Freiheit, Effizienz und Modernisierung alle Einschränkungen für Industrie und Handel beseitigen. In Italien, Portugal, Spanien und in den früheren spanischen Kolonien war das Hauptangriffsziel der Liberalen der Reichtum der katholischen Kirche und vor allem der Orden. Sie wollten, dass die Ländereien der Kirche auf dem freien Markt zum Kauf angeboten würden für Menschen wie sie, die – so argumentierten sie – das Land produktiver bewirtschaften würden, was letztlich allen zugutekäme. Besonders feindselig zeigten sie sich gegenüber den Ordensgemeinschaften – vor allem gegenüber den Mönchsorden, die Frauengemeinschaften wurden weniger angefeindet. Sie hielten manche Gemeinschaften (die kontemplativen) für nutzlos;

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andere (vor allem die Jesuiten) erschienen ihnen als gefährlich wegen ihres Geschicks, die Gunst von Menschen bei Hofe oder in anderen Machtpositionen zu gewinnen. In anderen Teilen Europas hatte die Enteignung von Kirchenbesitz schon zur Zeit der Reformation, des aufgeklärten Absolutismus im 18. Jahrhundert, während der Französischen Revolution oder unter napoleonischer Besatzung stattgefunden. Deshalb konzentrierte sich das Programm der Liberalen dort im Blick auf die Religion auf zwei andere Gebiete: auf die Rechte von religiösen Minderheiten und auf die Rolle der Religion in der Erziehung. Unter den Staaten, die die religiösen Freiheiten am stärksten eingeschränkt hatten, gewährte Dänemark das Recht auf freie Religionsausübung im Jahr 1849, Schweden 1860, Spanien 1873 und Russland 1905. Doch selbst in jenen Staaten, die die freie Religionsausübung gestatteten, kam die volle Gleichberechtigung für christliche Minderheiten oder gar für Freidenker und vor allem für Juden nur schleppend voran. Im 19. Jahrhundert waren die meisten europäischen Staaten, die USA und auch einige der europäischen Kolonien damit beschäftigt, nationale Bildungssysteme zu entwickeln. Dabei kam der Religion eine zentrale Bedeutung zu. Sollten die Schulen vom Staat oder von der Kirche kontrolliert werden? Was für eine Art Religionsunterricht sollte, wenn überhaupt, an staatlichen Schulen erteilt werden? Sollten kirchliche Schulen staatliche Mittel erhalten? Wer sollten die Lehrer sein und wie sollten sie ausgebildet werden? Fragen wie diese befanden sich im 19. Jahrhundert im Zentrum der Politik. Selbst in Spanien und Lateinamerika blieben die meisten Liberalen katholisch, zumindest zu Anfang und zur Mitte des Jahrhunderts. In Belgien arbeiteten die katholische Kirche und die Liberalen sogar eine Zeitlang eng zusammen. Um 1850 aber verschlechterte sich ihr Verhältnis zusehends. Auf katholischer Seite war die immer stärker werdende Partei der Ultramontanisten weniger kompromissbereit als ihre Vorgänger. Stattdessen betonten diese romtreuen Katholiken immer mehr die einzigartige Autorität der katholischen Kirche. Und bei den Liberalen wurden die gemäßigten Vertreter oft von antiklerikalen oder sogar antikatholischen Radikalen abgelöst. Im Jahr 1884 gewannen die Katholiken in Belgien die Wahlen. Sie beendeten die lange Zeit der liberalen Hegemonie und führten die katholischen Vorstellungen von Erziehung zum Erfolg. In Frankreich geschah das Gegenteil. Der lange „Krieg zwischen Kirche und Staat“ kulminierte in der Trennung beider im Jahr 1905 – einem Akt, der in den Augen vieler Vorkämpfer sowohl eine symbolische als auch eine praktische Bedeutung hatte: Er stand für die „Reinigung“ des Staates von der „befleckenden“ Verbindung mit der Kirche. In den USA hatte die Trennung von Kirche und Staat unter ganz anderen Umständen stattgefunden; sie war lediglich eine pragmatische Antwort auf den bereits im Land um sich greifenden Pluralismus. In traditionell katholischen Gesellschaften hingegen fanden – wie in Frankreich – im Allgemeinen erbittertere Kämpfe um die Trennung statt. Führend bei der Loslösung der Kirche vom Staat

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waren lange Zeit die neuen Republiken Lateinamerikas – zum Beispiel Mexiko (1859), El Salvador (1871), Guatemala (1879) und Brasilien (1891). Zwar war die katholische Kirche in den verschiedenen Ländern Lateinamerikas unterschiedlich stark, mit dem zutiefst katholischen Kolumbien am einen und dem äußerst säkularisierten Uruguay am anderen Ende des Spektrums, doch insgesamt war die Kirche dort schwächer als in den meisten Gegenden Europas; sie hatte weniger Geistliche, die zudem weniger gut ausgebildet waren. Darüber hinaus waren die städtischen Eliten generell stark vom Positivismus beeinflusst und neigten dazu, die Kirche als bloßen Arm des politischen Konservatismus abzutun. Auch schloss eine kurzsichtige oligarchische Politik jene Art der Massenmobilisierung aus, die die Kirche in Europa vielerorts zu ihrer eigenen Verteidigung erfolgreich organisiert hatte. Die Kämpfe zwischen Liberalen und Konservativen, die die Politik in Lateinamerika im 19. und frühen 20. Jahrhundert bestimmt hatten, waren Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Eliten, bei denen die Bevölkerungsmassen keine Rolle spielten. Zu den Schlüsselfragen gehörte der Einfluss der Religion an den Schulen, der Status der kirchlichen Heirat, die Verantwortung für die Friedhöfe und der Grad an Freiheit, der Protestanten oder anderen religiösen Minderheiten zugestanden werden sollte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Wort „liberal“ im überwiegend ländlichen Spanien erfunden wurde. Denn in den 1840er Jahren lebte die große Mehrheit der Europäer noch in Kleinstädten oder auf dem Land, betrieb Ackerbau oder kleine Werkstätten. In weiten Teilen Europas war das aus dem Mittelalter stammende, überkommene System der Pfarrgemeinden noch immer intakt, mit einer Gemeindekirche samt Friedhof und ortsansässigem Pfarrer, von dem die ganze (oder fast die ganze) Bevölkerung getauft, getraut und begraben wurde. Aristokratische Großgrundbesitzer, aber auch der niedere Landadel übten weiterhin enormen Einfluss auf die ländliche Bevölkerung aus, und sie sahen gemeinhin die Unterstützung der Kirche als Teil ihrer Pflichten an. Dazu dürften die finanzielle Förderung, das Recht, den Priester auszusuchen, sowie die Aufforderung an die Leute, regelmäßig zur Kirche den Gottesdienst zu besuchen, gehört haben. In vielen Teilen Europas bestand um die Mitte des 19. Jahrhunderts die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung aus pflichtbewussten Kirchgängern. Man fand sie typischerweise in Gegenden mit kleinen Pfarrgemeinden, dichter Bevölkerung und überwiegend mittelgroßen Bauernhöfen. Weniger gut funktionierte dieses System in Gegenden mit verstreut lebender Bevölkerung, wo viele Menschen in beträchtlicher Entfernung von der Gemeindekirche lebten und die großen Landbesitzer nicht in der Lage waren, entsprechenden Druck auf ihre Pächter auszuüben – oder in extrem armen ländlichen Gebieten. Doch auf die größte Resonanz stieß die neue Lehre des Liberalismus in jenen europäischen Regionen, die schon voll im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel steckten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekam fast jedes Land in Europa, in den USA, in Kanada, in Australien und in Teilen von Lateinamerika die

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Auswirkungen der Industrialisierung und Verstädterung zu spüren. Dabei hatten diese Prozesse erst am Ende des 18. Jahrhunderts begonnen: in Großbritannien, der Geburtsstätte der industriellen Revolution. Diese Revolution hatte mehrere Dimensionen. Am Anfang stand die Massenproduktion von Waren durch den Einsatz von Maschinen. Sie ermöglichte eine kostengünstige Produktion von großen Mengen. Es begann in der Textilindustrie in Nordengland und Westschottland, doch im Lauf des 19. Jahrhunderts veränderte die Mechanisierung schrittweise auch die anderen wichtigen Industrien – zunächst in Großbritannien, dann in Belgien, Frankreich, Deutschland, in der Schweiz und den USA, und darauf in vielen weiteren Ländern. Gegen Ende des Jahrhunderts erlebten schließlich auch die einstmals überwiegend agrarwirtschaftlich ausgerichteten Länder wie Russland, Spanien oder Schweden einen ähnlichen Wandel. Die zweite Dimension war die Revolutionierung des Transportwesens. Sie beschleunigte die Kommunikation erheblich – innerhalb eines Landes, aber auch über den ganzen Globus hinweg. Zweifellos gehörten seit den 1820er Jahren die Dampfschiffe, seit den 1830ern die Eisenbahn und der elektrische Telegraf und von den 1870ern an das Telefon zu den Meilensteinen. Ebenso wichtig war die vermehrte Veröffentlichung von Büchern und vor allem von Zeitungen. Die revolutionären Jahre im spanischsprachigen Amerika zeigen auf spektakuläre Weise, wie aus einer politischen Krise ein unvorhergesehener Bedarf an Nachrichten entstand, wobei den Zeitungen eine Schlüsselrolle bei der öffentlichen Meinungsbildung zukam. Man schätzt, dass zwischen 1679 und 1810 im gesamten spanischsprachigen Amerika nur 45 Zeitungen gegründet worden sind; in den 1810erJahren aber entstanden 125 neue Titel und in den 1820ern beinahe 400.2 Mit der rapiden Zunahme der Alphabetisierungsrate und mit den Anfängen der Massenpolitik in Europa kam es in den letzten dreißig Jahren des Jahrhunderts zu einer weiteren starken Expansion bei der Zahl der Zeitungen und der Zeitungsleser. In manchen Ländern setzte die Entwicklung sogar ein wenig früher ein. In den USA, dem ersten Land, das Männern aller sozialen Klassen (mit Ausnahme der Sklaven natürlich) das Wahlrecht gab, waren die 1830er Jahre das Schlüsseljahrzehnt. Und auch für Großbritannien könnte man das wohl sagen. Dort hatten die meisten Menschen in von den Kirchen unterhaltenen Sonntagsschulen das Lesen erlernt (wenn auch nicht immer das Schreiben), und die im Jahr 1838 proklamierte People’s Charter bildete den Auftakt zur ersten großen politischen Bewegung der Arbeiterklasse. Diese neuen Möglichkeiten wurden von den politischen Parteien jeder Richtung genutzt, ebenso von religiösen und antireligiösen Bewegungen jeglicher Art. Das ungeheure Unternehmen der religiösen Publizistik, das Zeitschriften, Zeitungen, Traktate, Karten und natürlich preiswerte Bibeln und Erbauungsliteratur um-

2 Fernández Sebastián, Javier, Toleration and Freedom of Expression in the Hispanic World between Enlightenment and Liberalism, in: Past & Present 211/1 (2011), 159–197, 181f.

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fasste, bot für jeden Geschmack etwas, vom primitivsten bis zum intellektuell ausgefeiltesten. Gleichermaßen bedeutsam war die massenhafte Produktion religiöser Bilder und Medaillen, die man in der Tasche mit sich tragen oder an die Wand hängen konnte. Protestanten bevorzugten biblische Motive, während Katholiken auch Bilder von Heiligen oder Abbildungen des Heiligsten Herzens Jesu mochten. In orthodoxen Haushalten beteten die Menschen vor einer Ikone, die in einer Ecke des Hauptraums angebracht war. Und seit der Zeit Pius’ IX. wurden Papstporträts immer populärer. Die Revolutionierung der Kommunikation und des Transportwesens erweiterte auch die Möglichkeiten für Pilgerreisen mit der Eisenbahn und dem Dampfschiff, und so wurde das 19. Jahrhundert tatsächlich zu einem goldenen Zeitalter der Langstreckenwallfahrten – zu berühmten Klöstern, Schauplätzen von Marienerscheinungen, nach Rom und ins Heilige Land, wobei Letzteres eine Art der Pilgerfahrt war, die auch Protestanten guthießen. Die dritte Dimension war die Massenwanderung der europäischen Landbevölkerung auf der Suche nach besser bezahlter Arbeit in die Städte und Industrieregionen Europas oder weiter weg: in den Vereinigten Staaten, andere Teile Amerikas, nach Australien, Neuseeland und Südafrika. Gerade die Aussicht auf billiges Land in den letztgenannten Ländern zog viele an. Das 19. Jahrhundert war eine Zeit der großen Städte von einem Ausmaß, wie die Welt sie nie zuvor gesehen hatte. London wuchs im Verlauf des Jahrhunderts von einer Million auf sechs Millionen Menschen an. Um 1900 hatte New York über drei Millionen Einwohner, und Paris, Berlin und Wien blieben nicht weit dahinter zurück. Riesige Industriegebiete, in denen kleine Städte und Dörfer zu großen Ballungsräumen verschmolzen, entwickelten sich in den Regionen des Bergbaus und der Metallindustrie wie etwa in Deutschlands Ruhrgebiet oder im Westen Pennsylvanias. Auch in anderen Zentren der europäischen Überseebesiedlung schossen neue städtische Giganten empor: São Paulo, Buenos Aires, Melbourne, Toronto. Die Staatskirchen standen bald vor immensen logistischen Schwierigkeiten, denn sie mussten mehr Geistliche rekrutieren sowie Kirchen und Schulen bauen, um die religiösen Bedürfnisse der Menschen in diesen schnell wachsenden Städten zu befriedigen. In vielen Fällen entstand ein beträchtlicher Zeitabstand zwischen dem Einsetzen des Bevölkerungswachstums und dem Aufbau eines Netzwerks von Gemeinden mit genügend Personal. Die mittleren und späteren Jahre des 19. Jahrhunderts wurden darum in vielen Teilen Europas zu einer Zeit der „Riesengemeinden“. Viele Kirchenmänner und religiöse Denker fürchteten, dass die modernen Metropolen zu Orten der Glaubenslosigkeit würden. Das Ausmaß, in dem dies tatsächlich stattfand, variierte aber beträchtlichIn den britischen Städten zogen die Freikirchen viele Menschen an, die sich der Staatskirche entweder nicht anschließen konnten oder wollten. In den amerikanischen Großstädten hingegen war besonders die katholische Kirche sehr erfolgreich darin, Orte für das Gemeinschaftsleben von Einwanderern zu schaffen. Es war keineswegs unausweichlich, dass die Kirche in schnell wachsenden Städten einen Zusammenbruch erleiden musste.

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Komparative Studien zeigen, dass die Reaktionen und Auswirkungen je nach Konfession, je nach Land und je nach der Region eines Landes ganz unterschiedlich ausfallen konnten.3 Am meisten unterschieden sich diese großen Städte von denen früherer Zeiten durch ihre religiöse Vielfalt. Vielerorts gab es ein ganzes Spektrum unterschiedlicher religiöser Gruppen und eine Vielzahl von Subkulturen von Religionslosen, und von Menschen, die mit ihrem Lebensstil gegen religiöse Vorschriften opponierten. Diese Städte waren aber zugleich Knotenpunkte der eher rechtgläubigen Religiosität; sie verfügten über moderne Kirchen, Predigtzentren, religiöse Intellektuelle und Führungspersönlichkeiten in neuen Initiativen. Deshalb überrascht es kaum, dass Jacques-Olivier Boudon seinem Buch über den französischen Katholizismus in den 1850er und 1860er Jahren diesen Titel gab: „Paris, die religiöse Hauptstadt des Zweiten Kaiserreichs“4 – auch wenn es dem verbreiteten Bild von der Großstadt als modernem Sodom und Gomorrha zuwiderläuft. Eines der auffälligsten Merkmale der Stadt des 19. Jahrhunderts war das Ausmaß an sozialer Segregation, wie man es aus der frühen Neuzeit kaum kannte, als Menschen von unterschiedlichem gesellschaftlichem Status noch eng beieinander lebten. Diese Segregation ging einher mit einem zunehmenden Klassenbewusstsein und oft auch mit verschärften Klassenauseinandersetzungen. Ein Aspekt dessen war die Trennung der verschiedenen sozialen Klassen bei der Ausübung ihrer Religion: Man ging in unterschiedliche Kirchen zum Gottesdienst, und manchmal verlief die Trennlinie auch zwischen jenen sozialen Klassen, die zur Kirche gingen, und jenen, die es nicht taten.

IV Die Männer, die sich 1815 in Wien versammelten, um das alte Europa wiederherzustellen, und die Männer, die Europas Nationalkirchen zu Beginn dieser neuen Ära führten, waren alle um die Mitte des 18. Jahrhunderts geboren, und so war auch ihre Frömmigkeit generell vom 18. Jahrhundert geprägt. Wenn sie Katholiken waren, dann waren sie aller Wahrscheinlichkeit nach französische Gallikanisten oder österreichische Josephinisten, die auf ausgeprägte nationale Traditionen Wert legten und für eine enge Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat eintraten, wobei der Papst nur eine begrenzte Rolle spielen sollte. Wenn sie Protestanten waren, dann waren sie wahrscheinlich misstrauisch gegenüber jeder Art von „Enthusias-

3 McLeod, Hugh (Hrsg.), European Religion in the Age of Great Cities. 1830–1930, London 1995. 4 Boudon, Jacques-Olivier, Paris capitale religieuse sous le Second Empire, Paris 2001.

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mus“ und bevorzugten eine rationale und unaufdringliche Religiosität – eine, die eher die Glaubenspraxis als die dogmatische Strenge verherrlichte. Doch schon flossen neue Ströme durch die religiöse Welt des frühen 19. Jahrhunderts. Der Zeitgeschmack verlangte ein Christentum entschiedenerer Art, beseelt von dem Eifer, den Glauben der Lauen und Skeptischen wiederzubeleben, die „Heiden“ in Übersee zu evangelisieren und auch die eigene Gesellschaft zu reformieren. Die Rechristianisierung, die diese kämpferischen Christen vor Augen hatten, sah nicht nur die Bekehrung der Einzelnen vor, sondern auch humanitäre und karitative Arbeit, Kampagnen gegen inhumane oder grausame Institutionen und Praktiken sowie Bestrebungen, der Gesetzgebung eine christliche Grundlage zu geben. Da sie die lehrmäßigen und ethischen Unterschiede zwischen den verschiedenen christlichen Strömungen sehr ernst nahmen, kam es in dieser Zeit auch zu verschärften konfessionellen Auseinandersetzungen und zu Flügelkämpfen innerhalb einzelner Kirchen. Eine bedeutende Entwicklung zeigte sich im deutlich gestiegenen Ansehen des Papsttums. Pius VII. (Amtszeit 1800–1823), der im Jahr 1814 aus dem Exil zurückgekehrt war, wurde verehrt wegen des Leids, das ihm Napoleon zugefügt hatte. Der Ultramontanismus wurde zu einer starken neuen Kraft in der katholischen Welt. Die Ultramontanisten orientierten sich zuvorderst an den Weisungen von „jenseits der Berge“ („ultra montes“), also an denen aus Rom. Sie überhöhten Position und Macht des Papstes und waren in der Regel misstrauisch gegenüber nationalen Regierungen und deren Eingriffen in kirchliche Angelegenheiten. Der Papst war das Symbol der Universalkirche, die überall auf der Welt auf dieselbe Art Gottesdienst feierte, dieselben Frömmigkeitsformen praktizierte und sich an dieselben Glaubenslehren hielt. Im Gegensatz zur rationalen Frömmigkeit der Aufklärung liebten die Ultramontanisten alles Geheimnisvolle und vor allem das Übernatürliche. Insbesondere hielten sie jene Aspekte des katholischen Glaubens in Ehren, die die Katholiken der vorigen Generation (wie auch die meisten Protestanten) verschmäht hatten. Das konnte auch zur Wiederentdeckung und Neubewertung der Volksreligiosität führen. Reliquien wurden wieder modern und ebenso jede Art der Marienfrömmigkeit. Das 19. Jahrhundert wurde zu einem Zeitalter der Pilgerfahrten – an alte und mehr noch an neue Wallfahrtsorte. Ultramontane Priester warben für die neuen Wallfahrten zu den Schauplätzen der vielen Marienerscheinungen des Jahrhunderts; sie gaben diesen den Vorzug vor älteren Wallfahrten zu den Schreinen örtlicher Heiliger. Der Ultramontanismus hatte begonnen als Bewegung des niederen Klerus und einiger Ordensgemeinschaften, vor allem der Jesuiten, unterstützt von einigen katholischen Intellektuellen. Doch in der Ära von Pius IX. , dessen Amtszeit die längste in der katholischen Geschichte war, wurde der Ultramontanismus zur dominierenden Grundhaltung. In der Orthodoxie gab es ähnliche Tendenzen. Auch in der russisch-orthodoxen Kirche lebten im 19. Jahrhundert das Mönchtum wieder auf, und wie in der römisch-katholischen Kirche war der Zuwachs an Nonnen besonders eindrucksvoll.

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Das südlich von Moskau gelegene Optina-Kloster (Optina Pustin) war am Anfang des Jahrhunderts fast am Ende, doch seit den 1820er Jahren wurde es zum geistlichen Zentrum, als die hesychastische Tradition wiederentdeckt wurde, die dort, wie auf dem Berg Athos, von „geistlichen Ältesten“ gepflegt wurde. Dafür wurde das Kloster nicht nur sehr bekannt, sondern erlangte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sogar beträchtliches intellektuelles Ansehen, als auch prominente Schriftsteller zum Kloster pilgerten, um die berühmtesten der Ältesten um ihren Rat zu bitten. Wo die ultramontanen Katholiken die unverwechselbar katholischen Aspekte ihrer Glaubenspraxis in den Vordergrund stellten, bemühten sich die orthodoxen Christen, die authentischen orthodoxen Traditionen ausfindig zu machen und sie von katholischen und protestantischen Einflüssen zu befreien. Simon Dixon5 sieht eine Spannung zwischen der „kosmopolitischen Religion“ zur Regierungszeit von Zar Alexander I. (1801–1825), als Mitglieder der Russischen Bibelgesellschaft am Hof willkommen waren, und dem zunehmenden Interesse an der Aufrechterhaltung einer Tradition, die bis auf die Kirchenväter zurückging und in ihrer reinsten Form nur von den orthodoxen Kirchen gepflegt wurde. Letzteres harmonierte bestens mit der Slawophilie vieler russischer Intellektueller in der Jahrhundertmitte. Sie beklagten den Individualismus und den Modernismus der westlichen Religiosität und ganz allgemein der westeuropäischen Gesellschaften und zeigten sich betrübt über die fatale Anziehungskraft dieser Ideen auf andere Teile der Intelligenzija. Eine dritte Hauptströmung der religiösen Wiederbelebung im frühen 19. Jahrhundert war so vielgesichtig wie weitverbreitet: das evangelikale Christentum in der englischsprachigen Welt mit seinen Gegenstücken im deutschen und skandinavischen Pietismus sowie in der Réveil in Frankreich, der Schweiz und den Niederlanden. Die Evangelikalen und Pietisten aller Art waren sich darin einig, dass man zu den Lehren der Reformation zurückkehren müsse – zur absoluten Autorität der Bibel, zur Notwendigkeit eines Bekehrungserlebnisses für sündige Menschen und zur Rechtfertigung allein aus dem Glauben. In allen anderen Punkten unterschieden sich diese Bewegungen voneinander. Wo die Evangelikalen aus der Aristokratie und der oberen Mittelschicht eine Form der Missionierung „von oben nach unten“ praktizierten, indem sie ihren Einfluss auf die gesellschaftlichen und politischen Eliten ausübten, verfolgten andere einen Ansatz „von unten nach oben“. Letztere fühlten sich zu einer besonderen Mission berufen: zur Mission unter marginalisierten sozialen Gruppen in entfernten Regionen, weitab von den bestehenden Kirchen. Es folgten die Jahre der reisenden Evangelisten, die im Freien predigten und oft dem Gesetz und den herrschenden Sitten trotzten. In der lutherischen Welt waren Anhänger dieser Bewegungen im Großen und Ganzen innerhalb der

5 Dixon, Simon, The Russian Orthodox Church 1721–1917, in: Angold, Michael (Hrsg.), The Cambridge History of Christianity, Bd. V: Eastern Christianity, Cambridge 2006, 325–347, 329.

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bestehenden Kirchenstrukturen zu finden. Auf den Britischen Inseln schlossen sie sich zumeist neueren Gemeinschaften von Dissenters an, die sich außerhalb der Staatskirchen und in Opposition zu ihnen organisierten. Damit stellten sie sich – zumindest implizit – auch gegen die herrschenden Eliten, die eng mit diesen Kirchen verbunden waren. In den USA, wo es kein nationales Establishment gab, entstand während der „Zweiten Großen Erweckung“ um 1800 eine Menge neuer religiöser Organisationen. Das größte Anliegen der verschiedenen Erweckungsbewegungen war die Evangelisierung ihrer eigenen Landsleute. Katholiken und Orthodoxe bemühten sich darum, die Kirchenfernen wieder zur regelmäßigen Teilnahme an der Messe und zum Empfang der Sakramente zu bewegen. Die Evangelikalen und Pietisten hofften, die christlich Getauften zu einem Bekehrungserlebnis führen zu können, in Zuge dessen sie Christus als ihren persönlichen Erlöser annehmen würden. Auf katholischer Seite spezialisierten sich die Jesuiten und Redemptoristen auf die Mission in den Kirchengemeinden. In der protestantischen Welt waren im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert viele Prediger unterwegs, die das Evangelium zu den Menschen bringen wollten, wo immer sie sie antrafen – auf einem Dorfanger oder einem Marktplatz. Ungefähr seit den 1830er Jahren entwickelte sich in den USA eine Methode für professionelle Erweckungsprediger, die andere Länder später aufgriffen. Diese Erweckungsprediger wurden darin geschult, vor großem Publikum in Kirchengebäuden oder öffentlichen Veranstaltungsräumen zu sprechen und eine Atmosphäre zu schaffen, die Massenkonversionen begünstigte. Wie Charles Finney (1792–1875), der einflussreichste Theoretiker der Erweckungsbewegung, behauptete, konnte eine Wissenschaft der Erweckung zeigen, wie der Gebrauch der richtigen Methoden mit Sicherheit die richtigen Ergebnisse zeitigte. Finney befasste sich nicht nur mit der Bekehrung der Einzelnen. Er wollte auch zur Schaffung einer christlichen Gesellschaft beitragen. Wie viele Evangelikale seiner Zeit war er ein vehementer Gegner der Sklaverei, aber er setzte sich auch für weniger populäre Anliegen, wie etwa die Bildung von Frauen, ein. Seit dem späten 18. Jahrhundert begannen Christen unterschiedlichster Art, die Sklaverei als moralisches Übel anzusehen. Die Pioniere der Anti-Sklaverei-Bewegung waren zumeist Quäker, die immer führend darin waren, neue gesellschaftliche Problemfelder auszumachen, lange bevor sie in Mode kamen (zum Beispiel die Abschaffung der Todesstrafe). Doch die Evangelikalen waren zahlenmäßig stärker und besaßen mehr Schlagkraft als die Quäker, und darum war ihre wachsende Beteiligung an der Anti-Sklaverei-Bewegung in Großbritannien und den USA politisch besonders bedeutsam. In den USA stand einem starken Anti-Sklaverei-Affekt im Norden die zunehmende Entschiedenheit der Sklaverei-Befürworter unter den weißen Südstaatlern gegenüber, und dies brachte mehrere große Konfessionen dazu, sich in separate nördliche und südliche Kirchen aufzuspalten, was über mehrere Generationen ein Gefühl der Bitterkeit hinterließ.

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Nach dem Ende der Sklaverei sahen viele Evangelikale zunehmend im Alkohol das größte gesellschaftliche Übel. Das hatte den Vorteil, dass es ein Feind war, auf den sich die meisten Evangelikalen nicht nur in den USA, sondern auch in Großbritannien, Irland und vor allem in den nordischen Ländern einigen konnten. Führt man sich allerdings vor Augen, welche grundlegende Rolle der Alkohol im gesellschaftlichen Leben der meisten christlichen Länder spielte, dann war der Kampf dagegen ein sehr radikaler Schritt, denn er führte in vielen Gemeinschaften zur strengen Unterscheidung von Trinkern und Nichttrinkern, was durchaus für böses Blut sorgen konnte. Es gab auch Katholiken und Orthodoxe, die sich – vor allem in Irland und Russland – dem Kreuzzug gegen den Alkohol anschlossen, doch war es für sie selten eine so dringliche Angelegenheit wie für viele Protestanten. Weitgehend einig waren sich die frommen Christen aller Konfessionen wiederum in der Forderung nach strengeren moralischen Maßstäben für die Sexualität und in der Ablehnung jeglicher „Doppelmoral“, die Männern Freiheiten zugestand, die es für Frauen nicht gab. Dennoch hatten viele Christen in dieser Zeit eine sehr viel weitergehende Vision. Auf lange Sicht war der wichtigste Ertrag der religiösen Erweckung im frühen 19. Jahrhundert das neu erwachte Interesse an der Missionierung der nicht christlichen Welt. Bereits in den 1790er Jahren waren englische Baptisten damit beschäftigt, die Bibel ins Bengalische zu übersetzen. Die Protestanten gründeten sowohl Missionsgesellschaften mit konfessioneller Ausrichtung als auch solche, die ihren Sitz in einer bestimmten Stadt, wie etwa London oder Basel, hatten. Der Engländer William Carey (1761–1834), der Pionier unter den Baptistenmissionaren, wusste sehr gut, wie gering der Anteil der Christen aller Art an der Weltbevölkerung war – und um wie viel kleiner noch die Zahl der Evangelikalen unter ihnen. Die Aufgabe war also riesengroß, doch die evangelikalen Protestanten erkannten die Zeichen der Zeit. Die Große Revolution in Frankreich, der Sturz der dortigen Monarchie und mehr noch, die Vertreibung des Papstes aus Rom im Jahr 1798 markierten in ihren Augen eine neue Epoche der Weltgeschichte. In dieser sollten sich die Christen auf die Wiederkehr Christi vorbereiten, indem sie das Evangelium so vielen Völkern in der Welt brachten wie nur möglich. Einige der jungen, nach 1815 gegründeten katholischen Orden widmeten sich der Überseemission, und auch ältere Orden wie die Dominikaner und die wieder zugelassenen Jesuiten legten neuen missionarischen Eifer an den Tag. In der Revolutionszeit hatten die Päpste zahllose Probleme, die sie in Europa in Atem hielten, doch Gregor XVI. (Amtszeit 1831–1846), der als Kardinal Vorsitzender der Kongregation de Propaganda Fide war, jener Abteilung der Kurie, die für die Mission verantwortlich zeichnete, war der erste Papst in dieser Zeit, der sich ganz für die Überseemission einsetzte. Für die russisch-orthodoxen Missionare war es dagegen kaum nötig, nach Übersee zu gehen, denn Russland und die riesigen von Russland beherrschten Gebiete in Osteuropa und Asien boten ein umfangreiches Betätigungsfeld für die Mission einerseits unter Nichtchristen und andererseits unter Christen ande-

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rer Konfession. Den Missionen der erstgenannten Kategorie gelang es in den 1830er und 1840er Jahren, beträchtliche Zahlen von Muslimen und Juden von einer Konversion zu überzeugen, und ebenso verbreitete sich das Christentum unter den indigenen Völkern in Sibirien und Alaska, wenn auch nur langsam. Was die Missionierung von Christen anderer Konfession anbelangt, so wurden die griechischen Katholiken im Jahr 1839 mit der Orthodoxie „wiedervereinigt“, und in den 1840er Jahren traten Bauern aus Estland und Lettland in beträchtlicher Zahl zur Orthodoxie über – aus Enttäuschung über die von Deutschen geleitete lutherische Kirche und in der Hoffnung, dass der Zar sich bei Konflikten mit Grundbesitzern auf ihre Seite stellen würde. Zu diesem Zeitpunkt war der Erfolg der christlichen Missionen in der nicht christlichen Welt noch sehr gering. Eine bedeutende Ausnahme bildete die Arbeit unter versklavten Afrikanern in der Karibik und im Süden der Vereinigten Staaten. Seit den 1770er Jahren gelangen Baptisten- und Methodistenpredigern dort Bekehrungen in beträchtlicher Zahl, und unter diesen Bekehrten fanden sich etliche, die selbst Prediger wurden und bei der Verbreitung des Wortes sogar erfolgreicher waren als die Evangelisten der Weißen. Diese Prediger zählten zu den Dissenters, die aus der anglikanischen Kirche ausgetreten waren, und viele von ihnen waren bereits Gegner der Sklaverei. Ihre Kirchen waren jedoch von den Plantagenbesitzern akzeptiert und meist legal in den britischen Kolonien gegründet worden. Diese Prediger weckten Hoffnung auf Freiheit in diesem Leben und zugleich auf übernatürliche Erlösung. Ihre Zuhörer erkannten ihre eigene Situation umstandslos in der der Israeliten in der ägyptischen Sklaverei wieder, und sie hörten die Geschichte vom Exodus mit dem Vorgefühl ihrer eigenen Flucht in die Freiheit. Sowohl in Jamaika als auch im Süden der USA waren Baptisten- und Methodistenprediger die Anführer der (relativ seltenen) Sklavenaufstände. Was die Zahlen der Bekehrten betrifft, dürfte die Arbeit der protestantischen Prediger unter den versklavten wie auch freien Afrikanern in den USA und der Karibik zu den größten Erfolgsgeschichten der Missionen im 19. Jahrhundert zu rechnen sein. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Zahl der Christen unter den sich auf Zucker- und Baumwollplantagen Plagenden noch sehr gering; ihre Nachkommen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber waren in überwältigendem Maße Christen. So entwickelten sich nach dem Bürgerkrieg und dem Ende der Sklaverei in den Vereinigten Staaten die baptistischen und methodistischen Kirchen zu den wichtigsten Institutionen des afroamerikanischen Lebens. In Afrika waren unter den ersten zum Christentum Bekehrten viele befreite Sklaven. Herausgerissen aus ihren angestammten Kulturen fanden sie oftmals in der Kirche eine neue spirituelle Heimat. Als 1807 die Briten ihre Beteiligung am Sklavenhandel beendeten, wollten sie sicherstellen, dass nicht andere an ihrer Stelle davon profitierten. Die britische Marine patrouillierte entlang der Küste von Westafrika, stoppte die Sklavenschiffe und befreite die an Bord Gefangenen. An der Küste von Sierra Leone wurde im Jahr 1808 die britische Kolonie Freetown

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gegründet, und viele der aus der Sklaverei Befreiten wurden dorthin gebracht. So wurde die Kolonie eine Hochburg des afrikanischen Christentums, aus der viele Missionare hervorgingen, die den Glauben in den benachbarten Gebieten weiterverbreiteten.

V Dass die religiöse Erweckung des frühen 19. Jahrhunderts schließlich an Schwung verlor, lag in erster Linie an den zahlreichen Kontakten zwischen der Erweckungsbewegung und der politischen Reaktion. Neue kritische Ideen spielten dabei ebenfalls eine Rolle, doch sollte man nicht übersehen, dass Ideen dann die größte Kraft entfalteten, wenn sie Teil eines Bündels neuer Entwicklungen waren. So war etwa die Kritik an der Religion am überzeugendsten, wenn sie aufzeigen konnte, welche negativen politischen und sozialen Auswirkungen Religion hatte. Am deutlichsten wurde das in Deutschland, das über viele Jahre führend in der Hervorbringung religiöser Heterodoxien war. Die Vorrangstellung Deutschlands auf diesem Feld resultierte einerseits aus der Bekanntheit der deutschen Universitäten in vielen Forschungsgebieten, zum anderen Teil aus der Allianz von „Thron“ und „Altar“ in so vielen deutschen Staaten: Die Kritik an der Religion fungierte als ungefährlicherer Stellvertreter der Kritik an der Politik. Die Kritik am Christentum in der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm drei verschiedene charakteristische Formen an: Die erste war die Behauptung, die Wissenschaft sei die einzige Grundlage für verlässliches Wissen und mache alles andere überflüssig. Der einflussreichste Prophet dieser neuen Weltsicht war der französische Philosoph Auguste Comte (1798–1857). In seinem Werk Cours de philosophie positive (1830–1842) ging er davon aus, dass das menschliche Verstehen der Welt drei Phasen durchlief: eine theologische, eine metaphysische und eine positive oder wissenschaftliche. Jetzt, im heraufziehenden wissenschaftlichen Zeitalter, sei die Religion in ihren traditionellen Formen dem Untergang geweiht und würde einer Religion der Humanität weichen. Der Positivismus gewann eine große Anhängerschaft – nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen lateinamerikanischen Ländern, insbesondere in Brasilien. Die zweite Form der Kritik war der Konflikt oder der scheinbare Konflikt zwischen neuen wissenschaftlichen Theorien und den bis dahin akzeptierten christlichen Auffassungen. In den 1830er Jahren wiesen Geologen nach, dass die Erde viel älter sein musste, als es die Bibel zu lehren scheint. 1859 erschien Über die Entstehung der Arten (On the Origin of Species) von Charles Darwin (1809–1882), in dem die These der Evolution durch natürliche Auslese entfaltet wurde. Damit stand die Frage im Raum, ob unsere Welt einschließlich der Menschheit eher ein Produkt

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des Zufalls als eines Plans sei. In den 1870er und 1880er Jahren fand schließlich die Vorstellung eines „Krieges der Wissenschaft mit der Theologie“, wie man in Anlehnung an das Buch A History of the Warfare of Science with Theology in Christendom von Andrew Dickson White formulieren könnte, weiten Zuspruch – auch wenn die Antworten auf diesen scheinbaren Konflikt äußerst unterschiedlich ausfielen. Tatsächlich glaubten Wissenschaftler wie der deutsche Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919), Autor des Bestellers Welträtsel, dass die moderne Wissenschaft im Allgemeinen und der Darwinismus im Besonderen jedwede Religion widerlegt hätten. Das gegenteilige Extrem wurde von zahlreichen gebildeten Menschen vertreten, unter ihnen manche Wissenschaftler die all diese neuen Theorien, die mit ihren religiösen Überzeugungen kollidierten, schlicht ablehnten. Vor allem der Darwinismus erlebte ein Trommelfeuer der Kritik – nicht nur von jenen, die einfach den Text der Bibel zitierten, sondern auch von anderen, die das wissenschaftliche Beweismaterial in Frage stellten, auf dem die Theorie beruhte. Aber viele versuchten auch, die neuen wissenschaftlichen Theorien mit dem christlichen Glauben zu versöhnen: entweder mit ganz traditionellen Versionen des Christentums oder mit einer Art von religiösem Modernismus, der sich aller älteren Doktrinen entledigte, die nicht mehr glaubwürdig erschienen. Die dritte Form der Kritik war das Unterfangen, die christliche Heilige Schrift einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Besonders einflussreich waren hierbei Gelehrte der Universität Tübingen, deren Studien zum Neuen Testament, die in den 1830er und 1840er Jahren veröffentlicht wurden, die Vorstellung einer gemeinsamen Inspiration der kanonischen Schriften untergruben, indem sie alle Fälle von Widersprüchen zwischen den Verfassern der Bibel herausarbeiteten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden nicht nur Frankreich und Deutschland, sondern nahezu alle europäischen Länder zusammen mit den USA und den meisten lateinamerikanischen Ländern zu Schauplätzen eines um sich greifenden religiösen Pluralismus. Der Atheismus erreichte seine größte Ausdehnung womöglich in der russischen Intelligenzija. Bereits in den 1850er Jahren lehnte eine neue Generation nicht nur den orthodoxen Glauben, sondern jede Art von Religion ab – ein Vorgang, der in Iwan Sergejewitsch Turgenews Roman Väter und Söhne (1862) plastisch beschrieben wird. In der englischsprachigen Welt war der Atheismus weniger in Mode, denn er wurde von den gebildeten Eliten mit der kruden Polemik der unteren Klassen in Verbindung gebracht, etwa mit G. W. Foote, dem Herausgeber von The Freethinker. Footes Comic Bible (1882) brachte ihn wegen Blasphemie ins Gefängnis. Doch die etwas zurückhaltendere Lehre des Agnostizismus war unter den Akademikern von Oxford in den 1870er Jahren durchaus en vogue. Zur selben Zeit wurden neuere Glaubensformen greifbar für jene, die der traditionellen Rechtgläubigkeit nicht mehr folgen konnten, aber auch nicht mit ihrer bloßen Verneinung zufrieden waren. Am populärsten unter diesen neueren Spielarten war wahrscheinlich der Spiritismus, der wie so viele andere neue religiöse

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Bewegungen seine Ursprünge in den USA hatte (1848). Sein wichtigster Prophet war allerdings der französische Schriftsteller Allan Kardec (1804–1869), und wie der Positivismus fand er wohl sein größtes Publikum in Brasilien, wo viele aus der gebildeten Mittelschicht sich von der katholischen Kirche abgewandt hatten. Die Theosophie, ebenfalls eine in Amerika entstandene Religion, sprach diejenigen an, die sich von allem „Östlichen“ angezogen fühlten. Sie gelangte beim „Ersten Parlament der Weltreligionen“, das im Jahr 1893 in Chicago stattfand, zur vollen Blüte. Diese neuen religiösen Bewegungen wurden häufig von Frauen gegründet, und unter ihren Anhängern befanden sich ebenfalls viele Frauen. Atheismus und Agnostizismus waren dagegen im 19. Jahrhundert ein hauptsächlich männliches Phänomen. Historiker sprachen von einer „Feminisierung“ des Christentums im 19. Jahrhundert. Auf jeden Fall tat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen männlichen und weiblichen Formen religiöser Praxis eine Kluft auf – wenn auch auf regional unterschiedliche Weise. In den USA, wo die Kirchenmitgliedschaften stark zunahmen, stiegen die Beitrittszahlen von Frauen schneller als die der Männer. In Frankreich, wo Gottesdienstbesuch und Empfang der Kommunion rückläufig waren, verließen die Männer die Kirche eher als die Frauen. Umstrittener ist die Behauptung mancher Historiker, dass im 19. Jahrhundert die Tendenz zu einer sanfteren Theologie und zu einer Theologie, die den Gefühlen mehr Raum gab, ebenfalls die wachsende Mehrzahl von Frauen unter den Gläubigen wiederspiegele. Fest steht jedenfalls, dass mit wenigen Ausnahmen Frauen die Männer zahlenmäßig übertrafen; ihr Vorsprung war in den Kirchengemeinden der meisten Konfessionen beträchtlich, in Europa ebenso wie auf dem amerikanischen Doppelkontinent. Es gab konfessionelle, nationale und regionale Unterschiede. So scheint das Gefälle zwischen Frauen und Männern in katholischen Gemeinden generell ausgeprägter gewesen zu sein als in protestantischen, in Gemeinden der Staatskirche ausgeprägter als in sektenartigen Gemeinschaften, in Gegenden mit wenig religiöser Praxis ausgeprägter als in frömmeren Gegenden.

VI Während das Christentum in Europa und Amerika nach und nach an Bedeutung verlor, reisten christliche Missionare in jeden Winkel des Globus, kehrten in manche Gegenden zurück, zu denen sie lange Zeit keinen Zutritt hatten; viele andere Regionen betraten sie zum ersten Mal. Auf der Weltmissionskonferenz in Edinburgh im Jahr 1910 wurde behauptet, dass Afghanistan, Tibet und Nepal die letzten verbliebenen Länder ohne irgendeine Art von christlicher Präsenz seien. Das alles wäre natürlich nicht möglich gewesen, wenn nicht zahlreiche christliche

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Männer und Frauen sich freiwillig für diese schwierige und oft gefährliche Arbeit zur Verfügung gestellt hätten (gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren es in einigen Missionsgesellschaften mehrheitlich Frauen, die ausgesandt wurden; in vielen anderen Missionen hatten sie zumindest einen bedeutenden Anteil). Zugleich wäre der Zugang zu vielen Teilen der Welt nicht möglich gewesen, wenn die westeuropäischen Länder und die USA nicht zunehmend die Kontrolle über den Rest der Welt übernommen hätten, sei es durch unmittelbare koloniale Herrschaft oder durch Verträge. Hilfreich war auch die Unterstützung, die viele westliche Regierungen den christlichen Missionen gerne gewährten. Die christlichen Missionen gingen der Kolonialherrschaft in vielen Teilen Afrikas, Asiens und im Pazifik voraus. Unausweichlich wurden sie dort mit dem Widerstand zumindest eines Teils der örtlichen Bevölkerung konfrontiert; selbst wenn sie die offizielle Erlaubnis erhalten hatten, missionarischen Aktivitäten nachzugehen, konnte eine solche auch schnell wiederrufen werden. Die Pioniere der Mission und ihre ersten Bekehrten wurden oft zu Märtyrern – manchmal gerade nach anfänglichen Erfolgen. Ein bekanntes Beispiel ist Madagaskar. Im Jahr 1818 errichteten Vertreter der Londoner Missionsgesellschaft dort Schulen und übersetzten die Bibel ins Malagassi, wozu sie der König ausdrücklich ermuntert hatte. Es fanden Bekehrungen statt, einige davon innerhalb der Aristokratie. Auch die Nachfolgerin des Königs, die Königin Ranavalona I., unterstützte die Missionare zunächst. Doch 1835 verbot sie das Christentum. Harte Strafen wurden verhängt, manchmal bis hin zur Exekution. Aus christlicher Sicht nahm die Geschichte aber ein glückliches Ende, als der Nachfolger der Königin im Jahr 1861 der Verfolgung Einhalt gebot und 1869 das Christentum zur offiziellen Religion des Landes erklärte. An einem der Schauplätze des Martyriums wurde zuletzt eine Kathedrale errichtet. In gewisser Hinsicht ist Uganda ein ähnlicher Fall. Die religiöse Verfolgung dort lieferte den Vorwand für eine Intervention der Briten und schließlich für die Übernahme Ugandas als britisches Protektorat im Jahr 1894. Die Kolonialmächte spielten jedenfalls eine entscheidende Rolle dabei, den Missionaren Zugang zu Weltgegenden zu verschaffen, aus denen sie zuvor verbannt gewesen waren. Und sie halfen ihnen, am Leben zu bleiben, nachdem sie sich dort niedergelassen hatten. Mit der Finanzierung von Missionsschulen unterstützten die Kolonialmächte auch eine missionarische Schlüsselinstitution – selbst wenn diese, was die Bekehrung zum Christentum betraf, höchst unterschiedliche Ergebnisse zeitigten. Der größte Beitrag des Kolonialismus zur Mission war indessen ein indirekter. Indem die Kolonialbehörden bestehende Wirtschaftsformen und Autoritätsgefüge zerschlugen, aber zugleich neue wirtschaftliche Chancen eröffneten, die oftmals die Migration erforderten, schwächten sie die Kräfte der Tradition, welche wiederum ein wesentliches Hindernis für potenzielle Bekehrte gewesen waren. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wuchs in der Tat die Kontrolle Westeuropas und der USA über den Rest der Welt unerbittlich an – auch wenn im späteren 19. Jahrhundert eine neue (nicht christliche) Kolonialmacht auf den Plan trat: Ja-

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pan. Zum Ende des Jahrhunderts befand sich fast ganz Afrika unter europäischer Herrschaft. Angefangen mit der Eroberung von Algerien im Jahr 1830 kam der größte Teil von Nord- und Westafrika unter französische Kontrolle. Die Briten begannen 1815 mit dem Kap der Guten Hoffnung und erbeuteten nach und nach Kolonien überall in Afrika. Belgier und Deutsche schlossen sich gegen Ende des Jahrhunderts an, und Italien wurde im frühen 20. Jahrhundert aktiv. Auch ganz Südasien und Malaysia gerieten im Verlauf des Jahrhunderts unter britische Herrschaft. Indochina wurde von den Franzosen seit den 1850er Jahren schrittweise erobert. Große Teile Asiens gehörten weiter zu den Imperien Russlands und der Niederlande. Infolge des Kriegs von 1898 wechselten die Philippinen von der spanischen zur US-amerikanischen Herrschaft. China und Japan blieben unabhängig, doch seit dem Opiumkrieg mit Großbritannien in den 1840er Jahren wurde China ständig von den europäischen Mächten und den USA unter Druck gesetzt. Das ging im frühen 20. Jahrhundert bis zur Gründung mehrerer Enklaven für europäische und amerikanische Unternehmen, die von den jeweils zuständigen Kolonialmächten verwaltet wurden. Mit der Errichtung einer britischen Strafkolonie in Australien begann im Jahr 1788 die Kolonialisierung des ganzen Pazifikraums durch Briten, Franzosen, Deutsche und Amerikaner. Australien und Neuseeland wurden die wichtigsten Zentren der europäischen (hauptsächlich britischen und irischen, zum Teil auch deutschen) Besiedlung. Und Hawaii wurde schließlich ein Staat der USA. Die Beziehungen zwischen den Missionaren und den Kolonialbehörden waren komplex. Die Regierungen von Großbritannien, den USA und Frankreich drängten jeweils China, Japan und Vietnam, den Missionaren „ihre Türen zu öffnen“, was eine lange Zeit anhaltende Bitterkeit hinterließ. Und auch wenn die westlichen Regierungen generell die Missionen schützten, gab es Ausnahmen. Niederländische Liberale befürchteten, dass christliche Missionsstationen im überwiegend muslimischen Ostindien die niederländische Herrschaft gefährden könnten; britische Beamte im Norden Nigerias hatten ähnliche Bedenken. Einen nachhaltigen Eindruck in der öffentlichen Meinung des Westens hinterließ 1807 der anglikanische Autor Sydney Smith, als er mit einer immer wieder zitierten Äußerung die baptistischen Missionare in Bengalen als „kleine Einheiten von Irren“6 bezeichnete. Es war deshalb nicht leicht für die Missionsbewegung, die öffentliche Meinung an ihren Heimatstandorten für sich zu gewinnen. Dennoch erreichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Begeisterung für die Mission einen Höhepunkt, angestachelt sowohl von einem allgemeineren Interesse an der Verbreitung der mutmaßlichen Wohltaten der „europäischen Zivilisation“ als auch von den Anzeichen dafür, dass die christlichen Missionen vor einer Zeitenwende standen. Neben der Bekehrung

6 Cox, Jeffrey, The British Missionary Enterprise since 1700, London 2008, 4.

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der großen Mehrheit der versklavten Afrikaner und ihrer Nachkommen in den USA und in der Karibik zum Christentum waren die Missionen des 19. Jahrhunderts am erfolgreichsten auf den Inseln Polynesiens. Dort folgte auf die Bekehrung eines Stammeshäuptlings oft eine Evangelisierung von oben nach unten. Anderswo waren die Ergebnisse lückenhafter. Den bedeutendsten Erfolg gab es im südlichen Afrika und in einigen Gebieten Westafrikas, wo Sierra Leone der entscheidende christliche Stützpunkt war. In Uganda hatte in den 1880er Jahren eine Bewegung der Bekehrung zum Christentum eingesetzt, doch sie gipfelte im Martyrium vieler afrikanischer Christen und britischer Missionare. Nach dem Ende der Verfolgung setzte eine Phase der Religionskriege ein, die zu dem Urteil Anlass gaben, dass Buganda „das Belfast von Afrika“7 sei. In diesen Kriegen kämpften Protestanten gegen Katholiken und beide wiederum gegen die Muslime. Die Protestanten gingen daraus als Sieger hervor, aber auch in den 1890er Jahren fanden weiterhin Konversionen zum Anglikanismus wie zum Katholizismus statt und legten den Grund für eine zukünftige Christenheit, in der die konfessionelle Identität großes Gewicht hatte. Die Missionare aus Europa und Amerika (unter Letzteren zahlreiche Afroamerikaner) hatten in vielen Teilen Afrikas einen bedeutenden Anteil daran, den Boden für das Christentum zu bereiten; Massenbekehrungen jedoch wurden sehr viel häufiger von charismatischen afrikanischen Predigern bewirkt. Der berühmteste unter ihnen war William Wadé Harris (ca.1860–1929), dessen Tätigkeit als reisender Prediger und gelegentlich als Wundertäter an Goldküste und Elfenbeinküste zwischen 1910 und 1914 zu vielen zehntausend Taufen geführt haben soll – bis ihn schließlich die französischen Behörden nach Liberia, das Land seiner Geburt, deportierten. Die Versuche, in der muslimischen Welt zu missionieren, schlugen hingegen meistenteils fehl, doch in Indien, Korea und China gab es Zeichen eines erwachenden Interesses am Christentum. In Indien sprach das Christentum besonders die Angehörigen der niedrigsten Kasten und, wie auch in anderen Gebieten Asiens, der ethnischen Minderheiten an. In China gab es aber – wie in manchen anderen asiatischen Gegenden zu jener Zeit – noch einen weiteren Grund für die Anziehungskraft des Christentums: Manche Chinesen und Koreaner sahen im Christentum eine „fortschrittliche“ Religion, die bei der Modernisierung ihres Landes eine Rolle spielen könnte. Im Kontrast zu dieser Ausbreitung des Christentums in Afrika, Asien und im Pazifik setzte sich im Mittleren Osten der allmähliche Niedergang des dortigen Christentums im 19. und 20. Jahrhundert weiter fort. Wie bereits angedeutet, kam es im Osmanischen Reich zu Angriffen durch staatliche Agenten oder durch Täter aus eigenem Antrieb, denen zahlreiche Christen im 19. und viel mehr noch im frühen 20. Jahrhundert zum Opfer fielen. Viele entschlossen sich wegen dieser

7 Moorehouse, Geoffrey, The Missionaries, London 1973, 253.

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Angriffe zur Emigration – vor allem in die USA. Andere wurden Teil des Bevölkerungsaustauschs zwischen Griechenland und der Türkei in den 1920er Jahren. Die tragische Geschichte der Christen im Osmanischen Reich endete aber keineswegs in den 1920er Jahren, sondern trat im späteren 20. und frühen 21. Jahrhundert in eine neue Phase ein.

VIII Im 19. Jahrhundert erlebte das Christentum einerseits geografische Verschiebungen, andererseits aber auch Verschiebungen im Machtgleichgewicht aller größeren Strömungen des Christentums. In der katholischen Kirche war die bedeutsamste Entwicklung der Machtzuwachs des Papsttums während der langen Amtszeiten von Pius IX. und Leo XIII. (1878–1903). Im Jahr 1854 erhob Pius IX. die unbefleckte Empfängnis Mariens zum Dogma der Kirche – ohne vorherige Konsultationen und Untersuchungen. 1870 verkündete sodann das Erste Vatikanische Konzil das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit – mit starker Unterstützung aus Italien, Spanien und Lateinamerika, aber gegen die Widerstände vieler Bischöfe aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Frankreich. Leo XIII. machte sich einige der extremeren Positionen seines Vorgängers nicht zu eigen, vor allem aus dem berüchtigten Syllabus Errorum (1864), doch er führte die Tendenz zur Zentralisierung fort. Er brachte eine Verurteilung des „Amerikanismus“ heraus, das heißt der Meinung, dass Katholiken sich an die amerikanische Demokratie und den Pluralismus anpassen sollten, indem sie sich ihren protestantischen Nachbarn öffnen und ihre Kinder auf überkonfessionelle öffentliche Schulen schicken. Seine Enzyklika Rerum Novarum (1891) dürfte jedoch die bedeutendste Enzyklika des Jahrhunderts gewesen sein. Sie bestätigte zwar die Verurteilung des Sozialismus, aber sie befürwortete die Gründung katholischer Gewerkschaften und die Eingriffe von Regierungen in die Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaft, sofern sie das Ziel hatten, Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern. In der orthodoxen Welt bestand die wichtigste Veränderung in der wachsenden Bedeutung Russlands, sowohl in politischer als auch in intellektueller Hinsicht. Mehrere aufeinanderfolgende Zaren übernahmen die Rolle des Beschützers der heiligen Stätten in Palästina sowie der orthodoxen Völker im Osmanischen Reich– eine Rolle, die in einer Reihe von Kriegen und politischen Krisen zum Ausdruck kam und die Imperien der Russen und Türken wiederholt in Gegnerschaft zueinander brachte. Die Zaren förderten zudem die Orthodoxie in den westlichen Teilen ihres Reichs im Rahmen ihrer Russifizierungspolitik und unterstützten missionarische Aktivitäten im Mittleren Osten, in Sibirien und Alaska. In derselben Zeit zählten russische Schriftsteller und Philosophen wie Fëdor Dostoevskij (1821–

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1881) und Nikolaj Berdjaev (1874–1948) zu den einflussreichsten christlichen Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ihre Werke machten orthodoxe Denkweisen und die russische Religion einem größeren Publikum von Katholiken, Protestanten und Agnostikern bekannt, die bis dahin meist nichts vom orthodoxen Glauben gewusst hatten oder ihm sogar ablehnend gegenüberstanden. Doch vielleicht war die größte aller Veränderungen in der christlichen Welt des 19. Jahrhunderts der immense Bedeutungszuwachs der USA. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sie nicht nur die größte Wirtschaftsmacht der Welt, sondern nach dem Russischen Reich das Land mit der zweitgrößten christlichen Bevölkerung, wobei ihr internationaler religiöser Einfluss weit über den Russlands hinausging. Das war zum Teil der Anzahl und dem Eifer der amerikanischen Missionare geschuldet, die mehrheitlich Protestanten, aber zu einem nicht unbedeutenden Teil auch Katholiken waren. Doch der amerikanische Einfluss verbreitete sich auch durch Organisationen wie die Young Men’s Christian Association (YMCA – „Christlicher Verein Junger Männer“). Ebenso hatte die World Student Christian Federation (WSCF – „Christlicher Studenten-Weltbund“), die protestantische Studenten aus vielen Ländern zusammenführte und einen wichtigen Beitrag zur ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts leistete, ihre Ursprünge in den USA. Sie ging aus der Missionsbegeisterung hervor, die an amerikanischen Eliteuniversitäten wie Yale in den 1880er und 1890er Jahren herrschte. Von erheblicher Tragweite für die Zukunft war in den USA die wachsende Spannung zwischen liberaleren und konservativeren Protestanten. Sie explodierte nach dem Ersten Weltkrieg in der Schlacht zwischen Modernismus und Fundamentalismus. Mit Blick auf den enormen Einfluss, den die USA im 20. (und auch noch im 21.) Jahrhundert ausübten, ist es von Bedeutung, dass besonders konservative Formen des Protestantismus sich in den USA ein gewisses Maß an Unterstützung bewahren konnten, für das es in Europa – außer in Irland und den Niederlanden vielleicht – kaum Parallelen gab. Am Ende des 19. Jahrhunderts war die religiöse Topografie der Christenheit ausgesprochen vielfältig. In Europa herrschte fast überall im protestantischen Norden ein klarer Trend zur Säkularisierung. Am weitesten fortgeschritten war dieser Trend in den Industriegebieten Deutschlands und der nordischen Länder, wo der Sozialismus für viele zu einer neuen Religion geworden war, die sich anschickte, die alte zu verdrängen. Im katholischen Süden Europas kam es vielerorts zu einer Polarisierung zwischen streng katholischen Gegenden und anderen Gebieten, die zu Hochburgen des Antiklerikalismus und zuweilen des militanten Säkularismus geworden waren. Im orthodoxen Osten verlief die Trennlinie häufig zwischen gebildeten Skeptikern und gläubigen Bauern, wobei die Arbeiterklasse zusätzlich in sich gespalten war. Für Christen, die sich noch unter osmanischer Herrschaft befanden, waren die Aussichten düster. Lateinamerika blieb überwiegend katholisch; nur kleine protestantische Enklaven konnten sich etablieren. Sie bestanden in der Hauptsache aus europäischen

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Einwanderern sowie aus ein paar Konvertiten aus der Mittelschicht. Der Charakter des dortigen Katholizismus war von Land zu Land äußerst unterschiedlich, ebenso zwischen den Regionen und den gesellschaftlichen Klassen. Eine ultramontane Strenggläubigkeit bestimmte die Atmosphäre im höheren Klerus, aber auch in weiten Teilen des gehobenen Bürgertums und dort besonders bei den Frauen. Antiklerikalismus und Säkularismus waren aber ebenso verbreitet – vor allem in der mittleren und unteren Mittelschicht. Die tief verwurzelte Loyalität gegenüber der katholischen Kirche unter der ländlichen Bevölkerung in manchen Teilen Mexikos zeigte sich während der Verfolgung in den 1920er Jahren und dem darauf folgenden Bürgerkrieg. Doch am weitesten verbreitet war ein Volkskatholizismus, in dem sich alles um Heiligenverehrung, Wallfahrten und das Feiern großer jährlicher Feste drehte. In den USA war das Bild höchst komplex. Die USA hatten den Ruf, ein äußerst religiöses Land zu sein, und im 20. Jahrhundert wurde dieser Ruf angesichts der sich beschleunigenden Säkularisierung in Europa erneut bestätigt. Trotzdem gab es große regionale, soziale und ethnische Unterschiede. So standen zum Beispiel für Schwarze und Weiße im Süden die protestantischen Kirchen im Mittelpunkt, während die katholische Kirche in den Industriegebieten im Nordosten und im Mittleren Westen stark war. Im Westen war indessen die Kirchenmitgliedschaft sehr viel geringer. Der glühende Katholizismus der irischen Immigranten stand im Kontrast zur eher säkularen Mentalität vieler deutscher Einwanderer. Und selbst wenn die Kirchenbesucherzahlen im Allgemeinen recht hoch waren, war dies unter den städtischen Armen und an den Universitäten häufig anders. Etwas, das alle Amerikaner, ob katholisch oder protestantisch, religiös oder säkular, gemeinsam hatten, war jedoch ihr Gefühl für das Schicksal der Nation. Das 20. Jahrhundert ist oft „das amerikanische Jahrhundert“ genannt worden, und das gilt wohl auch für die christliche Geschichte. Übersetzung: Norbert Reck

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Europa nach der Französischen Revolution 1789.

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Lissabon

Cadiz

franz. bes. 1807

Madrid

Gibraltar (engl.)

Paris

Balearen

KGR. ITALIEN

Korsika

Neapel

Galizien

Krakau

Buda

KGR. NEAPEL

F. Pontecorvo F. Benevent

Sofia

Walachei

Bukarest

Moldau

Ionische Inseln (Rep. unter engl. Schutz)

Korfu 1807–1814 franz.

0

200

Athen 400

600 km

Konstantinopel

Schwarzes Meer

Bessarabien

Kiew

KAISERREICH RUSSLAND

Ternopol

Minsk

Smolensk

Moskau

OSMANISCHES REICH

Fstm. Montenegro

Belgrad Sarajewo

Ungarn

Pest

KAISERTUM ÖSTERREICH

Adria

KGR. SIZILIEN

Rom

F. Lucca Fstm. Florenz Piombino Toskana

Genua

Wien

Prag

Breslau

Stockholm

Illyrische Provinzen H. Guastalla Rep. S. Marino

München

RHEINBUND

KGR. SARDINIEN Mittelmeer

1808–1813 franz.

Barcelona

Katalonien

Marseille

Toulouse

Lyon

franz.

Erfurt

Frankfurt

SCHWEIZ

Straßburg Orléans

Köln Brüssel

KAISERREICH FRANKREICH

Rep. Andorra

Bordeaux

Nantes

KGR. SPANIEN

KGR. PORTUGAL

Atlantischer Ozean

Dover

Kgr. Norwegen

Königreich Frankreich 1789 (zu Dänemark) Ostsee KGR. Erwerbungen 1792–1798 Kgr. SCHWEDEN Nordsee Riga Schottland Kaiserreich Frankreich 1812 KGR. Kurland Edinburgh von Familienmitgliedern Memel DÄNEMARK Kopenhagen Rep. Tilsit KGR. regierte Länder Wilna Königsberg Danzig GROSSBRITANNIEN französische VerSchwed.Litauen Dublin Pommern PREUSSEN UND IRLAND bündete/abhängige Kgr. Irland Bialystok KGR. Staaten Hamburg 1807 russ. Kgr. Berlin Wales GHZM. Warschau Amsterdam besetztes Gebiet Kgr. England WARSCHAU Westfalen London

DIE REVOLUTIONEN UND DIE KIRCHE: DIE ÄRA DER MODERNE

NEUE

Hugh McLeod

Wie können wir die Geschichte des Christentums im Europa des 19. Jahrhunderts erzählen? Eine Möglichkeit könnte es sein, mit dem englischen Dichter Matthew Arnold (1822–1888) zu beginnen: Sein atmosphärisch eindrucksvolles Gedicht Dover Beach aus dem Jahr 1867 verglich das Abebben des Meers mit dem „melancholischen, langen, verklingenden Tosen“ des „Meers des Glaubens“. Im Kontrast dazu schrieb der Journalist und Historiker Robert C. K. Ensor (1877–1958), geboren zehn Jahre nachdem Arnold sein Gedicht geschrieben hatte, dass „keiner das viktorianische England je verstehen wird, der sich nicht im Klaren darüber ist, dass diese Gesellschaft unter den hochzivilisierten – im Gegensatz zu den primitiveren – Gesellschaften eine der religiösesten war, die es je gegeben hat“. Und er meinte, dass diese Religion den Gipfelpunkt ihres Einflusses ungefähr um 1870 erreicht hatte.1 Historiker, die von der Warte des späten 20. oder frühen 21. Jahrhunderts aus schrieben, kamen ebenso zu recht unterschiedlichen Urteilen. Der angesehene marxistische Autor Eric Hobsbawm glaubte, in seiner Geschichte Europas von 1848 bis 1875 das Thema Religion auf sieben Seiten erledigen zu können. Wie er zu Beginn des entsprechenden Unterkapitels schrieb, seien „die religiösen Anschauungen jener Epoche von verhältnismäßig eingeschränktem Interesse“. In einem seiner früheren Bücher hatte er schon gesagt, die Religion sei trotz ihrer bleibenden Bedeutung in den Jahren 1789–1848, „um einen Ausdruck aus der Biologie zu gebrauchen, nicht mehr dominant, sondern rezessiv“2. In diesen Worten kommt eines der einflussreichsten Narrative, das das 19. Jahrhundert als „Ära der Säkularisierung“ beschreibt, lediglich besonders unverblümt zum Ausdruck. Natürlich wurde diese Säkularisierung auf vielerlei Art und Weise erklärt, teils wegen unterschiedlicher Konzepte von Religion, teils wegen unterschiedlicher Vorstellungen vom geschichtlichen Wandel. So wird in der populären Geschichtsschreibung die Säkularisierung vor allem mit dem zunehmenden Einfluss der Wissenschaft – in erster Linie des Darwinismus – gleichgesetzt, also mit dem „Konflikt zwischen

1 Ensor, Robert C. K., England 1870–1914, Oxford 1936, 137–140. 2 Hobsbawm, Eric J., Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848–1875, München 1977, 337 (Original: The Age of Capital. 1848–1875, London 1975); Hobsbawm, Eric J., Europäische Revolutionen, Zürich 1962, 436 (Original: The Age of Revolution, London 1962).

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Die Revolutionen und die Kirche: Die neue Ära der Moderne

Religion und Wissenschaft“ (History of the Conflict between Religion and Science), um den Titel eines einflussreichen Buchs zu zitieren, das 1874 in New York erschien. Der bedeutendste Autor innerhalb dieser Traditionslinie ist der englische Kirchenhistoriker Owen Chadwick, der gewichtige (und sehr viel differenziertere) Argumente dafür ins Feld führt, dass die intellektuellen Entwicklungen bei der Beschreibung und Erklärung der Säkularisierung eine entscheidende Rolle spielen müssen. Dazu gehören für ihn die Neuerungen in der Philosophie und im Geschichtsverständnis sowie in den Naturwissenschaften. Er weist aber auch der sozialen und politischen Geschichte eine wesentliche Rolle zu, obwohl diese Felder nicht zu seinen Hauptinteressen zählen.3 Demgegenüber interpretieren viele Historiker und Soziologen insbesondere in Deutschland die Säkularisierung vorrangig mithilfe soziologischer Begriffe. In dieser Perspektive geht die Säkularisierung in erster Linie aus eher unpersönlichen Prozessen des gesellschaftlichen Wandels hervor, vor allem aus Prozessen der funktionalen Differenzierung, wonach der Staat, die Wirtschaft, das Rechtssystem und andere wichtige gesellschaftliche Sphären seit der frühen Moderne einen beträchtlichen Grad an Autonomie entwickelt haben, während die Religion nicht mehr in der Lage war, ihre Bindungskraft ins Spiel zu bringen und verbindliche Regeln für alle Bereiche der Gesellschaft festzulegen.4 Schließlich gibt es noch vornehmlich politische Narrative wie jenes von Rémond. Für ihn war das beherrschende Thema der europäischen Religionsgeschichte von den 1790er- zu den 1890er Jahren der Wandel vom konfessionellen zum religiös neutralen Staat, wobei er, was das 19. Jahrhundert anbelangt, die liberalen Ideen und politischen Bewegungen als die bestimmenden Kräfte ansieht.5 Dagegen haben andere Historiker die hegemoniale Kraft der Glaubensüberzeugungen und -institutionen im 19. Jahrhundert herausgestellt und entweder die Kontinuitäten zur Frühmoderne aufgezeigt oder das Jahrhundert als Zeit der religiösen Wiederbelebung nach einem zuvor stattgefundenen Niedergang betrachtet. So nannte beispielsweise Olaf Blaschke, eine führende Autorität in Fragen des deutschen Katholizismus, das 19. Jahrhundert „ein zweites konfessionelles Zeitalter“, in welchem katholische und protestantische Identitäten sowie konfessionelle Konflikte starken Einfluss auf die meisten Lebensbereiche hatten – eine Ära, die er erst um 1960 enden sieht.6 Callum Brown, einer der einflussreichsten Historiker der Säkularisierung, bezeichnete Großbritannien im frühen 20. Jahrhundert als eine „Gesellschaft des Glaubens“. Und auch er hält die 1960er-Jahre für den wirkli-

3 Chadwick, Owen, The Secularization of the European Mind in the Nineteenth Century, Cambridge 1975. 4 Schlögl, Rudolf, Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850, Frankfurt am Main 2013. 5 Rémond, René, Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart, Oxford 1999. 6 Blaschke, Olaf (Hrsg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002.

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chen Wendepunkt.7 Dabei kam er zu diesem Schluss auf einem gänzlich anderen Weg, denn sein Hauptinteresse gilt den Kirchen als Vertretern der moralischen Disziplin und als Ausgestaltern von Geschlechterrollen, wobei er betont, wie nahe die verschiedenen Konfessionen einander in diesen Fragen sind. Einen dritten Weg bei der Neubewertung der Geschichte des Christentums im 19. Jahrhundert gehen jene Historiker, die in verschiedenen Gegenden Frankreichs intensive Lokalstudien betrieben und eine Revitalisierung des Glaubens vorgefunden haben. In einer gelungenen Zusammenfassung der drei wichtigsten Schulen der französischen Katholizismus-Geschichtsschreibung erwähnt Langlois als erstes eine im Wesentlichen politische Geschichte (oft aus einer liberalen katholischen Perspektive), sodann eine „pessimistische“ Sozialgeschichte mit dem Hauptaugenmerk auf der Entchristianisierung und schließlich einen neueren historiografischen Ansatz, der „die Tatsache berücksichtigt, dass der Katholizismus in der Mehrheit war“. Dieser versucht, „die Dynamik eines Katholizismus sichtbar zu machen, der seine Fähigkeit zur Selbsterneuerung nicht verloren hat“. In dieser Perspektive erscheint der Ultramontanismus als „eine Gelegenheit, die die Kirche zu ergreifen wusste“, um „selbst näher an Rom und gleichzeitig näher an die Menschen heranzukommen“8. In der Religionsgeschichtsschreibung anderer Länder können wir dazu Parallelen finden – zum Beispiel in den unterschiedlichen „pessimistischen“ und „optimistischen“ Darstellungen der Religion im viktorianischen Großbritannien. (Diese scheinen einen Zyklus zu durchlaufen: vom „Optimismus“ Ensors in den 1930er Jahren, der dem vorherrschenden „Pessimismus“ in den 1960er und 1970er Jahren weichen musste, bis hin zum Aufkommen eines neuen „Optimismus“ in den 1980ern.) Mein Hauptaugenmerk wird im Folgenden auf dem komplexen und widersprüchlichen Wesen der Geschichte dieses Zeitraums liegen. Das Europa des 19. Jahrhunderts war ein Ort und eine Zeit der heftigen religiösen Konkurrenz und nicht selten des Konflikts. Konservative und liberale Christinnen und Christen, Katholiken und Protestanten, etablierte Kirchen und freie Gemeinschaften, neue Glaubensformen und verschiedene Arten des Säkularismus und Humanismus wetteiferten um die Gewinnung von Anhängern, um Einfluss auf die öffentliche Meinung und um die Kontrolle wichtiger Institutionen. Das Ausmaß an Religionsfreiheit war von Land zu Land sehr unterschiedlich, und auch in anderen religiösen Fragen schlugen die Länder von West-und Mitteleuropa im 19. und frühen 20. Jahrhundert verschiedene Wege ein. Darum wird dieser Beitrag einerseits allgemeine Tendenzen festhalten, andererseits aber auch die großen und oft noch wachsenden Unterschiede nicht nur zwischen, sondern häufig auch in den europä-

7 Brown, Callum G., Religion and Society in Twentieth Century Britain, Harlow 2006, 40. 8 Langlois, Claude, Permanence, renouveau et affrontements (1830–1880), in: Lebrun, François (Hrsg.), Histoire des catholiques en France, Toulouse 1980, 291.

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Die Revolutionen und die Kirche: Die neue Ära der Moderne

ischen Ländern thematisieren. Die Ancien-Régime-Gesellschaften waren stark hierarchisch organisiert und reglementiert. Die Staaten arbeiteten eng mit den Staatskirchen zusammen, um dem Lebenswandel ihrer Bürger einen disziplinarischen Rahmen von Privilegien und Unterordnung zu geben und jene Minderheiten zu diskriminieren, die sich nicht bereitwillig in diesen Rahmen einfügten. Davon unterscheiden sich die Gesellschaften, die sich seit den 1960er-Jahren entwickelt haben, in beinahe unvorstellbarer Weise. Für sie sind individuelle Freiheit und die Rechte der Einzelnen die höchsten Werte (wenn auch im Kontext großer Ungleichheit hinsichtlich Wohlstand und Macht), und viele Menschen erheben den Anspruch, auch in Fragen des Glaubens und der Moral ihre eigenen Wege beschreiten zu können. Doch zwischen dem Ancien Régime und der Gegenwart liegt die Ära der kollektiven Emanzipation, in welcher untergeordnete soziale, ethnische, nationale und religiöse Gruppen ihre Rechte geltend machten und jene Aspekte der alten Ordnung in Frage stellten, die sie als minderwertig brandmarkten. Die Religion war mit diesen Prozessen aufs engste verknüpft. Manchmal sprachen Emanzipationsbewegungen in der Sprache der Staatskirche und forderten deren Unterstützung ein. Häufiger aber verbündeten sie sich mit religiösen Abweichlern oder entwickelten eine Weltanschauung, die säkular oder zumindest gegen alle existierenden Kirchen eingestellt war. Der Säkularismus trat also im 19. Jahrhundert oft als Begleitaspekt von Emanzipationsbewegungen auf. Zudem wurde er von neuen intellektuellen Entwicklungen untermauert, insbesondere vom Darwinismus und von der kritischen Bibelwissenschaft. Trotzdem sollte man nicht übersehen, dass die Verbreitung dieser Ideen stark von ihrem politischen und religiösen Kontext beeinflusst wurde. Die wesentlichen Unterschiede in der Religionsgeschichte der verschiedenen europäischen Länder zwischen 1789 und 1914 werden am besten verstanden, wenn man die unterschiedlichen Rollen der Religion und des Säkularismus in diesen kollektiven Emanzipationsprozessen in den Blick nimmt. Im Europa des 19. Jahrhunderts waren Religion und Politik aufs engste miteinander verbunden. Die entstehenden politischen Parteien konnte man in der Regel am besten nach ihrem Verhältnis zur Kirche einordnen. So waren die Konservativen vor allen Dingen die Verteidiger der Staatskirche ihres Landes, und konservative Politik war dementsprechend gefärbt: beispielsweise vom Katholizismus in Belgien, vom Anglikanismus in England oder vom Luthertum in vielen Teilen Deutschlands und Skandinaviens. Die Freiheit, die die Liberalen forderten, bezog sich auf die Religion ebenso wie auf die Wirtschaft oder die Politik; folglich wollten sie die Macht der Staatskirchen beschneiden und waren oft antiklerikal – wenn auch nicht notwendigerweise areligiös. In vielen überwiegend katholischen Ländern wurde der Liberalismus zum Ende des 19. Jahrhunderts hin immer säkularer, doch anderswo, vor allem in Großbritannien, waren viele Liberale zugleich gläubige Christen. Die sozialistischen Parteien, die seit den 1860er-Jahren in Deutschland und bis zu den 1880ern in anderen Teilen Europas entstanden, riefen wegen des militanten Antiklerikalismus und oft Atheismus vieler ihrer Parteiaktivisten

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nicht nur bei den Reichen, sondern in allen Klassen starke Abwehr hervor. Wiederum mit Ausnahme Großbritanniens hatten die sozialistischen Parteien über lange Zeit Schwierigkeiten dabei, Wähler in Gegenden anzusprechen, wo viele Menschen aus der Arbeiterklasse auch Kirchgänger waren. Umgekehrt hatten auch die meisten religiösen Bewegungen eine politische Dimension, wie den Zeitgenossen sehr wohl bewusst war. Politische Ereignisse bildeten den Rahmen, in dem sich der Wettstreit zwischen den rivalisierenden Christentümern oder zwischen Religion und Säkularismus entspann. Deshalb sollen diese Ereignisse auch den Rahmen der folgenden Darstellung abgeben, wobei natürlich auch zahlreiche andere Aspekte des Christentums im 19. Jahrhundert eine Rolle spielen werden. In diesem Zeitraum fanden zudem dramatische soziale Veränderungen statt, vor allem solche im Zusammenhang mit der Industrialisierung und Verstädterung. Aber auch der Wandel in den Wissenschaften und in der kritischen Bibelforschung darf nicht übersehen werden. Dabei gilt es, jeglichen Anschein von Determinismus zu vermeiden. Nicht nur die neuen Ideen, sondern auch die Industrialisierung und Urbanisierung wirkten sich – je nach politischem und religiösem Kontext, in dem sie stattfanden – unterschiedlich aus. Vor allem die Rollen, die die Kirchen und die säkularistischen Bewegungen in den Emanzipationsprozessen unterprivilegierter sozialer Gruppen spielten, fielen von Land zu Land äußerst unterschiedlich aus. Seit ungefähr 1960 geht der Trend in Europa in Richtung der religiösen Konvergenz, d. h. die Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen sowie zwischen den stärker und weniger stark säkularisierten Gesellschaften nehmen erheblich ab. Im 19. Jahrhundert dagegen nahmen die religiösen Unterschiede zwischen den europäischen Ländern zu. Ein sehr bekanntes Muster ist jenes, das man in polarisierten Gesellschaften wie Frankreich findet, wo eine dominante katholische Kirche mit einem meist sehr militanten antiklerikalen Liberalismus im Streit lag. Trotz etlicher nationaler Unterschiede fand sich dieses Muster auch in Ländern wie Spanien, Portugal, Italien und Belgien. Ganz anders war die Situation in Großbritannien, das weitgehend protestantisch war, weshalb die wichtigste Schlacht im 19. Jahrhundert zwischen den Staatskirchen und ihren protestantischen Rivalen, den Nonkonformisten oder Dissenters („Abweichler“), geschlagen wurde. In Schweden wurde es erst 1860 erlaubt, die Lutherische Kirche zu verlassen, doch blieb die Situation vom späten 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert ähnlich. Ganz anders war es wiederum in Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz. Dort standen sich eine protestantische Mehrheit und eine starke katholische Minderheit gegenüber, aber gleichermaßen bedeutsam waren die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen innerhalb der protestantischen Kirchen. Auch in Dänemark und Norwegen standen die Streitigkeiten innerhalb der Lutherischen Kirche im Vordergrund; allerdings blieben die Pietisten dort in der Staatskirche, wo sie mit einer starken liberalen Gegnerschaft konfrontiert waren. In einigen Teilen Mittel- und Osteuropas war die tiefste Trennung indessen diejenige zwischen Christen und Juden, unabhängig davon, ob „christlich“ nun wie in Ös-

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terreich oder Polen, in erster Linie „katholisch“ bedeutete oder ob die Situation wie in Ungarn durch das Vorhandensein mehrerer großer christlicher Konfessionen kompliziert wurde. Und schließlich gab es noch die vielen Regionen Europas, in denen populäre Nationalbewegungen aufkamen, um die Vielvölkerstaaten, die große Teile des Kontinents beherrschten, herauszufordern. Sie verlangten Autonomie oder gar Unabhängigkeit für ihre eigenen „Nationen“. In solchen Konstellationen hatte der Anteil der Religion an der nationalen Identität besonders große Auswirkungen auf die gesellschaftliche Position der Kirche. In Irland, Polen und Litauen verbanden sich die Nationalbewegungen aufs engste mit dem Katholizismus; der tschechische Nationalismus nahm dagegen weitgehend säkulare, oft säkularistische Züge an, da die Katholische Kirche allzu eng mit der österreichischen Herrschaft und der Dynastie der Habsburger im Bunde war. Das Verhältnis der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen zu den Kirchen gestaltete sich in jedem Land anders. Und auch die Möglichkeiten der religiösen und säkularen Kräfte, auf Schlüsselinstitutionen wie Schulen, Universitäten, Gesundheitswesen und Wohlfahrt, Armee, Presse oder politische Parteien Einfluss zu nehmen, war sehr unterschiedlich ausgeprägt. Um eine Parallele zum Sport zu bemühen, könnte man sagen, dass der Wettstreit zwischen Religion und Säkularismus oder zwischen staatskirchlicher und freikirchlicher Religion mehr einem Schachspiel als einem Fußball- oder Rugby-Match glich. Beim Fußball oder Rugby mag das Spiel überwiegend in einer der beiden Hälften des Spielfelds stattfinden, doch nur der Torestand sagt klar, welche Mannschaft gewinnt. Beim Schach ist es dagegen wahrscheinlich, dass jeder Spieler ein paar wichtige Bereiche des Bretts kontrolliert, andere aber nicht. So hat jeder Spieler starke und schwache Figuren; der Vorteil für den König von Weiß kann durch den Vorteil für die Dame von Schwarz ausgeglichen werden, und es kann bis zum Ende des Spiels offen bleiben, ob die Bedrohung des gegnerischen Königs durch Weiß mehr bedeutet als der Freibauer von Schwarz. Ähnliche Auseinandersetzungen gab es überall in der christlichen Welt des 19. Jahrhunderts – im überwiegend protestantischen Nordamerika ebenso wie in den mehrheitlich katholischen Ländern von Süd- und Mittelamerika oder in der orthodoxen Welt Russlands, der Ukraine und des Balkans. Im Folgenden aber steht ein bestimmter Teil der Christenheit im Mittelpunkt, nämlich die traditionell katholischen und protestantischen Länder Europas, von Polen und den baltischen Staaten im Osten bis Irland im Westen, vom lutherischen Norden zum katholischen Süden.

1. Eine neue Ära? In den 1780er und 1790er Jahren schien sich eine neue Ära der Religionsfreiheit anzubahnen. Selbst in den katholischen Monarchien Österreichs und Frankreichs

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1. Eine neue Ära?

ließen die Toleranzedikte von 1781 und 1787 bei den bedrängten Gemeinschaften der Protestanten Hoffnung aufkommen. In Englands protestantischer Monarchie tauchten die Katholiken aus zweihundertjähriger Verfolgung auf und erhielten 1791 das Recht, öffentliche Gottesdienste abzuhalten (nur auf das Recht, im Parlament zu sitzen, mussten sie noch bis 1829 warten). Den Trend zur Toleranz im späteren 18. Jahrhundert begünstigte die Tatsache, dass „aufgeklärte“ Protestanten und Katholiken immer weniger Wert auf ihre jeweils charakteristischen Dogmen legten, dafür aber auf die christliche Ethik und die Rolle der Kirche bei der Erhaltung einer friedfertigen, tüchtigen und harmonischen Gesellschaft. Radikaler war der Wandel in den neuen revolutionären Gesellschaften, die beiderseits des Atlantiks entstanden. Rein theoretisch – wenn auch selten in der Praxis – boten diese ihren Bürgern Gleichheit und ebenso wie Freiheit. In den britischen Kolonien Nordamerikas erklärten amerikanische Patrioten ihre Unabhängigkeit vom Mutterland, und nach einigen Kriegsjahren wurde aus der Erklärung im Jahr 1783 tatsächlich Wirklichkeit. Die Vereinigten Staaten von Amerika umfassten zunächst 13 Staaten entlang der Atlantikküste von New Hampshire im Norden bis nach Georgia im Süden und waren 1791 die erste christliche Nation, die Kirche und Staat trennte. Darüber hinaus legte der berühmte Erste Zusatzartikel zur Verfassung nicht nur fest, dass es keine Nationalkirche geben sollte, sondern auch, dass die „freie Religionsausübung“ nicht „beschnitten“ werden dürfe. Die Französische Revolution von 1789 nahm der Bourbonen-Dynastie die meisten ihrer Befugnisse und etablierte schließlich eine konstitutionelle Monarchie, die das Land in Abstimmung mit einer gewählten Nationalversammlung, die das Volk repräsentieren sollte, regierte. Das neue Regime stattete alsbald Protestanten, Juden und Nichtgläubige mit gleichen bürgerlichen Rechten aus. Auch in den Niederlanden folgte auf den französischen Einmarsch im Jahr 1795 die Wahl einer Nationalversammlung. Diese setzte sich aus „Patrioten“ zusammen, die, von französischen Idealen geleitet, 1796 Kirche und Staat trennten, Freiheit für alle Konfessionen verkündeten und der Niederländischen Reformierten Kirche ihre privilegierte Stellung und die staatliche Finanzierung nahmen. In all diesen revolutionären Gesellschaften blieb jedoch der Graben zwischen Ideal und Wirklichkeit lange bestehen. Der Weg zur echten Religionsfreiheit war lang und steinig. Vor allem in Frankreich war er zeitweise sogar völlig blockiert. Doch das Ideal der Gewissensfreiheit wurde zu einem Kernstück des Liberalismus, der wirkmächtigsten Ideologie im Europa des 19. Jahrhunderts. Sein Einfluss war auch in den protestantischen Kirchen und selbst in der Katholischen Kirche (trotz der Ablehnung durch mehrere aufeinanderfolgende Päpste) beträchtlich. Die Staatskirchen Europas blieben das ganze 19. Jahrhundert hindurch sehr mächtige und oft privilegierte Institutionen. Aber von nun an wurde ihre Macht von verschiedenen Seiten angefochten: von christlichen Abweichlern, von Verfechtern neuer Religionen, von Säkularisten oder Atheisten sowie von Liberalen, die die kirchliche Macht im Interesse individueller Rechte oder eines stärkeren Staates einschränken wollten.

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In Großbritannien und Irland war das explosive Wachstum der protestantischen Freikirchen bereits seit dem späten 18. Jahrhundert im Gange. Die Methodisten in England, Wales und Irland, die Baptisten und Kongregationalisten in England und vor allem in Wales, die presbyterianischen Dissenters in Schottland und Irland sowie die Unitarier und viele andere Konfessionen wurden in kürzester Zeit zu einem bedeutenden und unübersehbaren Teil der britischen religiösen Szene. In England und Wales reichte die starke Präsenz der Abweichler bis ins 17. Jahrhundert zurück, wobei das 18. Jahrhundert sogar von einem gewissen Rückgang gekennzeichnet war. Auch die Niederlande hatten bereits eine lange Geschichte des protestantischen Pluralismus, der nicht nur die Niederländischen Reformierten, sondern auch Lutheraner, Mennoniten und Remonstranten umfasste. Doch zur wichtigsten Abspaltung von der Reformierten Kirche kam es erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Protestanten, die sich in Großbritannien, den Niederlanden und auch in der Schweiz von ihrer historisch dominierenden Kirche trennten, waren in ihrer Theologie ganz orthodox, in ihrem religiösen Stil aber evangelikal und befanden sich auf der Suche nach einem reineren und engagierteren Christentum. In Deutschland kamen die wichtigsten Abweichler-Bewegungen in den 1840er-Jahren auf und führten sowohl bei der Katholischen Kirche als auch bei den protestantischen Landeskirchen zu Abspaltungen. Auch hier suchten die Abweichler eine reinere Form des Christentums, doch strebten sie zugleich ein moderneres und rationaleres Christentum an, das frei von jenem Aberglauben sein sollte, der in ihren Augen den ultramontanen Katholizismus ebenso wie den pietistischen Protestantismus korrumpiert hatte. In den 1790er-Jahren finden wir auch die Anfänge einer langen beständigen Wachstumsperiode der europäischen Missionen in Asien, Afrika und den pazifischen Inseln. Die Baptist Missionary Society entstand 1792 auf Betreiben eines Schuhmachers aus Northamptonshire, William Carey (1761–1834), und war die erste einer Reihe von protestantischen Missionsgesellschaften, die gegen Ende des 18. oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründet wurden. Zu ihnen gehörten beispielsweise die London Missionary Society (1795), die Church Missionary Society (1799), die Basler Mission (1815) und die Berliner Missionsgesellschaft (1824). Zum Wiederaufleben der katholischen Missionsaktivitäten kam es etwas später, unter dem Pontifikat von Gregor XVI. (Amtszeit 1831–1846). Carey war inspiriert worden von den Berichten des englischen Entdeckers Kapitän James Cook und seinen Fahrten in die Südsee; er glaubte, die „Verbreitung der bürgerlichen und religiösen Freiheit“ bedeute, dass sich für das Evangelium „ein glorreiches Tor geöffnet habe und sich aller Wahrscheinlichkeit nach weiter und weiter öffne“9. 1793 reiste er nach Indien, erreichte mit seinen Predigten ein paar Bekehrungen und legte mit der Überset-

9 Cox, Jeffrey, The British Missionary Enterprise since 1700, London 2008, 11–12.

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zung der Bibel ins Bengalische den Grund für das zukünftige Wachstum des Christentums. Für Überseemissionen interessierten sich einstweilen lediglich Minderheiten unter den aktiven Kirchenmitgliedern, die Missionsarbeit war bis dahin nicht sehr angesehen, doch es entstanden internationale Netzwerke von Evangelikalen und Pietisten, die von einer Leidenschaft für die „vom Verderben bedrohten Heiden“ getragen waren. Carey bekam keinen Zugang zu jenen Territorien Indiens, die von der Britischen Ostindien-Kompanie kontrolliert wurden, erhielt aber einen Stützpunkt vom pietistischen Gouverneur der damals dänischen Stadt Serampore. Die ersten Missionare der anglikanischen Church Missionary Society waren Deutsche. Währenddessen verbreiteten sich die säkularistischen Ideen, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in kleinen Kreisen von Intellektuellen und Aristokraten zirkulierten, zunehmend in der Öffentlichkeit. Das geschah vor allem in Frankreich; aber auch in Großbritannien waren die 1790er-Jahre ein Wendepunkt – sowohl für die Geschichte des Säkularismus als auch für jene des nonkonformistischen Protestantismus. Thomas Paine (1737–1809), dessen Werk Rights of Man („Die Rechte des Menschen“) bei politischen Radikalen bereits sehr populär war, veröffentlichte 1794 sein Buch The Age of Reason („Das Zeitalter der Vernunft“), das über mehrere Generationen zu einem der beliebtesten Texte britischer und amerikanischer Säkularisten wurde. Indem Paine die Ungereimtheiten und Widersprüche in der Bibel herausstellte, wollte er zeigen, dass sie nicht das Wort Gottes sein konnte. Er ging von einer wörtlichen Interpretation der Bibel aus, und das deckte sich gut mit dem Verständnis vieler gläubiger Leser. Der typische Konvertit zum Säkularismus war ein Methodist aus der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht, tief durchdrungen von den Schriften, die er nach der Lektüre von Paine mit neuen Augen zu sehen begann.10 Im späten 18. Jahrhundert kam es in Großbritannien bereits zu rasanten sozialen Veränderungen, die den Boden bereiteten für einen gleichermaßen rasanten religiösen Wandel. Die Mechanisierung der Baumwollverarbeitung in Lancashire in den 1770er-Jahren gilt vielen als der Anfang der „industriellen Revolution“, doch zur selben Zeit hatte auch in anderen Bereichen der Textilindustrie, im Kohlebergbau und in der Eisenherstellung ein starkes Wachstum eingesetzt. Hinzu kamen Verbesserungen der Lieferwege durch Mautstraßen und den Bau von Kanälen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatten die neuen industriellen Zentren wie Manchester, Birmingham, Leeds und Glasgow sowie der Hafen von Liverpool Einwohnerzahlen um die 70.000. Neben diesen großen Zentren verzeichneten auch kleinere Städte und Industriesiedlungen ein starkes Wachstum, vor allem in Lancashire und Yorkshire, dem neuen industriellen Kerngebiet Großbritanniens. Viele dieser Gebiete mit starkem Bevölkerungswachstum waren im Mittelalter arm und

10 Budd, Susan, The Loss of Faith. Reasons for Unbelief among Members of the Secular Movement in England 1850–1950, in: Past & Present 36/1 (1967), 106–125.

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nur dünn besiedelt; die Kirchengemeinden erstreckten sich über dementsprechend weite Flächen, und zahlreiche Menschen lebten in größerer Entfernung von ihrer Gemeindekirche. In der „unreformierten“ Kirche von England im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wurden diese Probleme noch dadurch verschärft, dass die Geistlichen häufig nicht ortsansässig waren, weil sie manchmal mehrere Gemeinden gleichzeitig betreuten. Viele Menschen kamen deshalb nur zur Feier von Übergangsritualen in die Kirche. Andere wurden von den neuen religiösen Bewegungen angezogen, die sich zu dieser Zeit stark ausbreiteten. Vor allem der Methodismus wuchs eindrucksvoll; seine Mitgliederzahl stieg von 57.000 im Jahr 1791 auf 92.000 im Jahr 1801 und auf 143.000 im Jahr 1811. Um 1851 gab es 518.000 Methodisten in Großbritannien (und mehr als eine Million in den Vereinigten Staaten).11 Der Methodismus begann als Netzwerk örtlicher Gesellschaften, die von dem anglikanischen Geistlichen John Wesley (1704–1791) koordiniert wurden. Von 1738 an bis zu seinem Tod zog er predigend durchs Land, sprach oftmals unter freiem Himmel zu den Leuten. Sein Ziel war es, den evangelikalen Glauben denjenigen nahezubringen, die in Distanz zur Staatskirche lebten – sei es aus geografischen Gründen oder aus Unzufriedenheit mit dem, was die Kirche bot. Ursprünglich wollte er innerhalb der Kirche von England bleiben, und er forderte seine Bekehrten auf, neben dem Besuch der methodistischen Predigten und den Treffen in kleinen lokalen Gruppen („Klassen“) auch weiterhin die Sakramente in ihren Gemeindekirchen zu empfangen. Doch nach und nach zogen sich die Methodisten von dort zurück, teils wegen des Widerstands, auf den sie bei vielen anglikanischen Geistlichen, aber bei auch vielen Laien trafen, teils wegen ihres gewachsenen Bewusstseins einer eigenen Identität. Die letzten Phasen der Trennung fanden in den 1790er-Jahren nach Wesleys Tod statt. Beinahe umgehend begann sich die methodistische Bewegung auch selbst zu spalten. Der größte Zweig blieben die Wesleyaner; zu denen, die sich abspalteten oder ausgeschlossen wurden, gehörten die New Connexion und später die Free Methodists, die demokratischere Strukturen wollten, die Primitive Methodists, die Methoden der amerikanischen Erweckungsbewegung aufgriffen und viele Predigerinnen hatten (eine Praxis, die die Wesleyaner 1803 verboten hatten), und viele andere. Überall in den nordenglischen Industriegebieten, vor allem in Gegenden ohne nahe Gemeindekirche, schossen kleine methodistische Kapellen aus dem Boden. Sie wurden von Laienpredigern betreut, die oft Arbeiter waren und den lokalen Dialekt sprachen. Sowohl die sehr große methodistische Bewegung als auch die kleinere säkularistische Bewegung florierten in den neuen Industriegebieten, und sie glichen sich darin, dass sie sich hauptsächlich an Menschen aus der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht wandten. Auch der Liberalismus, der zur beherrschenden Ideologie im Europa des 19. Jahrhunderts wurde und riesige, wenn auch sehr verschiedenartige Auswirkun-

11 Hempton, David, Methodism. Empire of the Spirit, New Haven, CT 2005, 212–214.

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gen auf Religion und Kirche hatte, hatte seine Wurzeln im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in den Zentren der Industrie und des Handels. Am stärksten wirkte er allerdings auf jene, die in der sozialen Hierarchie etwas höher standen: auf Geschäftsleute und Gewerbetreibende. Bereits im späten 18. Jahrhundert entwickelten sich bei den städtischen Eliten neue Formen der Geselligkeit und der religiösen Kultur, die sich nach Ansicht mancher Historiker säkularer ausnahm, in den Augen anderer aber nicht weniger, sondern nur anders religiös war als die „barocke Frömmigkeit“ der vorigen Generation. Die zentrale Stellung der Kirche im städtischen Leben wurde relativiert durch die Vielzahl neuer Vereinigungen, angefangen bei literarischen, wissenschaftlichen und karitativen Gesellschaften bis hin zu den Freimaurerlogen. Die Veröffentlichung religiöser Bücher nahm stark zu, was allerdings für Veröffentlichungen anderer Art ebenso zutraf, wobei die nichtreligiösen Titel jedoch einen sehr viel schnelleren Aufschwung erlebten. Fast alle Stadtbewohner waren Christen oder Juden und wurden, wenn sie Christen waren, gemäß den christlichen Riten getauft, getraut und begraben, doch die Bandbreite der Glaubensüberzeugungen erweiterte sich erheblich. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war der Deismus unter den Männern der Aristokratie ziemlich verbreitet, und auch der Atheismus war eine, wenn auch etwas gewagtere, anerkannte Möglichkeit. Bedeutsamer war zu diesem Zeitpunkt jedoch die zunehmende Glaubensvielfalt innerhalb der großen Mehrheit, die sich selbst als Christen bezeichneten. Nach Ansicht von Lucien Hölscher, einem führenden Historiker des deutschen Protestantismus, tat sich ein Graben auf zwischen der traditionelleren Frömmigkeit der unteren Mittelschicht und dem „aufgeklärten“ Glauben vieler in der oberen Mittelschicht. Letzterer war rational, moralbetont und tolerant und interessierte sich mehr für die ethischen Ideale, die die verschiedenen Konfessionen gemeinsam hatten, als für die dogmatischen Unterschiede, die sie trennten.12 Seit die kirchlichen und staatlichen Obrigkeiten nicht mehr versuchten, den Menschen eine bestimmte religiöse Praxis aufzuzwingen, ging der Kirchenbesuch zurück. In England geschah dies schon nach dem Erlass der Toleranzakte im Jahr 1689. In den deutschen Städten zeigte es sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war es unter Protestanten in Stadt und Land noch üblich, drei oder vier Mal im Jahr am Abendmahl teilzunehmen. Im frühen 19. Jahrhundert war dies schon selten, und es gab viele Menschen, die überhaupt nicht mehr zum Abendmahl gingen. In den Städten fand der stärkste Rückgang zwischen 1750 und 1800 statt. So fiel in diesem Zeitraum der Anteil der Abendmahlsteilnehmer an der protestantischen Bevölkerung beispielweise in Berlin von 150 auf 40 Prozent oder – weniger dramatisch – in

12 Hölscher, Lucian, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005, 98f.

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Dresden von 165 auf 100 Prozent.13 Inzwischen haben deutsche und französische Historiker gezeigt, dass im selben Zeitraum auch der Anteil der Katholiken, die dafür bezahlen, dass nach ihrem Tod Messen für ihre Seelen gelesen werden, rückläufig war.14 Doch hierbei stoßen wir sofort auf Probleme mit der Terminologie und der Interpretation. Rudolf Schlögl und Michel Vovelle sehen darin ein klares Anzeichen der Säkularisierung. Ralph Gibson hingegen weist darauf hin, dass nicht nur katholische Laien, sondern in den 1770er-Jahren auch die französischen Kleriker weniger Geld für Seelenmessen ausgaben. Die Erklärung dafür liegt seiner Ansicht nach nicht so sehr in der „Entchristianisierung“, wie Vovelle meint, als in der Tatsache, dass „die ‚barocke‘ Einstellung gegenüber dem Tod, die in reichhaltigen Zeremonien zum Ausdruck kam, dem Geschmack des 18. Jahrhunderts nicht mehr entsprach, weil man inzwischen einen weniger extravaganten Umgang mit dem Tod vorzog“15. Lucian Hölscher geht hier noch viel weiter, wenn er behauptet, dass das späte 18. Jahrhundert keinen Niedergang des Christentums mit sich brachte, sondern eine Neuinterpretation, und zwar eine, die sich als ausgesprochen segensreich erwies. In seinen Augen fand in dieser Zeit „ein heroischer Durchbruch in der Entwicklung der modernen Frömmigkeit“16 statt. Als Beispiel dafür erwähnt er die Orientierung hin zu einer persönlicheren Frömmigkeit, die stärker von individueller Hingabe als von Pflichterfüllung geprägt ist. (Um zu sehen, auf welchem semantischen Minenfeld wir uns bei allen Diskussionen zur Säkularisierung bewegen, genügt die Tatsache, dass Schlögl genau denselben Trend erwähnt, ihn aber als Symptom einer säkulareren Gesellschaft veranschlagt.) Hölscher erwähnt außerdem die zunehmend stärkere Verbindung zwischen Christentum und sozialem Engagement sowie die allgemein großzügigere Mentalität, die sich in freundlicheren Beziehungen zwischen Lutheranern, Reformierten und Katholiken spiegelte. Im 19. Jahrhundert erfuhren die rivalisierenden Interpretationen des Christentums – seien sie liberal, konservativ, militant konfessionell oder sektiererisch – eine Politisierung, die oft explosiv werden konnte. Und noch explosiver war die Politisierung von Deismus und Atheismus. Die Jahre nach der Französischen Revolution stehen für eine entscheidende Phase in diesen Prozessen.

13 Hölscher, Frömmigkeit, 106–109. Hölscher zeigt, dass bis etwa 1750 die meisten Protestanten wenigstens einmal im Jahr am Abendmahl teilnahmen, manche aber auch mehrmals im Jahr, sodass der Anteil gemessen an der Bevölkerung oftmals höher als 100 Prozent war. Danach ging die Zahl rapide zurück, weil manche Protestanten seltener am Abendmahl teilnahmen und andere ganz damit aufhörten. 14 Vovelle, Michel, Piété baroque et déchristianisation en Provence au XVIIIe siècle, Paris 1973; Schlögl, Rudolf, Glaube und Religion in der Säkularisierung, München 1995. 15 Gibson, Ralph, A Social History of French Catholicism. 1789–1970, London 1989, 6. 16 Hölscher, Lucian, Secularization and Urbanization in the Nineteenth Century. An Interpretative Model, in: McLeod, Hugh (Hrsg.), European Religion in the Age of Great Cities, 1830–1930, London 1995, 270–273.

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2. Revolution und Krieg

2. Revolution und Krieg 2.1. Die Revolution Im Mai 1789 traten Frankreichs Generalstände zusammen – zum ersten Mal nach 175 Jahren, nach einer Zeit, in der die französischen Könige ohne sie regiert hatten. Sie wurden zusammengerufen, weil sie neue Steuern genehmigen sollten, um die chronische Finanznot der Krone zu beheben. Anfangs trafen sie sich in drei getrennten „Ständen“: jenen der Geistlichkeit, der Aristokratie und des Dritten Standes, der die übrige Nation repräsentierte. Der hauptsächlich aus dem Bürgertum bestehende Dritte Stand war entschlossen, die Situation auszunutzen, um eine Reihe von Forderungen durchzusetzen. Im Juni schloss sich die Mehrheit des Klerus mit einigen Adligen dem Dritten Stand an, um eine Nationalversammlung zu bilden. Nach dem Fall der Bastille, der königlichen Festung in Paris, war König Ludwig XVI. im Juli gezwungen, in die neue, eingeschränktere Rolle eines konstitutionellen Monarchen einzuwilligen und einem weitreichenden Reformprogramm zuzustimmen, zu welchem auch die Abschaffung des Feudalismus gehörte. 1789 schienen Religion und Revolution Hand in Hand zu gehen. Reinhard schrieb: „Es sah so aus, als könne keine Versammlung stattfinden, ohne den Himmel anzurufen, als müsse jeder Erfolg ein Te Deum nach sich ziehen, als müsse jedes Symbol, das offiziell angenommen wurde, zuvor gesegnet werden. Das enge Band bestand nicht mehr zwischen ‚Thron und Altar‘, sondern zwischen Revolution und Altar.“17 Aber als die Reformen auch die Kirche und nicht mehr nur den Staat und den Adel betrafen, begannen viele Kleriker (und nicht nur die adligen Bischöfe) zu zweifeln. Sie akzeptierten noch die Abschaffung des Zehnten und die Enteignung der kirchlichen Ländereien (da zum Ausgleich Staatsgehälter für den Klerus eingeführt wurden). Doch die Reformen wurden immer kontroverser, insbesondere als Mönche und Nonnen von ihren Gelübden entbunden wurden und die Katholische Kirche ihre privilegierte Position im Zuge der Gottesdienstfreiheit und der Gleichbehandlung von Nichtkatholiken verlor. Der Kirche drohte eine Spaltung; das wurde deutlich, als die Zivilkonstitution des Klerus (Constitution civile du clergé) 1790 in Kraft trat. Seither sollten Gemeindepriester und Bischöfe zu denselben Bedingungen wie Staatsbeamte gewählt werden. Stimmrecht hatten alle männlichen Grundeigentümer auf dem Gebiet der Gemeinde oder der Diözese, das heißt, Protestanten, Juden und Atheisten durften ebenso abstimmen wie gläubige Katholiken. Die Verfasser dieser Konstitution waren stark von gallikanischen Ideen beeinflusst, wonach die französische Kirche in den meisten praktischen Angelegenheiten autonom sein sollte: Der Papst wurde

17 Reinhard, Marcel, Paris pendant la Révolution, 2 Bde., Paris 1966, Bd. I, 196.

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zwar als nominelles Oberhaupt der Kirche anerkannt, aber in der Praxis sollten die eigenen Bischöfe sie leiten. In Österreich vertraten viele Bischöfe und besonders auch Kaiser Joseph II. ganz ähnliche Ideen, die dort als „Josephinismus“ bezeichnet wurden. In den 1780er-Jahren kam es aus diesem Grund zu einer Krise im Verhältnis zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl, und so überrascht es nicht, dass im März 1791 Pius VI. auch die französische Zivilkonstitution und die liberalen und egalitären Ideale der Revolution verurteilte. Mittlerweile hatten schon zahlreiche Geistliche den geforderten Eid auf die neue Verfassung verweigert. Den Ausschlag gab das Versäumnis der verfassungsgebenden Versammlung, die Kirche bezüglich ihrer Reformvorhaben zu konsultieren. In den Augen der Abgeordneten aber war die „Nation“ souverän und durfte nicht durch irgendwelche privaten Interessen eingeschränkt werden. Die meisten Kleriker akzeptierten die Tatsache, dass der Kirche durch die politischen Realitäten Grenzen gesetzt waren, doch sie konnten sich nicht damit abfinden, dass sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt wurden – ohne die geringste Anerkennung der Rechte und Würde der Kirche und ihrer Letztverantwortung vor Gott. Schließlich zerfiel in die Kirche in zwei Teile: Etwas mehr als die Hälfte des Klerus (die „Eidesleister“ oder „Verfassungstreuen“) leistete den Eid, knapp die Hälfte (die „Eidverweigerer“) verweigerte ihn. Noch etwa sechs Monate wurde das Ideal der Toleranz, mit dem die Revolution begonnen hatte, aufrechterhalten. Die „Verfassungstreue Kirche“ war jetzt die offizielle, staatlich finanzierte Kirche; die eidverweigernden Geistlichen und ihre Anhänger dagegen hatten nun denselben rechtlichen Status wie eine Sekte. Aber der angespannte Friede währte nicht lange. Vor allem in Paris begannen militante Revolutionäre damit, eidverweigernde Gemeinden zu zerstören, während in ländlichen Gebieten verfassungstreue Priester beleidigt, verprügelt oder völlig geschnitten wurden. Mit der Kriegserklärung an Österreich im April 1792 und besonders, nachdem die Invasoren im August die französische Grenze überschritten hatten, fanden alle Toleranzgedanken ihr Ende. Viele eidverweigernde Priester wurden verhaftet, andere gingen ins Exil. Zweihundert Priester waren unter den Opfern der „Septembermassaker“ in Paris. Viele Aktivisten der Revolution wandten sich nun gegen ihre Freunde in der Verfassungstreuen Kirche. Im September 1792 wurde die Republik ausgerufen, im Januar 1793 kam es zur Exekution des Königs. Die neue Republik führte die bürgerliche Ehe und die Scheidung ein; in manchen Orten zogen Possenreißer durch die Straßen, führten Esel mit Bischofshüten herum und trugen Schein-Reliquien vor sich her. Staatliche Rituale, vor allem die Errichtung vaterländischer Altäre, hatten zum Ziel, die kirchlichen Zeremonien zu ersetzen. In der radikalsten Phase der Revolution, in den letzten Monaten des Jahres 1793, wurde ein neuer Kalender eingeführt, der nicht mit der Geburt Christi, sondern mit der Ausrufung der Französischen Republik begann. Ein Programm der Entchristlichung kam in Gang; gesteuert wurde es zum Teil von den Behörden in Paris, zum Teil von örtlichen Aktivisten. Dazu gehörte die Erhöhung

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des Drucks auf die verbliebenen Geistlichen, endlich abzudanken (was viele von ihnen taten), und die Umwidmung von Kirchen zu „Tempeln der Vernunft“. Auf kurze Sicht scheiterte das Programm, doch die Christen im 19. Jahrhundert lebten hinfort in seinem Schatten. Für Konservative war es ein eindeutiger Beleg, dass die Revolution, wie nobel auch immer ihre Ideale sein mochten, in der Praxis für die Religion verhängnisvoll sei. In den Augen vieler Radikaler aber war es die Kirche, die die Nation fatalerweise gespalten habe und darum selbst an ihren Leiden schuld sei. Sie bezogen sich vor allem auf den Aufstand der Vendée im Westen Frankreichs – einen Dolchstoß für die Nation, die bereits um ihr Überleben kämpfte. Die Aufständischen waren in der Hauptsache Bauern und Handwerker, wurden aber von Adligen und eidverweigernden Priestern unterstützt. Viele der Kämpfer trugen Herz-Jesu-Abzeichen. Die Forderung nach einer Rückkehr zum traditionellen Katholizismus fasste ihren tiefempfundenen Groll auf das neue Regime zusammen. Sie sahen darin die Herrschaft der Städte über das Land und des Bürgertums über die anderen sozialen Klassen. Die Entchristlichung war ein epochaler Moment in der Geschichte des europäischen Christentums. Die Herrscher Frankreichs, unterstützt von einer militanten Minderheit französischer Bürger, hatten sich dafür entschieden, den Bruch mit der mehr als tausendjährigen Geschichte der Christenheit im Lande zu wagen. Nichts dergleichen war je zuvor geschehen, und im 19. Jahrhundert waren die politischen Bedingungen nicht reif für einen zweiten Anlauf – außer vielleicht in den zwei Monaten der Pariser Kommune 1871. In der Ära der totalitären Regierungen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs jedoch waren die Bedingungen endlich so, dass der Versuch der gewaltsamen Zerstörung des Christentums zu einem zentralen Thema des 20. Jahrhunderts in Europa wurde. Der Katalysator der revolutionären Entchristlichung war der Krieg – sowohl der Einmarsch fremder Mächte als auch der Bürgerkrieg. Eidverweigernde Priester waren eindeutig Teil des Aufstands der Vendée, und zieht man in Betracht, dass viele ihrer Amtsbrüder ins Exil geflohen waren, in Länder, die gegen Frankreich kämpften, dann liegt der Verdacht nahe, dass sie mit den Invasoren sympathisierten. Die verfassungstreuen Priester und die Protestanten hatten wahrscheinlich kaum ein Interesse an der Konterrevolution, aber viele von ihnen fühlten sich den Girondisten zugehörig, jener Gruppierung, der Maximilien Robespierre (1758– 1794) im Sommer 1793 den Prozess machte, und somit gehörten sie zum falschen revolutionären Lager. Zudem gab es noch tiefere Strömungen der Entfremdung von der Kirche, die zu den Angriffen auf sie beitrugen. Eine davon hatte ihre Wurzeln in der sogenannten „Philosophie“, die sich seit dem späten 17. Jahrhundert entwickelte und manchmal als Neuinterpretation des Christentums, manchmal aber auch (vor allem in Frankreich) als bewusste Gegenposition zum Christentum in Erscheinung trat. Die Hauptströmung dieser von Voltaire (1694–1778) und Jean-Jacques Rousseau (1712– 1778) inspirierten „Philosophie“ war deistisch und glaubte, dass alle Religionen

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der Welt einen gemeinsamen wahren Kern hätten, womit sie aber jeden Anspruch auf spezielle Offenbarungen oder exklusive Lehren zurückwies. Der radikalere Flügel war atheistisch. Die „Philosophie“ war ein Elitenphänomen und zog vor allem Mitglieder des Adels und des Bürgertums an. Viele, die in den verschiedenen revolutionären Gremien saßen, waren von ihren Ideen beeinflusst, obwohl bis 1792 der Ton eines liberalen und der Staatsräson prinzipiell untergeordneten Katholizismus vorherrschte: tolerant gegenüber Protestanten (und oft auch gegenüber Juden, obwohl hier die Widerstände größer waren), mit einem stärkeren Gewicht auf der Ethik als auf dem Dogma, feindselig gegenüber dem Mönchstum und anderen „nutzlosen“ Formen der Religion, entschieden gallikanisch und dementsprechend interessiert an einer quasi-autonomen Kirche, in der die Rolle des Papstes sehr begrenzt sein sollte. Erst ab 1792 begannen zahlreiche Abgeordnete, sich offener von der Kirche zu distanzieren. Das Entscheidende an der Entchristlichung lag jedoch darin, dass die Kritik am Christentum, die zuvor die Sache kleiner elitärer Kreise war, nun in der breiten Bevölkerung bekannt wurde. Die Entchristlicher konnten dabei auf Strömungen des populären Antiklerikalismus zurückgreifen, die besonders in Gebieten mit großen grundbesitzenden Klöstern, etwa in der Gegend um Cluny, stark waren. Vor allem aber war die Entchristlichung nicht nur ein Angriff auf das Christentum oder die Katholische Kirche oder ein Akt der Rache für erlebte Kränkungen. Sie war vielmehr Ausdruck einer neuen Religion, die sich einerseits in der Erklärung der Menschenrechte manifestierte, welche zu einer Art heiligem Text und zur Pflichtlektüre in Schulen wurde, andererseits in den humanitären Idealen, die die Revolution propagierte.18 Als sich in militärischen Belangen das Blatt schließlich wendete und die französischen Truppen über Europa hinwegfegten und diejenigen befreiten, die unter der Herrschaft von Monarchen und Adel ächzten, waren die französischen Soldaten ebenso wie ihre Regierungsvertreter erfüllt von dem Glauben, einer Bestimmung zu folgen und eine zivilisierende Mission zu erfüllen. Mit dem Sturz Robespierres ging die radikalste Phase der Revolution zu Ende. Seine Nachfolger führten die Trennung von Kirche und Staat ein; Gottesdienste hinter geschlossenen Türen wurden erlaubt, aber das Läuten von Glocken und Prozessionen auf der Straße blieben verboten. Doch bereits um 1796 wurden viele Teile Frankreichs von einem religiösen Wiedererwachen erfasst. Frankreichs führender Militärkommandeur Napoleon Bonaparte (1769–1821) ergriff 1799 mittels eines Staatsstreichs die Macht und schickte sich an, sich 1804 selbst zum Kaiser zu krönen. Er erkannte, dass die Brüskierung so vieler Katholiken ein verhängnisvoller Fehler war; denn er brauchte die Unterstützung der Kirche und sah es zugleich als notwendig an, sie in ausreichendem Maß unter staatliche Kontrolle

18 Burleigh, Michael, Earthly Powers. Religion and Politics in Europe from the French Revolution to the Great War, London 2005, 67–95.

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zu bringen, damit sie nicht zu einer politischen Gefahr würde. Darum schloss er 1801 ein Konkordat mit dem Papst, womit für die Katholische Kirche ein System der staatlichen Finanzierung und der vertretbaren staatlichen Lenkung auf den Weg gebracht wurde – ein System, das später auch auf Protestanten und Juden ausgeweitet wurde und bis 1905 in Kraft blieb. Für Napoleons Ziele war es wichtig, dass die Verfassungstreue und die Eidverweigernde Kirche wieder zusammengeführt wurden. Dennoch hatten sowohl Napoleon als auch Pius VII. (Amtszeit 1800– 1823) ihre Gründe, warum die Verfassungstreuen zukünftig einen untergeordneten Platz einnehmen sollten. In den Augen des Papstes waren die Verfassungstreuen Schismatiker, und sein Vorgänger hatte ja tatsächlich auch die Verfassung für gottlos erklärt. Napoleon hatte indessen keine Einwände gegen die Verfassungstreue Kirche als solche, aber er war sehr daran interessiert, den Verfassungstreuen Klerus zu marginalisieren, denn dieser hatte starke demokratische und republikanische Überzeugungen. Vor allem Henri Grégoire (1750–1831), der frühere Bischof von Blois, war berühmt für seine Ablehnung der Sklaverei und die Verteidigung der Juden. Er blieb für den Rest seines langen Lebens ein kirchlicher Außenseiter.

2.2. Säkularisierung und Erweckung In den revolutionären und den napoleonischen Kriegen, die Europa zwischen 1792 und 1815 immer wieder überrollten, erlitt Frankreich zu Beginn eine Invasion und am Ende eine Niederlage, doch in der Zeit dazwischen fielen große Teile des Kontinents unter französische Herrschaft. Die französischen Invasoren brachten ihre Ideen und Institutionen mit. Einige ihrer institutionellen Reformen waren von bleibender Wirkung, insbesondere die „Säkularisation“ der deutschen Staaten (1803). Vor der Ankunft Napoleons war Deutschland in mehr als 300 Staaten zersplittert; einige waren recht groß und wurden von einem König oder Herzog beherrscht; in anderen wie Hamburg und Frankfurt, die sich auf eine große und blühende Geschäftswelt und das von ihr abhängige Umland stützten, regierte ein Patriziat aus wohlhabenden Kaufleuten; einige weitere Staaten schließlich waren klein bis sehr klein. Viele der Kleinstaaten, aber auch einige der größeren befanden sich unter der Herrschaft von Fürstbischöfen oder Klöstern. Napoleon löste die kirchlichen Staaten auf und konfiszierte die Besitzungen der Klöster. Er machte sich also an eine drastische Rationalisierung der Deutschlandkarte, die nach seiner Niederlage von den siegreichen europäischen Herrschern vollendet wurde. Am meisten profitierten davon die Könige und Herzöge der größeren Staaten, vor allem Preußen und Bayern, denen nun viele der früheren kirchlichen Staaten und Freien Städte zugeschlagen wurden. Eine wesentliche Folge davon war die zunehmende religiöse Heterogenität in allen deutschen Staaten. Im Gefolge der Reformation und des Dreißigjährigen Kriegs war in den Fürstentümern das Prinzip „cuius regio eius religio“ angewandt worden, weshalb die meisten weiterhin über-

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wiegend von einer Konfession geprägt waren. Nur in einigen Städten galt das Prinzip der „Gleichheit“, das mehrere Religionen zuließ, deren Beziehungen untereinander aber streng reglementierte. Nun aber übernahm zum Beispiel das protestantische Preußen das einheitlich katholische Gebiet des Fürsterzbischofs von Köln, und desgleichen wurden einige protestantische Gebiete oder überwiegend protestantische Städte vom katholischen Bayern erworben. Die Reaktionen auf die französischen Ideen fielen sehr unterschiedlich aus. Die Delegierten der Nationalversammlung der Niederlande etwa waren enthusiastisch. Und obwohl es den französischen Truppen nie gelungen war, in Britannien einzumarschieren, wurden die revolutionären Ideen dort von religiösen Abweichlern und radikalen Handwerkern sehr begrüßt. Die bedeutendste radikale Organisation der Hauptstadt, die London Corresponding Society, entschloss sich zur Veröffentlichung von Paines Age of Reason, obwohl viele Mitglieder aus Protest dagegen austraten. Seit 1795 gründeten sich Freidenkergesellschaften in London, und seit 1804 berichteten Geistliche aus Lancashire und Cheshire von der Ausbreitung glaubensfeindlicher Ideen unter den Arbeitern in der Textilindustrie. In einer Gemeinde in der Nähe von Manchester meldete der Amtsinhaber den Rückgang der Kirchenbesucherzahlen, „seit revolutionäre Ideen so überhandgenommen haben“. Eine Geistlicher aus Bolton behauptete sogar, dass mehrere tausend Menschen im Ort unter dem Einfluss des Unglaubens stünden.19 Demgegenüber guing der Widerstand gegen die französischen Truppen und die französischen Ideen oft mit einer Wiederbelebung der Religiosität einher. Das konnte auf vielerlei Art und Weise geschehen, von „oben“ wie von „unten“, in liberaler oder – häufiger – konservativer Ausrichtung. Trotz des Konkordats verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Napoleon und Papst Pius VII. bald; der Papst wurde ins Exil gezwungen, was ihn in den Augen vieler Katholiken zu einem inspirierenden Vorbild des heroischen Leidens machte. In Frankreich vollzogen viele Intellektuelle und Adlige eine „Rückkehr zur Kirche“; ein stark romantisch gefärbter Katholizismus sprach sie mehr an als die „Trockenheit“ des aufgeklärten Rationalismus. Im napoleonischen Paris war das 1802 erschienene Génie du christianisme ou beautés de la religion chrétienne („Das Genie des Christentums oder die Schönheiten der christlichen Religion“) das Buch der Stunde. Sein Verfasser war François-Auguste Chateaubriand (1768–1848), ein bretonischer Adliger und früherer Anhänger der „Philosophie“, der zunehmend von den Ideen der Aufklärung enttäuscht war und nach einer Krise, die vom Tod seiner Mutter ausgelöst wurde, zum katholischen Glauben zurückkehrte. In den Wundern der Natur, in den Herrlichkeiten der christlichen Architektur und Musik sowie in der fortschrittlichen Rolle, die das Christentum in der Geschichte gespielt hatte, fand er

19 McLeod, Hugh, Religion and the Working Class in Nineteenth-Century Britain, Basingstoke 1984, 20f.

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Belege für die Wahrheit seines Glaubens. Gefühl und Intuition, nicht die Vernunft allein, so machte er geltend, hätten einen berechtigten Anteil am menschlichen Verständnis der Welt. Und nur ein geteilter christlicher Glaube könne die Gesellschaft mittels gemeinsamer Ideale und moralischer Werte zusammenhalten. Hierin lagen einige der Wurzeln des Ultramontanismus, der im Katholizismus im Laufe des 19. Jahrhunderts zur vorherrschenden Strömung wurde, indem er sowohl die absolute Loyalität gegenüber dem Papst als auch den Glauben an das Übernatürliche im alltäglichen Leben in den Mittelpunkt stellte. Trotz zahlreicher Unterschiede hatte Chateaubriands Buch einige Gemeinsamkeiten mit einem zweiten bahnbrechenden Buch, das zu jener Zeit unter einem programmatischen Titel veröffentlicht wurde: Es handelte sich um das Werk Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) von dem preußischen Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der wie Chateaubriand den starken Einfluss der Romantik auf jene Generation widerspiegelte. Parallele Entwicklungen gab es in Großbritannien. Die dortige evangelikale Bewegung war in diesen Jahren in der Oberschicht und der höheren Mittelschicht sehr erfolgreich, teils als Gegenbewegung zu den politischen, moralischen und religiösen Anschauungen der Französischen Revolution und teils als Reaktion auf die Unzulänglichkeiten der Aufklärung mit ihrer optimistischen Sicht der menschlichen Natur und der Möglichkeiten des Fortschritts. Der Schlüsseltext dafür war A Practical View of the Prevailing Religious System of Professed Christians in the Higher and Middle Classes in this Country contrasted with Real Christianity („Vergleichung des vorherrschenden religiösen Lehrbegriffs der Bekenner des Christentums in den höheren und niederen Ständen Englands mit dem wahren Christentum“, 1797) von William Wilberforce (1759–1833). Er stammte der aus einer Kaufmannsfamilie in Hull und war Parlamentsabgeordneter der Tories für die Grafschaft Yorkshire. Wie Chateaubriand hatte Wilberforce als Erwachsener ein Bekehrungserlebnis gehabt, wie er lehnte er die Anschauungen der Französischen Revolution ab, und wie er hoffte er, dass das Christentum die Grundlage einer menschlichen und moralischen Gesellschaft werden könnte. Die Unterschiede zwischen den beiden ergeben sich aus den Titeln ihrer Bücher. Für Chateaubriand war das Christentum wahr, weil es höchste Schönheit verkörperte, für Wilberforce, weil es das Ergebnis göttlicher Offenbarung war. Und während Chateaubriand auf Leser zielte, die Anhänger von Voltaire oder Rousseau waren, war in Großbritannien die „Philosophie“ weniger erfolgreich gewesen; Wilberforce sah die Gefahr vielmehr in einer rationalistischen und moralistischen Form des Christentums, die hinter der Forderung der Evangelien nach einem persönlichen Glauben zurückblieb. Wilberforce wollte in seinen Zeitgenossen in der Mittel- und Oberschicht das Bewusstsein wecken, dass sie Sünder seien und der göttlichen Gnade bedürften. Zugleich war er der prominenteste Vertreter der Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei und ein Wortführer der Society for the Suppression of Vice („Gesellschaft zur Niederringung des Lasters“), die eine strengere Heiligung des Sonntags sowie die Verfol-

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gung jener durchsetzen wollte, die blasphemische oder pornografische Bücher veröffentlichten. Somit war er Teil einer machtvollen Bewegung aus hochrangigen Mitgliedern der britischen Gesellschaft, und diese Bewegung kombinierte evangelikale Religiosität – gegründet auf den Glauben an die Bibel als Wort Gottes und an die absolute Notwendigkeit eines individuellen Bekehrungserlebnisses – mit einer energischen Kampagne für die Reform der Gesellschaft. Menschen wie Wilberforce, die zugleich Tories und Evangelikale waren, hielten die hierarchische Ordnung der Gesellschaft für gottgewollt, fanden aber, dass die Führer der Gesellschaft oft gegenüber ihren Untergebenen versagt und eine Veränderung im Herzen nötig hätten. Die schlimmsten Übel, die bekämpft werden müssten, sah Wilberforces Generation im Sklavenhandel und später in der Sklaverei selbst. In der folgenden Generation wandten sich die Evangelikalen der Oberschicht – ohne ihren sozialen Konservatismus aufzugeben – den sozialen Missständen im eigenen Land zu – wie etwa den Arbeitsbedingungen in den Fabriken. In vielen anderen Teilen Europas setzte das Erlebnis der Niederlage und der französischen Besatzung die Entstehung einer nationalen Identität in Gang, oftmals in Verbindung mit der Religion. In Deutschland wurden die „Befreiungskriege“ von protestantischen Predigern wie zum Beispiel Schleiermacher unterstützt. Dieser sah im Kampf gegen Napoleon ein nationales Erwachen, das den Weg bereiten sollte für weitreichende soziale und politische Reformen und für ein erneuertes Bewusstsein der nationalen Einheit und der moralischen Ziele. In Spanien dagegen verband der katholische Klerus, der beim Aufstand gegen Napoleon eine wesentliche Rolle gespielt hatte, mit der nationalen Unabhängigkeit die Hoffnung auf einen Schritt zurück in eine bessere Vergangenheit, in der das Land wieder ganz katholisch sein würde. Manche französischen Ideen kann man, etwas anders gewendet, auch in den populären „Erweckungen“ wiederfinden, die überall in der protestantischen Welt eine Blüte erlebten – vom amerikanischen Grenzland im Westen bis hin zu den entferntesten Winkeln Europas im nördlichen Skandinavien und den schottischen Inseln. Einige der daran Beteiligten hatten durchaus progressive politische Vorstellungen, viele aber hatten wenig oder gar kein sichtbares Interesse an Politik. Dennoch wurden diese Bewegungen von den Regierungen und den gesellschaftlichen Eliten häufig für subversiv gehalten – und das nicht ohne Grund. Denn sie stellten die Autorität des Klerus und damit auch der Staatskirchen in Frage, und diese gehörten schließlich zu den wichtigsten Säulen der gesellschaftlichen Ordnung. Deshalb verbrachte der Bauer, Geschäftsmann und Wanderprediger Hans Nielsen Hauge (1770–1824), einer der führenden Männer des norwegischen Pietismus, sieben Jahre im Gefängnis unter der Anklage der Abhaltung nicht genehmigter religiöser Versammlungen und der „Landstreicherei“. Zwangsläufig rief er den Widerstand der Geistlichkeit hervor, denn er griff ihre oberflächlichen Predigten und ihre vermeintlich niedrigen moralischen Standards an. Ebenso aber weckte er den Argwohn der Staatsbeamten und anderer Mitglieder der Eliten, die seine Versammlungen mit Menschen aus den unteren

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Schichten ohne ausreichende Kontrolle für gefährlich hielten. Während man Hauge nur verdächtigte, subversive Absichten zu haben, vertraten andere evangelikale Prediger dieser Zeit ihre politischen Ansichten offener – auch wenn ihre Vorgesetzten sie aus Furcht vor Repressionen gegen ihre Bewegung zu stoppen versuchten. Darum waren 1819, im Gefolge des „Peterloo-Massakers“, bei dem Soldaten elf unbewaffnete Demonstranten in Manchester getötet hatten, die Wesleyanischen Methodisten zutiefst uneins wegen ihrer Entscheidung, einen Prediger auszuschließen, weil er auf einer Protestversammlung gesprochen hatte. Zwei Jahre zuvor hatte in dem Dorf Pentrich in der Grafschaft Derbyshire der letzte bewaffnete Aufstand auf englischem Boden stattgefunden. Die Revolte war vollkommen fehlgeschlagen, aber drei der Anführer wurden hingerichtet und viele andere wurden nach Australien verbracht. Einer der Hingerichteten war ein methodistischer Prediger.20 In Frankreich hinterließen die Erfahrungen der Revolutionsjahre bleibende Spuren. Sie bestärkten die einen in ihrer katholischen Loyalität und die anderen in ihren antiklerikalen oder antikatholischen Überzeugungen. Der Zusammenbruch der Pfarrgemeindestrukturen während der Verfolgungen und Restriktionen in den 1790er-Jahren hatte in manchen Gegenden jedoch noch länger anhaltende Konsequenzen, denn viele Gemeinden hatten über lange Zeit keinen Priester mehr am Ort, und die Menschen verloren die Gewohnheit, zur Kirche zu gehen. Schon im frühen 19. Jahrhundert tat sich in Frankreich eine Kluft auf zwischen Regionen mit einem starken Anteil praktizierender Katholiken, in denen der Klerus hohes Ansehen und großen Einfluss hatte, und Gegenden, die bald als „pays de mission“ bezeichnet wurden – Missionsgebiete, wo nur noch eine kleine Minderheit regelmäßig zur Kirche ging, wo die Geistlichen weniger zahlreich waren und ihre gesellschaftliche Stellung randständiger war. In diesen letztgenannten Gebieten hatte die Mehrheit der Kleriker den Eid auf die Verfassung geleistet, und viele hatten zur Zeit des revolutionären Terrors abgedankt. Diejenigen, die ihrer Berufung treu geblieben waren, waren manchmal durch konservativere Priester ersetzt worden, die in ihren Gemeinden weniger beliebt waren. Entsprechend gering war dort der Priesternachwuchs. In dem Landstreifen, der sich durch ganz Zentralfrankreich erstreckte, von Bordeaux im Südwesten über Bourges und Orléans in den Süden von Paris und bis nach Reims im Osten, war 1815 mehr als ein Viertel aller Pfarreien vakant. Der Bischof von Beauvais hielt in den 1820er-Jahren fest, dass „die Herden ohne Hirten das Wort Gottes nicht mehr hörten, dass die Beichtstühle geschlossen und die Altäre verlassen waren“21. Dagegen wurden der Westen, der Osten, Gebiete im Norden und um das Zentralmassiv schon

20 Ward, William Reginald, Religion and Society in England 1790–1850, London 1972, 86– 93; Thompson, Edward Palmer, The Making of the English Working Class, 2. Aufl. Harmondsworth 1968, 732. 21 Cholvy, Gérard/Hilaire, Yves-Marie, Histoire religieuse de la France contemporaine. 1800/1880, Toulouse 1985, 274.

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1815 besser versorgt. Nach der Restauration kam es dort zu einer massenhaften Rekrutierung neuer Priester.

3. Der Triumph der Konservativen 3.1. Die Restauration Auf die Niederlage Napoleons im Jahr 1814 folgte in Frankreich die Wiedererrichtung der Bourbonenmonarchie. Zwar kehrte Napoleon 1815 für die Herrschaft der Hundert Tage zurück, aber seine letzte Niederlage bei Waterloo bedeutete den definitiven Sieg Europas konservativer Monarchien. Auf dem Wiener Kongress entwarfen diese Monarchien unter Führung des österreichischen und des russischen Kaiserreichs, des Vereinigten Königreichs und der aufstrebenden Großmacht Preußen die Karte Europas neu. Sie taten dies unter völliger Missachtung der religiösen und nationalen Bestrebungen, die den Rahmen bildeten für die Geschichte der nächsten hundert Jahre. So wurden etwa die Katholiken des späteren Belgien den Niederlanden zugeschlagen, das lutherische Finnland wurde zu einem Teil des Russischen Reichs, und große Teile Norditaliens kamen unter österreichische Herrschaft. Mittelitalien wurde wieder der Herrschaft des Papstes unterstellt. Es waren die Jahre der Allianz von Thron, Altar und Schloss. Im 18. Jahrhundert gehörten die Adligen zu den letzten Gesellschaftsschichten mit religiösem Selbstverständnis. Im 19. Jahrhundert wurden sie die beständigsten (und oft auch praktizierenden) Unterstützer der Staatskirchen. Die Katholische Kirche Frankreichs hatte sich von ihren radikaleren Elementen, die den Idealen der Revolution treu blieben, getrennt und brachte nun, mit Unterstützung der wiederhergestellten Monarchie, ein Programm der Rechristianisierung auf den Weg. In den Jahren nach 1815 erlebte sie einen regelrechten Boom der Berufungen zum Welt- und Ordensklerus und einen ebensolchen Zuwachs bei den alten und neuen Frauenorden. Tatsächlich erreichten die Ordinationen der Weltgeistlichen 1830 einen Höhepunkt, an den die Kirche danach nie wieder herankam. Manche fragten allerdings, ob die Aussicht auf eine Kirchenkarriere im Boom der 1820er-Jahre nicht auch Männer anzog, deren Berufung zweifelhaft war – so tat es etwa Stendhal (1783– 1842) in seinem berühmten, im Jahr 1830 erschienenen Roman Rot und Schwarz („Le rouge et le noir“), der auf der wahren Geschichte eines Priesters basierte, der hingerichtet wurde, weil er seine Geliebte erschossen hatte. Ordensmänner und -frauen stellten einen großen Teil des Personals im wachsenden Bildungswesen, und die Frauen spielten auch eine zentrale Rolle in Kranken- und Waisenhäusern und anderen karitativen Einrichtungen. Immer mehr Pfarrgemeinden erhielten ortsansässige Geistliche, auch wenn Unterschiede zwischen den Regionen beste-

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hen blieben: Die Gebiete im Westen und Osten brachten einen Überschuss an Priestern hervor, während die Diözesen um Paris herum und in großen Teilen von Zentralfrankreich weiter unter Priestermangel litten und viele Pfarrstellen vakant blieben. Gläubige aus dem Adel traten häufig als Förderer der Kirche auf: Sie gaben der örtlichen Bevölkerung ein Beispiel durch ihren regelmäßigen Gottesdienstbesuch, stockten die Mittel ihrer Gemeinde auf und unterstützten Wohlfahrtseinrichtungen finanziell oder auf andere Weise. Der aktive Einsatz für den Glauben fiel dabei meist den adligen Frauen zu; ihre Ehemänner sorgten indessen für finanzielle Zuwendungen und politische Unterstützung. Eine Schlüsselfunktion bei den Rechristianisierungsbemühungen seit 1815 hatte die Gemeindemission. Dramatische Predigten und gelegentlich auch auffällige optische Hilfsmittel wurden eingesetzt, um den schlummernden Glauben wiederzuerwecken. Viele neue Ordensgemeinschaften für Männer und Frauen wurden in dieser Zeit gegründet, und – am wichtigsten von allem – der Jesuitenorden, der 1773 aufgehoben worden war, wurde 1814 wiederhergestellt. Die Jesuiten gewannen in kurzer Zeit ihr früheres Ansehen, aber auch ihren früheren schlechten Ruf zurück. Ausgesprochen typisch für diese Jahre ist Jean-Baptiste-Marie Vianney (1786–1859), der „Pfarrer von Ars“, der in den 1920er-Jahren heiliggesprochen und zum Schutzpatron der Gemeindepriester ernannt wurde. In einem Zeitraum von vierzig Jahren machte er aus seiner kleinen Gemeinde in Südostfrankreich, die ein klassischer Fall der Vernachlässigung durch die Kirche gewesen war, ein Musterbeispiel der katholischen Frömmigkeit. Neben seinem eigenen Charisma, das sich vor allem im Beichtstuhl zeigte und immer größere Besucherscharen anzog, trugen zu seinem Erfolg vor allem die Unterstützung der Schlossherrin und die große Gefolgschaft bei, die er unter jungen Frauen und Mädchen gewann, denn auf diesem Weg konnte er allmählich auch das Vertrauen anderer Teile der Gemeinde – trotz seiner rigorosen moralischen Verbote, mit denen er sich zunächst viele Feinde machte. Gebetskreise frommer Adliger waren auf den großen Ländereien in Pommern und Ostpreußen, aber auch am preußischen Hof durchaus alltäglich, denn sie erfreuten sich der Unterstützung des zukünftigen Königs Friedrich Wilhelm IV. (Amtszeit 1840– 1861). Aus diesem Milieu stammten viele bedeutende Politiker und Militärs; am bekanntesten unter ihnen wurde Otto von Bismarck (1815–1898), der preußische Ministerpräsident und zentrale Figur bei der Gründung des Deutschen Reichs. Die Erweckungen, die im Südwesten Deutschlands einen eher volkstümlichen Charakter hatten, waren im Osten stark vom politischen Konservatismus geprägt, von der Treue zur Hohenzollerndynastie, einer gesellschaftlichen Ordnung verpflichtet, die auf extremer sozialer Ungleichheit beruhte und bestenfalls, wie man hoffte, von der väterlichen Sorge des Gutsherrn für „seine“ Leute gemildert wurde. Einige dieser Themen finden wir auch in den hochkirchlichen Bewegungen, die in diesen Jahren in der Kirche von England und in den lutherischen Kirchen von Skandinavien und Deutschland aufkamen. Die Oxford-Bewegung, die in England in den 1830er-

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Jahren entstand und am Ende des Jahrhunderts die mächtigste Strömung innerhalb des Anglikanismus war, war in ähnlicher Weise von der Romantik beeinflusst, doch sie hatte auch politische, theologische und seelsorgliche Ziele. In politischer Hinsicht war die Bewegung eine konservative Erwiderung auf das, was ihre Gründer für die säkularisierende Politik der Whig-Regierung hielten. Diese betrieb in den Jahren 1830–1834 und 1835–1841 ein umfassendes Programm der Modernisierung. Theologisch gesehen war ihr Hauptgegner der religiöse Liberalismus, der für sie nur eine Zwischenstation zum völligen Skeptizismus war. Doch auch der Evangelikalismus mit seinem Biblizismus und seiner Hingabe an das Prinzip der eigenen Urteilskraft war für sie keine angemessene Antwort. Fragen der Seelsorge gehörten nicht zu den ursprünglichen Interessen der Gründer der Oxford-Bewegung, doch es gab Priester, die unter dem Einfluss der Bewegung einen besondere Berufung verspürten, in sozial benachteiligten Stadtvierteln zu arbeiten. Dort hofften sie, dass „hohe“ Rituale, eine Religion, die sich auf die Sakramente konzentrierte, und der hingebungsvolle Dienst eines „Slumpriesters“, der mitten unter seinem Volk lebte, Mittel sein könnten, um die von der Kirche Entfremdeten zurückzugewinnen.

3.2. Die Liberalen Allzu oft aber überspannten die triumphierenden Konservativen den Bogen. In Frankreich folgte 1824 auf den relativ zurückhaltenden Ludwig XVIII. dessen Bruder, der ultraroyalistische Karl X. (Amtszeit 1824–1830). Sein provokativster Akt war die Wiedereinführung der Todesstrafe für die Begehung eines Sakrilegs – auch wenn es in der Praxis viel größere Bedeutung hatte, dass er den Bischöfen das Recht übertrug, die Lehrer an den Schulen zu ernennen. Die Revolution von 1830 bereitete dann aber der Bourbonendynastie ein Ende – nach mehr als zwei Jahrhunderten auf dem Thron. Sie wurden von der Monarchie des Hauses Orléans ersetzt, die jedoch nur von 1830 bis 1848 Bestand hatte. Der „Bürgerkönig“ Louis Philippe hatte einen protestantischen Premierminister und wurde von Liberalen und Antiklerikalen unterstützt. In den Jahren 1830 und 1831 kam es zu Ausbrüchen antiklerikaler Gewalt einschließlich der Plünderung der bischöflichen Paläste von Châlons und Paris und der Zerstörung vieler Missionskreuze, die während der vorangegangenen Regierungszeit errichtet wurden. In Spanien hatten die Wiederherstellung der Inquisition im Jahr 1814 und des Jesuitenordens im Jahr 1815 sowie die letzte Hinrichtung wegen Gotteslästerung im Jahr 1826 eine ähnliche Bedeutung. Der kurzlebigen liberalen Revolution von 1820 folgten die ersten Kirchenverbrennungen und Priestertötungen, die bei verschiedenen Gelegenheiten während der nächsten hundert Jahre immer wieder Nachahmer fanden und im Bürgerkrieg 1936–1939 ihren Höhepunkt hatten. Zur blutigsten Episode des 19. Jahrhunderts kam es jedoch 1834, als 78 Priester und

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Mönche in Madrid ermordet wurden aufgrund von Gerüchten, sie hätten durch die Vergiftung von Brunnen eine Cholera-Epidemie verursacht. Die spanischen Liberalen waren in den 1820er-Jahren die ersten, die sich selbst so nannten. Ihr oberstes Ziel war es, den königlichen Absolutismus zu beenden und zur Verfassung von Cádiz zurückzukehren, die 1813 im letzten Stadium des Kriegs gegen die französischen Besatzungstruppen verabschiedet wurde. Doch ihre kirchenpolitischen Ziele waren fast ebenso wichtig. Sie bekräftigten die historische Rolle der Römisch-Katholischen Kirche als der Religion des spanischen Volkes und seines Staats. Zu dieser Zeit hatten sie kein Interesse an Religionsfreiheit. Doch laut Callahan ging es ihnen bereits darum, die Kirche zu „domestizieren“, ihre gesellschaftliche und politische Macht, die sie ausübte, zu begrenzen und sicherzustellen, dass sie unter strikter staatlicher Kontrolle blieb.22 In den 1830er-Jahren ließ Ministerpräsident Juan Álvarez Mendizábal (1790–1853) die meisten Klöster und Konvente schließen und ihren Besitz verkaufen, um, wie es in Frankreich während der Revolution geschehen war, eine landbesitzende Mittelschicht zu schaffen, die ein eigennütziges Interesse am Antiklerikalismus hatte. Wie andere Liberale glaubte er, dass die Volkswirtschaft davon profitieren würde, da diese Ländereien nun auf modernere und effizientere Weise bewirtschaftet würden. Auch wenn der Liberalismus in Spanien beträchtlichen Einfluss in der Armee hatte, waren doch seine wesentlichen Unterstützer, wie in anderen Ländern auch, Händler und Gewerbetreibende, und diese forderten nicht nur die Begrenzung der Macht des Monarchen und des Klerus, sondern auch eine Liberalisierung der Wirtschaft – die Aufhebung aller Restriktionen für den Handel sowohl im Inland als auch zwischen den Ländern, die Freisetzung unternehmerischer Energien im Interesse des Aufbaus einer florierenden modernen Gesellschaft. Viele Liberale des 19. Jahrhunderts waren beflügelt von der Vision einer helleren Zukunft, die erreicht werden sollte durch die Maximierung persönlicher Freiheit und die Begrenzung der Macht aller traditionellen Institutionen, die an der Vergangenheit festhielten. Sie liebten die Metaphern von „hell“ und „dunkel“ – und die liberale Zukunft sollte in Licht gebadet sein. So glaubte in der österreichischen Stadt Bozen der liberale Bürgermeister, die Installation von Gaslaternen im Jahr 1861, „die von nun an die Nacht beinahe zum Tag machen werden, [habe] etwas über sich Hinausweisendes an sich“: „Man erinnert sich an das Licht des Geistes“, „die Wiedergeburt des Lebens unserer Nation“ – als Ergebnis der gerade beschlossenen Reformen.23 Hinsichtlich der drei Schlagworte der Französischen Revolution glaubten die Liberalen leidenschaftlich an die liberté und fanden auch

22 Callahan, William J., Church, Politics and Society in Spanien 1750–1874, Cambridge, MA 1984, 132f. 23 Cole, Laurence, The Counter-Reformation’s Last Stand: Austria, in: Clark, Christopher/ Kaiser, Wolfram (Hrsg.), Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003, 285–312, 295f.

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Gefallen an der Idee der fraternité, doch was die egalité anging, waren sie sich nicht so sicher. Denn grundsätzlich hatten sie nichts dagegen einzuwenden, dass die Begabten und die Tatkräftigen weit großzügiger belohnt wurden als der Rest der Bevölkerung, und sie waren lange im Zweifel darüber, ob das Wahlrecht auf die Armen und die weniger Gebildeten ausgeweitet werden sollte. In den Vereinigten Staaten erhielten weiße Männer der Arbeiterklasse das Wahlrecht in den 1830erJahren; Frankreich führte das allgemeine Wahlrecht für Männer 1848 ein. Anderenorts in Europa kam es dazu erst im späteren 19. oder frühen 20. Jahrhundert. Während die Liberalen sich in ihren politischen und ökonomischen Prinzipien weitgehend einig waren, waren sie in der Frage des Umgangs mit der Religion sehr gespalten – einerseits aufgrund der geschichtlichen und konfessionellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern, andererseits wegen interner Differenzen innerhalb der einzelnen Länder. Als in den 1830er-Jahren Mendizábal daranging, die spanische Kirche zu „domestizieren“, hatte der Liberalismus seine anderen Hochburgen im katholischen Belgien, in der Schweiz mit ihrer protestantischen Mehrheit und großen katholischen Minderheit sowie im religiös bunt gemischten Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland. Die Revolution, die in Belgien 1830–1831 einen neuen, von den Niederlanden unabhängigen Staat begründete, kam durch eine Allianz von Katholiken und Liberalen zustande. Dabei sollte man nicht übersehen, dass auch viele der Liberalen praktizierende Katholiken waren – die Unterschiede zwischen den beiden Parteien waren zu diesem Zeitpunkt eher politischer als religiöser Art. Die belgischen Katholiken wollten indessen auch nicht so weit gehen wie die spanischen; so akzeptierten sie beispielsweise das Recht auf Religionsfreiheit. Dennoch hofften sie, dass Belgien wieder zu einer kirchlich dominierten Gesellschaft des Ancien Régime werden könne, während die Liberalen die führende Rolle des Staates in Gebieten beibehalten wollten, die einst unter kirchlicher Kontrolle waren: etwa bei der Ehe, der Sozialhilfe und im Bildungswesen. 1830 hatten die beiden Parteien Interesse an einer Zusammenarbeit. Aber wie in Spanien zeigten sich auch hier bald Unterschiede zwischen gemäßigten und radikaleren Liberalen. Wiewohl der Liberalismus im Wesentlichen eine Bewegung der Mittelschicht war, waren seine Radikalen tendenziell von niedrigerem gesellschaftlichem Status und geringerem Wohlstand. Sie bekamen viel Unterstützung von den Studenten an der Freien Universität, von der Presse und von den Freimaurern. Die Logen brachten ihre humanitären Ideale ein und boten Männern der Mittelschicht, die sich von der Katholischen Kirche entfernt hatten, die Gelegenheit zur Teilnahme an Ritualen, zu gemeinnütziger Arbeit und Geselligkeit. 1848 verurteilten belgischen Bischöfe die Freimaurer, was nach Els Witte „die Identifikation der Freimaurer mit der antiklerikalen Opposition verstärkte und sie weiter in die Politik hineinzog“24. Die zunehmenden Spannungen zwischen Liberalen und Katholiken

24 Witte, Els, The Battle for Monasteries, Cemeteries and Schools: Belgium, in: Clark/Kaiser (Hrsg.), Culture Wars, 102–128, 107.

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führten zum Bruch, als das Parlament 1857 über ein Gesetz debattierte, die der Kirche größere Kontrolle über Wohltätigkeitsorganisationen gegeben und Spenden und Vermächtnisse an Klöster und andere religiöse Einrichtungen ermöglicht hätte. Massive Straßenproteste, Angriffe auf kirchliche Gebäude und die Büros katholischer Zeitungen endeten schließlich mit dem Sturz der Regierung und dem Beginn einer zwanzigjährigen Herrschaft der Liberalen. Die Polarisierung hatte ein Niveau erreicht, das man sich in den 1830er-Jahren nicht hätte vorstellen können: Katholische Liberale wurden von militant antiklerikalen Liberalen an den Rand gedrängt, und liberale Katholiken gerieten zunehmend unter Druck vonseiten der erstarkten Ultramontanen. Der britische Liberalismus schlug völlig andere religiöse Töne an. Die Ära der Reformen begann unter dem Kriegshelden und Premierminister der Tories Arthur Wellesley, dem Herzog von Wellington (1769–1852). Er gestand den protestantischen Dissenters (1828) und Katholiken (1829) das Recht zu, Sitze im Parlament einzunehmen – trotz scharfer Proteste von vielen aus seiner eigenen Partei. Eine Kampagne, Juden dieselben Rechte zuzuerkennen, stieß bis 1858 auf den Widerstand des House of Lords (inklusive einiger anglikanischer Bischöfe unter den Gegnern). Doch ein sehr viel umfassenderes Liberalisierungsprogramm wurde von den Whig-Regierungen zwischen 1830 und 1841 umgesetzt. Dazu gehörten etwa die Reform der Kommunalverwaltung, die es größeren Städten ermöglichte, Bürgermeister zu wählen, die den Dissenters angehörten; die amtliche Eintragung und die Regelung der Zeremonien bei standesamtlichen Trauungen sowie die Zulassung von Trauungen in Gottesdiensten der Dissenters; ein neues (und höchst umstrittenes) System der Armenfürsorge, das künftig unabhängig von den anglikanischen Kirchengemeinden sein sollte; und schließlich die Neuordnung der Kirche von England und der Kirche von Irland. Die hochkirchlichen Anglikaner waren sehr misstrauisch, was die Absichten der Whigs anging. Manche sahen in diesen Liberalisierungsmaßnahmen die Anfänge einer weitreichenden Säkularisierung, die in Verfolgungen gipfeln könnte, wie sie die französischen Katholiken in den 1790er-Jahren erlebt hatten. Dies war auch das Thema der Predigt über den „Glaubensabfall der Nation“ („National Apostasy“), die John Keble (1792–1866), Professor für Dichtkunst und zugleich Vikar einer kleinen Landgemeinde, 1833 an der Universitätskirche von Oxford hielt. Keble wurde von der jüngeren Generation der Oxforder High Church sehr verehrt, und sie nahmen seine Predigt als Startschuss für ihre „Oxford-Bewegung“, die auf die Kirche von England im 19. Jahrhundert tiefgreifende Auswirkungen hatte. Tatsächlich übte der säkulare Liberalismus bedeutenden intellektuellen Einfluss auf diejenigen aus, die die britische Gesellschaft in den 1830er-Jahren zu modernisieren versuchten – vor allem in Form des Utilitarismus von Jeremy Bentham (1748–1832), dem englischen Wortführer der säkularen Aufklärung. Doch dies war nur eine der Strömungen im britischen Liberalismus: Politisch gesehen war der Säkularismus weit weniger bedeutend als die religiöseren Formen des Liberalismus. Davon gab es mindestens drei verschiedene Arten. Am augenfälligsten war die wachsende Stärke der protestantischen Dissenters, die das Rückgrat des Libera-

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lismus an der Basis bildeten, in England ebenso wie in Schottland und Wales. Sie waren sich einig in der Forderung nach religiöser Gleichberechtigung, aber oft teilten sie auch viele weitere liberale Anliegen miteinander. Sodann gab es eine nicht unerhebliche Minderheit von anglikanischen Liberalen, die meist auch theologisch liberal waren, obwohl der angesehenste Führer des britischen Liberalismus, William Gladstone (1809–1898), ein frommer Anhänger der anglikanischen Hochkirche war, der zudem seine lange Karriere als ausgesprochen traditionalistischer Tory begonnen hatte. Und in Irland schließlich konnten sich die Liberalen nicht nur auf die Presbyterianer stützen, sondern auch auf viele Katholiken.

3.3. Die Suche nach Religionsfreiheit Die Pioniere der Bewegung für die Trennung von Kirche und Staat waren keine Säkularisten, sondern protestantische Abweichler aus Großbritannien und der Schweiz, doch ihre Forderung wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Schlachtruf der radikalen Liberalen. Alexandre Vinets Essai sur la manifestation des convictions religieuses et sur la séparation de l’Église de l’État („Über die Darlegung der religiösen Überzeugungen und über die Trennung der Kirche und des Staats, als die nothwendige Folge sowie Garantie derselben“) von 1842 war die erste detaillierte Untersuchung dieser Idee. Vinet (1797–1847) war zu jener Zeit noch Mitglied der Reformierten Kirche, doch 1845 wurde er einer der Mitbegründer der Freikirche des Kantons Waadt. Adolf Keller zufolge hat Vinet gezeigt, „dass jedes offizielle religiöse Monopol und jede staatliche Bevorzugung einer Kirche die Religion mitten ins Herz trifft. ‚Die Wahrheit ist nicht frei‘, sagte er, ‚wenn der Irrtum nicht ebenfalls frei ist‘.“25 1844 gründete der kongregationalistische Prediger und Politiker des radikalen Flügels der Liberalen Edward Miall (1809– 1881) Großbritanniens Anti State-Church Association („Bund gegen die Staatskirche“). In den nächsten siebzig Jahren wurden diese Vereinigung und ihr Nachfolger, die Liberation Society („Befreiungsgesellschaft“), zu wichtigen Akteuren in der britischen Politik. Wie Vinet stützten auch Miall und seine Bündnispartner ihre Beweisführung hauptsächlich auf religiöse Argumente: Sie wollten die christliche Kirche von der „ungeheuer zerstörerischen Kontrolle durch die säkulare Herrschaft und Staatskunst“26 befreien. Der Kampf dieser Propheten der Religionsfreiheit und Gleichheit war zunächst ausgesprochen schwer. In den Niederlanden blockierte der Staat 1834, trotz der offiziellen Trennung von Kirche und Staat, den Versuch, auf dem Weg der Abspaltung eine calvinistische Kirche zu gründen. In Preußen vermischten sich politische und theologische Motive in den neuen religi-

25 Keller, Adolf, Church and State on the European Continent, London 1936, 265. 26 Larsen, Timothy, The Friends of Religious Liberty. Nonconformist Politics in Mid-Victorian England, Woodbridge 1999, 90.

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ösen Bewegungen, die angesichts eines feindlich gesinnten Staats in den 1840erJahren versuchen, sich eine unabhängige Existenz aufzubauen. Der Deutschkatholizismus wurde von einem schlesischen Priester aus Protest gegen den „Aberglauben“ gegründet, der sich um die Heilig-Rock-Wallfahrten nach Trier rankte. Die protestantischen Lichtfreunde verbanden eine rationalistische Theologie mit liberalen politischen Ideen. Als 1848 die Revolution ausbrach, glaubten sie, dass ihre Zeit gekommen sei – doch das erwies sich als voreilig. Trotz der Verabschiedung von Toleranzgesetzen in vielen Ländern im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert und trotz mancher Erweiterungen der religiösen und bürgerlichen Rechte war die Vollendung der Religionsfreiheit, ganz zu schweigen von der Gleichberechtigung der Religionen, ein langer und langwieriger Prozess. Theoretisch war Religionsfreiheit ein liberales Grundprinzip. Doch in der Praxis waren auch Liberale bereit, dieses Prinzip einzuschränken, wenn andere Rücksichten es erforderlich machten, und viele Konservative glaubten weiterhin, dass ein gemeinsamer Glaube die notwendige Voraussetzung für eine friedliche und harmonische Gesellschaft sei. Die Rechte der Protestanten blieben im katholisch dominierten Kaisertum Österreich bis mindestens in die 1860er-Jahre ein politischer Streitpunkt. Die Rechte der Katholiken wiederum waren über lange Phasen des Jahrhunderts in vielen deutschen Staaten, in den protestantischen Kantonen der West- und Nordschweiz, in den Niederlanden, in Großbritannien und in Irland eine politische Frage. Auch die politischen und wirtschaftlichen Rechte der Juden waren fast überall ein Thema, besonders aber in den deutschen Staaten und in verschiedenen Gebieten von Ost- und Ostmitteleuropa, wo die meisten Juden lebten. Theoretisch hatte Frankreich bereits den Weg gewiesen, indem es 1791 den kleinen, aber einflussreichen protestantischen und jüdischen Minderheiten die vollen Bürgerrechte gewährte. Doch blieb, wie André Encrevé sagt, „eine Kluft zwischen dem Gesetz und der gesellschaftlichen Realität“. „Strittig war nicht“, so fügt er hinzu, „die bürgerliche Gleichberechtigung, sondern vielmehr die religiöse Gleichberechtigung, die ein großer Teil der katholischen Öffentlichkeit nicht akzeptierte.“27 (Genau umgekehrt war es in Großbritannien, wo das Parlament eher bereit war, religiöse Rechte als bürgerliche Rechte zu gewähren.) Mit Ausnahme des ultraroyalistischen Regimes von Karl X. waren an jeder Regierung von Napoleon bis zur Dritten Republik Protestanten beteiligt gewesen. Doch vor allem auf lokaler Ebene – seltener auch auf nationaler Ebene – versahen die Behörden den Bau protestantischer Kirchen und die protestantische Verkündigung mit Auflagen. Besonders feindselig zeigten sie sich gegenüber neuen protestantischen Konfessionen wie den Methodisten oder gegenüber Versuchen, in Gebieten ohne historische protestantische Tradition eine protestanti-

27 Encrevé, André, French Protestants, in: Liedtke, Rainer/Wendehorst, Stephan (Hrsg.), The Emancipation of Catholics, Jews and Protestants. Minorities and the Nation State in Nineteenth-Century Europe, Manchester/New York1999, 56–82, 74.

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sche Gemeinschaft aufzubauen. Und selbst wenn sich die Gewaltakte des Jahres 1815 nicht wiederholten, konnten die Protestanten den „Weißen Terror“ in der Region Nîmes nicht vergessen, wo mehr als hundert von ihnen getötet worden waren. Währenddessen wurden die religiösen Minderheiten selbstbewusster. Die Auseinandersetzungen zwischen „Kirche“ und „Kapelle“ – zwischen der Kirche von England und der Kirche von Schottland auf der einen Seite und den zahlreichen Konfessionen der protestantischen Dissenters auf der anderen Seite – blieben ein zentrales Thema der britischen Politik bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs. In Irland, wo die Reformation einem weitgehend unwilligen Volk aufgezwungen wurde, weigerten sich die katholischen Bauern, Zehntabgaben an die protestantische Kirche von Irland zu bezahlen, der nur zwölf Prozent der Bevölkerung angehörten. 1869 wurde der Kirche von Irland der Status einer Staatskirche entzogen – auf Betreiben der liberalen Regierung des Ministerpräsidenten William Ewart Gladstone, der sich dafür aussprach, auf die Beschwerden der hauptsächlich katholischen irischen Nation einzugehen. In Preußen hatte der für Kirchenangelegenheiten zuständige Minister 1819 festgestellt, dass das Verhältnis zwischen dem „evangelischen Staat“ und seinen neuen katholischen Bürgern in Westfalen und im Rheinland „schwierig“ war und gab deshalb vor: „Die evangelische Kirche muß begünstigt werden“, aber „[d]ie katholische Kirche soll nicht zurückgesetzt werden“.28 Anfangs gingen die katholischen Vertreter entsprechend vorsichtig vor, doch die Einsetzung des kämpferischen Ultramontanen Clemens August Droste zu Vischering als Erzbischof von Köln zeigte den Beginn einer neuen Ära an. 1837 verurteilte dieser das preußische Gesetz, wonach die Kinder von Mischehen nach der Religion ihres Vaters erzogen werden sollten. Er bestand darauf, dass Katholiken, die solche Ehen eingingen, sicherzustellen hatten, dass die Kinder katholisch erzogen würden. Als der Erzbischof sich weigerte einzulenken, wurde er seines Amtes enthoben und gezwungen, die Diözese zu verlassen. Friedrich Wilhelm IV. , der 1840 König wurde, wollte die Beziehungen zu den Katholiken verbessern, und so unterstützte er sie vor allem bei der Vollendung des Kölner Doms. Doch war zu jener Zeit schon der Boden bereitet für weitere langwierige Konflikte zwischen dem protestantischen Staat und einer bestens organisierten und selbstbewussten katholischen Gemeinschaft. Sie traten im Verlauf des Jahrhunderts zutage.

3.4. Konflikt und Konversion Der politische und ökonomische Wandel im 19. Jahrhundert führte Katholiken, Protestanten und Juden in Staaten, Städten und Industrieregionen zusammen, die im 18. Jahrhundert in religiöser Hinsicht noch homogen waren. Die Neugestaltung

28 Lill, Rudolf, Preußen und der Katholizismus, in: Richter, Manfred (Hrsg.), Kirche in Preußen. Gestalten und Geschichte, Stuttgart u. a. 1983, 140–151, 141f.

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der Landkarte Deutschlands wurde bereits erwähnt. Migration auf der Suche nach besser bezahlter Arbeit und manchmal auch, um einer Hungersnot oder Verfolgung zu entgehen, veränderten die religiöse und ethnische Karte in vielen anderen Teilen Europas ebenfalls. Eine unermessliche Anzahl von Landbewohnern machte sich auf den Weg in die industriellen und kommerziellen Zentren, aber viele Menschen verließen auch ihre Heimatländer auf der Suche nach einem besseren Leben. Ungefähr eine Million Menschen verließen Irland im Gefolge der katastrophalen Hungersnot in den 1840er-Jahren. Ein Großteil von ihnen ging in die Vereinigten Staaten, aber viele machten sich auch auf nach Liverpool, Glasgow und in andere britische Städte. Die meisten Neuankömmlinge waren katholisch, während die überwiegende Mehrheit der einheimischen Bevölkerung aus Protestanten bestand. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb die religiöse Teilung eine Grundtatsache des Lebens in Lancashire und im Westen Schottlands. Calvins Genf bekam um die Mitte des Jahrhunderts eine leichte katholische Mehrheit. Seit den 1850er-Jahren zog das Ruhrgebiet aus vielen Teilen Europas Migranten an, die verschiedene Sprachen und unterschiedliche religiöse Bekenntnisse mitbrachten. Dagegen waren Italiener, die nach Marseille zogen, und Belgier, die sich nach Nordfrankreich aufmachten, in der Mehrheit Katholiken, weshalb sich Spannungen mit der einheimischen Bevölkerung eher im Rahmen von Sprache und Ethnie als in jenem der Religion ergaben. Religiöse Unterschiede rückten in den Vordergrund, als zahlreiche Juden die Dörfer und Kleinstädte Ungarns und Polens in Richtung Wien, Budapest und Lodz verließen oder in Berlin, Paris und London Zuflucht vor den Pogromen in Russland suchten. Die religiösen Unterschiede und zunehmend auch die Unterschiede zwischen Gläubigen und Ungläubigen wirkten sich auf viele Aspekte des 19. Jahrhunderts aus. Wie bereits angedeutet, waren die Beziehungen zwischen Kirche und Staat sowie der Status religiöser Minderheiten auf staatspolitischer Ebene von herausragender Bedeutung. Auf der Ebene des alltäglichen Lebens gab es in England „Kirchen-Läden“, wo staatskirchliche Anglikaner einkauften, und „Kapellen-Läden“, wo Dissenters einkauften. Da Dissenters im Großen und Ganzen keinen Alkohol zu sich nahmen, gab es keinen Bedarf an „Kapellen-Kneipen“, aber in Frankreich gab es im ausgehenden Jahrhundert „katholische“ und „republikanische“ Cafés und Tanzlokale. Die Religion beeinflusste auch grundlegendere Entscheidungen wie etwa die Wahl eines Ehepartners, die Erziehung von Kindern und die Arbeitssuche: Viele Arbeitgeber (nicht zuletzt der Staat) bevorzugten Arbeiter, die der in ihren Augen richtigen Religion angehörten, oder sie diskriminierten die Angehörigen der falschen. Und die politischen Parteien spielten, wie bereits angesprochen, eine wichtige Rolle dabei, die Wahrnehmung der eigenen Religion und die der anderen zu schärfen, zumal konfessionelle Identitäten und Antiklerikalismus Schlüsselfaktoren bei der Mobilisierung von Menschen waren. Gewiss hatte die Sozialisation in der Kindheit eine langanhaltende Wirkung auf die Mehrheit der Menschen. Zugleich aber war das 19. Jahrhundert eine Zeit, in

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der Konversionen häufiger wurden – und sie wurden von vielen als gefährlich angesehen. Der wahrscheinlich verbreitetste Anlass für eine Konversion war die Mischehe, in der einer der Partner die Religion des oder der anderen annahm. Mit zunehmender religiöser Vielfalt kam es, vor allem in den Großstädten, immer öfter zu solchen Ehen, besonders wenn der Anteil von Männern und Frauen in einer Minderheitskonfession disproportional war. Aber es gab auch viele Konversionen aus dem Wunsch nach sozialem Aufstieg, aus Überzeugung oder aus einer Mischung beider Motive. Generell glaubte man, dass das Verlangen nach sozialem Aufstieg oder zumindest die Flucht vor Diskriminierung oder Stigmatisierung der Hauptgrund für die Konversionen von Juden zum Christentum war, die zu manchen Zeiten und an manchen Orten besonders häufig vorkamen. Grundsätzlich fanden solche Konversionen im 19. Jahrhundert zu allen Zeiten statt, doch in den Jahren 1870–1914 erreichten sie einen Höhepunkt. In Deutschland und ÖsterreichUngarn fanden sie sehr viel öfter statt als etwa in Großbritannien oder Frankreich. Todd Endelman schreibt: „Am Taufbecken hörten sie auf, nominelle Juden zu sein, und wurden stattdessen nominelle Christen. Ihre Gründe für den Wechsel der Religionszugehörigkeit waren säkular und opportunistisch.“29 Er zitiert Beispiele von Familien, wo der Sohn, der im Familienbetrieb arbeitete, jüdisch blieb, während der, der zur Universität ging, konvertierte. In Berlin waren 36 Prozent derer, die zwischen 1873 und 1906 vom Judentum zum Christentum konvertierten, Universitätsstudenten – vermutlich mit dem Ziel einer Karriere in der Medizin, im Bereich des Rechts, an der Universität oder sonst einer Form der staatlichen Anstellung. Natürlich gab es auch Arten der Konversion, in denen die Überzeugung eine größere Rolle spielte. Drei von ihnen waren besonders charakteristisch für das 19. Jahrhundert. Erstens gab es da die neuen protestantischen Bewegungen, die meist in Britannien und Irland entstanden waren und von dort mit unterschiedlichem Erfolg aufs europäische Festland vorrückten. Wenn sie dort eine ausreichende Zahl an Bekehrungen erreichten, bauten sie nach und nach eine feste Gemeinschaft auf, in der die nachfolgenden Generationen in einer Atmosphäre des gemeinsam geteilten Glaubens aufwachsen konnten. Doch in ihren Anfängen waren diese Bewegungen davon abhängig, genügend Menschen zu davon überzeugen, ihre zuvor gehegten Vorstellungen und Rituale aufzugeben und womöglich auch ihre Bindungen an Nachbarn und Verwandte hinter sich zu lassen, die weiter an ihren traditionellen Praktiken festhielten. Methodisten, Baptisten, später die Heilsarmee und zuletzt die Pfingstkirchen fanden, dass Schweden für sie das viel-

29 Endelman, Todd, The Social and Political Context of Conversion in Germany and England, in: ders. (Hrsg.), Jewish Apostasy in the Modern World, New York 1987, 84. Die gegenteilige Ansicht vertritt Schweighofer, Astrid, Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900, Berlin 2005.

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versprechendste Missionsgebiet war, doch sie gewannen auch Anhänger in Frankreich, der Schweiz, in Deutschland und anderen Ländern. Zweitens sind die Konversionen von Protestanten zum Katholizismus zu erwähnen – insbesondere diejenigen von Intellektuellen und Künstlern. Die Nazarener, eine 1809 von Friedrich Overbeck (1789–1869) gegründete und geleitete deutsche Künstlergruppe, waren die ersten von vielen, die den Weg nach Rom fanden. Unter denen, die später hinzukamen, waren Gerard Manley Hopkins (1844–1889), einer der größten englischen Dichter des 19. Jahrhunderts, und solche bedeutenden Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wie Graham Greene (1904–1991) und Evelyn Waugh (1903–1966). In Großbritannien bezeichnete man Konversionen zur römischen Kirche oft als „Perversionen“. Keine von ihnen erregte mehr Aufsehen als die von John Henry Newman (1801–1890), dem führenden Theologen der OxfordBewegung. Er wurde 1845 in die Katholische Kirche aufgenommen und später zum Kardinal ernannt. Wie Erik Sidenvall zeigt, wurde dies weithin als Verrat betrachtet.30 Der Protestantismus war ein integraler Teil der nationalen Identität, und selbst wenn Sidenvall meint, dass die Verbindung zwischen Kirche und Nation sich bereits in den 1860er-Jahren lockerte, fanden sich doch, wie John Maiden gezeigt hat, auch 1927 noch zahlreiche Verteidiger der protestantischen Nation, die im Parlament ein Gebetsbuch wegen des Verdachts zurückwiesen, es könne die Kirche von England in Richtung des Katholizismus bewegen.31 Darüber hinaus waren viele englische Protestanten weniger aus politischen als aus theologischen Gründen entsetzt. In ihren Augen war der Katholizismus eine falsche Religion, eine Pervertierung des wahren Christentums; und natürlich waren die offiziellen Lehren der Katholischen Kirche dementsprechend abzulehnen. Eine Konversion konnte Freundschaften zerbrechen lassen und tiefe Risse in den Familien verursachen. Dennoch war Newman nur der berühmteste von vielen hochkirchlichen Anglikanern, die damals konvertierten (und die dies bis heute weiterhin tun). Drittens gab es auch Konversionen von Gläubigen zum Unglauben oder vom Unglauben zum Glauben. Beide kamen häufig vor, aber galten meist als Privatangelegenheit, von der nur die Konvertiten selbst und die mit ihnen vertrauten Menschen etwas wussten. Manche Konvertiten aber wollten alle davon wissen lassen, und manchmal entstand so eine regelrechte Welle von Konversionen in eine bestimmte Richtung. So waren zum Beispiel die 1840er-Jahre eine gute Zeit für die Konversion britischer Christen zum Säkularismus, wenn auch viele von ihnen ihre Konversion in den 1850ern und 1860ern wieder rückgängig machten.32

30 Sidenvall, Erik, After Anti-Catholicism. John Henry Newman and Protestant Britain 1845–c. 1890, London 2002. 31 Maiden, John, National Religion and the Prayer Book Controversy 1927–1928, Woodbridge 2009. 32 Larsen, Timothy, The Crisis of Doubt. Honest Faith in Nineteenth-Century England, Oxford 2006.

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Als literarisches Thema scheint das Interesse an Glauben und Zweifeln seinen Höhepunkt in den 1880er- und 1890er-Jahren erreicht zu haben. Am berühmtesten wurde Dostojevskijs Roman Die Brüder Karamasow (der ursprünglich unter dem Titel „Atheismus“ erscheinen sollte). Doch könnte man auch den Roman Robert Elsmere (1888) von Mrs. Humphry Ward (1851–1920) erwähnen, der in Großbritannien und den Vereinigten Staaten immense Popularität erlangte. Er erzählt die Geschichte eines anglikanischen Geistlichen, der seinen Glauben verliert und seine Stelle aufgibt, sich aber, inspiriert von einem neuen Verständnis der Lehren Jesu, entschließt, sein Leben der Fürsorgearbeit im Londoner East End zu widmen. Damit skizzierte Ward zugleich eine neue Art des Christentums. Entschieden skeptischere Versionen desselben Themas boten dann Émile Zola (1840–1902) in den 1890er-Jahren mit seiner Trilogie Die drei Städte, deren Hauptfigur ein katholischer Priester ist, der die Kirche verlässt, und Thomas Hardy (1840–1928), der in Romanen wie Tess (1891) über die „chronische Melancholie“ spricht, „von der die zivilisierten Geschlechter ergriffen werden, sobald sie den Glauben an eine wohltätige Macht verlieren“33. Kehren wir zurück zur Situation in den 1830er- und 1840er-Jahren. Die Vermengung liberaler politischer Ideen mit heterodoxer Religiosität zeigte sich besonders deutlich bei einigen der neuen philosophischen und theologischen Strömungen an den deutschen Universitäten dieser Zeit. Am bedeutendsten war darunter die wissenschaftliche Erforschung des Neuen Testaments, die ausgehend von radikalen Infragestellungen an der Universität Tübingen ihren Anfang nahm. Ihr einflussreichstes Produkt, Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß (1808–1874), unternahm es, einen Jesus zu präsentieren, an den das 19. Jahrhundert glauben konnte (indem es alle anscheinend übernatürlichen Elemente in dessen Leben als mythische Repräsentationen religiöser Wahrheiten interpretierte). Strauß war zu radikal für den württembergischen Staat, deshalb versuchte er, seiner wissenschaftlichen Karriere im liberaleren Milieu der Schweiz nachzugehen – doch selbst für Zürich war er zu radikal, weshalb man ihn dort pensionierte, bevor er überhaupt seinen Posten antreten konnte. So war er gezwungen, den Rest seines Lebens als Privatgelehrter zu verbringen. Dennoch machte sein Buch auf einen Teil des gebildeten Bürgertums sowie auf einen kleineren Teil britischer Intellektueller wie den Romancier George Eliot (1819–1881) einen tiefen Eindruck. Währenddessen war Ludwig Feuerbach (1804–1872), der ebenfalls als Privatgelehrter arbeitete, damit befasst, die Religion insgesamt mittels rein symbolischer Begriffe auf materialistischer Grundlage zu interpretieren. 1844 konnte dann Karl Marx (1818–1883) erklären: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt“34.

33 Hardy, Thomas, Tess, dt. Übersetzung von Helga Schulz, München 2015, 170 (Original: Tess of the d’Urbervilles, London 1912 [Erstausg. 1891], 153). 34 Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: ders./Engels, Friedrich, Werke, Berlin 1976, 378–391, 378.

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So waren die Jahre zwischen 1815 und 1848 gekennzeichnet von widersprüchlichen Tendenzen: von einem machtvollen Wiederaufleben der konservativen Religiosität, von einem in manchen Ländern aufkeimenden Protestantismus der Abweichler, von einem politisch einflussreichen Liberalismus, der teilweise antiklerikal ausgerichtet war, und von einer kleinen, aber wachsenden und manchmal intellektuell bedeutsamen Bewegung des religiösen Skeptizismus.

3.5. Feminisierung? Den Zeitgenossen war bewusst, dass die meisten dieser Skeptiker ebenso wie die meisten antiklerikalen Liberalen Männer waren – während die ernsthaft Gläubigen mehrheitlich Frauen waren. Der französische Historiker Jules Michelet hatte darüber sogar ein recht hysterisches Buch geschrieben, Du prêtre, de la femme, de la famille (1845, zeitgenössische deutsche Ausgabe: Der katholische Priester in seiner Stellung zum Weibe und zur Familie). Darin beklagte er sich darüber, dass die Priester die ordnungsgemäße Autorität des männlichen Haushaltsvorstandes zersetzten. Zur selben Zeit feierte der englische Dissenter-Prediger John Angell James (1785– 1859) in seinem Buch Female Piety (1852) die weibliche Frömmigkeit. Viele Historiker vertreten die Ansicht, dass im 19. Jahrhundert eine „Feminisierung der Frömmigkeit“ stattfand. Tine van Osselaer und Thomas Buerman haben dazu einen ausgezeichneten Überblick über die internationale Literatur erstellt.35 Der Gedanke wurde zuerst von Historikern aus den Vereinigten Staaten vorgetragen, dann aber von vielen Kollegen in Europa enthusiastisch aufgegriffen. Er hat eine klare statistische Grundlage. Obwohl die religiösen Tendenzen für beide Geschlechter dieselben waren, gab es einen wichtigen Unterschied: Dort, wo die Religiosität im Wachsen begriffen war, wuchs sie schneller bei Frauen, wo sie zurückging, ging sie schneller bei Männern zurück. So schlossen sich etwa in den Vereinigten Staaten während der „Zweiten Großen Erweckung“ viele Männer den evangelikalen Kirchen an, Frauen aber noch in weit größerem Ausmaß. Zur selben Zeit ging in Frankreich die Zahl der Frauen, die zur Kirche gingen, stark zurück, aber bei den Männern war der Rückgang noch erheblicher. Unter dem Ancien Régime empfing die große Mehrheit der Erwachsenen an Ostern die Kommunion, auch wenn sie seltener zur Kirche gingen als in der Vergangenheit. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gingen in der Diözese Orléans nur fünf Prozent der erwachsenen Männer und 22 Prozent der erwachsenen Frauen zu Kommunion. In Tours, wo die Zahlen insgesamt günstiger aussahen, war das Geschlechtergefälle dennoch sehr deutlich:

35 Van Osselaer, Tine/Buerman, Thomas, Feminization Thesis. A Survey of International Historiography and Probing of Belgian Ground, in: Revue d’histoire ecclésiastique 103/ 2 (2008), 497–544.

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33 Prozent der Männer zählten zu den Kommunikanten, aber bei den Frauen waren es 75 Prozent.36.37 Umstrittener ist die Meinung einiger Historiker, dass auch der Inhalt der Religion eine Feminisierung erfahren habe. Die ursprünglichen amerikanischen Verfechter dieser These hatten dabei die Abkehr von einem „harten“ und „maskulinen“ Calvinismus hin zu einem „weicheren“ Evangelikalismus im Blick. Die Katholizismus-Historiker stellten derweil eine buchstäbliche „Feminisierung“ in Form einer zunehmend zentraler werdenden Marienfrömmigkeit fest, ebenso eine allgemeine Hinwendung zu eher gefühlsbetonten Andachtsübungen und zu freundlicheren Umgangsformen im Beichtstuhl. Besonders Ralph Gibson hat diese Entwicklung herausgestellt; er betont dabei den Einfluss des „Liguorismus“, das heißt der Beichtmethoden, die auf den Heiligen Alfons Maria von Liguori (1696– 1787) zurückgingen, von den Jesuiten in den 1820er-Jahren aufgegriffen wurden und in Frankreich um 1850 weiteste Verbreitung fanden. Laut Gibson führten diese Methoden zu einer weniger rigorosen Praxis der Beichtabnahme, denn sie ermunterten die Priester, „im Beichtstuhl eher auf väterliche und seelsorgliche als auf inquisitorische und richterliche Weise zu verfahren“38. Man mag darüber streiten, ob all diese Entwicklungen wirklich so viel attraktiver für Frauen als für Männer waren. Auf jeden Fall lässt sich festhalten, dass Frauen nicht nur die Mehrheit in den Kirchenbänken stellten, sondern im voranschreitenden Jahrhundert immer breitere Aufgaben und mehr Verantwortung in der Kirche übernahmen, als Mitglieder von Ordensgemeinschaften, als Diakonissen, als Leiterinnen von Sonntagsschulen bzw. Kindergottesdiensten und (in geringerer Zahl) als Predigerinnen in protestantischen Kirchen sowie, gegen Ende des Jahrhunderts, auch als Missionarinnen. Die lutherischen, reformierten und anglikanischen Staatskirchen ließen wie die Römisch-Katholische Kirche das gesamte 19. Jahrhundert über keine Frauen als Geistliche zu. Gelegentlich predigten Frauen in Versammlungen der Erweckungsbewegung, beispielsweise im Jahr 1859 in Großbritannien, in dem vor allem in der Provinz Ulster die Wogen religiöser Begeisterung hochschlugen. In zwei Arten von Kirchen war das auch regelmäßiger der Fall.39 Erstens geschah dies in religiösen Bewegungen von eher plebejischem Charakter, die eine buchstäbliche Bibelinterpretation mit einem Vorrang der Bekehrungstätigkeit verbanden. Angesichts der Tatsache, dass die Predigten der Frauen Gott „gehörten“, weil sie Seelen für Christus gewannen, ging man davon aus, dass die

36 37 38 39

Gibson, French Catholicism, 175f. Gibson, French Catholicism, 175f. Gibson, French Catholicism, 264. McLeod, Hugh, Weibliche Frömmigkeit, männlicher Unglaube?, in: Frevert, Ute (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, 134–156, bes. 146–149.

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Verbote in den Paulusbriefen sich auf besondere Umstände in den angeschriebenen Gemeinden bezogen und keine allgemeine Gültigkeit beanspruchten. Vertreten wurde diese Position beispielsweise von den Primitive Methodists, einer hauptsächlich aus der Arbeiterklasse hervorgegangenen Konfession, die ihre Ursprünge um 1810 in Mittelengland hatte, des Weiteren von den ländlich geprägten Bible Christians, die ungefähr zur selben Zeit in Südwestengland aufkamen, und vor allem von der Heilsarmee, die in den 1860er und 1870er Jahren in London entstanden und sich über die ganze Welt ausbreiteten. Zweitens gab es Frauenpredigten in eher unorthodoxen religiösen Bewegungen, die die Ansicht vertraten, dass die biblische Offenbarung von weitergehenden Offenbarungen ergänzt oder dass die Bibel im Licht der Vernunft und neuer Erkenntnisse neu interpretiert werden müsse. Das bemerkenswerteste Beispiel für erstere Überzeugung waren die Quäker, die glaubten, dass das „innere Licht“ allen Menschen zugänglich sei, Frauen ebenso wie Männern, und die seit ihren Anfängen in den 1650er-Jahren Predigten von beiden Geschlechtern hörten. Ein Beispiel für letztere Überzeugung waren die Unitarier, die ihre erste weibliche Geistliche 1904 in Großbritannien ordinierten – etwas früher als die Kongregationalisten, die erste der größeren Freikirchen, dies taten. (Darin – wie in so vielen anderen Dingen – waren die Vereinigten Staaten Europa weit voraus.) In der Katholischen Kirche hing die zunehmende Bedeutung der Frauen im 19. Jahrhundert hauptsächlich mit dem spektakulären Wachstum der Frauenorden zusammen. So wuchs in Frankreich die Zahl der Priester von rund 50.000 im Jahr 1830 auf 80.000 im Jahr 1878, doch die Zahl der Ordensfrauen stieg im selben Zeitraum von 30.000 auf 130.000. In Spanien war die Entwicklung noch dramatischer, denn zwischen 1797 und 1904 fiel die Zahl der Ordensmänner von 50.000 auf 11.000, die Zahl ihrer weiblichen Pendants aber stieg von 10.000 auf 40.000.40 Diese Divergenz hatte natürlich eine ganze Reihe verschiedener Ursachen, und sie bleibt ein Thema für weitgreifende Debatten von Historikern und Soziologen. Unter den Debattierenden besteht allerdings eine Tendenz, die augenscheinlich größere Religiosität als „Problem“ zu betrachten, nicht aber die allem Anschein nach geringere Religiosität der Männer. Außerdem nehmen viele Historiker des 19. Jahrhunderts an, diese Divergenz sei spezifisch für dieses Jahrhundert, während jene, die über andere Zeiträume schreiben, die Ansicht vertreten, sie habe eine längere Geschichte. Deshalb ist es wichtig zu fragen, was an diesem Phänomen zeittypisch ist und was davon mit längerfristigen Faktoren zusammenhängen könnte. Bedeutende zeittypische Faktoren waren das ausgreifende Wachstum der Wirtschaft und die Entwicklung der nationalen Bildungswesen und der Fürsorge.

40 Langlois, Claude, Le catholicisme au féminin, Paris 1984, 310f.; Lannon, Frances, Privilege, Persecution and Prophecy. The Catholic Church in Spanien 1875–1975, Oxford 1987, 59, 61.

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Den Männern im 19. Jahrhundert, die früher vielleicht Priester geworden wären, bot sich nun eine Reihe „säkularer“ Alternativen; Lehrerinnen und Krankenschwestern aber zog es, zumindest in überwiegend katholischen Ländern, hauptsächlich zu den Ordensgemeinschaften. Ein zweiter zeittypischer Faktor lag darin, dass der plötzliche Anstieg des Antiklerikalismus während der Französischen Revolution, der in manchen (hauptsächlich katholischen) Ländern das ganze 19. Jahrhundert über bestehen blieb, die Männer in weit höheren Maße berührte als die Frauen. Das war zum Teil deshalb so, weil der Antiklerikalismus im Grunde aus politischen Konflikten hervorging, und zwar zu einer Zeit, in der Frauen in allen Ländern von der Teilnahme an Wahlen ausgeschlossen waren und in manchen Ländern auch politischen Parteien nicht beitreten durften. In vielen Haushalten wies eine strikte Arbeitsteilung die Politik der männlichen Sphäre zu und betraute die Frauen mit der generellen Verantwortung für das Heim. Religion wurde oft als Teil der häuslichen Sphäre angesehen, einerseits weil Frauen primär für das Wohlergehen und die richtige Erziehung der Kinder verantwortlich waren und Religion im Allgemeinen als wichtiger Teil der Erziehung galt, und andererseits weil Frauen sich um die Ausgestaltung des Heims zu kümmern hatten, wobei religiöse Bilder und Symbole oft eine wesentliche Rolle spielten. Es gab auch noch subtilere Faktoren bei der Entstehung des Antiklerikalismus, besonders in einem katholischen Kontext. Wie schon erwähnt, machten sich viele Männer Sorgen über den Einfluss, der im Beichtstuhl möglichweise auf ihre Frauen und Töchter ausgeübt wurde, und sie sahen den vermeintlich zölibatären Priester als einen sexuellen Rivalen. Eine damit kontrastierende Quelle des Unbehagens konnte von der charakteristischen und quasi-femininen Bekleidung des römischkatholischen oder anglokatholischen Priesters ausgehen. Manche behaupteten, der Klerus gehöre zu einem „dritten Geschlecht“, und manche heterosexuellen Männer fühlten sich in der Gegenwart eines Priesters ebenso unwohl wie in der Gegenwart eines Mannes, von dessen Homosexualität sie wussten. Der Geschlechterunterschied im 19. Jahrhundert zeigte sich des Weiteren auch darin, dass Männer – zumindest diejenigen in der Oberschicht und der oberen Mittelschicht – eher als ihre Frauen etwas von den neuen, religiös skeptischen Strömungen in Wissenschaft, Philosophie oder Bibelforschung mitbekamen, denn höhere Bildung war zu jener Zeit eine fast ausschließlich männliche Domäne. (Die Vereinigten Staaten, in denen Colleges für Frauen und ein paar wenige für Frauen und Männer in den 1830er und 1840er Jahren eingerichtet wurden, waren hier Europa um mindestens eine Generation voraus.) Dennoch legt das Geschlechtergefälle beim Kirchenbesuch, das auch heute noch recht groß ist, nahe, LangzeitFaktoren ebenso in Betracht zu ziehen.41 Einer davon dürfte die Langlebigkeit von Männlichkeitskonzepten sein, die einerseits aggressives Verhalten privilegieren

41 Davie, Grace, Religion in Modern Europe. A Memory Mutates, Oxford 2000, 67f.

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und andererseits Sanftmut, das „Hinhalten der anderen Wange“, das Erkennenlassen von Gefühlsregungen als „feminin“ abqualifizieren. Kirchenmänner kämpften im 19. Jahrhundert ständig darum zu zeigen, dass das Christentum – trotz offenkundiger Zweifel – etwas „Männliches“ sei.42 Das „muskulöse Christentum“ der beiden anglikanischen Romanautoren und christlichen Sozialisten Charles Kingsley (1819–1875) and Thomas Hughes (1822– 1896) war nur ein Versuch unter vielen. „Muskulöses Christentum“ war ursprünglich eine scherzhafte Bemerkung eines Rezensenten über eines von Kingsleys Büchern. Kingsley mochte den Ausdruck nicht, er fand, er trivialisiere das, was er sagen wollte. Doch bei den Zeitgenossen traf er einen Nerv und wurde zum geflügelten Wort. Kingsley und Hughes gehörten zum liberalen Broad Church-Flügel im Anglikanismus und waren sowohl gegenüber den Evangelikalen als auch gegenüber der hochkirchlichen Bewegung der Traktarianer kritisch eingestellt. Sie warfen beiden Seiten vor, eine künstliche Trennung zwischen dem Geistlichen und dem Säkularen, den seelischen und den körperlichen Dingen zu errichten. Außerdem kritisierten sie die Traktarianer wegen eines übertriebenen Sacerdotalismus, der die Geistlichen von den Laien und ihren alltäglichen Sorgen entferne. Anstelle eines abgehobenen „Priesters“ wollten sie einen „Pfarrer“, der mitten unter seinen Leuten lebte und sich rückhaltlos für deren berechtigte Interessen einsetzte und auch ihre Freizeitaktivitäten mit ihnen teilte. Kingsley und Hughes interessierten sich besonders für körperliche Freizeitbeschäftigungen aller Art, u. a. für Sportarten wie Cricket, Fußball und Boxen. Wie auch andere ihrer Zeitgenossen fürchteten sie, dass die Verdammung der populärsten Freizeitbeschäftigungen durch christliche Prediger zur Entfremdung vieler Männer von der Kirche beigetragen habe. Im Sportboom im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert konnten sich christliche Spitzensportler als ideale männliche Rollenvorbilder präsentieren. Der erste war wahrscheinlich der international bekannte Cricketspieler Charles T. Studd (1862–1931), der 1885 seine Sportlerlaufbahn aufgab und Missionar in China wurde. Aber natürlich war Kingsleys und Hughes’ Eintreten für den Sport nur ein Aspekt einer umfassenderen Kritik. Beide verurteilten die Darstellungen eines verweiblichten Jesus, und Hughes setzte diesen 1874 in seinem Buch The Manliness of Christ („Die Männlichkeit Christi“) ein heroischeres Bild entgegen. Und Sportstars waren nur ein Beispiel dafür, wie Prediger im 19. Jahrhundert männliche Rollenvorbilder bekannter machen wollten. Besonders Soldaten waren bei Protestanten wie Katholiken beliebt, wobei Katholiken die Päpstlichen Zuaven (ein 1861 in Italien zur Verteidigung des Kirchenstaates eingesetztes päpstliches InfanterieRegiment) besonders bewunderten. Ähnliches Potenzial hatten die Missionare, die ihr Leben dabei riskierten, das Evangelium in weit entfernte und oftmals exotische

42 Werner, Yvonne Maria (Hrsg.), Christian Masculinity. Men and Religion in Northern Europe in the 19th and 20th Centuries, Leuven 2011.

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Gegenden der Welt zu bringen, und jede Konfession hatte da ihre eigenen historischen Helden. So kamen die lutherischen Prediger zum Beispiel häufig auf König Gustav Adolf und Luther selbst zu sprechen und stellten nebenbei deren männliche Qualitäten heraus. Die Feminisierung hatte ihre objektiven Grenzen in der Tatsache, dass der katholische Klerus und die Pastoren der großen protestantischen Kirchen ebenso wie die Laien in Führungspositionen allesamt männlich waren. Nur in kleinen und oft heterodoxen Konfessionen und Bewegungen waren Führungspositionen auch für Frauen offen. Dabei gilt es aber zu beachten, dass die Religion zwar einerseits eine Ursache für Streit zwischen einer gläubigen Frau und einem eher skeptischen Mann sein konnte, dass es andererseits aber auch Familien gab, in denen die Ehefrau die eifrigere Kirchgängerin war, der Mann aber die Kirche auf andere Weise unterstützte oder die Religiosität seiner Frau zumindest guthieß, weil eine gläubige Frau wahrscheinlich auch eine hingebungsvolle Mutter und eine treue Gattin sein würde.

3.6. Die Situation auf dem Land In den 1840er Jahren lebte die große Mehrheit der Europäer noch in kleinen Ortschaften oder auf dem Land und arbeitete in der Landwirtschaft oder in kleinen Werkstätten. Das aus dem Mittelalter stammende System der Pfarrgemeinden war fast überall noch intakt; die Gemeinden verfügten über eine Kirche und einen angrenzenden Friedhof sowie über einen ortsansässigen Priester, der die ganze – oder fast die ganze – Bevölkerung zu taufen, zu trauen und zu begraben pflegte. In vielen ländlichen Gegenden übten Grundbesitzer aus der Oberschicht oder aus dem Adel immer noch enormen Einfluss aus, und für gewöhnlich glaubten sie, dass die Unterstützung der Kirche eine ihrer Pflichten sei. Dazu konnte ein finanzieller Beitrag gehören, das Recht, den Priester zu bestimmen, sowie die Aufforderung an die Pächter, regelmäßig zur Kirche zu gehen. Im Dorf Shalford in der Grafschaft Essex in Ostengland erzählte ein älterer Dorfbewohner einem OralHistory-Forscher, dass noch im frühen 20. Jahrhundert jede Familie ihre eigene Kirchenbank hatte: „Sie mussten jeden Sonntag in ihrer Bank sitzen und konnten gleich sehen, wer da war und wer nicht.“ – „Der Gutsbesitzer Marriott ging dann immer herum: ‚Warum warst du nicht in der Kirche?‘ und so. Und ‚Oh, ihm ging es nicht so gut‘ oder so etwas. ‚Sieh zu, dass du nächsten Sonntag da bist‘, hieß es dann. Die Kirche war immer voller Leute. Nicht zur Kirche gehen trauten sich die meisten nicht.“43 Die nationale Erhebung des Kirchgangs in Großbritannien im Jahr 1851 macht es möglich, diese Einflüsse statistisch zu belegen. So fand Michael

43 McLeod, Hugh, Religion and Society in England 1850–1914, Basingstoke 1996, 112.

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Watts in einer Untersuchung von 198 Dörfern in Nottinghamshire, dass in den 44 Dörfern, deren Land einem einzigen Eigentümer gehörte, geschätzte 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung am Erhebungssonntag den anglikanischen Gottesdienst besucht hatten. In Dörfern mit mehreren Grundeigentümern lag die Anwesenheit in der anglikanischen Kirche zwischen 20 und 25 Prozent, mit höheren Anteilen von Nonkonformisten und Nichtkirchgängern.44 Dabei waren die Beziehungen zwischen Geistlichen und Grundeigentümern nicht immer angenehm. Oft nahmen es die Priester übel, wenn man sich in die Leitungsangelegenheiten der Kirchengemeinde einmischte; und manchmal hatten die beiden vermeintlichen Autoritäten der Landgemeinde völlig entgegengesetzte Ansichten, was etwa die Organisation der Dienstleistungen, der Schulen, der Sozialhilfe oder das Wohlergehen der Armen betraf. Philippe Boutry beschreibt am Beispiel des Départements Ain im Osten Frankreichs die „unendlich komplexen“ Einstellungen der Geistlichen gegenüber den „Honoratioren“ der Gemeinde. Einerseits hatten sie im Seminar eine Haltung der Ehrerbietung gelernt; sie waren dankbar für Zeichen des Respekts und der Achtung vonseiten der örtlichen Eliten, für finanzielle und andere Unterstützung und auch für das beispielhafte Verhalten der wirklich Gläubigen. Boutry zitiert aus einer Grabrede aus dem Jahr 1876 für Madame Louise de La Chapelle, von der gesagt wurde, sie sei den Schlossherrinnen früherer, besserer Zeiten ähnlich gewesen, „eine heiligmäßige Frau“, die „ihre Tage zwischen Gott und den Armen aufteilte, d. h. zwischen Gebet und Nächstenliebe“. Andererseits lebte in den Landpfarrern nicht weit unter der Oberfläche eine Art „ländlicher Egalitarismus“, kombiniert mit einem Stolz auf ihre priesterliche Würde und ihre Rechte, was sie empfindlich machte für die trivialen Manifestationen adliger Überlegenheit und für jeden Versuch, sich in die Angelegenheiten des Kirchenbaus, des Friedhofs, der Liturgie oder der Sakramente einzumischen. In einem Dorf hatte der Curé (Pfarrer) ein sehr gutes Verhältnis zum Bürgermeister, der zugleich Minenbesitzer war, und erfreute sich häufiger Einladungen zum Abendessen – bis 1865 Letzterer von seinen Angestellten verlangte, auch am Sonntag zu arbeiten und der Pfarrer Einspruch erhob: Die Essenseinladungen hörten auf, und der Tochter des Bürgermeisters wurde der Umgang mit dem Pfarrer untersagt. In einem anderen Dorf sagte 1860 der Schlossvogt eine namhafte Spende für Bauarbeiten in der Kirche zu unter der Bedingung, dass er bestimmen dürfe, was der Curé tun dürfe und was nicht. Als der Pfarrer daraufhin abfällige Bemerkungen über den Adel machte, beschwerte sich der Schlossvogt beim Bischof: Dies sei ein Rückfall in die Zeiten der Revolution und dürfe nicht länger geduldet werden.45

44 Watts, Michael, Religion in Victorian Nottinghamshire. The Religious Census of 1851, 2 Bde., Nottingham 1988, Bd. I, xxx–xxxi. 45 Boutry, Philippe, Prêtres et peuple au pays du Curé d’Ars, Paris 1986, 574, 577.

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Es gab aber auch viele Regionen in Europa, wo starke Traditionen von Kirchenbesuch und Frömmigkeitspraxis über Generationen Bestand hatten, unabhängig von wohlhabenden Eliten, bestärkt allein durch die Priesterschaft und den sozialen Druck von Gleichrangigen. William Callahan, der über die Geografie des praktizierten Katholizismus im späteren 19. Jahrhundert in Spanien nachdenkt, hält fest: „[D]ie Kirche war am stärksten in Gegenden mit großer bäuerlicher Bevölkerung, die einigermaßen sichere Arbeitsverhältnisse hatte und in vielen kleinen Dörfern mit einem starken Gemeinsinn lebte.“46 Boutry, der jene Historiker infrage stellt, die einen klaren Bruch zwischen „klerikaler“ und „populärer“ Religion voraussetzen, hebt hervor, dass die katholischen Riten und Dogmen und vor allem die Sakramente für die ländliche Bevölkerung in Ain in der ersten Jahrhunderthälfte von zentraler Bedeutung waren.47 Aber er beschreibt auch die vielfältigen Konflikte, die sich aus unterschiedlichen Vorstellungen von den Sakramenten ergaben und sogar aus der Frage, was Christsein wirklich heißt. Für die Kleriker waren nur diejenigen Christen, die ihren religiösen Pflichten – und darunter vor allem dem Kommunionempfang zu Ostern – nachkamen; für die Gemeindemitglieder zählten als wesentliche Kriterien meist eher moralische Tugenden. In solchen Situationen bestand die potenzielle Stärke der Geistlichen darin, dass sie ihren Gemeindemitgliedern sowohl ähnlich als auch unähnlich waren. Die relativ bescheidene Herkunft der katholischen Pfarrer im 19. Jahrhundert schuf eine Nähe zur Lebensweise der Bauern und Handwerker, doch zugleich waren sie die „Dorfintellektuellen“48, mit Fähigkeiten, die nicht unbedingt mit ihrem Priesteramt verbunden waren, aber gleichermaßen geschätzt wurden, etwa als Ärzte. Die Beziehungen zwischen dem Klerus und den Leuten waren immer ein Minenfeld, auf dem viele Geistliche umkamen; aber es gab auch viele, die respektiert, geliebt und in manchen Fällen sogar verehrt wurden. Boutry nennt drei Themen, die in Aussagen über hoch angesehene Geistliche immer wieder auftauchen: die Treue zur Gemeinde, die Liebe zu den Armen und Bedürftigen sowie den Mangel an Interesse für soziale Unterschiede. Er stellt auch fest, dass diese besonders respektierten Geistlichen dazu neigten, „aktiv, unternehmerisch, oftmals autoritär“ zu sein.49 Der Autoritarismus war zweifellos eine zweischneidige Sache, denn er rief oft antiklerikale Reaktionen hervor. Doch ein Pfarrer, der den Respekt und manchmal sogar die Zuneigung der Menschen gewonnen hatte, konnte immensen Einfluss auf Einzelne und selbst auf Gemeinschaften ausüben. In Ländern, wo die Geistlichen auf dem Land generell von höherer sozialer Herkunft waren als fast alle ihre Gemeindemitglieder, war auch die Dynamik zwischen ihnen und den Laien eine andere. In Deutschland und Skandinavien zum Beispiel waren sehr

46 47 48 49

Callahan, Spanien, 244. Boutry, Prêtres et peuple, 454. Boutry, Prêtres et peuple, 350. Boutry, Prêtres et peuple, 349–351.

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viele Pfarrer selbst Söhne von Pastoren; in England gab es viele Pfarrdynastien, doch jene mit „besseren“ Pfründen fühlten sich oft zu den höheren Schichten hingezogen und vermischten sich als sozial Gleichgestellte mit anderen Mitgliedern ihrer Klasse. Natürlich wurden auch unter diesen Bedingungen viele der Geistlichen respektiert, einige wurden auch geliebt und manche verehrt. Doch der soziale Abstand, der damit verbundene andere Lebensstil und die andere Art sich auszudrücken wirkten sich unausweichlich auf das Verhältnis aus. Die Geistlichen sahen sich zwar üblicherweise in einer Vermittlerrolle, aber in direkten Konflikten zwischen den Klassen war es schwierig, nicht mit der einen oder der anderen Seite identifiziert zu werden. In Großbritannien gab es diverse Ausprägungen des evangelikalen Nonkonformismus, vor allem den Primitive Methodism in England und die Free Church in Schottland, die auf die ländlichen Armen eine starke Anziehungskraft hatten. Die Gründer des Primitive Methodism waren Arbeiter aus den Keramikbetrieben in North Staffordshire, die aus der Hauptorganisation der Methodisten, den Wesleyanern, ausgeschlossen worden waren, weil sie ein „Camp Meeting“ organisiert hatten – eine Open-Air-Veranstaltung mit ausgedehnten Predigten, gemeinsamem Singen und Glaubenszeugnissen auf einer abgeschiedenen Bergkuppe in der Nähe der Grenze zwischen Staffordshire und Cheshire. Auf ihrer „Jährlichen Konferenz“ entschieden die Wesleyaner, dass Veranstaltungen dieser Art, auch wenn sie in Amerika zulässig sein mochten, in England keinen Platz hätten, denn sie behinderten die Durchsetzung einer strengeren Kirchendisziplin und geistlichen Kontrolle. Die Dissidenten vereinigten sich mit den Magic Methodists, einer von mehreren Gruppen, die damals an den Rändern des offiziellen Methodismus lebten, und gaben sich 1812 den Namen Primitive Methodists. Ihr Hauptinteresse galt der uneingeschränkten Missionierung, die durch keine Tradition, keine Übereinkunft und kein Gesetz behindert werden durfte. Ihre frühen Prediger mussten sich durch keinerlei Ausbildung qualifizieren, und es gab kein Mindestalter. Die größte Kontroverse wurde damals von der Tatsache ausgelöst, dass viele ihrer frühen Prediger Frauen waren. Anfangs vergrößerten sie ihre Anhängerschaft hauptsächlich mittels öffentlicher Predigten im Freien, manchmal auch durch gezieltere Methoden: Laut der Aussage eines Geistlichen aus Norfolk im Jahr 1838 wuchs ihre Zahl besonders wegen „einer Handvoll Eiferer, die von Hütte zu Hütte gehen, die Armen überzeugen, […] die untersten aller Menschen, […] ihre Kirche zu verlassen und zu ihnen zu kommen“50. Ihren größten Erfolg hatten sie in Bergbaugebieten, ländlichen Industrieregionen und landwirtschaftlichen Gegenden. Über viele Jahre wurde ihnen das Recht zu predigen von Magistraten und gewalttätigen Haufen bestritten. Gefängnisaufenthalte wegen Landstreicherei und Verkehrsbehinderung gehörten zu den Standarderfahrungen der Pioniere. Ihre disziplinierte Lebensführung samt der Ablehnung von Wirtshäusern und den meisten gängigen Sportarten machte sie zu Außenseitern, doch ihre Fähigkeiten als Redner und Organisatoren sowie ihre Weigerung, sich von sozial Höhergestellten

50 Lee, Robert, Rural Society and the Anglican Clergy, 1815–1914, Woodbridge 2006, 65.

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einschüchtern zu lassen, prädestinierten sie auch als potenzielle Sprecher von Gruppeninteressen. So traten sie in den 1830er und 1840er Jahren als Anführer der Bergarbeitergewerkschaften in Nordostengland hervor, und ein weiteres Mal beim „Aufstand des Feldes“ in den 1870ern, als die Landarbeiter einen dramatischen, wenn auch nur kurze Zeit währenden Durchbruch erreichten. Auch einige anglikanische Geistliche (einschließlich des Bischofs von Manchester) äußerten sich zugunsten der Farmarbeiter, doch viele stellten sich gegen die Gewerkschaft, folglich enthielt die Rhetorik der Gewerkschaft oft antiklerikale Spitzen.51 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die Primitive Methodists, wie viele andere Gemeinschaften der Arbeiterklasse, zunehmend respektabel und entwickelten vor allem ein starkes Interesse an Bildung wie auch an der Mitwirkung in Politik, Konsumgenossenschaften und anderen lokalen Einrichtungen. Doch ein wichtiger Grund, warum die erste Generation so ansprechend war, lag darin, dass sie zur geistigen Welt der ungebildeten ländlichen Armen gehörten. Sie teilten den Glauben an Hexen, Kobolde, körperliche Erscheinungsweisen des Teufels, Wunderheilungen und besondere Fügungen, wie sie auf dem Land und in Industriesiedlungen im England des frühen 19. Jahrhunderts weit verbreitet waren52 (wahrscheinlich auch in den Städten, auch wenn darüber weniger bekannt ist53). Die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben, das absolute Vertrauen in die Bibel als das inspirierte Wort Gottes, die Hoffnung auf den Himmel und die Angst vor der Hölle gehörten zum gemeinsamen Repertoire aller evangelikalen Predigten in vielen verschiedenen Regionen Europas im frühen 19. Jahrhundert. Doch unterschieden sich die sozialen Kontexte, in denen über diese Dinge gepredigt wurde, erheblich. Was die Kontexte des frühen Primitive Methodism betrifft, lag der wesentliche Unterschied zwischen Gegenden mit einer öffentlich wahrnehmbaren gesellschaftlichen Hierarchie samt klerikaler Präsenz und Gegenden mit einer zerstreut lebenden Bevölkerung, wo der Methodismus so etwas wie ein religiöses Vakuum ausfüllen konnte. In ersteren Gegenden hatte der Primitive Methodism oft einen aggressiven Charakter, drückte sich offen antiklerikal aus und zeigte manchmal seine Abneigung gegen lokale Eliten; in letzteren konnte sich manchmal eine kleine, von Laienpredigern geführte Kapelle mit gebührendem Abstand zu anderen Gotteshäusern als Mittelpunkt des religiösen Lebens etablieren, ohne große Kontroversen hervorzurufen. Das System der Pfarrgemeinden war nicht besonders geeignet für Gegenden mit weit verstreuter Bevölkerung, wo viele Menschen in beträchtlichem Abstand zur Gemeindekirche lebten und in der es möglicherweise nur wenige Großgrundbesitzer gab, die einen gewissen Grad an Zwang ausüben konnten. In dieser Lage befanden sich viele Teile Nord- und Westenglands, und hier schuf sich der Methodismus eine starke Basis.

51 Lee, Anglican Clergy, 56–74. 52 Obelkevich, James, Religion and Rural Society. South Lindsey 1825–1875, Oxford 1976. 53 Vgl. aber Williams, Sarah, Religious Belief and Popular Culture in Southwark, c.1880– 1939, Oxford 1999.

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Ein besonders auffälliges (aber in vielerlei Hinsicht ganz anderes) Beispiel waren die ländlichen Gebiete im Westen und Südwesten von Irland, in denen Sean Connolly für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Leuten eine relativ geringe formelle religiöse Observanz feststellt. Er fügt hinzu, dies „soll nicht heißen, dass sie gleichgültig gegenüber der Religion waren“. „Woran sie sich hielten, war jedoch eine Art Volksreligion, die sich vom rechtgläubigen Katholizismus in einer Reihe wichtiger Punkte unterschied.“ Die Teilnahme an Messe und Beichte war unregelmäßig und die Zahl der Kommunikanten relativ niedrig, doch Übergangsriten und manche Feste und Rituale im Zusammenhang mit dem landwirtschaftlichen Jahresrhythmus hatten große Bedeutung. Orte, die mit regionalen Heiligen in Verbindung gebracht wurden, heilige Brunnen etwa, waren gut besucht. Es gab außerdem zahlreiche Vorstellungen von Glück und Unglück, Krankheit und Gesundheit, die nur in losem Zusammenhang mit dem katholischen Glauben und seinen Symbolen standen; seine „Segnungen und andere Rituale wurden betrachtet, als hätten sie magische Wirkung, und den Priestern sprach man übernatürliche Kräfte zu“54. Auf ähnliche Weise könnte man, mutatis mutandis, auch viele entlegenere Gegenden im protestantischen Europa, in Nordschottland etwa, beschreiben. Es gibt ein geläufiges Deutungsmuster, wonach die Modernisierung im Europa des 19. Jahrhunderts mit der Säkularisierung in Verbindung steht. Doch die Modernisierung in Form von besserer Kommunikation, Schulen, Zugang zu Büchern und Zeitungen usw. bedeutete nicht unbedingt weniger Christentum, sondern ein Christentum anderer Art. Dies konnte in der Staatskirche enthalten sein oder auch nonkonformistische Form annehmen, in jedem Fall aber war es disziplinierter und geordneter, mehr befasst mit Fragen des sittlichen Handels und damit verbundenen Vorstellungen von Anstand, und theologisch war es mehr auf Rechtgläubigkeit bedacht. In Schweden, so konstatiert Erik Sidenvall, trugen diese Prozesse zumindest indirekt zur Säkularisierung bei. Er zeigt, wie die Agrarreformen und die wachsende Landbevölkerung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu einer immer stärkeren Trennung zwischen der ländlichen Mittelschicht aus Hofbesitzern und Amtsträgern (einschließlich der Geistlichen) einerseits und einem zunehmenden Landproletariat andererseits führten. Im Bündnis mit der Geistlichkeit wünschte sich diese neue Mittelschicht „eine neue Art des Christentums, oft mit pietistischer oder erweckungsfreundlicher Note“, die „gesitteter“ und „sehr viel individueller“ sein sollte und damit auch viele traditionelle religiöse Praktiken ablehnte. Sidenvall belegt anhand lokaler Studien, dass viele Arme sich schon lange vor dem Beginn der Industrialisierung vom religiösen Gemeindeleben abgewandt hatten. Diese Abkehr verschärfte sich dadurch, dass viele Arbeiter auf der Suche nach Arbeit immer größere Mobilität an den Tag legen mussten. Die verspätete Einführung der Religionsfreiheit in den 1860er-Jahren ließ vielfältige evangelikale Organisationen aufblühen – innerhalb wie

54 Connolly, Sean, Religion and Society in Nineteenth-Century Ireland, Dundalk 1985, 49f.

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außerhalb der Kirche von Schweden. Manche, die vom Luthertum entfremdet waren, wurden Baptisten oder Methodisten oder schlossen sich der Schwedischen Missionsvereinigung an, die meisten aber blieben in der Kirche von Schweden, nahmen jedoch – außer zur Feier von Übergangsriten – nur selten an Gottesdiensten teil.55 In Irland hingegen brachte die Modernisierung, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Städten und den wohlhabenderen ländlichen Gegenden zum „rückständigen“ Westen hin ausbreitete, etwas mit sich, was als „devotionale Revolution“ bekannt wurde.56 Dazu gehörte ein überwältigend hoher Besuch der Messe, eine Zunahme bei den Beichten und beim Kommunionsempfang, die Vermehrung der Bruderschaften und eine sehr viel strengere klerikale Kontrolle des Sexualverhaltens. Ähnlich dramatische Veränderungen fanden zwischen 1790 und 1850 in der ärmsten und entlegensten Gegend Großbritanniens statt, dem schottischen Hochland und den Inseln. Nach Callum Brown war der Einfluss der Kirche von Schottland, der die meisten Menschen nominell angehörten, im 18. Jahrhundert dort noch sehr begrenzt, und die Katholische Kirche sowie die Episkopalkirche waren nur vereinzelt anzutreffen.57 Doch seit ungefähr 1790 wurde die Region von einer Reihe evangelikaler Erweckungen geradezu überschwemmt. Deren Wortführer waren Prediger, Ordinierte wie Laien, sie kamen sowohl von der Staatskirche als auch von verschiedenen Konfessionen der Dissenters. Sie richteten sich gezielt an mittlere und untere Chargen von Kleinbauern und Ladeninhabern. Bei der großen Spaltung der schottischen Kirche im Jahr 1843 („disruption“) schloss sich die große Mehrheit der Hochland-Grafschaften der Free Church an, die (zusammen mit den Free Presbyterians) bis ins späte 20. Jahrhundert in vielen Teilen von Nordwestschottland eine bestimmende Größe blieben – für Außenstehende am deutlichsten erkennbar an ihrem Sabbatarianismus, d h. wegen ihrer strengen Sabbat-Observanz. Westirland und Nordschottland waren nur extreme Fälle innerhalb eines umfassenderen Prozesses, der die Modernisierung des 19. Jahrhunderts und mit ihr auch die Kirchen, ihre Geistlichen mitsamt ihren neuen sittlichen Werten und Konzepten von Anstand in die ärmeren und abgeschiedeneren ländlichen Gegenden brachte. Yves-Marie Hilaire stellt fest, dass im Marschland entlang der Küste bei Calais der Katholizismus und die „Zivilisation“ gemeinsam voranschritten,58 und George Bourne, der ein Heidegebiet in der Grafschaft Surrey untersuchte, kam zu der Erkenntnis, dass die Kirche – weit entfernt davon, ein Relikt aus der Vergangenheit zu sein – in einer Gegend, wo es kurz zuvor noch kein

55 Sidenvall, Erik, A Classic Case of De-Christianisation? Religious Change in Scandinavia c. 1750–2000, in: Brown, Callum/Snape, Michael (Hrsg.), Secularisation in the Christian World, Farnham 2010, 119–134, vgl. 124–126. 56 Larkin, Emmett, The Devotional Revolution in Ireland 1850–75, in: American Historical Review 77/3 (1972), 625–652. 57 Brown, Callum, Religion and Society in Scotland since 1730, London 1987, 116. 58 Hilaire, Yves-Marie, Une chrétienté au XIX siècle?, 2 Bde., Lille 1977, Bd. II, 575.

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Gotteshaus gegeben und organisierte Religion nie großen Einfluss hatte, als eine der Kräfte des Fortschritts angesehen wurde.59 Die Unterstützung, die die Großgrundbesitzer der Kirche oft zukommen ließen, war natürlich zweischneidig. Sie konnte darauf zielen, Übereinstimmung wider Willen zu erzwingen, sie konnte ebenso dazu beitragen, die aus freiem Willen bestehende Übereinstimmung zu erhalten – wie es zum Beispiel häufig in der Bretagne der Fall gewesen zu sein scheint –, sie konnte aber auch Widerstand hervorrufen. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ist die intensivste religiöse Betätigung auf dem Land oft dort zu finden, wo die Großgrundbesitzer im Allgemeinen einer anderen Konfession angehörten als die Bauern und Landarbeiter. Am stärksten fällt dies in Irland auf. Dort waren die Landbesitzer in den meisten Fällen Protestanten und gehörten zur Kirche von Irland, die Masse der Bevölkerung aber war katholisch. Bis 1869 war die Kirche von Irland Staatskirche, obwohl drei Viertel der Iren Katholiken waren und ein erheblicher Teil der protestantischen Minderheit der Presbyterianischen oder Methodistischen Kirche angehörte. Dadurch erhielten die bereits sehr konfliktträchtigen Beziehungen zwischen Grundherren und Pächtern noch eine religiöse Dimension. Während in vielen Teilen Europas die Landbevölkerung von der landbesitzenden Elite zur religiösen Observanz angehalten oder sogar gezwungen wurde, beteiligten sich in Irland, vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte, sehr viele Menschen an religiösen Aktivitäten nicht wegen, sondern trotz der Klasse der Landbesitzer, und sie erhielten ihre Praxis in gewissem Maße aus Opposition gegen diese aufrecht. In den ländlichen Gebieten von Wales war die Situation in gewisser Hinsicht ähnlich: Die Oberschicht war mehrheitlich anglikanisch, die Bauern, Arbeiter und Krämer aber besuchten die überwiegend calvinistischen Kapellen der Nonkonformisten. Auch in Schottland, wo die breite Masse der Bevölkerung sich 1843 der Free Church anschloss, blieben die meisten Landbesitzer in der Kirche von Schottland oder in der Episkopalkirche. Wie Callum Brown schreibt, trug die Blockade der Landbesitzer, die den Bau neuer Kirchen verhinderten und Open-Air-Prediger verhaften ließen, dazu bei, „der Disruption in der Mythologie der Kleinbauern den Stempel einer großen sozialen wie auch kirchlichen Revolution aufzudrücken“60.

3.7. Die Industrialisierung Großbritanniens Im 18. Jahrhundert war die Kirche in eine Reihe von Ländern – beispielsweise in Spanien, Portugal und Irland – in den Städten stärker war als auf dem Land.61 In der ers-

59 McLeod, Hugh, Religion and the People of Western Europe, 1789–1989, Oxford 1997, 68. 60 Brown, Scotland, 126. 61 Callahan, William J., The Spanish Church, in: ders./Higgs, David (Hrsg.),Church and Society in Catholic Europe of the Eighteenth Century, New York 1979, 34–50, 37; Higgs, David, The Portuguese Church, in: Callahan/Higgs (Hrsg.), Church and Society, 51–65, 54f; Connolly, Ireland, 48.

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ten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es zahlreiche Kleinstädte und sogar einige Metropolen, in den das Pfarrgemeindesystem noch gut funktionierte. In den Großstädten im Süden von Frankreich lebte die Katholische Kirche nach den Katastrophen der 1790er-Jahre wieder auf und stellte bis in die Jahrhundertmitte ein wesentliches Bindeglied zwischen den verschiedenen Teilen der Bevölkerung dar. Aber es gab auch Gegenden in Europa, wo die gesellschaftliche Ordnung sich rapide veränderte und das alte Pfarreisystem praktisch nicht mehr funktionierte. Zwischen 1750 und 1850 wuchs die Zahl der europäischen Großstädte mit Einwohnerzahlen von über 100.000 von zwölf auf 43, und die Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern nahmen von 123 auf 327 zu. Am schnellsten ging der Wandel in Großbritannien vor sich, wo sich seit dem späten 18. Jahrhundert eine industrielle Ökonomie auf der Grundlage mechanisierter Massenproduktion entwickelte. Diese wirtschaftlichen Veränderungen begleitete ein Prozess der Verstädterung. 1851 lebte bereits die Hälfte der Bevölkerung von England und Wales in Städten. London war zu dieser Zeit schon die größte Stadt, die die Welt je gesehen hatte. Seine Bevölkerung war seit 1801 von einer auf zwei Millionen angewachsen. Liverpool, Manchester, Birmingham und Glasgow zählten nun zu den größeren städtischen Ballungsräumen, vergleichbar mit solchen geschichtsträchtigen Städten wie Wien, Neapel oder Amsterdam. Die lange erwartete Reform der Kirche von England kam erst in den 1830er und 1840er Jahren zustande; Auslöser waren die soziale Krise dieser Jahre und der Reformwille, der damals sowohl die Regierungen der Whigs als auch der Tories ergriffen hatte. Regierungen und Kirchenoberhäupter gingen gemeinsam gegen die nicht ortsgebundenen Geistlichen vor, um eine effizientere und gleichmäßigere Verteilung der kirchlichen Einkünfte sicherzustellen und höhere Standards in der Seelsorge einzufordern. Auf lokaler Ebene hoben die Bischöfe, unter Mithilfe von frommen und wohlhabenden Laien, Spendenkampagnen aus der Taufe. In London und Manchester wurden in den 1840ern große Kirchenbauprogramme gestartet; in Manchester hielt die Errichtung neuer Kirchen bis in die 1890er-Jahre sogar mit dem Bevölkerungszuwachs Schritt. Zugleich war es eine Zeit der vielseitigen spirituellen Erneuerung; sie fand ihren Ausdruck in erster Linie in der OxfordBewegung, aber auch in der weiterhin bestehenden Stärke des Evangelikalismus und in der kleineren, aber wirkungsvollen liberal-anglikanischen Bewegung, und führte zu einem regelrechten Boom der Ordinierung von Geistlichen. Dennoch bestand während der meisten Jahre des 19. Jahrhunderts die Mehrzahl der Kirchgänger in den Städten und Industriegebieten aus Nonkonformisten. Von einer bestimmten Warte aus könnte man sagen, dass die Methodisten und andere Dissenters mit ihren Kapellen die Lücken im Pfarreisystem füllten. Aus einer anderen Warte dagegen ist festzuhalten, dass die Nonkonformisten eine andere Art der Religiosität vertraten, und zwar eine, die für viele Industriearbeiter attraktiver war. Die methodistischen Predigten und Gesänge sprachen oft die Gefühle direkter an als ihre anglikanischen Gegenstücke. Und die strengen moralischen Regeln des Methodismus schienen in neuen oder schnell wachsenden Ortschaften, wo ältere Formen der nach-

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4. 1848

barschaftlichen Sozialkontrolle nicht mehr wirksam waren, besonders am Platze. Zudem sprach die Religion der Nonkonformisten in einer Zeit schwerer sozialer Spannungen und wachsenden politischen Bewusstseins auch den Geist der Unabhängigkeit der Männer und Frauen aus der Arbeiterklasse besonders an. Großbritannien erlebte in den 1830er- und 1840er Jahren der Welt erste Massenbewegung der Arbeiterklasse, die Chartisten. Sie wurden so genannt, weil ihre Forderungen – u. a. das Wahlrecht für Männer und jährliche Parlamentswahlen – in der People’s Charter („Volkscharta“) festgehalten waren. Es war zugleich eine Zeit wiederholter Auseinandersetzungen in der Industrie. Im Kohlerevier von Nordostengland wurden Prediger der Primitive Methodists dafür bekannt, die Minenarbeiter zu organisieren. Über mehrere Generationen spielten Methodisten herausragende Rollen in den Gewerkschaften der Bergwerksarbeiter, Steinhauer und Landarbeiter. Aber es gab auch noch andere religiöse Strömungen in der aufkommenden Arbeiterbewegung. So gab es die chartistischen Kirchen für diejenigen, die so etwas wie einen baptistischen oder methodistischen Gottesdienst wollten, für die aber die bestehende Kirche die Sache der Chartisten nur in ungenügendem Maße unterstützte. Des Weiteren waren da die owenitischen Sozialisten, Anhänger von Robert Owen (1771–1858). Er war ein aufgeklärter Rationalist, der an die Vervollkommnung der Menschheit durch Bildung und den heilsamen Einfluss einer reformierten Gesellschaft glaubte, und damit einer der ersten säkularen Propheten, die das 19. Jahrhundert in so großer Zahl herbrachte. Die britische Arbeiterbewegung blieb religiös pluralistisch; zu ihr gehörten viele konventionelle Gläubige (hauptsächlich protestantische Dissenters, später auch zahlreiche Katholiken), etliche unkonventionelle Gläubige (wie die Spiritisten – der Glaube, den Owen zuletzt annahm) und natürlich auch die Nichtgläubigen.

4. 1848 4.1. Das Jahr der Revolutionen Das Jahr der Revolutionen markiert einen Wendepunkt in Europas Religionsgeschichte – auch wenn nicht alle Teile des Kontinents sich in dieselbe Richtung „wendeten“. Die Revolutionen mischten liberale, demokratische und nationalistische Ideen in verschiedenen Anteilen, je nach der Situation in den jeweiligen Ländern und gemäß den Ideen und Interessen der verschiedenen sozialen Gruppen, die sich daran beteiligten. In Frankreich setzte man die Monarchie des Hauses Orléans ab und gründete die Zweite Republik. Ebenso floh der Papst aus Rom, woraufhin die Römische Republik ausgerufen wurde. In den deutschen Staaten erließen die verängstigten Herrscher Verfassungen, und ein nationales Parlament trat in Frankfurt zusammen. Auf kurze Sicht scheiterten alle diese Revolutionen,

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doch trugen sie in den weiteren Jahren Früchte verschiedenster Art (wenn auch nicht immer die von den Akteuren beabsichtigten). Die revolutionäre Welle begann im Februar in Paris, der Bürgerkönig Louis Philippe floh nach zwei Tagen der Straßenproteste ins Exil und die Zweite Republik wurde ausgerufen. Am Monatsende folgten die deutschen Staaten und Dänemark mit Demonstrationen, Massenversammlungen und gelegentlichen Straßenkämpfen in Berlin, Wien, Kopenhagen und in den Hauptstädten zahlreicher kleinerer Staaten. Erschreckte Herrscher, die fürchteten, Louis Philippe bald ins Exil folgen zu müssen, reagierten mit der Einberufung von „Märzkabinetten“ mit liberalen Ministern und versprachen Verfassungen. Bald folgten Wahlen zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung in Frankfurt. Auch in vielen Regionen Europas, in denen die Österreicher herrschten, einschließlich Ungarns und Norditaliens, kam es zu Demonstrationen und Kämpfen. In Irland und Polen fanden bewaffnete Aufstände statt. Und im November wurde unter Führung von Giuseppe Mazzini (1805–1872), dem Helden der italienischen Radikalen, Nationalisten und Antiklerikalen, die Römische Republik gegründet. Die bewaffneten Aufstände wurden schnell niedergeschlagen, und nach wenigen Monaten fühlten sich die Herrscher von Preußen, Österreich und anderen Staaten wieder stark genug, die meisten Zugeständnisse, die sie im Frühjahr gemacht hatten, wieder zurückzuziehen. Das Frankfurter Parlament brach in Wirren auseinander. Französische Truppen setzten den Papst wieder als Herrscher über den Kirchenstaat ein. Um die Mitte des Jahres 1849 war der frühere Zustand in den meisten Gegenden Europas mehr oder weniger wiederhergestellt, auch wenn ein paar kleinere Staaten, darunter vor allem Dänemark bleibende Schritte in eine liberalere Richtung unternommen hatten. Preußen erhielt 1850 eine Verfassung, die einige bedeutende neue Freiheiten enthielt, wobei der König hervorhob, dass es sich dabei um einen Akt der Gnade handelte und nicht um eine Reaktion auf die Forderungen seiner Untertanen. Nur Frankreich bewegte sich in eine etwas andere Richtung als alle anderen. Die Ausrufung der Republik im Februar fand zwar breite Unterstützung, aber nach dem Juniaufstand, einer kurzlebigen Erhebung der Arbeiter in Paris, zerbrach die Einigkeit. Obwohl Frankreich damals das einzige Land Europas war, das allen erwachsenen Männern das Wahlrecht gegeben hatte, siegte bei der ersten Präsidentenwahl im Dezember 1848 der konservativste aller Kandidaten: Louis Napoleon (1808–1873), der Neffe des „großen“ Napoleon. 1851 inszenierte er einen Staatsstreich und erklärte sich 1852 als Napoleon III. zum Kaiser. Wie 1789 hatte die Katholische Kirche Frankreichs die Revolution ursprünglich unterstützt, und auch in Preußen – wie in vielen anderen deutschen Staaten – unterstützte die evangelische Kirche großenteils die neue liberalere Ordnung. Doch sowohl in Frankreich als auch in Preußen bewegte sich die Mehrheit der Geistlichen schrittweise in eine konservativere Richtung – aus Angst vor einer drohenden radikaleren Revolution. Papst Pius IX. (Amtszeit 1846–1878) hatte an-

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fänglich einen liberalen Ruf, doch als er unter dem Schutz der französischen Truppen nach Rom zurückkehrte und für den Rest seines langen Pontifikats dort blieb, wurde er ein unversöhnlicher Gegner von Liberalismus und Demokratie, ganz gleich, ob innerhalb oder außerhalb der Kirche. So entstand eine deutliche Kluft zwischen einer religiösen Rechten und einer säkularen Linken.

4.2. Kirchliche Strömungen Niemand kannte sich besser aus mit der Grenzziehung zwischen einer säkularen Linken und einer religiösen Rechten als Pius IX. Als er das Massaker an den Priestern in den letzten Tagen der Pariser Kommune von 1871 – eine ihrer grausameren Manifestationen – untersucht hatte, meinte Pius sogar, noch schlimmer als die Kommunarden seien die liberalen Katholiken, die „zwei unvereinbare Dinge zu vereinbaren versuchten – Kirche und Revolution“62. Während seines Pontifikats kam es zum Triumph der Ultramontanen (jener Katholiken, die sich ultra montes – „jenseits der Berge“ – also an Rom, orientierten). Am stärksten war diese Bewegung anfangs im Gemeindeklerus und in den Orden, vor allem bei den Jesuiten. Aber um die Jahrhundertmitte gab es auch immer mehr ultramontane Bischöfe, und neue Generationen ultramontaner Priester wurden in den Seminaren der Bistümer ausgebildet. Das gewachsene Ansehen des Papsttums fand seinen erhabensten Ausdruck im Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit, das vom Ersten Vatikanischen Konzil 1870 verkündet wurde (obwohl einige Ultramontane enttäuscht waren, weil die Unfehlbarkeit sich nicht auch auf die politischen Interventionen des Papstes erstreckte). Das zeigte sich unter anderem daran, dass immer öfter Porträts des Papstes in katholischen Haushalten aufgehängt wurden, dass der Geburtstag des Papstes gefeiert wurde und Pilgerreisen nach Rom immer beliebter wurden. Gleichermaßen wichtig zur Erklärung des großen Zuspruchs des Kirchenvolks zum Ultramontanismus ist das Wiederaufleben etlicher Züge des Katholizismus, die vernachlässigt und im späten 18. Jahrhundert manchmal sogar unterdrückt worden waren, da man es zu jener Zeit gern sah, wenn Religion sich eher rational und ethisch gab. Nun aber wurden die Orte von Marienerscheinungen, zum Beispiel La Salette (1846), Pontmain (1870), Marpingen (1871), Knock (1879) vor allem Lourdes (1858), zu Zielen überaus beliebter Wallfahrten. Lourdes wurde besonders berühmt wegen der Wunderheilungen, die von dort berichtet wurden, obwohl die Pilger auch aus vielen anderen Gründen angezogen wurden – etwa um ihre gemeinschaftliche Identität in Zeiten politischer Krisen oder Verfolgungen zu

62 Mather, Judson, The Assumptionists’ Response to Secularization, in: Bezucha, Robert (Hrsg.), Modern European Social History, Lexington MA 1972, 60.

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stärken, das persönliche Glaubensleben zu intensivieren oder einfach, weil man Urlaub brauchte. Dennoch gab es auch eine bedeutende Minderheit liberaler Katholiken in der gebildeten Mittelschicht und unter den Dozenten an den Seminaren und katholisch-theologischen Fakultäten. Nach dem Ersten Vatikanischen Konzil 1869/1870 brachen manche von ihnen mit Rom und schlossen sich in den Niederlanden und Deutschland den Altkatholiken oder den Christkatholiken in der Schweiz an. Diese Abspaltungen bedeuteten jedoch, dass die Situation jener liberalen Katholiken, die in der römischen Kirche blieben, noch schwieriger wurde. In den protestantischen Kirchen in dieser Zeit war gab es eine ebenbürtigere Auseinandersetzung zwischen liberalen und konservativen kirchlichen Lagern (die oft, aber nicht zwingend, mit politischen Differenzen zusammenhingen). In vielen deutschen Staaten begünstigten die Beziehungen zwischen Kirche und Staat die konservativen Strömungen – Bayern und Preußen sind dafür die augenfälligsten Beispiele. Demgegenüber hatten die Staaten von Baden und Thüringen liberale Traditionen. Als Beispiel für die unterschiedlichen Strömungen in den protestantischen Staatskirchen während dieser Jahre kann ein Beitrag in einer britischen Zeitschrift aus dem Jahr 1853 dienen. Darin wurde der anglikanische Klerus in drei Hauptströmungen unterteilt: High Church, Low Church und Broad Church, von denen jede wiederum einen gemäßigteren und einen extremeren Flügel hatte. Die Sympathien des Autors dieses Zeitschriftenbeitrags galten offensichtlich der gemäßigten Broad Church, der er Rechtgläubigkeit, aber auch eine großzügige Offenheit für theologische Unterschiede und ein starkes Interesse an sozialen Reformen bescheinigte. Der extremere Flügel der Broad Church setzte sich dagegen sehr viel leichter über klassische Lehren hinweg. Der Autor war überzeugt, dass sich die gemäßigten Evangelikalen durch ihr kompromissloses Bestehen auf der Autorität der Bibel von den anderen unterschieden und dass der gemäßigtere Geistliche der High Church an seiner Liebe zu „Musik, Malerei, Architektur“, „seiner Herzlichkeit und seinem altenglischen Gefühl, seiner Liebe zu Festen und Feiertagen und seiner tätigen Nächstenliebe“ zu erkennen sei. Äußerst kritisch zeigte er sich indessen gegenüber den Extremen auf beiden Seiten – gegenüber der extremen High Church wegen ihrer katholisierenden Tendenzen und gegenüber der extremen Low Church wegen ihres buchstäblichen Bibelverständnisses, ihres strengen Sabbatarianismus und ihres exzessiven Interesses an der Prophetie.63 Ähnliche Differenzierungen gab es auch in anderen überwiegend protestantischen Ländern, wobei die relative Stärke der verschiedenen Strömungen natürlich überall anders war. Den englischen Evangelikalen entsprachen die deutschen und skandinavischen Pietisten und die „or-

63 Conybeare, William John, Church Parties, in: Edinburgh Review 98 (1853), 273–342, vgl. 287, 301, 315, 330–333.

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thodoxen“ Protestanten in den Niederlanden. Es ließen sich auch Ähnlichkeiten ausmachen zwischen englischen Hochkirchlern und den Konfessionellen Lutheranern in Deutschland und Skandinavien. Die Angehörigen der Broad Church hatten ihr Gegenüber in allen größeren protestantischen Kirchen, wobei der extremere Flügel vielleicht in den Niederlanden oder Deutschland stärker war als in England.

4.3. Widerstand gegen die Säkularisierung In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Säkularisierung als allgegenwärtige Bedrohung oder zumindest als bestehende Gefahr wahrgenommen. In vielen Teilen Europas war es unübersehbar, dass viele Menschen nicht mehr zur Kirche gingen oder die Sakramente empfingen. Außerdem sah es bereits um die Mitte des Jahrhunderts, aber mehr noch in den folgenden Jahrzehnten so aus, als stünden die Kirche und sogar der christliche Glaube selbst unter Beschuss. Die Bedrohung kam aus wenigstens vier verschiedenen Richtungen. Regierungen konfiszierten Kirchenbesitz, säkularisierten das Bildungswesen, beschränkten die Handlungsspielräume der Geistlichen und verwiesen Ordensgemeinschaften des Landes – oder sie mischten sich einfach in Kirchenangelegenheiten ein, was manche Geistliche als ungerechtfertigt empfanden. Intellektuelle interpretierten die Bibel im Lichte neuer Forschungen und diskutierten neue wissenschaftliche Theorien, die den bestehenden religiösen Orthodoxien widersprachen, darüber hinaus stellten mehrere neue Philosophien das Christentum direkt in Frage, so etwa der Positivismus von Auguste Comte und der Materialismus von Ludwig Feuerbach und Georg Büchner. Viele der populärsten Bewegungen der Zeit waren zutiefst antiklerikal, einige militant säkular. Wie später noch ausgeführt werden soll, waren Bewegungen dieser Art am bedrohlichsten, weil sie großen Zuspruch vonseiten der Massen erhielten und tatsächlich einen neuen Glauben vertraten, der den Platz des alten einnehmen konnte. Währenddessen stellten massive soziale Umwälzungen die Kirchen vor enorme logistische Herausforderungen, aber auch vor subtilere Probleme – etwa vor die Schwierigkeit, wie die Gräben zwischen den sozialen Klassen in Zeiten akuter gesellschaftlicher Konflikte überbrückt werden könnten. Kirchenleitungen, Geistliche, engagierte Laien, religiöse Intellektuelle hatten alle ihre eigenen Antworten auf diese großen Fragen, und einige neue religiöse Bewegungen entstanden explizit als Reaktionen darauf. Vier durchaus gegensätzliche Reaktionen waren für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch. Diese einander widersprechenden Strategien ergaben sich aus unterschiedlichen Diagnosen der Säkularisierung und ihrer Ursachen; sie waren geprägt von den verschiedenen Traditionen innerhalb der Kirchen und von den jeweiligen politischen Bedingungen in den einzelnen Ländern. Der ersten Strategie ging es darum, eng mit den Regierungen und gesellschaftlichen Eliten zusammenzuar-

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beiten, um eine Rechristianisierung der Gesellschaft von oben zu erreichen. Die Prämisse dieser Strategie bestand darin, dass die Bedrohung durch die Säkularisierung vor allem von unchristlichen Regierungen und antichristlichen Volksbewegungen ausging. Die Gefahr könne abgewendet werden, wenn die Kirche angemessen finanziert würde und eine wesentliche Rolle in der Erziehung und Sozialfürsorge spielen könnte, wenn die Gesetze den christlichen Glauben des Landes widerspiegelten, wenn die Spitzen der Gesellschaft als gute Christen angesehen würden und wenn auf Ortsebene die Landbesitzer und Arbeitgeber selbst ein Beispiel für Frömmigkeit gäben und ihre Untergebenen zum Kirchenbesuch anhielten. Die zweite Strategie bestand darin, das Christentum teilweise oder ganz mit den Kräften des Fortschritts zu identifizieren. Während die erste Strategie davon ausging, dass die Bewegungen und Ideologien, die die Säkularisierung vorantrieben, böse und im Wesentlichen antichristlich seien, basierte diese zweite Strategie auf der Überzeugung, dass die neuen Ideen oder Bewegungen zumindest einige wahre Erkenntnisse beinhalteten und es deshalb einer Selbsttäuschung gleichkäme, wenn Christen diese ausschließlich verurteilten. Deshalb seien Christen zumindest zum Teil selbst verantwortlich für die Probleme, vor denen sie in der gegenwärtigen Gesellschaft stünden. Die dritte Strategie konzentrierte sich nicht so sehr auf die ideologischen Feinde als auf die Auswirkungen des sozialen Wandels, die dazu beitrügen, die eingespielten Methoden und Mechanismen der Kirche unbrauchbar werden zu lassen. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, neue Wege zu finden, um die christliche Botschaft zu den Menschen zu bringen. Anders als bei der ersten Strategie war dies eine Evangelisierung „von unten“ statt „von oben“; und anders als bei der zweiten ging es nicht darum, den Inhalt des Christentums zu modernisieren, sondern die Methoden, die es zur Verkündigung verwendete. Die vierte Strategie, den Versuch, eine enggeknüpfte Subkultur aufzubauen, die die Kirchenmitglieder vor den feindlichen Kräften beschützen würde, soll weiter unten noch diskutiert werden. Im Gegensatz zu den optimistischeren Ansätzen der anderen drei Strategien, die davon ausgingen, dass eine Rechristianisierung der Gesellschaft möglich sei, wenn auch mit völlig unterschiedlichen Mitteln, war diese vierte Strategie im Wesentlichen defensiv und basierte auf der Annahme, dass die feindlichen Kräfte nicht besiegt, sondern nur zurückgedrängt werden könnten. Beginnen wir mit der erstgenannten Strategie der Rechristianisierung: In den 1850er-Jahren profitierten sowohl die Katholische Kirche in Frankreich als auch die Katholische Kirche und die protestantischen Landeskirchen in den deutschen Staaten von der Abwehrreaktion gegen 1848. Das von Napoleon III. eingesetzte Zweite Kaiserreich gründete auf der Allianz von Kirche und Staat. Einige Bischöfe waren dem neuen Regime gegenüber anfangs feindlich gesinnt, sei es wegen ihrer Loyalität zur Republik (wie etwa Monseigneur Sibour, der 1857 ermordete Erzbischof von Paris), sei es, weil sie auf die Rückkehr der Bourbonen hofften. Die meisten konnte Napoleon für sich gewinnen, indem er den Papst verteidigte, die

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staatliche Finanzierung der Kirche maßvoll anhob und vor allem durch die Loi Falloux (benannt nach dem Erziehungsminister). Dieses Gesetz ermöglichte die Eröffnung privater Gymnasien, die zum größten Teil von Ordensgemeinschaften geleitet wurden. Die Kirche profitierte auch von der „Rückkehr“ vieler Angehöriger des gehobenen Bürgertums, die hierin dem Adel folgten, der diesen Weg schon Jahrzehnte früher eingeschlagen hatte. Dazu hatte auch der Juniaufstand von 1848 beigetragen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Männer der Bourgeoisie die Gruppe, die sich am weitesten von der Katholischen Kirche entfernt hatten. Viele von ihnen hielten die Kirche für eine reaktionäre Institution mit adligen Bischöfen an der Spitze, die dem Ancien Régime nachtrauerten, und mit einem ungebildeten Klerus, der hauptsächlich aus Bauern und Handwerkern rekrutiert wurde. In zunehmendem Maße jedoch sahen vor allem Industrielle und Bankiers in der Kirche die einzige Institution, die in der Lage war, die Nation vor einer weiteren blutigen Revolution zu bewahren. Gewiss hatten dabei auch Armee und Polizei eine Rolle zu spielen, aber manchmal wurde das nicht so klar getrennt. Der Bürgermeister von Rouen etwa verglich die neue Kirche, deren Grundstein er 1857 legte, mit einem kurz zuvor in der Nähe errichteten Gefängnis: Beide seien Einrichtungen zur „Hebung der Moral der Menschen“64. Aufgrund ähnlicher Überlegungen war auch die Wirtschaftselite mittlerweile viel großzügiger als früher, wenn es darum ging, den Bau neuer Kirchen und die schnell wachsenden Orden finanziell zu unterstützen.65 In der zweiten Jahrhunderthälfte wurden immer mehr junge Männer aus wohlhabenden oder adligen Familien für den geistlichen Stand gewonnen, und zwar vor allem für prestigeträchtigere Orden wie die Jesuiten. Napoleons Allianz mit der Kirche galt generell als Zweckehe. Aber auch in Deutschland, wo während dieser Jahre ähnliche konservative Allianzen in den meisten Staaten am Werk waren, verfolgten viele tiefreligiöse Herrscher und Staatsmänner das Ziel eines „christlichen Staats“. Friedrich Wilhelm IV. war ein überzeugter Pietist, und dasselbe galt auch für einige seiner Minister, von denen viele aus dem Adel der östlichen Provinzen stammten und von den Bibel- und Gebetskreisen beeinflusst waren, die es dort im Überfluss gab. Sie legten den allergrößten Wert auf den Gedanken der menschlichen Sündigkeit, auf die Notwendigkeit, sich der gottgegebenen Autorität zu unterwerfen, und sie waren überzeugt, dass die demokratische Bewegung im Allgemeinen und die Revolutionen von 1848/1849 im Besonderen Früchte des menschlichen Stolzes und der Rebellion gegen die göttliche Ordnung seien. Ein „christlicher Staat“ sollte unnachgiebiges Regieren (in Preußen stieg die Zahl der Exekutionen in den 1850er-Jahren sprunghaft an) mit einer er-

64 Chaline, Jean-Pierre, Les bourgeois de Rouen, Paris 1982, 268. 65 Heywood, Colin, The Catholic Church and the Business Community in Nineteenth-Century France, in: Tallett, Frank/Atkin, Nicholas (Hrsg.), Religion, Society and Politics in France since 1991, London 1991, 78–83.

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höhten Bedeutung der Religion an den Schulen verbinden. Ein wichtiges Symbol war die „Sonntagsruhe“. Für die Liberalen sollte sie eine Sache der freien persönlichen Entscheidung sein, doch für die Konservativen war ihre gesetzliche Erzwingung ein Zeichen der kollektiven Unterordnung unter die Gesetze Gottes. Manche deutschen Herrscher boten den konservativeren Flügeln der Kirchen auch besondere Vergünstigungen an, denn sie glaubten, diese seien, anders als die Liberalen in der Kirche, weniger verdorben von revolutionären Aktivitäten und eher bereit, den weltlichen Herrscher als von Gott eingesetzt anzuerkennen. Die Triumphe der lutherischen Konfessionalisten in Bayern und Hannover und der Pietisten in Württemberg verdankten sich in hohem Maße der Gönnerschaft des Staates. Ausgehend von der Annahme, dass die liberalsten Formen der Religion immer die gefährlichsten seien, griffen manche deutschen Regierungen auch in die Angelegenheiten der jüdischen Gemeinden ein, um die Orthodoxen gegen ihre liberalen oder reformorientierten Gegner zu unterstützen. Friedrich Wilhelm IV. bemühte sich auch um bessere Beziehungen zur katholischen Hierarchie, denn er sah sie als potenzielle Unterstützerin des politischen Konservatismus, und er zog ihre Theologie zumindest dem Liberalismus mancher Protestanten vor. Die Verfassung von 1850 bedeutete darum auch einen Durchbruch für die Katholische Kirche in Preußen. Die Garantie der Religionsfreiheit hob etliche Beschränkungen katholischer Aktivitäten auf und erlaubte es den zuvor verbotenen Orden, sich wieder zu etablieren und große Missionen abzuhalten – ein typisches Merkmal der 1850er-Jahre. Die 1850er und 1860er Jahre waren für die Katholische Kirche in Preußen eine Zeit der Expansion; die Zahl der Berufungen wuchs deutlich an, und viele neue Organisationen entstanden. Als in den 1870ern der Staat wieder zum Angriff überging, waren die Katholiken gut vorbereitet, sich dem zu stellen. Diese Strategien der Christianisierung „von oben“ hatten jedoch oft einen polarisierenden Effekt, der viele von der Kirche entfremdete. Während die Rechte so ihre Verbindungen zur Staatsreligion ausbaute, wurde die Linke in vielen Teilen Europas allmählich immer säkularer. In Frankreich war der Staatsstreich Louis Napoleons am 2. Dezember 1850, der vom Großteil des Klerus unterstützt wurde, ein Wendepunkt. 1848/1849 waren die Beziehungen zwischen den Verfechtern der Republik und der Kirche im Allgemeinen noch gut, aber 1849 nahmen die Spannungen bereits zu, als sich die Kirche in eine eindeutig konservative Richtung bewegte. Seit dem Ende jenes Jahres schlug die republikanische Presse einen schärferen antiklerikalen Ton an. Wie Jean Faury zeigt, galt die Kritik zunächst den politischen Positionen des Klerus, doch mit der Zeit wurden die Angriffe umfassender, zielten zuerst auf die „Missstände“ in der Kirche, gingen dann aber dazu über, den „wissenschaftsfeindlichen Charakter der Religion“ anzuprangern.66 In den 1850er-Jahren wurden „bürgerliche“ (d. h. rein säkulare) Beerdigungen bei

66 Faury, Jean, Cléricalisme et anticléricalisme dans le Tarn, Toulouse 1980, 23–45.

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den französischen Republikanern im Exil in Brüssel üblich, und infolge der politischen Öffnung in den letzten Jahren des Zweiten Kaiserreichs kam es zu einer Welle antiklerikaler Aktivitäten, angefangen von Pamphleten und Zeitungen bis hin zu „Karfreitagsbanketten“, die schließlich den Boden bereiteten für den offiziellen Antiklerikalismus der Dritten Republik. Auch in Deutschland gab es ähnliche säkularisierende Tendenzen vonseiten jener Liberalen und Radikalen, die die Revolutionen unterstützt hatten. Nach Rüdiger Hachtmann war das Jahr 1848 ein Wendepunkt für die Entwicklung des in der Bevölkerung verankerten Antiklerikalismus und Unglaubens.67 Dass viele Geistliche die Revolution ablehnten, führte zu heftigeren und zahlreicheren Bekundungen von Feindseligkeit als je zuvor. Zum Beispiel wurden konservative Pastoren von „Katzenmusik“ heimgesucht – lautstarken und unflätigen Demonstrationen vor ihren Häusern. Der wissenschaftliche Materialismus, der in den 1850er und 1860er Jahren in Mode kam, wurde von vielen politischen Radikalen propagiert, u. a. von Ludwig Büchner (1824–1899), dem Autor des höchst einflussreichen Buchs Kraft und Stoff (1856). Büchner hoffte, durch das Untergraben des Glaubens an die orthodoxe Religion auch die Kräfte der politischen Reaktion untergraben zu können. Die veränderte Stimmung spiegelte sich zum Beispiel in der Entstehung der Freireligiösen Gemeinden. Sie wurden zur wichtigsten Organisation religiös Andersdenkender und vereinigten Lichtfreunde und die Deutschkatholische Bewegung. Sie hatten als liberale Christen begonnen und protestierten gegen den Konservatismus der „großen“ Kirchen, doch in den 1850ern wandten sich viele Mitglieder der Freireligiösen Gemeinden dem Pantheismus oder einem allgemeinen Skeptizismus hinsichtlich der Religion zu. In den 1860er-Jahren gingen viele Linksliberale und Sozialdemokraten aus diesem Milieu hervor.68 Die zweite Strategie gegen die Säkularisierung war beinahe das Gegenteil der ersten, nämlich die Evangelisierung „von unten“ statt „von oben“. Das Augenmerk galt hier vor allem den Auswirkungen des sozialen Wandels, die die eingespielten Methoden und Mechanismen der Kirche überholt aussehen ließen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, neue Wege zu finden, um den Menschen die christliche Botschaft zu bringen. In der Praxis schlossen sich diese beiden Strategien nicht unbedingt gegenseitig aus, da manche von denen, die das Christentum den Armen und Marginalisierten brachten, konservative politische Vorstellungen hatten und von wohlhabenden Gönnern finanziell und anderweitig unterstützt wurden. Andere wiederum agierten ohne jede Unterstützung oder sogar explizit gegen die lokalen oder nationalen Eliten.

67 Hachtmann, Rüdiger, „ ... ein gerechtes Gericht Gottes. Der Protestantismus und die Revolution von 1848 – das Berliner Beispiel“, in: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), 205–255. 68 Weir, Todd, Secularism and Religion in Nineteenth-Century Germany. The Rise of the Fourth Confession, New York 2014.

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Der frühe Methodismus war ein klassisches Beispiel für die Evangelisierung „von unten“. Die Bewegung kam im 18. Jahrhundert auf als Antwort auf die offensichtliche Tatsache, dass wesentliche Teile der Bevölkerung, vor allem jene in Industrieund Bergarbeitergemeinden, vom existierenden Pfarreisystem nicht zuverlässig erreicht wurden. Die Methodisten gingen dieses Problem auf verschiedene Weisen an. Predigten im Freien sollten diejenigen ansprechen, die nur selten eine Kirche betraten (oder die zu einer Kirche gehörten, deren Theologie die Methodisten für unzureichend oder gar häretisch hielten). Die neue evangelikale Selbstverpflichtung, die diejenigen eingingen, die durch solche Predigten bekehrt wurden, wurde durch kleine und intensive Treffen in „Klassen“ unterfüttert. Dort konnten die Mitglieder über ihre religiöse Erfahrung sprechen, schwierige Bibelstellen diskutieren und ihre Sünden bekennen. Neugeschriebene Kirchenlieder machten die Gottessdienste attraktiver und hatten zudem die Funktion, zentrale Glaubensinhalte hervorzuheben. Der Einsatz von Predigern aus der Arbeiterklasse machte das Evangelium zugänglicher für die Masse der Menschen, und die Männer und Frauen aus der Arbeiterklasse erhielten dadurch auch die Möglichkeit, Verantwortung innerhalb der Gemeinschaft zu übernehmen. Die Evangelisierung „von unten“ feierte in kleineren Ortschaften spektakuläre Erfolge, vor allem in Gemeinden, die auf einen einzelnen Industriezweig wie Fischerei, Bergbau oder Textilverarbeitung ausgerichtet waren. Es ist kein Zufall, dass die drei Gebiete in England und Schottland, die David Bebbington in seiner Studie über Erweckungsbewegungen in der englischsprachigen Welt des 19. Jahrhunderts untersucht, in einem Fall hauptsächlich vom Bleiabbau und in den anderen beiden Fällen von der Fischerei lebten. Er stellt fest, dass der größte der untersuchten Orte, die Hafenstadt Penzance in Cornwall, weniger als 10.000 Einwohner hatte und die meisten anderen noch wesentlich kleiner waren: „[A]n solchen Orten schufen die persönlichen Beziehungen enge soziale Bindungen. Die Menschen kannten einander, ihr Geschäft, ihren Charakter und ihre religiöse Zugehörigkeit.“69 Anfänglich stießen die Prediger vielleicht auf Gleichgültigkeit oder sogar auf gewaltsame Ablehnung, aber wenn durch eine bestimmte Zahl von Bekehrungen – in ihrer Mehrheit normalerweise Frauen – ein Durchbruch erreicht worden war, konnte die neue Religion Fuß fassen und auf lokale Überzeugungen und moralische Normen Einfluss gewinnen, der über Jahrzehnte bestehen blieb. Von Zeit zu Zeit wurde er aufgefrischt durch neue „Erweckungen“, bei denen eine neue Generation sich dem harten Kern der treuen Gläubigen anschloss. In mittleren und größeren Städten mit einer vielfältigeren Wirtschaft und Sozialstruktur war es viel schwerer für jede Art von Glauben und Moral, ein ähnliches Maß an Einfluss zu erreichen. Tatsächlich wurden in den 1820er-Jahren die Groß-

69 Bebbington, David, Victorian Religious Revivals. Culture and Piety in Local and Global Contexts, Oxford 2012, 261.

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städte als Zentren „spiritueller Not“ ausgemacht, woraufhin Stadtmissionen eingerichtet wurden, um Wissen über das Christentum zu verbreiten, zu bekehren, Gelegenheiten zur Andacht und zum Bibelstudium zu schaffen, materielle Hilfe zu Verfügung zu stellen und für eine Reihe „sozialer Probleme“ Lösungen anzubieten. Die Stadtmission von Glasgow war 1826 die erste von vielen. Sie wurde zum Modell für zahlreiche ähnliche Projekte, denn sie war überkonfessionell, aber entschieden evangelikal in ihrer Theologie, geleitet von einer Kommission aus Pfarrern und vermögenden Laien, doch weitgehend in Gang gehalten vom Engagement lokaler Akteure aus der Arbeiterklasse. Manche Gemeinden initiierten ähnliche Unternehmungen. So stellte beispielsweise in den 1830er und 1840er Jahren die Carr’s Lane Congregational Church ein Team von Evangelisten an, das in den armen Gegenden von Birminghams Innenstadt von Tür zu Tür ging. Eines der Teammitglieder sprach Irisch und wandte sich insbesondere an irische Einwanderer. Die Tagebücher des Teams enthalten faszinierende Einblicke in die sich ergebenden Gespräche, aber auch Beschreibungen von den Lebensbedingungen in einer Zeit des politischen Aufruhrs und häufiger wirtschaftlicher Not.70 Ihr vorrangiges Ziel war es zwar, den Feindseligen (die wohl vor allem politische Anliegen hatten), den Gleichgültigen (die in sehr schwierigen Umständen ihren Lebensunterhalt bestreiten mussten) und denen mit falschen oder zumindest irrigen Vorstellungen (vor allem Methodisten und Katholiken) Wissen über das calvinistische Christentum zu vermitteln, doch sie bemühten sich auch um praktische Hilfe für die, die sie brauchten und verdienten. Diese Kombination aus Seelsorge und Fürsorge blieb eine Konstante auch bei zahlreichen ähnlichen Initiativen bis ins 20. Jahrhundert hinein. Ein Beispiel für diesen unpolitischen Ansatz, der zumindest anfangs ohne Unterstützung der Eliten und oft gegen starke Widerstände verfolgt wurde, war die Heilsarmee. Sie wurde 1865 von William Booth, dem späteren „General“ Booth (1829–1912), und seiner Frau Catherine (1829–1890) gegründet, damals noch unter dem Namen East London Mission. Die Gründer waren als Evangelisten bei der Methodist New Connexion angestellt gewesen, hatten diese aber verlassen, weil die konfessionsorientierten Vorgesetzten ihre Methoden ablehnten. Der Name „Heilsarmee“ wurde – zusammen mit dem Tragen von Uniformen und der Zuweisung militärischer Ränge – 1878 eingeführt, und für einige Jahre schien die „Armee“ alles wegzufegen, was sich ihr in den Weg stellte, als sie durch die Straßen der ärmeren Gegenden britischer Städte und Bergarbeiterorte marschierte. Sie begann als streng missionarisches Unterfangen und verkündete denen, die zu arm und zu schlecht gekleidet waren, um sich in einer der existierenden Kirchen zu Hause zu fühlen, die einfache

70 Robson, Geoffrey, The Failures of Success. Working Class Evangelists in Early Victorian Birmingham, in: Baker, Derek (Hrsg.), Religious Motivation. Biographical and Sociological Problems for the Church Historian, Oxford 1978, 381–391.

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und kompromisslose Botschaft der Rettung allein durch den Glauben und das absolute Vertrauen in eine unfehlbare Bibel. Ihre Methode bestand darin, Männer und Frauen anzustellen, die über wenig formelle Bildung verfügten und gerade darum das Evangelium in so einfachen Worten verkündeten, dass niemand Probleme hatte, sie zu verstehen. Der Stil der Predigt sollte kompromisslos sein, großzügigen Gebrauch von Drohungen mit der Hölle machen, um Aufmerksamkeit zu erzwingen; und begleitet werden sollte diese unverblümte Botschaft von schwungvollen Liedern, deren Worte zu populären Melodien gesetzt wurden („Warum sollte der Teufel die besten Melodien für sich allein haben?“). Ursprünglich lag der Schwerpunkt auf der Evangelisierung, doch gegen 1880 entwickelte der General zunehmend ehrgeizige Sozialpläne, für die die Armee in späteren Jahren berühmt wurde. Sein Argument dafür war, dass die Suche nach einem Platz zu leben und nach ausreichend Nahrung die Armen für das Evangelium taub mache; nur wenn wenigstens einige bescheidene Verbesserungen ihrer materiellen Situation erreicht würden, könnten sie für Missionierungsversuche offen sein. Die Heilsarmee entstand außerhalb der existierenden Kirchen, und trotz eines kurzlebigen Versuchs, mit der Kirche von England die Grundlage für eine Zusammenarbeit zu finden, wurde sie schließlich doch zu einer neuen Konfession – zuerst in Großbritannien, dann in anderen englischsprachigen Ländern und Teilen Europas. Eine andere sehr einflussreiche Bewegung für die Evangelisierung der Arbeiterklasse war die Innere Mission. Sie war in Deutschland entstanden, wurde aber auch in Skandinavien äußerst wichtig. Sie unterschied sich von vielen ihrer britischen Pendants darin, dass sie innerhalb der Staatskirchen entstand und politisch zu konservativen Positionen neigte. Der Pionier der Inneren Mission, deren Name erstmals 1843 verwendet wurde, war der lutherische Laie Johann Hinrich Wichern (1808–1881). 1833 begann er mit seiner Arbeit in Hamburg; aus ihr entwickelte sich ein deutschlandweites Netzwerk karitativer Einrichtungen, publizistischer Projekte und evangelistischer Organisationen. Alle Mitwirkenden sollten getragen sein von einem Geist der Verbundenheit und „christlicher Liebe“, unter der man etwas ganz anderes verstand als die unpersönliche Wohltätigkeit, die von den Beamten des Staats verwaltet wurde. Und sie sollten innerhalb einer sozialen Hierarchie arbeiten: Wichern war Friedrich Wilhelm IV. und seinem „christlichen Staat“ eng verbunden und betrachtete all die Vorstellungen, die die Revolutionen von 1848 bestimmten, als Beispiele der Rebellion gegen die von Gott eingesetzten Autoritäten. In Dänemark wurde die Innere Mission 1853 gegründet und hatte ursprünglich das Ziel, für Bekehrungsaktivitäten zu werben und die theologische Orthodoxie zu verteidigen. Allerdings sah Harald Stein (1840–1900), der Leiter des Kopenhagener Zweigs, Evangelisierung und soziale Fürsorge als zuinnerst verbunden. In seinen „Acht Vorträgen über den Glauben, wirksam in der Liebe“ von 1876 sagte er: „Wir würden gerne Werke der Liebe in der Großstadt organisieren; wir werden Kinder, junge Männer und Frauen sowie die gefallenen Mädchen bei uns aufnehmen; wir

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werden ihnen helfen, nicht nur Respekt für ihre Körper zu haben, sondern auch für ihre Seelen, um sie zu Jesus zurückzuführen und ihren Füßen Halt auf steinigem Grund zu geben. Deshalb geht die Verkündigung des Wortes mit unserem Tun immer Hand in Hand.“ Die Mission bekannte sich dazu, nicht politisch zu sein, doch Stein stellte ebenfalls fest: „Der Sozialismus des Teufels wird am besten vom Sozialismus Unseres Herrn besiegt, indem die Freunde Jesu einander freundlich die Hand der Brüderlichkeit reichen.“71 Laut Nicholas Hope war „das geheime Einverständnis mit dem Establishment […] ein politisches Stigma, das die deutsche und skandinavische Inlandsmission in der Folge nur sehr schwer wieder abschütteln konnte“72. Bettina Hitzers Arbeit über die Berliner Stadtmission legt nahe, dass deren Akteure vor Ort durchaus einen gewissen Erfolg hatten beim Knüpfen persönlicher Beziehungen zu Berlinern aus der Arbeiterklasse, bei der Einrichtung von Bibelkreisen, Kindergottesdiensten, Jugendclubs und anderen Vereinen in informeller Umgebung, die manche Menschen aus der Arbeiterklasse attraktiver fanden als die damalige Kirchengemeinde.73 Allerdings beschränkte sich ihr Erfolg wahrscheinlich auf jene Arbeiterinnen und Arbeiter, die unpolitisch oder politisch konservativ waren. Als die Sozialdemokraten in den Arbeitervierteln der meisten Städte in Nord- und Ostdeutschland (und dann auch in den nordischen Ländern) ihre Stützpunkte errichteten, wurde die Politik zu einer Barriere zwischen der Inneren Mission und großen Teilen der Arbeiterklasse. Einen Teil ihrer Anziehungskraft verdankte die Berliner Stadtmission der charismatischen Persönlichkeit und dynamischen Führung ihres prominentesten Vertreters, Adolf Stoecker (1835–1909). Doch die Tatsache, dass er auch ein konservativer, wenn auch höchst eigensinniger Politiker war, war in den Augen sozialistisch gesinnter Arbeiter nicht gerade eine Empfehlung für die Stadtmission. Auch die unpolitische Ausrichtung der Heilsarmee stellte sie in einer Zeit, da die Arbeiterklasse immer militanter wurde, vor Probleme, denn für viele Menschen hatte die „soziale Frage“ oberste Priorität. Deshalb trat 1891 der Kopf des Sozialen Flügels der Armee, Frank Smith (1854–1940), nach mehrfachen Zusammenstößen mit General Booth zurück, wurde in der sozialistischen Bewegung politisch aktiv und erhielt zuletzt einen Sitz im Parlament als Abgeordneter der Labour Party. Die dritte Strategie gegen die Bedrohung durch die Säkularisierung unterschied sich gänzlich von den anderen. Sie identifizierte das Christentum mit dem Fortschritt. So gehörten beispielsweise 1848 die englischen Christlichen Sozialisten

71 Schwarz Lausten, Martin, Danmarks kirkehistorie, Kopenhagen 1983, 259f. 72 Hope, Nicholas, German and Scandinavian Protestantism. 1700 to 1918, Oxford 1995, 419. 73 Hitzer, Bettina, Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849–1914), Köln 2006, 254–271; McLeod, Hugh, Piety and Poverty. Working-Class Religion in Berlin, London and New York 1870–1914, New York 1996, 15– 23.

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zu den ersten unter den vielen christlichen Sozialreformern, die sich darüber beschwerten, dass die Kirche nicht angemessen auf die „soziale Frage“ – oder was sie „die Lage Englands“ nennen würde – reagiert habe und dass die Kritik mancher sozialer Radikaler, in diesem Fall der Chartisten und owenistischen Sozialisten, zumindest zum Teil berechtigt sei. In ähnlicher Weise missbilligten die französischen und belgischen liberalen Katholiken, die sich 1863 in Malines versammelten, den politischen Konservatismus ihrer Kirche und riefen die Katholiken auf, ein freiheitliches Programm zu unterstützen, zu dem auch Pressefreiheit und „eine freie Kirche in einem freien Staat“ gehören sollten. Besonders in Deutschland, aber auch in anderen Ländern wie England oder den Niederlanden, traten viele protestantische Christen dafür ein, dass die christliche Theologie sich im Licht des neuen Wissens weiterentwickeln müsse. In der Katholischen Kirche gelang es den Päpsten, zuerst die Liberalen und im frühen 20. Jahrhundert auch die Modernisten zu marginalisieren. In den protestantischen Kirchen hatten die Progressiven größeren Einfluss, obwohl auch sie heftigen Widerstand von orthodoxen Theologen und Geistlichen erfuhren – und manchmal auch von Kirchenleitungen oder vom Staat. Die niederländischen Modernisten hatten einen Stützpunkt an der Universität Leiden, wo, laut Joris van Eijnatten, Joannes Henricus Scholten (1811–1885) viele zukünftige Pfarrer, „orthodoxe Erstsemester“, bekehrte – und zwar zum Glauben an die Evolution, an die historische Bibelkritik und zur Ablehnung des Wunderglaubens, den er als Verletzung universal gültiger Naturgesetze sah.74 In den Niederlanden wie in Deutschland waren die unterschiedlichen Fraktionen in den protestantischen Kirchen über Konferenzen und ihre eigenen Zeitschriften bestens organisiert. So hatten die liberalen Protestanten in Deutschland den 1863 gegründeten Protestantenverein, der die „Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste der evangelischen Freiheit und im Einklang mit der ganzen Kulturentwickelung [sic] seiner Zeit“ zum Ziel hatte. Er setzte sich besonders dafür ein, die Laien eine wichtigere Rolle spielen zu lassen und den Pastoren mehr Unabhängigkeit von der staatlichen Kirchenverwaltung einzuräumen. Das Problem, vor dem sie letztlich standen, war, dass ihre Basis aus der gebildeten Mittelschicht stammte und dass mehr Demokratie in der Kirche den Konservativen oft mehr nutzte als den Liberalen.75 Friedrich-Wilhelm Graf zufolge waren die Spaltungen zwischen den verschiedenen Fraktionen in den protestantischen Kirchen und vor allem zwischen den „Liberalen“ und den „Positiven“ so tief, dass man von verschiedenen Konfessionen sprechen könnte.76

74 Van Eijnatten, Joris, Contested Unity. Church, Nation and Reform in the Netherlands, in: ders./Yates, Paula (Hrsg.), The Churches, Bd. II: The Dynamics of Religious Reform in Northern Europe. 1780–1920, Leuven 2010, 123–152, 146. 75 Fitschen, Klaus, The Protestant Churches in Germany and Ecclesiastical Reform, in: van Eijnatten/Yates (Hrsg.), Churches, Bd. II, 185–214, vgl. 202–204. 76 Graf, Friedrich Wilhelm, Die Spaltung des Protestantismus. Zum Verhältnis von evangelischer Kirche, Staat und „Gesellschaft“ im frühen 19. Jahrhundert, in: Schieder, Wolfgang (Hrsg.), Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, 157–190.

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In England entstand die Broad Church um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Strömung innerhalb der Kirche von England, aber nicht als eine organisierte Gruppierung. Ihre Anhänger waren theologisch vorsichtiger als ihre Pendants in Deutschland oder den Niederlanden. Das bedeutsamste Erzeugnis der Broad-Church-Theologie war der Band Essays and Reviews (1860) von einer Gelehrtengruppe aus Oxford. Zwei der Autoren wurden wegen Häresie verfolgt, weil sie die Vorstellung ewiger Sündenstrafe ablehnten. In diesem Fall erwies sich das Band zwischen Kirche und Staat für die Liberalen als vorteilhaft, denn sie wurden von einem kirchlichen Gericht abgeurteilt, doch der Richterspruch wurde anschließend vom Judicial Committee of the Privy Council, dem obersten Berufungsgericht für einige kirchliche Gerichte, aufgehoben. Frederick Temple, einer der Autoren des Bandes, wenn auch eines weniger kontroversen Aufsatzes darin, wurde 1869 zum Bischof ernannt und wurde später Erzbischof von Canterbury. Den größten Einfluss übten die Männer der Broad Church indessen nicht auf die Theologie aus, sondern auf die gesellschaftliche Rolle der Kirche, und zwar in Form der „Institute“, die sie von 1848 an für die Freizeit- und Bildungsbedürfnisse der Arbeiterklasse einrichteten, aber auch mit Projekten wie dem Working Men’s College (1854) und der Errichtung von Toynbee Hall (1883), der ersten einer Reihe von „Siedlungen“ in ärmeren Stadtbezirken, die sich in den Jahren um 1900 dann stark ausbreiteten. Mittlerweile identifizierten sich die britischen Dissenters, die theologisch eigentlich relativ konservativ waren, leidenschaftlich mit den politischen Zielen der Liberalen. Ein typisches Beispiel dafür war Edward Baines. Er war Kongregationalist, Zeitungsredakteur und von 1834 bis 1841 liberaler Parlamentsabgeordneter für Leeds. In den Worten seines Sohns und Biografen hatte er sich „dem Wagen des Fortschritts selbst angeschirrt“77. Bis ungefähr 1890 waren die Versuche progressiver Christen in Großbritannien, mit den Veränderungen in Politik, Gesellschaft und Denken Schritt zu halten, recht erfolgreich. Der britische Liberalismus und in einem gewissen Maß auch der Sozialismus waren stark von der Religion geprägt, und die Menschen der Mittel- und Oberschicht waren großenteils Kirchgänger. Seit 1890 aber wirkten sich neue Faktoren auf die religiöse Lage aus, und es wurde offenkundig, dass die Tendenzen zur Säkularisierung nicht mehr aufgehalten werden konnten.

4.4. Nationalismus Neben den Liberalen, den Demokraten und der entstehenden sozialistischen Bewegung muss im Zusammenhang mit dem Jahr 1848 noch ein viertes Moment erwähnt werden: die wachsende Stärke des Nationalismus. Die Nationalisten glaubten, dass die Menschheit in Nationen unterteilt sei und dass jede Nation ein Recht

77 Binfield, Clyde, So Down to Prayers. Studies in English Nonconformity 1780–1920, London 1977, 54.

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auf Selbstbestimmung habe. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war dies in Europa eine höchst umstrittene Vorstellung. Griechenland hatte sich in den 1820er-Jahren vom Osmanischen Reich abgespalten, und 1830 hatte sich Belgien vom Königreich der Niederland getrennt. Aber der Großteil Osteuropas lag innerhalb des Russischen, Österreichischen oder Osmanischen Reichs. Die Teile Polens, die sich nicht unter österreichischer oder russischer Herrschaft befanden, wurden von Preußen regiert, und weiter im Westen waren Norwegen 1814 mit Schweden und Irland 1801 mit Großbritannien vereinigt worden. Währenddessen strebten die deutschen Nationalstaatsbefürworter danach, aus den vierzig Fragmenten, in die ihre Nation gespalten war, einen Nationalstaat zu schaffen, und die italienischen Vorkämpfer der Nation wollten nicht nur Fragmente vereinigen, sondern auch die Österreicher vertreiben, die einen Gutteil von Norditalien beherrschten. Der Nationalismus stand irgendwo abseits der herkömmlichen Gegensätze von Links und Rechts. Weil er unausgesprochen eine Herausforderung für die bestehende monarchische Ordnung darstellte, verbündete er sich in den frühen und mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts meistens mit dem Liberalismus. Später im Jahrhundert wurde er von vielen Konservativen unterstützt, aber auch von Regierungen aller politischen Farben, die die Schulen dazu benutzten, Stolz auf die Nation heranzuzüchten. Auch in den Auseinandersetzungen zwischen Religion und Säkularismus oder zwischen Staatskirchen und abweichenden Konfessionen hatte der Nationalismus keinen klar definierten Ort. Oft wird er als säkulare Ideologie gesehen, bisweilen – ob von Regierungen oder Aktivisten an der Basis – auch als Ersatz für eine absterbende Religion.78 Doch nationale Identitäten konnten nicht aus dem Nichts konstruiert werden. Und sie mussten die bis dahin bestehenden Loyalitäten gegenüber einer Ortschaft oder einem Herrscherhaus überwinden oder zumindest transzendieren. Die Vorkämpfer des Nationalismus im 19. Jahrhundert griffen zurück auf Geschichte, Kultur, Sprache und auf Unterdrückungserfahrungen. Doch bei all diesen Bezügen spielte die Religion möglicherweise eine Rolle, und besonders in Osteuropa brachte sie die Unterschiede zwischen den Völkern am klarsten zum Ausdruck. Nationalhelden waren oft in erster Linie religiöse Figuren. Martin Luther, „der deutsche Mann“, ist dafür ein herausragendes Beispiel, und Luthers Bibel war eine bedeutende Wegmarke in der Geschichte der deutschen Sprache. Wie dieses Beispiel zeigt, war die Beziehung zwischen Nationalismus und Religion aber zwiespältig. Luther hatte immense Resonanz bei der protestantischen Mehrheit der Deutschen, aber die meisten Katholiken und Juden verbanden mit ihm Negatives. Es gab immer wieder Nationalisten, denen diese Zwiespältigkeit bewusst war und die darum nach alternativen Quellen der nationalen Identität suchten. In der

78 Anderson, Benedict, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983; Hobsbawm, Eric, Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge 1990.

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Praxis aber war es schwierig, etwas zu finden, das emotional so stark oder so tief in der Geschichte verwurzelt war. Die Französische Revolution von 1789 setzte ein Zeichen, indem sie „die Nation“ zur obersten Autorität machte und von ihren „Söhnen“ und „Töchtern“ vollkommene Loyalität forderte sowie die Bereitschaft, falls nötig für „das Vaterland“ zu sterben.79 Viele, die in anderen Teilen Europas gegen Napoleon kämpften, bedienten sich dabei einer ganz ähnlichen Rhetorik. Nach der europaweiten „Restauration“ von 1814/1815 übernahmen hauptsächlich Studentengruppen und Schriftsteller das Staffelholz und kombinierten die Idee des Nationalstaats meist mit liberalen Forderungen. Die gestaltgebende Kraft hinter der Bewegung war die Romantik; sie inspirierte das leidenschaftliche Interesse an der Geschichte und besonders an Mythen, an Sprache und ihrer Entwicklung, an ihrer Rolle beim Selbstausdruck eines bestimmten Volkes und seines Genius, an der Landschaft und ihrem Verhältnis zu denen, die sie bevölkerten, an Volkstraditionen und vor allem an traditioneller Musik. Es gab Nationalismen, in denen die Religion eine wesentliche Rolle spielte. Das galt für die irische Nationalbewegung, die mit dem katholischen Glauben der Bevölkerungsmehrheit aufs engste verbunden war – und trotz der Tatsache, dass viele der irischen Nationalhelden Protestanten waren. Die Unterdrückung der Katholiken war ein entscheidender Punkt in der nationalistischen Version der irischen Geschichte; der Unmut gegen die hauptsächlich protestantische Klasse der Landbesitzer war eine wichtige Quelle für Klagen während des ganzen 19. Jahrhunderts. Aus dem Gefühl, dass die Protestanten eine privilegierte Klasse bildeten, entwickelte sich die sehr viel weitergehende Vorstellung, dass protestantische Bauern und sogar protestantische Arbeiter wohlhabender seien als ihre katholischen Gegenüber. Für viele Nationalisten waren Irischsein und Katholischsein so eng miteinander verbunden, dass protestantische oder atheistische Nationalisten manchmal sogar zum Katholizismus übertraten – nicht aufgrund einer Änderung ihres Glaubens, sondern als Zeichen der Ernsthaftigkeit ihres nationalen Engagements.80 Am berühmtesten war der Fall von Sir Roger Casement (1864–1916), der wegen Hochverrats von den Briten hingerichtet wurde und noch in der Todeszelle konvertierte. Es gab aber auch nationale Bewegungen, die stark vom Antiklerikalismus bestimmt waren. Der eindeutigste Fall war hier der italienische Nationalismus. Einige seiner Vorkämpfer hatten zunächst vorgeschlagen, dass der Papst der Souverän eines geeinten Italiens sein könnte. Doch die Weigerung Pius’ IX., die nationale Sache zu unterstützen, sowie sein Bestehen darauf, die Herrschaft über den Kirchenstaat zu behalten, war eine bittere Enttäuschung für jene, die auf ein vereinig-

79 Contamine, Philippe, Mourir pour la patrie, in: Nora, Pierre (Hrsg.), Les lieux de mémoire, 3 Bde., Paris 1997, Bd. II, 1673–1698. 80 Newsinger, John, Revolution and Catholicism in Ireland. 1848–1923, in: European Studies Review 9 (1979), 457–480.

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tes und von Fremdherrschaft befreites Italien gehofft hatten. Das Risorgimento, die italienische Einigungsbewegung, fand seine politische Leitung im Piemont in der Person von Camillo Benso di Cavour (1810–1861), einem gemäßigten Liberalen, der die staatliche Kontrolle der Schulen einführte und dem Klerus zahlreiche Privilegien nahm, aber zugleich beanspruchte, weiterhin Katholik zu sein und dem Ideal einer „freien Kirche in einem freien Staat“ anzuhängen. Das machte aber nur wenig Eindruck auf Pius IX., der weiter wütende Anklagen gegen das Piemonteser Regime verfasste. Die radikaleren Nationalisten, die Cavour an der kurzen Leine zu halten versuchte, zeigten sich offener antiklerikal. Die Prominentesten unter ihnen waren der Ideologe Giuseppe Mazzini (1805–1872) und der immer im roten Hemd auftretende Giuseppe Garibaldi (1807–1882), seines Zeichens Heerführer und romantischer Held. Das neue Königreich Italien wurde 1861 gegründet, wobei Rom nicht dazugehörte, da dort französische Truppen die päpstliche Souveränität beschützten. Diese Truppen waren der Preis für die fortgesetzte katholische Unterstützung für Napoleon III., aber 1870 zwang der Krieg zwischen Frankreich und Preußen Napoleon, seine Soldaten zurückzuziehen, woraufhin die italienische Armee in der Lage war, die Ewige Stadt einzunehmen und Rom seinen gebührenden Platz als Hauptstadt des vereinigten Königreichs zu geben. Allerdings war damit der Kampf zwischen dem Papst und dem neuen Staat noch lange nicht vorbei. Pius IX., der nun auf den Vatikan, die Lateranbasilika und seine Villa außerhalb der Stadt beschränkt war, exkommunizierte all jene, die für die Besetzung des Kirchenstaats verantwortlich waren, und wies die gläubigen Katholiken an, den geschäftlichen Umgang mit Repräsentanten des Staats zu meiden und insbesondere die Parlamentswahlen zu boykottieren. Der Staat verkaufte den größten Teil des Kirchenbesitzes, was den Papst wiederum veranlasste, auch diejenigen zu exkommunizieren, die etwas davon kauften. Auch wenn die Katholiken sich nach und nach wieder an der lokalen und schließlich auch an der nationalen Politik beteiligten – vor allem aus Furcht vor noch extremeren antiklerikalen Republikanern und Sozialisten –, wurde der Konflikt erst 1929 mit der Einigung von Mussolini und Pius XI. im Lateranvertrag beendet. Des Weiteren gab es Nationalismen, die sich hauptsächlich aus dem Stolz auf die eigene Sprache speisten, wie etwa die tschechische oder estnische Nationalbewegung. Beide richteten sich nicht nur gegen die Herrschaft aus Wien oder St. Petersburg, sondern auch gegen die lokale Übermacht der Deutschsprachigen und der deutschen Sprache. Beide Bewegungen enthielten auch ein starkes säkularistisches Moment. Waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch viele Priester unter den Vorkämpfern der tschechischen „nationalen Wiedergeburt“, so wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte die Kritik an der katholischen Kirche zu einem dominanten Zug des tschechischen Nationalismus. Laut Tomas Petráček fand eine Interpretation der tschechischen Geschichte breiten Anklang, wonach die Katholische Kirche „ein Vehikel für undemokratische, unpatriotische Prinzipien [war], die in Schlüsselmomenten der tschechischen Geschichte gegen die Nation und ihre

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besten Vertreter stand, von Hus bis Comenius“81. Petráček führt dafür den „gewaltigen Einfluss“ des berühmtesten tschechischen Historikers František Palacký (1798–1876) an, aber ebenso die unkritische Loyalität der tschechischen Bischöfe gegenüber dem österreichischen Staat, der besonders in einem Hirtenbrief von 1849 zum Ausdruck kam, worin die Bischöfe im Gefolge der gescheiterten Revolutionen des Vorjahrs „ihre ablehnende Sicht der Ideen der Moderne formulierten, einschließlich der Demokratie, des Republikanismus und des modernen Nationalismus“82. Lehrer ärgerten sich über den Einfluss des Klerus an den Schulen und wurden – wie es auch in Frankreich geschah – zu Hauptgegnern der Geistlichen, wenn es darum ging, das Denken der Massen zu nach ihren Vorstellungen zu formen. Die Jungtschechen, die sich in den 1860er-Jahren als der militantere Flügel der Nationalpartei formierten, stellten den Antiklerikalismus erstmals in den Vordergrund ihrer Politik, und er wurde zu einem immer wichtigeren Thema in der Presse. In manchen nationalistischen Bewegungen war die Religion eine zwar wichtige, aber umstrittene Größe, so etwa in Frankreich und Deutschland. In Frankreich standen, vor allem gegen Ende des Jahrhunderts, zwei rivalisierende Auffassungen von nationaler Geschichte und Identität einander gegenüber: eine republikanische und eine katholische. Die erste schaute vor allem auf 1789 und auf Frankreich als Nation, die der Welt liberté, égalité und fraternité geschenkt hatte. Die zweite blickte zurück auf eine viel längere Geschichte, in der Frankreich „die älteste Tochter der Kirche“ war, regiert vom „Allerchristlichsten König“. Beide Nationalismen waren sich jedoch einig darin, dass es die Pflicht jedes Franzosen sei, sich auf die Möglichkeit eines künftigen Kriegs gegen Deutschland einzustellen und das eigene Leben für das Vaterland zu opfern, wenn dazu aufgerufen würde. In Deutschland pflegten Protestanten und Katholiken nicht nur unterschiedliche Versionen der deutschen Geschichte, sie waren oft auch unterschiedlicher Meinung darüber, was die deutsche Nation ausmache. Viele Katholiken hofften auf ein „Großdeutschland“, zudem auch Österreich gehörte, während die Protestanten im Allgemeinen das 1871 realisierte „Kleindeutschland“ vorzogen, in dem ihre eigene Konfession eine klare Mehrheit hatte. Konservative, liberale und demokratische Protestanten waren hinsichtlich vieler Details der deutschen Geschichte unterschiedlicher Auffassung, aber sie waren sich tendenziell darin einig, dass die Reformation der große Wendepunkt der Nationalgeschichte war und dass alles, was die deutsche Kultur in literarischer, philosophischer und wissenschaftlicher Hinsicht zur reichsten der Welt gemacht hatte, letztlich aus ihrem protestantischen Erbe hervorgegangen sei. Die Katholiken wiederum sahen sich als Erben einer längeren

81 Petráček, Tomáš, In the Maelstrom of Secularization, Collaboration and Persecution. Roman Catholicism in Modern Czech Society and the State, Lublin 2014, 26. 82 Petráček, Maelstrom, 39f.

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Geschichte, die bis ins Mittelalter und weiter zurückreichte, und sie hatten ihren eigenen alternativen Kanon bewunderter Schriftsteller. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war das wechselhafte Verhältnis zwischen Religion und nationaler Identität sowie zwischen Kirchen und nationalistischer Politik einer der mächtigsten Faktoren, die die Position der Kirchen in der Gesellschaft bestimmten. Am einen Ende des Spektrums unterstrich die enge Identifikation von Katholizismus und irischem Nationalismus sowie von Protestantismus und Unionismus die beispiellose Stärke der Kirchen in Irland. Am anderen Ende ist zu sehen, dass die Säkularisierung sich dort am schnellsten entwickelte, wo die Nationalbewegung – wie hauptsächlich in den tschechischen Ländern – stark vom Säkularismus geprägt war.

4.5. Die soziale Revolution Zur selben Zeit erlebte Europa eine soziale Revolution. In Großbritannien ging es mit der Industrialisierung und dem Städtewachstum rasch voran. Im Jahr 1901 lebten 80 Prozent der Menschen in England und Wales in Städten, und nicht weniger als sechs Millionen lebten in London. In den 1860er und 1870er Jahren finden wir Textilindustrie, Metallverarbeitung und Kohlebergbau fast überall in Europa: in Nordfrankreich und Südbelgien, in Barcelona, Mailand, Zürich und im jeweiligen Umland, in Oberschlesien und, am größten von allen, in Deutschlands Ruhrgebiet. Die Hauptstädte und die großen Häfen wie Paris, Wien, Berlin und Hamburg wuchsen ebenso schnell wie die neuen industriellen Zentren, etwa Essen oder Lodz. Es war die Zeit der „Großpfarreien“ – in Paris, Wien, Berlin und auch in vielen kleineren Städten. Wie in England taten sich die Staatskirchen, ob katholisch oder protestantisch, schwer damit, die mit dem Städtewachstum einhergehenden logistischen Probleme zu lösen, ganz zu schweigen von den anderen Herausforderungen. Oft wurden die Probleme durch die jeweiligen Beziehungen zwischen Kirche und Staat oder Kirchengemeinde und Stadtverwaltung noch verschärft. So brauchte man beispielsweise in Frankreich bis zur Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905 zur Gründung einer neuen Pfarrgemeinde die Genehmigung der Regierung, und diese wurde oft aus finanziellen Gründen oder aus antiklerikalen Grundsätzen verweigert. Doch auch wenn es den Kirchenleitungen gelang, die Mittel aufzubringen für den Bau neuer Kirchen und für die Bezahlung zahlreicher zusätzlicher Geistlicher, die in den neuen Ballungsräumen zur Verfügung stehen sollten, stellten die Großstädte und Industriegebiete noch umfassendere Anforderungen. Selbst dort wo die Bevölkerung einheitlich katholisch oder lutherisch zu sein schien, waren die Großstädte des 19. Jahrhunderts ihrem Wesen nach pluralistisch. Die Art der sozialen Kontrolle, die in ländlichen Regionen weiterhin ausgeübt werden konnte und die es in eingeschränkterem Maß auch noch in den Städten der äußerst hierarchisierten und disziplinierten Gesellschaften des Ancien

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Régime gab, war in der modernen Großstadt nicht mehr möglich – auch wenn paternalistische Arbeitgeber sie in kleinerem Rahmen noch aufrechterhielten. Bereits 1846 bezeichnete ein Journalist Berlin als Modell für Religionsfreiheit, da in der Stadt jede Art von Religion und Unglauben florierte, vom Pietismus bis hin zum Atheismus. Im selben Jahr bemerkte ein anderer Journalist die vielen widersprüchlichen Darstellungen der preußischen Hauptstadt. Manche behaupteten, dass eine überschießende Religiosität herrsche und dass es Versuche gebe, „englische Sabbathstrenge“ einzuführen; andere hingegen warfen der Presse vor, sich über die Gläubigen lustig zu machen, und behaupteten, dass die Kneipen voller Ungläubiger seien, die gotteslästerliche Lieder sängen. Der Journalist schloss daraus, dass gerade diese Vielseitigkeit eine Großstadt ausmache: „Es ist – es ist – es ist – Ja, es ist vieles, es ist die große Stadt. […] Es kann Jeder leben, wie er will, weil eben Alles zu finden ist […] In der großen Stadt bekümmert sich Niemand um den Andern […]“83 Die später erscheinende Buchreihe „Großstadt-Dokumente“ (1904–1908), die sich vor allem auf Berlin konzentrierte, aber auch andere deutschsprachige Großstädte wie Wien und München vorstellte, machte ähnliche Aussagen, aber auf buntere und manchmal sensationalistischere Weise, da sie nicht nur von den zahlreichen christlichen Sekten und vom Spiritismus (der am weitesten verbreiteten neuen Religion gegen Ende des 19. Jahrhunderts) berichtete, sondern auch von Subkulturen, die sich durch unkonventionelle Formen von Sexualität definierten.84 Am wichtigsten von allem ist jedoch, dass die Großstädte und Industrieregionen des späten 19. Jahrhunderts oft Orte heftiger Klassenauseinandersetzungen waren. In den wachsenden Städten war ein hoher Grad an residentieller Segregation, also der strikten Trennung der Wohngebiete nach sozialer Zugehörigkeit, durchaus normal. Manchmal lagen – wie etwa in Wien – die Wohnbezirke des Adels und des Bürgertums nahe beim Stadtzentrum, während die neuen Arbeiterviertel in den Vorstädten emporwuchsen. In London drängten sich die Armen in tiefer gelegenen, oftmals sumpfigen Gebieten in der Nähe der Themse und ihrer Zuflüsse, und die Vorstädte für die neue Mittelschicht entstanden in „Northern Heights“, den nördlichen Höhen der Stadt. Oft gab es, wie in Paris, einen scharfen Kontrast zwischen dem verarmten Osten und den „schönen Vierteln“ nach Westen hin. Der Bau neuer Kirchen und die Zuweisung neuer Pfarrer ging in den wohlhabenderen Bezirken zügiger voran, da man sich dort auch vor Ort an der Finanzierung beteiligte; in den ärmeren Gegenden blieb man dahinter zurück, da das meiste Geld von außerhalb kommen musste. Kirchenbesuch und Sakramentenempfang erreichten je nach Stadtteil stark unterschiedliches Niveau. Der Kontrast zwischen dem bürgerlichen Westen und den Arbeiterstadtteilen im Osten fiel auf dem Stadtplan

83 Dronke, Ernst, Berlin, 2 Bde., Frankfurt am Main 1846, Bd. I, 10f. 84 McLeod, Piety and Poverty, 84f.

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von Paris sofort ins Auge. Die Bezirke, in denen im Jahr 1854 mehr als 30 Prozent der Gemeindemitglieder die Osterkommunion empfingen, lagen alle im Westen; die Bezirke mit weniger als zehn Prozent Osterkommunikanten lagen vollständig im Osten.85 In Erhebungen zum Kirchenbesuch in englischen Städten im Jahr 1881 wiesen die Nachbarschaften der oberen Mittelschicht die höchsten und die ärmeren Arbeiterviertel die niedrigsten Kirchenbesucherzahlen auf; die Bezirke der unteren Mittelschicht und der etwas besser bezahlten Arbeiterklasse fanden sich zwischen diesen Extremen wieder. So lag beispielsweise in London der Kirchenbesuch aller Konfessionen zusammengenommen im begüterten Vorort Hampstead bei 41 Prozent, im sozial gemischten Hackney bei 33 Prozent, im Arbeiterstadtteil Battersea bei 21 Prozent und in Shoreditch, einer der ärmsten Nachbarschaften der Hauptstadt, bei 15 Prozent. Eine Ausnahme von diesem allgemeinen Muster gab es in Liverpool, wo der Kirchenbesuch in den überwiegend katholischen, armen Arbeiterbezirken Vauxhall und Exchange 37 Prozent erreichte. Das war zwar weniger als in den wohlhabenderen Stadtteilen, aber mehr als in einigen mehrheitlich protestantischen, sozial gemischten oder Arbeiterbezirken. Auf dem religiösen Stadtplan spielten also ethnische und konfessionelle Unterschiede ebensosehr eine Rolle wie die Klassenunterschiede.86 Zur Distanzierung vieler Industriearbeiter von ihrer Kirche führte eine ganze Reihe von Faktoren. Einer davon war einfach der Mangel an Kirchengebäuden und Geistlichen in den Bezirken, wo sie lebten. Zumindest anfangs übertraf die Nachfrage das Angebot. In Brüssel beschwerten sich die Leute in den 1850er-Jahren über die langen Warteschlangen vor den Beichtstühlen.87 In Berlin waren im späten 19. Jahrhundert in den ärmeren Bezirken Massentaufen üblich, denn oft umfassten die Pfarrgemeinden um die 50.000 Mitglieder, und auch noch weit größere Gemeinden waren alles andere als unbekannt.88 Gewiss gab es wichtige Unterschiede zum Beispiel zwischen dem ausgebildeten Handwerker, den fest angestellten Fabrikarbeitern und den ärmsten Gelegenheitsarbeitern. Über Letztere sagte ein Evangelist in Birmingham in den 1830er-Jahren: „Die Alltagssorgen beschäftigen und füllen die Gedanken unaufhörlich aus, sodass das [Predigen des Evangeliums] so ist, als würde man immer noch mehr in die Köpfe tun wollen, die doch schon voll sind.“89 Der Kampf ums Überleben ließ nur wenig Zeit oder Energie für alles andere. Doch sollte nicht übersehen werden, dass die Kirchen das ganze Jahrhundert hindurch karitative Hilfe auf vielerlei Weise leisteten. Zur Überlebensstrategie der Menschen konnte es deshalb auch gehören,

85 Boudon, Jacques-Olivier, Paris, capitale religieuse sous le Second Empire, Paris 2001, 205. 86 McLeod, Hugh, Religion and Irreligion in Victorian England, Bangor 1993, 57–59. 87 Houtart, François, Les paroisses de Bruxelles.1803–1951, Brüssel 1955, 88 McLeod, Piety and Poverty, 7. 89 McLeod, Religion and Irreligion, 18.

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den Kontakt zu Priestern, Nonnen oder anderen Kirchenmitarbeitern aufrechtzuerhalten. Jene aus der Arbeiterklasse, die einer regelmäßigen und etwas besser bezahlten Arbeit nachgingen, konnten sich vielleicht die Sonntagskleidung leisten, die viele für einen Kirchenbesuch für unverzichtbar hielten, und sie konnten eventuell auch kleine Beiträge für den Opferstock erübrigen, denn mit jedem Schritt weg von der extremen Armut wurden Fragen der Würde wichtiger. Manche Menschen mieden die Kirche genau deshalb, weil man ihnen vorwerfen könnte, nur wegen der Almosen zu kommen. In vielen Kirchen gab es hierarchische Sitzordnungen, da wurden denen, die mehr bezahlten, auch die besseren Plätze reserviert – und entsprechend sagte man in den britischen Städten, dass viele aus der Arbeiterklasse, die sich die Platzmiete nicht leisten konnten, es ablehnten, die kostenlosen Plätze zu nutzen, weil das nur auf ihre Armut aufmerksam mache. Außerdem entwickelte sich allmählich ein stärkeres Klassenbewusstsein. Arbeiter wollten nicht mehr Seite an Seite mit Angehörigen anderer Klassen zur Kirche gehen. Natürlich waren solcherart Spannungen zu Zeiten der zahlreichen Streitigkeiten in der Industrie am stärksten. Zu diesen kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer öfter, da die Arbeiterorganisationen an Stärke gewannen. Manchmal stellten sich die Kirchen unmissverständlich auf die eine oder andere Seite. Ein beredtes Beispiel dafür war der ausgedehnte Streik der Steinbrucharbeiter in Bethesda in North Wales, der von 1901 bis 1904 dauerte. Die Anglikanische Kirche unterstützte den Eigentümer des Steinbruchs, während die CalvinistischMethodistische sich auf die Seite der Gewerkschaft stellte. Häufiger aber bemühten sich die Kirchen darum, eine Vermittlerposition einzunehmen mit dem Risiko, beide Seiten zu verstimmen.

5. Die Morgenröte der Demokratie 5.1. Religion und Politik 1867 wurde das allgemeine Wahlrecht für Männer bei den Wahlen zum Norddeutschen Bund eingeführt, 1871 bei den Wahlen zum Reichstag des neugegründeten Deutschen Reichs. 1875 wurde das Wahlrecht für Männer in die französische Verfassung aufgenommen. Die britischen Reformgesetze von 1867 und 1884 schufen ein Wahlvolk, das in seiner Mehrheit aus der Arbeiterklasse kam. Die Demokratie wurde endlich zur Realität, und daraus ergab sich einerseits die Möglichkeit für die neuen politischen Parteien, die bis dahin rechtlosen Massen zu vertreten, und andererseits die Notwendigkeit für die älteren Parteien, ihren Zuspruch auf eine breitere Basis zu stellen. Die erste sozialistische Partei wurde in Deutschland schon 1863 gegründet. In den meisten anderen europäischen Ländern entstanden sozia-

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listische Parteien in den 1880er- und 1890er Jahren und fanden schnell großen Zuspruch, vor allem in den Städten und in der Industriearbeiterschaft. In manchen Ländern brachte der Antiklerikalismus Stimmengewinne. Besonders die französischen Radikalen, deren Anhängerschaft überwiegend aus der unteren Mittelschicht und der Landbevölkerung kam, machten aus den Angriffen auf die Kirche einen Eckpfeiler ihres Programms. Die britischen Liberalen warben gleichzeitig einerseits um die Nonkonformisten und andere religiöse Minderheiten, indem sie die Privilegien der Kirche von England angriffen, und andererseits um die Arbeiterklasse, indem sie Sozialreformen und Arbeiterrechte zunehmend in den Mittelpunkt stellten. Auch die Katholiken mobilisierten; ihr Vorbild war die Deutsche Zentrumspartei (1870), aber auch in anderen Ländern wie Belgien und den Niederlanden wurden katholische Parteien gegründet. Die calvinistischen Abweichler bauten in den Niederlanden indessen die Anti-Revolutionäre Partei auf. Wie die obengenannten Beispiele zeigen, waren Glaube und Unglaube Schlüsselfaktoren bei der Mobilisierung der Menschen in dieser Zeit. Religiöse Fragen spielten eine zentrale Rolle in der Politik. Das haben auch die Untersuchungen von Jonathan Sperber über die Wahlen in Deutschland zwischen 1871 und 1914 und von Kenneth Wald über die Wahlen in England im selben Zeitraum bestätigt.90 Die wichtigste religiöse Frage war die nach dem Platz der Kirche und des Religionsunterrichts in den nationalen Plänen für das allgemeine Bildungswesen, die damals entwickelt wurden. Am einen Ende des Spektrums befand sich Frankreich, wo seit 1879 die Republikaner an der Macht waren und eine umfassende Säkularisierung der öffentlichen Schulen durchsetzten. Aller Religionsunterricht an staatlichen Schulen wurde eingestellt; die Kinder bekamen donnerstags lediglich früher schulfrei, damit sie am Katechismusunterricht teilnehmen konnten, wenn ihre Eltern es wünschten. Die vielen Ausbildungsstätten für Lehrer, die von den 1870erJahren an eingerichtet wurden, wurden zu republikanischen und antiklerikalen Bollwerken und viele ihrer Absolventen gingen aufs Land als Missionare für die Republik. In den 1960er-Jahren wurden Fragebögen an Tausende von Grundschullehrern versandt, die vor 1914 zu unterrichten begonnen hatten. Nur elf Prozent von ihnen gaben an, damals praktizierende Katholiken gewesen zu sein; 32 Prozent bezeichneten sich als Freidenker. Ein Lehrer, der in einer kleinen Gemeinde im Département Loir-et-Cher im frühen 20. Jahrhundert unterrichtet hatte, legte den Text einer Reihe von Vorträgen bei, die er vor den Erwachsenen des Dorfs gehalten hatte. Diese Vorträge vermitteln ein lebhaftes Bild von der republikanischen Leidenschaft der ersten und zweiten Generation von Lehrern an der école laïque (lai-

90 Sperber, Jonathan, The Kaiser’s Voters. Electors and Elections in Imperial Germany, Cambridge 1997; Wald, Kenneth, Crosses on the Ballot. Patterns of British Voter Alignment since 1885, Princeton NJ 1983.

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zistische Schule). Der Lehrer war stolz darauf, dass die öffentliche Schule Kinder aller Bekenntnisse willkommen hieß, aber es dürfte unwahrscheinlich sein, dass viele katholische Eltern ihn gern als Lehrer ihrer Kinder gesehen hätten. Als „ein Sohn des Volkes“ feierte er die „gerechte, unausweichliche, notwendige und moralische Revolution von 1789“, denn „davor waren unsere Väter nichts“. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte betrachtete er als „unser republikanisches Evangelium“. Die dort festgehaltenen Ideale seien in der Dritten Republik verwirklicht worden. Seine Darstellung der historischen Bilanz der Katholischen Kirche war dagegen komplett negativ; er glaubte, dass die Wissenschaft inzwischen die Religion ersetzt habe.91 Eine Minderheit der Kinder besuchte „freie“ katholische Schulen, doch diese erhielten keine öffentlichen Gelder. Die Stärke des katholischen Systems lag dagegen in den öffentlichen Gymnasien, die vor allem von Kindern der Mittel- und Oberschicht besucht wurden. Um 1899 besuchten 43 Prozent der Schulkinder solche Schulen.92 Schon seit Langem schickte die Elite des Landes ihre Töchter vorzugsweise auf kirchliche Schulen, doch nun gingen auch ihre Söhne dorthin. Vor allem die Institute der Jesuiten erfuhren dabei besondere Wertschätzung. Während der Dritten Republik bildeten diese Schulen eine rivalisierende Elite aus, die besonders stark in der Armee und der Marine vertreten war. Im späten 19. Jahrhundert war in den höheren Schichten der französischen Gesellschaft der tiefgläubige katholische Sohn eines skeptischen Vaters eine vertraute Erscheinung.93 Der Konflikt zwischen Kirche und Staat erstreckte sich in Frankreich über ein Vierteljahrhundert, wenn es auch immer wieder Jahre relativer Ruhe gab. Die Erziehung war dabei das Hauptschlachtfeld, doch auch andere Gesetzesvorhaben spielten eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen, so etwa die Legalisierung der Ehescheidung und die Säkularisierung der Krankenhäuser und Friedhöfe. Republikanische Eiferer änderten sogar Straßennamen, um Bezugnahmen auf Heilige zu eliminieren. Der Konflikt zwischen Kirche und Staat erreichte im Jahr 1905 seinen Höhepunkt. Viele Antiklerikale waren bis dahin sehr zufrieden mit dem staatlichen System der Kirchenkontrolle, das Napoleon eingeführt hatte. Es gab dem Staat das Recht, Bischöfe zu ernennen (wobei dem Papst aber ein Vetorecht blieb), und es erlaubte der Regierung, die Gehälter missliebiger Bischöfe oder Priester zu sperren. Der Erz-Antiklerikale Émile Combes (1835–1921), Premierminister 1902–1905, sperrte die Gehälter von nicht weniger als 632 Klerikern, unter

91 Ozouf, Jacques/Ozouf, Mona, La république des instituteurs, Paris 1992, 172–174; Ozouf, Jacques, Nous les maîtres d’école. Autobiographies d’instituteurs de la Belle Époque, Paris 1973, 233–259. 92 Anderson, Robert, The Conflict in Education. Catholic Secondary Schools (1850–1870), in: Zeldin, Theodore (Hrsg.), Conflicts in French Society, London 1970, 51–93, 59. 93 Gibson, French Catholicism, 200–202.

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ihnen ein Erzbischof und zwölf Bischöfe.94 Für viele Republikaner hatte die Trennung von Kirche und Staat jedoch vor allem eine symbolische Bedeutung, die weit über ihre praktischen Wirkungen hinausging. Redner der Sozialisten und der Radikalen vertraten die Meinung, die Republik werde durch ihre Beziehung zur Kirche befleckt, und darum stellten sie die Trennung als einen Akt der Reinigung dar. Auf volkstümlicherer Ebene verhöhnten Straßensänger die Pfarrer als „Krähen“ und Parasiten, die nur an Geld interessiert seien. So behauptete eines dieser Lieder, das den Titel Das Gesetz der Trennung trug, die Kleriker seien „habgierige und knauserige“ „Schlangen im Gras“, die „zum Teufel gejagt“ werden sollten. Der Refrain lautete: Plus d’Église De sœurs grises De moines et de curés Sœurs et prêtres Que ces êtres Du budget soient retirés. (Keine Kirche mehr, keine grauen Schwestern, keine Mönche und Pfarrer. Schwestern und Priester: Mögen diese Wesen aus dem Staatshaushalt gestrichen werden.)95

In den Niederlanden hingegen war die Reihenfolge der Ereignisse genau umgekehrt. In den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts wählte eine überwiegend bürgerliche Wählerschaft liberale Regierungen, die ihre Aufgabe darin sahen, ein nationales Bildungssystem zu errichten, in dem die Religion nur einen sehr begrenzten Platz hatte. Doch es gab zunehmend Widerstand von Katholiken und orthodoxen Calvinisten, die die Ansicht vertraten, dass Religion ein integraler Teil jeder Erziehung sei, die diesen Namen verdiene, und dass Religion für alle Wissenszweige von großer Bedeutung sei. Die Calvinisten wurden zu einer gewichtigen politischen Kraft unter der dynamischen Führung von Abraham Kuyper (1837–1920), einer der bemerkenswertesten Persönlichkeiten in der christlichen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Er spaltete die Niederländische Reformierte Kirche, bildete die drittgrößte Konfession des Landes: die Reformierten Kirchen in den Niederlanden, gründete die Freie Universität Amsterdam und eine Zeitung (De Standaard) und baute die Anti-Revolutionäre Partei auf. Die Erweiterungen des Wahlrechts im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ermöglichten es einer überwiegend kirchlichen Wählerschaft, religiöse Parteien zu wählen. 1888 verbündeten sich die Anti-Revolutionäre mit den Katholiken, um die erste konfessionelle Regierung bilden. Ihr gemeinsames Interesse bestand darin, die staatliche Finanzierung kirchlicher Schulen durchzusetzen. Das gelang 1889, doch erst 1917 er-

94 Larkin, Maurice, Church and State after the Dreyfus Affair. The Separation Issue in France, London 1974, 129. 95 Ozouf, Nous les maîtres, 210.

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reichten sie auch ihr letztes Ziel, nämlich die Gleichberechtigung von staatlichen Schulen und dem großen Verband kirchlicher Schulen. Das „Duale System“, das 1870 in England und Wales eingerichtet wurde, war ein typischer Kompromiss: Es verband ein neues System von Schulen, die von gewählten lokalen Behörden kontrolliert und finanziert wurden, mit einer teilweisen Staatsfinanzierung der bestehenden kirchlichen Schulen. Diese „Board Schools“ durften Religionsunterricht anbieten, und die meisten taten es auch. Der Unterricht durfte aber nur „konfessionsungebunden“ sein, d. h. er durfte keine Lehren vertreten oder Bücher benutzen, die nur die Auffassungen einer bestimmten Konfession widerspiegelten. Ein allgemeiner Protestantismus durfte aber unterrichtet werden, und der Lehrer durfte aus der Bibel vorlesen. Eine „Gewissensklausel“ erlaubte es den Eltern, ihre Kinder aus dem Religionsunterricht herauszunehmen, wenn sie das wollten. Gegen diesen Kompromiss gab es zu Beginn sehr breiten Widerstand, denn es gab kaum eine Gruppe, die all ihre Wünsche erfüllt sah. Doch zuletzt wurde die Lösung weitgehend akzeptiert, denn sie bot den meisten wenigstens etwas von dem, was sie wollten. In vielen ländlichen Gegenden und in einigen Industriegebieten, vor allem in Lancashire, wurden die meisten Grundschulen weiterhin von Kirchen geleitet – mehrheitlich von Anglikanern, zum Teil von Katholiken und in ein paar Fällen von Methodisten. Die Grundschulen, die von Kindern aus der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht besucht wurden, hatten sehr unterschiedliche Standards, was ihr religiöses Ethos anging; die „Öffentlichen Schulen“ hingen, die von Kindern der Oberschicht und der oberen Mittelschicht besucht wurden, waren im Allgemeinen stark anglikanisch ausgerichtet – bis auf die wenigen, die katholisch oder nonkonformistisch waren. In den Jungenschulen war der Schulleiter fast immer ein Geistlicher, und es war Vorschrift, dass die Jungen die Gottesdienste in der Schulkapelle besuchten. Auch an den Mädchenschulen spielte die Kapelle eine wichtige Rolle, und die Schulleiterin war, wenn auch natürlich nicht ordiniert, eine engagierte Anglikanerin. Im fortgeschrittenen viktorianischen Zeitalter und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren viele anglikanische Bischöfe zuvor einmal Schulleiter einer Öffentlichen Schule gewesen. Roald Dahl, der bekannte Kinderbuchautor, behauptete einmal, ihm sei das Christentum verleidet worden durch die Schläge, die ihm in Repton von Geoffrey Fisher (1887–1972), dem späteren Erzbischof von Canterbury, verabreicht worden waren.96 Ein führender Historiker der viktorianischen Öffentlichen Schulen wiederum berichtet, dass „die Predigten von Vaughan in Harrow, von Farrar und Cotton in Marlborough, von Benson in Wellington einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hatten auf Generationen von Schülern, über die sie in ihren Briefen nach Hause, in ihren Tagebüchern und später noch in

96 McLeod, Religion and Society in England, 112.

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ihren Memoiren schrieben“97. Ein sehr hoher Anteil von jenen, die später einmal führende Positionen in der Regierung des Vereinigten Königreichs und im britischen Empire, in den Streitkräften oder in der Justiz bekleideten, hatte seine prägenden Jahre in Institutionen verbracht, wo die leitenden Autoritäten explizit anglikanisch war. In der Schweiz, in Österreich-Ungarn und in vielen deutschen Staaten war dies die Zeit des „Kulturkampfs“, den liberale Regierungen mit der Katholischen Kirche austrugen. Tatsächlich strebte keine dieser Regierungen eine Säkularisierung nach französischem Vorbild an. Sie wollten beispielsweise, dass Kinder verschiedener Konfessionen an denselben Schulen unterrichtet würden, aber sie hatten nicht vor, den katholischen und protestantischen Religionsunterricht an den Schulen zu unterbinden. Ihre Absicht war vielmehr, die Katholische Kirche als politische Kraft zu neutralisieren und sicherzustellen, dass der Staat die Kontrolle über das Schulsystem behielt. Ihre wichtigsten Zielscheiben wurden die Ordensgemeinschaften – vor allem die Jesuiten – und die politisch denkenden Geistlichen. Das Reichsstrafgesetzbuch des neuen Deutschen Reichs verbot es Geistlichen, auf der Kanzel über Politik zu sprechen. Das brachte in den folgenden Jahren viele katholische Priester aufgrund von Verletzungen dieses Gesetzes ins Gefängnis. Die Jesuiten wurden 1872 aus Deutschland ausgewiesen. Die langwierigsten Auseinandersetzungen fanden in der Schweiz statt. Liberale und Radikale waren in den mittleren Dekaden des 19. Jahrhunderts im Aufwind, und in den Jahren 1847/1848 kam es zu einem kurzen Bürgerkrieg, in dem die Streitkräfte der überwiegend städtisch-reformierten Kantone im Westen und Norden den „Sonderbund“ der mehrheitlich ländlich-katholischen Kantone in der Inner- und Ostschweiz besiegten. Den Hintergrund dieser Ereignisse bildete der „Krieg gegen die Jesuiten“, den die Radikalen in den Jahren zuvor vom Zaun gebrochen hatten. Dieser Krieg, so hält Heidi Bossard-Borner fest, „stützte sich auf jedes denkbarbare Klischee und jede Verleumdung und nahm Züge einer Massenhysterie an“98. Die Jesuiten wurden zum Inbegriff all dessen, was Reformierte und Säkularisten, aber auch viele liberale Katholiken an der Katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts missbilligten und fürchteten. Dazu gehörten u. a. die autoritäre päpstliche und bischöfliche Kontrolle über das individuelle Gewissen, der „unnatürliche“ Priesterzölibat, der Internationalismus, welcher die Loyalität gegenüber Nation und Staat schwäche, und die gefährlichen Allianzen mit konservativen politischen Kräften. Der Sieg der reformierten Kantone ermöglichte 1848 die Bildung eines Bundesstaats mit einer Verfassung, zu der auch ein Verbot der Jesuiten gehörte.

97 Honey, John R. de S., Tom Brown’s Universe. The Development of the English Public School in the Nineteenth Century, London 1977, 313. 98 Bossard-Borner, Heidi, Village Quarrels and National Controversies: Switzerland, in: Clark/Kaiser (Hrsg.), Culture Wars, 255–284, 261.

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Die meisten Liberalen und Radikalen waren entweder Reformierte oder religiöse Skeptiker, doch es gab auch eine nicht unerhebliche Menge von liberalen Katholiken, die entschieden gegen den Ultramontanismus auftraten und kritisch gegenüber dem Papsttum waren. Nach dem Ersten Vatikanischen Konzil von 1869/1870 schlossen sich viele von ihnen den Christkatholiken an, die sich 1872 von der römischen Kirche trennten. Den Christkatholiken kamen die demokratischen Prinzipien der Schweiz zugute. So bestimmten etwa die Gesetze im Kanton Bern, dass die Pfarrer von ihren Gemeindemitgliedern gewählt werden mussten, und als die Leute von Berns Kirchengemeinde im Stadtzentrum in den 1870er-Jahren einen Christkatholiken zum Pfarrer wählten, ging die Gemeinde mitsamt ihrer beeindruckenden neugebauten Kirche in die Hände der abtrünnigen Konfession über. Die Christkatholiken waren das Schweizer Gegenstück zu den niederländischen und deutschen Altkatholiken, aber viel zahlreicher im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, vor allem im Kanton Solothurn, der zu einer christkatholischen Hochburg wurde.99

5.2. Die „Ghettos“ In den meisten Fällen erreichten die liberalen Angriffe auf die Katholische Kirche das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigten. Die Ausweisung oder Inhaftierung von Priestern stärkte die katholische Identität und die Solidarität zwischen den Priestern und der Bevölkerung. Die ultramontane Theologie, die alles betonte, was Katholiken von anderen Christen und von den Ungläubigen trennte, passte bestens zur Festungsmentalität, die sich unter Katholiken in dieser Zeit verbreitete. Und damit kommen wir nun zur oben bereits erwähnten vierten Strategie gegen die Bedrohung durch die Säkularisierung. Eine Geschichte der Schweizer Katholiken zwischen 1848 und 1919 trug den charakteristischen Titel Der Weg der schweizer Katholiken ins Ghetto100. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Frankreich, Belgien, Österreich und Deutschland entstand zwischen 1870 und 1914 eine Vielzahl katholischer Organisationen, die dafür sorgen sollten, dass Katholiken ihre komplette Freizeit in einer katholischen Umgebung verbringen konnten, wo Liberale, Sozialisten und Protestanten ihren Glauben nicht bedrohten. Es gab Verbände für Arbeiter, für Frauen, für Jugendliche, für Sportler usw. Viele dieser Verbände hatten ihre eigenen Insignien, und an besonderen Tagen marschierten sie unter wehenden Fahnen und Kapellenmusik durch die Straßen. Die deutschen Katholi-

99 Bossard-Borner, Switzerland, 264–270. 100 Altermatt, Urs, Der Weg der schweizer Katholiken ins Ghetto. Die Entstehungsgeschichte der nationalen Volksorganisationen im schweizer Katholizismus 1848–1919, Zürich 1972.

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ken hatten bereits ihre eigene politische Partei, und in den 1870er-Jahren errang das Zentrum sehr hohe Stimmenanteile. In den Niederlanden entwickelte sich das katholische Grundschulsystem hauptsächlich nach 1868 und dann besonders nach dem Erlass des Schulgesetzes von 1889. Im selben Zeitraum nahm allmählich die katholische politische Partei Gestalt an. Die erste katholische Gewerkschaft wurde 1888 gegründet (ein nationaler Gewerkschaftsbund folgte 1908), der erste Bauernverband 1896. Die erste katholische Tageszeitung erschien ab 1846; sie war liberal ausgerichtet und wandte sich an eine gebildete Leserschaft. Der katholische Massenjournalismus begann mit De Maasbode, 1868 zunächst als Wochenzeitung, ab 1885 dann als Tageszeitung. Das Blatt wurde bekannt für seinen volksnahen Stil, den lautstarken Ton und eine konservative Sicht in kirchlichen Fragen. Manchmal gab es auch radikale Standpunkte zu wirtschaftlichen und sozialen Themen. Ein wichtiger Schritt für viele der zu dieser Zeit gegründeten Organisationen war die Einrichtung eines Hauptquartiers, das groß genug sein musste, um die eigene Präsenz auszudrücken und eine ganze Reihe von Ausstattungsgegenständen unterzubringen. Etwas von der symbolischen Bedeutung solcher Gebäude und vom Geist des Verbandskatholizismus dieser Zeit spiegelt sich in einem Bericht von der Eröffnung eines Vereinshauses des Katholischen Arbeitervereins Köln-Süd im Jahr 1898. Die Feierlichkeiten begannen mit einem Gottesdienst, und danach führte ein „imposanter Festumzug“ durch den Süden der Stadt, woran sich die Mitglieder von 34 katholischen Arbeitervereinen beteiligten, unter Mitführung von 38 Fahnen und drei Musikkorps. Als sie schließlich das Gebäude erreichten, war der Andrang so groß, dass nicht jeder hineinkam, um die zahlreichen Reden zu hören. Diejenigen, denen es gelang, stellten fest, dass zwei vertraute Themen dominierten: Bekenntnisse der Treue zum Papst und Angriffe auf die Sozialdemokratie: „[A]n der Schwelle dieses Hauses hat die Sozialdemokratie haltzumachen“. Ein anderer Redner hob die Bedeutung solcher Einrichtungen hervor, die dem katholischen Arbeiter Kraft gäben, der ja konfrontiert sei mit „Hohn und Spott, den er von seinen sozialdemokratischen Arbeitsgenossen zu erleiden hat“ und mit „vielfachen Ungerechtigkeiten, denen er von einzelnen Arbeitgebern ausgesetzt ist“101. Diese Bemühungen, mittels eines umfassenden Netzwerks von Organisationen eine ideologisch reine Umgebung zu schaffen, gediehen unter Katholiken am weitesten, doch das „katholische Ghetto“ war nur ein Aspekt eines breiteren Phänomens. Auch Sozialisten neigten in dieser Zeit dazu, in ihren zahlreichen Organisationen unter sich zu bleiben, und in den Niederlanden waren es die konservativen Protestanten, die den Prozess der „Versäulung“ in Gang setzten, dem Katholiken

101 Zit. nach Broch, Ernst-Detlef, Katholische Arbeitervereine in der Stadt Köln 1890–1901, Wentorf/Hamburg 1977, 100f. Vgl. McLeod, Hugh, Building the „Catholic Ghetto“: Catholic Organisations 1870–1914, in: Sheils, William/Wood, Diana (Hrsg.), Voluntary Religion, Oxford 1986, 411–444, 426f.

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und Sozialisten alsbald folgten. Jede dieser Gruppen fühlte sich bedroht von der mächtigsten gesellschaftlichen Gewalt in den Industrienationen Europas, nämlich vom industriebesitzenden, handeltreibenden, berufsständischen Bürgertum. In den meisten Ländern Kontinentaleuropas tendierte diese Gruppe in den 1870er und 1880er Jahren zu einer liberalen Politik, und ihre Vertreter zeigten sich – ob sie nun Protestanten, Juden oder antiklerikale Katholiken waren – generell ablehnend gegenüber dem ultramontanen Katholizismus. Dabei fiel Frankreich etwas aus dem allgemeinen Rahmen heraus, da die die Zeit nach 1848 dort für viele aus dem gehobenen Bürgertum eher unter dem Zeichen einer „Rückkehr zur Kirche“ stand. Die Stärke des Antiklerikalismus in der unteren Mittelschicht und die politische Vorherrschaft des Republikanismus seit 1879 bedeuteten allerdings auch, dass die Katholische Kirche hier stärker angegriffen wurde als irgendwo sonst, selbst wenn Deutschland, die Schweiz und Belgien gerade ebenfalls Auseinandersetzungen zwischen Regierungen und Kirche erlebten. Währenddessen verschaffte der verbreitete Wunsch nach Allgemeinbildung den Herrschenden unerwartete Möglichkeiten, die Menschen zu indoktrinieren; also bemühten sich Regierungen, Arbeitgeber und wohlhabende Liberale darum, Angebote zur Freizeitgestaltung der Bevölkerung zu finanzieren und zu organisieren. In den Augen von Katholiken und Sozialisten war aber jeder scheinbar harmlose Radfahr- oder Gymnastikverein ein Werkzeug der Liberalen oder der Bourgeoisie und verlangte nach einem ideologisch sauberen Gegenstück. Das „Ghetto“ war ein Mittel zur Schaffung eines Raums, der frei war von Übergriffen durch diese um sich greifenden antikatholischen und antisozialistischen Kräfte. Es war auch eine Antwort auf die eher immateriellen Probleme, vor denen Katholiken, Protestanten und Sozialisten in den Städten des späten 19. Jahrhunderts allesamt standen: Dazu zählten zum einen die Schwierigkeit, das Engagement der Mitglieder auf einem hohen Niveau zu halten, während überall zahllose Wirtschaften Entspannung und Geselligkeit boten, zum anderen das Nachlassen der sozialen Kontrolle und zum dritten die Entstehung einer kommerzialisierten Welt der Freizeitgestaltung, in der Religion und Politik keine Bedeutung mehr zu haben schienen. Viele katholische Vereine in dieser Zeit entstanden aus der Sorge, dass die Attraktionen des Stadtlebens gefährlich sein könnten; insbesondere fürchte man um das Wohlbefinden der jungen Männer, die als die am meisten bedrohte Gruppe erschienen. Der Versuch, eine katholische Subkultur oder ein entsprechendes „Milieu“ zu schaffen, war selbstverständlich in manchen Ländern und Regionen erfolgreicher als in anderen. So war etwa in Deutschland die Rhein-Ruhr-Region eine Hochburg katholischer institutioneller Einbindung, denn es gab einfach genügend Katholiken, um solche Vereinigungen am Leben zu erhalten, und zugleich sahen die Katholiken sich dort durch einen protestantischen Staat, eine Wirtschaftselite und eine starke Sozialdemokratie gleich mehrfach bedroht. Einen schwereren Stand hatten sie dagegen in Bayern, dem einzigen Staat, wo sowohl der Herrscher als

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auch die Mehrheit der Bevölkerung katholisch waren, oder in vielen Teilen Nordund Ostdeutschlands, wo die Katholiken zahlenmäßig schwach waren. In manchen Gegenden Europas blühte die katholische Subkultur bis in die 1960er-Jahre. In den Niederlanden wurde in einer Reihe von Erhebungen in den 1950er-Jahren festgestellt, dass 95 Prozent der Katholiken, die Mitglieder in Frauen-, Jugendoder Bauernvereinigungen waren, dabei spezifisch katholischen Organisationen angehörten, dass 90 Prozent der katholischen Grundschüler katholische Schulen besuchten, dass 84 Prozent der katholischen Wähler die Katholische Volkspartei wählten, dass 79 Prozent der zeitungslesenden Katholiken eine katholische Zeitung abonniert hatten und dass 61 Prozent der Katholiken, die Sportvereinen angehörten, Mitglieder eines katholischen Verbands waren. Zugleich wählten 91 Prozent der Katholiken einen katholischen Ehepartner, und 1966 rechnete man mit einem Messebesuch von durchschnittlich 64 Prozent der katholischen Bevölkerung.102 Allerdings fiel der Verbandskatholizismus danach bald in sich zusammen, und der Messebesuch ging erstaunlich rasch zurück. Zweifellos gab es dafür viele Gründe, und diese alle zu erörtern, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Doch ein Faktor ist für die frühe ebenso wie für die spätere Geschichte bedeutsam: Die Stabilität des „Ghettos“ – ganz gleich ob katholisch, protestantisch oder sozialistisch – wurde von einem starken Konformitätsdruck gewährleistet, und im Fall der Katholiken manchmal auch durch den Druck, der von den Priestern im Beichtstuhl ausgeübt wurde. Das konnte sehr effektiv sein, besonders wenn der katholische Zusammenhalt durch Bedrohungen von außerhalb verstärkt wurde. Andererseits konnten dadurch auch Unterströmungen des Ressentiments genährt werden, welche den Boden bereiteten für die offene Rebellion, sobald sich die Umstände änderten. Das Ausmaß der religiösen und politischen Konflikte in diesem Zeitraum wurde noch verschärft durch die absoluten Aussagen einiger der populärsten und einflussreichsten Ideologien der Zeit. Das galt am offensichtlichsten für den ultramontanen Katholizismus und den marxistischen Sozialismus. Doch Unnachgiebigkeit und Intoleranz waren keineswegs auf die Anhänger dieser Glaubensbekenntnisse mit ihren eindeutigen Wahrheitsansprüchen beschränkt. Die Liberalen konnten ebenso intolerant gegenüber rivalisierenden Überzeugungen sein. Und viele Protestanten waren auf erbitterte Weise antikatholisch, auch wenn liberale und konservative Protestanten immer wieder taktische Allianzen mit Katholiken schmiedeten. So machten etwa in den Niederlanden, wie wir gesehen haben, Katholiken und konservative Protestanten gemeinsame Sache gegen ihre liberalen Gegner. Die britischen Liberalen, von denen viele zu den protestantischen Dissenters gehörten, unterstützten eher die irischen Katholiken und deren Forderung nach Unabhängigkeit als ihre orangefarbenen protestantischen Gegner aufseiten der Tories.

102 McLeod, „Catholic Ghetto“, 413, 444.

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Die Politik der Massen und der schnell steigende Alphabetisierungsgrad ließen im späteren 19. Jahrhundert die Gruppe potenzieller Zeitungsleser enorm anwachsen. In Frankreich beispielsweise stieg die Rate der Lesekundigen, wie Mather festhält, von 60 Prozent im Jahr 1870 auf 95 Prozent im Jahr 1900 und so waren „die Zeitungen […] die Nutznießer und zugleich die hauptsächlichen Mittel dieses Anstiegs“103. Die Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Kirchen, politischen Parteien und Weltanschauungen fanden ja vor allem in der Presse statt. Der Ton dieser Debatten war oft scharfzüngig, und zu den verletzenden Angriffen der Redakteure steuerten Karikaturisten groteske Darstellungen der Gegner bei. Mit am populärsten in Frankreich war in den 1880er und 1890er Jahren die katholische Zeitung La Croix, die detailversessene Reportagen von Verbrechen, Hinrichtungen und Unglücksfällen mit nationalistischer und zunehmend auch antisemitischer Politik kombinierte, mit Angriffen auf die Freimaurer und die gottlose Republik, die sie und ihre Verbündeten geschaffen hätten. Auf der anderen Seite standen die vielen republikanischen und sozialistischen Blätter; für die meisten war der Antiklerikalismus nur ein Thema unter vielen, doch es gab auch Publikationen, deren Hauptzweck solche Angriffe auf den Klerus waren. Sie erschienen unter Titeln wie La République Anti-Cléricale, Le Carillon („Das Glockenspiel“) und Les Corbeaux („Die Krähen“). Priester wurden als Krähen karikiert, als Fledermäuse, als Ziegen, als Kraken; man zeigte sie, wie sie Kinder schlugen, Frauen verführten und Tyrannen segneten. In Frankreich waren Zeitungen mit antiklerikalen Karikaturen besonders verbreitet, doch es gab im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch Beispiele in der satirischen, radikalen oder sozialistischen Presse der meisten anderen mehrheitlich katholischen Länder – u. a. in Belgien, Spanien, Portugal, Italien und Böhmen – sowie in einigen mehrheitlich protestantischen Ländern Europas wie etwa Deutschland. Das bayerische Witzblatt Simplicissimus brachte häufig Karikaturen des katholischen Klerus, aber auch die protestantischen Pfarrer wurden manchmal zur Zielscheibe – ebenso wie in der sozialdemokratischen Zeitschrift Der wahre Jakob104.

5.3. Die Soziale Frage Was den Zuspruch der Bevölkerung betraf, waren die Sozialisten die mächtigsten Rivalen des Katholizismus. Für viele war der Sozialismus damals eine neue Offenbarung – eine „neue Religion“, wie oft gesagt wurde. Manche bezeichneten den Sozialismus einfach als „angewandtes Christentum“, wie der schottische LabourFührer James Keir Hardie (1856–1915); viele Sozialisten jener Zeit aber fanden,

103 Mather, Assumptionists, 66. 104 Dixmier, Michel, La république et l’église. Images d’une querelle, Paris 2005.

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dass die neue Religion die alte ablöste. Paul Göhre, ein lutherischer Pastor, den man seines Amtes enthob, als er Sozialdemokrat wurde, drückte es folgendermaßen aus: „Die Sozialdemokratie von heute ist nicht nur eine neue politische Partei oder ein neues wirtschaftliches System oder auch beides zusammen, sondern eine neue Welt- und Lebensanschauung“105. In Wuppertal, einem Ort, der einst für seine protestantischen Gemeinschaften berühmt war, wurde das rapide Wachstum der sozialistischen Bewegung in den 1870er-Jahren mit einer neuen „Erweckung“ verglichen.106 In Deutschland entwickelte sich ein Repertoire an sozialistischen Ritualen und Feiern, das ganz bewusst darauf zielte, die Riten der alten Religion zu ersetzen. So trat zum Beispiel der Maifeiertag an die Stelle von Ostern, und die populären Melodien von Luthers Kirchenliedern wurden mit neuen sozialistischen Texten versehen. Viele der frühen sozialdemokratischen Führer kamen aus den (ursprünglich liberal-christlichen, aber im späten 19. Jahrhundert hauptsächlich freidenkerischen) Freireligiösen Gemeinden, die Pionierarbeit leisteten für alternative Rituale wie etwa die „Jugendweihe“, eine säkulare Konfirmationszeremonie, die im kommunistischen Ostdeutschland dann halb-obligatorisch wurde. Der religiöse Skeptizismus war oft mit progressiver Politik im Bunde und nie völlig von ihr zu trennen. In Frankreich zum Beispiel wurde das große Wachstum der Freidenkerorganisationen in der Zeit der Dritten Republik beflügelt von der Feindschaft gegenüber dem „Klerikalismus“ und den Gefahren, die dieser der Republik bringe. Die deutschen Sozialdemokraten verbanden Marx mit Darwin. Dennoch hatte der religiöse Zweifel im späten 19. Jahrhundert eine darüber hinausgehende Anhängerschaft. Der britische Wissenschaftler und Verteidiger Darwins, Thomas Henry Huxley (1821–1895), hatte den Begriff des „Agnostikers“ geprägt, um damit diejenigen zu bezeichnen, die glaubten, es gebe nicht genügend Beweise für die Existenz oder Nichtexistenz Gottes, und deshalb sei Neutralität in religiösen Angelegenheiten die angemessenste Haltung. Das kam als Position schnell in Mode. Agnostiker standen oft unter dem Eindruck des Darwinismus oder der kritischen Bibelwissenschaft, manchmal auch prägte sie ein eher allgemeines Vertrauen in „die Wissenschaft“ sowie der Glaube, dass Wissenschaftler – und nur Wissenschaftler – die Schlüssel zum menschlichen Fortschritt besaßen. Im späten 19. Jahrhundert entstanden neue Wissenschaften, u. a. Soziologie, Psychologie und Anthropologie, die oft von explizit nichtreligiösen Prämissen ausgingen. Vor allem die theologische Vorstellung des „freien Willens“ galt ihnen als gefährliche Einbildung, die einem hinreichend wissenschaftlichen Verständnis der menschlichen Motivation im Wege stand. Die Bedrohung durch den Sozialismus und seine Verbindungen mit den Freidenkern veranlasste die katholische und die protestantischen Kirchen, aktiver auf die

105 McLeod, Religion and the People, 45. 106 Köllmann, Wolfgang, Sozialgeschichte der Stadt Barmen, Tübingen 1960, 150–153, 198– 212.

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„soziale Frage“ zu reagieren, und brachte die Regierungen und gesellschaftlichen Eliten dazu, die kirchlichen Anstrengungen zu unterstützen. Hatte Papst Pius IX. seine Kirche noch direkt in Opposition gegen „die moderne Welt“ in Stellung gebracht, befürwortete sein Nachfolger Leo XIII. (Amtszeit 1878–1903) einen aufgeklärten Konservatismus, der es der Kirche erlaubte, sich – ohne auch nur eine ihrer Lehren zu ändern – auf einige der unausweichlichen sozialen und politischen Veränderungen einzustellen und aktiver auf die Herausforderungen zu antworten, die diese Welt mit sich brachte. Insbesondere seine Enzyklika Rerum Novarum (1891) schuf die Grundlage der katholischen Soziallehre. Darin erkannte er viele der sozialen Missstände an, die mit der Industrialisierung und der liberalen Wirtschaft verbunden waren, betonte aber auch, dass der Sozialismus nicht die Antwort darauf sei. Vielmehr müsse der Staat bei der Ordnung der Lebens- und Arbeitsbedingungen eine aktivere Rolle spielen; die Arbeiter seien indessen berechtigt, Gewerkschaften aufzubauen, um ihre Interessen zu verteidigen. Die „roten Kapläne“ und „abbés démocrates“, die christliche Gewerkschaften gründeten, (und ebenso die „Arbeiterpriester“, die in den Vereinigten Staaten Ähnliches versuchten) konnten in ihren Auseinandersetzungen mit konservativeren Bischöfen und katholischen Arbeitgebern behaupten, sie hätten die Zustimmung des Papstes. Auf protestantischer Seite gab es in diesen Jahren in Deutschland Initiativen wie den Evangelisch-Sozialen Kongress (1890), der eine kurzzeitige Blüte erlebte, bis die Kirchenoberen vor der ungeschminkten Kritik von Mitgliedern des Kongresses an Grundeigentümern und Industriellen erschraken und den politischen Aktivitäten ihrer Pfarrer Einhalt geboten. Die Christlichen Sozialisten in Großbritannien wurden von den Kirchenleitungen weniger behindert, sie wurden von ihnen sogar ermuntert, denn man sah in ihnen ein Mittel, die Kirche besser in Kontakt mit der Arbeiterschaft zu bringen. 1848 entstand in London für kurze Zeit eine christlich-sozialistische Gruppierung unter der Führung des prominentesten liberalen Theologen der Anglikaner F. D. Maurice (1805–1872) und des Geistlichen und Schriftstellers Charles Kingsley (1819–1875). Ihr Interesse galt hauptsächlich der Erwachsenenbildung und den Arbeitergenossenschaften. Die Sache lebte wieder auf, als 1877 Stewart Headlam (1847–1924), ein anglokatholischer Geistlicher im arbeiterdominierten Londoner East End, die Guild of St Matthew gründete. Und seit den späten 1880er-Jahren vermehrten sich die christlich-sozialistischen oder quasisozialistischen Organisationen überall, sowohl in den Staatskirchen als auch in anderen Konfessionen. 1906 wurde in Glasgow von irischen Einwanderern sogar eine Katholisch-Sozialistische Gesellschaft gegründet. Ihnen schlug Widerstand vonseiten des Erzbischofs entgegen, doch sie konnten sich verteidigen, indem sie darauf beharrten, dass der Sozialismus, für den die britische Labour Party eintrat, etwas anderes sei als der Sozialismus, den Papst Leo XIII. in Rerum Novarum verurteilt hatte. 1924 wurde ihr Wortführer John Wheatley (1869–1930) Minister in der ersten Labour-Regierung – ein Beleg für die Tatsache, dass katholische Arbeiter einen bedeutenden Beitrag zur Unterstützung der Labour Party in Schottland und

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Teilen von Nordengland leisteten. Die größte Wirkung, die die Ideen der christlichen Sozialisten hatten, kam jedoch aus zwei ganz anderen Richtungen. Einerseits gab es eine erhebliche Zahl von anglokatholischen Geistlichen, die sich sowohl gegen den Individualismus der protestantischen und insbesondere evangelikalen Theologie als auch gegen den Individualismus der liberalen und konservativen Politik aussprachen. Sie hielten es für möglich, ihre Sakramententheologie, die das korporative Wesen der Kirche betonte, mit einer kollektivistisch ausgerichteten Politik in Verbindung zu bringen, denn auf einer praktischen Ebene brachten viele von ihnen Erfahrungen aus dem Leben in einer Pfarrgemeinde in einem Arbeiterbezirk mit. Andererseits waren die meisten christlichen Sozialisten, die in Gewerkschaften oder der Independent Labour Party aktiv waren, Nonkonformisten, vor allem Methodisten.107 Eine besondere Art von „christlich sozialer“ Politik entstand im späten 19. Jahrhundert in Teilen von Mittel- und Ostmitteleuropa. Dort war das „Soziale“ prinzipiell auf die Behebung der Klagen aus der unteren Mittelschicht ausgerichtet, nicht auf die Beschwerden der Arbeiterklasse. Und „christlich“ bedeutete zumindest teilweise „nichtjüdisch“. Die Emanzipation der Juden in vielen Teilen Europas in den mittleren Dekaden des Jahrhunderts schuf neue Möglichkeiten. In Städten wie Berlin, Wien, Budapest und Warschau gelang immer mehr Juden der Anschluss an die wohlhabende Mittelschicht, waren sie doch nicht nur im Handel, sondern auch in anderen Berufsfeldern bestens aufgestellt. In Wien wurde in den Jahren 1870–1910 über die Hälfte der Arbeitnehmer als „Arbeiter“ eingestuft, doch eine Analyse der Juden, die in diesem Zeitraum heirateten, ergab, dass nur vier Prozent von ihnen Arbeiter und 12 Prozent Handwerker waren; dagegen waren 14 Prozent Beamte und Fachkräfte, 44 Prozent Kaufleute oder Unternehmer und 26 Prozent Angestellte.108 Es waren Jahre der Hoffnung für die Juden in Mittel- und Westeuropa, dort ihr Erfolg weckte auch Ressentiments. Der Pionier des politischen Antisemitismus war Adolf Stoecker, doch seine Gründung der Christlichsozialen Arbeiterpartei im Jahr 1878 war ein Misserfolg. In den 1880er-Jahren entstanden ähnliche Bewegungen in Österreich, Ungarn und Polen, die größere Unterstützung fanden. In Österreich gewann die Christlichsoziale Partei in Wien und Umgebung sowie in kleineren Städten eine große Gefolgschaft. Ihre prominenteste Führungsfigur, Karl Lueger (1844–1910), war von 1897 bis 1910 Bürgermeister von Wien. Lueger, ein vollendeter Opportunist, war weder praktizierender Katholik noch schien er persönlich etwas gegen Juden zu haben, doch sein Aufstieg zur Macht beruhte auf der Einsicht, dass die niederen Kleriker wichtige potenzielle Verbündete waren

107 McLeod, Hugh, Religion and the Organisation of the Working Class in Great Britain c.1830–1960, in: Heerma van Voss, Lex u. a. (Hrsg.), Between Cross and Class. Comparative Histories of Christian Labour 1840–2000, Bern 2005, 285–304. 108 Rozenblit, Marsha L., The Jews of Vienna 1867–1914. Assimilation and Identity, Albany, NY, 1983, 50, 68.

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und dass eine Verknüpfung von Lebensumständen eine neue Art der Politik ermöglichte, in der der Antisemitismus das Bindeglied war. Drei Aspekte des Umfelds waren entscheidend: Einer war, wie bereits erwähnt, die Emanzipation und der wirtschaftliche Erfolg der Juden, die um 1880 einen Anteil von zehn Prozent an der Wiener Bevölkerung hatten; ein zweiter war der wirtschaftliche Abschwung in den mittleren und späten 1870er-Jahren, der die Handwerker der Stadt besonders hart traf; und ein dritter war die Erweiterung des Wahlrechts in den frühen 1880ern, die die zuvor dominierenden Liberalen schwächte, da sie von den Stimmen einer hauptsächlich aus der Mittelschicht stammenden Wählerschaft abhingen. Antisemitismus war ein Schlachtruf, und seine Dimensionen waren vielfältig: wirtschaftlich (gegen das „jüdische“ Großkapital, dem man vorwarf, Ladeninhabern und Handwerkern die Existenzgrundlage zu nehmen), religiös (Juden gab man die Schuld an Säkularisierungstendenzen und an der schwindenden Macht der Katholischen Kirche), politisch (mobilisierende Parolen gegen die immer populäreren Sozialdemokraten wurden dringend gebraucht), kulturell („dekadente“ Tendenzen jeglicher Art wurden der „jüdischen Presse“ und dem schädlichen Einfluss des „jüdischen Geistes“ angelastet). Die Tatsache, dass zur intellektuellen und künstlerischen Avantgarde viele Juden gehörten, versorgte die Traditionalisten aller Art mit Munition. Zeitgenössische Beobachter meinten indessen, dass Wien in den Jahren um 1900 eine katholische Renaissance erlebte, die sich in wachsenden Kirchenbesucherzahlen, in der Vermehrung katholischer Vereinigungen (von denen viele mit der Politik der Christlich-Sozialen in Verbindung standen) und dem hohen Bekanntheitsgrad einiger prominenter Kleriker der Christlichsozialen Partei niederschlug.109 Gleichzeitig wurde der tiefgreifende Einfluss des Antisemitismus in Wien, aber auch in anderen Teilen von Mittel- und Ostmitteleuropa dadurch verstärkt, dass es nicht nur einen katholischen Antisemitismus gab, sondern auch eine nichtkatholische oder sogar antikatholische Version davon, die auf einem nationalistischen und rassistischen Pangermanismus basierte, wonach Juden Fremde in Europa waren. Neben den radikalen Aktivitäten mancher Geistlicher ging es den katholischen und protestantischen Kirchen im Allgemeinen mehr darum, das Pfarrgemeindesystem zu modernisieren, da es weiterhin die grundlegende Einheit ihrer Organisation war. Wie schon erwähnt, war der Mangel an Kirchengebäuden über lange Strecken im 19. Jahrhundert in vielen großen Städten ein großer Hemmschuh. Das lange erwartete Kirchenbauprogramm wurde nun jedoch endlich umgesetzt: in Hamburg in den 1880er-Jahren, in Berlin und Brüssel in den 1890ern – in Paris erst in den 1930er-Jahren. Ein wichtiger Umstand war in Deutschland die Einführung der Kirchensteuer in vielen Teilstaaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhun-

109 Boyer, John, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago 1981, 119f.

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dert; in Belgien profitierte die Kirche 1884 von der Wahl einer katholischen Regierung nach vielen Jahren der liberalen Herrschaft; in Frankreich waren die katholischen Aktivisten von der Trennung von Kirche und Staat aufgeschreckt worden und reagierten darauf mit einer großen Spendenkampagne. Zunehmend bemühten sich die Geistlichen darum, die Gemeindekirche zum Mittelpunkt zahlreicher Aktivitäten und Dienste zu machen, und zwar weit über das gottesdienstliche Angebot hinaus. Dazu gehörten beispielsweise medizinische Versorgung, Kinderkrippen, Erwachsenenbildung, Stellenbörsen und viele Arten von Sozial- und Freizeiteinrichtungen. Zusätzliche Gebäude neben der Kirche wurden notwendig, die für die Vielzahl neuer Nutzungen geeignet sein sollten. Und manchmal brauchte es auch spezialisiertes zusätzliches Personal.

6. Europa in einer globaler werdenden Welt 6.1. Imperialismus und Mission Das 19. Jahrhundert hatte begonnen mit dem Zusammenbruch des spanischen Weltreichs und mit der Loslösung Brasiliens von Portugal. Doch im gesamten übrigen Jahrhundert nahm die Kontrolle Europas und der Vereinigten Staaten über den Rest der Welt immer mehr zu, zuerst schrittweise, dann, in den 1880er und 1890er Jahren, mit großer Geschwindigkeit. Im „Wettlauf um Afrika“ bemühten sich Frankreich, Deutschland, das Vereinigte Königreich, Belgien und später auch Italien, große Teile von Afrika an sich zu reißen. Währenddessen nahmen die Vereinigten Staaten den Spaniern die Philippinen ab. Um 1900 waren die meisten Gebiete von Süd- und Südostasien, die Karibik und fast ganz Afrika unter Kontrolle fremder Mächte; Lateinamerika wurde wirtschaftlich dominiert, und Ostasien stand unter enormem wirtschaftlichem und wachsendem kulturellem Einfluss, der von der Errichtung immer weiterer britischer, französischer, deutscher und amerikanischer Enklaven in China verstärkt wurde. Die politischen Parteien versuchten, die Lage auszunutzen, indem sie die imperiale Trommel schlugen, und die Kirchen beeilten sich, die Gelegenheit zu ergreifen, um auf dem Wege der Mission neue Mitglieder zu gewinnen. Der preußische Sieg im Krieg von 1870/71 hinterließ in Frankreich einen bitteren Nachgeschmack und den Wunsch nach Vergeltung; im neugegründeten Deutschen Reich rief er hingegen eine triumphalistische Stimmung aus Nationalstolz und Selbstgefälligkeit hervor. Diese und andere internationale Spannungen innerhalb Europas wurden durch die Konkurrenz um Territorien, Handel und Ansehen in anderen Teilen der Welt noch verschlimmert. Vor allem in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts bekam nicht nur die Sprache großer Teile der politischen

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Parteien, der Presse und der Intelligenzija, sondern auch die der Kirche einen Anstrich von patriotischem Stolz und Rivalität; sie erging sich in Beschwörungen einer imperialen Aufgabe und Vorstellungen von „rassischer“ Andersartigkeit und Überlegenheit. Dieses Gemisch aus Anschauungen und Anliegen schlug sich auch deutlich im Bildungswesen der großen europäischen Mächte nieder. Christliche Versionen des Nationalismus und Imperialismus traten teilweise in Konkurrenz zu weltlicheren Versionen, doch natürlich hatten beide genügend Gemeinsamkeiten. In Deutschland war es seit den 1880er-Jahren üblich, lebensgroße Porträts von Nationalhelden in den Klassenzimmern aufzuhängen; am beliebtesten waren der Kaiser, Bismarck, die Heerführer Moltke und Blücher – und Luther. Im deutschen Protestantismus um 1900 legte man, wie Frank-Michael Kuhlemann gezeigt hat, großes Gewicht auf die Themen des Opfers und der Unterordnung des Individuums unter die Erfordernisse der Nation – und zwar im gesamten theologischen Spektrum.110 In Frankreich stellten Karten von Elsass-Lothringen an den Wänden der Schulhäuser sicher, dass niemand die Verbrechen der Deutschen vergaß. Wie in vielen Nationalismen dieser Zeit wurde die Hingabe an das Vaterland gelegentlich damit gerechtfertigt, dass es dabei um eine größere nationale Mission gehe. Ein französisches Schulbuch von 1912 fasste es folgendermaßen zusammen: „Indem wir Frankreich verteidigen, arbeiten wir für die Menschen aller Länder, denn mit der Revolution schenkt Frankreich der Welt die Ideen der Gerechtigkeit und der Humanität.“111 So klang die republikanische Version der französischen Identität, doch auch Katholiken teilten die inbrünstige nationale Stimmung Frankreichs im frühen 20. Jahrhundert voll und ganz. Trotz ihrer gegenseitigen Feindseligkeit hatten Katholiken und Republikaner viele gemeinsame Anliegen und Werte. Und tatsächlich gab es eine starke nationalistische Komponente in der „Katholischen Erneuerung“ dieser Zeit, in der viele prominente Persönlichkeiten aus Literatur und Kunst zum Katholizismus übertraten. Walls vertritt die Auffassung, dass Großbritannien seit den 1880er-Jahren zunehmend unter dem Einfluss einer „imperialen Religion“ stand, wonach das Land eine göttliche Mission der Zivilisierung zu erfüllen habe. Viele Evangelikale sahen den Schlüssel zu dieser Mission in der britischen Macht: Sie sei das von Gott gewählte Instrument zur Verbreitung der wahren Religion. Aber auch jene Briten, die sich wenig für die „wahre Religion“ interessierten, glaubten, dass das Britische

110 Kuhlemann, Frank-Michael, Zwischen Tradition und Modernität. Volksschule und Volksschullehrer im wilhelminischen Ostwestfalen, in Meynert, Joachim u. a. (Hrsg.), Unter Pickelhaube und Zylinder. Das östliche Westfalen im Zeitalter des Wilhelminismus 1888–1914, Bielefeld 1991, 327–347, vgl. 336–340. 111 Kselman, Thomas, Religion and French Identity. The Origins of the Union Sacrée, in: Hutchison, William/Lehmann, Hartmut (Hrsg.), Many are Chosen. Divine Election and Western Nationalism, Minneapolis 1994, 75.

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Empire der Welt wirtschaftlichen Fortschritt, erfolgreiche Staatskunst und menschenwürdige Reformen gebracht habe. Die Vermischung christlicher und patriotischer Anliegen spiegelte sich nach Walls auch in der Einführung einer neuen Rubrik in den Gesangbüchern dieser Zeit. Sie trug den Titel: „Nationale Gesänge“ und erschien erstmals 1889.112 Der Enthusiasmus für die Überseemission wuchs am „Heimatstandort“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrittweise, in der zweiten Hälfte dann immer schneller und erreichte gegen Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich einen Höhepunkt, beflügelt einerseits von einem allgemeineren Interesse an der Verbreitung der vermeintlichen Wohltaten der „europäischen Zivilisation“ und andererseits von den Anzeichen, dass die christlichen Missionen einen Wendepunkt erreicht hätten. Für europäische Christen des 19. Jahrhunderts war es ein feststehendes Axiom, dass eine Bekehrung sowohl diesseitige als auch jenseitige Vorteile bringe. Thomas Slater, ein britischer Missionar der Kongregationalisten in Indien, behauptete 1882, dass dort, wo die Mission erfolgreich war, das Christentum „den Ehebund geheiligt und die Lebensbedingungen von Frauen und Kindern angehoben“ habe. „Es hob die größten Flüche des häuslichen und gesellschaftlichen Lebens auf – die Polygamie, das Konkubinat, die Sklaverei, die Kindstötung und andere grausame Rituale.“ „Es schuf eine Gemeinschaft der Klassen, förderte die repräsentative Regierungsform, milderte gesetzliche Härten und legte die Basis für das internationale Recht.“ Slater gehörte zu der wachsenden Zahl von Missionaren, die nicht mehr glaubten, dass alle Nichtbekehrten in die Hölle kämen, aber er bestand darauf, dass „alle, hier und jetzt, ein Recht auf das Evangelium haben, das die einzige regenerierende und erlösende Kraft in der menschlichen Gesellschaft ist“113. Die nationalen Missionsgesellschaften bildeten örtliche Zweigstellen mit dem Ziel, Spendengelder einzuwerben und das Bewusstsein unter Kirchenmitgliedern zu fördern, dass alle Christen für die Verbreitung des Evangeliums mitverantwortlich seien. So waren beispielsweise in England die zwei wichtigsten anglikanischen Missionsgesellschaften – die stark evangelikal geprägte CMS (Church Missionary Society) und die vor allem von der High Church unterstützte SPG (Society for the Propagation of the Gospel) weitgehend abhängig von dem Spendenaufkommen, das von örtlichen Missionsvereinen generiert wurde. Die SPG begann 1819 mit dem Aufbau von Missionsvereinen in Pfarrgemeinden und Bezirken: 1851 gab es davon 3783; 1869 war die Zahl auf 7175 gestiegen und 1899 auf 9623.114 Wie nie zuvor waren sich die europäischen und amerikanischen Christen der Tatsache bewusst

112 Walls, Andrew, Carrying the White Man’s Burden, in: Hutchison/Lehmann (Hrsg.), Many are Chosen, 44. 113 Watts, Michael, The Dissenters, 3 Bde., Oxford 1978–2015, Bd. III: The Crisis and Conscience of Nonconformity, 330. 114 Cox, Missionary Enterprise, 98.

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(und würden es auch später nie wieder so empfinden), dass sie einem missionarischen Glauben angehörten, der sich allmählich, aber unaufhaltsam in allen Gegenden des Erdballs ausbreitete. Die Romantik der Mission und der Sinn für ihre Dringlichkeit kommen gut in einem populären Lied zum Ausdruck, das Reginald Heber (1783–1826), der später Bischof von Kalkutta wurde, 1819 schrieb: Von Grönlands eisigen Bergen Von Indiens Korallenstrand … Sie rufen uns zu befreien Von des Irrtums Ketten ihr Land. Dürfen wir, deren Seelen erleuchtet sind Durch Weisheit aus der Höhe, Den Menschen, die im Dunkeln sind, Die Lampe des Lebens verweigern?

In Norwegen, vor allem im „Bibelgürtel“, der sich entlang der südlichen und südwestlichen Küsten erstreckte, gründeten Frauen seit den 1840er-Jahren Nähgruppen, die Gebet und Geselligkeit mit Nähen oder Stricken verbanden. Die so entstandenen Handarbeiten wurden auf Basaren zur Unterstützung der Missionen verkauft. Gegen Ende des Jahrhunderts waren solche Veranstaltungen im ländlichen Norwegen bekannt und beliebt. In manchen Dörfern gehörte jede Frau einer solchen Gruppe an. Manche Frauen wollten auch unmittelbarer zur Arbeit der Mission beitragen und fanden, wie Bjorg Seland ausführt, „Organisationen, die zu Hause zwar streng an den biblisch-fundamentalistischen Argumenten für klare Grenzen der Handlungssphäre von Frauen festhielten, sie aber auf dem Feld der Mission mit weitreichender Autorität ausstatten konnten“115. Die erste Frau, die offiziell von einer norwegischen Missionsgesellschaft ausgesandt wurde, ging 1870 nach Südafrika. Die London Missionary Society erhielt schon 1796 Bewerbungen von unverheirateten Frauen, die aufs Missionsfeld wollten, doch wurden zu diesem Zeitpunkt nur Männer aufgenommen. Aber auch Frauen, die mit Missionaren verheiratet waren, waren, wie Jeffrey Cox festhält, in Wirklichkeit selbst Missionarinnen. Seit ungefähr 1860 wurden unverheiratete Frauen in großer Zahl von den britischen Missionsgesellschaften ausgesandt, und Cox schätzt, dass 1889, wenn man verheiratete und unverheiratete Frauen zusammenzählte, über die Hälfte des britischen protestantischen Missionspersonals weiblich war.116 Die Gemeinden waren stolz auf „ihre“ Missionare, ihre Porträts hingen in der Kirche, und ihre Briefe aus fernen und exotischen Gegenden der Welt wurden begeistert

115 Seland, Bjorg, „Called by the Lord“– Women’s Place in the Norwegian Missionary Movement, in: Markkola, Pirjo (Hrsg.), Gender and Vocation. Women, Religion and Social Change in the Nordic Countries, 1830–1940, Helsinki 2000, 87. 116 Cox, Missionary Enterprise, 107–113, 270.

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gelesen. Manche wurden zu lokalen Helden – wie etwa William Balfour Baikie (1825– 1864), ein Arzt, Erforscher des Niger und Übersetzer der Bibel. Das imposante Denkmal, das ihm in der Kathedrale von Kirkwall gesetzt wurde, spiegelt die vielseitige Rolle, die der Missionar in der zeitgenössischen Fantasie einnahm: „Er setzte sein Leben, seine Mittel und Talente dafür ein, aus dem Heiden, dem Wilden und dem Sklaven einen freien und christlichen Menschen zu machen. Für Afrika erschloss er neue Wege zum Licht, zu Wohlstand und Freiheit – für Europa neue Felder der Wissenschaft, des Unternehmertums und der Wohltätigkeit – Er mehrte Großbritanniens Ehre und Einfluss ...“ Manche wurden auch nationale Helden – wie etwa Schottlands David Livingstone (1813–1873). Generationen von Kindern wurden solche Helden im Kindergottesdienst als Vorbilder vor Augen gestellt, sie wurden bewundert wegen ihres Heldenmuts, der manchmal bis ins Martyrium führte. aber auch wegen ihrer humanitären Kampagnen gegen grausame „heidnische“ Praktiken. Eine typische Missionarshagiografie war die Lebensbeschreibung von C. T. Studd, dem Cricketspieler, der Missionar in China, später in Indien und in Belgisch-Kongo wurde. Sie war als Abenteuergeschichte geschrieben, ihre Kapitel trugen Titel wie „Unter Menschenfressern“, „Gefahren und Entbehrungen in China“ und „Eines Mannes Mann“.117 Ein besonderes Symbol fand die massenhafte Heranführung von Kindern an die Sache im „Missionarskästchen“, in das sie ihre übrigen Pfennige werfen konnten. Es gab aber auch immer jene, die – wie Charles Dickens (1812–1870), Großbritanniens populärster Schriftsteller – über die Mission spotteten und sie als Ablenkung von wichtigeren Aufgaben zu Hause sahen. Indessen, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, gab es Anzeichen, dass das Christentum vor einem großen Erwachen in Indien, China und Teilen von Afrika stehen könnte. Die Nachrichten berichteten – zumindest aus China (und mit mehr Nachdruck aus Korea) – von christlichem Wachstum, und die Chinesische Revolution von 1911/12 sah aus wie der Beginn einer neuen und hoffnungsvolleren Ära. Weniger offensichtlich als das eindrucksvolle Wachstum ihrer Religion in Korea, in den niedrigen Kasten Indiens, in Uganda oder entlang der Küsten Westafrikas war für europäische Christen die Tatsache, dass die Begegnung mit dem Westen auch zum Wiederaufleben der eigenen indigenen religiösen Traditionen führen konnte und darüber hinaus auch zu einem Interesse an anderen Aspekten der europäischen Kultur, etwa dem Rationalismus und Marxismus. Doch der Fluss der religiösen Ideen konnte auch in entgegengesetzter Richtung fließen. Madame Blavatsky (1831–1891), die Begründerin der Theosophie, war die erste westliche Religionsführerin, die ihre Inspiration aus Indien bezog, und beim „Ersten Parlament der Weltreligionen“ in Chicago im Jahr 1893 war der Hindu Vivekananda (1863– 1902) der Star. Doch dies waren nur die Anfänge einer Entwicklung, die im späten 20. Jahrhundert noch sehr viel weiter ging.

117 Grubb, Norman, C.T.Studd. Cricketer and Pioneer, London 1933.

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6.2. Die neue Vielfalt Diese zunehmende Neugier auf „fremde“ Religionen war nur ein Aspekt der wachsenden Vielzahl von Weltanschauungen im ausgehenden 19. Jahrhundert, die weit über die altbekannten Gegensätze zwischen Christen und Juden, zwischen konkurrierenden Versionen des Christentums und zwischen Gläubigen und Freidenkern hinausreichten. Der Kontext war eine zunehmende Vielfalt von Glaubensweisen. Unter den neuen Strömungen war der Spiritismus am populärsten. Er zog Anhänger aus allen gesellschaftlichen Schichten an. Meist waren es Frauen, die in der Rolle eines Mediums auftraten; in Arbeitervierteln waren sie keine Seltenheit. Gleichwohl suchten hochgebildete Männer und Frauen, unter ihnen manche Wissenschaftler, in der Parapsychologie einen „dritten Weg“ zwischen dem Dogmatismus der religiösen Rechtgläubigkeit und der etablierten Wissenschaft. Thomas Nipperdey bezeichnete die Jahre um 1900 in Deutschland als Zeit der „vagierenden Religiosität“118, die von voll ausgebildeten Glaubensbekenntnissen, wie etwa der Anthroposophie, bis zum Kult um Goethe und anderen Helden der Literatur und Musik reichen konnte. Zudem gab es die „Religionen der Humanität“, deren größte – der Sozialismus – dann im 20. Jahrhundert zu voller Blüte kam. Nicht zu vergessen schließlich die Propheten der Religionen von Kunst, Musik und Sex. Diese Vielfalt der Glaubensformen schlug sich auch nieder im sehr heterogenen Wesen der Bücher über Religion, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beim gebildeten Publikum weite Verbreitung fanden. Drei herausragende Beispiele waren Das Leben Jesu von Ernest Renan (1823–1892), Die Welträtsel (1899) von Ernst Haeckel (1834–1919) und Die Vielfalt religiöser Erfahrung (1902) von William James (1842–1910). Renan, Orientalist und ehemaliger Seminarist, war 1862 nach seiner Antrittsvorlesung vom Erziehungsminister seines Postens enthoben worden, weil er darin die Göttlichkeit Jesu implizit in Frage gestellt hatte. Das sicherte ihm die höchste Aufmerksamkeit für sein Leben Jesu, das er im Jahr darauf veröffentlichte. In diesem Buch entwickelte er seine Ideen umfassender und detaillierter; er legte den Schwerpunkt nicht auf Jesus als Sohn Gottes, sondern als ein unvergleichliches Genie, als den Gründer der wahrsten und schönsten aller Weltreligionen. Diese Argumentation dürfte wahrscheinlich liberale Christen und Sympathisanten sehr angesprochen haben. Doch erst die unaufhörlichen Angriffe von Katholiken und konservativen Zeitungen sowie die zahlreichen Pamphlete, die katholische Priester verfassten, um Renans Anschauungen zurückzuweisen, machten ihn zum Helden für Liberale aller Art und viele Freidenker, die unter anderen Umständen ein so wohlwollendes Porträt Jesu und des „wahren“ Christentums (im Gegensatz zum ultramontanen Katholizismus jener Zeit, den Renan als Perversion ansah)

118 Nipperdey, Thomas, Religion im Umbruch, Deutschland 1870–1914, München 1987.

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eher nicht goutiert hätten. In den „Kulturkriegen“ der Dritten Republik wurde Renan zu einer Symbolfigur, die sich allerdings nicht ganz mit seinen wirklichen Absichten deckte. Seine symbolische Bedeutung fand ihren Ausdruck einerseits in einem vom Premierminister enthüllten Standbild in seiner Heimatstadt Tréguier und andererseits in der sich anschließenden Errichtung eines ausladenden Sühnekreuzes durch Katholiken des Ortes mit der Inschrift „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“.119 Der Reiz von Haeckels Buch lag in der Tatsache, dass er darin eine neue, alles umfassende Weltsicht entworfen hatte, die er Monismus nannte. Der Zoologe aus Jena war in Deutschland einer von Darwins frühesten Verteidigern gewesen, und in seiner Generellen Morphologie der Organismen (1866) vertrat er bereits die Ansicht, dass Darwins Theorie der natürlichen Auslese als wissenschaftliche Meta-Theorie fungieren könne, die ein „System des Monismus“ möglich mache auf der Grundlage der „Einheit der Natur“ und der „Einheit der Wissenschaft“.120 Sein Buch enthielt sowohl eine Kritik der zentralen christlichen Begriffe als auch eine Alternative. Diese Alternative setzte den Materialismus voraus und kombinierte den Glauben an die Macht der Wissenschaft, die menschlichen Probleme lösen zu können, mit den ästhetischen Idealen der deutschen Klassiker, insbesondere Goethes, sowie mit der Ehrfurcht vor dem Leben, mit Kants ethischen Prinzipien und mit einer Proklamation der menschlichen Autonomie.121 1906 gründete Haeckel den Deutschen Monistenbund mit einer kleinen, aber einflussreichen Mitgliederriege, zu der Akademiker sowie prominente Feministinnen und Pazifisten gehörten. Gewiss, da gab es eine Kluft zwischen jenen wie Haeckel selbst, dessen Ziele in erster Linie konstruktiv waren und der in der Tat der Gründer einer neuen Religion war, und anderen, denen es vor allem darum ging, die Kirchen zu attackieren. Haeckels Buch erreichte in Deutschland eine Auflage von über 300.000 Exemplaren und wurde in viele Sprachen übersetzt, aber viele religiös Suchende sahen im Monismus keine befriedigende Weltanschauung. Manche von ihnen fanden das Buch des Psychologen und pragmatischen Philosophen der Harvard-Universität, William James, inspirierender. Dessen umfangreicher Hauptteil bestand aus Berichten von religiösen Erfahrungen aus allen Phasen der christlichen Geschichte sowie einigen aus anderen religiösen Traditionen und zeitgenössischen Bewegungen wie der Christian Science („Christliche Wissenschaft“). James’ Buch sprach die große Gruppe unter seinen Zeitgenossen an, die gegenüber dem organisierten Christentum kritisch eingestellt waren, aber das übliche wissenschaftliche Denken der Zeit ebenso kritisch beäugten, denn ihrem Gefühl nach ignorierte es die vielen Aspekte der menschlichen Erfahrung, für die sie keine überzeugende wissenschaft-

119 Priest, Robert D., The Gospel According to Renan. Reading, Writing, and Religion in Nineteenth-Century France, Oxford 2014, 218–228. 120 Weir, Secularism, 67. 121 Hölscher, Frömmigkeit, 367.

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liche Erklärung gefunden hatten. Solche Menschen interessierten sich manchmal für den Spiritismus oder für Parapsychologie. In James sahen sie einen Wissenschaftler, der ihre Anliegen ernst nahm. Auch viele zeitgenössische Christen glaubten, dass die zahlreichen Berichte von Begegnungen mit einer unsichtbaren Welt, die Menschen in verschiedenen Ländern, verschiedenen historischen Epochen und in verschiedenen Glaubenstraditionen gemacht hatten und die James einfühlsam analysierte, solides Beweismaterial seien, welches man den Behauptungen der materialistischen Wissenschaft entgegensetzen konnte. Aber noch bedeutsamer war das Interesse der liberalen Gläubigen, die, wie James selbst, weniger an Dogmen oder konfessionellen Grenzziehungen interessiert waren als an Erfahrungen und am praktischen Leben aus dem Glauben heraus. Darin war James in Einklang mit jenen christlichen Autoren seiner Zeit, die ein starkes Interesse an der Mystik hatten. So schrieb etwa W. R. Inge (1860–1954), der spätere Dekan der St Paul’s Cathedral in London, in seinem Buch Christian Mysticism (1899): „Da die alten Stühle der Autorität, die unfehlbare Kirche und das unfehlbare Buch, heftig angegriffen werden“, müssten wir „in den Tiefen des religiösen Bewusstseins selbst“122 nach Rückhalt suchen. Unterdessen entstanden an den Universitäten neue Disziplinen wie Psychologie, Psychiatrie und Soziologie – mit potenziell weitreichenden Konsequenzen für Leben und Glauben. Die Entwicklung des Universitätssystems in den verschiedenen Ländern Europas im 19. und frühen 20. Jahrhundert erbrachte weitere Beispiele divergierender religiöser und politischer Einflüsse. Frankreich war auch auf diesem Feld der klarste Fall einer Säkularisierung von oben. Zwar war seit 1875 die Einrichtung katholischer Universitäten erlaubt, doch ab 1880 durften sie sich nicht mehr Universitäten nennen, und 1885 wurden alle theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten geschlossen. (In Italien war dies schon 1877 geschehen.) Viele der Hochschulen für Lehrerausbildung, die im späteren 19. Jahrhundert eingerichtet worden waren – die berühmteste war die École Normale Supérieure in Paris –, waren nicht nur explizit republikanisch, sondern auch stark vom Laizismus geprägt. Deutschland hingegen hatte ein System staatlicher Universitäten, das auch große und international angesehene Fakultäten für protestantische und katholische Theologie zuließ. England hatte ein dezentralisiertes System, zu dem auch die beiden historischen Universitäten von Oxford und Cambridge gehörten, wo der anglikanische Einfluss im 19. Jahrhundert noch sehr stark war und die meisten religiösen Zulassungsprüfungen erst 1871 abgeschafft wurden. Zum System gehörten aber auch eine Reihe von neueren Universitäten, die im 19. Jahrhundert von lokalen Initiativen eingerichtet wurden. Zwei davon (das University College Durham und das

122 Brown, Stewart J., Providence and Empire. Religion, Politics and Society in the United Kingdom, 1815–1914, Harlow 2008, 392.

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King’s College London) waren explizit anglikanisch, andere (vor allem das angeblich „gottlose“ University College London) waren streng überkonfessionell, was sie attraktiv machte für Dissenters, Juden und Nichtgläubige. Theologie als eigenständige akademische Disziplin wurde in Oxford und Cambridge erst in den 1870erJahren eingeführt; an manchen der neuen, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gegründeten Universitäten wurde sie überhaupt nicht gelehrt. Jedoch wurden viele der Lehrerausbildungsstätten konfessionell ausgerichtet von Kirchen betrieben. Das herausragende Beispiel für einen prinzipiellen Pluralismus war Belgien. Neben den religiös neutralen Staatsuniversitäten gab es dort die Katholische Universität Leuven (1835), die liberale Freie Universität Brüssel (1834), die zu einer Hochburg des Säkularismus wurde, und die sozialistisch ausgerichtete Neue Universität, die in den 1890er-Jahren von Säkularisten gegründet wurde, denen die Freie Universität zu gemäßigt war. Trotz der zahlreichen Unterschiede zwischen den Universitätssystemen der verschiedenen europäischen Länder haben zwei gegenläufige Tendenzen die nationalen Grenzen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert überschritten. Zum einen waren die Universitäten die bedeutendsten Orte für die Entwicklung heterodoxer Ideen. Friedrich Nietzsche (1844–1900) behauptete 1886 sogar in typischer Übertreibung, dass zu den religiös Gleichgültigen in Deutschland „die Überzahl der arbeitsamen Gelehrten und der ganze Universitäts-Zubehör“ gehöre – mit Ausnahme der Theologen, „deren Dasein und Möglichkeit daselbst dem Psychologen immer mehr und immer feinere Rätsel zu raten gibt“123. In Oxford, wo noch kurz zuvor die Kolleg-Mitglieder in ihrer Mehrheit anglikanische Geistliche waren und die hochkirchliche Tradition stark war, war eine polarisierte Atmosphäre entstanden, und man sagte, dass in den 1870er-Jahren ein großer Teil der ordentlichen Mitglieder „streitbare Agnostiker“ gewesen seien.124 Um 1900 hieß es, war der Agnostizismus „beinahe verpflichtend“ bei den „Aposteln“, einer exklusiven Diskussionsgruppe, die beanspruchte, die Elite der Cambridge-Studenten zu repräsentieren. Zu ihnen gehörten solche Berühmtheiten wie der Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) und der Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946).125 Religiöser Skeptizismus war besonders in den neueren Disziplinen wie Psychologie und Soziologie verbreitet, denn diese gaben vor, objektiv wissenschaftliche Antworten auf Fragen zu geben, für die sich bis dahin Theologen und Philosophen zuständig gefühlt hatten. 1916 untersuchte ein Psychologe die religiösen Überzeugungen amerikanischer Akademiker. Er gab zu, nicht unvoreingenommen an die Sache

123 Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Werke in drei Bänden., München 1955, Bd. II, 563–759, 618f. 124 Chadwick, Owen, The Victorian Church, 2 Bde., London 1966–1970, Bd. II, 444, 449. 125 Lubenow, William, The Cambridge Apostles 1820–1914. Liberalism, Imagination and Friendship in British Intellectual and Professional Life, Cambridge 1999, 406.

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6. Europa in einer globaler werdenden Welt

herangegangen zu sein, und fand, dass die Überzeugungen sich je nach der Disziplin, in der die Befragten arbeiteten, deutlich unterschieden. So neigten etwa Historiker eher zu religiösen Vorstellungen als Soziologen, und Physiker eher als Psychologen.126 Es gab auch nationale Unterschiede und gelegentlich rivalisierende Denkschulen, die bestimmten Universitäten zuzuordnen waren. Beispielsweise standen die medizinische Fakultät von Montpellier, an der viele Katholiken arbeiteten, und diejenige von Paris, die ein Bollwerk des Materialismus war, einander jahrelang als Rivalen gegenüber. Der führende Kopf in Paris war Jean-Martin Charcot. Ihm ging es laut Ruth Harris darum zu zeigen, dass „die Heiligen und Märtyrer vergangener Zeiten nichts anderes waren als Neurotiker, die heutzutage von Leuten wie ihm behandelt werden könnten“127. Denn, so glaubte Charcot, „die Wissenschaft hat immer das letzte Wort in allen Dingen“128. Ob nun die Wissenschaft immer so klar und maßgeblich sprach oder nicht – jedenfalls waren viele Zeitgenossen ganz eindeutig dieser Ansicht. Zugleich aber gab es an vielen Universitäten ein sehr reges religiöses Leben. Als 1884 eine Gruppe von Sportlern der Universität Cambridge („The Cambridge Seven“) sich unter der Führung von C. T. Studd dazu entschloss, als Missionare nach China zu gehen, reisten sie vor ihrem Aufbruch durch das ganze Land und sprachen in brechend vollen Versammlungen an Universitäten, zogen, wie behauptet wurde, in Edinburgh 2000 Menschen an und in Cambridge 1200. Tatsächlich bestand das Interesse an der Mission an britischen Universitäten schon länger. Nicht nur die Arbeit in Übersee zählte dazu, sondern auch die Missionen und „Siedlungen“ in ärmeren Bezirken der Großstädte, etwa die Cambridge University Mission, die 1907 in den Hafenanlagen von Südlondon gegründet, oder das High Church Oxford House, das 1884 im Londoner East End errichtet wurde. Außerdem gab es blühende christliche Gruppierungen an britischen Universitäten wie beispielsweise die konservativ-evangelikale Inter-Varsity Fellowship und das eher liberale Student Christian Movement. Die britischen und besonders die amerikanischen christlichen Studentenbewegungen schufen die Ausgangsbasis für eine Reihe von internationalen Organisationen, u. a. für die World Student Christian Fellowship, die einen wegweisenden Einfluss auf viele hatte, die in der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts zu herausragenden Persönlichkeiten wurden. Auch in Frankreich, wo im früheren 19. Jahrhundert Studenten in antiklerikalen Demonstrationen hervorgetreten waren, fanden sich unter Studenten mittlerweile wichtige Akteure der Katholischen Erneuerung („Renouveau catholique“), die seit den 1890er-Jahren von sich reden machte und ihren Zenit in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg erreichte. In einer späteren Szene in Roger Martin

126 Leuba, James H., The Belief in God and Immortality. A Psychological, Anthropological and Statistical Study, Chicago 1921. 127 Harris, Ruth, Lourdes. Body and Spirit in the Secular Age, London 1999, 327. 128 Guillaume, Pierre, Médecins, Église et foi. XIXe–XXe siècles, Paris 1990, 68.

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du Gards Roman Jean Barois, die um 1910 spielt, erlebt der alternde Held eine Schimpftirade zweier konservativ-nationalistischer katholischer Studenten. Barois, der allmählich an den republikanischen und freidenkerischen Prinzipien zu zweifeln beginnt, die er die meiste Zeit seines Lebens hochhielt, sieht seine schlimmsten Befürchtungen wahr werden, als die jungen Männer behaupten, die gegenwärtige Studentengeneration sei überwiegend katholisch. Das vorangegangene Vierteljahrhundert über waren die katholischen Jugendorganisationen massiv gewachsen, ganz gleich, ob es sich dabei um katholische Sportvereine oder um Gruppen allgemeinerer Art handelte. Sie hatten einen gewissen Erfolg darin, die Kirche für junge Arbeiter attraktiv zu machen, aber noch erfolgreicher waren sie bei den Studenten. An der sprichwörtlich antiklerikalen École Normale Supérieure hörte man, dass zu Ostern 1914 ein Drittel aller Studenten an Exerzitien teilnahm, die der katholische Universitätsseelsorger organisiert hatte. Das ebenso schnelle Wachstum des viel kleineren protestantischen Studentenbunds im selben Zeitraum spiegelte den allgemeinen Anstieg des religiösen Interesses im studentischen Milieu.129 Daran zeigte sich u. a. ein Wandel im französischen intellektuellen Klima seit ungefähr 1890. Einige bekannte Schriftsteller konvertierten um 1895 zum Katholizismus, und nach 1905 kam es noch zu einer größeren Welle von Übertritten. Zu den charakteristischen Themen dieser Konversionen gehörten u. a. die Grenzen der Wissenschaften, denen man den Ausschluss wichtiger Bereiche der menschlichen Erfahrung vorwarf; der naive Optimismus der Positivisten, demgegenüber der Katholizismus mit seiner Anerkennung der menschlichen Sündigkeit als realistischer galt; die Behauptung, der Katholizismus sei eine solidere Basis für die Moral als der Positivismus; sowie die Wertschätzung der zentralen Rolle des Katholizismus in der französischen Geschichte und Kultur. Der berühmteste dieser Konvertiten, der Dichter Charles Péguy (1871–1914), war ein typischer Vertreter dieser Bewegung, da er seiner Konversion sogleich die Übernahme eines romantischen Nationalismus mitsamt dem Kult um Jeanne d’Arc folgen ließ.

7. Fazit Im frühen 20. Jahrhundert war die Karte des katholischen und protestantischen Europa gekennzeichnet von einem hohen Grad an Vielfalt. Zu den seit Langem bestehenden Unterschieden zwischen einem hauptsächlich protestantischen Norden und einem weitgehend katholischen Süden Europas waren große Unterschiede

129 Cholvy, Gérard/Hilaire, Yves-Marie, Histoire religieuse de la France contemporaine 1880–1930, Toulouse 1986, 162.

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7. Fazit

zwischen einzelnen europäischen Ländern hinzugekommen, die das Ausmaß der Säkularisierung und des protestantischen Auszugs aus den Nationalkirchen zugunsten neuer andersdenkender Bewegungen betrafen. Und auch innerhalb der einzelnen Länder lassen sich sehr große Abweichungen feststellen. Am weitesten waren die neuen protestantischen Konfessionen in Wales gediehen; zuweilen wurde das Land im 19. Jahrhundert als Nation von Nonkonformisten betrachtet. Seit ungefähr 1800 erlebten dort unabhängige und calvinistische Methodisten und in geringerem Maße auch die Wesleyaner ein enormes Wachstum; sie wurden zu einer beherrschenden kulturellen und politischen Kraft sowohl im ländlichen Norden und Westen als auch im industriellen Süden. Ähnliche Prozesse gab es vor allem in Schottland; etwas weniger intensiv verlief es in England, Irland, in der Schweiz, den Niederlanden und Schweden. Nur in Dänemark, Norwegen, Finnland und in den deutschen Staaten blieb die große Mehrheit der Protestanten weiterhin in der lutherischen oder reformierten Kirche. In traditionell katholischen Ländern blieb die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zumindest nominell katholisch, und die Opposition bestand hauptsächlich aus Antiklerikalen und Freidenkern. Am wenigsten Erfolg hatten Letztere in Irland, wo im vorherrschend katholischen Süden und Westen die religiöse Praxis im 19. Jahrhundert im Wachsen begriffen war. Um 1900 war die meisten Iren regelmäßige Kirchgänger, und der katholische Klerus genoss unvergleichliches Ansehen und großen Einfluss. Im überwiegend protestantischen Nordosten war der Einfluss der Kirchen eher diffus, geteilt wie die Menschen zwischen Presbyterianern, Anglikanern und Methodisten sowie einer beträchtlichen Minderheit von Katholiken. Dennoch war der Evangelikalismus eine allgegenwärtige Kraft, und die Erinnerungen an die große Erweckung von 1859 blieben bei vielen über Jahrzehnte lebendig. Die Säkularisierung war in Frankreich am weitesten fortgeschritten. Doch am eklatantesten war die Kluft zwischen den „zwei Frankreich“. Die regionalen Unterschiede waren dramatisch, besonders bei der religiösen Praxis auf dem Land – in den Städten waren die Unterschiede weniger extrem. Die zugegebenermaßen groben statistischen Daten machen das sehr deutlich. Der Tiefpunkt dürfte im Bezirk St-Sulpice des Champs im Département Creuse erreicht worden sein, wo 1897 fünf Prozent aller Frauen und weniger als ein Prozent der Männer die Osterkommunion empfingen. Am anderen Ende des Spektrums gab es viele Gegenden im Elsass, in der Bretagne und im Zentralmassiv, wo das Niveau der religiösen Praxis so hoch war wie in Irland.130 Frankreich war nur ein Extremfall eines Musters, das ebenso auch in anderen überwiegend katholischen Ländern zu finden war, wo gegen Ende des 19. Jahrhunderts der starken Kirchenverbundenheit in bestimmten Regionen ein beträchtliches Maß an Distanz in anderen Regionen gegenüberstand. In Spanien beispielsweise fiel bereits in den 1860er-Jahren ein scharfer Kontrast ins Auge

130 Gibson, French Catholicism, 174–179.

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zwischen dem zutiefst katholischen Norden und einem relativ „entchristlichten“ Süden, wo eine „nahezu universale Entfremdung“ der armen Landarbeiter auf den großen Gütern das Bild bestimmte.131 Natürlich gab es außerdem große Unterschiede in der religiösen Praxis zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten in Frankreich und in anderen Ländern, aber genauere Daten darüber haben wir erst seit den sehr detaillierten Befragungen aus den 1950er und 1960er Jahren. Dabei kam heraus, dass 51 Prozent der oberen Mittelschicht und sechs Prozent aus der Arbeiterklasse in Lille regemäßige Kirchgänger waren; in Bordeaux waren es 32 und 3 Prozent. Lannon zeigt ähnliche Gegensätze in Spanien.132 Unabhängig davon, ob die einflussreichen Theorien der amerikanischen Soziologen Norris und Inglehart133, die Religiosität als Reaktion auf wirtschaftliche Not verstehen, heute Gültigkeit haben oder nicht – sie helfen uns nicht, die Situation im 19. Jahrhundert oder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. In religiös gemischten Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden neigten die Katholiken dazu, regelmäßiger zur Kirche zu gehen als die Protestanten. 1881 hielt ein protestantischer Geistlicher fest, dass Berlin von Ausländern als „die unkirchlichste Stadt der Welt“134 angesehen werde. Doch in Westfalen und im Rheinland umfasste das „katholische Milieu“ sowohl große Teile der Arbeiterklasse als auch der Mittelschicht.135 Dafür gab es zahlreiche Gründe, worunter es nicht am leichtesten wog, dass die Katholische Kirche das Versäumen der Messe ohne triftigen Grund als Todsünde betrachtete. Selbst in den frömmsten protestantischen Regionen Europas, wie etwa in Wales, Nordostirland oder im sogenannten holländischen „Bibelgürtel“, der sich vom Südwesten bis zum Nordosten quer durch das Land zog, war die religiöse Praxis selten so intensiv wie in den frömmsten katholischen Gegenden. Darüber hinaus strebte kein protestantischer Geistlicher nach einer solchen Autorität, wie sie der katholische Klerus in den frömmeren Gemeinden verkörperte. Trotzdem konnte in Gegenden wie Westwales der gesellschaftliche Druck dieselbe Konformität erzeugen, wie sie die calvinistischen Glaubens- und Verhaltensnormen vorsahen. Demgegenüber reichten zwar nur wenige oder überhaupt keine Gegenden im protestantischen Europa an den leidenschaftlichen oder gar obsessiven Antiklerikalismus heran, den man in Teilen von Frankreich, Spanien und Italien fand, doch natürlich gab es protestantische Ge-

131 Callahan, Church and Society, 245. 132 Boulard, Fernand/Rémy, Jean, Pratique religieuse et régions culturelles, Paris 1968, 122– 138; Lannon, Church in Spain, 17f. 133 Norris, Pippa/Inglehart, Ronald, Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge, MA 2004. 134 Zit.nach von Loebell, Georg, Zur Geschichte der evangelischen Kirchengemeinden Berlins während der Jahre 1875–1908, Berlin 1909, 11.Vgl. auch McLeod, Piety and Poverty, 6. 135 Liedhegener, Antonius, Christentum und Urbanisierung. Katholiken und Protestanten in Münster und Bochum 1830–1933, Paderborn 1997.

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7. Fazit

meinden, die in ihrer großen Mehrheit kaum Kontakt zur Kirche pflegten. Das war so in vielen Gegenden Deutschlands, aber auch in Teilen Schwedens und der Niederlande. Die Niederlande waren das erste europäische Land, in dem ein nicht unerheblicher Teil der Menschen bei der Volkszählung angab, keiner Religion anzugehören – und zwar ausschließlich in traditionell protestantischen Regionen, einschließlich der ländlichen Bezirke von Friesland und Groningen sowie der Industriegebiete nördlich von Amsterdam. In Norddeutschland verließen relativ wenige Menschen die Kirche – wofür ein formeller Akt erforderlich war –, doch der Anteil der Abendmahlsteilnehmer an der Kirchenmitgliedschaft lag oft unter zehn Prozent. Das galt sowohl für ländliche Gebiete wie das Jeverland als auch für Großstädte wie Bremen oder Hamburg.136 Angesichts dieser großen Bandbreite religiöser Überzeugungen und Gepflogenheiten kann man in Europa am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr von einer „Christenheit“ im frühmodernen oder mittelalterlichen Sinn sprechen. Doch stimmten bis in die 1960er-Jahre hinein die meisten Europäer der Aussage zu, dass sie in einem „christlichen Land“ lebten – ob sie das nun mochten oder nicht. Dieses Christentum machte sich auf vielerlei Weise bemerkbar. Trotz der Ausbreitung des Unglaubens sowie neuer Arten des Glaubens kamen die Kirchen überall im gesellschaftlichen Leben vor, und die Kinder und Jugendlichen wurden als Mitglieder einer christlichen Gesellschaft sozialisiert. Noch 1961 gaben in einer studentischen Erhebung an der Universität Sheffield in Nordengland nicht weniger als 94 Prozent an, dass sie eine religiöse Erziehung gehabt hätten.137 Die Rolle der Religion bei der Sozialisation kann verdeutlicht werden am Beispiel eines typisch britischen Kindes, das im späteren 19. Jahrhundert geboren wurde.138 Trotz nationaler Unterschiede und verschiedener Klassenzugehörigkeiten und Konfessionen in den einzelnen Ländern ließen sich in den meisten Gegenden Europas Parallelen zu diesem Beispiel ausmachen.139 Das Kind wurde in den ersten Wochen seines Lebens getauft, lernte im Alter von drei oder vier Jahren Gebete, besuchte mit fünf eine konfessionell ausgerichtete Sonntagsschule und besuchte dann eine Schule, in der Religion eine Rolle spielte – und oft eine größere Rolle. In vielen Heimen waren die Wände mit religiösen Bildern, Symbolen oder Texten geschmückt, und wahrscheinlich besaßen die meisten Haushalte eine Familienbibel. In der Sonntagsschule, aber oft auch an der regulären Schule lernte das Kind, Kirchenlieder zu singen und einer spezifischen religiösen Konfession

136 Hölscher, Lucian, Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland, 4 Bde., Berlin 2001. 137 Bebbington, David, The Secularization of British Universities since the mid-Nineteenth Century, in: Marsden, George/Longfield, Bradley (Hrsg.), The Secularization of the Academy, New York 1992, 268. 138 McLeod, England 1850–1914, 77–88. 139 Hölscher, Frömmigkeit, 281–298.

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anzugehören. Der Besuch der Sonntagsschule und die Mitgliedschaft in einem kirchlichen Verband konnten es auch erleichtern, einmal eine Arbeit zu finden. Die ausgiebige religiöse Sozialisation, die viele Europäer in diesem Zeitraum empfingen, machte sie nicht unbedingt zu Gläubigen. Aber es machte ihnen die örtliche Form des Christentums als eine Art der Orthodoxie bekannt, der gegenüber sie sich selbst erklären mussten – entweder indem sie sie annahmen, ablehnten oder eine Art Kompromiss für sich fanden. Die Memoiren von Menschen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert aufwuchsen, enthalten oft umfangreiche Berichte von ihren religiösen Kämpfen. Ein typisches Beispiel dafür ist der spätere Griechisch-Professor an der Universität Oxford, Eric R. Dodds. Geboren 1891 in einer irisch-protestantischen Familie, gab er in seiner Autobiografie einen detailgenauen Bericht von den Stufen, die ihn zu einem Atheisten machten. Er erzählt auch von seiner Scham, während einer schwierigen Kletter-Expedition gebetet zu heben, und von dem verheerenden Schaden, den er der Beziehung zu seiner Verlobten zufügte, als er versuchte, ihren katholischen Glauben zu untergraben. In seiner Jugend sah Dodds den Verlust seines Glaubens als eine Befreiung; im Alter aber erschien er ihm als echter Verlust.140 Das Gegenbeispiel dazu ist die weitgreifende Bewegung französischer Intellektueller in den Jahren 1885 bis 1935, die zum Katholizismus konvertierten. Sie wurde ausführlich in Memoiren, Tagebüchern und Zeitschriftenartikeln beschrieben. Typischerweise wurden diese Konvertiten von einer gläubigen Mutter aufgezogen und wuchsen als fromme Kinder heran. Als Halbwüchsige rebellierten sie, wurden im späteren Teenageralter bis in ihre frühen Zwanzigerjahre überzeugte Atheisten, bis sie schließlich als Erwachsene den katholischen Glauben wiederentdeckten. Ob sie nun aber wie Dodds den Glauben zurückwiesen oder wie Claudel, Péguy oder Rouault den Atheismus ablehnten – sie alle glaubten, dass jeder Einzelne über die Wahrheit oder Falschheit der christlichen Religion befinden müsse und dass es äußerst wichtig sei, die richtige Antwort zu finden. Dass die Kirchen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert überall im gesellschaftlichen Leben präsent waren, war zum Teil ein Erbe aus Zeiten des Ancien Régime, zum Teil aber auch ein Ergebnis neuerer Initiativen. Oft wurde die Präsenz der Kirchen scharf bekämpft, und das zeigt, dass die Kirchen von ihren Gegnern als gefährliche Mächte angesehen wurden. Die Geistlichen standen weiterhin im Fokus der Öffentlichkeit, besonders in ländlichen Gebieten, aber auch in den Kleinstädten. Ihr Auftreten war autoritativ, oft auch autoritär. Sie waren es gewohnt, Einfluss auszuüben, und oft hatten sie enge Verbindungen mit anderen mächtigen Personen. Die Macht der Geistlichen drückte sich in diesem Zeitraum in verschiedenen Formen aus. Zuerst einmal kontrollierten sie wichtige Einrichtungen wie Schulen

140 Dodds, Eric R., Missing Persons. An Autobiography, London 1977.

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7. Fazit

oder Fürsorgeorganisationen – oder sie übten erheblichen Einfluss auf diese Einrichtungen aus. Wie erwähnt war die Rolle der Kirchen an den Schulen eine zentrale Frage in dieser Zeit, und die Antworten darauf waren von Land zu Land sehr unterschiedlich. Aber selbst in Frankreich mit seinem stark zentralisierten säkularen System unterrichteten katholische Institute weiterhin eine nicht unerhebliche Minderheit von Kindern. Trotz des Wachstums der Fürsorgeleistungen nationaler und lokaler Regierungen – ob nun im Rahmen eines säkularen Programms wie in Frankreich oder mit der aktiven Unterstützung vieler Kirchen wie in England141 – spielte auch die kirchliche Fürsorge in den meisten Ländern weiterhin eine wichtige Rolle. Zum einen deshalb, weil die Kirchen aktiv nach den Lücken in der staatlichen Versorgung Ausschau hielten und diese besetzten, zum anderen, weil säkularistische Politiker manchmal aus pragmatischen Gründen gezwungen waren, die Fortsetzung kirchlicher Tätigkeiten auf diesem Feld zu akzeptieren. So wollten etwa die deutschen Sozialdemokraten 1919 als größte Fraktion im Reichstag eigentlich ein komplett staatlich kontrolliertes Fürsorgesystem aufbauen, doch sie mussten einsehen, dass der Staat nicht genügend Mittel besaß, um die ganze Arbeit, die die Kirchen leisteten, in Eigenregie zu übernehmen. Zweitens übte sich die Geistlichkeit aktiv im Patronagesystem: Es gab viele Arbeitsplätze, bei denen es für den Bewerber günstig sein konnte, wenn ein Geistlicher sich für ihn einsetzte. Drittens besaßen die Kirchen auch noch die Macht der Kanzel, die Kontrolle über die Sakramente und (im Fall der Katholischen Kirche) über den Beichtstuhl. Diese Macht konnte unterschiedlich ausfallen: sehr groß im Fall eines respektierten Pastors in einer kirchenbesuchsfreudigen Gemeinde, aber viel geringer in einer Hochburg des Antiklerikalismus oder im Falle eines Geistlichen, der seine Gemeindeglieder verstimmt hatte. Jedenfalls sollte die Macht der Kanzel auf keinen Fall unterschätzt werden, selbst in einer Großstadt mit vielen verschiedenen Religionsgemeinschaften und zahlreichen Nicht-Kirchgängern. Denn die Presse sah in den Kirchen eine Nachrichtenquelle und verhalf den Äußerungen bekannter Prediger zu (wohlwollender oder kritischer) Publicity. In den mittleren Dekaden des 19. Jahrhunderts genossen Prediger wie der Dominikaner Henri Lacordaire (1802–1861) in Paris, der umstrittene Hofprediger Adolf Stoecker in Berlin oder der Baptist Charles Spurgeon (1834–1892) in London eindeutig Berühmtheitsstatus. Es hieß sogar, der Besuch eines Gottesdienstes in Spurgeons Metropolitan Tabernacle sei ein unverzichtbarer Teil eines Besuchs in der Hauptstadt. 1890 spielte eine Predigt des Methodistenführers Hugh Price Hughes (1847– 1902) in London eine entscheidende Rolle beim Sturz des irischen Nationalistenführers Charles Stuart Parnell. Und 1903 erbrachte eine Kirchenbesucherzählung der Daily News in London, dass im Verlauf der Zählung nicht weniger als 7000 Menschen den Congregationalist City Temple besucht hatten, um R. J. Campbell

141 Cox, Jeffrey, English Churches in a Secular Society. Lambeth 1870–1930, New York 1982.

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(1867–1956) zu hören, der für seine progressive politische Einstellung, aber mehr noch für seine ultraliberale Theologie bekannt war.142 Viertens schließlich vergrößerte die Kirche ihren Einfluss mittels neuer Organisationen, die das Ziel hatten, die Bindung der Gläubigen an ihre Gemeinden zu stärken und Randständige oder gänzlich Außenstehende anzuziehen. In Großbritannien verzeichneten die Jahre seit etwa 1880 ein enormes Wachstum von Jugendorganisationen, die von Kirchen oder anderen religiösen Einrichtungen finanziert wurden. Ein frühes Beispiel dafür war die 1883 in Glasgow gegründete Boys’ Brigade, die das Ziel hatte, „das Reich Christi unter Jungen voranzubringen und für Gehorsam, Ehrfurcht, Disziplin, Selbstrespekt und all das zu werben, was wahre christliche Männlichkeit fördert“143. Ihr Erfolg rief zahlreiche Nachahmer auf den Plan, u. a. die (anglikanische) Church Lads’ Brigade (1891), die Jewish Lads’ Brigade (1896), die Boys’ Life Brigade (1899), die von einem kongregationalistischen Pastor gegründet wurde, der die militärische Aufmachung der anderen Organisationen ablehnte, und schließlich die stark patriotischen Boy Scouts (1908). Die meisten Jugendorganisationen richteten sich speziell an Jungen, weil die Kirchen männliche Teenager für den problematischsten Teil der Bevölkerung hielten, einerseits wegen der Dinge, die viele von ihnen taten (kämpfen, Vandalismus), und andererseits wegen der Dinge, die viele von ihnen nicht taten (zur Kirche gehen). Doch es gab auch Organisationen für Mädchen wie etwa die Girls’ Friendly Society (1875) und die Girl Guides (1910). In Frankreich und Italien hatten katholischen Jugendgruppen um 1900 einen großen Anteil daran, das Fußballspiel populär zu machen – in Frankreich fürchteten Beamte der Dritten Republik sogar, dass Fußball die Geheimwaffe des Klerus sein könnte. Auf weniger greifbare Weise waren religiöse Identitäten eng mit anderen Arten von Identität verbunden, und diese konnten sich gegenseitig stützen. Zumindest bis in die 1960er-Jahre bedeutete Katholik, Protestant oder Jude zu sein – oder einer bestimmten protestantischen Konfession anzugehören – viel mehr, als bestimmte Doktrinen anzuerkennen und an einer speziellen Art von Gottesdienst teilzunehmen. Tatsächlich hatten viele Menschen eine stark ausgeprägte konfessionelle Identität, ohne deshalb an Fragen der Lehre sonderlich interessiert zu sein oder öfter zum Gottesdienst zu gehen. Viel wichtiger waren eine gemeinsame Geschichte und geteilte Werte – sie bestimmten mit, wie die Menschen sich selbst sahen und wie sie von anderen angesehen wurden. Und sie brachten ein Gefühl der Verbundenheit mit den Glaubensgenossen und der Möglichkeit des Konflikts mit Außenstehenden. Wie Nipperdey mit Blick auf Deutschland festhält, gab es

142 McLeod, Hugh, Class and Religion in the Late Victorian City, London 1974, 140. 143 Springhall, John, Building Character in the British Boy. The Attempt to Extend Christian Manliness to Working-Class Adolescents, in: Mangan, John/Walvin, James (Hrsg.), Manliness and Morality. Middle Class Masculinity in Britain and America 1800–1940, Manchester 1987, 52.

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7. Fazit

viele „protestantische Agnostiker“: „Weil man protestantisch geboren war, blieb man antikatholisch, und weil man antikatholisch war, fühlte man sich ‚protestantisch‘.“144 Doch wie fern sie ihrer eigenen Kirche auch immer waren, sie betrachteten die deutschen intellektuellen, kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen weiterhin als Errungenschaften des Protestantismus, und wie andere Protestanten gebrauchten sie das Wort „katholisch“, wenn sie etwas als dumm, absurd oder protzig bezeichnen wollten. In seiner Untersuchung der Wahlen zwischen 1871 und 1912 im Deutschen Reich kam Sperber zu dem Schluss, dass die konfessionellen Unterschiede „der Hauptfaktor bei der Aufteilung der deutschen Wählerschaft“ waren. Die Katholiken aus allen sozialen Schichten stimmten für die Zentrumspartei, die Protestanten verteilten ihre Stimmen (hauptsächlich nach Klassenzugehörigkeit) auf Konservative, Liberale und Sozialdemokraten. Doch die Protestanten waren bereit, ihr übliches klassenspezifisches Wahlverhalten beiseite zu lassen, wenn die Gefahr bestand, dass ein Katholik gewählt werden könnte. Wenn sie nur die Wahl zwischen „schwarz“ oder „rot“ hatten, erschien vielen Protestanten der Mittelschicht Letzteres als das kleinere Übel. Bei der schicksalhaften Wahl von 1925 wurde der Sieg des Kandidaten der Rechten, Hindenburg, der 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannte, deshalb möglich, weil die protestantischen Liberalen und Sozialdemokraten sich weigerten, für den Katholiken Wilhelm Marx, den Kandidaten der Mitte und der gemäßigten Linken, zu stimmen.145 Die Religion blieb auch ein wichtiger Aspekt der nationalen Identität. Sie hatte unvergleichliche Kraft, große Mengen von Menschen mit Liebe zu ihrem Herkunftsland zu versehen, aber sie konnte ebenso gut ein (absichtliches oder unabsichtliches) Mittel sein, andere aus der Gemeinschaft der Nation auszuschließen. In vielen der neuen Staaten, die im Gefolge des Ersten Weltkriegs gegründet wurden, wurde das besonders deutlich. So zeigt zum Beispiel Paul Hanebrink, „wie christliche Symbole das öffentliche Leben Ungarns zwischen den beiden Weltkriegen dominierten“. Die Idee eines „christlichen Ungarn“, die erstmals in den 1880er-Jahren auftauchte, wurde nach 1919 zu einem Gemeinplatz, der von Politikern und Kirchenführern endlos im Munde geführt wurde. Die Idee hatte einen gewissen Wert, wenn es darum ging, die vielen christlichen Konfessionen des Landes zu einen, auch wenn in Hanebrinks Augen die Realitäten der katholischen Hegemonie die Rhetorik ad absurdum führten. Außerdem hatte sie den Effekt, Juden und Kommunisten auszuschließen. Darüber hinaus beobachtet Hanebrink fortwährende Spannungen zwischen jenen Katholiken und Protestanten, die diesem „christlichen Ungarn“ einen stärker religiösen, moralischen und sozialen In-

144 Nipperdey, Umbruch, 153–155. 145 Sperber, Kaiser’s Voters, 281; Kittel, Manfred, Konfessioneller Konflikt und politische Kultur in der Weimarer Republik, in: Blaschke (Hrsg.), Konfessionen, 243–298, 282f.

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halt geben wollten, und jenen „säkularen Nationalisten“, die „sich selbst in den Mantel einer heiligen Mission hüllten, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen“.146 Währenddessen waren in der Tschechoslowakei die Katholiken zumindest anfangs Außenseiter, denn der Gründer der neuen Republik, Tomáš Masaryk, war ein säkularer Liberaler. Er hatte die „antipatriotische“ Katholische Kirche verlassen und gab der Bildung einer tschechoslowakischen Nationalkirche, die in der Nachfolge der authentisch „tschechischen“ hussitischen Tradition stehen sollte, seinen Segen. Mit der Teilung Irlands im Jahr 1921 übernahm die Katholische Kirche eine dominante Position im Leben des Irischen Freistaats – und viele Protestanten entschlossen sich, das Land zu verlassen. Nordirland blieb indessen im Vereinigten Königreich und erhielt, um seinen ersten Premierminister zu zitieren, „ein protestantisches Parlament für ein protestantisches Volk“147. Die europäischen Gesellschaften waren also zu Beginn des 20. Jahrhunderts religiös pluralistisch; doch selbst in jenen Gegenden, wo die Säkularisierung am weitesten fortgeschritten war, wie etwa in Norddeutschland, Böhmen und vielen Teilen Frankreichs, blieben die Kirchen sehr mächtige Institutionen mit einer weitreichenden sozialen und politischen Rolle. Die große Mehrzahl der Bevölkerung unterhielt weiterhin eine gewisse Verbindung zu diesen Kirchen, und sei es nur wegen der Gestaltung von Übergangsriten. Vielen Menschen hatte das 19. Jahrhundert eine intensivere Religiosität nahegebracht, ob in der Form evangelikaler Erweckungen, die in vielen Teilen der protestantischen Welt Massen von Anhängern gewannen, oder in der Gestalt des Ultramontanismus, der unter Katholiken so populär wurde. Es wäre ein Zerrbild der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, sie lediglich als Zeit unaufhaltsamer Säkularisierung zu sehen. Jedoch wäre es gleichermaßen wirklichkeitsfremd, die Bereiche zu übersehen, in denen entweder der Säkularismus oder eine eher unpersönliche Säkularität an Boden gewannen. Dafür möchte ich vier Beispiele anführen. Von diesen Beispielen ist der politische Bereich der wichtigste, denn die Politik betraf alle Teile der Bevölkerung, ob es ihnen gefiel oder nicht, und mit dem Aufkommen der Massenpolitik im späten 19. Jahrhundert wurden Mitglieder aller gesellschaftlichen Klassen in die Politik einbezogen. Die meisten liberalen Parteien mit ihrer hauptsächlich aus der Mittelschicht stammenden Anhängerschaft hatten ein Programm der Säkularisierung, auch wenn es immer wieder Unterschiede gab zwischen „Gemäßigten“ und eher kompromisslosen „Radikalen“. Gegen Ende des Jahrhunderts sprachen die sozialistischen Parteien große Teile der Arbeiterklasse mit ihrem Programm an. Dieses war nicht nur auf konsequentere Weise säkular, sondern

146 Hanebrink, Paul, Christianity, Nation, State. The Case of Christian Hungary, in: Berglund, Bruce/Porter-Szucs, Brian (Hrsg.), Christianity and Modernity in Eastern Europe, Budapest 2013, 61, 68. 147 Bew, Paul/Gibbon, Peter/Patterson, Henry, Northern Ireland 1921–1996. Political Forces and Social Classes, London 1996, 242.

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7. Fazit

nahm oft auch die Form einer „politischen Religion“ an, die alle anderen Religionen zu ersetzen beanspruchte. Zweitens wurde das Christentum auch von neuen Entwicklungen im intellektuellen Bereich in Frage gestellt. Diesen sollte man sich nicht völlig abseits der Politik vorstellen, denn oft bestimmten politische Faktoren, wie neue wissenschaftliche oder philosophische Ideen aufgenommen wurden, und sie bestimmten ebenso das allgemeine intellektuelle Klima der Zeit. Gleichwohl war es von großer Bedeutung, dass Universitäten, Zeitungen und Zeitschriften und manchmal auch Romane und Dramen im späten 19. Jahrhundert eine ungeheure Bandbreite neuer Ideen zugänglich machten, von denen viele eine Herausforderung für die bestehenden Lehren oder die Moral des Christentums darstellten – oder sogar für jede Art von Glauben. Drittens hatte das 19. Jahrhundert grundlegende Veränderungen im sozialen Bereich erlebt, die potenziell wichtige Konsequenzen für die Religion und für die Kirchen hatten. Die Probleme, die mit der rasanten Verstädterung einhergingen, sind schon diskutiert worden. Industrialisierung und Verstädterung schufen eine neue soziale Umwelt, auf die sich viele Kirchen nicht ausreichend einstellten. Den einen gelang es besser als den anderen, und die unterschiedlichen politischen Haltungen wie auch der religiöse Kontext machten hier viel aus. Dabei haben uns jene Spielarten der Modernisierungstheorie nicht geholfen, die davon ausgehen, dass diejenigen, die sich in der Nähe des Zentrums einer „modernen“ Wirtschaft befinden, notwendigerweise weniger religiös seien als die an der Peripherie, oder dass jene, die in der Landwirtschaft arbeiten, prädisponiert dafür seien, religiös zu sein, wohingegen Industriegesellschaften zur Säkularität neigten. Die in diesem Beitrag vorgelegten Daten und Befunde deuten eher darauf hin, dass die Menschen in den Zentren der Industriegesellschaften oft religiöser waren als die an den Rändern und dass das Ausmaß an Glauben oder Unglauben sowohl in den Industrie- als auch in den Agrarregionen von veränderlichen religiösen und politischen Faktoren abhing, u. a. auch von den Initiativen der Geistlichen oder religiös Engagierten. Viertens und letztens gab es im Bereich der Literatur der 1880er- und -90erJahre ein neues Leitmotiv. Mrs. Humphrey Ward bezog sich in ihrem Bestseller Robert Elsmere (1888), einem Roman über Glaube und Zweifel, auf „diese Sprache einer stolzen und unbeugsamen Individualität, dieses moderne Evangelium vom göttlichen Recht auf Selbstentwicklung“. Bernard Shaw (1856–1950), der führende britische Dramatiker seiner Zeit, schrieb 1891, dass die zeitgenössischen Angriffe auf den norwegischen Dramatiker Henrik Ibsen (1828–1906) ihren Grund darin hätten, dass dieser „im Trieb nach größerer Freiheit eine hinlängliche Basis sah zur Verwerfung jeder wie immer geheiligten, ihr widerstrebenden Gewohnheitspflicht“148. Shaw sah Ibsen als Teil einer internationalen Bewegung, zu der auch

148 Shaw, Bernard, Ein Ibsenbrevier. Die Quintessenz des Ibsenismus, Berlin 1908, 25.

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Die Revolutionen und die Kirche: Die neue Ära der Moderne

Strindberg, Nietzsche und vermutlich Shaw selbst gehörten. Zur gleichen Zeit proklamierte ein weniger berühmter britischer Autor, Grant Allen, einen „neuen Hedonismus“. Er sah eine Menschheit voraus, die „gesund an Geist und Körper“, „gebildet“, „emanzipiert“, „frei“ und „schön“ sei. Seine Gegner nannte er „Asketen“. Als wesentliches Schlachtfeld zwischen den Orthodoxien seiner Zeit und seinem neuen Evangelium sah er die Sexualmoral.149 Im 20. Jahrhundert wurden solche Ideen alsdann zu einem Hauptthema der europäischen Literatur. Doch erst in den 1960er-Jahren waren die gesellschaftlichen Bedingungen für ihre breite Akzeptanz gegeben. Übersetzung: Norbert Reck

149 McLeod, Class and Religion, 240, 254.

158

Madrid

Ceuta (span.)

Gibraltar (engl.)

Sevilla

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Barcelona

Marseille

Algier

KG R . HANNOVER

Hamburg

Tunis

Sardinien

Ofen

Breslau

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Tarent

Sarajewo

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Sizilien

Belgrad

Moldau

Bulgarien

Walachei

Siebenbürgen

Griechenland

Athen

D n je p r

Smyrna

Konstantinopel

Schwarzes Meer

KAISERREICH RUSSLAND

Kiew

Preußen Habsburger Reich Frankreich Grenze des deutschen Bundes 1815

OSMANISCHES REICH

Serbien

u

Kgr. Ungarn

Pest

ÖSTERREICH

Krakau

Bosnien

Adria

Wilna

Warschau

KG R . POLEN

We ich sel

Königsberg

Tilsit

KGR. BEIDER SIZILIEN

Neapel

Palermo

Rom

KI R C H E N STAAT

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Tirol

Toskana

Elba Korsika Ajaccio

Toulon

Genua

KG R . SARDINIEN

Basel SCHWEIZ

Straßburg

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Prag

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Berlin

KGR. PREUSSEN

Ostsee

Böhmen Mähren KG R . KG R . B A Y E R N KAISERTUM WÜRTTEMWien BERG München

Frankfurt

Düsseldorf

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Mittelmeer

Balearen

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KGR. FRANKREICH

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Paris

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Fontainebleau

Boulogne

Toulouse

Bordeaux

Nantes

KGR. SPANIEN

KGR. PORTUGAL

Atlantischer Ozean

Der Kanal

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Lissabon

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Nordsee

Kopenhagen

KGR. KGR. Memel DÄNEMARK SCHWEDEN

KGR. DER VEREINIGTES VEREINIGTEN K G R . G R O S S B R I T A N N I E N NIEDERLANDE UND IRLAND Amsterdam

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Europa nach dem Wiener Kongress

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160 Rhô

Europa nach dem Wiener Kongress 1815.

Eb

KATHOLIZISMUS, EUROPÄISCHER ULTRAMONTANISMUS UND DAS ERSTE VATIKANISCHE KONZIL Andreas Holzem

1. Déchristianisation und Gewalt: Die Französische Revolution als Ur-Ereignis der europäischen Christentumsgeschichte Die Französische Revolution ist ein zentraler Schlüssel zum Verständnis der Christentumsgeschichte der Neuzeit.1 Ihrer positiven Wirkung für das Entstehen einer demokratischen politischen Kultur in Europa steht die traumatisierende Wirkung unvermittelt gegenüber, welche sie in den Christentümern, insbesondere im Katholizismus des „langen“ 19. Jahrhunderts zwischen 1789 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 hinterließ.2 Noch die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil war ein Nachhall der mit der Revolution verbundenen Kirchen- und Kulturkämpfe.3 Das zutiefst umstrittene und darum dauerhaft fragile Verhältnis von legitimer Staatlichkeit, nationaler Gesellschaft und Christentum blieb als Erbe der Revolution ein sensibler Störfaktor politischer und kultureller Stabilität – insbesondere in Frankreich selbst, aber ebenso in Deutschland und Italien. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war Frankreich – auch gegenüber dem aufstrebenden Preußen – die politisch, militärisch, vor allem aber auch kulturell führende europäische Macht. Indem die Französische Revolution in dieser mächtigen und bevölkerungsreichen Monarchie, deren Sprache und Kultur für die Sozial- und Bildungseliten der europäischen Länder seit fast einhundert Jahren den bindenden Kanon bildete, die Grundfesten von Staat und Gesellschaft erschütterte, musste sie die politisch-gesellschaftliche Realität weit über die Grenzen Frankreichs hinaus rasch und nachhaltig verändern. Die Französische Revolution traf eine Gesellschafts- und Herrschaftsordnung, die in Variationen europaweit verbreitet war. Zudem waren diese Ordnungsvor-

1 Vgl. Aston, Nigel, The French Revolution, 1789–1804. Authority, Liberty, and the Search for Stability (European History in Perspective), Basingstoke u. a. 2004. Struck, Bernhard/ Gantet, Claire, Revolution, Krieg und Verflechtung 1789–1815 (WBG-deutsch-französische Geschichte 5), Darmstadt 2008. Thamer, Hans Ulrich, Die Französische Revolution, München ²2006. 2 Vgl. Schjørring, Jens Holger/Hjelm, Norman (Hrsg.), Geschichte des Globalen Christentums Teil I: Frühe Neuzeit, Stuttgart 2017, 619–685. Vgl. McLeod, in diesem Band, 53–65. 3 Vgl. Schatz, Klaus, Allgemeine Konzilien – Brennpunkte der Kirchengeschichte, Paderborn u. a. 1997, 215.

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Katholizismus, Europäischer Ultramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil

stellungen und sozialen Strukturen so eng mit dem christlichen Denken, aber auch mit der katholischen Kirche Frankreichs verknüpft, dass ihr Verlauf und ihr Ausgang von maßgeblicher Bedeutung auch für die Kirchengeschichte Europas werden mussten. Weder an der Glorious Revolution in England noch an der Erhebung der nordamerikanischen Kolonien gegen das Mutterland haben sich die Gemüter so nachhaltig gespalten, verfestigten sich so dauerhaft die großen politischen Strömungen, wurde das emphatische oder erbitterte Nachdenken über die Rolle, welche die Religion in Staat und Gesellschaft der Neuzeit spielen sollte, so zwingend angeregt. Die Revolutions- und Nachrevolutionskriege trugen in Gestalt der Napoleonischen Armeen ihre Ideologien und Werte über den ganzen Kontinent. Dessen politisches und kirchliches Gefüge wurde dadurch zutiefst erschüttert und dauerhaft umgestaltet. Aus diesem Grund wurden die Umwälzungen in Frankreich – im Guten wie im Schlechten – als internationaler Beispielfall verstanden: Die Taten und Erfahrungen der Franzosen wurden als Angelegenheit der ganzen Menschheit begriffen, deren Auswirkungen Vernunft und Gefühle gleichermaßen in Bewegung setzten und hielten, schwankend zwischen Erwartungen, Besorgnissen und Enttäuschungen. Das erklärt die Leidenschaftlichkeit, mit der schon die Zeitgenossen die Französische Revolution als europäisches, wenn nicht weltgeschichtliches Umbruchsereignis wahrnahmen. Erst auf lange Sicht und mit vielfachen Brechungen hat die Freiheitsgeschichte der Revolution die politische und kulturelle Landschaft des Westens tiefgreifend umgestaltet. Dennoch erzeugte die déchristianisation, verstärkt durch Verstädterung und Industrialisierung im 19. Jahrhundert, eine Gesellschaft der „zwei Frankreichs“, in welcher neben einem katholisch-restaurativen Milieu eine große laizistische Bewegung die christliche Botschaft nicht mehr kannte oder sie zurückwies. Stattdessen erhielten Symbole des politisch-revolutionären Kultes quasi-sakralen Charakter: die Tricolore, der Bürgereid, der Bruderkuss, der Freiheitsbaum, der Altar des Vaterlandes, die republikanischen Katechismen und Dekaloge. An dieser kulturellen Zweiteilung des Landes änderte sich nichts, als nach dem Ende des Terrors die Kirche im Mai 1795 ihre Kultfreiheit zurückerhielt. Die Dechristianisierung des Jahres II der revolutionären Zeitrechnung hatte die verborgenen säkularisierenden Wirkungen der ersten Dechristianisierung sichtbar gemacht, vor allem bei den Männern. Es begann das, was man die Feminisierung der Religion nennt4: Christlichkeit wurde zunehmend zum Residualraum der Frauen und der familiären Privatheit. Der mentale Riss zwischen Laizismus und Katholizismus schrieb sich tief ein und prägt das Land bis heute. Im Jahr 1801 stellte Napoleon (*1769, Kaiser 1804–1814/15, †1821) durch ein von Papst Pius VII. (*1742, 1800–1823) erzwungenes Konkordat die französische Kirche auch organisatorisch wieder her. Das Konkordat war ein offenkundiges Zeichen der Schwäche der römischen Autorität. Weil das Schisma zwischen den Eidverweigerern und den konstitutionellen Amtsnachfolgern in den neu umschriebenen Diözesen

4 Vgl. McLeod, in diesem Band, 87–92.

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2. Europas Katholizismen und die Moderne

nicht zu heilen war, wurde der Papst genötigt, sämtliche Bischöfe abzusetzen und der revolutionären Umgestaltung der französischen Kirche nachträglich zuzustimmen, was von den Gegnern der Zivilkonstitution als regelrechter „Apostelmord“ an den standhaften „Bekennerbischöfen“ gewertet wurde. Da Napoleon in sogenannten organischen Artikeln bereits 1802 alle vor der Revolution gültigen gallikanischen Freiheiten gegenüber der Kurie einseitig restituierte, musste Rom in den Augen der Revolutionsskeptiker „als willfähriges Instrument napoleonischer Befriedungspolitik“ erscheinen.5 Erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, losgelöst von den zeitgeschichtlichen Umständen und von Motivationen und Handlungsspielräumen der unmittelbaren Akteure, sollten Vertreter der päpstlichen Unfehlbarkeit die Vorgänge als eklatante, ja unwidersprechliche Demonstration päpstlicher Vollgewalt interpretieren. Aber einstweilen war es eine angeschlagene und zutiefst verunsicherte, nicht zuletzt personell und materiell dezimierte Kirche, die hier ins 19. Jahrhundert aufzubrechen versuchte. Und das betraf – in einer Generation der Revolutionskriege – nicht nur die französischen, sondern alle europäischen Christen und Konfessionen.

2. Typen des Konflikts: Europas Katholizismen und die Moderne seit dem frühen 19. Jahrhundert Der Katholizismus und die Moderne galten bis vor die Tore des Zweiten Vatikanischen Konzils als Gegensätze. Die entscheidenden Variablen in dieser Konfliktkonstellation waren erstens die großen Konfessionen des Katholizismus, des Luthertums, des Reformiertentums und des Anglikanismus: ihre innere Fraktionierung, ihre Mehrheitsverhältnisse, ihre religiöse und soziale Dynamik.6 Eine zweite Variable stellte die Kultuspolitik der Staaten dar: die Neigung der Behörden zu einer bürokratischen und polizeilichen Bevormundung, das Schwanken zwischen Reform und Restauration, die Idee einer paternalistischen Allzuständigkeit. Diese Sphäre des Politischen haben die Revolutionen von 1830 und 1848 und die teils militanten Nationalbewegungen jeweils enorm dynamisiert, und zwar wiederum mit einschneidenden Zugriffen der Akteure auf Religion und Kirche. Die dritte und am wenigsten berechenbare Kraft aber stellte das Handlungsfeld von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur dar: die naturwissenschaftlichen Umwälzungen des Welt-

5 Schatz, Klaus, Vaticanum I 1869–1870, Bd. 1: Vor der Eröffnung, Paderborn u. a. 1992, 4. 6 Vgl. The Dynamics of Religious Reform in Church, State and Society in Northern Europe (c. 1780 – c. 1920), Bd. 1: Robbins, Keith (Hg.), Political and legal perspectives, Leuven 2010; Bd. 2: Eijnatten, Joris van (Hg.), The Churches, Leuven 2010; Bd. 3: Jarlert, Anders (Hg.), Piety and Modernity, Leuven 2012; Bd. 4: van Molle, Lee (Hg.), Charity and Social Welfare, Leuven 2017.

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Katholizismus, Europäischer Ultramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil

bildes, die sozialen und ökonomischen Umbrüche der Industrialisierung, das ansteckende Fieber der Fortschrittsidee, die panische Angst vor der ungewissen Zukunft, die leidenschaftliche Grundsätzlichkeit, mit der die Gebildeten Fragen der Religion und der kulturellen Selbstvergewisserung in eine sich rasant verfielfältigende Öffentlichkeit trugen, schließlich die enorme Wucht des Einflusses, den diese Publizität des Gedachten, Gewollten und Gefürchteten zunehmend gewann. Die Handlungsträger im religiösen Feld waren also vielfältig – sie waren keineswegs mit der priesterlichen Hierarchie des Katholizismus oder den geistlichen Leitungsämtern der Protestanten identisch. Im Gegenteil: Das 19. Jahrhundert wurde wie keines zuvor die Phase des religiösen, aber auch des antiklerikalen Laienengagements. Dieses komplexe Set von Variablen hat unterschiedliche Konflikttypen von Katholizismus und Moderne hervorgebracht, die exemplarisch zu rekonstruieren sind. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Auf lange Sicht lenkten diese Konflikte samt und sonders ihr Wasser auf die Mühlen des Ultramontanismus, der sich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts als herrschende Ideologie und Mentalität des europäischen und globalen Katholizismus durchsetzen konnte. Im Jahr 1870 definierte das Erste Vatikanische Konzil die Unfehlbarkeit des Papstes als Fixpunkt der katholischen Identität und des antikatholischen Furors.

2.1. Deutschland: Säkularisation, Staatskirchentum und die strittige Mentalität des Ultramontanismus Säkularisation und Staatskirchentum Napoleon war der Anfang auch des deutschen 19. Jahrhunderts. Denn aus den Revolutionskriegen und den Niederlagen gegen den französischen Feldherrn und Kaiser ging 1803/06 die sogenannte „Große Säkularisation“ hervor. Schließlich zerfiel das Alte Reich vollends und musste durch den Wiener Kongress (1815) als Deutscher Bund auf weitgehend veränderten Grundlagen wiederhergestellt werden. Alle Herrschaftsrechte der alten Reichskirche, aber auch alle Vermögenstitel wurden zugunsten der neu entstehenden deutschen Länder eingezogen.7 Die deutschen Fürsten hatten gehofft, durch den Verkauf des Kirchengutes ihre enormen

7 Vgl. Blickle, Peter/Schlögl, Rudolf (Hg.), Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas (Oberschwaben – Geschichte und Kultur 13), Epfendorf 2005. Decot, Rolf (Hg.), Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß. Kirche – Theologie – Kultur – Staat (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 65), Mainz 2005. Himmelein, Volker/ Rudolf, Hans Ulrich (Hg.), Alte Klöster – Neue Herren. Die Säkularisation im Deutschen Südwesten 1803, Ostfildern 2003. Klueting, Harm (Hg.), 200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss. Säkularisation, Mediatisierung und Modernisierung zwischen Altem Reich und neuer Staatlichkeit (Schriften der historischen Kommission für Westfalen, Bd. 19), Münster 2005.

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2. Europas Katholizismen und die Moderne

Kriegsschulden tilgen zu können. Aber finanziell erwies sich die Säkularisation als Misserfolg: Die Schulden stiegen auch nach 1803 weiter an, teils rasant. Man hatte die Kuh geschlachtet, die man hätte melken können. Langfristig profitierte die deutsche Staatenlandschaft von der Säkularisation vor allem durch die Arrondierung ihrer Territorien und durch den Zugewinn an Menschen und ihrer Wirtschaftskraft. Die kulturellen Folgen der Säkularisation waren mindestens ebenso einschneidend. Denn sie begründeten eine nach konfessionellen Gegensätzen gespaltene Erinnerungskultur. Zwar sahen auch die nationalprotestantischen Historiker die Säkularisation als Rechtsbruch und Fürstenrevolution, aber sie betonten gleichzeitig deren Notwendigkeit, ja Unausweichlichkeit. Das war konservativ-protestantischer Legitimismus: Rechtsbrüche konnte man hinnehmen, wenn sie im Namen der Obrigkeit geschehen waren, weil die Säkularisation das alte konfessionsparitätische Reich beseitigt und den Vorrang einer protestantisch getönten deutschen Nationalkultur und eines preußisch-kleindeutschen Nationalstaates begründet hatte. Das knüpfte an die Weigerung der evangelischen Stände schon in den westfälischen Friedensverhandlungen gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges an, die Umwidmung von Dotal-, Stiftungs- und Klostergut als Säkularisation zu verstehen. Sie sahen hier eine Sequestration, die bislang missbräuchlich, nämlich papistisch genutztes Kirchengut unter der Verwaltungshoheit des Landesherrn seiner ursprünglichen Bestimmung wieder zuführte, um nämlich für Frömmigkeit und Bildung gemäß dem wahren Evangelium zu sorgen. Die Säkularisation von 1803 hole, so die landläufige Meinung, für die katholischen Reichsterritorien nur nach, was die Reformation schon im 16. Jahrhundert in die Förderung der deutschen Nationalkultur eingebracht habe. Unter umgekehrten Vorzeichen hatte die Säkularisation den Katholiken des 19. Jahrhunderts einen Identitätshaftpunkt negativen Charakters gegeben: Das Thema kommunizierte das Problemfeld des Unrechts, der konfessionellen Übermächtigung und der Begründung eines uneinholbaren bildungs- und sozialgeschichtlichen Defizits. Obwohl die unmittelbaren ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen der Säkularisation heute in weiten Regionen als eher gering eingeschätzt werden, setzte sich unter Katholiken ein Säkularisationstrauma durch. Nach Ständen und Schichten unterscheidbar, wuchs die kritische Distanz gegenüber dem Revolutionszeitalter und seinen Folgen. Der katholische Adel, der die Güter der Reichskirche bislang durch seine Ämterpolitik genutzt hatte, konnte besonders erfolgreich ehemaliges Kirchengut privatisieren und ökonomisieren, also den jeweiligen Familienvermögen einverleiben. Gleichzeitig verlor er jedes Interesse an kirchlichen Ämtern; der Anteil der Adelsbischöfe und adligen Domkapitulare ging rasch und nachhaltig zurück, um schließlich ganz zu verschwinden. Stattdessen nahm die katholische Aristokratie vielfach eine Protesthaltung gegenüber den Landesherrn und der Administration der neu formierten deutschen Staaten an, die häufig trotz nunmehr gemischtkonfessionel-

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Katholizismus, Europäischer Ultramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil

ler Bevölkerung einen betont protestantischen Charakter beibehielten. Das traf insbesondere für Preußen zu, aber auch für Württemberg, die hessischen Länder und andere Mittelstaaten. Der katholische Adel begann daher zunehmend, sich in der ultramontanen Bewegung zu engagieren. Auch das Bürgertum – vor allem Kaufleute, Bankiers und Rentiers, aber auch Gastwirte und Großhandwerker – hatte Kirchengut erworben, wo es überhaupt in erheblichem Maß auf den Markt gekommen war. Bürger verstanden die Säkularisation nicht selten als angemessen und nützlich, um die fromme Verschwendungskultur der barocken Religiosität zu überwinden.8 Sie bewerteten die Neuordnung des Kirchenwesens nach 1815 als stimmiges Äquivalent zur aufgeklärten Pastoralreform, die in Österreich durch den Josephinismus, im deutschen Südwesten durch den Pastoralreformer Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774–1860) und im Rheinland und in Schlesien durch die Theologie des Georg Hermes (1775–1831) und seiner Schüler gefördert worden war. Sie erwarteten eine Kirche, die mit der Zeitbildung Schritt hielt und sich der nachnapoleonischen Reformpolitik in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Universität zur Verfügung stellte. Am wenigsten kam die Säkularisation den Interessen und Bedürfnissen der Landbevölkerung und insbesondere der unterbäuerlichen Schichten entgegen. Wo diese überhaupt beim Verkauf von Kirchengut oder bei der Umverteilung von Grund und Boden zum Zuge gekommen waren, vor allem links des Rheins in ehemals französisch besetzten Gebieten, war ihre Kapitalkraft so gering, dass sie winzige Parzellen erwarben, von denen sie weder leben noch sterben konnten. Hier grassierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Pauperismus ebenso wie die Enttäuschung und Verbitterung über die neuen Verhältnisse. Der Ultramontanismus sollte aus diesen Frustrationserfahrungen heraus enormen Zulauf erhalten. Die Säkularisation begünstigte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das Staatskirchentum.9 Die neu eingerichteten Kultusbehörden zogen nicht nur die res mixtae an sich, sondern auch bis dahin explizit kirchliche Angelegenheiten: Die Grenzen der neu umschriebenen Bistümer wurden in Verhandlungen mit Rom so festgelegt, dass sie den auf dem Wiener Kongress gezogenen politischen Grenzen entsprachen. Niemand sollte von außen in die Kultusverhältnisse hineinregieren können (Beispiele: Konkordat mit Bayern 1817, Zirkumskriptionsbulle De salute animarum 1821 in Preußen und Impensa Romanorum Pontificium 1824 in Hannover, Zirkumskriptionsbulle Provida solersque ebenfalls 1821 und Ergänzungsbulle Ad dominici gregis custodiam 1827 in der Oberrheinischen Kirchenprovinz). Der Staat for-

8 Vgl. Hersche, Peter, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. 2 Bde., Freiburg/Br. u. a. 2006. 9 Vgl. Huber, Ernst Rudolf/Huber, Wolfgang, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 1: Staat und Kirche vom Ausgang des Alten Reiches bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution, Berlin ²1990.

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2. Europas Katholizismen und die Moderne

derte und erhielt ein erhebliches Mitspracherecht an der Besetzung der Bischofssitze und Domkapitel. Eine staatliche Kultusbehörde, die den evangelischen Konsistorien seit der Nachreformationszeit entsprach, verwaltete das Kirchenvermögen und die Besetzung der Pfarrstellen unter staatlichem Patronat, schrieb die Lehrbücher für die theologische Universitätsausbildung des Klerus vor, regelte den katholischen Religionsunterricht und behielt sich das staatliche Placet für den Schriftverkehr zwischen den Bistümern und der katholischen Kurie vor. Was in Vereinbarungen mit Rom nicht durchgesetzt werden konnte, wurde anschließend in sogenannten organischen Artikeln einseitig geregelt – der Protest der päpstlichen Zentrale dagegen blieb Papier. Das Staatskirchentum behandelte die katholische Kirche nicht anders als die evangelische: Religion war ein Instrument, um gehorsame Bürger zu erziehen, die öffentliche Moral und den Fleiß zu fördern und die „staatliche Reformlogik der Zentralisierung“ durchzusetzen.10 Kirchliche Amtsträger, die Bischöfe vornean, hatten sich auf den Kern religiöser Aufgaben zu beschränken: auf Sakramente, Predigt und Katechese. Alles andere war der Politik staatlicher Kontrolle und Erneuerung zu unterwerfen. Das Staatskirchentum förderte gezielt die katholische Aufklärung. Die nunmehr konfessionell gemischten deutschen Flächenstaaten konnten keinen Wert darin erkennen, dass ostentative Frömmigkeitsformen der Katholiken den konfessionellen Frieden herausforderten. Sie konnten auch kein Interesse daran haben, dass Katholiken viel Zeit und Mittel in eine aufwändige Inszenierung von Prozessionen, Wallfahrten oder Sakrallandschaften investierten, zumal die Klöster, die oft Anziehungspunkte solcher nun diskriminierten „Sonderbräuche“ gewesen waren, ohnehin nicht mehr bestanden. Das Ressentiment gegen alles Barocke und gegen alle nunmehr als Aberglauben verfemten Praktiken machte sich nur zu deutlich fühlbar. Der Protestantismus erschien den Kultusbeamten als aufgeklärter, lichtvoller, modernen Zeiten zuträglicher, vor allem aber dem deutschen Wesen gemäßer. Deshalb müsse man die Kanten der katholischen Selbstidentität, soweit sie „römisch-obskurant“ daherkamen, endgültig abschleifen – ein günstigerer Moment der Schwäche hätte sich dafür kaum finden lassen. Und die ersten Bischöfe und Geistlichen der Übergangszeit haben sich diesem Ansinnen durchweg nicht entzogen, weil sie selbst in diesen Kultusbürokratien sozialisiert worden waren und weil ihnen angesichts der Strukturschwäche des Katholizismus gar nichts anderes übrig blieb. Sie agierten als gemäßigte, pragmatische Ireniker, die natürlich auf Wunsch und Betreiben des Staates, aber nicht ohne römische Zustimmung in ihre Ämter gelangt waren. So nahmen die deutschen Staaten zwar einen formell paritätischen Charakter an, aber garantierten deswegen keineswegs freie Religionsausübung: „Religions-Polizey“ – also staatliche Ordnungsarbeit durch obrigkeitliche Religi-

10 Nowak, Kurt, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 53.

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Katholizismus, Europäischer Ultramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil

onsverordnungen – war ein Herrschaftsinstrument, und darum Bestandteil der Juristen- und Beamtenausbildung. In den 1820er Jahren kam die Reformära an ihr Ende. Die „Heilige Allianz“ Österreichs, Preußens und Russlands betrieb nun zunehmend eine restaurative Politik. Unter der Ägide des österreichischen Staatskanzlers Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859) setzte sich ein repressiver Politikstil durch, der mit Bürokratie, Polizei, Spitzelwesen und Pressezensur die liberale Bewegung bekämpfte. Die Strategie Metternichs ist erklärungsbedürftig, weil er selbst keineswegs ein religiöser „Ultra“ war. Für Metternich standen die Kirchenfragen nicht im Mittelpunkt, sie waren lediglich Teil seines strategischen Versuchs, nach den hunderttausenden von Opfern der Revolutionskriege eine stabile europäische Friedensordnung unter dem Vorzeichen konservativ gedachter Legitimität herzustellen. Für ihn, der Napoleon über Jahre hinweg aus nächster Nähe kennengelernt hatte, musste der zynische Einsatz ungezählter Menschenleben und die Serie kaltblütiger völkerrechtswidriger Gewaltakte ein Ende haben. Weil er diese Barbarei „mit dem Urteil über die Französische Revolution verkoppelte“, um gegen deren Prinzipien „eine dauerhafte Friedensordnung für Europa ins Werk zu setzen“, musste die Religion der „Heiligen Allianz“ ein- und angepasst werden. Sie sollte daran gehindert werden, als aufgeklärter Rationalismus der „nationalen Religion“ zuzuarbeiten, die schon in Frankreich gescheitert war.11 Das Bekenntnis der Allianzmächte zu christlicher Politik, zum Gottesgnadentum der Herrscher und zum Frieden in Europa erweiterte allerdings den Handlungsspielraum der Kirchen nicht: Das Staatskirchentum wurde nun seinerseits nicht mehr als Mittel der Reform, sondern der Restauration gehandhabt. Gegen diese Verhältnisse richtete sich das Aufbegehren der ultramontanen Bewegung. Religionskulturell betrachtet war das Staatskirchentum der Versuch, die französische Radikalisierung der Religionspolitik zu vermeiden, indem die aufgeklärte Tugendreligion an bürokratische Machtstaatlichkeit gekoppelt wurde. Die machtstaatlich integrierte Religion des Staatskirchentums war also nur denkbar im Rahmen der Plausibilitäten der theologischen Aufklärung, welche die Bekenntnisorientierungen und Frömmigkeitsstile der Konfessionalisierung ablehnte. Diese Neigung vollzog sich zwar nicht völlig gleichartig, aber doch konfessionsübergreifend. Freilich musste die Massivität, mit der nun die staatliche Verantwortung für das religiöse Leben von Katholiken in die Hände vorwiegend protestantischer, aber teils auch katholischer (Bayern) oder paritätischer (Baden) Regierungen gelangt und dort in die Staatsmodernisierung integriert worden war, bei streng kirchlichen Skeptikern unvermeidlich den Verdacht des Konfessionalismus nähren, obwohl dieser Verdacht bei näherem Hinsehen der jüngeren Forschung nicht zutrifft.

11 Vgl. Siemann, Wolfram, Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, München 2010, 34–51, Zitat 51.

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2. Europas Katholizismen und die Moderne

Die ultramontane Bewegung orientierte sich gegen ein pedantisch durchregierendes Staatskirchentum strikt am römischen Papsttum, gegen den liberalen Zeitgeist des aufgeklärten Bürgersinns an einer katholischen Identität apologetischer Geschlossenheit. Die Neufassung des Verhältnisses von Staat, Kirche und öffentlicher Religionskultur, die sich schubweise seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in allen Konfessionen vollzogen hatte, wurde durch die Säkularisation als ein besonders die katholische Kirche betreffender Akt des Umbruchs inszeniert und erfahren. Genau deshalb entstand ein so signifikanter Unterschied zwischen der Verarbeitung der Säkularisation in der katholischen Erinnerungskultur und den im Nachhinein sozialgeschichtlich rekonstruierbaren Folgen. Für den Katholizismus fielen praktisch sämtliche Strukturbedingungen weg, die entweder seine Konfessionalisierung ermöglicht hatten oder die durch diese hervorgebracht worden waren.12 Das bedeutet schlicht, dass strukturell wie kulturell die konfessionsübergreifende Distanzierung von der Welt der Konfessionskirchen des 16. und 17. Jahrhunderts nicht als Antikonfessionalismus, sondern als Antikatholizismus exemplifiziert und inszeniert wurde, und zwar diskursiv wie praktisch. Katholiken sollten aus diesem Grund dahin tendieren, ihre Modernisierungserfahrungen aus Konfessionalisierung und Aufklärung – auf lange Sicht und mit vielen internen Kämpfen gegen Letztere – tendenziell anders zu nutzen als Evangelische. Katholiken fremdelten in der dominanten Struktur des frühen 19. Jahrhunderts stärker. Sie empfanden sich unter evangelischen Regierungen eher als abgeschiedene Konfession und Sozialgruppe, während den Evangelischen die Identifikation mit den neuen staatlichen Verhältnissen zunächst leichter fiel und plausibler erschien. Die Katholiken aber haben auf längere Sicht dieses Empfinden und in diesem Rahmen auch ihre Säkularisationserfahrung genutzt: Die daraus resultierende Identitätspolitik nannten erst ihre Gegner, dann selbstbewusst ihre Vertreter und nennt schließlich die Forschung „Ultramontanismus“. Und der Ultramontanismus setzte sich auseinander mit genau jenen Brüchen, die den Säkularisationsdiskurs bestimmt hatten: Er restituierte die angegriffenen Heiligkeitsmodelle, die Religiositätsstile und die Geschichtsbilder. Er restituierte, aber er restaurierte nicht, obwohl viele kritische Zeitgenossen das so nannten. Denn er ließ sich auf ein Projekt ein, das sich von der Konfessionalisierung grundlegend unterschied: gegen die staatliche Religionsbürokratie die freie Religionsübung von jeder politischen Kontrolle und Beeinflussung konsequent abzutrennen. Und genau hier lösten sie die Verbindung von Staat und Kirche, die man in der Phase der Konfessionalisierung eingegangen war, wieder auf. Während Ultramontane anfangs von den Ideen einer katholischen Staatlichkeit schwärmten, sollten sie bis 1848 ein Modell der „Freiheit der Kirche“ entwickeln. Die Dissoziation von Machtstaat und Kirche wurde ein katholisches Thema, während meinungsbildende Gruppen unter

12 Vgl. in Bd. 1 Thomas Kaufmann, 243–318; Andreas Holzem, 369–489.

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Katholizismus, Europäischer Ultramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil

den Evangelischen eher Modelle der Symbiose verfochten. Das bedeutet keineswegs, dass die evangelischen Kirchen und Gruppen den Staat jeweils kritiklos hinnahmen, so wie er war. Aber sie betrachteten ihre Religiosität eher als Teil der staatstragenden Kräfte und der kulturellen Welt, während Katholiken zunehmend dahin tendierten, der Religion einen sehr eigenständigen, auch gegenkulturellen Platz zuzuweisen, von der hohen Politik und Kirchenpolitik über Frömmigkeitskonzepte bis in den individuellen Lebensstil hinein. Beides war grundverschieden, obwohl beides ein Ergebnis der Konfessionalisierung, der Aufklärung und der Säkularisation war.

Romantik und Ultramontanismus Der Ultramontanismus in Deutschland entstand als kleines Personennetzwerk von zunächst nicht mehr als 150 Personen. Dieses aber organisierte sich in höchst effektiven Kreisen, die prominentesten und einflussreichsten in Wien, Mainz, Koblenz und München, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Ultramontanen gründeten eigene Presseorgane („Der Katholik“, „Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland“, später die „Stimmen aus Maria Laach“) und ein kirchenpolitisches und sozialcaritatives Vereinswesen. Sie trieben eine massive Personalpolitik, indem sie gemeinsam mit den Nuntiaturen in Luzern, München und Wien die aufgeklärten Pastoralreformer aus den kirchenleitenden Positionen vertrieben. Sie strengten Index-Verfahren gegen missliebige Theologen wie Georg Hermes, Anton Günther (1783–1863) und andere sowie gegen deren Einfluss auf die Priesterausbildung an. Sie exponierten ein neues asketisch-hingebungsvolles, aufopferungsbereites, gleichzeitig aber streng rubrizistisches Priesterbild und erzogen nach diesem Ideal eine neue, strengkirchliche Generation von Geistlichen. Sie förderten gezielt die sogenannten „Germaniker“: Priester, die am römischen Collegium Germanicum der Jesuiten ausgebildet und daher strengkirchlich-thomistisch ausgerichtet waren. Sie schufen sich eine Massenbasis, indem sie den religiösen Bedürfnissen und Lebensformen insbesondere der Landbevölkerung die Legitimität aufrechter und wahrhaft katholischer Frömmigkeit zurückgaben und um neue Kulte ergänzten, insbesondere den Kult um das Heiligste Herz Jesu und eine den Aufklärern als überbordend erscheinende Marienfrömmigkeit, die mit den europaweiten Marienerscheinungen (Paris um 1830, La Salette 1846, Lourdes 1858) propagandistisch Schritt zu halten versuchte.13 Und sie waren in der Lage, mit einer Mischung aus Publizistik und Populismus öffentlichkeitswirksame Fanale zu setzen.

13 Vgl. Blackbourn, David, Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen – Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Hamburg 1997, 39–103 (dort Lit.). Burton, Richard D. E., Holy Tears, Holy Blood. Women, Catholicism, and the Culture of Suffering in France, 1840–1970, Ithaca, NY u. a. 2004.

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Im Jahr 1837 schwelte in Preußen der sogenannte Mischehen-Streit. Als im Zuge dieser Auseinandersetzungen um die Konfessionserziehung der Kinder aus solchen Ehen der Kölner Erzbischof verhaftet wurde, stilisierte der ultramontane Publizist Joseph Görres dieses Ereignis als Anbruch einer erneuten Christenverfolgung. Der römische Staat habe in den Martyrien der ersten Christen nichts als heidnische Verzweiflung zum Ausdruck gebracht; sein Gewaltpotenzial sei ins Leere gelaufen. Die Kirche hingegen sei im Blut der Märtyrer erstarkt. Nun gelte es erneut, gegen die ungesetzliche Polizeiwillkür Preußens unbeugsam katholisch, also papsttreu und römisch zu sein. Der Autoritätsverlust, den das Staatskirchentum in den Augen der Katholiken erlitt, war enorm, zumal der preußische Staat gegen Aufbegehren und Spott der Rheinländer mit drakonischer Härte einschritt. Der Trierer Bischof veranstaltete 1842 eine Wallfahrt zum „Heiligen Rock“ nach Trier.14 Das Gewand, das nach lokaler Tradition Jesus Christus bei seiner Kreuzigung getragen haben sollte, verkörperte die Einheitssehnsucht des ultramontanen Konservatismus ebenso wie den Gedanken einer permanenten Passion der sozial und konfessionell marginalisierten Katholiken. Die Wallfahrt eröffnete den frommen Instinkten der wenig gebildeten Landbevölkerung ebenso einen Raum wie dem Repräsentationsbedürfnis des katholischen Adels, während das Bürgertum sich auffällig zurückhielt, ja mit der Entstehung des „Deutschkatholizismus“ gegen das vermeintlich abergläubische Schauspiel aufbegehrte.15 Die Wallfahrt wurde zum Massenereignis: Nach heutigen Schätzungen pilgerten etwa 500 000 Menschen nach Trier. Das war die mit weitem Abstand größte Volksversammlung im Deutschland des Vormärz; Großveranstaltungen des politischen Liberalismus konnten keine auch nur annähernd vergleichbare Teilnahme mobilisieren (z. B. Hambacher Fest 1830: ca. 30 000). Gleichzeitig führten die Ultramontanen vor, was Disziplinierung der Gläubigen bedeutete: Nicht die Abschaffung, sondern die striktest durchorganisierte fromme Reglementierung der Wallfahrt garantierte, das anstelle von Verschwendung und Missbräuchen tiefe Andacht und wahre Ergriffenheit vorherrschten. Auch hier gab die ultramontane Presse dem Ereignis seine eigentliche Bedeutung: Die Wallfahrt nach Trier verkörpere den christlichen Konservatismus der Massen. Indem das Staatskirchentum diese religiöse Welt marginalisiere und die Aufklärung protegiere, fördere sie die Revolution, die sie doch eigentlich über die Maßen fürchte. Allein der ultramontane Katholizismus, freigesetzt von bürokratischer Bevormundung, könne erneutes Blutvergießen verhin-

14 Vgl. Schneider, Bernhard, Ultramontanismus und Politik. Studien zu Vorgeschichte und Verlauf der Trierer Hl.-Rock-Wallfahrt von 1844, in: Aretz, Erich (Hg.), Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 21996, 237– 279. 15 Vgl. Holzem, Andreas, Kirchenreform und Sektenstiftung. Deutschkatholiken, Reformkatholiken und Ultramontane am Oberrhein 1844–1866 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 65), Paderborn u. a. 1994.

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dern. Damit waren nicht nur die Überzeugungen ministerieller Kultuspolitik, sondern auch die Strategien aufgeklärter Pastoralreformer im Kern angegriffen. Während der Revolution von 184816 gelang es den Ultramontanen, ihr Konzept eines kirchlich-religiösen Freiheitsverständnisses als authentische katholische Interpretation der revolutionären Freiheitsforderungen zu etablieren. Während der Grundrechts-Debatte in der Frankfurter Paulskirche sorgten wahre Petitionsstürme mit zehntausenden von Unterschriften dafür, dass die Eigenständigkeit der Kirche in der Verwaltung ihrer Angelegenheiten das Staatskirchentum ablöste, eine völlige Trennung von Staat und Kirche aber vermieden wurde. Obwohl die Revolution letztlich scheiterte, waren mit den Kirchenparagrafen der Paulskirchen-Verfassung Modelle geschaffen, die während des gesamten 19. Jahrhunderts den Staatsdirigismus kritisch herausforderten und im 20. Jahrhundert in der Weimarer Reichsverfassung und im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in der Praxis umgesetzt wurden. Bis um das Jahr 1850 hatten die Ultramontanen den deutschen Katholizismus weitgehend umgeformt – die Reformideen der Aufklärer schienen wie aus der Zeit gefallen. Gleichzeitig begründete die ultramontane Bewegung eine ganze Serie sozialcaritativer Initiativen, um der grassierenden Not weiter Bevölkerungsteile zwischen Pauperismus und industriellem take-off zu begegnen.17 Um so erklärungsbedürftiger ist es, dass sich die deutschen Bischöfe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Kernanliegen des Ersten Vatikanischen Konzils, der lehramtlichen Definition der Unfehlbarkeit des Papstes, mehrheitlich verweigern sollten.

Neuthomismus und Mystizismus einer „Theologie der Vorzeit“ Der Grund für diese Kontroversen um die päpstliche Infallibilität unter den längst weitestgehend ultramontanen Bischöfen Deutschlands lag in einer Spaltung der ultramontanen Bewegung selbst. Umstritten waren die kirchenpolitischen Folgen, die die Überwindung von Staatskirchentum und Aufklärung haben sollte. Die radikalen Ultramontanen orientierten sich dogmatisch an Thomas von Aquin (um 1225–1274) und dem Neuthomismus, apologetisch hingegen an der Kontroverstheologie eines Robert Bellarmin (1542–1621) und der Barockscholastik. Ihr Hauptvertreter, der Jesuit Josef Kleutgen (1811–1883), apostrophierte die Ultramontani-

16 Vgl. McLeod, in diesem Band, 101–103. 17 Holzem, Andreas, Hunger und ‚Soziale Frage‘. Dynamiken der Sozialreform im katholischen Deutschland (1850–1920), in: Ders. (Hg.), Wenn Hunger droht! Bewältigung und religiöse Deutung (1400–1980) (Bedrohte Ordnungen 20), Tübingen 2017, 167–211. Engl. in: Holzem, Andreas, The Dynamics of Social and Religious Reform in Church, State and Society: Catholic Germany 1850–1920, in: Lee van Molle (ed.), The Dynamics of Religious Reform in Church, State and Society in Northern Europe (c. 1780 – c. 1920), Vol. 4: Charity and Social Welfare, Leuven 2017, 193–220, 239–247.

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sierung der katholischen Gottesvorstellung und Kirchenidee als autoritative Neufundierung im Mittelalter, also dezidiert als „Theologie der Vorzeit“ bzw. „Philosophie der Vorzeit“.18 Die Wiedergeburt der Scholastik stand gegen das nun als „Selbstdenkertum“ abqualifizierte philosophisch-theologische Ausgleichsbemühen der Aufklärungszeit und der Hermes-Schule, aber auch gegen die „organische“ Tübinger Theologie, für deren geschichtlich fundierte Systematik vor allem Johann Sebastian von Drey (1777–1853) und Johann Adam Möhler (1796–1838) gestanden hatten, später Johann Evangelist Kuhn (1806–1887) stehen würde. Während diese Wesen und Struktur der Kirche und des Glaubenslebens als ein von der Einheit der Gesamtkirche her organisch gewachsenes Gebilde bestimmten, konstruierte die ultramontane „Theologie der Vorzeit“ statisch und ungeschichtlich. Sie verstand und präsentierte sich als Theologie der „Dissoziation“ zwischen Kirche und moderner Welt, Theologie und profaner Wissenschaft, Katholiken, Protestanten und Liberalen. Der Rückgriff auf das Alte wies dieses als schlechthin Überzeitliches aus, der nun auch die Kirche selbst und ihr Oberhaupt zu einem Gegenstand von Heiligkeit und religiöser Inbrunst erklärte. Die Neoscholastik produzierte integrale Denkformen: In einer direkten Verweisstruktur inkarnierte sich die göttliche Autorität zunächst in Christus, dann in seiner Kirche, diese wiederum gipfelnd im Papst. Mit der Sakralität eines unfehlbaren Papstes verbanden diese konservativen Intellektuellen ganz außerordentliche Zukunftserwartungen. Der Neothomismus verband sich mit der ekstatischen Marien- und Passionsfrömmigkeit in einer Gruppe von meist stigmatisierten Mystikerinnen wie Anna Katharina Emmerick (1774–1824), Luise Beck (1822–1879), Maria von Mörl (1812– 1868) oder Maria Domenica Lazzeri (1815–1848).19 Diese Frauen regten ihr Umfeld durch ihre als ausgesondert und exzellent empfundene Frömmigkeit an: eine intensive Gebetsvereinigung mit dem Christus der Passion, die das „Herz Jesu“ zum Ort der spirituellen Begegnung machte. Das Nachempfinden der Passion wurde als „am Kreuzweg sein“ und dankbar empfangene Gemeinsamkeit der Stigmatisation zum Ausdruck gebracht, verbunden mit einer hoch sensitiven Sakramentsfrömmigkeit. Das Herz Jesu oder der vertraute Umgang mit Maria und ihren Schmerzen

18 Vgl. Wolf, Hubert, Die Nonnen von Sant’Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München 2013, 305–444 (Lit.). 19 Vgl. Blackbourn, Wenn ihr sie wieder seht, 39–103. Borutta, Manuel, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe (Bürgertum. Studien zur Zivilgesellschaft, NF Bd. 7), Göttingen ²2011, 155–265. Götz von Olenhusen, Irmtraud (Hg.), Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1995. Priesching, Nicole, Maria von Mörl (1812– 1868) – Leben und Bedeutung einer „stigmatisierten Jungfrau“ aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen 2004. Weiß, Otto, Die Redemptoristen in Bayern (1790–1909). Ein Beitrag zur Geschichte des Ultramontanismus (Münchner theologische Studien 1, Historische Abteilung 22), St. Ottilien 1983. Weiß, Otto, Weisungen aus dem Jenseits? Der Einfluss mystizistischer Phänomene auf Ordens- und Kirchenleitungen im 19. Jahrhundert, Regensburg 2011. Wolf, Nonnen.

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wurde zum Sehnsuchtsort heilssicherer Bergung des leidenden und angefochtenen Selbst. Die Kulte um stigmatisierte Jungfrauen waren Teil eines konfessionsbiotopischen Sonderbewusstseins. Die Ablehnung der deutschen oder italienischen Nationalbewegung verband sich mit einem antistaatskirchlichen und antiaufklärerischen Kirchlichkeitsimpuls. Elemente traditioneller Mystik mischten sich etwa bei Joseph Görres (1776–1848) mit magnetistischen und mesmeristischen Naturvorstellungen: Nicht aufgrund überspannter Fantasie und Hysterie, so schon zeitgenössisch der Argwohn, sondern aufgrund teuflisch angefochtener Tugendhaftigkeit öffne sich in den stigmatisierten Frauen eine Nahtstelle, an der immanente und transzendente Sphären einander begegneten, weil himmlische und dämonische Kräfte um deren Seele kämpften. Die Beichtväter, das unmittelbare familiäre und religiöse Umfeld, hohe kirchliche Würdenträger und einflussreiche Verehrer grenzten diese Sondererfahrungen des Wunders, der persönlichen Heiligkeit und der Übernatürlichkeit der Erscheinung ab von psychischer Deformation und frommem Betrug. Gerade deshalb waren sie nicht davor gefeit, eben diesem zu erliegen – zu den überlieferten Gnadenpotentialen der Kirche wurde hier ein höchst problematischer Parallelstrang gezogen. Solche Phänomene lösten keineswegs nur Zustimmung aus. Wo die einen himmlische Erscheinungen sahen, erregte die Begegnung bei anderen Mitleid, Unwillen und Skepsis. Wo die einen schon zu Lebzeiten Heiligkeit wahrnahmen und Gebetsaufträge um Fürbitte hinterließen, zeigten sich andere verstört oder vermuteten Betrug und Manipulation durch den Beichtvater und die nahe Umgebung. Zu einem kirchenpolitischen Skandal wuchsen sich die Ereignisse um die Altöttinger Seherin Luise Beck aus. Die ekstatische Jungfrau, ganz im Bann ihrer Beichtväter aus dem Redemptoristenorden – dem konservativ-ultramontanen VolksmissionsOrden in Bayern – entwickelte als religiöses Medium einen besonderen Kontakt zu Maria und über Maria zu Christus selbst. Als Vermittlerin einer „Höheren Leitung“ bestimmte sie die Geschicke nicht nur des Ordens, sondern auch der ultramontanen Kirchenpolitik bis hin zu Bischöfen, Regenten der Priesterausbildung und Kurienkardinälen im Umfeld des Ersten Vatikanischen Konzils, die sich als „Kinder der Mutter“ einer unbedingten Hörigkeit gegenüber dieser übernatürlichen Bestimmung ihres religiösen Lebens und kirchenamtlichen Wirkens unterwarfen. Ihre tiefe Verstrickung zwischen Glaubensbereitschaft, Verführung und übertriebenen Gehorsamsforderungen löste, als das „Geheimnis im Geheimnis“ wegen skandalöser Vorfälle nicht mehr zu wahren war, eine Schockwelle aus: Es trat ein Sumpf aus wechselseitiger Hörigkeit von Beichtkind und Beichtvätern, naiver Selbstunterwerfung und kühl berechneter Gefolgschaftserzwingung hervor. Abtrünnige wurden mit härtesten Sanktionen bedroht und bestraft, durch drastische Ausmalungen jenseitiger Höllenpeinen verstärkt. Die „Höhere Leitung“ betrieb rücksichtslose Kirchen- und Personalpolitik und nahm eine Personen zerstörende Dimension an. Zwischen exorzistischen Handlungen und sexuellen Übergriffen war keine scharfe Grenze mehr auszumachen. Hier geriet ultramontane Religiosi-

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tät ebenso ins Absurde wie ins allzu Menschliche; es waren – wichtig wahrzunehmen – ultramontane Bischöfe, die dem ein Ende setzten. Jenseits solcher Extreme können die ekstatischen Jungfrauen „als Ausdruck dafür verstanden werden, spirituelle und konfessionelle Selbstvergewisserung angesichts einer als negativ empfundenen Weltlage zu suchen und das Leiden an der Welt über das heilbringende stellvertretende Leiden auserwählter Personen zu bewältigen.“20 Diese Mystik hatte ihre dunklen Seiten und bewegte sich auch kirchenrechtlich in einer Grauzone des Verbotenen. Eben dieses Verbotene war aber gleichzeitig so im Bereich des „Außerordentlichen“, dass es von vielen inbrünstig gesucht wurde.21 Doch hatte diese Verehrung mit Volksfrömmigkeit, sei sie als Aberglauben oder Urwüchsigkeit gedeutet, gerade nichts zu tun. Es waren die ultramontanen Eliten – Bischöfe, Adlige, Ärzte, Wissenschaftler –, auf die der Zugang zu den exklusiv begnadeten wie bestraften Frauen schließlich beschränkt wurde. Denn ihnen galt die zentrale Botschaft dieser „Büßerinnen für die Welt und die Seelen im Fegefeuer“: Stets sollten sie propagieren, „dass die Muttergottes die Welt zur Umkehr ermahnte, sonst könne sie den strafenden Arm des gerechten Gottes nicht mehr zurückhalten.“22 Nährboden dieser Kulte war eine zutiefst pessimistische Sicht auf die Entwicklung der Geschichte der Aufklärung und der Revolution: Die allgegenwärtige Feindschaft gegen Gott, das Herz Jesu, Maria und die Heiligen könne nur durch stellvertretendes extremes Leiden gesühnt werden. Es waren deutsche Kirchenmänner, die den ultramontan-neothomistischen Mystizismus mit nach Rom brachten, allen voran Karl August Graf von Reisach (1800–1869), seit 1830 als Germaniker Mitglied der römischen Kongregationen de Propaganda Fide und pro Negotiis ecclesiasticis extraordinariis, später Bischof von Eichstätt (1836) und Koadjutor, dann Erzbischof von München (1841/46). Reisach wurde im Jahr 1856 wegen seines ultramontanen Extremismus, wegen seiner gegen den bayerischen Staat gerichteten rigorosen Politik der Errichtung tridentinischer Klerikalseminare und wegen seiner Verstrickungen in das mystizistische Netzwerk um Luise Beck nach Rom weggelobt. Dort war er als Kurienkardinal nicht nur an der Weichenstellung für das Erste Vatikanische Konzil und die päpstliche Unfehlbarkeit beteiligt, sondern er förderte auch erneut skandalöse Extreme ultramontaner Frömmigkeit. In die jüngst aufgearbeiteten Intrigen und Mordversuche um angemaßte Heiligkeit, fingierten Mystizismus, lesbischen Sex, korrupte Machtund dramatische Abhängigkeitsbeziehungen waren nicht nur prominente Kurienkardinäle, der Ordensgeneral der Jesuiten und über diese indirekt Papst Pius IX. (*1792, 1846–1878) involviert. In dieser gerade bei Teilen der klerikalen Eliten

20 Priesching, Maria von Mörl, 422. 21 Priesching, Nicole (Hg.), Unter der Geißel Gottes. Das Leiden der stigmatisierten Maria von Mörl (1812–1868) im Urteil ihres Beichtvaters, Brixen 2007, 9–13, die folgenden Zitate ebd. 22 Ebd., 39.

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virulenten Mentalität war der gegen die Moderne gerichtete päpstliche Zentralismus verbunden mit einer wahnhaften Verfallenheit an eine grenzenlose Wundersucht. Gegen die Rationalität von Wissenschaft und Industrialisierung stand eine bei Licht betrachtet lächerliche Naivität, die mit dem handfesten Eingreifen himmlischer Mächte in das Weltgeschehen fest rechnete. Maria, die Heiligen und Christus selbst suchten sich dafür freilich höchst zweifelhafte Medien und Praktiken aus. Der zweifelhafteste unter ihnen war der Jesuit Joseph Kleutgen, der Chefideologe der neuscholastischen Volte, mit der die ganze Kirche auf die Unfehlbarkeit des Papstes und auf ein in Rom zentralistisch gehandhabtes ordentliches Lehramt eingeschworen werden sollte. Kleutgen war als Indexkonsultor der Totengräber der lebendigen Theologielandschaft Deutschlands. Und er lieferte allen denen, die machtgestützt den Katholizismus gegen die moderne Gesellschaft ausrichteten, die Gutachten und Argumente. Weil man ihn dafür brauchte, blieb der weltfremde Phantast und von Frauen beliebig verführbare moralische Schwächling trotz schwerer Vergehen ein von höchster Stelle protegierter Theologe. Er schrieb – mit hingebungsvoll fixiertem Scharfsinn – maßgeblich an den Texten mit, die das Gesicht der römischen Kirche seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dramatisch verändert haben.

Gemäßigter Ultramontanismus und Widerstand gegen die päpstliche Unfehlbarkeit Vieles von dieser strukturellen Korruption war im 19. Jahrhundert nicht oder nur gerüchteweise bekannt. Der Widerstand gemäßigter Ultramontaner in Deutschland gründete sich nicht auf die Skandale, sondern auf die theologische Unzulänglichkeit des Neuthomismus in modernen Zeiten. Professoren wie Ignaz Heinrich Döllinger (1799–1890) in München, Johann Adam Möhler, Karl Joseph Hefele (1809– 1893) und Johann Evangelist Kuhn in Tübingen, aber auch späte Hermesianer in Breslau und Bonn standen für einen akademisch gebildeten Katholizismus ein. Der an den Universitäten zur Leitwissenschaft aufsteigende Historismus beeinflusste auch ihr theologisches Denken: Das katholische Dogma musste als organische Entwicklung der Lehre aus den Anfängen des Christentums verteidigt werden, nicht als neoscholastische Systematik, die von jedweder Geschichtlichkeit abstrahierte. Die gemäßigt Ultramontanen – oft defätistisch als „Liberale“ mit den Aufklärern der ersten Jahrhunderthälfte identifiziert – legten Wert darauf, ein katholisches Bürgertum und eine argumentationsfähige Priesterschaft zu fördern. Im Schulterschluss mit den katholischen Massen lehnten sie vor allem das primitiv Vereinfachende ab. Döllinger und seinem Netzwerk ging es um die Glaubwürdigkeit der Kirche in der Welt der Gebildeten: um intellektuelle Offenheit, geistige Freiheit und die Überwindung einer ängstlichen Defensivhaltung. Die ultramontane Mehrheitsrichtung versuchte sich durch straffe Sozialisation und korporative Geschlos-

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senheit gegen die Moderne zu behaupten; die Gemäßigten hingegen wollten versuchen, das katholische Proprium in die Moderne hinein als letztlich überlegen zu kommunizieren. Das sollte ihnen nicht gelingen, weil nach dem Ersten Vatikanischen Konzil und den ihm folgenden Kulturkämpfen die kirchliche Selbstbehauptung und die Organisation der breiten Volksschichten zum Gebot der Stunde wurde. Um eine solche Zielsetzung wurde in Deutschland, aber auch zwischen Deutschland und Rom erbittert gestritten, weil sie handfeste Konsequenzen für die Priesterbildung hatte. Die Neuthomisten plädierten für eine rein kirchliche Ausbildung in tridentinischen Klerikalseminaren. Die Schwerpunkte sollten bei der priesterlichen Askese und Spiritualität, bei Philosophie, Dogmatik und Moral liegen; das liefere eine überzeugende Lebensform und ein brauchbares Rüstzeug für die Seelsorge am einfachen Volk. Anders argumentierte die Döllinger-Schule: Die Kirche dürfe sich nicht aus dem Dialog mit den Umwälzungen des (natur-)wissenschaftlichen Weltbildes und der industriellen Revolution selbst ausschließen. Dementsprechend favorisierte man die Universitätsbildung, mit der man gegen den Rückzug ins Ghetto und gegen die Einschnürung der wissenschaftlichen Freiheit votierte. Drastisch unterschieden sich daher auch die Vorstellungen von der Rolle der Theologie innerhalb der Kirche und gegenüber dem römischen Lehramt. Die Tübinger Schule, die Münchener Schule und die Hermesianer vertraten die Forschungsfreiheit der Theologie außerhalb des eigentlichen Dogmas – die Korrektur von Irrtümern sei zunächst dem Selbstregulativ des theologischen Diskurses zu überlassen. Die Theologie habe eine auch kritische und prophetische Funktion in der Kirche; sie sei nicht nur Organ und Sprachrohr des Lehramtes. Neothomistische Scholastiker hingegen betonten die strikte Gehorsamsbindung und die instrumentelle Funktion der Theologie: Das Lehramt spricht, die Theologie verkündet. Zu Recht warfen die Gemäßigten ihnen vor, sich keineswegs so zu verhalten. Für diese Kontroversen, in denen sich der prinzipielle Gegensatz in der Auffassung des Verhältnisses von Kirche und Moderne manifestierte, gab es einschneidende symbolische Erfahrungen: Im Jahr 1861 griff Döllinger in den Münchener Odeons-Vorträgen das Problem des Kirchenstaates auf, der durch die italienischen Einigungskriege in enorme Bedrängnis geraten war (vgl. 2.3). Döllinger stellte dessen Legitimität nicht prinzipiell in Frage. Aber er überging die Schattenseiten der kurialen Administration und das soziale Elend nicht. Und vor allem schien ihm ein Ende des Kirchenstaates tragbar; es bedeute keineswegs ein Ende des Papsttums als solchem. Für diejenigen, die im italienischen Nationalismus die Fratze des revolutionären Prinzips erblicken wollten, war das ein unfassbarer Affront. Schärfer noch brachen die Gegensätze auf der Münchener Gelehrtenversammlung von 1863 auf. Dieser Theologen-Kongress hatte der Verständigung der verfeindeten Richtungen dienen sollen, konnte aber die Spannungen nur überdecken, nicht überwinden. Auf Betreiben einiger Bischöfe und Reisachs erging im Anschluss der Papstbrief Tuas libenter, der Döllinger namentlich kritisierte und die Eigenständig-

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keit der deutschen Theologie praktisch unmöglich machte. Döllinger antwortete anonym: Zunächst in liberalen Zeitungen, dann in Buchform („Janus“) karikierte er, bitter geworden, den Hass seiner Gegner auf die Idee der Freiheit. Indem er die päpstliche Unfehlbarkeit als „Orakel an der Tiber“ der Lächerlichkeit preisgab, förderte er allerdings gleichzeitig maximalistische Interpretationen des geplanten Dogmas. Die deutsche Öffentlichkeit reagierte entweder verschreckt oder höhnisch: In den Debatten um das angekündigte Konzil wertete man die Idee der Infallibilität als Produkt von Fälschungen, Dummheit und Machtwillen. Der deutsche Episkopat agierte zurückhaltend und uneinheitlich. Die Skeptiker äußerten Zweifel, ob das Dogma opportun, aber auch, ob es theologisch überhaupt tragbar sei: Die Definition werde schwere innerkirchliche Konflikte fördern, das Verhältnis zu den Protestanten und zur Politik belasten und das Konzil von seiner zentralen Aufgabe der Ortsbestimmung in der modernen Welt ablenken. Das Bischofsamt und die Konzilien würden entwertet, der Papst der Kirche gegenübergestellt. Diese Zweifel münzten die Hardliner in unbedingte Zustimmung um: Da die Lehre öffentlich bestritten werde, müsse das Konzil Stellung beziehen, alles andere sei ein Zeichen der Schwäche.

2.2. Frankreich: Ultramontanismus und Laizismus Frankreich, das Land und die Nation der Revolution, prägten andere Kontroversen. In Deutschland überkreuzten sich die Konfessionsgegensätze mit den Kämpfen um das Staatskirchentum, um sich wechselseitig aufzuladen. In Frankreich hingegen setzten sich die Konflikte zwischen Katholizismus und Laizismus fort – es misslang, die Gräben zuzuschütten, die die déchristianisation der Revolution aufgerissen hatte.23 Der französische, calvinistisch geprägte Protestantismus, und somit der Konfessionsgegensatz, spielte dabei kaum eine Rolle. Aber ähnlich wie in Deutschland sollte der französische Katholizismus keineswegs einhellig für die Infallibilitätslehre eintreten.24

23 Vgl. McLeod, in diesem Band, 69–74. 24 Vgl. Cabanel, Patrick/Cassan, Michel, Les catholiques français: du XVIe au XXe siècle, Paris 1997. Christophe, Paul, L’Église de France dans la révolution de 1848, Paris 1998. Horaist, Bruno, La dévotion au Pape et les catholiques français: sous le Pontificat de Pie IX (1846–1878). D’après les archives de la Bibliothèque Apostolique Vaticane (Collection de l’Ecole Française de Rome 212), Rom 1995. Pelletier, Denis, Les catholiques en France depuis 1815, Paris 1997. Tallett, Frank, Catholicism in Britain and France since 1789, London u. a. 1996. Zur Frömmigkeitsgeschichte: Galinier-Pallerola, Jean-François, La résignation dans la culture catholique en France (1870–1945), Paris 2007. Hollander, Paul d’ (Hg.), L’Église dans la rue. Les cérémonies extérieures du culte en France au XIXe siècle; actes du colloque des 23–24 mars 2000, Limoges 2001.

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Alexis de Tocqueville (1805–1859), der konservative Revolutionstheoretiker, erklärte den bleibenden Schrecken der nacherzählten Revolution in Frankreich dadurch, dass sie in ihrem Bekehrungsdrang und in ihrer Propaganda selbst religiöse Züge angenommen hatte, sich selbst eine unbedingte Heiligkeit zugesprochen und ihre Missionare und Märtyrer zu Verheißungsträgern des ganzen Menschengeschlechts erhoben hatte. Aber es handelte sich dabei um eine politische Heiligkeit, deren „Kult des Höchsten Wesens“ eine antiaristokratische und antielitäre Gerechtigkeit verhieß, die ohne transzendente Bezüge auskam und das ultimative Strafgericht in einem Ausmaß vorwegnahm, dass die Opferzahlen der fusillierenden und guillotinierenden Höllen den Zeitzeugen und noch mehr den Nachlebenden als quasi apokalyptisch erschienen.25 Entkleidet man solche Wahrnehmungen ihrer Ideologeme, dann war der Anspruch einer zivilen Religion, die Kirchenreligion säkularisierend abzulösen, indem sie die religiösen Referenzen und Erlösungsversprechen des Christentums in ihr Sinnsystem integrierte, der Kern dieses Konflikttyps zwischen Katholizismus und Moderne. In der Revolution war der Versuch gescheitert, die Kirche zu einem Teil des konstitutionellen Frankreich umzuformen. Schließlich waren selbst jene Geistlichen als Konterrevolutionäre verfolgt worden, die gegen päpstliche Interventionen, priesterliche Eidverweigerungen und monarchisches Militär der Feindmächte bereit geblieben waren, mit der sich radikalisierenden Revolution zusammenzuarbeiten. Das Christentum als solches erhielt von den Vertretern der säkularen Republik das Etikett des Konterrevolutionären angeheftet – im Gegenzug verweigerten sich überzeugte Katholiken zukünftig jedem Appell an die Grundwerte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.26 Der französische Ultramontanismus erstarkte daher nicht am Gegensatz der christlichen Konfessionen und am gängelnden Protektionismus der staatlichen Kultusbürokratien, sondern an jener offiziellen Verbannung des Christentums aus dem Selbstverständnis der französischen Nation, die laizistische Bildungseliten im Verlauf des 19. Jahrhunderts weiterhin propagierten. Innerhalb dieses Konflikttyps tat sich ein zweiter, nunmehr binnenkatholischer Punkt der Auseinandersetzung auf. Als Napoleon im Jahr 1801 Papst Pius VII. sein Konkordat abpresste, das rein strukturell die Kirche Frankreichs wiederherstellte, entsprach das ganz seinen Wünschen einer instrumentellen Nutzung der Identitätspotentiale des Christentums für Staatsintegration und militärische Expansion. Dass die kirchlichen Eliten hier teils notgedrungen, teils pragmatisch mitspielten, wurde vielfach nicht verziehen. Gegen die aggressiv manichäische, in der Vendée einem Völkermord im eigenen Land gleichkommende Verfolgung des Katholizismus als Konterrevolution hatte sich die traditionelle Kirchlichkeit, die sich vor der Revolution als

25 Vgl. Burleigh, Michael, Irdische Mächte, göttliches Heil. Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart, München 2008, 20. 26 Vgl. ebd., 75.

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„erste Tochter der Kirche“ und „allerchristlichste Nation“ gerühmt hatte, nur durch eine unbeugsame Hingabebereitschaft der Laien, insbesondere auch der Frauen behaupten können. Daraus resultierte ein innerkirchlicher Konflikt: Je stärker die Bischöfe bereit waren, sich den nachrevolutionären und postnapoleonischen Verhältnissen zu fügen, um so massiver artikulierte sich das ultramontane Sonderbewusstsein des niederen Klerus, der Publizistik, die ihn anfeuerte, und der katholisch-konservativen Laienöffentlichkeit, die davon politisiert wurde, gegen jeden Kompromiss mit postrevolutionärer Prinzipienwahrung des Revolutionären. Der französische Episkopat setzte sich nach 1801 auf eine Weise zusammen, die die Konflikte und Rechtsstandpunkte der Revolutionsdekade bewusst dissimulierte. Weil das Napoleon-Konkordat den Rücktritt sämtlicher bis dahin amtierender Bischöfe und eine komplette Neubesetzung aller Diözesen erzwang, hatten auch solche ihr Amt verloren, die sich standhaft gegen jeden Kompromiss mit der konstitutionellen Kirche gewehrt hatten. Und es kamen bei den Neubesetzungen auch solche Amtsträger zum Zuge, die den Eid auf die Zivilverfassung des Klerus geleistet und trotz des päpstlichen Protestes nicht zurückgezogen hatten. Genau dieser Umstand – kanonistisch eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit – unterlag im Laufe des 19. Jahrhunderts einer frappierenden Umwertung. Traditionalistisch denkende Katholikinnen und Katholiken hatten gegen die von Pius VII. hingenommene Amtsenthebung der „Bekennerbischöfe“ als regelrechten „Apostelmord“ protestiert. Ultramontane späterer Jahre hingegen konnten – über alle Wahrnehmungen des konkreten historischen Geschehens hinweg – behaupten, dieses an sich ungeheuerliche Geschehen sei ein Zeichen nicht der Ohnmacht, sondern der Vollgewalt des Papsttums.27 Könne der Papst sich in einer solchen Grundfrage über alle überlieferten Rechtstraditionen der Kirche hinwegsetzen, dann könne man mit ihm anschließend nicht mehr kleinlich über diese und jene Vorrechte verhandeln. Das Napoleon-Konkordat sei der endgültige Tod des Gallikanismus und des Episkopalismus; der Papst sei offenkundig der autoritative Letztentscheider in allen Fragen des kirchlichen Lebens. Mit dieser ganz unhistorischen Argumentation verband sich eine Verschiebung des Referenzpunktes des päpstlichen Primats: Seit dem Hochmittelalter hatte sich die päpstliche Gewalt als Jurisdiktionsprimat entfaltet, also als Kompetenz der Letztentscheidung in Struktur- und Rechtsfragen, während für Fragen der Rechtgläubigkeit die Konzilien den Ausschlag gaben. Nun hingegen – in den päpstlichen Bestätigungsrechten der Glaubenslehren des Konzils von Trient war das implizit bereits angelegt – wurde von den ultramontanen Ideologen explizit die Unfehlbarkeit in Glaubens- und Moralfragen zum Kern des päpstlichen Primats erklärt. Es war die unwiederbringliche Schwächung der alten regionalkirchlichen Eliten, die dem Papsttum diese „unausweichlich einsame Würde“28 in die Hände spielte.

27 Schatz, Vaticanum I, Bd. 1, 4. 28 Burleigh, Irdische Mächte, 151.

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Diese Würde war einerseits ganz abstrakt, andererseits aber hochpolitisch. Der französische Jurist und Diplomat Graf Joseph Marie de Maistre (1753–1821)29 wurde als eine Art Cheftheoretiker des Ultramontanismus europaweit rezipiert: Eine veränderte Vorstellung von der Wirksamkeit Gottes in der Welt wurde zum Angelpunkt einer neuen Legitimationsgrundlage für gesellschaftliche Ordnung und politisches Leben. Wahre Autoritätsbegründung sei, nachdem das revolutionäre Zeitalter die in Gott wurzelnden dynastischen Strukturen legitimer Herrschaft beseitigt hatte, nur noch auf die unmittelbare religiöse Autorität der Kirche zu gründen. Aus dem Zusammenbruch der vorrevolutionären Societas christiana trat für die ultramontanen Gruppierungen das Papsttum als Fixstern juridischinstitutioneller Orientierung immer strahlender hervor: als die letzte Instanz der Legitimität und Wahrheit, in Gottes Geschichtsmacht selbst fest gegründet. De Maistre gilt als der entscheidende französische Staatstheoretiker des frühen Ultramontanismus, der den Gedanken der päpstlichen Unfehlbarkeit „aus den Studierstuben der Theologen unter die Laien“ brachte.30 Vor der Revolution erst Jesuitenzögling, dann Freimaurer und rousseauistischer Naturschwärmer, gehörte auch er zu den politischen Konvertiten durch die Erfahrung der Revolution: Die „Psychopathologie der Gesellschaft“ werde im Terreur zum „Bewegungsgesetz der Geschichte“: Es sei „unser Wahn, der die Dinge am Laufen hält“.31 Sein nun zutiefst verdüstertes Menschenbild verurteilte mit der Aufklärung die Volkssouveränität und die aus ihr hervorgehende Gründung der Nation auf einen Gesellschaftsvertrag. Die menschliche Autonomie, verkörpert im alles erfassenden Prinzip der Kritik, führe als „Attentat gegen Gott“ sichtbar zum Zusammenbruch der Ordnung. Allein das „Wunder der europäischen Monarchie“ überführe die dem Menschen wesenseigene Gewalt in das Gesetz, sublimiere die steten Menschenopfer, das Bezahlen der Unschuld für die Schuld, im einmaligen Opfer Christi und verbürge so ein historisch geradezu unwahrscheinliches „Modell von Staatlichkeit, Gewaltmonopol, Rechtmäßigkeit“.32 Gott selbst lenke die Geschichte der Staaten mit der Souveränität seiner Vorsehung, als deren oberster Ausleger der Papst gelten müsse. Er wird zum universalen Symbol für die Befriedung der Gesellschaft und die Überwindung des Opfers: „Das Christentum beruht gänzlich auf der Souveräni-

29 Vgl. Armenteros, Carolina, The French Idea of History. Joseph de Maistre and his Heirs, 1794–1854, Ithaca/NY/London 2011. Armenteros, Carolina/Lebrun, Richard (Hg.), Joseph de Maistre and the Legacy of Enlightenment, Oxford 2011. Schmidt-Biggemann, Wilhelm, Politische Theologie der Gegenaufklärung: Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004, 19–79. Wassilowsky, Günther, Die Geburt der säkularen Papstidee – Politische Ekklesiologie bei Joseph de Maistre, in: Decot (Hg.), Kontinuität und Innovation, 55–68. 30 Schatz, Vaticanum I, Bd. 1, 10. 31 Burckhardt, Martin, Das Ungeheuer der Vernunft. Joseph de Maistre zur Einführung, in: De Maistre, Joseph (Hg.), Vom Papst. Ausgewählte Texte, Berlin, 2007, 12–23; Zitat 16. 32 Ebd, 28.

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tät des Papstes. Man kann deshalb als Prinzip der politischen und sozialen Ordnung [...] die folgende Kette von Vernunftschlüssen aufstellen: Es gibt weder eine öffentliche Moral noch einen nationalen Charakter ohne Religion, – es gibt in Europa keine Religion ohne Christentum, – es gibt kein Christentum ohne Katholizismus, – es gibt keinen Katholizismus ohne Papst, – es gibt keinen Papst ohne den ihm zukommenden unbedingten Vorrang.“33 In seinem Hauptwerk „Du pape“ (1819) stellte er die päpstliche Unfehlbarkeit in schroffer Polemik gegen die Zeitgeschichte als „inappellabel entscheidende Autorität“ und als „Korrelat von Souveränität und Letztinstanzlichkeit überhaupt“34 heraus: Die Unfehlbarkeit wurde zum tragenden Grundprinzip von Staat und Gesellschaft erhoben, weil die päpstliche Stellvertreterschaft jede rein menschlich-historische Institutionalisierung von Ordnung in der Transzendenz absicherte. De Maistre erschien die Französische Revolution, als sie diese Absicherung zersetzte und den König köpfte, als Bankrotterklärung der subjektiven Vernunft und des Rationalismus, die er schon in der Reformation am Werk sah – ähnlich dachten andere viel gelesene Theoretiker des Ultramontanismus wie Louis de Bonald (1754–1840), Auguste Comte (1798–1850) oder in Deutschland die vom französischen Konservatismus stark beeinflussten Staats- und Gesellschaftsphilosophen Adam Müller (1779–1829) und Carl Ludwig von Haller (1768–1854). Die Rettung schien einzig in Tradition und Autorität zu liegen, die nicht von Menschen geschaffen, sondern, in einer uralten göttlichen Rechts- und Seinsordnung gründend, von der vorreformatorisch-mittelalterlichen Christianitas verbürgt worden war. Dem päpstlichen Zentralismus wurde in diesem Zusammenhang eine alles überragende Bedeutung zugewiesen: Das Christentum beruhe gänzlich auf der Souveränität des Papstes. Als „Prinzip der politischen und sozialen Ordnung“ garantiere der Papst mit dem „ihm zukommenden unbedingten Vorrang“ die „öffentliche Moral“ und den „nationalen Charakter“ aller Staaten durch die mit dem Christentum identifizierte katholische Religion. Die Päpste seien – oder: müssten werden – die „höchsten Agenten der Menschenbildung, die Schöpfer der europäischen Monarchie und Einheit, die Bewahrer der Wissenschaft und der Künste; die Gründer und geborenen Beschützer der bürgerlichen Freiheit; die Vernichter der Sclaverei, die Feinde des Despotismus, die unermüdlichen Stützen der Souveränität, die Wohltäter des menschlichen Geschlechts.“35 Nur indem der Papst höchster Souverän, ja Nahtstelle zwischen Gott und den politischen Geschicken der Welt war, konnte er dem revolutionären Chaos Einhalt gebieten. Das sollte zu einer Grundidee des Ultramontanismus werden und zu einer unbeirrbaren, oft nur noch vorbewussten Grundüberzeugung des Katholizismus im späte-

33 Brief an den Comte de Blacas (22.5.1814); Krumwiede, Hans-Walter u. a. (Hg.), Kirchenund Theologiegeschichte in Quellen IV/1: Neuzeit, Erster Teil: 17. Jahrhundert bis 1870, Neukirchen-Vluyn 1979, 189. 34 Schatz, Vaticanum I, Bd. 1, 11. 35 Maistre, Joseph de, Vom Papst. Ausgewählte Texte, Berlin 2007, 17.

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ren 19. Jahrhundert: Umgriff der Staat nicht nur die Politik, sondern auch die Religion, dann war wieder die Revolution am Werk. Gegen diese Übermächtigung und Instrumentalisierung, die gleichzeitig eine Banalisierung war, bildete der Katholizismus des 19. Jahrhunderts eine basale Skepsis aus. Der Ton der Gedankenwelt de Maistres war scharf – seine Bücher seien, so urteilte der ultramontane Zeitgenosse Félicité de Lamennais (1782–1854), „wie auf dem Schafott geschrieben“.36 Aber sie hatten eine europaweite Rezeptionsgeschichte am Übergang von der Politik zur Politologie: neben Müller und Haller zum Beispiel auch bei Friedrich von Gentz (1764–1832), dem Berater Metternichs, und dem vom Früh- zum Spätromantiker konvertierten Friedrich Schlegel (1772–1829).37 Frankreich wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hin- und hergeworfen. Auf der einen Seite stand die Restaurationspolitik der Bourbonen mit ihrer Bilderwelt der Revolutionsmärtyrer und ihrer steifen und repressiven Herstellung dessen, was sie für ein vorrevolutionär-christliches Volk hielten. Die Antwort darauf war die Juli-Revolution im Jahr 1830, die ein Bürgerkönigtum unter liberalen, wenn auch nicht explizit antikatholischen Vorzeichen durchsetzte. Die exzessive Gewalt der Revolution von 1848 – Rasen der Not hier, Fanatismus der Interessen dort (Gustave Flaubert38) – produzierte ein Klima, in dem Religion auf fundamentale Furcht antworten sollte. Auf unterschiedliche Ängste allerdings: auf die soziale Deklassierung der Armen wie auf die Verwundbarkeit der bourgeoisen Eliten. Die Ultramontanen bezogen hier eine klare Position. Sie stellten sich gegen den elitären Zynismus, der sich selbst antiklerikale Haltungen leistete, von der Kirche aber verlangte, die Volksmassen in Schach zu halten. Ein Katholizismus, der das Leiden lehre, sei den Eliten der Gesellschaft sozialpolitisch gerade recht. Das Zweite französische Kaiserreich unter Napoleon III. (*1808, 1852–1870) stand dennoch unter genau diesen Vorzeichen: gezielte Förderung der Kirche in Schule und Universität, Aufstockung der kirchlichen Budgets, Förderung von Priester- und Ordensnachwuchs, und in der Konsequenz wachsende Opposition jener akademisch Gebildeten, die ihre säkulare, humanistisch-laizistische Gemeinschaftsethik unter Generalverdacht gestellt sahen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wirkte der Katholizismus Frankreichs daher auf den ersten Blick ungeheuer erfolgreich gegenüber dem in der Öffentlichkeit ins Hintertreffen geratenen aufgeklärt-liberalen Bürgertum: Der Priesternachwuchs stieg auf Zahlen, die von den Pfarreien kaum mehr absorbiert werden konnten. Etwa 110 000 Ordensfrauen

36 Burckhardt, Ungeheuer, 9. 37 Vgl. Cahen, Raphaël, The Correspondence of Friedrich von Gentz: The Reception of Du pape in the German-speaking World, in: Armenteros, Carolina/Lebrun Richard (Hg.), Joseph de Maistre and his European Readers: From Friedrich von Gentz to Isaiah Berlin (Studies in the History of Political Thought 5), Leiden – Boston 2011, 95–121. Daub, Adrian, „All Evil is the Cancellation of Unity“: Joseph de Maistre and Late German Romanticism, in: ebd., 123–150. 38 Vgl. Burleigh, Irdische Mächte, 266.

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kümmerten sich um Arme, Kranke und das weibliche Schulwesen. Seit 1850 weltanschauliche Unterrichtsfreiheit gewährt worden war, schossen katholische Schulen wie Pilze aus dem Boden. Keine andere europäische Nation brachte mehr Missionare für Christianisierungskampagnen in Übersee hervor. Doch die Erfolge waren brüchig, weil sie die Zusammenarbeit mit den Kräften der Moderne scheuten. Der französische Katholizismus war caritativ sehr tätig, aber auf eine ganz sozialpaternalistische Art und Weise. Anders als der Sozialkatholizismus in Deutschland vermochte er darum eine starke katholische Arbeiterbewegung nicht auszubilden und verlor in den Unterschichten jeden Rückhalt. Der einfache, theologisch oft auch schlichte, in kargen Diözesanseminaren ganz neuscholastisch ausgebildete Klerus hegte tiefe Ressentiments gegen den französischen Episkopat. Die Bischöfe, gemäß dem Napoleonkonkordat und den „organischen Artikeln“ unter maßgeblicher Beteiligung der Regierung gekürt, galten den Priestern als staatshörig und liberal. Im Gegenzug war der Pastoralklerus zumeist extrem ultramontan, weil er im Papst und in der Kurie eine Appellationsinstanz gegen die Autorität der Bischöfe wahrnahm. Auch in Frankreich wurde der Ultramontanismus durch eine kämpferische Presse öffentlichkeitswirksam vertreten: Die Zeitschrift L’Univers wurde von einfachen Priestern und Laien massenhaft und meinungsbildend gelesen; sie polemisierte giftig gegen den „Zeitgeist“, gegen die Werte der Französischen Revolution und die modernen Freiheitsrechte, insbesondere die Religionsfreiheit, schließlich gegen die Verschwisterung der kirchlichen Hierarchie mit dem „Bonapartismus“ des Zweiten Kaiserreichs. Das Programm des L’Univers verfocht einen extremen katholischen Integralismus, an dessen Spitze ein ins quasi Göttliche überhöhtes Papsttum stand. Dass die französischen Katholiken sich an der Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit spalten, seine Bischöfe aber nicht zu deren Befürwortern gehören würden, war also durchaus absehbar.

2.3. Italien: Ultramontanismus gegen das Risorgimento der nationalen Einigung Einen dritten Typus des Konflikts zwischen Katholizismus und Moderne repräsentiert Italien. Hier bedrohte das Risorgimento als nationale Einigungsbewegung den Kirchenstaat. Dieser war im Jahr 1815 auf dem Wiener Kongress wiederhergestellt worden, einerseits dank des Autoritätsgewinns, den Pius VII. durch seine Haltung gegenüber Napoleon hatte verbuchen können, andererseits dank der geschickten Verhandlungstaktik des Kardinalstaatssekretärs Ercole Consalvi (1757–1824), der glaubhaft gemacht hatte, ein restituierter Kirchenstaat sei zu struktureller Erneuerung bereit und fähig. Consalvi gehörte zur Gruppe der politicanti unter den Kardinälen, die bereit war, die Ergebnisse der Umwälzungen seit 1789 zu respektieren, soweit sie das Glaubensgut und die unmittelbaren Lebensinteressen der Kirche

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nicht tangierten. Dagegen stand die Gruppe der zelanti, die sich eine eifernde Unbeugsamkeit und einen strikt antirevolutionären Legitimismus zugute hielt. In den Kämpfen zwischen diesen beiden Gruppen wurden die vorsichtigen Reformimpulse Consalvis zerrieben – die Päpste des frühen 19. Jahrhunderts repräsentierten das konfrontative Schwanken der Kirchenpolitik zwischen den verfeindeten Kurien- und Kardinalsparteien. Der Kirchenstaat war nie ein Hort der Modernisierung politischer Institutionen gewesen, aber seine Verwaltung sprach unter den Päpsten Pius VII., Leo XII. (*1760, 1823–1829), Pius VIII. (*1761, 1829–1830) und Gregor XVI. (*1765, 1831–1846) jeglicher Entwicklung von politischer Partizipation und medialer Öffentlichkeit, von Justiz und Infrastruktur, von Medzinalwesen und Seuchenbekämpfung, von Korruptionsbekämpfung und ökonomischer Dynamik geradezu Hohn. Viele Gedanken de Maistres fanden sich bereits in einem 1799 publizierten Werk, das gegen alle „Neuerer“ einen unvergleichlichen „Triumph des Heiligen Stuhles über die Angriffe der Neuerer“ (Il trionfo della Santa Sede e della Chiesa contro gli assalti dei novatori) herbeischrieb. Rezipiert wurden diese ultramontanen Visionen allerdings erst, als sein Autor Mauro Cappellari im Jahr 1831 als Gregor XVI. zum Papst gewählt worden war. Gregor XVI. wandte sein Konzept einer absoluten Papstmonarchie nicht nur gegen die grundlegenden Ideen der Revolution, der Menschen- und der modernen Freiheitsrechte, sondern auch gegen die Theologie der gemäßigten Aufklärung, gegen die Versöhnungsversuche von Ultramontanismus und Liberalismus in Belgien (vgl. 2.4) und gegen die Nationalbewegung des Risorgimento in Italien. Der Kirchenstaat war über Jahrzehnte für das Papsttum nur zu halten, weil katholische europäische Mächte, bis 1848 das Österreich Metternichs voran, ihn mit militärischen Drohkulissen und Interventionen schützten. Dementsprechend zeigte der Heilige Stuhl für jegliche politische Emanzipationsbestrebungen auch katholischer Länder von ungerechter Vorherrschaft (Polen, Belgien, Irland) weitgehend kein Verständnis.39 Für den Nachfolger Gregors XVI., Papst Pius IX., hatte die Revolution von 1848 im Kirchenstaat einen traumatisierenden Verlauf genommen. Weil seine zaghaften Reformen kaum Wirkung gezeigt hatten, hatte er vor einer revolutionären Volksbewegung fliehen müssen, die anschließend in der ewigen Stadt die Republik ausrief. Dahinter wurden massive Grabenkämpfe zwischen den Ideologien eines katholisch-konservativen Traditionalismus und eines liberalen Antiklerikalismus sichtbar. Im Jahr 1849 gelang es französischen Schutztruppen unter Napoleon III., den Papst als Stadtherrscher zu restituieren. Seither verstärkte sich die Überzeugung Pius’ IX., der politischen Moderne müsse ein kompromissloser Autoritarismus entgegengehalten werden, geradezu zur Obsession. Den Veränderungsdruck nahm man im päpstlichen Italien nur mehr als Zerstörungsdrang wahr. Gleichzeitig war Pius IX. der erste römische Bischof, der zu einer Art Medienstar avancierte.

39 Vgl. ebd., 181f., 240–256, 399–404.

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Losgelöst von seiner sprunghaften, leicht zu beeinflussenden und zu erregenden Persönlichkeit, unabhängig von seinem geringen Geschick bei der Leitung des Kirchenstaates entfaltete sich um Pius IX. erstmals ein veritabler Papstkult, der ihm hohe Verehrung, teils Verklärung verschaffte. Über die Ideologie der päpstlichen Unfehlbarkeit gelang es, ihm die Aura besonderer Christusnähe und das geistige Fluidum einer übernatürlichen Erscheinung umzuhängen. 1861 proklamierte die italienische Nationalbewegung des Risorgimento das Königreich Italien unter der Führung des Hauses Savoyen. Vittorio Emanuele II. (*1820, 1849/1861–1878), König von Sardinien-Piemont, wurde zum König des ersten italienischen Nationalstaats ausgerufen. Wie herausgebrochen aus diesem ideell die gesamte Halbinsel umfassenden Staatsgebilde erschienen das österreichisch regierte Venetien und der Kirchenstaat. Die italienischen Nationalisten betrachteten Rom als selbstverständliche Hauptstadt. Venetien sollte im Jahr 1866, das bereits auf Rom und Latium reduzierte päpstliche Territorium dann 1871 an das Königreich Italien fallen. Die 1860er Jahre waren neben den politischen Spannungen und militärischen Auseinandersetzungen von einem offenen Kulturkampf geprägt. Wie die päpstlich-katholische Seite ihren antimodern-monarchischen Konservatismus, so prägte die liberale Nationalbewegung einen radikalen, teils vulgären Antikatholizismus aus.40 Der italienische Staat verpflichtete auch seine Katholiken auf die Zivilehe, säkularisierte etwa 700 Klöster mit etwa 12 000 Ordensleuten und zog kirchlichen Besitz ein, verpflichtete die Priesterseminaristen und den Ordensnachwuchs auf die Wehrpflicht, schloss die theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten und beanspruchte ein Einspruchsrecht bei der Besetzung der Bischofsstühle. Infolge des kirchlichen Widerstandes dagegen war eine Großzahl von Diözesen vakant, weil ihre Bischöfe ins Exil oder teils auch ins Gefängnis gezwungen und offene Posten nicht neu besetzt worden waren. Um das Jahr 1865 waren es etwa 45 Prozent, nach ersten Verständigungen bis zum Beginn des Ersten Vatikanischen Konzils immerhin noch 29 Prozent. Pius IX. wähnte sich daher wie in einer belagerten Festung und verlangte vom katholischen Europa den Schutz des Kirchenstaates. Die katholische wie die liberale Presse erlebten in einem Klima der Polemik einen gewaltigen Aufschwung – die Medienlandschaft polarisierte Politik und Gesellschaft weiter. Unter den papstfreundlichen Blättern übernahm die Civiltà Cattolica als Zeitschrift der römischen Jesuiten die Rolle eines halboffiziellen päpstlichen Sprachrohrs. Sie propagierte eine bemerkenswerte Verschiebung in der theologischen Auffassung des päpstlichen Primates. Als katholisch hatte seit dem berühmten Lehrsatz des Vinzenz von Lérins († 434/450) gegolten, „was überall, was immer, was von allen geglaubt worden ist“ (quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est). Als katholisch galt also die gemeinschaftlich von allen Christen bezeugte Lehre der Kirche. Der

40 Vgl. Borutta, Antikatholizismus, 120–154, 326–352.

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päpstliche Primat des hohen Mittelalters hatte sich vor allem als Kompetenz des Heiligen Stuhles ausgebildet, Rechtsfragen und Rechtsstreitigkeiten zunächst subsidiär, dann definitiv zu entscheiden. Seither galt für den Papst der Jurisdiktionsprimat, Glaubensfragen hingegen waren von Konzilien zu entscheiden. Nunmehr schlug die Theologie des Ultramontanismus zunehmend einen Ton an, der den päpstlichen Primat vor dem Hintergrund der „Irrtümer der Moderne“ zunehmend auch als inhaltliche Irrtumsfreiheit des päpstlichen Urteils in Lehrfragen betrachtete. Der Papst galt nicht mehr als symbolische Instanz der einheitlichen Bezeugung des Glaubens der Kirche (testificatio fidei), sondern als dessen inspiratorische Quelle, von der her die Kirche ihre Lehre eigentlich erst bezog (determinatio fidei).41 Solche hoch bedeutsamen theologischen Verschiebungen begleiteten – wie in Frankreich und Deutschland – die katholischen Zeitungen mit einem Populismus der Papstverehrung. Die Civiltà Cattolica propagierte im Jahr 1867 eine Gelübdekampagne für die päpstliche Unfehlbarkeit: Die eidliche Verpflichtung galt einem dreifachen Tribut des Geldes (der sogenannte Peterspfennig zur Behebung der kurialen Finanzmisere), des Blutes (die freiwillige Verteidigung des Kirchenstaates), darüber hinaus aber – und wesentlich – des Verstandes (tributo dell’intelletto). Das privat oder in Gemeinschaft abzulegende Gelübde solle verpflichten, die Lehre von der Unfehlbarkeit bis zum Martyrium zu bekennen. In diesem Klima gestaltete Pius IX. die Dogmatisierung der „Unbefleckten Empfängnis Mariens“ zu einem Testlauf für eine die päpstliche Infallibilität vorwegnehmende determinatio fidei. Nach einer Befragung des Weltepiskopats verkündete er das neue Dogma am Marienfest des 8. Dezember 1854 aus eigener Amtsvollkommenheit heraus.42 Weit fataler noch war die Wirkung der Enzyklika Quanta cura43, die Pius IX. exakt zehn Jahre später (8.12.1864) publizierte. Ihren Anhang bildete der sogenannte Syllabus errorum44, eine Zusammenstellung vermeintlich verurteilenswerter „Zeitirrtümer“. Darunter fielen nicht nur Kommunismus und Liberalismus, sondern die modernen Freiheitsrechte überhaupt: so auch die Unabhängigkeit der profanen Wissenschaften vom kirchlichen Lehramt, die Religionsfreiheit und die Pressefreiheit, weil sie zur Verbreitung der Vorstellung beitrügen, Menschen könnten außerhalb des religiösen Kosmos der katholischen Kirche ihrer göttlichen Bestimmung gerecht und dadurch selig werden, zudem alle philosophischen Systeme jenseits der Scholastik, also Rationalismus, Pantheismus oder Indifferentismus. Bedeutend waren auch die Verurteilungen, die dem modernen Staatswesen und dem Verhältnis von

41 Vgl. Schatz, Vaticanum I, Bd. 1, 11. 42 Bulle „Ineffabilis Deus“; DH 2800–2804: Denzinger, Heinrich/Hünermann, Peter (Hg.), Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum/Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen [...], Freiburg/Br. u. a. 392001, 774–776. 43 DH 2890–2896: Denzinger/Hünermann (Hg.), Enchiridion, 795–797. 44 DH 2901–2980: ebd., 798–809.

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Staat, bürgerlicher Gesellschaft und Kirche, der Bildung, der Erziehung und der Ehe galten: Aus katholischer Perspektive durchaus nicht ohne Grund – wenn auch maß- und kontextlos formuliert – hielt der Syllabus den Eindruck eines seine Allzuständigkeit gefräßig und antikirchlich ausweitenden staatlichen Handelns fest. Die römischen Theologen, die der päpstlichen Unfehlbarkeit vorarbeiteten, werteten das als Grenzüberschreitung in die traditionellen Eigenräume der Kirche, die sich als transzendent begründete Trägerin eines religiösen Wissens sui generis verstand. Darum verurteilte der abschließende 80. Satz des Syllabus, wiederum ohne Maß und Kontext, als gravierendsten Zeitirrtum die Vorstellung, der Papst könne und solle „sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden“45. Für gemäßigte Katholiken ganz Europas, die die Verständigung mit den modernen Ideen und Kräften suchten, war der Syllabus ein herber Schlag: Hohnlachend und mit beißendem Sarkasmus grenzte die nicht katholische Öffentlichkeit den Katholizismus nunmehr aus den ernstzunehmenden Geistesströmungen Europas aus. Es half wenig, dass insbesondere französische Bischöfe wie etwa der später bedeutende Minoritätsbischof des Ersten Vatikanischen Konzils, Felix Dupanloup (*1802, 1849–1878) von Orléans, sich alle Mühe gaben, eine politisch weniger brisante und kulturell weniger skandalöse Auslegung dieses Dokuments der Intransigenz zu etablieren. In diesem Klima berief Pius IX. im Jahr 1869 das Erste Vatikanische Konzil ein. Es war bewusst als Konzil des ultramontanen Antimodernismus angesetzt. Der italienische Episkopat konnte gar nicht anders, als sich bedingungslos hinter ihn zu stellen.

2.4. Belgien: Ultramontanismus im Rahmen der liberalen Volksdemokratie Als viertes Modell der Auseinandersetzung von katholischer Bewegung und Moderne kann Belgien gelten: Hier begründete der Abbé Félicité de Lamennais (Hugues Félicité Robert de la Mennais, 1782–1854) eine konkurrierende Variante ultramontanen Denkens, die die Kirche in gänzlich anderer Weise mit dem politischen Denken verflocht. Lamennais hatte zunächst selbst einen antirevolutionär-royalistischen Ultramontanismus vertreten: Es sei der religiöse Individualismus der Reformation, der sich historisch verantworten müsse für die Glaubensverluste der Aufklärung, die ihrerseits schließlich in die Aggressivität der Revolution mündete, um sich gegen die Herrschaft Gottes wie der Throne und schließlich gegen die religiöse, politische und soziale Ordnung insgesamt zu richten. Sein Essai sur l’indifference en matière de religion (1817) lie-

45 DH 2980: ebd., 809.

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ferte so einen „wichtigen Baustein der ultramontanen Ideologie“.46 In den 1820er Jahren änderte er seine Haltung signifikant und einflussreich: In seiner Schrift De la religion considerée dans ses rapports avec l’ordre politique et civil (Über die Religion, bedacht in ihren Beziehungen mit der politischen und öffentlichen Ordnung, 1825/26) propagierte er, die Kirche müsse sich von ihrer bisherigen Orientierung an der Macht der Throne abkehren. Kein Jota vergab er der Gewissheit der Ultramontanen, mit den Bevormundungen und Instrumentalisierungen der Religion im vorrevolutionären Gallikanismus wie im nachrevolutionären Staatskirchentum müsse scharf abgerechnet werden. Eben darum solle, anders als bei de Maistre und Capellari/Gregor XVI., die Kirche ihr Bündnis nicht mehr mit dem von Revolution und Krieg überrannten Gottesgnadentum, sondern mit den gläubigen Völkern suchen. Sein Verständnis von Ultramontanismus verschwisterte die papalistische Neuausrichtung der Ekklesiologie daher mit den liberalen Bewegungen für Freiheit und Demokratie. Nach der Julirevolution von 1830 emanzipierte sich Belgien vom 1815 entstandenen „Königreich der Vereinigten Niederlande“; hier schien sich dieses Modell verwirklichen zu lassen. Eine Trennung von Kirche und Staat befreite erstere von den staatskirchlichen Zumutungen vor und nach 1789 und verschaffte ihr neue, traditionalistisch verstandene Glaubwürdigkeit. Die katholische und die liberale Bewegung begannen zugunsten völliger Kirchen-, aber auch Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit unter dem Signet der Volkssouveränität zusammenzuarbeiten und unterstützten die irische Freiheitsbewegung gegen die englische Ausbeutung wie die polnischen Unabhängigkeitsaufstände gegen das zaristische Russland. Lamennais wurde daraufhin auch in Frankreich und im deutschen Sprachraum zur unbestrittenen Führungsfigur des „populistischen“, seinen hochkonservativ-elitären Status überwindenden Ultramontanismus. Seine Zeitschrift L’Avenir (Die Zukunft, begründet 1830), in der er das Bündnis von ultramontaner Kirche und liberaler Bewegung theologisch entfaltete, das in Belgien praktisch geworden war, erfreute sich auch unter gemäßigten Hermesianern im Rheinland großer Anerkennung: „Freiheit wie in Belgien“ wurde zum geflügelten Wort. Es konnte nicht ausbleiben, dass diese Legitimation der liberalen Volksdemokratie, und sei sie ultramontan katholisch, gerade wegen ihrer europaweiten Solidarisierungen mit Iren und Polen in Wien Verschwörungsängste wachrief und in den Ministerialetagen der restriktiven preußischen Innen- und Kirchenpolitik Panik auslöste. Kein Geringerer als der österreichische Staatskanzler Clemens von Metternich setzte durch eine Intervention bei Gregor XVI. durch, dass der Heilige Stuhl Lammenais’ zentrale Ideen und die die bürgerlichen Freiheitsrechte garantierende belgische Verfassung in der Enzyklika Mirari vos (15.8.1832) als „Indifferentismus“ verurteilte. Dieser Text offenbart, wie auch andere Dokumente, die Unfähigkeit dieses Pontifikats, im Hinblick auf die politische und kulturelle Moderne zu differenzieren:

46 Schwedt, Hermann H., Art. „La Mennais, Hugo-Félicité-Robert de“, in: LThK, Bd. 3, Freiburg/Br. ³1997, ND 2006, 568f.

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„Aus dieser höchst abscheulichen Quelle des Indifferentismus fließt jene irrige und widersinnige Auffassung bzw. vielmehr der Wahn, einem jeden müsse die Freiheit des Gewissens zugesprochen oder sichergestellt werden. Diesem geradezu pesthaften Irrtum bahnt freilich jene vollständige und ungezügelte Meinungsfreiheit den Weg, die zum Sturz des heiligen und bürgerlichen Gemeinwesens weit und breit grassiert.“47 Die Kurie wie die Staaten der „Heiligen Allianz“ verteidigten mit den Mitteln von Inquisition und Buchzensur ihr 1815 geschmiedetes Bündnis von Thron und Altar. Lamennais unterwarf sich, veröffentlichte in seinen Paroles d’un croyant (Gebete eines Gläubigen, 1834) aber eine implizite Kritik. Nun wurde er erst recht ausgegrenzt; die erneute Verurteilung in der Enzyklika Singulari nos (25.6.1834) politisierte ihn zu einer generellen Wendung gegen jene Kirche, die er einst so glühend gegen Aufklärung und Revolution verteidigt hatte: „Der Hl. Stuhl verurteilte im 19. Jahrhundert keinen katholischen Priester zu Lebzeiten so ausdrücklich wie Lamennais“. Bücherverbote in Preußen und Österreich folgten den Indizierungen aus dem Kirchenstaat.48 Obwohl Lamennais scheiterte und bis 1848 für seine Person den Weg in die revolutionäre Politik einschlug, blieben Elemente seines Denkens in der ultramontanen Bewegung präsent: Sie stand nunmehr auch für einen Populismus der Massen, die sie kontrolliert und eingehegt einband, nicht aber von oben herab pädagogisierte, und bezog von dort einen anti-bürgerlichen wie staatsskeptischen Zug. Gleichzeitig aber war die Massivität, mit der die zukunftsweisenden Signale der katholischen Bewegung in Belgien von der Kurie marginalisiert worden waren, ein Warnsignal. Alle, die zwar loyal zur Kirche standen, aber die wirklichkeitsferne Papolatrie der radikalen Ultramontanen nicht teilten, begannen eine Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit zu fürchten. Darunter waren einige der intellektuell bedeutendsten und kirchenpolitisch eigenständigsten deutschen und französischen Bischöfe.

2.5. Der Minderheiten-Katholizismus der anglophonen Welt In England hatten Katholiken erst mit der Emanzipation im Jahr 1829 die volle bürgerliche Rechtsfähigkeit erlangt. So war die Wiedererrichtung einer katholischen Hierarchie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein echtes Wagnis; die Engländer feierten den Guy-Fawkes-Day49 noch immer mit der Inbrunst eines lebendigen antikatholischen Ressentiments. Kardinal Nicholas Wiseman (*1802, 1848/50–1865), seit 1850 Erzbischof von Westminster und Haupt der dreizehn Diözesen umfassenden Kirchenprovinz England, war gut beraten, zunächst an einem sehr vorsichtigen kirchenpolitischen Kurs festzuhalten, der alles das vermied, was als übertriebene Marien- und Heiligenverehrung, als demonstrativer Sakralpomp oder gar als päpstliche Beeinflus-

47 Vgl. DH 2730–2732: Denzinger/Hünermann (Hrsg.), Enchiridion, 758. 48 Schwedt, La Mennais, 568. 49 Vgl. Schjørring/Hjelm (Hrsg.), 401–409.

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sung des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens Missgunst hätte erwecken können. Zunehmend aber machte sich, auch unter dem Einfluss zugewanderter Iren, auch hier ein radikal ultramontaner Kurs bemerkbar, dessen Spaltungspotential die Neuanfänge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dramatisch überschattete.50 Will man eine solche Trennung der Interessen und Stile personalisieren, treten auf der einen Seite der Historiker und Publizist John Emerich Edward Dalberg-Acton (1834–1902), auf der anderen Seite der Nachfolger Wisemans als Erzbischof von Westminster, der Kardinal Henry Edward Manning (*1808, 1865–1892) hervor. Lord Acton war ein Schüler und Bewunderer Döllingers. Die katholisch-niederadlige Familie, der er entstammte, hatte in England zunächst keine Chancen öffentlicher Betätigung und hatte daher zeitweise in Italien und Frankreich gelebt. Lord Acton selbst, dem ein Studium in Cambridge verwehrt war, baute unter dem Einfluss Döllingers eine riesige private Gelehrtenbibliothek und ein überkonfessionelles Netzwerk des Historismus auf. Seine Zeitschrift The Rambler skizzierte schon im Titel den Herausgeber als Wanderer in den offenen geisteswissenschaftlichen und kulturhistorischen Landschaften Europas; dementsprechend offen – geschichtsbewusst, wandlungsfähig, global – dachte Lord Acton den Katholizismus. Der Rambler hatte seine Wurzeln im Oxford Movement; der spätere Kardinal John Henry Newman (1801–1890) hatte die Zeitschrift bis 1859 redigiert. Das Oxford Movement ging aus von dem Gedanken, die englische Kirche deutlicher als Kirche denn als Staatsanstalt hervortreten zu lassen, ihre Verwurzelung im apostolischen Urchristentum und ihre geistliche und soziale Mission zu stärken. Die Kirche sollte nicht mehr als ein Gebilde erscheinen, „das der Staat während der Reformationszeit zusammengeschustert hatte, damit der König sich scheiden lassen konnte“.51 Die in Oxford sehr umstrittene und von den Anglikanern sehr angefochtene Bewegung distanzierte sich sowohl vom subjektiven Gefühlschristentum der Evangelikalen mit ihrem radikalen und letztlich ahistorischen Biblizismus als auch vom theologischen Rationalismus der Aufklärung, der die Lehre des Christentums historisierte und die Lebensform des Christlichen moralisierend verbürgerlichte. Es war keineswegs Absicht, lag aber im Gefälle dieser Gedankenwelt, dass sie in vielen ihrer Vertreter eine Neigung zur Konversion hervorbrachte. Newman, zunächst Geistlicher der anglikanischen Staatskirche in der akademischen Welt Oxfords, hatte als späterer Exponent des Anglo-Katholizismus eine an Wendungen reiche Glaubensbiografie durchlebt. Auch bei Newman war es historische Bildung, die seine Hinwendung zum Katholizismus förderte: Schon als Student hatte er sich ausführlich mit der christlichen Antike und mit der patristischen Theologie befasst, die auch in der akademischen Theologie des Anglikanismus höchste Wertschätzung genoss. Von diesen Studien her erschienen ihm die Mitte des 16. Jahrhunderts gelegten Grundlagen der

50 Vgl. Knight, Frances, The Nineteenth-Century Church and English Society, Cambridge 1995. Vgl. McLeod, Die Revolutionen und die Kirche, in diesem Band, passim. 51 Burleigh, Irdische Mächte, 395.

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anglikanischen Staatskirche als vorwiegend politisch motiviert, theologisch fragwürdig und zeitgebunden. Es war der Katholizismus, den er, beeinflusst vom historischen Denken der frühen Tübinger Theologie, als sich in der Geschichte „organisch“ entfaltende legitime Ausgestaltung des biblisch-apostolischen Urchristentums begriff. Nach seiner Konversion saß Newman – wie das Oxford Movement insgesamt – zwischen allen Stühlen. Das akademische Milieu war mit seiner Identitätspolitik und seinen Repräsentationsformen untrennbar mit dem Anglikanismus verwoben und duldete keine Renegaten. Nicht weniger skeptisch waren die eng ultramontan denkenden Gruppen des englischen Katholizismus; sie witterten unaufrichtiges Kulturchristentum und unabhängige Intellektualität. Zeitlebens hat Newman sich selbst erklären müssen (Apologia pro sua vita, 1864; Grammar of Assent, 1870) – erst in seinen späten Lebensjahren wuchs der Respekt sowohl unter den Intellektuellen Englands als auch im Katholizismus.52 Lord Acton argumentierte in seinen Veröffentlichungen auf genau dieser Linie des Verständnisses von Geschichte und Christentum als Entfaltung einer sozial und religiös integrierten Freiheit. Allerdings: Während Newman die Lehre der päpstlichen Infallibilität für zwar richtig, aber inopportun hielt, schlussfolgerte Acton aus seinen historischen Studien, dass sie falsch sei.53 Er trug das in den englischen Katholizismus, was man in Deutschland als Döllinger-Schule und Döllinger-Kurs eines gemäßigten Ultramontanismus bezeichnete. Nicht umsonst unterhielt Acton enge freundschaftliche und politische Beziehungen zum englischen Premierminister William Ewart Gladstone (1809–1898), einem liberalen Anglikaner, der ebenfalls Döllinger las, und der die anglikanische Staatskirche nicht entstaatlichen, aber doch entprivilegieren und verkirchlichen wollte, und der gleichzeitig

52 Vgl. Biemer, Günter, Die Wahrheit wird stärker sein. Das Leben Kardinal Newmans, Frankfurt/M. u. a. 2000. Fergusson, David (Hg.), The Blackwell Companion to NineteenthCentury Theology, Oxford u. a. 2010, 119–138. Honoré, Jean, La pensée de John Henry Newman. Une introduction, Paris 2010. Ker, Ian T., John Henry Newman. A Biography, Oxford u. a. 2009. Koritensky, Andreas, John Henry Newmans Theorie der religiösen Erkenntnis, Stuttgart 2011. Kuczok, Marcin, Conceptualisation of the Christian Life in John Henry Newmans Parochial and Plain Sermons, Newcastle upon Tyne 2014. Müller, Georg, Die unsichtbare Welt. Der Anspruch des Christentums im Leben und Denken von John Henry Newman, Trier 2009. Schwanke, Johannes, John Henry Newmans Konversion. Sein Weg zur katholischen Kirche aus protestantischer Perspektive, Berlin 2011. Sidenvall, Erik, After anti-Catholicism. John Henry Newman and Protestant Britain, 1845–c. 1890, London u. a. 2005. 53 Vgl. Böhr, Christoph, Glaube, Gewissen, Freiheit: Lord Acton und die religiösen Grundlagen der liberalen Gesellschaft, Wiesbaden 2015. Hart, Joseph A., Lord Acton and the First Vatican Council. A View of Infallibility from his Writings and Unpublished Manuscripts, Rom 1994. Hill, Roland, Lord Acton. Ein Vorkämpfer für religiöse und politische Freiheit im 19. Jahrhundert, Freiburg/Br. 2002. Engl. Orig.: Hill, Roland, Lord Acton, New Haven u. a. 2000. Nurser, John, The Reign of Conscience. Individual, Church, and State in Lord Actons History of Liberty, New York u .a. 1987. Pezzimento, Rocco, Il pensiero politico di Lord Acton. I cattolici inglesi nell’ Ottocento, Rom 1992.

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England stets von Neuem vor päpstlichen „Angriffen“ zu schützen trachtete. Als Acton Döllingers Kritik und Relativierung des Kirchenstaates aufnahm, erzwangen die englischen Bischöfe das Ende des Rambler. Acton gründete daraufhin ein Nachfolgeblatt: The Home and Foreign Review. Auch dieses Unternehmen musste er nach kurzer Zeit wieder einstellen, weil er der päpstlichen Verurteilung Döllingers in Tuas libenter nicht zustimmen, sich dem Papst aber auch nicht öffentlich widersetzen wollte. Diese Zwickmühle verschloss den gemäßigt ultramontanen Katholiken nicht nur in England, sondern in ganz Europa zunehmend den Mund: Sie betrachteten den Papst mit Glaubensbereitschaft und Ehrfurcht als Oberhaupt der Kirche und Symbol ihrer Einheit. Sie wollten kein Öl ins Feuer des Antikatholizismus gießen. Sie wollten aber auch einer ungeistlichen Konzentration spiritueller Macht entgegenwirken, ohne dafür noch ein Mittel zu besitzen. Von einem derartigen Zwiespalt wurde Henry Edward Manning als Nachfolger Wisemans nicht angefochten. Als Kardinal, Erzbischof von Westminster und Primas der englischen Bischöfe stand er für einen betont anti-intellektualistischen, ja populistischen und unbedingt papsttreuen Katholizismus. Dieser sollte nicht zwischen der römischen Kirche und der anglikanisch-liberalen Kultur Englands vermitteln, sondern den Unterschied schroff herausarbeiten: „eindeutige Profilierung des Katholischen in Antithese zum ‚protestantischen‘ Prinzip der Auflösung und Beliebigkeit, zugleich mit betonter Nähe zum einfachen Volk und wachem sozialem Empfinden“.54 Während die Anglikaner ein waches soziales Gewissen hatten, sie aber gleichzeitig ihr zaghaftes Vortasten in die Elendsviertel Londons und anderer Industriestädte als Expeditionen in eine fremde und gefährliche Welt erlebten55, profitierte der Sozialkatholizismus davon, dass viele der marginalisierten Arbeiter Englands irische Katholiken waren. Das ähnelte dem deutschen Ultramontanismus, der den wachsenden Unterschichten der Arbeitsmigranten ebenfalls mit weniger Berührungsängsten begegnete als das liberale Establishment. Manning und sein Sprachrohr, der Dublin Review, vertraten eine extreme, maximalistische Auslegung der päpstlichen Unfehlbarkeit, die auch den Syllabus einschloss. Er konnte sich hier der Unterstützung der irischen Katholiken sicher sein, die angesichts der Geschichte ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung nationale Identität mit betontem Anti-Anglikanismus verbanden. Wiseman hatte 1854 in Dublin eine katholische Universität gegründet und Newman zu ihrem Gründungsrektor bestimmt, um dieser jungen Pflanzstätte katholischer Intellektualität gegenüber der angestammt anglikanischen University of Dublin Profil zu verleihen. Der jedoch musste angesichts der rückständigen Erwartungshaltung des Erzbischofs von Dublin, Kardinal Paul Cullen (*1803, 1849/52–1878), schon nach wenigen Jahren resignieren; über eine vergleichsweise primitive Landvolkshochschule

54 Vgl. Schatz, Vaticanum I, Bd. 1, 49–51, Zitat 50. 55 Vgl. Burleigh, Irdische Mächte, 458–485.

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kam die katholische Universität danach nicht mehr hinaus. Manning, der nachweislich das Gelübde für die päpstliche Unfehlbarkeit mit seinem dreifachen Tribut geleistet hatte, sollte auf dem Konzil zu einem ihrer lautesten und intrigantesten Vorkämpfer werden. Diesen Katholizismus exportierten die zahlreichen irischen Auswanderer in die Neue Welt; neben ihnen bestand die katholische Kirche, die kaum mehr als ein Zehntel der Bevölkerung ausmachte, aus deutlich kleineren Gruppen von Deutschen, Italienern und Franko-Kanadiern. Wie in England und Irland war auch der amerikanische Katholizismus eine Religion der Unterschichten und der Arbeitsmigranten – in der sie umgebenden Gesellschaft ohne Einfluss, war der Papst für sie ein ferner, aber fester Anker der Identität. Dementsprechend stand auch der amerikanische Katholizismus fest auf der Seite des strengen Ultramontanismus.

3. Ultramontanismus und Infallibilität: Das Erste Vatikanische Konzil Der Durchgang durch typische Konfliktkonstellationen des europäischen Katholizismus sollte den Sog verdeutlichen, der die Konzilsbischöfe mehrheitlich zu einer Befürwortung des Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit ziehen sollte. Europa war in dieser Frage in extrem polarisierte, aber keineswegs gleich mächtige Lager gespalten. Die Infallibilisten hatten eine breitere Öffentlichkeit hinter sich, weil die Antiinfallibilisten als uneindeutig und halbherzig ausgeschrien werden konnten. Gleichzeitig konnten sie außerhalb der katholischen Kontroversen kaum Unterstützung mobilisieren: Der pauschale Antikatholizismus der protestantischen, der liberalen und der nationalen Milieus war stets umfassender als deren Antiinfallibilismus. Ob sich die gemäßigten Ultramontanen also dezidiert äußerten oder loyal zurückhielten: Es stärkte ihre Position nicht. „Aus dem Schweigen musste die Gegenseite die Konsequenz ziehen, dass die katholische Welt einverstanden war; regte sich aber Widerstand, dann war dies erst recht ein Beweis für die Notwendigkeit der Definition, da die Lehre angegriffen war.“56

3.1. Das Setting des Konzils Angesichts der erregten Debatten war die Geschäftsordnung des Konzils, das in symbolträchtiger Kontinuität erneut auf den 8. Dezember 1869 einberufen

56 Schatz, Vaticanum I, Bd. 1, 274.

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wurde, von vornherein darauf angelegt, im Rahmen einer lehrhaften Abrechnung mit den Entwicklungen der politischen und kulturellen Moderne die päpstliche Unfehlbarkeit zu dogmatisieren. Es gab eine ganze Reihe von Befürwortern im französischen Episkopat, unter den Autoren des L’Univers und der Civiltà Cattolica, die eine umstandslose Akklamation ohne jede vorausgehende Debatte als Brausen des Heiligen Geistes wahrzunehmen hofften. Weil das organisatorisch nicht sicherzustellen war, verfuhren die vorbereitenden Kommissionen äußerst restriktiv: Die Texte, die dem Konzil vorgelegt werden sollten, wurden von ausschließlich kurialen Sachkommissionen erarbeitet und den Bischöfen erst unmittelbar vor der Eröffnung bekannt gemacht. Ein Propositionsrecht für die zu behandelnden Themen sollte ursprünglich nur der Papst erhalten. Da er aber die Erörterung seiner Unfehlbarkeit unmöglich selbst einbringen konnte, wurde eine Postulatenkommission aus zuverlässigen Infallibilisten eingesetzt, die bischöfliche Initiativen prüfen und filtern sollte. Die römisch-neoscholastische Theologie dominierte die Konzilsvorbereitung vollkommen: „Insgesamt markiert diese Geschäftsordnung innerhalb der Konziliengeschichte einen bisher nicht dagewesenen Gipfelpunkt des papalistischen Prinzips. [...] Der Grund war die Furcht vor unliebsamen Kontroversen und Parteiungen [...] und die Vorstellung, was vom Papst komme, genieße eine viel höhere Autorität und mehr Vertrauen. Faktisch aber sollten gerade diese Bestimmungen dazu beitragen, die Spaltung unter den Vätern gleich zu Beginn zu verschärfen.“57 Die inhaltliche Vorbereitung des Konzils in den Spezialkommissionen thematisierte alle jene Punkte, an denen der Graben zwischen den europäischen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft und den Ansprüchen der Kirche besonders tief aufgerissen worden war: das Verhältnis von Kirche und Staat, die hierarchische Verfassung der Kirche, der Kirchenstaat, die Quellen von Offenbarung und Glaube gegen den Protestantismus als Quelle von Spaltung, Rationalismus und Unglauben, die daraus folgenden modernen Zeitirrtümer, die kirchliche Ehe gegen die Zivilehe, die politischen Bewegungen des Sozialismus und Liberalismus, die Ausbildung und Disziplin des Klerus, die Wiederzulassung und Neugründung der Orden und deren Orientierung am strikten Gehorsamsmodell der Jesuiten. Auch daran zeigte sich, wie stark dieses Konzil noch eurozentrisch ausgerichtet war, ohne großes Gespür für die bisherigen Misserfolge und die noch kommenden Probleme einer weltkirchlichen Mission in Afrika und Asien, die mit dem europäischen Kolonialismus einhergehen sollte. Unter den knapp einhundert Konsultoren der Vorphase war nur ein Drittel Nichtitaliener, und ganze fünf konnten als Vertreter der Gemäßigten gelten. So nahm es nicht Wunder, dass sich in den vorbereiteten Dokumententwürfen die intransigente Richtung auf ganzer Linie durchsetzte. Wer sich nicht auf dieser Linie befand, begann das

57 Ebd., 145.

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Konzil als „Applauskulisse“ für längst in kurialen Hinterzimmern gefällte Entscheidungen zu betrachten.58 Diese Ressentiments wurden genährt durch die absolute Geheimhaltung, die allen Konzilsteilnehmern auferlegt wurde. Das war nicht klug: Denn die Öffentlichkeit bildete sich daher ihr Urteil gemäß der konzilskritischen Publizistik im Stil des „Janus“ – die dort fest eingepflanzten Vorstellungen und Urteile sollten später die europäischen Kulturkämpfe dominieren. Die Generalkongregationen, also die Vollversammlungen aller etwa 700 Konzilsväter, wurden im Seitenschiff der Basilika S. Pietro in Vaticano abgehalten, um Schemata zu diskutieren, zu modifizieren oder über sie abzustimmen. Der Raum war akustisch völlig ungeeignet; niemand verstand den anderen. Auch das verstärkte den Eindruck, dass den Kurialen an einer echten Diskussion der Probleme gar nicht gelegen war. Vor allem jene Bischöfe, die selbst nur wenig theologische Bildung erfahren hatten, hielten das auch für ganz unnötig. Für die „eigentlichen“ und die „wahren Katholiken“ lägen die Dinge ohnehin klar vor Augen; komplizierte Reden, die außer ihnen selbst niemand verstünde, führten nur die Kompromissler mit dem Zeitgeist.

3.2. Startbedingungen und Debatten – Majorität und Minorität Trotz der umfangreichen Themen, die die Spezialkommissionen im Vorfeld erarbeitet hatten, orientierte sich die Gruppenbildung von vornherein an der Frage der Infallibilität: Die Minorität umfasste nur etwa zwanzig Prozent der Konzilsteilnehmer; vier Fünftel hielten sich, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, an die kurialen Vorgaben. Die Minorität erlitt bereits in den ersten Konzilstagen eine Niederlage: Die Dogmatische Kommission, in der die Unfehlbarkeitsfrage verhandelt werden würde, konnte durch taktische Finessen der Infallibilisten ausschließlich aus deren Reihen besetzt werden. Sie fühlten sich dadurch bestärkt, schon Tage später Listen herumzureichen, auf denen eine Mehrheit der Bischöfe der Postulatenkommission die Einfügung eines Schemas über die päpstliche Unfehlbarkeit in das vorbereitete Schema über die Kirche empfahl. Wiederum beging die Minorität den Fehler, sich auf ein geschlossenes, aber folgenloses Nein zu verständigen, statt das Gespräch mit gemäßigten Mitgliedern der Majorität zu suchen. Der schon anfangs erzeugte Zeitdruck wuchs, weil Deutschland und Frankreich unübersehbar auf einen politischen Konflikt zutrieben, der das Konzil ohne Zweifel gesprengt hätte. Also setzten die Infallibilisten mit autoritativer Unterstützung Papst Pius’ IX., aber gegen eine Mehrheit des Konzilspräsidiums durch, die Verhandlung der päpstlichen Unfehlbarkeit, sys-

58 Ebd., 208.

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tematisch eigentlich ein nachrangiges Thema der Kirchenkonstitution, als sogenannte „Erste Kirchenkonstitution“ herauszulösen und vorrangig zu behandeln. Nun war der Minorität endgültig klar, dass gegenüber diesem Durchsetzungswillen alle anderen zentralen Fragen des Konzils an den Rand geschoben wurden. Papst Pius IX. machte durch Druck und dramatische Szenen klar, dass er die Definition unbedingt verlangte und sich selbst als Inkarnation der Kirche und ihrer Lehrtradition verstand. Für die knappe restliche Dauer des Konzils ging es um keine andere Frage mehr. Die Generaldebatte, die über Wochen hinweg unter den harten Bedingungen des römischen Sommers stattfand, erbrachte keine neuen Aspekte, sondern nur einen unerbittlich in die Länge gezogenen Schlagabtausch. Die Majorität offenbarte darin ihre schonungslos pessimistische Sicht auf die Weltläufte: Die beherrschende Signatur der Gegenwart sei der Totalangriff auf Kirche und Christentum. Eine Kette der Gefahr ziehe sich vom Konziliarismus über die Reformation und die Aufklärung bis zur Revolution. Katholiken, die hier nur eine Handbreit nachgäben, förderten innerkirchliche Brüche, religiöse Auflösungserscheinungen und die Uneinheitlichkeit theologischen Denkens und kirchlichen Lebens. Die Sache der Wahrheit dulde keine Debatten, keine Kompromisse und keine Mäßigung: hier gehe es um ja oder nein. Die Minorität sah in dieser Skizze nicht nur einen verzerrten Blick auf die Welt, sondern auch ein aus den Fugen geratenes Bild von Kirche. Die Kirche als Corpus Christi mysticum sei ein Leib mit vielen Gliedern, deren Interaktion völlig aus dem Blick gerate, wenn das Konzil den Anschein erwecke, als sei es nur zur Steigerung der Macht des römischen Bischofs zusammengetreten. Die Kirche könne ihren Dienst an der Welt, der so herausfordernd sei, wirkungsvoller verrichten, wenn sie sich nicht durch die radikale Agitation für die Unfehlbarkeit ihres gebildeten Teils beraube. Derzeit seien die größten Feinde der Kirche ausgerechnet ihre maßlosen Verteidiger.59 Weil die päpstliche Unfehlbarkeit nicht nur als innerkirchliche Angelegenheit, sondern auch als die Antwort der Kirche an die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verhandelt wurde, spielte deren Reichweite natürlich eine erhebliche Rolle. Maximalisten sahen die päpstliche Unfehlbarkeit bereits im hohen Mittelalter als Realität und rezipierten Glauben; erst der Konziliarismus habe das zerstört. Die Unfehlbarkeit des Papstes sei das eigentliche Fundament der Unfehlbarkeit der Kirche, nicht umgekehrt. Der göttlich verheißene Paraklet, der Beistand des Heiligen Geistes, spreche ausschließlich durch den Papst zur Gesamtkirche – alle geistliche Gewalt in der Kirche sei daher ein Ausfluss päpstlicher Delegationsvollmacht. Die Unfehlbarkeit sei daher eine infallibilitas separata et personalis; sie komme dem Papst persönlich qua Amt zu, die Kirche sei unfehlbar nur insofern, als sie mit dem Papst übereinstimme – gegen jede Form von Gallikanismus, Episkopalismus oder

59 Vgl. Schatz, Vaticanum I, Bd. 3, 39.

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eigenständiger theologischer Forschung. Das definire einer päpstlichen Entscheidung ex cathedra, also die Äußerung des Heiligen Stuhles in einer für das kirchliche Leben relevanten Frage, sei kein Rat und keine Mahnung, sondern eine unabänderliche Entscheidung. Das sollte selbst dann gelten, wenn der Papst nicht selbst entschied, sondern sich ein Urteil der Kurie zu eigen machte. Man legte sich explizit die Frage vor, was das für die vieldiskutierten Fälle des römischen Bischofs Honorius oder des Inquisitionsurteils gegen Galileo Galilei (1564–1642) bedeuten würde – und blieb dennoch dabei. Bei den Maximalisten dominierte eine Vorstellung von Unfehlbarkeit, „in welcher nur die Kirche auf den Papst verwiesen ist und nicht auch umgekehrt, und im Grunde jede Lehrentscheidung des Papstes ex cathedra ist.“60 Diese maximalistische Auffassung von Infallibilität wurde schlussendlich nicht definiert und danach auch nie zur Anwendung zu bringen versucht. Die Minorität, fasst man ihre Debattenbeiträge typologisierend zusammen, nahm theologisch ernst, dass die stete Berufung der Maximalisten auf die Tradition auch geschichtlich erweisbar sein müsse, wolle sie im Zeitalter des Historismus Glaubwürdigkeit beanspruchen. Die Zeugnisse der Lehrtradition wie auch die tatsächlich eruierbare Geschichte der Kirche waren als normativ für die Frage nach dem Träger der Unfehlbarkeit zu betrachten. Einer der prominentesten Bischöfe der Minorität, Karl Joseph Hefele, hatte sich als Kirchenhistoriker in Tübingen jahrzehntelang – in ultramontaner Perspektive – mit der Geschichte der Konzilien befasst.61 Er folgerte: Die Weise, wie Lehrstreitigkeiten faktisch geklärt wurden, bekam einen normativen Charakter für die Ekklesiologie und damit auch für die Lehre vom Primat. Niemand in den Reihen der Minoritätsbischöfe – samt und sonders sehr fromme und sehr romtreue Gegner des Staatskirchentums und des Rationalismus – bezweifelte, dass der Papst als göttlich eingesetzter Leiter der Kirche ein höchstes Amt zur Bezeugung des rechten Glaubens innehabe. Aber indem sie diese Funktion der testificatio fidei demütig zugestanden, bestritten sie umso entschiedener die determinatio fidei. Sie dachten die päpstliche Unfehlbarkeit von der Unfehlbarkeit der Kirche als ganzer her: Weil der Kirche der Beistand des Heiligen Geistes bis zur Wiederkunft des Herrn zugesagt sei (Joh 14,16.26), verkörpere der Papst als Stellvertreter Christi wie Petri eben jene Zusage, die der ganzen Kirche gelte. Damit wandten sie sich gegen die Vorstellung einer infallibilitas separata et personalis und verlangten, dass der Zusammenhang zwischen der Unfehlbarkeit der Kirche und der Unfehlbarkeit des Papstes unmissverständlich herausgestellt würde, dass also ex cathedra-Entscheidungen unter sicht- und nachprüfbarer Beteiligung der Bischöfe der Gesamtkirche zustande kamen. Dem Papst komme die Unfehlbarkeit nicht rein persönlich, nicht rein gottunmittelbar und

60 Schatz, Vaticanum I, Bd. 1, 157. 61 Vgl. Wolf, Hubert (Hg.), Zwischen Wahrheit und Gehorsam. Carl Joseph von Hefele (1809–1893), Ostfildern 1994.

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nicht ohne kirchliche Vermittlung zu; er sei das Zentrum, wo alles zusammenkommt, aber nicht die Quelle, von der alles ausströmt.62 Die Minorität unternahm hier den Versuch, einen episkopalistischen Kirchenbegriff in eine Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit hineinzuretten. Die unendlich vielen Zwischentöne einer sich über Wochen hinziehenden Debatte sind hier nicht annähernd eingefangen. Neben aller zähen Dumpfheit festgefahrener Positionen brachten beide Seiten rhetorisch und theologisch beeindruckende Beiträge ein. Doch am Schluss siegten die Ermüdung und schließlich der Tumult: Es sei die Stunde nicht der Diskussion, sondern der Definition; die Minderheit habe sich zu beugen. Pius IX. verstärkte den Druck auf die Minorität: Als der Erzbischof von Florenz, Kardinal Filippo Maria Guidi (*1815, 1863–1879), einen viel beachteten Kompromissvorschlag einbrachte, der eine Wende des Konzils zum Konsens andeutete, verweigerte Pius IX. in einer seines Amtes unwürdigen, aggressiven Szene seine Zustimmung. Kardinal Guidi verwies auf die Tradition; zu ihrem Erweis berief er sich auf die maximalen Autoritäten der Neuscholastik: Thomas von Aquin und Robert Bellarmin. Gegen diesen Traditionsverweis fielen in höchster Erregung die berüchtigten Worte: „Ich, ich bin die Tradition, ich, ich bin die Kirche! (La tradizione sono io […]!)“63 Gegner der Lehre von der päpstlichen Infallibilität haben sich darauf gestützt, dass der Druck, den Pius IX. auf das Konzil ausübte, und die offene Missbilligung, die Skeptiker und Gegner traf, die Freiheit des Konzils beeinträchtigt habe. Könne, wenn der Papst so offenkundig in das Konzil ein- und seinem Ergebnis vorgreife, von einer freien Wirksamkeit des Heiligen Geistes auf dem Konzil ausgegangen werden? Schwerer jedoch als die harschen Szenen, die zwischen Papst und Konzil vorfielen, wog die unüberbrückbare Kluft zwischen Majorität und Minorität innerhalb des Konzils. Nachdem die Minderheit der Gegner ganz zu Beginn ins Hintertreffen geraten war, ließ man sie in den Generalkongregationen zwar reden. Aber man räumte ihren Vertretern und deren Argumenten keinerlei Einfluss auf die zentrale Dogmatische Kommission ein, wo die entscheidenden Texte geschrieben wurden. Die Minorität versuchte daraufhin ein starkes Zeichen zu setzen. Ihre Anhänger sollten möglichst geschlossen mit non placet abstimmen, was knapp zwanzig Prozent auch taten. Knapp sechs Prozent votierten mit placet iuxta modum, fast drei Viertel mit placet. Die Minoritätsbischöfe erwarteten fest, nun endlich müsse die Majorität sich auf sie zubewegen, um die brüderliche unanimitas zu gewährleisten; Einstimmigkeit galt als besonderer Ausweis der Legitimität und Geistgewirktheit konziliärer Entscheidungen. Das Gegenteil trat ein: Der Minderheit wurde nun häretische Verbohrtheit vorgeworfen; mit placet iuxta modum hätte man verhandelt, mit non placet hingegen nicht. Statt erneuter Gesprächsangebote wurden nun

62 Schatz, Vaticanum I, Bd. 3, 68. 63 Ebd., 314.

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verschärfende Formulierungen in das Schema eingefügt. Sie sollten die Unabhängigkeit des definierenden Papstes vom sicht- und überprüfbaren Konsens der Kirche unzweifelhaft herausstellen. Den Unterlegenen blieb nichts anderes übrig als der Rückzug – 56 von ihnen unterzeichneten ein Protestschreiben an Pius IX. und reisten ab. Der Tag der feierlichen Schlussabstimmung über die erste dogmatische Konstitution Pastor aeternus über die Kirche Christi (18.7.1870) war überschattet von einem verfahrenen Konzilsverlauf und einem Ergebnis, das niemanden zufriedenstellen konnte, der an der Einheit der Kirche wirklich interessiert war. Wenige Tage später brach der deutsch-französische Krieg aus. Das Konzil löste sich auf, weil es sich den Nationalismen nicht entziehen konnte.

3.3. Deutungen der Konstitution Pastor aeternus Die Vertreter der Maximalposition auf dem Konzil konnten mit seinem Ergebnis nur bedingt zufrieden sein. Ein Verständnis der päpstlichen Infallibilität, die alle Lehrakte des Papstes (und mittelbar der Kurie) personalis et separata als unfehlbar erklärte, stand gerade nicht am Ende des Konzils: „Wenn der Römische Bischof ‚ex cathedra‘ spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität entscheidet, daß eine Glaubens- oder Sittenlehre von der gesamten Kirche festzuhalten ist, dann besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistands jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte; und daher sind solche Definitionen des Römischen Bischofs aus sich, nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich.“64

Weder hat der Papst als Person stets recht, spricht und handelt also irrtumsfrei oder gar sündlos, noch trifft das auf den Papst als Amtsträger zu. Erst dann, wenn der Papst in seinem Amt als römischer Bischof und als Stellvertreter Christi ex cathedra spricht, also seine „höchste Apostolische Autorität“ eindeutig in Anspruch nimmt, ist das, was er entscheidet (definit), unabänderlich. Streng genommen ist also nicht einmal der Papst als höchster Amtsträger der Kirche irrtumsfrei, sondern die „Glaubens- oder Sittenlehre“, welche durch päpstliche Entscheidung „von der gesamten Kirche festzuhalten ist“. Entscheidet der Papst in diesem Sinne ex cathedra, dann nimmt er dafür nicht eine eigene unabhängige Beistandsverheißung in Anspruch, sondern eben jene, „mit der der göttliche Erlöser seine Kirche […] ausgestattet sehen wollte“. Es gibt keine päpstliche Unfehlbarkeit neben jener Unfehlbarkeit (infallibilitas) der Kirche, die ihr ohnehin schon immer zukam, weil Christus verheißen hat, seine Kirche nicht im Stich zu lassen (Mt 28,20; Joh 14,16.26). Nimmt der Papst aber diese Unfehlbarkeit in Anspruch, dann sind solche Entscheidungen unabänderlich „aus sich, nicht aber auf-

64 DH 3050–3075: Denzinger/Hünermann (Hg.), Enchiridion, 824–833; hier DH 3074, 833.

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grund der Zustimmung der Kirche“ (ex sese, non autem ex consensu Ecclesiae). Dies war der verschärfende Zusatz, den die Majorität der Minorität zum Trotz ganz am Schluss der Verhandlungen noch einfügte: Wenn eine definitive päpstliche Glaubensentscheidung ergangen ist, bedarf diese zu ihrer Verbindlichkeit keiner weiteren Bestätigung mehr. Zudem verwies Pastor aeternus zweifach auf die Tradition, deren Wahrung den Minoritätsbischöfen so wichtig gewesen war. Zunächst hat auch der unfehlbar sprechende Papst auf jene Mittel und Hilfen zu achten, die in der Kirche zur Konsensfindung stets üblich gewesen sind: „Die Römischen Bischöfe aber haben, je nachdem, wie es die Lage der Zeiten und Umstände erforderte, bald durch Einberufung von ökumenischen Konzilien oder Erkundungen der Auffassung der auf dem Erdkreis verstreuten Kirche, bald durch Teilsynoden, bald unter Anwendung anderer Hilfsmittel, die die göttliche Vorsehung zur Verfügung stellte, das festzuhalten bestimmt, was sie mit Gottes Hilfe als mit den heiligen Schriften und apostolischen Überlieferungen übereinstimmend erkannt hatten.“65

Das war zunächst einmal nur ein Verweis auf den faktischen Verlauf der Geschichte: Die Päpste haben bislang immer Wege beschritten, die ihre testificatio fidei in Kommunikation mit der Gesamtkirche und den Teilkirchen hielt. Diesem Passus kam keine rechtlich bindende Wirkung zu, aber doch eine starke moralische Verantwortung, die Tradition nicht allein in der eigenen Person und im eigenen Amt verkörpert zu sehen. „Den Nachfolgern des Petrus wurde der Heilige Geist nämlich nicht verheißen, damit sie durch seine Offenbarung eine neue Lehre ans Licht brächten, sondern damit sie mit seinem Beistand die durch die Apostel überlieferte Offenbarung bzw. die Hinterlassenschaften des Glaubens heilig bewahrten und getreu auslegten.“66

Eine inspiratorische, auf die eigenmächtige determinatio fidei zielende Anwendung der päpstlichen Unfehlbarkeit wird hier expressis verbis ausgeschlossen; der Papst bewahrt die Lehre und legt sie getreu aus, aber er erfindet keine neuen Lehren. Weil die Erwartungen der Maximalisten nicht erfüllt wurden, sondern die endgültigen Texte eher eine mittlere Position der bischöflichen Mehrheitspartei spiegelten, haben sich auch die abgereisten Minoritätsbischöfe nach und nach unterworfen. Sie taten das bisweilen zähneknirschend und notgedrungen, weil auch in ihren Diözesen nach dem Schluss des Konzils ein regelrechter Zustimmungssog spürbar wurde: Jetzt, da das Konzil gesprochen und Klarheit geschaffen hatte, durfte es kein Zaudern mehr geben. Manche Minoritätsbischöfe haben freilich, um ihre Diözesen nicht zu gefährden, auf eine Art und Weise klein beigegeben, die das neue Dogma in ihrem Sinne, also als bleibende Bindung des Papstes an den

65 DH 3069: Denzinger/Hünermann (Hg.), Enchiridion, 832. 66 DH 3070: ebd.

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Konsens der Gesamtkirche erläuterte. Duchgesetzt hat sich das ebenso wenig wie die triumphalen Posulate der Maximalisten. Wer zudem erwartet hatte, durch die Definition der päpstlichen Infallibilität werde mit einem Schlag der größten Zahl bisheriger Äußerungen des römischen Lehramtes der Charakter der Infallibilität zu eigen, sah sich ebenfalls getäuscht. Denn solche langen Kataloge des ex post für unfehlbar erklärten Sprechens brachten nie eine bedeutende Zahl von Kanonisten und Theologen hinter sich, ganz im Gegenteil. Breiter Konsens herrschte nur bezüglich der Dogmatisierung durch Pius’ IX. von 1854, und zwar weil hier alle Kriterien aus Pastor aeternus absichtsvoll bereits gegeben waren. Auch und gerade der Syllabus errorum kann keinen Anspruch auf Unabänderlichkeit erheben, was die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils nur zu deutlich machen sollten. „Generell kann man sagen: Es gibt kaum eine päpstliche lehrmäßige Entscheidung von autoritativem Gewicht, die niemals nach 1870 als ex-cathedra-Entscheidung angesehen worden wäre. Und umgekehrt gibt es keine vorvatikanische Entscheidung – mit der einzigen Ausnahme der Definition der Immaculata conceptio 1854 –, bei der ein bis heute währender Konsens bestünde, dass es wirklich eine ist.“67 Darüber hinaus sind die Nachfolge-Päpste mit den neu entstandenen Möglichkeiten der Amtsausübung sehr vorsichtig umgegangen. In der gesamten Kirchengeschichte seither ist nur eine einzige Lehrentscheidung explizit und eindeutig ex cathedra ergangen, und zwar unter Berücksichtigung der Bindungen aus DH 3069 und 3070: Es handelt sich um die Lehre der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel68, definiert am 1.11.1950 durch Papst Pius XII. (*1876, 1939–1958), also erneut um ein Mariendogma. Ansonsten wurde gerade nicht die ex cathedra-Definition, sondern die Enzyklika, also ein päpstliches Lehr-Rundschreiben, zur am häufigsten verwendeten qualifizierten Äußerungsform des römischen Lehramtes.

4. Kulturkampf und Modernismuskrise: Der europäische Katholizismus nach dem Ersten Vatikanischen Konzil Die wohl wesentlicheren Folgen des Ersten Vatikanischen Konzils waren nicht innerkirchlicher Art. Begeistert oder zähneknirschend hat die Mehrheit des europäischen Katholizismus das neue Dogma der päpstlichen Lehrunfehlbarkeit rezipiert. Danach aber verschärften sich die europäischen Kulturkämpfe, weil katholische

67 Schatz, Vaticanum I, Bd. 3, 332. 68 Apostolische Konstitution „Munificentissimus Deus“; DH 3900–3904: Denzinger/Hünermann (Hg.), Enchiridion, 1099–1101.

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Intransigenz und liberaler Antikatholizismus sich wechselseitig hochsteigerten. Deutschland und Frankreich sollen exemplarisch für diese Prozesse der Verschärfung stehen. Denn die beiden großen europäischen Nationen weisen Extreme auf. Sie unterschieden sich kaum hinsichtlich der Heftigkeit der Auseinandersetzungen und der hinter ihnen stehenden Prinzipien. Aber das Ergebnis war ein sehr anderes: Dem deutschen Katholizismus nutzte es am Ende, dass Preußen, das Reich und der Vatikan einen bis 1918 relativ stabilen Kompromiss für das Staat-Kirche-Verhältnisses aushandeln konnten. Das schuf keine freundschaftlichen Verhältnisse; der Katholizismus blieb in eine latente Dauer-Opposition verwiesen. Aber er konnte sich als Minorität etablieren, mit der zu rechnen war. Er konnte sich politisch, gesellschaftlich und kulturell organisieren, und er konnte seinen Mitgliedern eine wirksame Interessenvertretung, eine effektive Caritas und eine stabile Identitätsgemeinschaft bieten. In Frankreich hingegen ließen die Kämpfe seit 1905 eine verarmte Kirche zurück, der kaum noch Ressourcen zur Verfügung standen, nach außen oder innen gesellschafts- und kulturpolitische Dynamik zu entwickeln.

4.1. Deutschland, der Kulturkampf und das „Katholische Milieu“ Altkatholizismus, Krieg und Kulturkampf Während sich fast überall in Europa die Minoritätsbischöfe dem Ergebnis des Ersten Vatikanischen Konzils unterwarfen, bildete sich eine antipäpstliche Protestbewegung von einer gewissen Dauer und Stabilität fast ausschließlich in Deutschland. Der „Altkatholizismus“ gab zwar vor, die vorkonziliare Universalität des Katholizismus zu wahren, tatsächlich aber war seine Propaganda von vornherein mit hochgradig nationalistischen Tönen durchsetzt, die gegen alles „Welsche“ polemisierten, also gegen das Italienische wie Französische gleichermaßen: „Denn das ist gewiss: wie das deutsche Volk auf dem politischen Gebiete das gesunde Staatsleben rettet und schützt vor romanischer Corruption, so wird es auch mit seinem tiefen religiösen Gemüthe die italienische Veräußerlichung des Catholizismus überwinden und den vom Apostel Paulus geforderten ‚vernünftigen Gottesdienst‘, die innerlichste Hingebung an Gottes Wort und Gnade, welche die wahren Principien der modernen Cultur nicht negirt sondern heiligt, wiedergewinnen.“69 Der Krieg Deutschlands gegen Frankreich 1870/71, der letzte der deutschen Reichseinigungskriege auf dem Weg zum Zweiten deutschen Kaiserreich, bot für solche Ideologien einen idealen Nährboden. Katholiken konnten nun pauschal ver-

69 Schatz, Vaticanum I, Bd. 3, 246; die folgenden Zitate ebd.

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dächtigt werden, nicht im Vollsinne der Nation verbunden, vielmehr vom Papst fremdgelenkt zu sein. Joseph Hubert Reinkens (1821–1896), Breslauer Kirchenhistoriker und später erster altkatholischer Bischof: „Wenn ich an die päpstliche Unfehlbarkeit glaube, darf ich meinem Könige, weil er nicht katholisch ist, den Eid nicht halten, muss seinen Feinden helfen und ihn zu stürzen suchen – sonst trifft mich der Bann.“ Die Polemik Ignaz Heinrich Döllingers aus den späten 1860er Jahren zeigte hier eine fatale Wirkung. Die antipäpstliche und nun zunehmend antikatholische Propaganda spitzte den spöttischen Maximalismus des „Janus“ nochmals zu und machte sich ganz abenteuerliche Vorstellungen davon, zu welchem Maß an Glaubensgehorsam Katholiken nunmehr verpflichtet seien. Schon der Krieg gegen Frankreich wurde daher bei denen, die ihn religiös deuteten, zum Auslöser des Kulturkampfes. Das kleindeutsche Reich, dessen Kaiser, um die Franzosen zu demütigen, im Spiegelsaal von Versailles proklamiert wurde, begriff sich schon von seiner Gründungsgeschichte her als antihabsburgisch, antiitalienisch, antifranzösisch und somit antikatholisch: „Das deutsche Volk befreit die Welt von dem Incubus eines doppelten Größenwahnes: der französisch-militärischen Infallibilität wird die Infalliblität des Papsttums in das Nichts nachfolgen müssen.“ Die militärische Überlegenheit der Deutschen führten evangelische Militärgeistliche und Propagandaschriften ganz unumwunden auf den Protestantismus zurück: Der Krieg war ein Gottesgericht, in dem den frommen deutschen Soldaten von vornherein der Sieg gehören musste. Frankreich hingegen galt als gottlose Nation, dem Untergang geweiht. Hoffart, Sinnlichkeit, Heimtücke und Prahlerei seien die Nationalsünden Frankreichs, dazu die unverschämte Frauenmode und die sexuelle Leichtlebigkeit von Paris. Ernste Religiosität könne es dort schon deshalb nicht geben, weil der Katholizismus veräußerlichter Ritualismus, der Protestantismus hingegen tiefernste Innerlichkeit praktiziere.70 Auf dem Schlachtfeld könne das Walten Gottes als Offenbarung gegen die sittlich-religiöse Verkommenheit Frankreichs unmittelbar erfahren werden. Das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit illustriere die Rückständigkeit und Servilität des Katholizismus, der den Herausforderungen der Moderne nicht gewachsen sei. Frankreich also verliere den Krieg, so die nationalprotestantische Propaganda, weil es einerseits auf eine frivole Art laizistisch und andererseits auf eine willfährige Weise katholisch sei. Echte deutsche Bildung stehen haushoch gegenüber der dünkelhaften französischen Scheinzivilisation. Der Katholizismus Roms mit seinem zeremoniellen Aberglauben verderbe die stolze Nation der Franzosen selbst dann noch, wenn sie sich – wie in der Revolution geschehen – vom hohlen Ritual der welschen Priesterkaste abgewandt hätten.

70 Vgl. Rak, Christian, „Wir mit Gott!“ – Die Erfahrung von Krieg, Nation und Konfession: Deutsche Feldgeistliche im deutsch-französischen Krieg 1870/71 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 97), Paderborn u. a. 2004.

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Die deutschen Katholiken konnten sich einer solchen Deutung selbstverständlich nicht anschließen, national geben mussten sie sich aber trotzdem. Also verbreiteten katholische Divisionsgeistliche die Deutung, dass die Franzosen den Krieg nicht verlören, weil sie Katholiken, sondern weil sie schlechte Katholiken seien, die sonntags auf dem Feld arbeiteten oder in den Weinhäusern und Cafés säßen und nur Frauen, Kinder und Alte in die Kirche schickten. Zwar teilten die Katholiken die protestantischen Selbstbilder über den angeblichen Volkscharakter der Deutschen: Wahrhaftigkeit, Demut, Treue, Sittlichkeit, Frömmigkeit, Gemütstiefe, Disziplin. Aber weil sie über ihren Katholizismus aus diesen gemeinsamen Grundüberzeugungen bereits von vornherein herausdefiniert wurden, vollzog sich durch die Reichsgründung im Krieg nicht nur eine religiöse Codierung des Gegners. Vielmehr spalteten alle Versuche, im Zusammenhang von Krieg und Religion auch das Wesen der Nation zu definieren, diese Nation von Anfang an und auf Dauer. Der Nationalprotestantismus nahm für sich in Anspruch, eine spezifisch deutsche Frömmigkeitsgeschichte als Politikgeschichte erzählen zu können, als evangelischteutonischen Sonderweg in die Moderne: Diese Geschichte führte ausgehend von Martin Luther (1483–1546) und der Reformation hin zur lichtvollen Aufklärung und zu den militärischen Erfolgen Preußens vom großen Kurfürsten bis zu Friedrich II. (*1712, 1740–1786), von den Befreiungskriegen gegen Napoleon in die preußische Reformzeit, schließlich zu Bismarck (1815–1898) und zu Kaiser Wilhelm (*1797, 1871–1888). Diese Ideologie, massenhaft geteilt in den Lagern der Liberalen wie der Konservativen, wurde zum Auslöser des Kulturkampfes. Die Kriegerdenkmäler und Soldatenfriedhöfe, die Sedan-Feiern und die Gedenk- und Parlamentsreden, die Publikationen des akademischen Historismus und die Presse machten die Vorstellung omnipräsent, der Katholizismus sei das Krebsgeschwür, das die schönglänzende Braut der deutschen Nation von innen her auffresse. Die sogenannten Einigungskriege förderten von vornherein den Prozess der nationalen Desintegration entlang der konfessionellen Trennlinie. Das Kaiserreich nahm daher einen ausgesprochen kulturhegemonialen Zug an, der keineswegs nur Katholiken betraf, sondern alle, die sich dem machtstaatlichen Geltungsbedürfnis der Eliten nicht einfügen ließen: Juden, Elsässer, Polen, später dann Sozialdemokraten. Die kulturelle Eigenart von Minoritäten sollte mit bürokratischem Legitimismus und mit polizeilich-militärischer Gewalt zum Verschwinden gebracht werden. Zu einem echten Bündnis zwischen Liberalen und Katholiken war es 1848/49 nicht gekommen. Aus dem populistischen Vereinswesen von 1848 war die katholische Zentrumspartei hervorgegangen, die sowohl im preußischen Landtag als auch im Reichstag die Interessen der ganz überwiegenden Mehrheit der Katholiken vertraten, die etwa 36 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Die keineswegs unberechtigte Lesart des Syllabus als schroffe Kampfansage Roms an die Grundtendenzen des modernen Staates und der modernen Gesellschaft verband sich mit grotesk überspannten Vorstellungen von irdischen Weltherrschaftsplänen des Papstes und der katholischen Hierarchie. Die Grenzen des

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liberalen Freiheitskonzeptes, die schon 1848 in der Grundrechte-Debatte der Paulskirche zu Tage getreten waren, wirkten sich nun nochmals schärfer aus: Ein säkularer, szientistischer, bürgerlich-individualistischer Freiheitsbegriff setzte „wahre“ Freiheit gegen die fremdartigen Selbstbestimmungsansprüche jenes minoritären, aber großen Volksteils, dessen Religiosität man nicht verstand, auf dessen Unbildung man herabschaute und deren Priester man als Grobiane und Agenten Roms aus der Gemeinschaft der modernen Eliten herausdefinieren konnte. Katholizismus war „orientalisch“ oder „viehisch“, jedenfalls auf eine exotische Weise fremd und untermenschlich; man konnte ihn als „Seuche“ und „Krebsgeschwür“ pathologisieren.71 Eine Emanzipation der katholischen Massen stellte man sich als Einfügung in den nationalkulturellen Mainstream vor. Dafür mussten sie ihre knechtische Gefügigkeit gegenüber der Hierarchie ablegen – also war ein Kulturkampf bei den Priestern zu beginnen. Liberale neigten dazu, solche Dinge ins sehr Grundsätzliche zu erheben: Gegen den Obskurantismus und die Priesterherrschaft, die mit dem Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit nach der Steuerung der weltlichen Macht greife, um alle Errungenschaften der modernen Zivilisation und Kultur in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu überwältigen, würden Staat und Kultur alle Kräfte der Abwehr aufbieten müssen. Dieses Zerrbild trug die Ängste des Krieges noch mit sich: Zentrumspartei, Kurie und katholisches Ausland trachteten danach, das mit so viel eigenem quasi religiösem Sendungsbewusstsein aufgeladene welthistorische Werk der deutschen Reichsgründung von innen wie von außen her zu zersetzen. Was für die Liberalen und die Konservativen eine Provokation gegen die Einheit des Reiches unter nationalprotestantischen Vorzeichen war, galt den Katholiken als unumgängliche Verteidigungsmaßnahme: Die Gründung der Zentrumspartei ging hervor aus dem vorpolitischen katholischen Vereinswesen der Revolutionszeit 1848/49. Wenige Wochen nach der Reichsgründung erklärten die katholischen Abgeordneten im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus das Motto „Für Wahrheit, Recht und Freiheit“ zu ihrem Programm. Das Zentrum als Mehrheitspartei der katholischen Regionen wurde schon im Jahr 1871 zur zweitstärksten Fraktion des neuen Reichstags. Die politischen Forderungen des Zentrums lassen sich aus der Lage der Katholiken direkt ableiten: Weil sie als regional konzentrierte Volksminderheit von 36 Prozent einem starken Zentralstaat skeptisch gegenüberstanden, präferierten sie einen föderalen Bundesstaat, der den Ländern ein höheres Maß an Selbstbestimmung sicherte und eine unabhängige Selbstverwaltung der Regionen freistellte. Weil sie dem zentralen Herrschaftsinstrument des Kaiserreichs, dem Militär, distanziert gegenüberstanden, lehnten sie hohe Rüstungsausgaben durchgängig ab. Und weil sie ihren Zusammenschluss über die katholische Identität formierten, mussten sie in ihren eigenen Reihen die Spaltung

71 Vgl. Borutta, Antikatholizismus, 47–120.

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der sozialen Interessen zwischen Grundbesitz, Kapitalbesitz und Arbeitern überwinden. Aktive Sozialpolitik von den Prinzipien einer katholischen Soziallehre und Familienethik her war also das Gebot der Stunde, um als große Minorität politisches Gewicht zu gewinnen.72 Wahrheit, Freiheit und Recht zu wahren bedeutete also aus katholischer Perspektive, Verfassung und Parlamente zu nutzen, um die die katholischen Interessen zu schützen, die weder die Konservativen noch die Liberalen in ihr Weltbild und ihr politisches Spektrum integrieren konnten. Vergleicht man Deutschland, die Schweiz oder die Niederlande mit England oder Amerika, zeigt sich sofort der markante Unterschied des Parteienspektrums. Politische Parteien konstituierten sich in den erstgenannten Ländern als Weltanschauungsparteien, nicht als Parteien der widerstreitenden ökonomischen Interessen. Sie agierten als „politische Aktionsausschüsse“ (M. Rainer Lepsius) ihrer Herkunftsmilieus mit deren Lebensformen und geistigen und sozialen Bindungen. Doch „was die Katholiken als reine Defensivaktion ansahen, wurde von den Liberalen als Massenmobilisierung des Antimodernismus angesehen, als Angriff auf das gerade gegründete Reich und seine [...] Grundlagen.“73 Bismarck selbst, zwar ein Protestant voller antikatholischer Ressentiments, verfolgte dennoch sein Ziel einer Reichseinigung unter hochkonservativen Vorzeichen eigentlich ohne religiös-konfessionelles Sendungsbewußtsein. Doch in seinen Augen verwandelte der vom Zentrum ausgehende Eintrag eines konfessionellen Elements in die Politik fast geschlossen das kirchlich gebundene Wählerpotential in demokratisch-populistischen Protest gegen das hochkonservative wie liberale Establishment, und dahinter stand nicht nur die katholische Hierarchie vom Erzbischof bis zu den Kaplänen der Arbeitervereine, sondern auch das engmaschige Netzwerk katholischer Laienorganisationen und Verbände. Hier drohte eine konservative Alternative populistisch geführter Massen zu entstehen, die Bismarcks Machtgrundlage in Frage stellte: die These nämlich, „daß er und die von ihm geleitete Exekutive das entscheidende Bollwerk der Tradition und der bestehenden Ordnung seien“.74 Der Historismus der Konservativen wie der Liberalen neigte dazu, den Kulturkampf als „Präventivkrieg“ zur „Sicherung des Reiches“75 in historischer Analogie zum Investiturstreit des Mittelalters zu einem Prinzipienkampf

72 Vgl. Damberg, Wilhelm, Moderne und Milieu 1802–1998 (Geschichte des Bistums Münster 5), Münster 1998, 124. 73 Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, 369. 74 Gall, Lothar, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt/M. u. a. 1980, 471. Vgl. Kolb, Eberhard, Bismarck, München 2009/²2014. Kraus, Hans-Christof, Bismarck: Größe – Grenzen – Leistungen, Stuttgart 2015. Steinberg, Jonathan, Bismarck: Magier der Macht, Berlin ²2013. Engl. Orig.: Steinberg, Jonathan, Bismarck. A Life, Oxford u. a. 2011. Willms, Johannes, Bismarck: Dämon der Deutschen. Anmerkungen zu einer Legende, München 2015. 75 Nipperdey, Machtstaat, 372.

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der großen Gewalten Staat und Kirche, Kaiser und Papst zu stilisieren: „Nach Canossa“, so Bismarck, „gehen wir nicht, weder körperlich noch geistig.“ Solche Rhetorik diente vor allem dazu, die Liberalen in sein hochkonservatives Konzept einzubinden und sie zum Werkzeug seiner Strategie von Inklusion und Exklusion zu machen. Der Kulturkampf vollzog sich nicht im Reich, sondern in der Gesetzgebung der Länder, die für die Kultushoheit zuständig waren.76 Die Einzelmaßnahmen77 lassen sich am besten an Preußen exemplifizieren, das ohnehin zwei Drittel des Reichsgebietes abdeckte. Aber auch in anderen deutschen Ländern vollzog sich Ähnliches. Schon 1871 wurde die katholische Abteilung im Kultusministerium aufgelöst, um der katholischen Opposition und dem päpstlichen Einfluss keinen Brückenkopf zu bieten. Der sogenannte „Kanzelparagraph“ verbot, „Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“ zu erörtern. Die Priester waren durch dieses Ausnahmegesetz jederzeit zu belangen, wenn sie staatliche Maßnahmen kritisierten oder die Mentalität des Kulturkampfes kommentierten. Im Jahr 1873 erging eine Serie von sogenannten Maigesetzen: Das „Gesetz über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen“ forderte ein „Kulturexamen“, um alle katholischen Priester auf den ideologischen Mainstream einzuschwören; jeder Stellenbesetzung musste der Staat zustimmen. Wurde das verweigert, konnte der Staat nach dem „Deklarationsgesetz“ die Pfarrgüter beschlagnahmen. Das „Gesetz über die Verwaltung erledigter Bistümer“ verhinderte die Neubesetzung von Bischofssitzen, wenn die neu Gewählten die Kulturkampfgesetze nicht anerkannten (was sie selbstverständlich nicht taten). 1875 verfügte das „Kirchenvorstandsgesetz“ die Verwaltung aller kirchlichen Güter durch kommunale Laiengremien; das sogenannte „Brotkorbgesetz“ ermöglichte die Sperrung aller Staatsleistungen an die Kirche, wenn die schriftliche Zustimmung zu den staatlichen Maßnahmen verweigert wurde. Als das nicht wirkte, wurden im Jahr 1876 alle Pfarrdotalgüter beschlagnahmt. 1872 wurde die geistliche Schulaufsicht beseitigt, im Jahr 1876 zur „Entklerikalisierung“ der Schule dann auch der Religionsunterricht der Geistlichen verboten. Neben diese Eingriffe in die Diözesen, Pfarreien und Schulen traten Maßnahmen gegen die Orden: 1872 schloss das „Jesuitengesetz“ die Jesuiten und Redemptoristen vom Reichsgebiet aus; Ordensmänner und -frauen durften keinen Schulunterricht mehr erteilen. Im Jahr 1875 folgte schließlich das „Ordensgesetz“, mit dem alle Orden und ordensähnlichen Einrichtungen zwangsweise aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt wurde. Weiterhin wirken durften nur diejenigen

76 Vgl. Huber, Ernst Rudolf/Huber, Wolfgang, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts, Bd. 2: Staat und Kirche im Zeitalter des Hochkonstitutionalismus und des Kulturkampfs 1848–1890, Berlin 1976. 77 Vgl. Lill, Rudolf (Hg.), Der Kulturkampf (Beiträge zur Katholizismusforschung A: Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus 10), Paderborn u. a. 1997, 81–121.

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meist weiblichen karitativen Gemeinschaften, die sich der Krankenpflege widmeten. Alle diese Maßnahmen trafen nicht nur Deutschland, sondern auch die preußischen Teile Polens. Der Geist dieser Gesetze räumte dem Macht- und Ordnungsanspruch des Staates einen unbedingten Vorrang vor den Freiheitsrechten von Individuen und Organisationen ein. So erschien der Kulturkampf als Konsequenz der Rechtsstaatlichkeit. Konservative wie liberale Kulturkämpfer waren fest davon überzeugt, dass es dem Staat zustehe, seine eigene Sphäre auszubauen, die der Religion hingegen zu begrenzen. Die Auseinanderdifferenzierung von Politik und Religion sollte die Kirche zwingen, sich dem Staat unterzuordnen und ihren Einfluss auf öffentliche Institutionen, allen voran die Schule, preiszugeben – die Säkularisierung der Gesellschaft sei eine notwendige „Befreiung von kirchlichem Zwang und religiöser Diskriminierung“.78 Nicht wenige Liberale verbanden das mit einem höchst verräterischen gendering: Der Staat müsse zeigen, wer „Herr im eigenen Hause sei“; das Verhältnis von Staat und Kirche wurde „als Spiegelbild einer kulturprotestantischen Familiengeschichte gelesen“. Religion und Kirche waren etwas für die Unmündigen, für Frauen und Unterschichten, die man beherrschen und kontrollieren musste. Der Staat hatte eine männliche, die Kirche eine weibliche Natur. Das galt für Religion generell, doch gegenüber den protestantischen Kirchen wurde der Katholizismus teils in ein rückständig-barbarisches Mittelalter zurückverwiesen, teils regelrecht pathologisiert: Das „Aufblühen des Reliquienglaubens“ entspringe einer „krankhaften“ Sehnsucht; nicht einmal „Muhammedaner“ beteten Reliquien an – der Katholik sei noch schlimmer als der Türke, sollte das heißen. Katholizismus widerspreche „der modernen Natur“ und hege einen „Haß gegen die Industrie“, weil sie „an die Stelle des Mirakels […] die wissenschaftliche Beherrschung der Natur gesetzt“ habe. Allein der Staat könne den Fortschritt in Wissenschaft und Kultur freikämpfen, jedenfalls der in seinen „wesentlichen Bestandteilen“ evangelische Staat. Daher liege das „weltgeschichtliche Verdienst“ der Reformation darin, „die Kirche auf ihre geistige Sphäre beschränkt, und den Staat in seinen äußerlichen Kreisen befreit zu haben“. „Nur die Deutschen“ – die evangelischen Deutschen – „unterscheiden zwischen Religion und Rom, zwischen Christentum und Kirche.“79 Die „Proklamation der päpstlichen Unfehlbarkeit“ sei die „Proklamation der päpstlichen Weltherrschaft im Prinzip“. Der Katholik müsse blind dem Papst gehorchen, nicht jedoch „der Wissenschaft, noch der eigenen Einsicht, auch nicht dem Gesetze des Staates und den Geboten des Königs“. An die Deutschen – die evangelischen Deutschen – sei daher eine welthistorische

78 Borutta, Antikatholizismus, 351. Die folgenden Zitate ebd., 359, 361f., 357f. 79 Bluntschli, Johann Caspar, Rom und die Deutschen, Berlin 1872, 20–24; hier zitiert nach: Lill (Hg.), Kulturkampf, 59; die folgenden Zitate ebd., 57, 59f.

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Berufung ergangen, „der Erneuerung jenes alten römischen Cäsarenwahnsinns, der die Kaiser zu Göttern erhoben hatte und welche nun die Päpste zu unfehlbaren, das heißt göttlichen Wesen steigert, ins Angesicht zu widersprechen.“ Kulturkampf verkörperte auch einen ungebrochenen Glauben an den Fortschritt: „Der wissenschaftliche Mensch von heute schaut von der sonnenbeglänzten Höhe eines Berggipfels herab auf die dunklen nebelumhüllten Schluchten, in denen der römische Klerus von seiner Größe träumt.“ Der Katholizismus verkörperte das strikt „Andere“ gegenüber Wissenschafts- und Fortschrittsglauben; darum konnte er auf „Freiheit“ und „Recht“ keinen Anspruch erheben; das war der blinde Fleck, den das moderne Bürgertum in seinem elitären Selbstverständnis schon 1848 nicht hatte sehen wollen. Aber diese „Entzauberung“ durch die „kirchenfernen Ausschnitte der bürgerlichen Gesellschaft“ sah – wie schon 1848 – ihren eigenen blinden Fleck nicht: „Im linearen, teleologischen Fortschrittsverständnis […] gab es für das moderne Bürgertum kein Zurück hinter Ratio und Reflexivität“, darum musste das Andere, das sich nirgends mehr verkörperte als im ultramontanen Katholizismus, um so entschiedener bekämpft werden. Hier lag die Grenze des liberalen Freiheitsverständnisses: „Sie wollen nicht die Freiheit“, hielt Ludwig Windthorst (1812–1891) als „Volkstribun“80 des Zentrums der liberalen und konservativen Fraktion vor. „Sie wollen nichts anderes als die Knechtung. [...] Sie bestreiten dem Papste die sehr begrenzte Unfehlbarkeit, und nehmen für den omnipotenten Staat die Unfehlbarkeit auf allen Gebieten in Anspruch.“81 Der Kulturkampf brachte die große Härte des bürokratischen Polizeistaats in jedermanns Bewusstsein. Unter den Katholiken provozierte er ein unglaubliches Maß an Empörung und Verbitterung. Im Jahr 1878 waren in Preußen acht Bistümer vakant, ein Viertel der Priester fehlten. Geldstrafen, Verhaftungen, Ausweisungen, Schließungen von Priesterseminaren und Ordenshäusern waren an der Tagesordnung. Dennoch war er ein schwerer Mißerfolg und erreichte das genaue Gegenteil dessen, was er bewirken sollte. Visitations- und Polizeiberichte stimmen überein in der Wahrnehmung, dass Katholiken sich um so fester an ihre Glaubensgemeinschaft banden, je unbarmherziger sie die „moderne Christenverfolgung“ als Wiederkehr des Martyriums der Urkirche erlebten. Nun galt, dass nur unbedingte geistige und organisatorische Geschlossenheit das Überleben der Konfession gewährleisten könne – alle internen Zerwürfnisse der 1860er Jahre um eine liberale Katholizität und um das Unfehlbarkeitsdogma wurden davon überdeckt.

80 Vgl. Drews, Rüdiger, Ludwig Windthorst. Katholischer Volkstribun gegen Bismarck. Eine Biografie, Regensburg 2011. Anderson, Margaret Lavinia, Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 14), Düsseldorf 1988. 81 Lill u. a. (Hg.), Kulturkampf, 152f.

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Gleichzeitig entwickelten Katholiken Mechanismen des massenhaften passiven Widerstandes, die gerade wegen ihrer Gewaltlosigkeit den Staat der Polizei, des Militärs und des bürokratischen Machtmissbrauchs öffentlich ins Unrecht setzten. Verhaftete Bischöfe und Priester wurden wie Märtyrer in die Gefängnisse begleitet oder von dort abgeholt. Man streute ihnen Blumen und errichtete Ehrenkränze. Rosenkranzgebete, Mariengesänge und Bittwallfahrten füllten nicht mehr nur Kirchen, sondern Straßen und Plätze. Als das Militär wundergläubige Pilger mit aufgepflanztem Bajonett auseinandertrieb, spottete der Zentrums-Abgeordnete Windthorst, Beten und Singen scheine hierzulande sehr staatsgefährlich zu sein. Polizeiverhöre wurden mit verbissenem Schweigen oder verwegenem Grinsen beantwortet, Kirchengelder treuhänderisch versteckt.82 Polizei und Justiz versanken in einer Verwaltungsflut, als sie die Gesetze zu handhaben versuchten. Die Ordnungskräfte begegneten dem obstinaten Groll katholischer Regionen oft mit großer und keineswegs unberechtigter Furcht, nicht wenige gaben entnervt auf. Das Zentrum konnte seine Reichstagsmandate zwischen 1871 und 1877 um fast fünfzig Prozent von zunächst 63 auf dann 93 steigern. Die katholische Presselandschaft als „andere Kanzel“ explodierte geradezu; in Preußen gab es vor dem Kulturkampf vier größere katholische Zeitungen, Ende des Jahres 1873 waren es 120.83 Katakomben-Romane erlebten Massenauflagen. Nachdem der intransigente Pius IX. 1878 gestorben war, zeigte sich sein Nachfolger Leo XIII. (*1810, 1878–1903) bereit, zu einer Normalisierung der Verhältnisse beizutragen. Die Verhandlungen litten freilich darunter, dass die nun einsetzende feinsinnige Diplomatie des Vatikan nicht nur die deutschen Bischöfe, sondern auch die tapferen Kämpen des deutschen Laienkatholizismus völlig überging; Bismarck wurde hofiert, dem deutschen Katholizismus zeigte man die kalte Schulter. Windthorst äußerte den Eindruck, der Papst habe ihm in den Rücken geschossen, denn letztlich behielt der Staat im Rahmen der Milderungsgesetze (1880–1882) und schließlich der Friedensgesetze (1886/87) erhebliche Aufsichts- und Eingriffsrechte in kirchliche Angelegenheiten, die erst mit den Kirchenartikeln der Weimarer Reichsverfassung von 1919 überwunden werden sollten.

Das „katholische Milieu“ Mit dem Kulturkampf entstand ein soziales Programm der deutschen Katholiken, das ein intensiviertes Sendungsbewusstsein mit organisatorischem Zusammenschluss zu einer regelrechten Sondergesellschaft verband. Dieses Programm sollte für fast hundert Jahre Bestand haben. Ähnliche Sozialformen eines „katholischen Milieus“ bildeten sich auch in der Schweiz und in den Niederlanden aus, wo ver-

82 Vgl. Blackbourn, David, Wenn ihr sie wieder seht, 429–450. 83 Vgl. Damberg, Moderne, 137.

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gleichbare sozio-politische Bedingungen herrschten.84 Der Begriff „katholisches Milieu“ bezeichnet jenen Zusammenhang von kollektivem Wissen und Sozialform, wodurch eine hinreichend große konfessionelle Minderheit „den Charakter einer Gegen- oder Alternativgesellschaft in der jeweiligen nationalen Gesellschaft“ annimmt.85 Durch eine unbestritten von allen geteilte weltanschauliche Basis und ein dichtes Netz sozialer Organisationen werden „die organisatorischen Beziehungen ideologisiert und die ideologischen Positionen organisiert.“ Das katholische Milieu formierte sich als „Träger kollektiver Sinndeutung von Wirklichkeit“ und prägte mit seinen Alltagsüberzeugungen auch eine gemeinsame Lebensweise aus, die sprichwörtlich von der Wiege bis zur Bahre dem ganzen Leben eine konfessionelle Note verleiht. Je intensiver man jedoch mit der Milieustrukturierung der deutschen Gesellschaft das katholische Milieu analysierte, desto deutlicher wurde auch, dass das „katholische Deutschland keineswegs jene monolithische Einheit war, die seine Selbstwahrnehmung seit den Tagen des Kulturkampfes so nachhaltig geprägt hat“.86 Milieustrukturen lassen sich von solchen Regionen abgrenzen, in denen weiterhin eine traditionale, von der kleinräumigen ländlichen Lebenswelt dominierte Religiosität vorherrschte. Andere Untersuchungsräume zeigen einen bereits fortgeschrittenen Grad an Entkirchlichung und mentaler Säkularisierung, vor allem die Unterschichten-Viertel in den wachsenden Großstädten und industriellen Ballungszentren. Milieus hingegen bildeten sich im Deutschen Reich vor allem dort, wo der konfessionelle Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten zusätzlich überformt und aufgeladen wurde durch wichtige weitere Konflikte: Zentrum-Peripherie-Konflikte zwischen der dominanten Kultur der Nationalstaaten und abweichenden Wertvorstellungen peripherer Regionen, Staat-Kirche-Konflikte zwischen den kulturellen und gesetzgeberischen Dominanzansprüchen der Nationalstaaten in Auseinandersetzung mit überkommenen Traditionen und Autonomieansprüchen der Kirche, Stadt-Land-Konflikte zwischen städtisch-industriellen und agrarischen Besitz-, Produktions- und Lebensweisen und schließlich Arbeit-

84 Vgl. McLeod, in diesem Band, 129–133. Altermatt, Urs, Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1989. Altermatt, Urs/Metzger, Franziska (Hg.), Religion und Nation. Katholizismen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts (Religionsforum 3), Stuttgart 2007. Damberg, Wilhelm, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 7), Paderborn u. a. 1997, 521–554 (Lit.). 85 Altermatt, Katholizismus, 105, das folgende Zitat ebd. Vgl. Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG), Münster, Katholiken zwischen Tradition und Moderne. Das katholische Milieu als Forschungsaufgabe, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), 588– 654. 86 Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG), Münster, Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert. Ein Erklärungsmodell zur regionalen Entstehung des katholischen Milieus in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 120 (2000), 357–395, 382.

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4. Kulturkampf und Modernismuskrise

Kapital-Konflikte zwischen Kapitalbesitzern/Arbeitgebern und der entstehenden/ wachsenden Arbeiterschaft. Milieustrukturen entstanden jeweils dort, wo große soziale und politische Spannungen sich immer auch als Konfessionskonflikt lesen ließen. An einer Welle von Vereinsgründungen mit politischen, sozialpolitischen, kulturellen, caritativen und religiösen Zielsetzungen partizipierten nicht mehr allein die lokalen Honoratioren, sondern breite zentrumsnahe Bevölkerungsschichten. Liberale werteten das als Populismus und legten Wert darauf, dass ihre Honoratiorenvereine politische Teilhabe klar gegen das Kleinbürgertum, das Handwerk und die Unterschichten der Arbeiterschaft abgrenzten. Es war das katholische Vereinswesen, das breiten Bevölkerungsschichten ihre Verantwortung für politische Prozesse nahebrachte – mit dem Ergebnis fast geschlossener Wahlergebnisse zugunsten des Zentrums. Im katholischen Milieu setzte sich auch frömmigkeitsgeschichtlich die ultramontane Religiosität endgültig durch, parallel zu einer formal hochmodernen Neugestaltung, die religiöse Übungen zu offiziösen Großveranstaltungen machte: marianische Frömmigkeit, Heiligen- und Papstverehrung, Wallfahrten, Bußtage, Exerzitien, Volksmissionen wurden erlebt als Massenmobilisierung gegen den liberalistisch-nationalistischen Zeitgeist. Man handhabte Mittel und Medien der Moderne zu antimodernen Zwecken und als Rituale und Symbole passiven Widerstands. Die Priester stellten hier keineswegs eine „Kaplanokratie“ her, wie der kulturkämpferische Politologe und Soziologe Max Weber (1864–1920) abschätzig über die angeblich tumben, zu geistiger Knechtschaft verführten Katholiken urteilte.87 Die lokalen und überregionalen „Zentrumspriester“ überboten zusammen mit dem Vereinswesen, in dem auch Laien eine zentrale Rolle spielten, jede konkurrierende Parteiorganisation. Gerade durch den Rückhalt der Laien besaßen die „Presskapläne“ und die Präsides der Arbeiter- und Gesellenvereine überragenden inhaltlichen und organisatorischen Einfluss. Schon von seiner Herkunft und gesellschaftlichen Platzierung her war ein Großteil des niederen Klerus Teil der katholischen sozialen Bewegung, moralische Instanz und Motor der politischen und sozialkulturellen Mobilisierung. In den großen Städten ging die Industrialisierung mit einem enormen Ausbau des Seelsorgenetzes einher, um die massive Zuwanderung vor allem katholischer Arbeiter in die Industriereviere kirchlich aufzufangen.88 Weil die Arbeitsmigranten außer wenigen Habseligkeiten meist nur ihre katholische Frömmigkeit mitbrachten, wurde Konfession zu einem Ausweis der Stabilität, Identität und Zusammengehörigkeit. Kirchliches Teilnahmeverhalten gerade der katholischen Unterschichten widerlegt die Idee einer durchgängigen Tendenz zur Säkularisie-

87 Vgl. Borutta, Antikatholizismus, 116–120 (dort Lit.). 88 Vgl. Liedhegener, Antonius, Christentum und Urbanisierung. Katholiken und Protestanten in Münster und Bochum 1830–1933 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 77), Paderborn u. a. 1997. Holzem, Hunger. Holzem, Catholic Germany.

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rung der Industriegesellschaft.89 Zur Seelsorge in den Brennpunkten der Industrialisierung gehörten auch die caritativen Hilfsmaßnahmen. Attraktiv und überzeugend wirkte das katholische Milieu vor allem durch soziale Leistungen für die Lohnarbeiter und ihre Familien in stets drohenden Notlagen: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Hunger, Wohnungsnot. Getragen wurde der sozial-caritative Ausbau des katholischen Milieus durch ein enormes Anwachsen neuer Frauenorden, die ein erstes Netz sozialer Sicherung knüpften, das allein durch ihre Opferbereitschaft überhaupt möglich wurde, weil nach marktwirtschaftlichen Kriterien Hilfe und Versorgung nicht zu finanzieren gewesen wäre. Krankenhäuser, Stationen für ambulante Krankenpflege, Kindergärten, Mädchenheime, Altersheime, Handarbeits- und Haushaltsschulen, Kinderbewahranstalten und Waisenhäuser schossen wie Pilze aus dem Boden. Ein wesentliches Moment der Seelsorge unter den Bedingungen von Migration und Verstädterung war das Vereinswesen, nicht zuletzt zur Abwehr der sozialdemokratischen Agitation. In den Krisen und Rezessionen der 1870er bis 1890er Jahre wanderte das arbeitslose Proletariat weiter und schlug nirgendwo auf Dauer Wurzeln. Darum sollte ein differenziertes kirchliches Vereinswesen dazu beitragen, dass angesichts der fortdauernden Migration gerade junger und alleinstehender Arbeiter die Kirchenbindung nicht verkümmerte. Auffällig war einerseits die hohe Mitgliederstärke, andererseits die hohe Ausdifferenzierung nach Zweck und Adressatengruppen. Neben den frommen Vereinigungen und den Standesvereinen nahmen Arbeitervereine, Knappenvereine, Gesellenvereine, kaufmännische Vereine, christliche Gewerkschaften und der katholische Frauenbund vor allem gesellschaftliche Interessenvertretung im Sinne der katholischen Soziallehre wahr, unterstützt von zahlreichen Schulungsvereinen, besonders prominent dem Volksverein für das katholische Deutschland. Die Vereine gaben jedweder Form katholischer Frömmigkeit einen Zug ins Massenhafte, Demonstrative und Öffentliche. Kirchenbindung war faktisch identisch mit Zentrumsbindung und Vereinsbindung. Das Korporative der religiösen Erfahrung gehört zu den wesentlichen Überzeugungsmomenten des katholischen Milieualltags. Gleichzeitig erlaubte die Vielfältigkeit des Milieus eine Binnendifferenzierung, in der auch soziale Spannungen zwischen Bürgertum und Arbeitern ausgetragen werden konnten. Vor allem die Arbeitervereine stellten eigenständige Erfahrungsräume dar, in denen sich die kirchliche Praxis der organisierten Arbeiter mit Freizeitaktivitäten, Familienfesten, politisch-sozialer Bildungsarbeit und Selbsthilfeeinrichtungen verband. Das katholische Milieu ist daher neben den traditionalen ländlichen Lebenswelten die entscheidend wirkungsvolle, ganzheitliche katholische Lebensform im späten 19. Jahrhundert geworden. Diese „Anpassungs- und Integrationsleistung des […] Katholizismus“ gehört zu den „bemerkenswertesten Erscheinungen der deutschen Sozi-

89 Liedhegener, Christentum, 442f.; vgl. McLeod, in diesem Band, 85.

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algeschichte im 19. Jahrhundert.“90 Die Eindeutigkeit und Unhinterfragtheit dieses Lebenskonzeptes zielte nicht auf Individualität, sondern auf Solidarität und Einfügung. Die religiöse Klarheit des Milieus konnte mit Pluralismus nichts anfangen – die soziale Not konnte sich Individualität nicht leisten. Nicht nur für die Religionsgeschichte, sondern auch für die Sozial- und Verfassungsgeschichte Deutschlands ist der politische und soziale Katholizismus eine der zentralen sozialen und politischen Bewegungen und ein Kulturträger sondergleichen gewesen, freilich immer eher in Opposition zum gesellschaftlichen Mainstream. Aber in dieser Opposition wurden wichtige Dinge festgehalten: religiöse, kulturelle, regionale Eigenständigkeit, politische Partizipation auch einfacher Leute, Erziehung zur Demokratie und zur Verfassung, soziale Verantwortung und Solidarität, eine tragende reliöse Verwurzelung. Die Fernwirkungen dieser Sozialform des Katholischen reichen im Grunde bis vor die Tore des Zweiten Vatikanischen Konzils.91

4.2. Frankreich, das Ralliement und die Trennung von Staat und Kirche Die Franzosen mussten sich, anders als die Deutschen, im Jahr 1871 die Frage stellen, warum sie diesen Krieg so rasch und so schmachvoll verloren hatten. Während die Rechte, gespalten in konservative Royalisten und liberale Orléanisten, aber zusammengehalten durch eine der Kirche freundlich gesonnene Haltung, noch um die Restituierung der Bourbonen-Monarchie verhandelte, brach im Frühsommer 1871 in Paris der Kommune-Aufstand aus. Der Aufstand der Kleinbürger, Handwerker und Arbeiter verfolgte wenig konkrete Ziele, nahm aber sehr rasch ausgesprochen antiklerikale Züge an, die an die radikale déchristianisation der jakobinischen Phase der französischen Revolution erinnerten. Den Massenerschießungen von Priestern, die als Geiseln genommen worden waren, fiel auch der Pariser Erzbischof Georges Darboy (*1813, 1863–1871) zum Opfer, der als Anti-Infallibilist auf dem Ersten Vatikanischen Konzil eine bedeutsame Rolle gespielt hatte. Der Kommune-Aufstand endete mit einem Blutbad und einem Justiz-Strafgericht enormen Ausmaßes, nachdem Regierungstruppen die Hauptstadt eingenommen hatten. Die exzessive Gewalt ließ führenden Katholiken metaphysische Konzepte plausibel erscheinen: Der verlorene Krieg, die Schmach der Nation als „ältester Tochter der Kirche“ und der Bürgerkrieg danach wiesen auf den Strafzorn Gottes über die Wege Frankreichs seit 1789. Unter royalistischen Katholiken hatte während des ganzen 19. Jahrhunderts der Sühnekult des Heiligsten Herzens Jesu (Sacre Cœur) eine enorme Aufwertung erfahren. Ursprünglich auf Visionen der Mystikerin Margareta Maria (Marguerite-Marie) Alacoque (1647–1690) in Paray-le-Mo-

90 Damberg, Moderne, 182. 91 Vgl. in Bd. 3 den Beitrag von Gerald Mannion.

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nial zurückgehend, war der Herz-Jesu-Kult mit dem Sonnenkönigtum Ludwigs XIV. (*1638, 1643–1715) und seither mit dem Königtum eng verknüpft – die Aufständischen in der Vendée hatten das Sacre Cœur-Symbol zu ihrem Identitätsmerkmal gemacht. Auch im Jahr 1871 galten nun die verlorenen Schlachten des deutsch-französischen Krieges als Strafe für die Gottferne der kriegführenden Nation und als Aufruf zu Buße, Umkehr und Sühne. Katholische Parlamentarier unternahmen Wallfahrten nach Paray-le-Monial, und als sichtbares Zeichen einer katholischen Restauration begann man den Bau der gewaltigen neo-byzantinischen Kirche Sacre Cœur auf dem Montmartre, jenem heiligen Berg, der seit den frühesten Zeiten der Christianisierung ein mit der nationalkatholischen Identität Frankreichs engstens verwobener lieu de mémoire gewesen, 1793 aber von den radikalen Revolutionären geschändet worden war.92 Auf der anderen Seite standen die Republikaner. Sie verknüpften ihr Bild von der französischen Nation nicht mit der Kirche, sondern mit den Werten und Slogans der Revolution. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, der Sturm auf die Bastille und die Marseillaise waren zu Mythen erstarrt, deren Pflege dazu neigte, die hohen menschlichen, politischen und kulturellen Kosten der Revolution auszuklammern. Hier herrschte eine ganz andere Bewertung der Niederlage vor: Schwächliche Ordens- und Jesuitenzöglinge hätten den stramm protestantischen, virilen Preußen nichts entgegenzusetzen gehabt. Es sei der konservative Klerikalismus, der der stolzen französischen Nation den Lebensnerv aussauge. Damit waren die Frontlinien französischer Innenpolitik so ziemlich abgesteckt: Es war klar, dass sich die entscheidenden Auseinandersetzungen auf dem Feld der Kultus- und der Bildungspolitik abspielen würden.93 Die soziale Frage, die in Deutschland den Katholizismus spätestens seit der Jahrhundertmitte und seit 1870/80 dann auch die Sozialdemokratie umtrieb, spielte hier eine bemerkenswert marginale Rolle. Zahlreiche sozialcaritative Initiativen, sozialkatholische Musterbetriebe und eine breite Debatte über korporatistische Gesellschaftsmodelle gab es durchaus. Aber das meiste davon blieb Paternalismus und Partikularismus; ein organisierter Sozialkatholizismus konnte sich nicht entwickeln.94

92 Vgl. Schlager, Claudia, Kult und Krieg: Herz Jesu – Sacre Cœur – Christus Rex im deutsch-französischen Vergleich 1914–1925, Tübingen 2011. 93 Vgl. Cahn, Jean-Paul, Religion und Laizität in Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert = Religions et laïcité en France et en Allemagne aux 19e et 20e siècles (Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees 5), Stuttgart 2008. Dixmier, Michel u. a. (Hg.), La République et l’Église. Images d’une querelle, Paris 2005. Moulinet, Daniel, Laïcat catholique et société française: les comités catholiques (1870– 1905) (Histoire religieuse de la France 33), Paris 2008. Pierrard, Pierre, L’Église bouleversée ...: de 1789 à 1945, Paris 1992. Tallett, Frank (Hg.), Religion, society and politics in France since 1789, London u. a. 1991. 94 Vgl. Maugenest, Denis (Hg.), Le discours social de l’Eglise catholique de France (1891– 1992), Paris 1995. Tertünte, Stefan, Léon Dehon und die Christliche Demokratie. Ein katholischer Versuch gesellschaftlicher Erneuerung in Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts (Freiburger Theologische Studien 171), Freiburg/Br. 2007.

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Die Republikaner waren durch die Niederschlagung des Aufstandes der Pariser Kommune und seine Bewertung in der öffentlichen Meinung zunächst ins Hintertreffen geraten. In der Armee wurde eine strukturierte Militärseelsorge eingeführt, die Abschlüsse katholischer Universitäten erhielten die staatliche Anerkennung, das im Napoleon-Konkordat von 1801 vereinbarte Budget des Staates für die Kirche wurde aufgestockt. Rechtskatholische Abgeordnete verlangten eine dezidiert pro-päpstliche Außenpolitik gegen das Königreich Italien, was die außenpolitische Isolierung Frankreichs weiter zementierte. Aber gegen Ende der 1870er Jahre wendete sich das Blatt – die Republikaner gewannen die parlamentarische Oberhand. Ähnlich wie im kleindeutschen Reich nach 1870 betrachtenen Republikaner die katholischen Volksschulen, Lyceen und Universitäten skeptisch, weil sie aufgeklärt-antiklerikalen Rationalismus, fortschreitende Wissenschaft und wahren Patriotismus als unauflöslich verknüpft betrachteten. Republikaner förderten also den öffentlichen Kult der Revolution und des agnostischen Rationalismus so wie deutsche Nationalprotestanten den Sedanstag. Die Kreuze verschwanden aus den Klassenzimmern, die Regimentsgeistlichen aus der Armee, die Sonntagsheiligung aus dem Gesetzbuch, Ordensfrauen aus den Krankenhäusern. Priesteramtskandidaten mussten Militärdienst leisten. Erneut wurden die Orden zur Haupt-Zielscheibe einer republikanischen und anti-katholischen Bildungs- und Kultuspolitik. Sie standen gegen alles, was der Moderne heilig war: ihre Internationalität gegen den Patriotismus, ihr Korporatismus gegen die Individualität, ihre Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams gegen ökonomischen Gewinn, patriarchale Familie und eigenständigen Vernunftgebrauch. Frankreich werde nicht genesen, so die Prognose, wenn dieser Geist in den Bildungseinrichtungen fortwirke. Auch in Frankreich das nämliche gendering: Eine Frau mache ihrem Mann das Leben zur Hölle, wenn sie von der Klerisei gegen ihn aufgebracht werde, anstatt ihm zu gehorchen. Also müssten im Bildungssytem nicht nur die Männer der Eliten, sondern auch die Frauen aufgeklärt werden. Somit betraf der Antiklerikalismus nicht mehr nur noch die höheren Bildungseinrichtungen, sondern in einer sukzessive sich verschärfenden Gesetzgebung auch die Volksschulen.95 Die Wucht dieser Maßregeln traf vor allem die etwa 200 000 Ordensfrauen in den etwa 400 nach der Revolution neu gegründeten Kongregationen, die zu zwei Dritteln in den Mädchenschulen, darüber hinaus in der Fürsorgearbeit und in den Krankenhäusern engagiert waren. Das enorme staatliche Wohlwollen, das diese Gemeinschaften nach 1830 und erneut nach 1850 gefördert hatte, wurde nun in eine extreme Restriktionspolitik verkehrt.

95 Vgl. Cholvy, Gérard (Hg.), L’enseignement catholique en France aux XIXe et XXe siècles. Actes du colloque de la Société d’Histoire Religieuse de la France (Toulouse, 18–20 mars 1994) et de la journée d’étude de l’Association Française d’Histoire Religieuse Contemporaine (Paris, 24 sept. 1994), Paris 1995.

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Bismarck und die deutschen Kulturkämpfer betrachteten Religion, solange sie sich angemessen unterordnete, als durchaus nützlich und nötig für die Ordnungsanstrengungen des Staates gegenüber den weniger Gebildeten und Mündigen: Kleinbürgern, Unterschichten, Frauen und Kindern. Die republikanische Strategie in Frankreich wollte mehr: „Die Laisierung in Frankreich lief darauf hinaus, dass der Staat die Rolle der Religion aktiv zu verkleinern und gleichzeitig eine konkurrierende Weltsicht einzuführen versuchte.“96 Erneut, wie schon im revolutionären Kult des „Höchsten Wesens“, sollten patriotisch-kultische Inszenierungen der nationalen Einheit das Vaterland festigen. Der Katholizismus galt hier dezidiert als Gegner, der Protestantismus, in Frankreich ohnehin marginal und mehrheitlich aufgeklärt-rationalistisch, immerhin als Religion auf dem halben Wege zur Vernunft. Der Pontifikatswechsel von Pius IX. zu Leo XIII. stellte auch in Frankreich die Weichen neu. Der neue Pontifex veröffentlichte Mitte der 1880er Jahre mehrere Enzykliken, die trotz allgemeiner Fassung für die Gesamtkirche doch sehr deutlich auf die französische Situation Bezug nahmen. Die wichtigste Entscheidung Leos XIII. war, die einseitige Festlegung des Papsttums auf den monarchistischen Legitimismus zurückzunehmen, der die katholische Kirche in ihren politischen Optionen so gefesselt hatte, seit Ludwig XVI. (*1754, 1774–1793) in der Zuspitzungsphase der Revolution geköpft worden war. Indem die Kurie auch die Demokratie als legitime Regierungsform anerkannte, die Republik gleichzeitig ihren radikalen Laisierungskurs aufgab, schien sich Anfang der 1890er Jahre ein Ralliement, eine Annäherung abzuzeichnen, im Jahr 1892 bekräftigt durch die betont französischsprachige Enzyklika „Au milieu des sollicitudes“. Der alles entscheidende Unterschied zu Deutschland (oder auch Belgien und den Niederlanden) lag allerdings darin, dass Leo XIII. gleichzeitig die Entstehung einer katholischen Partei nach dem Vorbild des Zentrums subtil hintertrieb und stattdessen eine Zusammenarbeit der Katholiken mit gemäßigten Republikanern favorisierte. Der junge Jurist Marc Sangnier (1873–1950) gründete 1894 die liberal-katholische Bewegung Le Sillon, um die Versöhnung des Katholizismus mit der französischen Revolution und der sozialistischen Arbeiterbewegung voranzutreiben; bis in die 1920er Jahre hinein verkämpfte er sich für die Aussöhnung mit Deutschland, für Frauenrechte und für eine Demokratisierung des Wahlsystems. Papst Pius X. (*1835, 1903–1914) aber verbot im Jahr 1910 Le Sillon in einem Schreiben an die französischen Bischöfe. Die Idee einer für Demokratie und Verfassung streitenden katholischen Partei nach belgischem oder deutschem Muster war damit aussichtslos geworden. Erst Benedikt XV. (*1854, 1914–1922) sollte Sangnier und Le Sillon rehabilitieren.97

96 Burleigh, Irdische Mächte, 431. 97 Vgl. Petit, Hugues, L’Église, le Sillon et l’Action Française, Paris 1998. Mayeur, JeanMarie (Hg.), Le Sillon de Marc Sangnier et la démocratie sociale. Actes du colloque des 18 et 19 mars 2004, Besançon 2006.

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Genau daran scheiterte die Politik des Ralliement. Es führte zwar zu einer kurzfristigen Entspannung zwischen den Vertretern der Kirche und der III. Republik, überzeugte aber nur eine Minderheit gemäßigter Republikaner und radikalisierte gleichzeitig die übrigen. Und was besonders gravierend war: Es spaltete die Katholiken. Die Hardliner – unter ihnen auch viele aus den adligen und bürgerlichen Laieneliten – sahen ihre Leiden und Opfer entwürdigt und trauten der moralischen Autorität des Papstes keinen hinreichenden Einfluss auf die Gegner zu. Selbst wer als Bischof oder Pfarrer der Bewegung des Ralliement vertraute – und das war eher die Minderheit –, musste sich der Tatsache beugen, dass es die hartnäckigen Gegner der Annäherung waren, die mit reichen Spenden zur Finanzierung der Kirchen, des Unterrichts und des Armenwesens beitrugen. Es war die Dreyfus-Affäre98, die die Annäherung endgültig zerstörte. Alfred Dreyfus (1859–1935), Hauptmann der französischen Armee, als Jude den Katholiken und als Elsässer den Republikanern verdächtig, wurde der militärischen Konspiration mit den Deutschen bezichtigt und hart verurteilt. Als sich seine Unschuld herausstellte, vertuschte die Armee den Justizirrtum; der wahre Täter wurde freigesprochen. Als man Dreyfus Jahre später begnadigte – nach einem skandalösen zweiten Schuldspruch –, hatte das ganze Ausmaß der Korruption bereits eine verheerende Wirkung entfaltet. Auf hier nicht im einzelnen zu erläuternden Wegen gelang es der republikanischen Propaganda, den Justizskandal als Komplott von Armeeführung und Kirche gegen Staat und Nation hinzustellen. Mit den Fakten hatte das nichts zu tun. Zwar gab es einen erheblichen katholischen, aber einen nicht weniger ausgeprägten liberalpatriotischen Antisemitismus in Frankreich. Zwar gab es Geistliche, auch Jesuiten, die Teile der Armee-Eliten ausgebildet hatten, aber dominant waren sie nicht. Die vor allem Armee und Politik, aber auch die Kirche beschämenden Ereignisse lieferten seit dem Jahr 1902 der Regierung unter Émile Combes (1835–1921) den Freibrief, tausende kirchliche Einrichtungen, selbst Krankenhäuser, zu schließen und ihr Eigentum zu konfiszieren. Aus den dürftigen Verkaufserlösen – das hätte man seit der AssignatenInflation von 1790 wissen können – waren die Pensionen der aus ihren Aufgaben und Lebensformen Vertriebenen nicht zu finanzieren; unter ihnen grassierte die Armut.99 Aus den innenpolitischen Verwerfungen der Affäre Dreyfus entstand zudem das Comité d’action française. Wortführer wurden rasch die Journalisten Charles Maurras (1868–1952) und Léon Daudet (1867–1942). Ihre Zeitschrift „L’Action française“ gab sich als Sprachrohr eines rechtspopulistischen Antisemitismus, der sich gleichzeitig aus

98 Vgl. Whyte, George R., Die Dreyfus-Affäre. Die Macht des Vorurteils, Frankfurt/M. 2010. Airiau, Paul, L’antisémitisme catholique en France aux XIXe et XXe siècles, Paris 2002. Pierrard, Pierre, Juifs et catholiques français: d’Edouard Drumont à Jacob Kaplan (1886– 1994), Paris 1997. 99 Vgl. Rémond, René, L’anticléricalisme en France de 1815 à nos jours, Paris 1999. Sorrel, Christian, La République contre les congregations. Histoire d’une passion française (1899–1914), Paris 2003.

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einem antirevolutionären und zunehmend royalistischen Ultrakatholizismus nährte. Die religiös verbrämte Wendung gegen Parlamentarismus und Demokratie, die zudem eine abgrundtiefe Feindschaft gegen Deutschland schürte, entwickelte trotz ihres monarchistischen Anstrichs zunehmend protofaschistische Haltungen und Lebensformen. Pius X. verurteilte L’Action française bereits 1914 als unkatholisch, hielt die Veröffentlichung allerdings wegen des Krieges zurück. Sie wurde erst im Jahr 1926 von Pius XI. (*1857, 1922–1939) publiziert.100 Es war diese Konstellation einer extrem polarisierten Innenpolitik und Öffentlichkeit, die schließlich zur Trennung von Staat und Kirche – besser des Staates von der Kirche – führte.101 Mit den Trennungsgesetzen von 1905 brachen die Republikaner einseitig und daher völkerrechtswidrig das Konkordat von 1801. Damit verbunden war eine vollständige Enteignung. Sie betraf nicht nur die staatlichen Ausgleichsleistungen für die Säkularisation im Rahmen der Revolutionsgesetzgebung, sondern auch das seither erworbene Eigentum. Mit dieser Hypothek musste der französische Katholizismus ins 20. Jahrhundert eintreten.

4.3. Europas Theologie zwischen Modernismus und Antimodernismus Die Kämpfe um Modernismus und Antimodernismus waren die letzte große Kontroverse der europäischen Theologie und Kirche, die sich im bizarren Verlauf ihrer Fronten auf die Ergebnisse und Erfahrungen der Französischen Revolution bezog. Gestritten wurde erneut um die Legitimität der theologischen Aufklärung: um die Historisierung der Bibel als heiligem Offenbarungstext und um die relative Zeitbedingtheit der kirchlichen Dogmen und Institutionen. Gefochten wurde erneut um das Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft: um Gewissensfreiheit und religiöse Pluralität, um die Entwicklungsoffenheit des kirchlichen Lebens im Kontext einer säkularen Verfassung und Kultur. Gekämpft wurde daher – nach wie vor – um die großen Worte und Güter: Wahrheit, Freiheit, Autorität. Es gab – im strengen Sinne einer historisch denkenden Wissenssoziologie – keinen Modernismus, wohl aber Antimodernismus. Diejenigen, die als Modernisten verdächtigt und belangt wurden, sahen sich selbst in der Regel nicht als solche. Sie waren sich auch untereinander keineswegs einig. Weder verstanden noch organisierten sie sich

100 Vgl. Bernardi, Peter J., Maurice Blondel, Social Catholicism, and Action française. The Clash over the Churchs Role in Society during the Modernist Era, Washington DC 2009. Madiran, Jean, Maurras, Paris 1992. Prévotat, Jacques, Les catholiques et l’action française. Histoire d’une condamnation (1899–1939), Paris 2001. Sutton, Michael, Charles Maurras et les Catholiques Français (1890–1914). Nationalisme et positivisme, Paris 1994. 101 Vgl. Mayeur, Jean-Marie, La séparation des Églises et de l’État, Paris 1991.

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als Bewegung. „Modernismus“ war ein schillernder Begriff, der im 19. Jahrhundert keineswegs nur in katholischen oder nur in theologischen Kontexten gebraucht wurde. Erst seit der Mitte der 1880er Jahre engte er sich ein auf jenes Phantasma einer teuflischen Super-Häresie, das die Antimodernisten unbedingt unterdrücken zu müssen glaubten, sollte nicht mit der Kirche der ganze Heilsplan Gottes für die Menschheit untergehen. Es waren die Antimodernisten, die Modernismus zum System formten. In diesem Sinne gab es keinen Modernismus, wohl aber Antimodernismus. Man könnte die Krise um Modernismus und Antimodernismus für ein arg begrenztes Feld halten. Vielleicht einhundert Personen in ganz Europa standen als unmittelbare Akteure im Mittelpunkt der Ereignisse. Aber im medialen Zeitalter des späten 19. Jahrhunderts waren das dennoch keine okkulten Vorgänge, so viel den Zeitgenossen auch verborgen blieb von dem, was hinter verschlossenen Türen verhandelt und entschieden wurde. Vielmehr wurde die Modernismuskrise leidenschaftlich diskutiert in den Zeitungen und Zeitschriften, in den privaten Korrespondenzen und in den Abendgesellschaften. Zehntausende vor allem gebildete Katholiken lasen die Theologen, die Zug um Zug inkriminiert wurden. Sie sahen darin die Chance, ihren loyalen und kirchentreuen Katholizismus mit den Erkenntnissen der historistischen Kulturwissenschaften und den Entwicklungen des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts in Einklang zu bringen. Der Antimodernismus hat daher die Auseinandersetzung der katholischen Theologie mit den Lebensformen der Moderne erneut in die unproduktiven Bahnen des Konflikts gelenkt. Das hat rapiden Wandel nicht aufgehalten, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg nicht. Aber es hat unzählige Katholiken und Katholikinnen auf Jahrzehnte hinaus genötigt, mit einem bedrängten Gewissen zu leben. Weil der Vorwurf des Modernismus für Theologen tödlich sein konnte, haben viele mit einer Schere im Kopf gearbeitet. Erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben die valideren dieser Überzeugungen in der katholischen Kirche ihr Recht erhalten. Die weniger validen hat bereits das Schreckens-Szenario des Ersten Weltkriegs erledigt. Nach 1918 war die europäische Welt definitiv eine andere als um 1900. Frankreich, Deutschland und England waren jene europäischen Länder, in denen die als Modernisten verdächtigten Theologen und Privatgelehrten arbeiteten. Sie waren, wenn auch keineswegs stets in Einhelligkeit, durch Korrespondenzen, Rezensionen und gegenseitige Besuche lose vernetzt. Einbezogen waren amerikanische Gelehrte, obwohl sich deren Erfahrungsraum und Zukunftsvision von den alteuropäischen Kontexten distinkt abhob. Drei große Felder der Debatte lassen sich abstecken.102 Zunächst ging es theologisch um Fragen der Objektivität und

102 Vgl. Arnold, Claus, Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg u. a. 2007, 11–16. Neuner, Peter, Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt/M./Leipzig 2009. Wolf, Hubert/Schepers, Judith (Hg.), „In wilder zügelloser Jagd nach Neuem“. 100 Jahre Modernismus und Antimodernismus in der katholischen Kirche (Römische Inquisition und Indexkongregation 12), Paderborn u. a. 2009.

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der Wahrheit in einem Zeitalter der von Immanuel Kant (1724–1804) und vom Idealismus geprägten Kritik der klassischen Metaphysik und der durch den Historismus geformten Kritik historischer Dokumente: War die Bibel eine göttlich inspirierte, in allen ihren Teilen irrtumsfreie göttliche Offenbarung, auch dort, wo sie nicht über Gottes Heilswillen, sondern über die Natur und die Geschichte und die soziale Ordnung sprach? Oder war die Bibel ein Dokument dessen, was Menschen in einer orientalisch geprägten, voraufgeklärten Gesellschaft mit ihrem begrenzten Horizont zu reflektieren in der Lage gewesen waren? Berichtete also das Neue Testament wahrheitsgetreu von Jesus Christus als einem alles vorauswissenden Gottmenschen, der auch die Kirche samt ihren Lehren und Einrichtungen exakt so gewollt hatte, wie sie jetzt waren? Oder war Jesus ein messianischer Prophet, der in Erwartung des Weltendes ein utopisches Reich Gottes verkündet hatte, das angesichts des Ausbleibens der Parusie in eine Kirche umgeformt werden musste, die Schritt für Schritt Dogmen und Ämter entwickelte in der Hoffnung, damit seinen göttlichen Intentionen für möglichst viele Menschen bestmöglich zu entsprechen? Wenn das strittig war: Worin vermittelte sich Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Wahrheit, also die über Leben, Tod und Jenseitsschicksal entscheidende unbedingte Geltung des Christentums? Konnte die Kirche vor allem durch ihre imposante äußere Erscheinung beglaubigt werden, ihre Ausbreitung über die ganze Welt, ihre Unüberwindlichkeit in der Geschichte trotz größter Herausforderungen und Anfeindungen, die Heiligen, die in ihr auftraten, und die Wunder, die in ihr geschahen, die Macht, die sie beanspruchte, wenn auch keineswegs mehr ausübte? Oder machte sich der göttliche Funke des Christentums in einem Zeitalter der Individualität und des Subjektivismus glaubhaft vor allem durch ein Übermanntsein des Gefühls, durch eine Erfahrung des Erhabenen und Heiligen, die von der teils kläglichen Jetztgestalt des Kirchlichen gerade abstrahierte? Hatte darum die Kirche stets so zu bleiben, wie sie vorgab immer schon gewesen zu sein? War Wandel, der auf Zeitentwicklungen reagierte, traditionsvergessener Reformismus? Neben diesen theologischen Fragen standen erneut politische Modernismen im Raum. Der Streit um die Versöhnungsversuche, die Lamennais zwischen den politischen Ideen der französischen Revolution, dem parlementarischen Verfassungsstaat und einer in die plurale Gesellschaft eingebetteten, aber staatlich nicht kontrollierten Kirche unternommen hatte, lebte in den Vereinigten Staaten in einer neuen Variante wieder auf. Die Unversöhnlichkeit der europäischen Kulturkämpfe, ausgetragen vor allem in Preußen, Italien und Frankreich, ebbte zwar rein äußerlich immer wieder ab. Aber die Prinzipien, die beide Seiten für sich beanspruchten, konnten einander kaum angenähert werden. Strengkirchliche Antimodernisten sahen überall den Versuch, Kirche und Glauben vollständig aus der säkularen Gesellschaft zu verdrängen. Weil die liberalen Kulturkämpfer ihr Überlegenheitsgefühl gegenüber der vermeintlichen Mittelalterlichkeit des Katholizismus auf eine diffuse Fortschrittsidee moderner Wissenschaft gründeten, herrschte im Lager der

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Intransigenten übertriebene Skepsis gegenüber einem überheblichen Forschungsbetrieb an den Universitäten, der sich destruktiv in das Geistesleben der Gesellschaft einschreibe. „Immanentismus“ war das Reizwort gegenüber einer akademischen Elite, die von allen Transzendenzbezügen abstrahierte. Drittens lösten die Versuche katholischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen, sich aus dem Ghetto des katholischen Kulturverständnisses zu lösen, eine Art kultureller Modernismuskrise aus. Katholische Literatur vor und um 1900 war eine vom übrigen Literaturbetrieb abgeschottete Sonderveranstaltung: apologetisch und moralisierend, auf eine kitschige Weise fromm, repräsentiert von schlicht konstruierten Charakteren in bukolischen Retro-Lebenswelten. Alles das, was in der zeitgenössischen Literatur vorkam, galt als anrüchig: die Großstadt, die Halbwelt, der Zweifel, das ethische Dilemma, die krisenhafte Zuspitzung von Persönlichkeitsentwicklungen, die unauflösbaren Spannungen und die Opfer, die sie forderten. Alle Versuche katholischer Autorinnen und Autoren, dieses Niveau an Komplexität und literarischer Kraft des Kanons irgendwo zwischen Friedrich Schiller (1759–1805) und Gustave Flaubert (1821–1880) zu erreichen, galten als verdächtige Abweichung von den Normerwartungen der katholischen Tendenzliteratur. Diese drei ineinander verschränkten Debatten fasste der halbamtliche Osservatore Romano im Jahr 1903 zu den umfassend verheerenden Wirkungen des Modernismus zusammen: „Häresie in der Religion, Revolution in der Politik, Irrtum in der Philosophie“ und Kultur.103 Die moderne Forschung folgt dieser Verdichtung des Modernismus vom Kampfbegriff zum historischen Phänomen bewusst nicht mehr; der „Streit um den ‚Modernismus‘“ wird vielmehr definiert als „Kumulation von Auseinandersetzungen um die religiös-kulturelle Positionierung des Katholizismus in der Moderne“.104 Der wohl schon zeitgenössisch prominenteste „Fall“ der Modernismuskrise war der des französischen Exegeten Alfred Loisy (1857–1940).105 Als mit Leidenschaft frommer Priester und Theologe lehrte Loisy zunächst am Priesterseminar von Chalons-sur-Marne, dann am neu gegründeten Institut catholique in Paris. Seine eigene, ganz apologetisch ausgerichtete Ausbildung bekämpfte die historische Bibelkritik der deutschen protestantischen Universitätstheologie – gerade dadurch aber fand Loisy Geschmack an der sich zeitgenössisch mit enormer Wucht entfaltende Religionswissenschaft und Altorientalistik. In Zusammenarbeit mit bedeutenden französischen Theologen und in international rezipierten Zeitschriften-

103 Ebd., 14. 104 Ebd., 21. 105 Vgl. Goichot, Émile, Alfred Loisy et ses amis, Paris 2002. Hill, Harvey, The Politics of Modernism. Alfred Loisy and the Scientific Study of Religion, Washington DC 2002. Überblick zum Modernismus in Frankreich: Chaubet, François (Hg.), Catholicisme et monde moderne aux XIXe et XXe siècles: autour du modernisme, Dijon 2008. Schultenover, David G. (Hg.), The reception of Pragmatism in France and the Rise of Roman Catholic Modernism, 1890–1914, Washington DC 2009.

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Projekten verfolgte er selbst ein apologetisches Interesse. Die bibelkritisch relevanten Erkenntnisse der Religionsgeschichte sollten gerade nicht übergangen oder bekämpft, sondern in eine neue Form katholischer Bibelwissenschaft überführt werden. Die Wahrheit der heiligen Schrift war um so wirksamer zu verteidigen, wenn man ihre Irrtumslosigkeit nicht auch auf den Feldern der Geschichte und Naturwissenschaft behauptete, sondern ihre göttliche Inspiration auf die Heilslehren konzentrierte und gleichzeitig zugestand, dass ihrer Textgestalt ein literarischer Entstehungs- und Redaktionsprozess zugrunde lag. Dieser war im Ganzen göttlich inspiriert, schloss aber die Kooperation von Menschen ein, denen ein jeweils zeit- und umgebungsabhängiger Kontext des Verstehens zueigen war. Und eben diesen konnte man um einer besseren Verteidigung der Bibel willen historisieren. Diese Variante der Apologetik hatte Konsequenzen nicht nur für die Schöpfungs- und Geschichtserzählungen des Alten, sondern auch für die dogmatische Substanz des Neuen Testaments. 1902 publizierte Loisy L’Évangile et l’Église: Die katholische Kirche war nicht bis ins Kleinste ihres abstrakten Dogmensystems und ihrer verästelten Ämterhierarchie vom irdischen Jesus vorherbestimmt worden. Die Botschaft Jesu vom Reich Gottes war zutiefst eschatologisch, auch wenn sie durchaus soziale Ideen und verschiedene Funktionen innerhalb der Gemeinschaft der Jesus-Jünger kannte. Erst als die Parusie sich verzögerte, trat die Kirche als legitime Gestaltwerdung und erweiterte Form der Reich-Gottes-Idee in die Geschichte ein. Sie folgte dabei in ihrer historischen Entwicklung den sich wandelnden Bedingungen christlichen Lebens. Das war eine „sich rein historisch gebende, evolutionistische Rechtfertigung der Kirche […] im krassen Gegensatz zur Schultheologie“106. L’Évangile et l’Église löste in ganz Europa heftige Debatten aus, die von begeisterter Zustimmung bis zu horrender Verketzerung reichten. Nicht nur Loisy selbst, sondern auch sein internationales Netzwerk um den deutsch-englischen Freiherrn Friedrich von Hügel (1852–1925) und die ehemalige Ordensfrau und Modernistin Maude Petre (1863–1942), um die Jesuiten George Tyrrell (1861– 1909) und Henri Bremond (1865–1933), um den Pariser Theologen Maurice d’Hulst (1841–1896) und andere wurde zunehmend in die Enge getrieben. Der Präfekt der Indexkongregation, Camillo Mazzella SJ (1833–1900), wertete Loisys Neuansätze als Auflösung der Autorität sowohl der Bibel als auch des päpstlichen Lehramtes. Im Jahr 1893 statuierte die Enzyklika Providentissimus Deus die Offenbarungsqualität der heiligen Schrift ausdrücklich auch für Fragen der Natur und Geschichte. Schon kurze Zeit vorher hatte Loisy seinen Lehrstuhl als Exeget verloren; er durfte nur noch Orientalistik und alte Sprachen unterrichten. Die kirchlichen Verfahren trieben ihn in schwere Krisen; nach 1900 lehrte Loisy am religionswissenschaftlichen Institut der Sorbonne in der renommierten École pratique des hautes études. Zu

106 Arnold, Modernismus, 60.

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den Debatten um seine Theologie und zum mittlerweile angestrengten Index-Verfahren nahm er populärwissenschaftlich Stellung in Autour d’un petit livre (1903), exegetisch hingegen durch einen grandiosen Kommentar zum Johannes-Evangelium (Le quatrième Évangile, 1903), der dessen theologische und mystische Tiefe herausarbeitete, historischen Quellenwert aber vorrangig den Synoptikern zumaß. Loisy hatte im komplizierten und intriganten Räderwerk von Indexkongregation und Inquisition durchaus auch Verteidiger, aber seine schultheologisch brillianten Gegner setzten sich durch, indem sie Loisy gezielt vergrößerten und zum Haupt einer hochgefährlichen Super-Häresie stilisierten. Loisy unterwarf sich im Jahr 1903 noch der Indizierung seiner Werke, aber der innere Riss war nicht mehr zu heilen. Die Antimodernismus-Enzyklika Pius’ X. Pascendi dominici gregis (8.9.1907) hat er nur mehr schneidend kommentiert; aus dem frommen Priester und Apologeten war ein humanistischer Religionswissenschaftler geworden. Nicht nur für ihn, sondern auch für George Tyrrell und andere bedeutete die schlussendliche Exkommunikation das Ende eines Lebens, das mit den besten Absichten einer Verteidigung der Kirche im Horizont der Moderne begonnen hatte. Die Historisierung der Bibel, die ihre theologische Offenbarungsqualität nicht schmälert, sondern qualifiziert, ist heute Basiswissen eines jeden exegetischen Proseminars. In Deutschland zielte der antimodernistische Furor besonders früh auf den Reformkatholizismus des Würzburger Dogmatikers Herman Schell (1850–1906).107 Als systematischer Theologe verteidigte Schell den Katholizismus vor allem gegen den Berliner Philosophen Eduard von Hartmann (1842–1906). Hartmann hatte einen populären Monismus entwickelt, den er als Synthese der Größen der deutschen idealistischen Philosophie – Hegel, Schelling, Schopenhauer – behauptete. Seine Hauptwerke der Metaphysik („Philosophie des Unbewussten“, 1869), der Moralphilosophie („Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins“, 1878) und der Religionsphilosophie („Das religiöse Bewusstsein der Menschheit im Stufengang seiner Entwickelung“, 1882) waren enorm einflussreich im protestantischen Bildungsbürgertum und erlebten Massenauflagen. Hartmann war gleichzeitig einer der unbarmherzigsten Kulturkämpfer und hatte den Katholizismus nach dem Infallibilitätsdogma als „Universaltheocratie“ geschmäht. Schell verstand sich als Apologet, der angesichts dieser Herausforderungen die dynamischen und personalistischen Begrifflichkeiten und Vorstellungen der idealistischen Philosophie in seine prinzipielle Hochschätzung der Scholastik integrierte. Seine Hauptwerke „Katholische Dogmatik“ (4 Bde., 1889–1893) und „Gott und Geist“ (1895/96), schließlich sein „Christus“ (1903) waren explizit als moderne Fundamentaltheologie, also als eine den Anliegen der zeitgenössischen Philosophie standhaltende Glaubensbegründung konzipiert. Als Schell wahrnehmen

107 Hausberger, Karl, Hermann Schell (1850–1906). Ein Theologenschicksal im Bannkreis der Modernismuskrise (Quellen und Studien zur neueren Theologiegeschichte 3), Regensburg 1999.

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musste, dass er auf der einen Seite begeisterte Zustimmung und eine breite Leserschaft fand, auf der anderen aber auch glaubenswächterische Bezweiflung auslöste, publizierte er zwei Reformschriften, die wiederum reißenden Absatz fanden: „Der Katholicismus als Princip des Fortschritts“ (1897) und „Die neue Zeit und der alte Glaube“ (1898). Darin machte sich ein Reformkatholizismus geltend, der die theologischen Verengungen römischer Intransigenz für die marginalisierte Rolle der Katholiken in den europäischen Fortschrittsgesellschaften verantwortlich machte. Frei vom elitären Kulturnationalismus seiner Gegner war das nicht: Würde der Katholizismus durch Emanzipation von kurialistischer Bevormundung zu seiner ursprünglichen Weite und Tiefe zurückfinden, würde seine Kulturbedeutung mit dem nationalliberalen Establishment nicht nur gleichziehen. Mindestens implizit regte Schell vielmehr die Hoffnung an, ein solcherart reformierter Katholizismus könne den zunehmender Selbstauflösung anheimfallenden Kulturprotestantismus in seiner identitätsbildenden Kraft überflügeln. Denunziationen aus dem deutschen Sprachraum sorgten dafür, dass seine Hauptwerke, aber auch seine Reformschriften 1898/99 auf den Index gesetzt wurden. Das Verfahren hat sich mittlerweile als ein Muster für die verworrene Arbeitsweise der Kurie herausgestellt, in der verschiedene Dikasterien gegeneinander arbeiteten; wo die einen forcierten, verschleppten die anderen. Schell unterwarf sich und war danach ein gebrochener Mann. Als er bereits 1906 starb, galt seinen Freunden und Förderern die Kurie als Totengräber – der Fall Schell hat die internationale Öffentlichkeit emphatisch beschäftigt. Eine ganze Reihe von Reformtheologen in Deutschland – Albert Ehrhard (1862– 1940), Franz Xaver Kraus (1840–1901), Sebastian Merkle (1862–1945), Josef Müller (1855–1942)108 – argumentierte ähnlich wie Schell, ohne mit ihm und untereinander stets einer Meinung zu sein. In einem breiten Spektrum von Haltungen und Überzeugungen wurden viele Ideen und Forderungen der theologischen Aufklärung wiederbelebt: Bischöfe sollten keine Marionetten Roms sein; Priester müssten umfassender und zeitgemäßer gebildet werden; überhaupt dürfe Bildung kein Korsett, sondern müsse ein Raum unpolemischer Weite werden; die Instrumente der römischen Bücherzensur seien daher zu überwinden; der Katholizismus müsse aus der strukturellen Enge des Milieus heraustreten und seine Defensivhaltung überwinden. Die Zentrumspartei und das Vereinswesens engten den Handlungsspielraum der Katholiken unnötig ein. Die Katholiken müssten die Feindbilder des Kulturkampfes ablegen und die politischen und kulturellen Leistungen von Staat und Nation anerkennen und bereichern. Damit verbanden sich alternative Geschichtsbilder und Öffentlichkeitsformen, die in den Kreisen katholischer Bildungsbürger viel Resonanz fanden.109 Ein ka-

108 Vgl. Weiß, Otto, Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte, Regensburg 1995, 123–196. 109 Vgl. Dowe, Christopher, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 171), Göttingen 2006.

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tholisch-bürgerliches Selbstbewusstsein beanspruchte nunmehr eine Selbstständigkeit, die sich von einem als integralistisch und antimodern empfundenen Klerus nicht mehr in allen Fragen lenken lassen wollte, auch wenn die grundsätzliche Loyalität eines katholischen Gehorsamsverständnisses im Blick auf zentrale Glaubens- und Moralfragen nicht in Frage stand. Bei aller Eingebundenheit in die Selbstverständlichkeiten des liturgischen Lebens entwickelte sich eine Distanz zur neo-ultramontanen Expressivität (Heiligen- und Marienverehrung, Herz-Jesu-Kult, sentimentale „Herzens“frömmigkeit). Katholische Bürger um 1900 kennzeichnete ein Zug zur Rationalisierung, zur Skepsis gegenüber integralistischen Vermengungen von Religion, Politik und Lebenswelt unter konfessionellen Vorzeichen und zur Annäherung bürgerlicher Frömmigkeitsstile über die Konfessionsgrenzen hinweg. Die Nationsvorstellungen und Geschichtsbilder wichen nach wie vor vom Kanon der protestantisch-kleindeutschen Nationalstaatsideologien deutlich ab. Reformkatholiken distanzierten sich aber auch von jenem älteren Szenario, welches im Spätmittelalter die eigentliche Phase einer produktiven religiösen Reform erblickte, die durch die Reformation abgebrochen und in deren Gefolge durch Aufklärung, Französische Revolution, Säkularisation und Kulturkampf endgültig in eine negative Richtung gewiesen worden sei. Sie spürten, dass die Gegenreformation und der Ultramontanismus sich dann in eine Haltung kleingeistiger Dauerpolemik hatten treiben lassen. Darum müsse auch der Historismus in katholischem Gewande überwunden werden, der in den Werken etwa eines Johannes Janssen (1829–1891) oder Heinrich Suso Denifle (1844–1905) vor allem als quellengesättigte Polemik gegen Martin Luther und den Protestantismus daherkomme.110 Liberale Katholiken neigten dazu, das Geschichtsbild zu entpolitisieren, zu entkonfessionalisieren und damit insgesamt zu entideologisieren. Zwar wirkten die Kaiser-, ja zum Teil selbst eine gewisse Bismarckverehrung integrierend, aber die obligatorischen Papsthuldigungen wurden nach wie vor im gleichen Atemzug vollzogen. „Nation“ – da war im wörtlichen wie sprichwörtlichen Sinne „Gott vor“ – wurde nie ein Letztwert. Nicht nur im Bereich der Religion, sondern insbesondere im Bezug auf Wissenschaft und Kultur versuchten katholische Bildungsbürger, die Spannungen aus dem Syllabus errorum, aus dem Unfehlbarkeitsdogma und dem Modernismusstreit in ein konsistentes katholisches Wissenschaftsverständnis der „relativen Selbstän-

110 Vgl. Arnold, Claus, Heinrich Suso Denifle OP (1844–1905). Die Wirkungen einer historischen Polemik gegen Luther, in: Holzem, Andreas/Leppin, Volker (Hg.), Martin Luther: Monument, Ketzer, Mensch. Lutherbilder, Lutherprojektionen und ein ökumenischer Luther, Freiburg/Br. 2017, 247–268. Holzem, Andreas, „Die Cultur trennte die Völker nicht: sie einte und band“. Johannes Janssen (1829–1891) als europäischer Geschichtsschreiber der Deutschen? in: Irene Dingel/Heinz Duchhardt (Hg.), Die europäische Integration und die Kirchen II – Denker und Querdenker (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 93), Göttingen 2012, 9–49.

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digkeit der Kultursachbereiche“ zu überführen und Weltanschauungsfragen aus dem wissenschaftlichen Diskurs zu eliminieren. Deutliche Anzeichen dafür waren die vorsichtig versachlichende Auseinandersetzung mit Kant (bei gleichzeitiger vehementer Ablehnung Nietzsches), die zunehmende Akzeptanz eines evolutionsgeschichtlichen Weltbildes und einer ihm entsprechenden historisch-kritischen Bibelhermeneutik (bei schroffer Zurückweisung monistischer Weltlehren), der Einzug auch Schillers und Goethes (und anderer „Nationalliteratur“) in den katholischen Lektürekanon, die Verweigerung gegenüber „Milieuromanen“ und katholischer Heimatliteratur. Reformkatholiken wurden somit ein Teil des Bürgertums, und zwar keineswegs nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Denn im Mittelpunkt ihres Selbstbildes und ihrer Religiosität standen typisch bürgerliche Ideale: Selbstbewusstheit und Selbstständigkeit, Individualität und kommunaler Gemeinsinn, Leistungsbereitschaft auf der Basis moderner Wissenschaftlichkeit, die Verbindung von Arbeit und „bürgerlicher Tugend“ sowie ein spezifisch bürgerliches Familienideal. Carl Muth (1867–1944) gründete im Jahr 1903 die Kulturzeitschrift „Hochland“, die einen alternativen katholischen Kulturbetrieb etablieren sollte111; zahlreiche weitere Periodika folgten. In dieser Literatur standen Heilige und Mystiker Modell für einen erneuerten Katholizismus. Engagiertes Christentum, praktiziert an den Verlierern des industriellen Zeitalters, und Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung, gelebt gegen den sakral-institutionellen Objektivismus kirchlicher Autorität: so sollte reformorientierter Katholizismus aussehen. Der Roman „Il Santo“ des italienischen Autors Antonio Fogazzaro (1842–1911) wurde ein internationaler Bestseller, weil dort ein einfacher Priester und Armenseelsorger den Papst persönlich für „wissenschaftsfeindliche Verketzerungssucht, Autoritarismus und blinden Konservativismus in der Kirche“ haftbar machte.112 Dass Fogazzaro umgehend von Pius X. persönlich auf den Index befördert wurde, machte den Klassiker dieses idealistischen Kirchen- und Weltverständnisses nur um so interessanter. Gleichzeitig war der deutsche Reformkatholizismus ein ausgesprochen bürgerliches Projekt. Dem Arbeiterkatholizismus der christlichen Gewerkschaften stand er ebenso fern wie dem organisierten Vereinskatholizismus, der Zentrumspartei und den sozial-caritativen Ordensgemeinschaften. Das katholische Milieu, das Armensorge tatsächlich leistete, blieb ihm ebenso fremd wie der tradtionale Katholizismus ländlicher Lebenswelten. Denn deren oft bigott kirchentreue Frömmigkeit repräsentierte genau das Gegenbild zum eigenen bildungselitären Habitus. Weil das alles „römisch“ und „jesuitisch“ war, begannen die Reformkatholiken das „germanische“ und „deutsche“ Wesen zu preisen, das sich in Kaiser und Reich ebenso verkörperte wie im

111 Vgl. Giacomin, Maria Cristina, Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im Hochland (1903–1918) (Politik- und kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 29), Paderborn u. a. 2009. 112 Arnold, Modernismus, 33.

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Fortschritts- und Durchsetzungswillen der akademischen und industriellen Welt. Was als Überlegenheitsgestus daherkam, war allerdings nicht selten auch ein Betteln um Teilhabe. Auch die deutschsprachigen Gegner der Modernisten boten kein einheitliches Bild. Als der Dominikaner Albert Maria Weiss (1844–1925) seinen Alarmruf „Die religiöse Gefahr“ (1904) veröffentlichte, war das blanker neuthomistischer Integralismus. Der Theologe und spätere Bischof von Rottenburg Paul Wilhelm von Keppler (*1852, 1899–1926) hingegen lebte das Paradox eines quasi modernistischen Antimodernismus: Er schmähte in einer berühmt-berüchtigten Rede „Über wahre und falsche Reform“ (1902) den Kurs der Reformer als „Margarinekatholizismus“, also als billiges Surrogat-Lebensmittel der Seele, weil er sich selbst in die Neoromantik und die pessimistisch-völkische Kulturkritik der Jahrhundertwende verstrickt hatte. Er setzte einen ästhetisch überhöhten, kunstliebend weltfernen und daher geschönt römischen Katholizismus gegen die Wissenschaftsgläubigkeit und den Fortschrittsoptimismus und sah sich durch die „Leidensschule“ des Ersten Weltkriegs mehr als bestätigt. Bei den antimodernistischen Kurialisten waren Weiss wie Keppler einflussreich; Keppler gelang es zudem, in der Tübinger theologischen Fakultät und im Rottenburger Klerikalseminar durch exemplarische Amtsenthebungen und Disziplinierungen furchtsames Stillschweigen zu verbreiten.113 Eine ganz eigene Gestalt nahmen des Modernismus verdächtige Haltungen in Nordamerika an.114 Die Vereinigten Staaten drängten gegen Ende des 19. Jahrhunderts offensiv in die Weltpolitik – Europas Dominanz begann schon vor dem Ersten Weltkrieg brüchig zu werden. Das neue imperiale Selbstbewusstsein der USA spornte auch deren Katholiken an, sich gegen das vergreiste kirchliche Europa zu wenden, gegen das Buhlen um Aufmerksamkeit, mit dem sich der spanische, französische und deutsche Katholizismus der römischen Kurie andienten. Die irisch-, deutsch- und italienischstämmigen Katholiken Amerikas sollten und wollten ihre nationalreligiösen Sonderidentitäten aufgeben und sich der Ideologie des amerikanischen melting pot anvertrauen, des Schmelztiegels der Konfessionen und Kulturen. Nur so sei die europäisch geprägte Enge nicht nur der religiösen, sondern auch der politischen Auffassungen zu überwinden, jener reflexhafte monarchistische Konservatismus, der mit dem republikanischen Pluralismus nach wie vor seine liebe Not hatte, aber kaum volksmissionarische Kraft entfaltete. Die Ku-

113 Vgl. Weiß, Modernismus, 344–382. Hausberger, Karl, Der Rottenburger Bischof Paul Wilhelm von Keppler (1898–1926) – ein Exponent des Antimodernismus im Episkopat, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 21 (2002), 163–177. Weiß, Otto, Modernismus und Antimodernismus im Dominikanerorden. Zugleich ein Beitrag zu „Sodalitium Pianum“ (Quellen und Studien zur neueren Theologiegeschichte 2), Regensburg 1998, 134–203. 114 Vgl. Bendroth, in diesem Band, 359–397. Portier, William L., Divided Friends. Portraits of the Roman Catholic Modernist Crisis in the United States, Washington DC 2013.

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rie betrachtete diesen „Amerikanismus“ skeptisch, obwohl ein großer Teil der amerikanischen Bischöfe und ein internationales Netzwerk von Theologen dahinter stand. Der Papstbrief Testem benevolentiae (22.1.1899) verurteilte eine zu starke Betonung des Freiheitsideals, das auf kirchliche Strukturen übergreife und die Hierarchie schwäche, und warnte vor einem Interkonfessionalismus, der um pragmatischer Zusammenarbeit willen katholische Sonderlehren zugunsten des allgemein Christlichen hintanstelle. Das römische Lehramt war nicht daran interessiert, die große Bandbreite der Positionen, Solidaritäten und Loyalitäten dessen wahrzunehmen, was bis 1910 als „Modernismus“ verurteilt werden sollte. Vielmehr wurde Modernismus als vermeintliche Bewegung erst in den kurialen Instanzen konstruiert. Dennoch hat der seit 1998/2002 für die historische Forschung freigegebene Aktenbestand des Vatikanischen Geheimarchivs keineswegs jenen geschlossenen Block des römischen Antimodernismus offengelegt, den die Opfer der Modernismuskrise imaginiert hatten. Vielmehr zeigte sich, dass während der Pontifikate Leos XIII. und Pius’ X. hinter den Kulissen heftig um die Bewertung der Einzelfälle wie des Gesamtphänomens gerungen wurde. Das erste Ergebnis solcher internen Auseinandersetzungen war das Dekret Lamentabili (3.7.1907)115. Es präsentierte sich als Syllabus, als Sammlung 65 verurteilter Lehrsätze. Heute wird erkennbar, dass der komplizierte Werdegang dieses Dokuments direkt aus dem Index-Prozess gegen Loisy hervorging, den Pius X. unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Jahr 1903 an das Sanctum Officium der Inquisition überwiesen hatte. Die Gutachter und Konsultoren, die päpstliche Bibelkommission und der Kardinalstaatssekretär Rafael Merry del Val (1865–1930) lieferten sich hier ein Gefecht, das sich über Jahre hinzog. Während die eine Tendenz eine möglichst scharfe Qualifizierung möglichst vieler Sätze als „häretisch“ betrieb, mahnte die andere zur Vorsicht, weil dadurch im stillschweigenden Gegenzug serienweise neue, auf alle Zukunft bindende Dogmen kreiert würden. Strittig war auch, ob man schnell zuschlagen müsse, um die verunsicherten Gläubigen in ihrem schlichten Glaubensbewusstsein zu stärken, oder ob sorgfältige und breite Prüfung des „Systems Modernismus“ über den Fall Loisy hinaus notwendig sei. Das jahrelange Tauziehen endete mit einem sehr restriktiven Dokument insbesondere für die katholische Bibelwissenschaft, obwohl die eine oder andere Abmilderung der Verurteilungen und der Verzicht auf ihre Qualifizierung als „häretisch“ der historisch-kritischen Exegese einen kleinen Rest an Bewegungsraum beließ. Den strengen Antimodernisten genügte das nicht. Sie sahen im Modernismus weit mehr am Werk als nur die unterminierende Bibelkritik der französischen

115 DH 3401–3466: Denzinger/Hünermann (Hg.), Enchiridion, 932–939.

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4. Kulturkampf und Modernismuskrise

Schule um Loisy. Die Enzyklika Pius’ X. Pascendi dominici gregis (8.9.1907)116 war daher der Versuch, den Modernismus als ein Geflecht des philosophischen „Agnostizismus, Immanentismus, Evolutionismus und Reformismus“117 zu brandmarken. Pius X. verstand sich als konservativer Reformer, nicht nur als Bewahrer. Aber seiner Idee der umfassenden Erneuerung (Instaurare omnia in Christo) lag eine dezidiert antimoderne Agenda zugrunde; niemand musste ihm feindlicher erscheinen als die modernistische Verschwörung gegen Jesus Christus und die Kirche, die in seinen Augen das Heilswerk Gottes dem Satan als dem Feind des Menschengeschlechts auslieferte. Das Eifernde des kurialen Antimodernismus wird verkannt, wenn man die dort wirkenden Energien nur den Schulstreitigkeiten und dem Machtwillen zuschreibt. Die Akteure sahen sich im Kampf mit den Helfershelfern der apokalyptischen Finsternis. Die Grundidee zur Enzyklika Pascendi ging auf den bayerisch-österreichischen Dominikaner Albert Maria Weiss zurück: Als Autor von Frömmigkeitsliteratur und als Kritiker des Liberalismus erreichte er im deutschsprachigen Raum Massenauflagen. Durchaus hellsichtig legte er seine Finger in die Wunden der kapitalistisch-szientistischen Industriegesellschaft. Aber er tat das auf eine so schroffe Weise, dass weder die deutschen Bischöfe noch der politische und verbandliche Katholizismus mit ihm identifiziert werden wollten. Darum wandte sich sein Antimodernismus nach Rom: Seine Interventionen überboten das Inquisitionsverfahren gegen einzelne häretische Thesen, das schließlich zu Lamentabili führen sollte, durch den theoretischen Horror eines häretischen Systems und den praktischen Rigorismus einer effektiven Kontrolle des Modernismus. Französische und römische Integralisten setzten daraus sehr zügig und an Lamentabili vorbei den Lehr- und den Disziplinteil von Pascendi zusammen; Kardinalstaatssekretär Merry del Val baute eine für die Durchsetzung effektive Medienstrategie auf. Die deutschen Bischöfe, erleichtert, den Kulturkampf zumindest äußerlich befriedet zu haben, legten keinen Wert darauf, ihn durch neue Ideologisierungen wiederzubeleben. Sie interpretierten Pascendi, indem sie darauf verwiesen, dass es den dort definierten Modernismus in der deutschen Theologie gar nicht gebe. Daher sei es auch nicht notwendig, die im praktischen Teil der Enzyklika geforderten Überwachungsgremien einzurichten – die Kontrolle des theologischen Buchmarktes durch die Bischöfe reiche vollkommen aus. Sie übergingen damit bewusst den zentralen Vorwurf der Antimodernisten, der Modernismus schütze sich dadurch, dass er es tunlichst vermeide, als geschlossenes System aufzutreten. Auch die amerikanischen Bischöfe konnten behaupten, „Amerikanismus“ im Sinne von Testem benevolentiae müsse gar nicht bekämpft werden, weil er so nirgends vertreten werde.

116 DH 3475–3500: ebd., 940–953. 117 Arnold, Modernismus, 107.

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Katholizismus, Europäischer Ultramontanismus und das Erste Vatikanische Konzil

Als letztes Instrument ihrer aggressiven Angst konstruierten die Antimodernisten einen ihrer Ideologie Ausdruck verleihenden Eid.118 Seit dem 1. September 1910 hatte jeder Geistliche bis ins Kleinste die antimodernistischen Verwerfungen zu beschwören. Umberto Benigni (1862–1934), zunächst subalterner Mitarbeiter des Staatssekretariates, später Protegé des Papstes, begründete das Sodalitium Pianum, das durch Spitzelei, Denunziation und Pressekampagnen insbesondere diejenigen Personen, Gruppen und Organisationen ins Zwielicht rückte, die man für einen politischen Modernismus verantwortlich machte, also christdemokratische Politiker, Gewerkschafter oder Journalisten. Der deutsche Zentrums- und Gewerkschaftsstreit, angefacht durch diesen politischen Antimodernismus, sollte den deutschen Sozialkatholizismus viel Durchschlagskraft kosten.119 Eidverweigerungen, Amtsenthebungen und schwerste Gewissensnöte waren die Folge dieser Verpflichtung, die erst im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgehoben wurde. Im Klima der Denunziation und der Furcht zog schwerer Nebel auf. Der europäische Katholizismus hatte, soweit er irgends noch nach Theologie fragte, sich selbst die Perspektive geraubt. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, gab es den einen europäischen Katholizismus so wenig wie 1789 oder 1815. Autoritative Vereinheitlichung war das große ultramontane wie kurialistische Programm des langen 19. Jahrhunderts gewesen. Es hatte sich in weiten Bezirken des kirchlichen Lebens durchsetzen lassen, aber um einen hohen Preis. Dieser größere Teil des Katholizismus war antiintellektuell und auf eine sehr uniforme Weise kirchenfromm. Aber er war wenig begeistert wie begeisternd; die allermeisten Gläubigen, Priester und Theologen versuchten sich von den opferreichen Schlachten um die päpstliche Unfehlbarkeit und den (Anti-)Modernismus fernzuhalten. Sie arrangierten sich, sie nahmen hin, sie versuchten sich und ihre sozialen Engagements zu schützen. Die Defensive blieb das Vorzeichen, mit dem dieser Mehrheitskatholizismus nicht nur der Moderne, sondern auch sich selbst begegnete. Glühende Emphase, brennende Motivation waren nicht das, was ihn kennzeichnete. Für die meisten Menschen verlangte das Leben ein hohes Maß an Tapferkeit, Leidenstoleranz, Rollenkonformität und Solidarität. Für alle, die sich dieser Sinn- und Lebenswelt anvertrauten, hatte Katholizismus eine bergende Kraft. Für herausragende oder anonym bleibende Laien, Ordensleute und Priester war gerade der ultramontan vereindeutigte Katholizismus ein Raum des unermüdlichen Engagements. Verloren oder verschreckt waren hingegen die Traditionen der katholischen Aufklärung, der Ideenreichtum einer Theologie jenseits der Scholastik, eine Vision der Verschwisterung von Christentum und

118 Motu proprio „Sacrorum antistitum“; DH 3537–3550: Denzinger/Hünermann (Hg.), Enchiridion, 961–964. 119 Vgl. Holzem, Hunger und ‚Soziale Frage‘, 167–211, hier 206–209 (dort Lit.).

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Literatur

Humanismus. Der Erste Weltkrieg selbst zog dann in kürzester Zeit die Grenzlinien völlig neu: In den militanten Nationalismus zusammengezwungene Katholizismen führten einen europäischen Krieg der Federn, predigten das blutige Opfer auf dem Altar des Vaterlandes und hofften auf eine missionarische Wirkung des großen Gemetzels.120

Literatur Burleigh, Michael, Irdische Mächte, göttliches Heil. Die Geschichte des Kampfes zwischen Politik und Religion von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart, München 2008. Engl. Orig.: Earthly Powers. The Clash of Religion and Politics from the French Revolution to the Great War, London 2005. Sacred Causes. Religion and Politics from the European Dictators to al Qaeda, London 2006. Die Geschichte des Christentums Bd. 11: Gadille, Jaques u. a. (Hg.), Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830–1914), Freiburg u. a. 1997. Holzem, Andreas, Christentum in Deutschland. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, 2 Bde., Paderborn – München – Wien – Zürich 2015. Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 3: Wolf, Hubert (Hg.), Von der Französischen Revolution bis 1989, Darmstadt 2008. Schatz, Klaus, Vaticanum I 1869–1870, Bd. 1: Vor der Eröffnung; Bd. 2: Von der Eröffnung bis zur Konstitution „Dei filius“; Bd. 3: Unfehlbarkeitsdiskussion und Rezeption, Paderborn u. a. 1992–1994. Schlögl, Rudolf, Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850, Frankfurt/M. 2013. The Cambridge History of Christianity, Bd. 7: Brown, Stewart J./Tackett, Timothy (Hg.), Enlightenment, Reawakening and Revolution 1660–1815, Cambridge 2006; Bd. 8: Gilley, Sheridan/Stanley, Brian (Hg.), World Christianities c. 1815–c. 1914, Cambridge 2006. The Dynamics of Religious Reform in Church, State and Society in Northern Europe (c. 1780 – c. 1920), Bd. 1: Robbins, Keith (Hg.), Political and legal perspectives, Leuven 2010; Bd. 2: Eijnatten, Joris van (Hg.), The Churches, Leuven 2010; Bd. 3: Jalert, Anders (Hg.), Piety and Modernity, Leuven 2012; Bd. 4: van Molle, Lee (Hg.), Charity and Social Welfare, Leuven 2017.

120 Vgl. Greschat, Martin, Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2014 (Lit.). Holzem, Andreas, Erster Weltkrieg, in: Volkhard Krech/Lucian Hölscher (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 6,1: 20. Jahrhundert – Epochen und Themen, Paderborn u. a. 2015, 21–60 (Lit.). Holzem, Andreas (Hg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens (Krieg in der Geschichte 50), Paderborn u. a. 2009, 56–104, 656–751. Jantzen, Annette, Priester im Krieg. Elsässische und französisch-lothringische Geistliche im Ersten Weltkrieg (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 116), Paderborn 2010. Reichmann, Bettina, Bischof Ottokár Prohászka (1858–1927): Krieg, christliche Kultur und Antisemitismus in Ungarn (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 127), Paderborn u. a. 2015.

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DIE

PROTESTANTISCHE

(VOM

MISSIONSBEWEGUNG

19. JAHRHUNDERT SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT

BIS

IM

1914)

Kevin Ward

1. Die Ursprünge des protestantischen Interesses an der Mission In den ersten beiden Jahrhunderten des Protestantismus hatte die Auslandsmission keine herausragende Bedeutung für die Kirchen der Reformation – sie wurde kaum als eine von Gott gestellte Aufgabe wahrgenommen. Die Katholiken sahen in diesem Mangel an Interesse einen Beleg für die Defizite der Reformation. Die Weltmission, die von Ordensgemeinschaften und mit besonderem Nachdruck von der wiederzugelassenen Gesellschaft Jesu (Jesuiten) betrieben wurde, blieb ein gewichtiges Kennzeichen des Katholizismus. Theoretisch stimmten die Protestanten zwar zu, dass die Botschaft des Evangeliums universal und „an alle Welt“ gerichtet sei, doch galt ihre Aufmerksamkeit in erster Linie der weiteren Reform der Christenheit, der Konsolidierung ihrer Erfolge in Nordeuropa sowie – zumindest bis zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs mit dem Westfälischen Frieden von 1648 – der Aufrechterhaltung der Wachsamkeit gegenüber möglichen Anzeichen eines römisch-katholischen Wiedererstarkens. Zudem schien angesichts der erneuten Bedrohung durch das Osmanische Reich gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine umfassende Strategie für die Weltmission kaum realisierbar. Zuweilen wurde dieses Desinteresse mit einer ziemlich halbherzigen Rechtfertigung bedacht: etwa, dass der Missionsbefehl nur an die Apostel gerichtet gewesen sei, oder dass die Mission das Werk Gottes, nicht aber ein menschliches Unterfangen sei. Zudem gab es auch einige eher praktische Hindernisse innerhalb des Protestantismus. Dazu zählte an erster Stelle seine politische und ethnische Partikularität, das heißt seine Betonung der Autonomie der Nationalkirchen anstelle der weltweiten rechtlichen Geltungsansprüche der katholischen Kirche. Solche ortsgebundenen Kirchen (ob nun lutherisch, reformiert oder anglikanisch) trugen zuallererst für ihre eigenen Leute Verantwortung, bevor sie daran denken konnten, andere zu bekehren. Diese Verantwortung zeigte sich in erster Linie in der Übersetzung der Bibel in die jeweiligen Landessprachen, womit zugleich hervorgehoben wurde, dass sich das Christentum an ganz bestimmte Menschen an festumrissenen Orten zu einer gegebenen Zeit richtete.1

1 Dixon, C. Scott, Protestants. A History from Wittenberg to Pennsylvania 1517–1749, Oxford 2010, 168–173.

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Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert

Außerdem waren die protestantischen Staatskirchen einfach nicht in der Verfassung, die Staatsgrenzen zu überschreiten, in denen sie existierten – es sei denn, dass die Staaten selbst koloniale Vorstöße unternahmen und seelsorgliche Betreuung für die Untertanen im Ausland gewährleistet werden musste. Der Anspruch, dass die (in der Regel vom Staat bezahlten) protestantischen Geistlichen verheiratet sein sollten, und die Abschaffung der Orden trugen ferner zu einer Verengung der protestantischen Idee von Missionsarbeit bei. Dennoch gab es eine Reihe von Aktivitäten der etablierten Reformation, die man als missionarisch bezeichnen könnte. Ein Grund dafür war insbesondere die Sorge für die ethnischen Minderheiten in der eigenen Gesellschaft. So bemühte sich beispielsweise die Anglikanische Kirche in Wales darum, auf die Walisisch sprechende Mehrheit zuzugehen, und brachte im späten 16. Jahrhundert eine walisische Übersetzung der Bibel heraus. Dass ein ähnliches Projekt unter Irischsprachigen scheiterte, war ein wichtiger Grund für den geringen Erfolg, den die Umsetzung der Reformation in Irland hatte.2 In Schottland verwandte die etablierte (presbyterianische) Kirche viel Energie auf das Fußfassen in den gälischsprachigen Highlands.3 Die Lutherische Kirche von Schweden begann, mit dem Volk der Samen zu arbeiten.4 In all diesen Fällen lag es im Interesse der Staaten, ihren Einfluss auf Kulturen auszudehnen, die sich ihrer ethnischen Herkunft nach von der Mehrheit unterschieden. In Nordamerika widmete John Elliot (1604–1690), Pfarrer der Congregational Church in Massachusetts, sein Leben der Missionsarbeit unter den Narraganset-Indianern in der Nähe seiner Gemeinde in Roxbury. Dazu gehörte ebenfalls die Übersetzung der Bibel sowie ein Interesse daran, die Autonomie und Lebensfähigkeit der indianischen Gemeinschaften, die vom Vordringen der Zivilisation der Siedler bedroht waren, zu beschützen.5 In den anglikanischen Kolonien von Virginia und in der Karibik kümmerte sich Thomas Brays Society for the Propagation of the Gospel nicht nur um die Gemeinschaft der Siedler, sondern auch darum, dass Indianer, afrikanische Sklaven und befreite Sklaven in die Lage versetzt wurden, das Evangelium zu hören und darauf zu antworten. Die protestantische Hinwendung zur Mission fiel zusammen mit der Auflösung der engen Verbindung von Kirche und Staat, mit dem Wachstum der pietistischen Bewegung in Deutschland und mit dem Aktivwerden der evangelikalen Bewegung in der englischsprachigen Welt, die von den Wesleys und dem Methodismus ausgingen. John Wesleys Wort „Die ganze Welt ist meine Gemeinde“ fiel, als über die Befreiung des Evangeliums von den Einschränkungen der Nationalkirchen mit ih-

2 Ward, Kevin, A History of Global Anglicanism, Cambridge 2006, 24–29. 3 Macdonald, Fiona, Mission to the Gaels. Reformation and Counter-Reformation in Ulster and the Scottish Highlands 1560–1760, Edinburgh 2006. 4 Dixon, Protestants, 168. 5 Bosch, David J., Transforming Mission. Paradigm Shifts in Theology of Mission, Maryknoll 1991, 257–260.

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1. Die Ursprünge des protestantischen Interesses an der Mission

ren engen Gemeindegrenzen (soweit Wesleys Predigttätigkeit davon betroffen war) gesprochen wurde. Doch seine Worte hatten Konsequenzen für ein umfassenderes Verständnis von Mission. Noch vor Wesley war im späten 17. Jahrhundert der Pietismus entstanden – als Kritik an der Unbeweglichkeit der staatlich-kirchlichen Maschinerie. Die Pietisten hatten überhaupt nichts dagegen, sich innerhalb der bestehenden protestantischen Kirchen zu betätigen, doch ihre Vision eines erneuerten Christentums stellte heraus, dass die weltliche Macht die Entwicklung engagierter frommer christlicher Gemeinschaften weder voranbringen noch behindern konnte. Besonders die Herrnhuter Brüdergemeine, gegründet auf dem Gut von Nikolaus Graf von Zinzendorf, erwies sich als wichtiger Impuls für das protestantische Verständnis vom universalen Auftrag des Evangeliums. Die Herrnhuter waren selbst vor Verfolgung geflohen (hauptsächlich im Zusammenhang mit der habsburgisch-österreichischen Gegenreformation). Sie waren auf der Suche nach der Freiheit, ihren Glauben ohne staatliche Bevormundung praktizieren und ihre Botschaft allen Menschen verkündigen zu können, ungehindert von kirchlichen Hierarchien. Die Disziplin und Ordnung ihrer Gemeinschaft kam eher von innen, als dass sie ihnen von außen vorgegeben worden wäre. Die erste erkennbar protestantische Missionsbewegung kam als Ergebnis einer internationalen Zusammenarbeit zustande – zwischen dem dänischen König, der pietistischen Bewegung von Halle, der Herrnhuter Brüdergemeine und der anglikanischen Society for the Propagation of the Gospel. Gemeinsam sandten sie die Missionare Bartholomäus Ziegenbalg und Heinrich Plütschau in die dänische Handelskolonie Tranquebar südlich von Chennai, wo sie unter der tamilischen Bevölkerung arbeiten sollten. Ihr Einsatz wurde in Halle koordiniert, wohin sie regelmäßige Berichte über Erfolge und Schwierigkeiten ihrer missionarischen Aufgabe zu schicken hatten. Andere Missionen folgten: nach Grönland (zur Arbeit unter den eingeborenen Völkern der Inuit), in die Karibik (zu afrikanischen Sklaven), nach Südafrika (zu den indigenen Völkern der Khoi und San sowie zu den Sklavengemeinschaften aus Niederländisch-Ostindien, Südasien oder anderen Teilen Afrikas). In allen diesen Fällen ging es darum, Völker zu erreichen, um die sich die protestantischen Staatskirchen (ob lutherisch, reformiert oder anglikanisch) nicht kümmern konnten oder wollten. Der Kommunalismus der Brüdergemeine wurde für das bald erfolgende Aufblühen der protestantischen Missionsbewegung zur Inspiration – er bot eine Alternative zu den katholischen Orden, denn er schuf eine Missionsgemeinschaft, die effektiv für die Verbreitung des Evangeliums arbeiten konnte – jenseits der traditionellen Grenzen der Christenheit, jenseits des „staatstragenden“ Protestantismus in Nordeuropa. Vor allem sollte die Vorstellung überwunden werden, dass die Mission ein Anhängsel einer bestehenden europäischen christlichen Gemeinschaft sei, die zufällig nach Asien, Amerika oder Afrika verpflanzt wurde. Die evangelikale Erweckungsbewegung in Großbritannien und Amerika war stark von den früheren pietistischen Bewegungen auf dem europäischen Kontinent

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Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert

inspiriert (besonders John Wesley verdankte vieles den Böhmischen Brüdern und den Herrnhutern). Beide Bewegungen waren unzufrieden mit der organisatorischen Unbeweglichkeit der Staatskirchen. Beide gaben der Religion des Herzens den Vorzug gegenüber Auseinandersetzungen über die rechte Lehre und stellten die Bedeutung der individuellen Bekehrung in den Vordergrund. Damit war kein abgeschotteter Individualismus gemeint, sondern eine Bekehrung hinein in eine Gemeinschaft von Gläubigen, die Unterstützung und Ratschläge geben konnte, wie ein christliches Leben zu führen sei. Die Evangelikalen waren davon überzeugt, dass das Kreuz Christi alle dazu befähigte, umzukehren, zu glauben und gerettet zu werden. Diese Botschaft galt allen – und deshalb konnte sie nicht auf eine einzelne Nation, Klasse, Ethnie oder ein einzelnes Geschlecht beschränkt werden. David Bebbingtons vier Kennzeichen des evangelikalen Christentums (Bekehrung, Aktivismus, Bibelorientierung und Kreuzeszentriertheit) hatten allesamt wichtige Konsequenzen für die Mission. Insbesondere die Betonung des Aktivismus erweckte bei vielen den Wunsch, direkt an der Missionsarbeit unter den „Heiden“ mitzuwirken.6 Der Mann, der vielen als Vater der modernen Missionsbewegung gilt, der Baptist William Carey (1761–1834), sprach davon im Jahr 1792 in seinem berühmten Traktat Eine Untersuchung über die Verpflichtung der Christen, Mittel einzusetzen für die Bekehrung der Heiden.7 „Mittel“ war ein theologisch aufgeladener Begriff, den Evangelikale verwendeten, um deutlich zu machen, dass ein Christ nicht berechtigt war, nur passiv darauf zu warten, dass der Heilige Geist den Plan Gottes erfüllen würde, sondern berufen war, aktiv an der Mission unter den Heiden (worunter alle verstanden wurden, die nicht in irgendeiner Weise vom Evangelium oder der christlichen Zivilisation berührt worden waren) teilzunehmen. Lange sah man den evangelikalen Glauben als Gegner der aufklärerischen Werte des „Zeitalters der Vernunft“, doch jüngere Forschungen hoben hervor, dass das evangelikale Christentum und die Aufklärung oft Hand in Hand arbeiteten, wenn es galt, für die Autonomie des Einzelnen und die Wirkungsmacht des menschlichen Handelns einzutreten.8 In mehrfacher Hinsicht war Careys Untersuchung das spirituelle Gegenstück zu Adam Smiths großem wirtschaftswissenschaftlichen Werk Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Volkswohlstandes (An Enquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776). In beiden Werken wurde untersucht, wie die menschliche Autonomie und die Unabhängigkeit von institutionellen Hindernissen zu wünschenswerten Ergebnissen für die Menschheit insge-

6 Bebbington, David, Evangelicalism in Modern Britain, London 1989, 5–27. 7 Carey, William, Eine Untersuchung über die Verpflichtung der Christen, Mittel einzusetzen für die Bekehrung der Heiden, Bonn 1993 (Original: An Enquiry into the Obligation of Christians to Use Means for the Conversion of the Heathen [1792], Nachdruck London 1961). 8 Siehe beispielsweise Schantz, Douglas, An Introduction to German Pietism. Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe, Baltimore 2003.

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1. Die Ursprünge des protestantischen Interesses an der Mission

samt führen könnten. Die evangelikalen Pioniere der Mission waren ebenso überzeugt wie die Philosophen, dass es möglich sei, eine bessere Welt zu schaffen. Carey drückte es folgendermaßen aus: „Können wir als Menschen oder als Christen [in Ruhe] hören, daß der größte Teil unserer Mitgeschöpfe, deren Seelen so unsterblich sind wie unsere, die ebenso wie wir in der Lage sind, das Evangelium zu verherrlichen und durch ihr Predigen, Schreiben oder Tun zur Ehre des Namens unseres Erlösers und zum Nutzen seiner Kirche beitragen können, von Unwissenheit und Barbarei eingehüllt sind? Können wir [in Ruhe] hören, daß sie ohne Evangelium, ohne Regierung, ohne Gesetze und ohne Künste und Wissenschaften sind, ohne uns zu bemühen, unter ihnen die Anschauungen von [wahren] Menschen und Christen einzuführen?“9

Diese starke Identifikation von Christentum und Zivilisation wurde zu einer der großen Kontroversen, die innerhalb der Missionsbewegung selbst geführt wurden. Dabei vertraten manche Missionare die Ansicht, dass Christentum und Zivilisation Hand in Hand gingen, andere wiederum traten für eine klare Trennung ein. Das darin liegende Potenzial für die Rechtfertigung von Kolonialherrschaft und Rassendünkel ist bis heute einer der verbreitetsten Einwände gegen das Unternehmen der Mission im Ganzen – sowohl in der allgemeinen Wahrnehmung als auch in der postkolonialen Kulturanalyse.10 Im Jahr 1792 jedoch war für Carey die Verbindung von Christentum und Zivilisation grundlegend, wenn es um das Eintreten für universale Werte wie Nächstenliebe und Menschenfreundlichkeit ging. Die Missionsbewegung war aufs engste verbunden mit der abolitionistischen Bewegung gegen Sklavenhandel und Sklaverei, für die der Evangelikale William Wilberforce (1759–1833) als Politiker und „ernsthafter“ Christ so beharrlich arbeitete und die viele der evangelikalen Missionsaktivitäten motivierte. Seine missionarische Berufung führte Carey schließlich nach Indien, das im Ruf stand, dringend des Evangeliums und der Reformen zu bedürfen. Die Britische Ostindien-Kompanie galt (trotz der Tatsache, dass einige der frühen evangelikalen Missionare wie Henry Martyn, Claudius Buchanan und Daniel Corrie bei ihr angestellt waren) als wesentlicher Stolperstein bei der Reform der indischen Gesellschaft. Ihr früherer Gouverneur Warren Hastings hatte sich gegen missionarische Aktivitäten ausgesprochen mit der Begründung, es sei „der Sicherheit des Empire abträglich, die im Lande verwurzelten Religionen mit Geringschätzung zu behandeln“. Wilberforce widersprach. In einer Rede im Zusammenhang mit der Erneuerung der Satzung der Kompanie im Jahr 1813 donnerte er gegen „die Übel von Hindustan“, die „die gesamte Masse der Bevölkerung durchdringen“. Das Kasten-

9 Carey, Eine Untersuchung, 69f. 10 Zur Kritik dieser vgl. Stanley, Brian (Hrsg.), Missions, Nationalism and the End of Empire, Grand Rapids 2003.

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Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert

system sei „hoffnungsloses und unheilbares Vasallentum“, ebenso die Vielehe, die Sati (der Selbstmord von Witwen am Grabe ihrer Ehemänner) und die „obszönen und blutigen Riten ihrer götzendienerischen Zeremonien mit all ihren unsagbaren Abscheulichkeiten“. All das, so konstatierte Wilberforce, liefe auf eine Religion und Kultur hinaus, die „bösartig, lasterhaft und grausam“ sei.11 Lässt man die Frage einmal beiseite, ob das eine faire oder umsichtige Beurteilung der indischen Gesellschaft war, dann sprachen hier evangelikales Christentum und Aufklärung nahezu mit einer Stimme. Die Kultur der Aufklärung war wichtig bei der Schaffung einer „Zivilgesellschaft“12, wie der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas sie ins Auge fasste, als Arena für die menschliche Debatte, Interaktion und Zusammenarbeit, die nicht direkt von staatlichen Institutionen (seien sie bürgerlich oder kirchlich) kontrolliert werde. Der Aufbau von Missionsgesellschaften durch engagierte Freiwillige kann durchaus als Teil dieser Entwicklung angesehen werden. Careys Aufruf führte zur Gründung der Baptist Missionary Society im Jahr 1793. Ihr folgten 1795 die überkonfessionelle London Missionary Society (LMS), 1796 die Glasgow Missionary Society und die Edinburgh Missionary Society und 1799 die (anglikanische) Church Missionary Society (CMS). Ihr Grundgedanke bestand darin, dass motivierte Individuen das tun sollten, was ihre Kirchen als Institutionen nicht zustande brachten. Es gab allerdings auch Widerstand. Im Jahr 1796 lehnte die Generalversammlung der Church of Scotland die Unterstützung der Missionsarbeit ab, einerseits wegen ihrer Furcht vor enthusiastischen subversiven Gruppen, die unkontrollierbar waren und denen es an Disziplin mangelte, andererseits aufgrund der Überzeugung, die aus der Arbeit mit augenscheinlich „semi-paganen“ gälischen Gemeinschaften gewonnen wurde: dass „Zivilisation“ eine notwendige Voraussetzung für die rationale Aneignung des Evangeliums sei. Bis in die 1830er Jahre klangen diese Befürchtungen jedoch ab, und eine Reihe von Kirchen mit zentralisierten Strukturen wie etwa die schottischen Presbyterianer und die englischen Methodisten waren bestrebt, innerhalb ihrer Institutionen Ausschüsse für die Auslandsmission zu schaffen, um Missionsaktivitäten zu fördern und zu betreuen.13 Dennoch blieb das Ideal der auf Freiwilligenarbeit beruhenden Missionsgesellschaft das vorherrschende Muster protestantischer Missionsunternehmungen in Großbritannien und ebenso in Deutschland. Hier brachte es die Vielzahl und Bandbreite der Landeskirchen mit sich, dass die Mission oft sinnvoller in einem größeren protestantischen Rahmen durchgeführt werden konnte. So kam es häufiger zur Zusammenarbeit von Lutheranern und Reformierten, ab 1815 mit

11 Furness, Robin, William Wilberforce, London, 1974, 326–328. 12 Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962], Neuaufl. Frankfurt am Main 1990. 13 Walls, Andrew, Missions, in: Cameron, Nigel (Hrsg.), Dictionary of Scottish Church History and Theology, Edinburgh 1993, 567–594.

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2. Die Rekrutierung und Ausbildung der Missionare

der Basler Mission (mit stark württembergischem Anteil), ab 1824 mit der Berliner Missionsgesellschaft, ab 1828 mit der Bremen Mission (offiziell: Norddeutsche Mission) und ab 1836 mit der Rheinischen Mission (Barmen).14

2. Die Rekrutierung und Ausbildung der Missionare Die personelle Verstärkung der Missionen kam überwiegend aus dem Handwerk: ausgebildete Mechaniker, Gewerbetreibende aus der „aufstrebenden“ Arbeiterklasse. „War William Carey nicht einst ein Schuhmacher?“ fragte ein General in Kalkutta. „Nein, Sir, nur ein Schuster“, antwortete Carey.15 Die Leiter der Missionsverwaltungen besaßen meist einen höheren sozialen Status – sie kamen aus den Reihen der Führungskräfte in Kirche oder Staat. Thomas Haweis von der LMS sprach sich dafür aus, die erste Missionsstation in Tahiti einzurichten, da deren zivilisatorisches Niveau als gering galt, weshalb „gottgefällige Mechaniker“, „einfache Männer, erfüllt vom Glauben und vom Heiligen Geist“, dort trotz ihres Mangels an Bildung etwas bewirken könnten.16 Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. In Tahiti funktionierte diese Methode nicht, und umso unwahrscheinlicher war es, dass sie sich in hochentwickelten Kulturen wie Indien oder China als wirkungsvoll erweisen könnte. Die LMS traf Vorbereitungen, unter der Leitung von David Bogue bei Gosport in Hampshire ein Missionsseminar zu eröffnen. Ein Kurs dauerte drei Jahre. Dazu gehörten ein umfassendes akademisches Curriculum der protestantischen Lehre (konziliant ausgerichtet, ohne Thematisierung von Lehrstreitigkeiten über die Prädestination und den freien Willen), Schriftstudium, „Jüdische Altertümer“ und „Heilige Geografie“, Ethik, englische Prosa und Philosophie. Der Kandidat erhielt eine Einführung in Latein, Hebräisch und Griechisch sowie in die französische Sprache. Besondere Bedeutung wurde dem Erlernen der Sprache(n) der Eingeborenen am geplanten Einsatzort des Kandidaten beigemessen. Das blieb üblicherweise der Zeit nach dem Eintreffen auf dem Missionsfeld vorbehalten, doch grundsätzlich galten Sprachkenntnisse für sich genommen als gute Vorbereitung, um eine Sprache fließend sprechend zu lernen. Bogue war bewusst, dass die Missionare vor grundlegenden Übersetzungsproblemen stehen würden, wenn sie das Evangelium in einer fremden Kultur verkündigen sollten, und hielt Vorlesungen über die

14 Warneck, Gustav, Evangelische Missionslehre, 5 Bde., Gotha 1887–1905. 15 Zit. n. Bach, Thomas J., Pioneer Missionary for Christ and His Church, Wheaton 1955, http://www.wholesomewords.org/missions/bcarey18.html. 16 Daily, Christopher A., Robert Morrison and the Protestant Plan for China, Hongkong 2013, 23–32.

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Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert

Frage: „Wenn ein Missionar findet, dass Heiden Worte wie Gott oder Herr gebrauchen, um ihre falschen religiösen Vorstellungen auszudrücken, sollte er dann dieselben Worte verwenden, um den wahren Gott zu bezeichnen?“ Er gab auch Ratschläge zur Frage: „Was soll ein Missionar tun, wenn die Sprache der Heiden über kein passendes Wort verfügt, um seine Vorstellungen auszudrücken?“ Unter solchen Umständen war eine Ausbildung in Apologetik, in rationaler Argumentation und in der Debatte mit Nichtgläubigen für die Praxis unverzichtbar. Die Ausbildung im Seminar war strengen Regeln unterworfen, und der Kandidat war unter ständiger Beobachtung, ob er wirklich über die Eigenschaften verfügte, die ihn auf lange Sicht aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem erfolgreichen Missionar machen würden, denn schließlich ging es dabei um eine lebenslange Verpflichtung. Zu den nötigen Eigenschaften zählten „ein gutes Naturell, Scharfsinn, Aufgewecktheit, schnelle Auffassungsgabe“ sowie „Selbstsicherheit und Unerschrockenheit, Gewandtheit im Umgang mit Menschen und gewinnendes Auftreten“. Auch „eine gute körperliche Verfassung“ sei wesentlich – und die Fähigkeit, „Schwierigkeiten durchzustehen“. Aber vor allem gebe es spirituelle Grundeinstellungen, die gefördert werden müssten: Bescheidenheit, Geduld, Hingabe, „Abgestorbensein für die Welt“ und „ein Geist des Märtyrertums“. Das Märtyrertum wurde oft erwähnt, denn die Missionare wussten, dass der Tod durch Krankheit – eher als durch Anfeindungen vor Ort – ein recht gewisser Ausgang der missionarischen Berufung sein konnte.17 Die Engländerin Anna Hinderer war verheiratet mit dem deutschen Missionar David Hinderer, der als Pionier mit der CMS in Ibadan bei den Yoruba in Nigeria arbeitete. Schon als junges Mädchen fühlte sie eine starke Berufung, Missionarin zu werden: „Ich sehnte mich danach, etwas zu tun. Ich hatte das starke Verlangen, Missionarin zu werden, mich selbst hinzugeben für irgendein heiliges Werk, und ich hatte den festen Glauben, dass mir eine solche Bestimmung zugedacht war. Ich denke, das kam aus dem Wunsch, Märtyrer zu sein, aber damals wollte ich einfach etwas tun.“18

Die Einschätzung der Eignung von Kandidaten für die Mission und die Schaffung eines Gemeinschaftslebens, das ansatzweise auch in der Missionsstation weitergeführt werden konnte, in der ein Missionar letztlich eingesetzt wurde, waren für die Basler Mission besonders wichtig. Der alte pietistische Kommunalismus in beinahe militärischer Ausgestaltung war in der Anfangszeit das vorherrschende Modell. Den Seminaristen wurde aufgetragen, ein Tagebuch zu führen, das auch über moralische Fehltritte berichten und einer Inspektion zugänglich sein sollte. In der

17 Daily, Robert Morrison, 37–82, bes. 49–58. 18 Olabimtan, Kehinde, Anna Hinderer (1827–1870), in: Dictionary of African Christian Biography, http://www.dacb.org/stories/nigeria/hinderer_anna.html (aufgerufen am 19.4.2016).

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3. Die Missionsstation: Familie, Geschlecht, Frauen, Kinder

Gemeinschaft wurde das Bekennen von Sünden praktiziert, und eine Aufsichtsperson führte Buch über Verstöße der Studenten gegen die Hausordnung. Die Studenten wurden zudem zu „gegenseitiger Beobachtung“ angehalten, und engere Freundschaften sollten nicht geschlossen werden, weil sie als potenziell schädlich für das Gemeinschaftsleben galten.19 Die anglikanische CMS richtete ihr Ausbildungszentrum in Islington ein.20 Sowohl in Basel als auch in Islington erhielten einige der ersten Leiter von Missionskirchen, die aus den bekehrten Völkern selbst stammten, die Gelegenheit zum Studium. Der yorubastämmige Bischof Samuel Ajayi Crowther studierte in den 1850er Jahren in Islington. Pastor David Asante aus Akuropon an der Goldküste (Ghana) wurde von 1859–1862 in Basel ausgebildet und zum vollwertigen Basler Missionar, der nach Afrika zurückkehrte, um in seinem eigenen Volk der Aka zu wirken. Obwohl in den Ausbildungseinrichtungen höchster Wert auf das Einüben von solidarischem Verhalten gelegt wurde, zog die Missionsarbeit auch Abenteurer an, die sich unempfänglich für die geforderte Disziplin zeigten. David Livingstone21 ist vielleicht der bekannteste, aber zu ihnen gehörten auch Leute wie Karl Gützlaff22, der seine individuellen missionarischen Unternehmungen mit dem Schmuggel von Opium finanzierte, oder Charles Stokes, der von der CMS entlassen wurde, als er eine ostafrikanische Frau heiratete und sich dem Waffenschmuggel widmete. Er wurde im Jahr 1897 von den Belgiern im Kongo-Freistaat gehängt.23

3. Die Missionsstation: Familie, Geschlecht, Frauen, Kinder24 Einige der frühen Verfechter der evangelikalen Mission empfahlen den Zölibat als geeigneten Lebensstil für die jungen Männer, die sie für den Dienst an den Heiden rekrutiert hatten. Die LMS hingegen trat früh dafür ein, dass ihre Missionare sich

19 Miller, Jon, Missionary Zeal and Institutional Control. Organizational Contradictions in the Basel Mission on the Gold Coast 1828–1917, Grand Rapids 2003, 110. 20 Ward, Kevin/Stanley, Brian (Hrsg.), The Church Mission Society and World Christianity 1799–1999, Grand Rapids 2000, 19–25. 21 Ross, Andrew, David Livingstone. Mission and Empire, London 2006. 22 Lutz, Jessie Gregory, Opening China. Karl F. A. Gutzlaff and Sino-Western Relations, 1827–1852, Grand Rapids 2008. 23 Harman, Nicholas, Bwana Stokesi and his African Conquests, London 1987. 24 Manktelow, Emily, Missionary Families. Race, Gender and Generation on the Spiritual Frontier, Manchester 2013, untersucht diese Fragen eingehend, insbesondere mit Blick auf die LMS.

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unter den von ihnen Bekehrten einen Ehepartner erwählten. So heirateten in Südafrika die Missionarspioniere Johannes van der Kemp und James Reid ortsansässige Frauen. Doch diese Möglichkeit geriet zunehmend in Misskredit, stattdessen sollte innerhalb der weiteren Missionsfamilie geheiratet werden. Ludwig Krapf inserierte seinen Heiratswunsch in pietistischen Kreisen Württembergs. Rosine Dietrich antwortete und reiste nach Kairo, um Krapf zu treffen. Dort stimmte sie der Heirat zu. In den zwei kurzen Jahren ihres gemeinsamen Lebens brachte sie zwei Kinder zur Welt, die beide kurz nach der Geburt starben. Rosine selbst starb 1844 an Malaria und wurde in Mombasa beerdigt, wo Krapf mit dem Aufbau einer neuen Missionsstation beschäftigt war.25 Mary Moffatt, die Tochter von Robert und Mary Moffatt, den Gründern der LMS-Missionsstation in Kuruman in Südafrika, wurde die Ehefrau von David Livingstone, dem Inbegriff eines Missionars des viktorianischen Protestantismus. Anders als er genoss Mary öffentliches Ansehen keineswegs, sie ertrug die langen Abwesenheiten ihres Mannes schlecht und wurde chronisch depressiv.26 Während Anna Hinderer glaubte, dass für eine Frau das Missionarsleben eine Berufung zum Märtyrertum sei, erlitt Mary Livingstone ein einsames und manchmal rauschhaftes Martyrium. Gegen Ende des Jahrhunderts war es Josephine Tucker, die Frau des Bischofs von Uganda, die sich, vielleicht aufgrund angegriffener Gesundheit, nicht in der Lage sah, ihren Mann zu irgendeiner Zeit während seines 18 Jahre andauernden Episkopats nach Ostafrika zu begleiten. Das entsprach kaum dem Ideal der Missionarsfamilie, dem örtliche christliche Gemeinschaften nacheifern sollten. Doch es entsprach einer Art des Märtyrertums.27 Ehefrauen wurden nur selten als eigenständige Missionarinnen angesehen. Ihre Rolle war der aktiven Rolle ihrer Ehemänner untergeordnet. Die Praxis der CMS, Ehefrauen mit einem „kleinen m“ hinter dem Namen aufzuführen, im Kontrast zum Status ihrer Männer als „richtiger“ Missionare, führte zu wachsender Unzufriedenheit. Doch erst im Jahr 1921 wurde Missionarsgattinnen und alleinstehenden Frauen der gleiche Status innerhalb der Gemeinschaft der Missionare zuerkannt.28 Trotz dieses Statusmangels galt ihre Hausfrauenrolle als ausschlaggebend für den Erfolg des Projekts der Mission. „Ausnahmslos alle Missionare betrachteten die Übermittlung ihrer eigenen kulturellen Normen, die sie für „Zivilisation“ hielten, als wesentlichen Teil ihres Vorhabens. Zu diesen Verhaltensstandards gehörten in ihren Augen Dinge wie die Architektur der Wohnhäuser, die Struktur der Familie (natürlich einschließlich der Monogamie), Kleidung, Aspekte der west-

25 Krapf, Johann Ludwig, Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837–1855 (Erstausgabe 1858), Stuttgart 1964, 1. Teil, 108, 210–212. 26 Davidson, Julie, Looking for Mrs Livingstone, Edinburgh 2012. 27 Tucker, Alfred, Eighteen Years in Uganda and East Africa, 2 Bde., London 1908. 28 Murray, Jocelyn, Proclaim the Good News. A Short History of the CMS, London 1985.

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3. Die Missionsstation: Familie, Geschlecht, Frauen, Kinder lichen Bildung und Medizin, Hygienepraxis, ‚Zurückhaltung’ im Benehmen und Auftreten (die sich oft als Unbehagen äußerte an indigenen Musik- und Tanzdarbietungen oder im Blick auf die Diskussion sexueller und anderer grundlegender Praktiken) und der Respekt für den christlichen Gott, seine Vertreter und die Bekehrten.“29

In dieser Hinsicht standen die Ehefrauen der Missionare vor zwei sich zuweilen widersprechenden Aufgaben. Man erwartete von ihnen, ihr Heim zu öffnen, damit es als Muster christlicher Häuslichkeit dienen konnte, als Raum, in dem weibliche Bekehrte lernen konnten, ihr eigenes christliches Familienleben zu gestalten (durch Schneidern, Nähen und Stricken, Kochen, Kinderpflege etc.). Das Heim wurde zum „Schauplatz“ für die Öffentlichkeit, sofern die Missionarsfrauen danach strebten, „die indigenen Räume und Körper umzugestalten“. Karina Skeie30 analysiert in ihrer Untersuchung über norwegische Missionare in Madagaskar die bauliche Gestaltung der Häuser der Missionare und was diese über Geschlechterbeziehungen, Kindererziehung, Klassenstrukturen und die Einstellungen zur Moderne aussagt. Das Missionarshaus, entworfen nach modernen europäischen Vorschriften (im Gegensatz zu traditionellen norwegischen und madagassischen Formen), bot separate Räume für unterschiedliche Tätigkeiten und trennte die Familie von den Dienstboten (und den Tieren). Es war ein privater Bereich, der abgegrenzt war von den Aktivitäten der Bekehrungstätigkeit „draußen“, die das Herzstück des Missionsprojekts ausmachten, vor allem, weil diese Aktivitäten sich zunehmend auf das Kirchengebäude oder den Klassenraum konzentrierten. Das Haus war die Welt der Frau, das „Drinnen“; hier hing sie Bilder der norwegischen Vorfahren auf, arrangierte Möbel, die im norwegischen Stil entworfen, aber aus lokalen Materialien von örtlichen Handwerkern gefertigt worden waren, und sie entwickelte eine Form der Ernährung, indem sie norwegische Rezepte mit madagassischem Obst und Gemüse zubereitete. Das Missionarshaus war Vorbild für Ordnung, Reinlichkeit und Disziplin, was die männlichen Missionare durch ihre Arbeit draußen ihren Bekehrten zu vermitteln suchten. Zugleich aber war das Missionarshaus ein Ort, der vor heidnischer Kontamination geschützt sein sollte, da dadurch die Kinder der Missionare negativ beeinflusst werden konnten. Kinder galten als besonders gefährdet. Sie wuchsen mit der Landessprache auf, und die einheimischen Kinder (die heidnischen ebenso wie die bekehrten) waren ihre Spielkameraden. Ihre Fähigkeit, sich in beiden Kulturen zu Hause zu fühlen, war (auch wenn sie sich zugleich in beiden Kulturen als randständig erleben konnten) ein potenzieller Aktivposten für die Mission, falls die Kinder später einmal selbst eine missionarische Berufung verspüren sollten. Andererseits bestand stets die Gefahr, dass die Missionarskinder selbst heidnisch „infi-

29 Siehe die Einführung von John Mackenzie in: Manktelow, Missionary families. 30 Skeie, Karina Hestad, Building God’s Kingdom. Norwegian Missionaries in Highland Madagascar 1866–1903, Leiden 2013.

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ziert“ würden. Eine Antwort auf dieses Problem war die Gründung von exklusiven Missionsschulen oder von Schulen ausschließlich für Europäer, eine andere war es, die Kinder zurück auf Schulen in ihrem Heimatland zu schicken, fern von potenzieller Kontaminierung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts betrachteten die Missionsbehörden sexuelle Kontakte zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen zunehmend als inakzeptabel. Die Aufregung über die geplante Hochzeit eines norwegischen Missionars mit einer madagassischen Frau, Sigrid Rainivelo, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Problematisierung solcher Verbindungen – auch wenn Sigrid Rainivelo in einer Missionarsfamilie aufgewachsen war, Norwegisch sprach und in Norwegen gelebt hatte. Die Hautfarbe triumphierte über die christliche Identität. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts öffneten sich die Missionen dann auch für alleinstehende Frauen, die eigenständige Missionarinnen werden wollten. Oft brachten sie berufliche Kompetenzen (beispielsweise im Unterrichten oder in der Medizin) mit, die in ihren eigenen Gesellschaften in Europa oder Amerika nicht ausreichend anerkannt wurden, die sie aber im Missionsfeld umfassender einbringen und dafür an Ansehen gewinnen konnten. Es gab keine allgemeingültige Unterscheidung zwischen der alleinstehenden Missionarin und der Missionarsehefrau. Die protestantischen Missionen richteten – mit wenigen begrenzten Ausnahmen bei Anglikanern und Lutheranern – keine besonderen Missionsorden inklusive Zölibat für Frauen ein. Einige von ihnen entschieden sich dafür, ledig zu bleiben, um ihre berufliche Qualifikation besser einsetzen zu können. Doch nur relativ wenige erlangten den Ruhm und das Ansehen ihrer männlichen Pendants. Eine Ausnahme war Mary Slessor (1848–1915), Missionarin der United Presbyterian Church in Calabar (im heutigen Nigeria). Sie wurde zu einer Nationalheldin in ihrem Heimatland Schottland. Ihre Arbeit mit verlassenen Kindern und verstoßenen Frauen in Okoyong war wirklich bemerkenswert. Andrew Ross drückte es so aus: „Ihr Leben war beispielhaft für die christliche Inkulturation; bedauerlicherweise wurde es trivialisiert durch die romantische Haltung, mit der man sie in Großbritannien zur ‚weißen Königin von Okoyong‘ stilisierte.“31 Vielleicht ebenso sehr verehrt, aber weniger idealisiert wurde Amy Carmichael (1867–1951), eine irische Missionarin, die in Tamilnadu in Südindien die Dohnavur-Gemeinschaft gegründet hatte. Wie Slessor setzte sie sich stark für die Verbesserung der Lage der Frauen und für die Betreuung von Waisenkindern ein. Sie besaß auch einen Sinn für Mystik, den sie in Gedichten und meditativen Werken über das Gebet zum Ausdruck brachte.32 Viele dieser Frauen aber heirateten. Ihr höherer sozialer Status und ihre pädagogischen Qualifikationen waren für viele männliche Missionare attraktiv: Sie

31 Ross, Andrew, Mary Slessor, in: Anderson, Gerald (Hrsg.), Biographical Dictionary of Christian Missions, New York 1998, 623f. 32 Murray, Jocelyn, Amy Carmichael, in: Anderson (Hrsg.), Biographical Dictionary, 116.

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4. Der missionarische Auftrag: Die Übersetzung der Bibel und die kulturelle Begegnung

weckten soziale Aufstiegswünsche oder das Verlangen nach einem intellektuellen Gegenüber. Auf der anderen Seite jedoch konnte eine Eheschließung die beruflichen Chancen für qualifizierte Frauen verringern, denn sie begrenzte sie auf die häusliche Sphäre, in der ihre besonderen Talente sich nicht entfalten konnten. Das Leben von Catherine Mulgrave-Zimmermann, Pionierin der Mädchenbildung bei der Basler Mission in Westafrika, zeigt uns eine Frau, die sehr wohl in der Lage war, die Stigmatisierung durch Hautfarbe und Geschlecht hinter sich zu lassen. Die ehemalige afrikanische Sklavin, die in einer weißen Familie der Brüdergemeine in Jamaika aufwuchs, kehrte nach Westafrika zurück und wurde zu einer Pädagogin von unschätzbarem Wert. Die Basler Mission konnte es sich nicht leisten, sie zu verlieren. Sie heiratete zweimal Basler Missionare und triumphierte über die Vorurteile, die damit verbunden waren. Sie erreichte eine herausragende berufliche Position und zog zugleich eine mustergültige Missionarsfamilie heran (einige ihrer Kinder wurden selbst wieder Basler Missionare). Sie war „eine Frau, die den ihr gemäßen Platz im Leben suchte, aber nicht auf der Basis von Herkunft oder Hautfarbe, sondern entsprechend ihrem Verständnis von Berufung. […] Dazu gehörte für sie auch, als Herrin der häuslichen Sphäre einen großen Missionarshaushalt zu führen und darüber hinaus in der Evangelisierung anderer Frauen tätig zu sein und auf diese Weise beim Aufbau einer Gemeinschaft christlicher Frauen zu helfen.“33 Tim Couzens’ brillanter Bericht vom Arsen-Mord an Pastor Edouard Jacottet, dem Leiter der Niederlassung Morija der Société des missions évangéliques de Paris im heutigen Lesotho im Jahr 1920, zeigt anschaulich, wie die häuslichen Ideale des Missionarslebens möglicherweise zur Verschleierung akuter Spannungen beitragen konnten: innerhalb der Familie, zwischen den Missionarsfamilien in einer Missionsstation und zwischen der Mission und der Gesellschaft, in der sie arbeitete.34

4. Der missionarische Auftrag: Die Übersetzung der Bibel und die kulturelle Begegnung35 Das Erlernen der Landessprachen stand im Zentrum des Unternehmens der Mission, für die Protestanten ebenso sehr wie zuvor schon für die Katholiken. Die

33 Sill, Ulrike, Encounters in Quest of Christian Womanhood. The Basel Mission in Preand Early Colonial Ghana, Leiden 2010, 132. 34 Couzens, Tim, Murder at Morija. Faith, Mystery, and Tragedy on an African Mission, London 2003. 35 Eine eingehende Diskussion der interkulturellen Begegnung findet sich bei Schmid, Anna/Museum der Kulturen Basel (Hrsg.), Mission possible? Die Sammlung der Basler Mission – Spiegel kultureller Begegnungen, Basel 2015.

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„Verkündigung des Wortes“ musste in einer Sprache erfolgen, die verstanden und aufgenommen werden konnte, und darum musste das Sprachstudium Priorität haben. Die Missionare erhielten keine vollständige Zulassung, wenn sie nicht eine Reihe von Sprachprüfungen bestanden hatten. Oft wurde ihnen keine Heiratserlaubnis gegeben, bevor sie dies erreicht hatten. Zum Erlernen der Sprache gehörte üblicherweise eine Periode kontinuierlicher intensiver Zusammenkünfte mit einem muttersprachlichen Lehrer. Neben der Dringlichkeit des Spracherwerbs galt alle Aufmerksamkeit der Übersetzung der Bibel – für Protestanten war sie von grundlegender Bedeutung. Der Vorrang des Lernens biblischer und alter Sprachen im Ausbildungsplan zielte in erster Linie darauf, die Aufgabe des Übersetzens der Bibel zu erleichtern. In diesen Zusammenhang gehört die Gründung der British and Foreign Bible Society im Jahr 1804, deren Ziel es war, die Übertragung, den Druck und die Verbreitung der Heiligen Schrift zu einem erschwinglichen Preis zu fördern. Dabei versuchte die Bibelgesellschaft, konfessionelle Streitigkeiten zu vermeiden, indem sie keine Anmerkungen zum Text zuließ, weil man befürchtete, dass sie als Vehikel zur Verbreitung kontroverser Lehrmeinungen dienten. Damit war die Gesellschaft im Großen und Ganzen erfolgreich, auch wenn die Entscheidung, die Aufnahme der Apokryphen zu ermöglichen, wo es gewünscht wurde, umstritten war. Zahlreiche weitere nationale Bibelgesellschaften entstanden, insbesondere die American Bible Society im Jahr 1816. Die reale Übersetzungsarbeit geschah weitgehend im Feld der Mission. Die Bibelgesellschaften trugen entscheidend dazu bei, die Mittel für die Veröffentlichung zu beschaffen, und wurden so für die Missionare in der Erfüllung ihrer Aufgabe unentbehrlich.36 William Carey und seine Kollegen in Serampore stürzten sich in die Arbeit, die Bibel ins Hindi, ins Bengalische und in viele andere indische Sprachen zu übersetzen – eine Aufgabe, die auch das Eintauchen in klassische Sprachen wie Sanskrit, Farsi und Arabisch erforderte. Bis 1833 hatte die Druckerei in Serampore bereits biblische und andere religiöse Schriften in 44 Sprachen veröffentlicht. Das Interesse galt nicht ausschließlich den Übersetzungen der Bibel, sondern auch den klassischen religiösen Texten Indiens – zu den Erzeugnissen gehörte auch eine Übersetzung des Ramayana ins Englische. Ergänzende Publikationen wie Wörterbücher und Grammatiken erlebten ebenfalls eine Blüte, und es entstand ein College, an dem Inder (Hindus, Muslime, aber auch zum Christentum Bekehrte) eine Ausbildung erhalten konnten. Das erzeugte eine intellektuelle und philosophische Energie, die zu einer Renaissance des Interesses am Studium des Hinduismus und an der bengalischen Kultur führte. Die Missionare beteiligten sich an fruchtbaren

36 Canton, William, A History of the British and Foreign Bible Society, 5 Bde., London 1904– 1910; Batalden, Stephen u. a. (Hrsg.), Sowing the Seed. The Cultural Impact of the British and Foreign Bible Society, Sheffield 2006.

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4. Der missionarische Auftrag: Die Übersetzung der Bibel und die kulturelle Begegnung

Debatten mit indischen Intellektuellen wie Ram Mohan Roy, dem Gründer der hinduistischen Reformbewegung Brahmo Samaj.37 Sie sorgten auch für Diskussionen mit muslimischen Denkern in Delhi und Lahore; in Südindien wurden sie für ihren Beitrag zur Wiederbelebung der klassischen tamilischen Kultur verehrt. Die theologischen Debatten zwischen den verschiedenen religiösen Traditionen verliefen manchmal aggressiv. Insbesondere wenn es um den gelebten Alltag der Religionen ging (anstatt um ihre klassische Ausprägung), kam es vor, dass Missionare sich abschätzig über „Götzendienst“ und „Aberglauben“ äußerten und sich unduldsam zeigten, was Neubekehrten oft wie eine unangemessene Feindseligkeit gegenüber den kulturellen und sozialen Normen der Familie, Kaste oder Nachbarschaft vorkam.38 Andererseits machte die Würde, die das Christentum den Angehörigen niedriger Kasten und Kastenlosen zuerkannte, den christlichen Glauben für solche Minderheiten attraktiv. In schriftlosen Gesellschaften waren die Bibelübersetzungen oft die erste (und fast die einzige) Literatur in der Volkssprache. Der Gebrauch der lateinischen Schrift war eine Alternative zu den dominanten Schriften der Umwelt und ein Mittel, sich gegen die Eingliederung in die herrschenden Kulturen und Religionen zur Wehr zu setzen. In Ostafrika stellte die Swahili-Übersetzung der Bibel in lateinischer Schrift eine Herausforderung an die kulturelle Hegemonie des Islam und der arabischen Schrift dar. In anderen Teilen Afrikas und auf den Pazifikinseln entstanden so erstmals neue Schriftkulturen, wodurch die traditionellen kulturellen Normen, philosophischen Vorstellungen und die Ethik mit biblischen Tropen durchtränkt wurden. Die reichen klassischen Kulturen der islamischen Welt, Indiens und Chinas mochten die Herausforderung durch das Christentum ignorieren oder das zumindest versuchen; die vorschriftlichen Gesellschaften indessen konnten sich der radikalen Transformation durch die Begegnung mit der christlichen Mission kaum erwehren. Das konnte durchaus nach einer „Kolonisierung des Bewusstseins“ aussehen (wie die Comaroffs es ausdrückten)39, doch es bot auch die Mittel, sich dem Verschlungenwerden von den Kräften der Globalisierung aktiv entgegenzustellen, wie Peel überzeugend dargelegt hat.40 Die Übersetzung des Gottesnamens und theologischer Begriffe wie Gnade, Sünde, Vergebung, Erlösung hatte enorme Auswirkungen sowohl auf das Verständnis der christlichen Botschaft als auch auf die (Neu-)Interpretation traditioneller christlicher

37 Chatterjee, Sunil Kumar, William Carey and Serampore, Kalkutta 1984; Smith, A. Christopher, William Carey, in: Anderson, Gerald u. a. (Hrsg.), Mission Legacies, New Haven 1994, 245–254; Shenk, Wilbert, Claudius Buchanan, in: Anderson u. a. (Hrsg.), Mission Legacies, 255–269. 38 Cracknell, Kenneth, Justice, Courtesy and Love. Theologians and Missionaries Encountering World Religions 1846–1914, London 1995. 39 Comaroff, Jean und John, Of Revelation and Revolution. Christianity, Colonialism and Consciousness in South Africa, Chicago 1995. 40 Peel, John D. Y., Religious Encounter and the Making of the Yoruba, Bloomington 2000.

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Vorstellungen. Nirgendwo wurde dies stärker zum Gegenstand von Auseinandersetzungen als in China. Der „Ritenstreit“ (der sich nicht nur um die Frage eines angemessenen Ausdrucks für den Gott der Bibel drehte, sondern auch um die Legitimität der Ahnenverehrung) hatte sich bereits als Problem für die katholischen Missionen im 17. Jahrhundert erwiesen. Er wurde kontinuierlich weitergeführt – bis ins 19. Jahrhundert hinein, mit den Debatten der protestantischen Missionare. Doch abgesehen von der dem Thema innewohnenden Komplexität, die eine Auseinandersetzung mit den philosophisch tiefgründigen und vielfältigen Interpretationen von konfuzianistischen, daoistischen und buddhistischen Vorstellungen verlangte, wollten sich die Protestanten dabei auch von den Katholiken absetzen. Darin zumindest waren sie erfolgreich: „Katholiken“ und „Christen“ (d. h. Protestanten) wurden von den folgenden chinesischen Regierungen als unterschiedliche „Religionen“ anerkannt.41 Und nicht nur in China, sondern auch in Uganda brachte das Vermächtnis der protestantisch-katholischen Rivalität, die gleich zu Beginn der missionarischen Unternehmungen ins Land kam und in einem Religionskrieg in den 1880er Jahren kulminierte, zwei äußerst erfolgreiche, jedoch sich gegenseitig befehdende Versionen des Christentums hervor.42 Die gegenseitige Abschottung von Katholiken und Protestanten, die überall in der Welt üblich war, führte zu Problemen, als die beiden Konfessionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich doch zusammenarbeiten wollten, um moderne und der Gegenwartssprache nahe Versionen der Bibel, basierend auf ökumenischem Konsens, zu entwickeln. Wessen „Begriffe“ würden triumphieren? Selbst wenn die Übersetzer zu einvernehmlichen Lösungen kämen, würden die örtlichen Gemeinden, für die bestimmte Sprech- und Denkweisen ihres Glaubens zur festen „Tradition“ geworden waren, sich einverstanden zeigen, die neuen Versionen zu gebrauchen? Das nach der Bibel am meisten übersetzte Stück Literatur war für das protestantisch-missionarische Christentum John Bunyans The Pilgrim’s Progress.43 Die höchst lesbare und fesselnde Erzählung enthielt grundlegende protestantische Wahrheiten über Rechtfertigung, Sünde und Umkehr und war aufgrund ihres Mangels an historischer Bestimmtheit vielseitig anwendbar und anpassungsfähig. Die Stiche, die in vielen Buchausgaben enthalten waren, zeigten den Pilger als Afrikaner oder Chinesen in traditioneller Kleidung oder als Junge in Schuluniform. Auch die Hymnologie erwies sich als außerordentlich anpassungsfähig an den örtlichen Bedarf. Die Verbreitung der Tonika-Do-Methode führte in bedeutsamer Weise zur Anwendung europäischer musikalischer Strukturen auf Melodien von Kirchenliedern, welche wiederum an indigene musikalische Modi angepasst wer-

41 Ebor, Irene, The Jewish Bishop and the Chinese Bible, Leiden 1999; Latourette, Kenneth, A History of Christian Missions in China, London 1929. 42 Taylor, John V., The Growth of the Church in Buganda, London 1958. 43 Hofmeyr, Isabel, The Portable Bunyan. A Transnational History of The Pilgrim’s Progress, Princeton 2004.

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den konnten. Die Kirchenlieder von Gerhardt, Watts und Wesley, von Moody und Sankey sowie von der amerikanischen Erweckungsbewegung konnten sich allesamt tief in lokalen kirchlichen Traditionen verwurzeln. Das Übersetzen der Bibel selbst brachte oft einen etwas unidiomatischen Sprachstil mit sich, beispielsweise eine übermäßig wörtliche Übersetzung der Lutherbibel oder der King-James-Bibel. Aber vor allem in Kulturen mit einer angesehenen klassischen Literatur konnte das Bewusstsein des Unterschieds zwischen geschriebener und gesprochener Sprache eine Bibel hervorbringen, die allzu weit entfernt von der Umgangssprache erschien. Auch die Frage, welcher Dialekt einer Sprache als „Standard“ für die geschriebene Form gebraucht werden sollte, stellte vor schwierige Wahlmöglichkeiten. Ein wichtiger Aspekt der Bibelübersetzungen besteht darin, dass sie die indigenen Kirchen mit einem starken Werkzeug ausstatteten, mit dem sie das Recht der Missionare zu bestimmen, was das Christentum ist und wie es in einer bestimmten Gesellschaft Gestalt annehmen soll, in Frage stellen konnten. Laut Barrett ist es „unmöglich, die Bedeutung der Bibel in der afrikanischen Gesellschaft zu überschätzen“. „Bis zu diesem Punkt [der Veröffentlichung der Bibel in der Volkssprache] hatten die Missionen dieselbe absolute Kontrolle über die Schrift gehabt, wie sie sie auch über die örtliche Kirche ausübten. Sie allein hatten Zugang zu den hebräischen und griechischen Quellen; ihre Interpretation war letztgültig. Aber mit dem Erscheinen afrikanischer Übersetzungen fand eine folgenreiche Veränderung statt: Es wurde nun möglich, zwischen den Missionen und der Schrift zu unterscheiden. Durch die Schrift, so empfanden es die Afrikaner, wandte sich Gott an sie in ihrer Muttersprache, in welcher die Seele ihres Volkes aufbewahrt war.“44

In Afrika trug das seit den 1880er Jahren zur Entstehung einer Reihe von afrikanischen Kirchen bei, die sich unabhängig von der Kontrolle der Missionare entwickelten. In China wurde der Taiping-Aufstand in den 1850er Jahren von Hong Xiuquan (1814–1864) angeführt, einem Mann, der zutiefst von den protestantischen Bibelübersetzungen ins Chinesische beeinflusst war. Er war in Guangzhou (Kanton) mit der Bibel bekannt geworden, und sie bestätigte ihn in seiner Vision, dass er als jüngerer Bruder von Jesus Christus gesandt sei, China zu reformieren und aus dem Elend unter der Qing-Dynastie zu retten. Die Missionare begrüßten Hongs Bewegung zunächst, doch bald mussten sie zu ihrem Bedauern feststellen, dass diese zutiefst heterodox war, geradezu eine Pervertierung ihrer Lehren – mit tragischen Folgen für Millionen von Chinesen.45

44 Barrett, David, Schism and Renewal in Africa, zit. n. Mbiti, John S., Bible and Theology in African Christianity, Oxford 1986, 29. 45 Spence, Jonathan, God’s Chinese Son. The Taiping Heavenly Kingdom of Hong Xiuquan, London 1996.

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Doch ebenso konnte die Bibel rational begründeten Protest hervorrufen, wie am Beispiel von Hermann Yoyo, der von der Bremen Mission zum Christentum bekehrt wurde, zu sehen ist. Er wandte sich gegen das Aufdrücken europäischer Standards auf die im Entstehen begriffene christliche Gemeinschaft Westafrikas: „Ihr Christen in Europa seid wie Judenchristen, die einfach die Macht und die Bestimmung haben, die Einhaltung der Monogamie fortzusetzen, die ihr schon immer praktiziert habt. Aber uns Heidenchristen solltet ihr keine Bürde auferlegen, die uns aufgrund unserer völlig anderen Natur nur in Unglück und Sünde stürzen können! Durch Gnade sind wir erlöst, nicht durch Monogamie.“46

Ironischerweise ist diese Stellungnahme eine Übersetzung (oder kreative Interpretation?) dessen, was Yoyo tatsächlich gesagt hat, – durch einen Missionar. Die Missionare begannen ihre Arbeit, wie wir in Careys ursprünglichem Programm gesehen haben, von der Annahme ausgehend, dass die nicht christliche Welt im Allgemeinen „von Unwissenheit und Barbarei eingehüllt“ sei. In der praktischen Arbeit des christlichen Gemeindeaufbaus nach dem Modell einer vermeintlich biblischen Ethik erwies es sich als bemerkenswert schwierig, diese negative Einschätzung hinter sich zu lassen. Dennoch gibt es viele Beispiele von außerordentlichem und beständigem Engagement und Eintreten für die Völker, unter denen die Missionare wirkten und deren Sprachen sie mit der Zeit fließend beherrschten. War John Batchelor, ein CMS-Missionar bei den Ainu, einem indigenen Volk auf Hokkaido in Japan, ein Zerstörer einer einzigartigen Kultur, weil er deren traditionelle Religion und Spiritualität angriff?47 Oder war er der Verteidiger und Fürsprecher der Ainu gegen die rücksichtslose Ausbeutung durch die Führer der Meiji-Restauration, der sich Sorgen machte, dass ihre Lebensweise weggespült und ihre Sprachen ausgelöscht würden? Der Befund ist nicht eindeutig, oder vielleicht genauer: Beide Behauptungen könnten wahr sein. Eine ähnliche Dynamik findet man in der Begegnung zwischen den Missionaren, dem Volk der Maori und dem britischen Kolonialismus in Neuseeland im 19. Jahrhundert.48 Generell kann man wohl sagen, dass die missionarischen Unternehmungen meist in der naiven Überzeugung begannen, Religion und Kultur des Missionars seien der fremden Kultur überlegen. Im ersten Moment fand dies auch Bestätigung durch den Widerstand jener Kultur gegen das Evangelium und durch die Missverständnisse und Irrtümer, die selbst noch bei den zum Christentum Bekehrten festzustellen waren. Das konnte zu Feindseligkeit und Pessimismus bei den Missiona-

46 Ustorf, Werner, Bremen Missionaries in Togo and Ghana 1847–1900, Accra 2002, 375, Anm. 243. 47 Eine kritische Beurteilung seiner linguistischen Leistungen findet sich bei Refsing, Kirsten, Lost Aryans? John Batchelor and the Colonization of the Ainu Language, in: Interventions 2/1 (2000), 21–34. 48 Yates, Tim, The Conversion of the Maori. Years of Religious and Social Change 1814– 1842, Grand Rapids 2013.

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4. Der missionarische Auftrag: Die Übersetzung der Bibel und die kulturelle Begegnung

ren führen. Doch schrittweise, in dem Maße, wie sich die Begegnung vertiefte und wie die Missionare die Feinheiten der einheimischen Sprache und die Komplexität der fremden Gesellschaft zu verstehen lernten, wurde aus Unbehagen Respekt, oftmals sogar eine enthusiastische Loyalität zu der neuen „Heimat“ – auch wenn sich die Missionare stets ihrer Rolle als Außenseiter bewusst waren (was ja gerade einen Missionar ausmacht). Es ist schwierig, einen allgemeinen Entwicklungsverlauf der protestantischen Missionsansätze nachzuzeichnen, nicht zuletzt deshalb, weil die Erstbegegnungen zu jeweils unterschiedlichen Zeiten im Namen unterschiedlicher Missionen und in unterschiedlichen Gesellschaften stattfanden. Das missiologische Denken selbst war von sich wandelnden theologischen Perspektiven abhängig, wobei einige offener für die positive Begegnung mit einer unbekannten Kultur waren und andere die Besonderheit des Evangeliums herausstellten. Im 19. Jahrhundert lag die Fähigkeit der westlichen Kultur, sich – durch ihre wissenschaftliche und technologische Macht sowie durch die immer größere Reichweite des Imperialismus – dem Rest der Welt aufzuzwingen, im Widerstreit mit der zunehmenden Differenziertheit des missionarischen Wissens über andere Kulturen. Das imperiale Projekt machte sich dieses Wissen wiederum allzu oft zunutze. James Legge (1815–1897), ein schottischer Kongregationalist, verbrachte den größten Teil seiner Laufbahn als LMS-Missionar in der britischen Kolonie Hongkong. Er brachte eine siebenbändige Reihe mit Übersetzungen klassischer chinesischer Texte heraus, die maßgeblich dazu beitrugen, das konfuzianische, daoistische und chinesisch-buddhistische Denken dem Westen bekannt zu machen. Aber er war auch bei chinesischen Gelehrten hoch angesehen für seine Arbeit an kritischen wissenschaftlichen Ausgaben chinesischer Klassiker. Daran arbeitete er zusammen mit den chinesischen Gelehrten Wang Tao und Hong Rengan. Seine positive Sicht des Konfuzianismus und seine Überzeugung, es gebe eine chinesische „natürliche Theologie“, die mit der geoffenbarten christlichen Wahrheit in Einklang stünde, machte ihn innerhalb der Missionsbewegung Chinas zu einer umstrittenen Persönlichkeit. 1876 wurde er der erste Professor für chinesische Sprache und Literatur an der Universität Oxford. Er setzte sich außerdem für die Kampagne zur Unterbindung des Opiumhandels ein – im Gegensatz zu früheren Missionaren, die zu diesem Thema geschwiegen hatten. Legge wurde weithin von chinesischen Wissenschaftlern bewundert, doch seine persönliche Integrität und Gelehrsamkeit konnten allein das Misstrauen chinesischer Intellektueller nicht abbauen, das durch das unausgesprochene Einverständnis der Missionsbewegung mit den „Ungleichen Verträgen“ und den kolonialen Angriffen auf die chinesische Souveränität hervorgerufen worden war.49

49 Girardot, Norman J., The Victorian Translation of China: James Legge’s Oriental Pilgrimage, Oakland 2002.

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Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert

5. Protestantische christliche Erziehung

Legge war Schotte, und der schottische Beitrag dazu, den Stellenwert von Bildung in der Mission richtig zu verstehen, ist kaum zu unterschätzen. Alle Missionen bauten Schulen auf, aber für viele blieben sie in erster Linie ein katechetisches Werkzeug zur Schaffung einer lesekundigen und intelligenten christlichen Gemeinde. Der schottischen Missionsbewegung gelang es, den Drang zur Evangelisierung mit einem starken intellektuellen Antrieb zu verbinden – ein Produkt ihrer Mischung aus evangelikalem Christentum und der Common-Sense-Philosophie von Thomas Reid, einem Theologen und Philosophen der Church of Scotland. Diese Philosophie entstand im Zuge der großartigen Schottischen Aufklärung im späten 18. Jahrhundert als christliche Antwort auf Deismus und Skeptizismus.50 Alexander Duff (1806–1878), Missionar der Church of Scotland (und nach dem Schisma von 1843 Missionar der Free Church of Scotland), entwickelte daraus ein Modell der missionarischen Bildung im bengalischen Kalkutta . Er hob hervor, dass es nötig sei, ein erstklassiges westliches Bildungsangebot zu machen – im Medium der englischen Sprache für Jungen der Oberschicht, die zumeist Hindus waren. Er hoffte, dass viele von ihnen zum Christentum konvertieren würden, doch selbst wenn sie es nicht taten, würde ihre Erziehung eine dem christlichen Ethos gegenüber wohlgesonnene Führungsschicht entstehen lassen. Ihr Einfluss, so hoffte Duff, würde nach unten durchsickern und auf diese Weise eine Reform der ganzen Gesellschaft bewirken. Er bezeichnete dies als seine „Theorie der absteigenden Filtrierung“.51 Für die Haltung der britischen Regierung zum Bildungswesen in Indien wurde Duff eine wichtige Bezugsperson, und sie ernannte ihn zum Mitglied einer Kommission, die ein Netzwerk von Universitäten in ganz Indien aufbauen sollte. Die Kommission war säkular, doch die christliche Präsenz war beträchtlich. Im Jahr 1867 wurde Duff Professor für Missionswissenschaft am Free Church’s New College in Edinburgh. Wie sein schottischer Landsmann James Legge vertrat er eine tolerante und einladende Position gegenüber anderen Religionen. Er hatte Einfluss auf das missionarische Denken in Amerika (das ebenfalls tief vom gemäßigten theistischen Flügel der Schottischen Aufklärung geprägt war52). Die amerikanischen Missionare wurden in der Folge für die Hochschulbildung in China und Japan äußerst bedeutend. Im späten 19. Jahrhundert wurden christliche Colleges wie Lingnam in Guangzhou, Yenching in Beijing und St. John’s in Schanghai (gegründet von Joseph

50 Stanley, Brian, Christian Missions and the Enlightenment, London/New York 2001. 51 Laird, Michael, Alexander Duff. Western Education as Preparation for the Gospel, in: Anderson u. a. (Hrsg.), Mission Legacies, 271–276. 52 Vgl. Bendroth, in diesem Band, 369.

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5. Protestantische christliche Erziehung

Schereschewsky) auf den Weg gebracht.53 Sie zogen chinesische Studenten an, die überzeugt waren, dass das alte System der chinesischen Beamtenprüfung den Bedürfnissen der Zeit nicht mehr entsprach. Die Abschaffung dieses Systems im Jahr 1905 steigerte die Nachfrage nach westlich-christlicher Bildung. Diese Institute wurden – zusammen mit dem YMCA (Young Men’s Christian Association) – zu wichtigen Zentren für progressives Denken und Reform unter chinesischen Führungskräften in der revolutionären Periode, in der es 1912 zum Zusammenbruch der Qing-Dynastie und 1919 zur radikalen Bewegung des vierten Mai kam. Allerdings fühlte sich diese frühe republikanische Bewegung im Großen und Ganzen eher vom wissenschaftlichen Positivismus ihrer westlichen Bildung angezogen als von ihrer christlichen Grundlage.54 Gleichermaßen waren diejenigen, die in Japan im Gefolge der Meiji-Restauration von 1868 an die Macht gekommen waren, begierig darauf, die wissenschaftliche und technologische Überlegenheit der westlichen Bildung in sich aufzunehmen, ohne das religiöse Erbe des Westens anzunehmen. Unter dem Motto Bunmei Kaika (Zivilisation und Aufklärung) hatten sie dieses Ziel gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend erreicht. Zwar wurde letztlich die Religionsfreiheit garantiert (westliche Nationen bestanden darauf, dass sie ein Kennzeichen der Aufklärung sei), doch das Christentum kämpfte weiter um Anerkennung als Religion, die mit dem japanischen Leben vereinbar war. Trotzdem wurden christliche höhere Schulen und Colleges eingerichtet und hatten überproportional große Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft. Die amerikanische Unterstützung beim Aufbau einer staatlich finanzierten Landwirtschaftsschule in Sapporo auf Hokkaido zum Beispiel machte eine Reihe japanischer Studenten mit dem Christentum bekannt. Unter ihnen war etwa Uchimura Kanzō. Seine Weigerung, sich bei der Verlesung des Kaiserlichen Erziehungsedikts im Jahr 1890 vor dem Porträt des Kaisers zu verbeugen, machte aus der Frage des Verhältnisses von Religion und Nation ein Thema von nationaler Bedeutung. Uchimura, ein christlicher Pazifist, beurteilte den japanischen Imperialismus und den Aufstieg des Militarismus kritisch. Ihm war zudem klar, dass das von den Missionaren ins Land gebrachte Christentum nicht für Japan geeignet war, und er gründete deshalb die Nicht-Kirche-Bewegung (Mukyōkai), um das Evangelium außerhalb des protestantisch-christlichen Rahmens zu fördern.55 Obwohl das Christentum innerhalb der japanischen Gesellschaft eine sehr kleine Minderheit ausmachte, hatten die christlichen Werte einen bedeutenden Einfluss auf Japans Projekt der Modernisierung – nicht zuletzt als Kritik seiner nationalistischen Tendenzen. Etliche prominente Mitglieder von progressiven und linken Bewegungen in Japan im späten 19. und frühen 20. Jahrhun-

53 Erh, Deke u. a. (Hrsg.), Hallowed Halls. Protestant Colleges in Old China, Hongkong 1998. Vgl. auch www.divinity-adhoc.library.yale.edu (aufgerufen am 4.5.2016). 54 Mitter, Rana, A Bitter Revolution. China’s Struggle with the Modern World, Oxford 2004. 55 Howes, John F., Japan’s Modern Prophet. Uchimura Kanzo 1861–1930, Vancouver 2005.

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dert waren Christen. Auf diese Weise diente Japan als Musterbeispiel für Duffs Vision einer christlichen Erziehung, die zum Katalysator für die gesamte Gesellschaft wird. Seine Vision hatte außerdem eine wichtige kritische Funktion hinsichtlich mancher Aspekte der modernen säkularen Erziehung, sowohl in ihren westlich-positivistischen als auch in ihren asiatisch-nationalistischen Formen. In Afrika gingen Christentum und Erziehung eine engere Verbindung ein. Die Kolonialregierungen überließen das Grundschulwesen wie auch die weiterführenden Schulen weitgehend den christlichen Missionen. Der Aufstieg gebildeter, politisch bewusster schwarzer Stimmen war fast ausnahmslos das Verdienst christlicher Schulen und Colleges. Die frühen Vertreter des Panafrikanismus in Westafrika, die Führer des 1912 gegründeten African National Congress, die christlichen Eliten in Ostafrika, die den Kern der Opposition gegen den Kolonialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten – alle waren zutiefst beeinflusst von christlichen Werten und (anders als in Indien oder China) Mitglieder von christlichen Kirchen.56

6. Die „Euthanasie der Mission“ Die protestantische Missionsbewegung hatte sich in erster Linie in Form von Gesellschaften auf der Basis von Freiwilligenarbeit entwickelt, sie wurde finanziert und geleitet von enthusiastischen Unterstützern, nicht von kirchlichen Institutionen. Dabei blieb es auch, als die Kirchen die Arbeit mit Hilfe von Missionsausschüssen kontrollierten, die ebendiesen Institutionen verantwortlich waren. Die Berührungspunkte zwischen Mission und Kirche im Missionsfeld waren tendenziell heikel. Henry Venn, zwischen 1841 und 1872 Leiter der anglikanischen CMS, brachte dies eindringlich zum Ausdruck in seinen bekannten Schlagworten von der „Euthanasie der Mission“ und dem „Drei-Selbst-Prinzip“.57 Venn glaubte, dass die Mission zum Zentrum eines authentischen Christentums gehöre. Doch Missionen an bestimmten Orten sollten definitionsgemäß Übergangsphänomene sein und Raum schaffen für eine 1. sich selbst regierende, 2. sich selbst ausbreitende und 3. sich selbst finanzierende christliche Gemeinschaft: für eine autonome örtliche Kirche, die wiederum selbst von missionarischem Eifer erfüllt sei. Rufus Anderson (1796–1880), der amerikanische Amtskollege von Venn, Sekretär des mehrheitlich kongregationalistischen American Board of Foreign Missions, betonte das

56 Vgl. in diesem Band das Kapitel über Afrika im 19. Jahrhundert. 57 Williams, C. Peter, The Ideal of the Self-Governing Church. A Study in Victorian Missionary Strategy, Leiden 1990. Vgl. Koschorke, in diesem Band, 442.

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6. Die „Euthanasie der Mission“

Drei-Selbst-Prinzip ebenfalls.58 Seiner Ansicht nach sollte das Ziel einer autonomen Kirche von Einheimischen Vorrang haben gegenüber der schulischen Ausbildung in Eliteinstitutionen: Wenn es eine Wahl gab zwischen „Evangelisation“ und „Zivilisation“, dann müsse Ersteres den Vorrang haben. Weder Venn noch Anderson waren gegen missionarische Beteiligung an Bildungsprojekten, doch es war ihnen klar, dass solche Projekte die Entwicklung örtlicher autonomer Kirchen nicht behindern durften, indem sie beispielsweise den Mangel an vollausgebildeten einheimischen Geistlichen als Grund für eine Verlängerung der Kontrolle durch die Missionare anführten. Missionare im Feld, geschult in frommem Pragmatismus, fanden immer wieder Gründe, warum die missionarische Oberaufsicht verlängert werden musste – oft auf unbestimmte Zeit. Ein Missionar, der sich wirklich darum bemühte, das Drei-Selbst-Prinzip zu erfüllen, war der amerikanische Presbyterianer-Missionar in China, John Livingstone Nevius (1829–1893).59 Er glaubte, die Rolle des Missionars bestehe darin, herumzureisen und die örtlichen christlichen Gemeinschaften zu besuchen, sie zu lehren und in einfachen Worten zu ermahnen, aber die Christen vor allem zu ermutigen, ihre eigenen Wege, ihre eigenen Formen und Praktiken des Kircheseins zu entwickeln. Sein Manual for Inquirers („Handbuch für Fragende“) wurde als die „NeviusMethode“ bekannt. Sie spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau des unabhängigen Protestantismus in Korea und erhielt seit den 1870er Jahren Unterstützung aus der chinesischen Mandschurei vom schottischen Missionar John Ross, als es für ausländische Missionare noch unmöglich war, in das „Einsiedlerkönigreich“ eingelassen zu werden. Die Methode selbst konnte zwar die Probleme der missionarischen Kontrollzwänge und des Paternalismus nicht überwinden, und manchmal sah es auch so aus, als setze sie eine schwache christliche Gemeinschaft, die kaum eigene Ressourcen hatte, unter erheblichen finanziellen Druck. Aber sie schuf ein starkes Gefühl der Eigenverantwortung, und dieses wiederum nährte die Erweckungs- und die nationalistischen Bewegungen, die eine so zentrale Rolle spielten bei der Entwicklung des koreanischen Protestantismus während der Zeit der japanischen Kolonialherrschaft.60 Roland Allen, anglikanischer Missionar in China, wurde ein leidenschaftlicher Verfechter dieser Methode. In seinem Buch Missionary Methods: St Paul’s or Ours? kombinierte er Nevius’ Methode mit einem anglo-katholischen Sakramentalismus.61 Allens Ideen wurden damals weithin als idealistisch und nicht umsetzbar abgelehnt. Die Errichtung von vornehmlich westlichen, konfessionellen kirchlichen Strukturen hielt man in einer modernen Welt für unerlässlich. Und das setzte

58 Beaver, Pierce, Rufus Anderson, in: Anderson u. a. (Hrsg.), Mission Legacies, 548–553. 59 Hunt Jr., Everett, John Livingston Nevius, in: Anderson u. a. (Hrsg.), Mission Legacies, 190–196. 60 Kim, Sebastian/Kim, Kirsteen, A History of Korean Christianity, Cambridge 2015, 73f. 61 Allen, Roland, Missionary Methods. St. Paul’s or Ours?, London 1912.

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in den Augen der meisten Missionare die Entwicklung einer gebildeten, intellektuell versierten örtlichen Führungsschicht voraus, die fähig sei, solche Strukturen in Gang zu halten, was wiederum nur im Laufe einer langen Periode der Vormundschaft erreicht werden könne. Im späten 20. Jahrhundert aber wurden Allens Ideen wiederentdeckt, als man beim Nachdenken über die Mission eine Antwort suchte auf die westliche Unentschiedenheit angesichts des missionarischen Erbes und seines Verhältnisses zur Arroganz des westlichen Kolonialismus. Auch wo keine explizite „Methode“ eigenverantwortlichen Handelns vorhanden war, ist die Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts undenkbar ohne die Arbeit der örtlichen Unterstützer (beim Sprachenlernen, Lehren, Übersetzen der Bibel) und ohne deren unmittelbaren Beitrag zur Evangelisations- und Missionsarbeit – in ihren heimatlichen Gemeinschaften ebenso wie außer Landes. So waren zum Christentum bekehrte Südchinesen (viele von ihnen gehörten zur ethnischen Minderheit der Hakka) auch an der Missionsarbeit in Südostasien beteiligt, indische Tamilen wirkten bei der Evangelisation in Malaysia und Sri Lanka mit, befreite Sklaven aus dem Volk der Yoruba und aus Jamaika wurden in Westafrika tätig, bekehrte Baganda in großen Gebieten Ostafrikas, Afroamerikaner im Kongo. Im Großen und Ganzen war der Gegensatz zwischen „Christentum“ und „Zivilisation“, der Generationen westlicher Missionare so beschäftigt hat, für diese örtlichen Missionare nie ein Thema. Ihnen war klar, dass Bildung für eine Gemeinschaft wesentlich ist, zumindest unabdingbar als Werkzeug, um dem Rassismus und Kolonialismus wirkungsvoll begegnen zu können. Zugleich aber waren sie unzufrieden über den Paternalismus der Missionare, die die örtliche Kirche in einer „babylonischen Gefangenschaft“ hielten (um ein Wort des ghanaischen Theologen John Pobee über die Anglikanische Kirchengemeinschaft zu zitieren).62 Gustav Warneck (1834–1910), der oft als Vater der Missiologie als akademischer Disziplin betrachtet wurde, war über viele Jahre Missionsinspektor der Rheinischen Mission mit Hauptsitz in Barmen und von 1897 an Professor für Missionswissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Halle. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen gehört das fünfbändige monumentale Werk Evangelische Missionslehre, eine Geschichte und Theorie der protestantischen Missionstätigkeit. Warneck hatte Wurzeln im Pietismus, und so unterstützte er die Vorstellung, dass eine Bekehrung aus persönlichem Glauben heraus erfolgen müsse. Doch das konnte in seinen Augen nicht das hauptsächliche oder einzige Ziel der Missionsarbeit sein. Die Missionare sollten vielmehr den Aufbau der „Volkskirche“ – kirchlicher Gemeinschaften, die das Leben und die Kultur eines Volkes ausdrückten und verkörperten – aktiv fördern. Tatsächlich versuchte seine Rheinische Mission, genau das im südlichen Afrika und im Volk der Batik in Indonesien (wo Warnecks Sohn arbeitete) umzusetzen. Warneck setzte zudem auf die

62 Ward, Kevin, A History of Global Anglicanism, Cambridge 2006, 296–300.

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6. Die „Euthanasie der Mission“

„Volkschristianisierung“, die Verbreitung christlicher Werte in einem Volk als Ganzem. Der Mission dürfe es nicht bloß um individuelle Bekehrung gehen, sie müsse vielmehr auf die Transformation ganzer Gesellschaften hinarbeiten.63 Alexander Duff, der sich äußerst einflussreich für den Wert der westlichen Erziehung stark machte, konnte sich eine solche Transformation nur so vorstellen, dass sich das gute Handeln einer gebildeten Elite, die von christlichen Werten geprägt war, auch wenn sie selbst nicht gläubig war, in der Gesellschaft bis ganz nach unten auswirkte. Für Warneck aber gingen diese Werte aus dem Gemeinschaftsethos der örtlichen Kirche hervor und verbreiteten sich als ethische Norm in der umliegenden Gesellschaft. Ganz allgemein waren ja die deutschen protestantischen Missionen weniger angetan von den Früchten der westlichen Bildung, da diese die Bekehrten potenziell von ihren eigenen Wurzeln trennten; daher unterstützten sie mit Nachdruck eine Erziehung, die die einheimischen Sprachen bewahrte und eher den Kommunalismus als den Individualismus förderte.64 Rufus Anderson, Venn und Warneck hatten als Leiter von Missionen alle ihren Sitz in Europa oder Amerika. Sie koordinierten Missionsgesellschaften, die zunehmend komplexer, hierarchischer und bürokratischer wurden. James Hudson Taylor schuf daraufhin im Jahr 1867 einen neuen Typus von Mission, der allmählich zu einem bedeutenden Gegenmodell für die protestantische Missionsarbeit wurde: die China-Inland-Mission (CIM). Hudson Taylor war sowohl ihr Leiter als auch selbst aktiver Missionar. Seine Mission war auf „Glaubensbasis“ organisiert, das heißt sie hatten keinen Etat, bezahlten keine Verwaltungsangestellten und boten ihren Missionaren nicht einmal ein regelmäßiges Gehalt. Die Missionare sollten sich ganz auf Gott verlassen und waren angewiesen auf die wechselnde Großzügigkeit von Unterstützern. Waren die Mittel knapp, musste die Arbeit eingeschränkt werden, denn die Mission sollte auf keinen Fall Schulden machen. Den anderen Missionen in China warf Hudson Taylor vor, dass sie sich zu sehr an den Schutz der Kolonialmächte in den Vertragshäfen banden, sich auf Eliten konzentrierten und sich nicht entschieden genug gegen den Opiumhandel einsetzten. Die CIM dagegen wollte ins „Inland“ gehen, weg von den Vertragshäfen und ausländischem Schutz. Die Missionare der CIM waren höchst unterschiedlich, was ihre Herkunft, Ausbildung, Gesellschaftsschicht und kirchliche Konfession anbelangte. Hudson Taylor verteilte sie weit über alle „unerreichten“ Provinzen Chinas. Man kritisierte ihn dafür, dass er ledige Frauen (zumeist paarweise) in weit entfernte, schwierige Regionen schickte. Er legte seinen Missionaren nahe, sich den örtlichen Gepflogenheiten gemäß zu kleiden und sich in erster Linie an das Landvolk statt an die Oberschicht zu wenden. Er wünschte sich die Errichtung von Bibelschulen, war

63 Kasdorf, Hans, Gustav Warneck, in: Anderson u. a. (Hrsg.), Mission Legacies, 373–382. 64 Vgl. z. B. Lessing, Hanns u. a. (Hrsg.), Deutsche evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika. Die Rolle der Auslandsarbeit von den Anfängen bis in die 1920er Jahre, Wiesbaden 2011.

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aber an aufwändigeren Institutionen für hauptsächlich säkulare Bildung nicht interessiert. Obwohl seine schutzlosen Missionare unter dem Boxeraufstand im Jahr 1900 mehr litten als die der meisten anderen Missionsgesellschaften, weigerte er sich, sich um Entschädigung zu bemühen oder eine solche anzunehmen. Charakteristisch für die CIM war zudem die Gleichgültigkeit gegenüber konfessionellen Strukturen.65 Auch wenn die meisten Missionare aus der Arbeiterklasse stammten, zog die Vitalität der CIM zunehmend auch akademisch gebildete Freiwillige aus der Oberschicht an. Seit den 1870er Jahren hatte die amerikanische Erweckungsbewegung, die sich auf Dwight Moody berief, Erfolge an den Universitäten, besonders in Cambridge. Dort fing die Cambridge Inter-Collegiate Christian Union (CICCU) an, junge Männer für die Überseemission zu interessieren. Die 1876 initiierte Keswick-Heiligungsbewegung kanalisierte ebenfalls das christliche Engagement in Richtung des Missionsdienstes. Im Jahr 1886 stellten sich die „Cambridge-Sieben“, angeführt von C. T. Studd und Stanley Smith, für einen Dienst bei der CIM zur Verfügung und verzichteten dafür auf ihren Erbbesitz und wohldotierte Stellungen. Auch andere Missionsgesellschaften profitierten vom erwachten Interesse der Oberschicht an der Missionsarbeit. Die CMS, die die Spiritualität dieses neuen evangelikalen Christentums begrüßte, gewann ebenfalls eine Reihe von talentierten und engagierten Missionaren hinzu. Doch das hatte seinen Preis, wie CMS und CIM feststellten: So enthusiastisch und engagiert die jungen Leute waren, so eigensinnig und undiszipliniert waren manche von ihnen. Die CMS-Gruppe66, die während der letzten Jahre von Bischof Crowther in den Niger ging, übte sich in exzessiver Kritik am örtlichen Christentum, das sie als zu lax empfand, und richtete ein Chaos an, dessen Behebung viele Jahre in Anspruch nahm. Stanley Smith selbst hatte außerdem unorthodoxe Sichtweisen zur universalen Erlösung entwickelt, die die CIM für unannehmbar hielt.67 Die theologische Ausrichtung der neuen Glaubensmissionen entwickelte sich nun in genau umrissenen, ziemlich kämpferischen Bahnen. Insbesondere kritisierten diese den in ihren Augen oberflächlichen Optimismus der protestantischen Missionsbewegung. Die Vorstellung, an der schrittweisen Entfaltung des Reiches Gottes zu partizipieren – wie sie von der gängigen Eschatologie der Missionsbewegung vertreten wurde –, wurde in Frage gestellt zugunsten der um sich greifenden prämillenaristischen Überzeugung, dass die Welt keineswegs allmählich besser wurde, sondern stattdessen auf eine Katastrophe zulief. Nur nach derartigen apokalyptischen Ereignissen würde Christus wiederkehren und das neue Millennium einleiten. Dieser weltüberdrüssige Pessimismus setzte kaum noch auf sozialen Ak-

65 Austin, Alvyn, China’s Millions. The China Inland Mission and Late Qing Society 1832– 1905, Grand Rapids 2007. 66 Vgl Ward, Afrika, in diesem Band, 457. 67 Pollock, John, The Keswick Story, London 1964.

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7. Die Missionen und der Kolonialismus

tivismus, Bildungspläne oder Projekte irdischer Umgestaltung. C. T. Studd konzentrierte sich später auf Afrika und gründete dort im Jahr 1910 die Heart of Africa Mission, die hauptsächlich im Kongo arbeitete. Auch andere Missionen wie die Sudan Interior Mission (1893) und die Africa Inland Mission (1895) orientierten sich in Stil und Strategie an der CIM.68

7. Die Missionen und der Kolonialismus Die protestantischen Missionen hatten es erfolgreich vermieden, den älteren Weg der Katholiken einzuschlagen, deren Missionen sich an die jeweils herrschenden Mächte anlehnten – etwa an Spanien und Portugal. Ihnen lag daran, sich unabhängig von weltlichen Mächten zu präsentieren. Doch auch sie neigten zu einer providentiellen Sicht auf die Geschichte und glaubten an die innere Verbindung zwischen der wachsenden Macht von Großbritannien, Amerika und Deutschland und ihrem protestantischen Glauben. In Ausdrücken wie „manifest destiny“ („Offensichtliche Bestimmung“) und „the white man’s burden“ („Die Bürde des Weißen Mannes“) spiegelte sich der globale Anspruch des Protestantismus, das optimistische Gefühl, dass die Welt zunehmend christianisiert würde und dass die protestantische Missionsbewegung Teil dieser weltgeschichtlichen Entwicklung sei. Im Großen und Ganzen begrüßten die protestantischen Missionen den wachsenden Einfluss der Weltmächte. Sie fanden, dass die Briten mit ihrer Herrschaft über Indien dem Land eine Wohltat erwiesen hatten, dass die „Ungleichen Verträge“ von großer Bedeutung waren und dass das China der Qing-Dynastie (zu seinem eigenen Besten) unter den Weltmächten aufgeteilt werden sollte. In Südafrika hatten die protestantischen Missionare die Ausbreitung der britischen Herrschaft in der Region weitgehend unterstützt und die Ergebnisse – auch wenn sie die schlimmsten Exzesse beim kolonialistischen „Wettlauf um Afrika“ in den 1880er und 1890er Jahren kritisierten – gutgeheißen. Die Regierungen nutzten indessen die Anwesenheit ihrer Staatsbürger als Begründung für die koloniale Übernahme eines Gebiets. In Uganda setzte sich Bischof Alfred Tucker aktiv dafür ein, dass die Briten intervenierten, um den von ihm befürchteten Religionskrieg in der Region zu stoppen. Doch kaum hatten sich die Briten im Land eingerichtet, machte er sein eigenes „höherstehendes“ Verständnis des Volkes geltend, um die Kolonialregierung zur Rechenschaft zu ziehen. Die protestantischen Missionen und Missionare sahen es seit den Tagen der Bewegung für die

68 Fiedler, Klaus, Ganz auf Vertrauen. Geschichte und Kirchenverständnis der Glaubensmissionen, Wuppertal/Zürich 1992; ders., The Story of Faith Missions. From Hudson Taylor to Present Day Africa, Oxford 1994.

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Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert

Abschaffung der Sklaverei als ihre Pflicht und Verantwortung an, bei Ungerechtigkeiten einzugreifen. Für die abolitionistische Bewegung gehörte das zum Selbstverständnis, und es war typisch für das Handeln eines Missionars wie James Long in Bengalen, dass er im Jahr 1860 die ausgebeuteten Indigo-Arbeiter verteidigte. Die erzürnten Indigo-Händler brachten ihn vor Gericht, und er erhielt eine Gefängnisstrafe wegen Verleumdung.69 In den Anfängen der protestantischen Missionsbewegung ging man von einer kulturellen Überlegenheit des (protestantischen) Europa und Nordamerika aus, die wiederum auf die Überlegenheit des christlichen Glaubens zurückgeführt wurde. Doch es existierte unter Protestanten auch eine starke Bindung an den Bericht von der Erschaffung der einen ungeteilten Menschheit im Buch Genesis. Zugleich aber wurden im späten 19. Jahrhundert die Ideen Darwins vielfach dazu verwendet, eine Hierarchie der Rassen zu rechtfertigen und die Überlegenheit der Europäer gegenüber anderen Rassen zu begründen. Das war selbst unter den theologisch konservativen Missionaren der Fall, die in anderen Punkten die skeptischen Folgerungen in Darwins Über die Entstehung der Arten ablehnten. Der „wissenschaftliche Rassismus“70 lieferte bequeme Erklärungen für das „Versagen“ von Bekehrten bei der Erfüllung christlicher Ethiknormen. Er erklärte und rechtfertigte die „Expansion“ europäischer Großreiche, die Notwendigkeit der Verhängung einer langen Lehrzeit über die kolonialen Besitzungen sowie die gebotene Vorsicht bei der Zulassung christlicher Eigenständigkeit im „Missionsfeld“. Im Denken der Missionare konnte Imperialismus einerseits die Notwendigkeit einer westlichen Erziehung als Teil dieser Lehrzeit rechtfertigen, andererseits aber auch die „Produkte“ dieser Erziehung wegen ihres mangelhaften Verständnisses der westlichen Kultur stigmatisieren, indem man auf ihre angeborenen „rassischen“ Charaktereigenschaften verwies. Die Ausbreitung des Kolonialismus führte außerdem dazu, dass die Ideen einer „Euthanasie der Mission“ und einer Entwicklung des Drei-Selbst-Prinzips wieder in Frage gestellt wurden. Mehr denn je wurde missionarische Führung auf vielen Gebieten als wesentliches und dauerhaftes Merkmal der Missionskirche gesehen. Ausländische Missionare wurden zu Managern von missionarischen Institutionen wie Krankenhäuser, Schulen und Colleges sowie Kirchenhierarchien. Die Entwicklung der Selbstständigkeit wurde nun als langsamer, stufenweiser Prozess angesehen, der möglicherweise Jahrhunderte in Anspruch nehmen würde.71

69 Eine umfassende Beurteilung dieser Fragen findet sich bei Stanley, Brian, The Bible and the Flag. Protestant Missions and British Imperialism in the 19th and 20th Centuries, Leicester 1990 und bei Porter, Andrew N., Imperial Horizons of British Protestant Missions 1880–1914, Grand Rapids 2003. 70 Dubow, Saul, Scientific Racism in Modern South Africa, New York/Melbourne 1995. 71 Willliams, Peter, The Ideal of the Self-Governing Church. A Study in Victorian Missionary Strategy, Leiden 1990.

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7. Die Missionen und der Kolonialismus

Die Aufrichtigkeit dieses Narrativs wurde von westlich ausgebildeten christlichen Führungspersönlichkeiten in Zweifel gezogen, die sofort seine regressiven Auswirkungen erkannten. Wie Klaus Koschorke gezeigt hat72, gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine aktive, gebildete christliche Elite, die über die Entwicklungen in der christlichen Welt gut unterrichtet war und sich offen gegen diese Tendenz wehrte, weil sie darin den Versuch sahen, ihre eigene Bedeutung für die christlichen Gemeinschaften abzuqualifizieren. Die Angehörigen dieser Elite hatten sich aktiv an den Diskussionen in missionarischen Publikationen beteiligt und sich für den Druck einheimischer Zeitungen auf Englisch und in örtlichen Sprachen eingesetzt. Mit Verweis auf den Episkopat des westafrikanischen Bischofs Crowther hielten tamilische Christen den Missionaren in Indien vor, dass sie es nicht geschafft hatten, einen Inder für ein ähnlich hohes Amt vorzubereiten. Als Crowther gegen Ende seines Episkopats von einer neuen Generation von Missionaren in rassistischhetzerischer Sprache scharf angegriffen wurde, fand der Fall ein breites publizistisches Echo in Indien; man betrachtete die Sache als Beleidigung – nicht nur für den schwarzen Bischof, sondern auch für die Christen in Indien. In diesem Zusammenhang wurde Japan als Vorbild angeführt: Es hatte sich erfolgreich gegen die koloniale Plünderung gewehrt, es entwickelte westliche Institutionen ohne westliche Dominanz, und die Missionsbewegung musste ihr Denken radikal verändern und von Anfang an die Unabhängigkeit und Autonomie des japanischen Protestantismus akzeptieren. So mussten beispielsweise die anglikanischen Missionen in Japan 1887 der Gründung der Nippon Sei Ko Kai (Heilige Katholische Kirche Japans) zustimmen, der ersten autonomen Provinz der Anglikanischen Kirchengemeinschaft außerhalb jener Weltregionen, in denen britische Siedler einen wichtigen Teil der Anglikanischen Kirche ausmachten. Der Name der Kirche vermied zudem sorgsam jeden Hinweis auf ihre englischen Ursprünge. Die indischen Christen hofften, dass die japanischen Christen den Protestanten in anderen Teilen Asiens dabei helfen würden, sich dem Griff der Kolonialherrschaft zu entwinden. Darin spiegelte sich die allgemeinere Erwartung – sehr stark etwa in der Generation der chinesischen Intellektuellen, die gegen die Qing-Dynastie kämpften –, dass Japan ein inspirierendes Modell dafür werden könnte, wie man dem anscheinend unaufhaltsamen Vorrücken der europäischen Kolonialmächte Einhalt gebieten könnte. Diese Erwartung wurde allerdings in der Folgezeit enttäuscht, als Japan im 20. Jahrhundert seinen eigenen Pfad in Richtung Kolonialismus, Militaris-

72 Koschorke, Klaus, Transregionale Netzwerke und transkontinentale Interaktionen, in: Verkündigung und Forschung 60/2 (2015), 150–159; vgl. auch ders., „What can India learn from Japan?“ Netzwerke indigen-christlicher Eliten in Asien und christliche Internationalismen um 1910, in: Nagel, Jürgen G./Mann, Michael (Hrsg.), Jenseits der Grenze. Europa in der Welt in Zeiten der Globalisierung, Heidelberg 2015, 19–42.

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Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert

mus und Krieg beschritt.73 In China jedoch erhielt aus dieser Erwartung das DreiSelbst-Prinzip neuen Schwung, denn es war eine Hoffnung auf christliche Eigenständigkeit, die ja nach 1949 in den Debatten über die Rolle des Protestantismus im kommunistischen China entscheidend werden sollte.74

8. Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh im Jahr 1910

Die Weltmissionskonferenz, die im Jahr 1910 im schottischen Edinburgh stattfand, bot die Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme der mehr als einhundert Jahre währenden protestantischen Missionsarbeit und für ein Nachdenken über ihren unvorhergesehenen Erfolg.75 Schon damals wurde die Konferenz als epochal angesehen, sowohl wegen ihrer Größe und ihres flächendeckenden Ansatzes als auch wegen der überragenden Bedeutung der auf ihr diskutierten Fragen. Für ihre Hauptorganisatoren, den Schotten Joseph H. Oldham und den Amerikaner John R. Mott, war sie der Anfang ihrer glänzenden Karrieren, die entscheidenden Einfluss auf die weltweite protestantische Ökumene-Bewegung im 20. Jahrhundert hatten. Kenneth Ross, der Sekretär des Weltmissionsrates der Church of Scotland, gab anlässlich der Vorbereitung der Hundertjahrfeiern von „Edinburgh 1910“ folgende nüchterne Einschätzung: „Die Delegierten, die sich 1910 in Edinburgh versammelten, bekamen eine Ahnung von etwas, das damals noch nicht existierte: von einer ‚Weltkirche‘ mit tiefen Wurzeln und kraftvollem Ausdruck auf jedem Kontinent … Zugegeben, … in vielerlei Hinsicht war die Edinburgher Konferenz überhitzt und allzu ehrgeizig. Sie hatte sich vom Selbstvertrauen der westlichen Mächte auf dem Höhepunkt des imperialen Zeitalters mitreißen lassen. Ihre Parolen erwiesen sich als hohl. Die Welt wurde nicht in jener Generation endgültig evangelisiert. Das Evangelium war nicht in die gesamte nichtchristliche Welt getragen worden. Nur wenige Jahre nach der Konferenz wurden die Energien der vom Westen „missionierten“ Nationen von einem Krieg verschlungen, der zerstörerischer war als jeder bis dahin bekannte. … Die Konferenz von Edinburgh 1910, die sich an der Schwelle zu einer neuen Etappe missionarischen Fortschritts sah, war in Wahrheit der Höhepunkt der Bewegung. Niemals wieder würde die westliche Missionsbewegung so im Mittelpunkt stehen, wie sie es in Edinburgh tat. Für die meisten der dort vertretenen Missionsaus-

73 Lu Yan, Re-understanding Japan. Chinese Perspectives 1895–1945, Honolulu 2004. 74 Wickeri, Philip, Seeking the Common Ground. Protestant Christianity, the Three Self Movement and China’s United Front, Maryknoll 1988. 75 Stanley, Brian, The World Missionary Conference Edinburgh 1910, Grand Rapids 2009.

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8. Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh im Jahr 1910 schüsse und -Gesellschaften würde das 20. Jahrhundert eines des unerbittlichen Niedergangs ihrer Tätigkeit sein.“76

Etwas von der aufgeblasenen Rhetorik, auf die Ross anspielt, ist festgehalten in An Account and Interpretation of the World Missionary Conference, die auf die Bitte des Konferenzkomitees von William Henry Temple Gairdner, einem schottischen Missionar der CMS verfasst wurde. Er arbeitete seit 1899 in Kairo und hatte gerade sein Buch The Reproach of Islam abgeschlossen – ein leidenschaftliches Plädoyer, die Evangelisierung der Muslime ernsthaft zu betreiben.77 Sein Bericht über Edinburgh 1910 ist ebenso leidenschaftlich und hochtönend: „In den Tiefen des unendlichen Raumes brennt ein Stern ...“ – so beginnt er mit Anklängen an das Buch Genesis und den Prolog des Johannesevangeliums, nimmt aber auch das Staunen auf, das seine Landsleute James Clerk Maxwell und Lord Kelvin (die beide hingebungsvolle Christen waren) mit ihren astrophysischen Entdeckungen hervorgerufen hatten.78 Zurück auf der Erde spricht Gairdner gleichermaßen ausladend, sozusagen in einem etwas popularisierten hegelianischen Ton: „Wenn die Missionen einen Beitrag zur Geschichte leisten, dann reagiert auch die Weltgeschichte auf die Weltmission, leitet die Strömungen ihrer Bemühungen um, gibt ihren Idealen Eindeutigkeit, verursacht Modifizierungen ihrer Methoden. Gerade weil es sich um eine Mission handelt, die die Welt retten möchte, ist sie notwendigerweise auch empfänglich für die Ereignisse in der Welt.“79

Gairdners besonderes Interesse galt den Vorkommnissen im Osten (dem „Orient“, wie er ihn nannte). Er stellte fest, dass in China und Japan „die Gezeitenströmung des Vorrückens und der Herrschaft des Westens“ eher „wie ein unveränderliches Naturphänomen“ wahrgenommen wurde, und nicht als Resultat menschlichen Handelns. Das sei jedoch plötzlich zum Stillstand gekommen, unter anderem durch den Boxeraufstand und das Hervortreten Japans als expansive imperiale Macht in der Schlacht bei Mukden im Russisch-Japanischen Krieg 1905/1906: „Die Menschheit erwachte zu ihrem Selbstbewusstsein: Es wurde zehnmal dringender, der Menschheit zu sagen: Ecce homo! Die Welt erkannte, dass sie eine Einheit war: – sollte diese Einheit in dem Einen Herrn und einen Glauben begründet sein oder nicht? Waren

76 Ross, Kenneth R., The Centenary of Edinburgh 1910. Its Possibilities, in: International Bulletin of Missionary Research 30/4 (2006), 177–179. 77 Gairdner, William Temple, The Reproach of Islam, London, 1909. Das Buch erlebte zahlreiche Auflagen. 1920, mit der 5. Auflage, wurde der Titel abgeändert in „The Rebuke of Islam“ („Zurechtweisung des Islam“), möglicherweise aufgrund des wachsenden Bewusstseins, dass der Islam eine Herausforderung für das Christentum war, die nicht einfach geringgeachtet werden sollte, und vielleicht auch, weil der ursprüngliche Titel als Angriff auf den Islam missdeutet werden könnte. 78 Gairdner, William Temple, Edinburgh 1910. An Account and Interpretation of the World Missionary Conference, Edinburgh 1910. 79 Gairdner, Edinburgh 1910, 9.

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Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert die riesenhaften Kräfte, die so gegensätzlich und so gewalttätig waren, nun befreit und auf die Welt losgelassen worden, bloß um miteinander zu kämpfen und auf schreckliche Weise zusammenzustoßen bis zu einer künftigen Abrechnung? Oder sollte die unbegreifliche Schärfe eines solchen Konflikts umgestaltet und abgemildert und humanisiert werden, indem der Orient sich dem Glauben an Christus anschließt?“

In Gairdners Augen stand die Welt vor der Frage, ob die Welt-Evolution „menschlich vonstatten gehen“ würde. „Es ist geistlich gesehen unbedingt erforderlich, dass das Leben und Wirken der Nation insgesamt christlich ist: sodass der gesamte – wirtschaftliche wie politische – Einfluss, der heute vom Westen auf den Osten ausgeübt wird, von den stärkeren Rassen auf die schwächeren, die Botschaft des missionarischen Unternehmens bekräftigt und nicht beschädigt.“80

Nach Gairdners Einschätzung gehörte der Großteil der afrikanischen Völker eindeutig zu den „schwächeren Rassen“, und die meisten seiner strategischen Überlegungen galten dem Osten: Insbesondere in China schien es Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel zu geben, bei dem das Christentum eine wichtige Rolle spielen könnte. Sun Yat-Sen, ein zutiefst von christlichen Idealen geprägter Mann und einer der Väter der Revolution von 1911, entsprach diesen Erwartungen vollkommen. Die späteren Ereignisse in China machten jedoch Gairdners optimistische Vorhersagen zunichte, während er sich ironischerweise für Afrika in seiner globalen Strategie nur am Rande interessiert hatte. Doch das Titelbild seines Buchs konterkarierte seine Erwartungen. Es zeigt den Planeten Erde in einem von Sternen übersäten schwarzen Universum. China und Japan sind darauf gar nicht zu sehen, ebenso wenig Amerika. Europa und Indien befinden sich an der Peripherie. Im Zentrum steht Afrika. In Edinburgh waren 1 215 Delegierte anwesend: 509 Briten, 491 Nordamerikaner, 169 vom europäischen Kontinent, 27 aus den „weißen“ Kolonien.81 Ein ernsteres Problem als das angelsächsische Übergewicht war jedoch die Tatsache, dass so wenige Vertreter aus der „nichtwestlichen“ Welt zugegen waren, das heißt aus den Kirchen Asiens oder Afrikas, Südamerikas oder des Pazifiks. Insgesamt nahmen 18 Vertreter aus Asien teil (acht Inder, vier Japaner, drei Chinesen, ein Koreaner, ein Birmane und ein Türke). Auch eine Handvoll Afroamerikaner waren dabei. Weil aber diese nicht westlichen Christen nicht unter die Definition des „Missionars“ fielen, wurde ihre Anwesenheit mit Gleichgültigkeit quittiert. Sie gaben der Konferenz eine gewisse exotische Färbung, spielten aber keine wesentliche Rolle. Verbreitet war die Haltung: „Die Konferenz war eine Versammlung von Führungskräften der Mission und von Missionaren; indigene Christen waren ein fragwürdiger

80 Gairdner, Edinburgh 1910, 12. 81 Stanley, The World Missionary Conference, 12.

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8. Die Weltmissionskonferenz in Edinburgh im Jahr 1910

und teurer Luxus, deren Anwesenheit nicht zwingend war für den Zuschnitt der Veranstaltung.“82 Die Konferenz ließ eine generell wohlwollende Haltung gegenüber dem Imperialismus erkennen, und wenn es darum ging, Völker und Religionen einer Skala von „zivilisiert“ bis „barbarisch“ und „hochstehend“ bis „primitiv“ zuzuordnen, zeigte sie sich sogar enthusiastisch. Trotz dieser Unzulänglichkeiten gelangen in Edinburgh auch gehaltvolle Reflexionen über die Begegnung mit anderen Religionen (einschließlich der afrikanischen Religionen), über den Wert der Erziehung im missionarischen Projekt und ihre übergreifenden Zwecke und Zielsetzungen sowie über das Vorankommen der Eigenständigkeit der nicht westlichen christlichen Gemeinschaften. Eines der markantesten Merkmale der Konferenz von 1910 war, dass sie die protestantische Missionsbewegung mehr oder weniger geschlossen versammelte. Sowohl die großen Missionsgesellschaften als auch die neueren Glaubensmissionen nahmen teil (und sogar die anglikanischen Anglo-Katholiken, die nicht unbedingt mit Protestanten in Verbindung gebracht werden wollten). Der Slogan „Evangelisation der Welt in dieser Generation“, auf den sich Kenneth Ross in seiner Bewertung der Tagung bezogen hatte, stammte tatsächlich von einer studentischen Konferenz im Jahr 1890. Er war damals von Gustav Warneck als naive Stellungnahme zur Mission kritisiert worden. Doch der Slogan schaffte es, junge Nachwuchskräfte zu motivieren, und zwar sowohl jene, die voller Optimismus in der Missionsbewegung den schrittweisen Ausbau des Reiches Gottes auf Weltebene sahen, als auch die Pessimisten, die die Verkündigung des Evangeliums zu den „unerreichten“ Völkern als Vorbereitung für die Wiederkehr Christi sahen, die das Ende dieser Welt bringen würde, die auf ihre Zerstörung zuraste. Ein Kennzeichen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war der Bruch zwischen dem liberalen Protestantismus und der ökumenischen Bewegung einerseits und der konservativen Missionsbewegung, die oft als „fundamentalistisch“ bezeichnet wurde und die liberale protestantische Bewegung wegen ihrer „Social Gospel“Ideale kritisierte, andererseits. Die Spannung blieb nicht ohne Wirkung auf die nicht westlichen Formen des Christentums, auch wenn diese Dichotomie manchmal eher die westlich-protestantischen Konflikte widerspiegelt, als das nicht westliche Christentum treffend darzustellen. Gewiss aber ließen sie deutlich die Bruchlinien innerhalb der Missionsbewegung im 20. Jahrhundert erkennen. Die denkwürdigste Rede auf der Edinburgher Konferenz hielt Vedanayagam Samuel Azariah, selbst Missionar und Prediger, Gründer der Indian Missionary Society, der wenig später der anglikanische Bischof von Dornakal werden sollte. Er begann mit der Feststellung, dass „das Problem der Rassenbeziehungen eines der ernstesten Probleme ist, vor denen die Welt heute steht“. Es gebe „eine gewisse Distan-

82 Stanley, The World Missionary Conference, 104.

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Die protestantische Missionsbewegung im 19. Jahrhundert

ziertheit, einen Mangel an gegenseitigem Verständnis und Offenheit füreinander, einen großen Mangel an freimütigem Austausch und an Freundlichkeit“. Freundschaft aber sei mehr als „herablassende Liebe“. „Allzu oft versprecht ihr uns Throne im Himmel, aber ihr bietet uns keinen Platz in eurem Wohnzimmer an.“ „Die überbordenden Reichtümer der Herrlichkeit Christi können weder vom Engländer, vom Amerikaner oder vom Kontinentaleuropäer allein erfasst werden, noch von den Japanern, den Chinesen und den Indern aus sich heraus – sondern nur von uns allen gemeinsam, wenn wir zusammenarbeiten, miteinander beten und gemeinsam das vollkommene Bild unseres Herrn Jesus Christus sehen lernen […]. Durch alle kommenden Zeiten hindurch wird sich die indische Kirche in Dankbarkeit erheben, um den Heldenmut und die sich selbst verleugnenden Mühen der Gemeinschaft der Missionare zu bezeugen. Ihr habt uns eure Güter gebracht, um die Armen zu speisen. Ihr habt eure Körper gegeben, auf dass sie verbrannten. Wir aber bitten auch um Liebe. Gebt uns FREUNDE!“

Übersetzung: Norbert Reck

Literatur Anderson, Gerald H. u. a. (Hrsg.), Mission Legacies. Biographical Studies of Leaders of the Modern Missionary Movement, New Haven 1994. Anderson, Gerald H. (Hrsg.), Biographical Dictionary of Christian Missions, New York 1998. Bosch, David J., Transforming Mission. Paradigm Shifts in Theology of Mission, Maryknoll 1991. Daily, Christopher A., Robert Morrison and the Protestant Plan for China, Hongkong 2013. Girardot, Norman J., The Victorian Translation of China. James Legge’s Oriental Pilgrimage, Oakland 2002. Manktelow, Emily J., Missionary Families. Race, Gender and Generation on the Spiritual Frontier, Manchester/New York 2013. Miller, Jon, Missionary Zeal and Institutional Control. Organizational Contradictions in the Basel Mission on the Gold Coast 1828–1917, Grand Rapids 2003. Stanley, Brian (Hrsg.), Christian Missions and the Enlightenment, London/New York 2001. Stanley, Brian, The World Missionary Conference. Edinburgh 1910, Grand Rapids 2009. Stock, Eugene, The History of the Church Missionary Society. Its Environment, its Men and its Work, (4 Bde.), London 1899–1916. Walls, Andrew, Missions, in: Cameron, Nigel M. de S. (Hrsg.), Dictionary of Scottish Church History and Theology, Edinburgh 1993, 567–594. Ward, Kevin/Stanley Brian (Hrsg.), The Church Mission Society and World Christianity 1799–1999, Grand Rapids 2000. Warneck, Gustav, Evangelische Missionslehre, 5 Bde., Gotha 1887–1905.

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Schwarzes Meer

Das Russische Kaiserreich von Peter I., d. Großen bis 1914

Kairo

OSMANISCHES REICH

ga

1801

Tiflis

PERSIEN

1868

Buchara

1865

Taschkent

1884

Merv

1873

Chiwa

Teheran

Kaspisches Meer

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Konstantinopel

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Donau

KRIM 1783

Moskau

KONGRESSPOLEN 1815

1721

St. Petersburg 1703 ESTLAND/ LIVLAND

1809

FINNLAND

Nordpolarmeer

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1875

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CHINESISCHES REICH

1896

ÄUSSERE MONGOLEI

Irkutsk

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Beijing

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(russisch)

1898–1905

Port Arthur

1860

AMURGEBIET

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Edo

JAPAN

(südliche Teil 1905 an Japan)

1875

SACHALIN

1697

KAMTSCHATKA

Tschuktschen

seit 1867 zu den Vereinigten Staaten

Yukon

Alaska

RUSSISCHAMERIKA

Grenzverlauf 1914

Russisches Reich beim Regierungsantritt Peters d. Gr. 1689

Pazifischer Ozean

Nordpolarmeer

DAS CHRISTENTUM

IN

RUSSLAND 1700–1917

Christian Gottlieb

1. Russlands Konturen vom frühen 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert Die Russische Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg brachte im Jahr 1745 eine Neuerscheinung von weitreichender Bedeutung heraus: einen Generalatlas des Russischen Reichs, den Atlas Russicus. Er erschien in einer lateinischen, französischen, deutschen und russischen Ausgabe. Der gewichtige Foliant war über zwanzig Jahre lang vorbereitet worden und präsentierte mit einer Reihe detaillierter Landkarten das Ergebnis einer erstaunlichen kartografischen Leistung: die Kartierung des gesamten Russischen Reichs von der Ostsee bis zur Beringstraße. Zum ersten Mal in der Geschichte erschien Russland buchstäblich als Ganzes auf der Weltkarte. Die Russen und ebenso die Westeuropäer konnten sich nun mit den exakten natürlichen und politischen Grenzen des Landes vertraut machen und sich der Größe des Reichs bewusst werden. Darüber hinaus zeigte der Atlas deutlich, wie der Ural dieses gewaltige Territorium in ein relativ kleines westliches Kernland und ein ausgedehntes Kolonialreich im Osten teilte. Auf diese Weise beantwortete der Atlas auch eine Frage von entscheidender Bedeutung für die Identität Russlands und Europas insgesamt. Seit diesem Zeitpunkt ist allgemein anerkannt, dass Russland geografisch zu Europa gehört, während das Uralgebirge als natürliche geografische Grenze zwischen Europa und Asien betrachtet wird.1 Doch nicht nur die rein kartografische Leistung ist bedeutsam – der Atlas ist auch ein Zeugnis einer weit größeren Errungenschaft, nämlich der fortschreitenden Nationsbildung oder genauer der Staatsbildung. Er dokumentiert die von den Moskauer Großfürsten – den späteren großrussischen Zaren – seit der Mitte des 15. Jahrhunderts betriebene erfolgreiche Vereinigung der meisten der russischen Fürstentümer und Ländereien in Europa sowie die enorme Ausdehnung auf nichtrussisches bzw. nichtchristliches Territorium, die mit der Einnahme von Kasan im Jahr 1552 begann. Als der Atlas erschien, war es dem moskowitischen Russland bereits gelungen, sich nach Westen auszudehnen: 1654 in die östliche Ukraine (wo

1 Cracraft, James, The Revolution of Peter the Great, Cambridge/Mass. 2003, 96. Der Titel erscheint hier fälschlich als „Atlas Russica“.

271

Das Christentum in Russland 1700–1917

das russische Christentum im 10. Jahrhundert seinen Anfang genommen hatte), 1710 nach Estland und in Teile von Lettland, in das gesamte Territorium östlich des Urals und nördlich des 55. Breitengrades sowie in einige, weiter südlich liegende Gebiete. Die folgende Expansion gegen Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts sollte die Grenzen noch weiter hinausschieben. In Europa dehnte sich das Reich weiter nach Westen (westliche Ukraine, Weißrussland, Polen, Litauen, das restliche Lettland und Finnland) und nach Süden (Schwarzmeerküste einschließlich der Krim sowie Transkaukasien) aus. In Asien expandierte es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die heutigen Länder Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Tadschikistan sowie im fernen Osten in das Gebiet nördlich und östlich der chinesischen Provinz Mandschurei. Dort erinnert noch der Name der Hafenstadt an die russische Eroberung, die im Jahr 1860 am Japanischen Meer gegründet wurde: Wladiwostok – „Beherrscher des Ostens“. Im späten 18. Jahrhundert reichte das Russische Reich dann sogar über Asien hinaus bis auf den nordamerikanischen Kontinent: Russen waren die ersten Europäer, die in Alaska siedelten, dem Gebiet, das bis zu seinem Verkauf an die Vereinigten Staaten 1867 in russischem Besitz war. Natürlich ist der Atlas Russicus für sich genommen kein Dokument der Geschichte der Christen in Russland. Doch seine detaillierten Abbildungen geben uns einen frühen Gesamteindruck von der konkreten Topografie des Gebiets, in dem das russische Christentum sich zu entfalten hatte. Es handelt sich ja nicht nur um das flächenmäßig größte Land der Erde, sondern auch – für den Großteil des hier vor Augen stehenden Zeitraums – um die Heimat der größten christlichen Bevölkerungsgruppe der Welt: von etwa 15 Millionen Orthodoxen im frühen 18. Jahrhundert bis zu etwa 115 Millionen im frühen 20. Jahrhundert.2 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung besonders stark, sie verdoppelte sich nahezu. Dennoch blieb im Verlauf beider Jahrhunderte Russlands Bevölkerung weitgehend ländlich und bäuerlich. Als die russischen Städte sich etwas mehr auf Handel und Industrie verlegten, sank ihr Bevölkerungsanteil sogar von 11 Prozent in den 1740er Jahren auf 7 Prozent in den 1860ern.

2 Laut Kartasˇev, Anton V., Ocˇ erki po istorii Russkoj Cerkvi, Bd. II, Minsk 2007, 329–330 (in den Zahlen sind die Christen anderer Konfessionen enthalten). Hilarion (Alfejew), Pravoslavie, Bd. I, 4. Aufl. Moskau 2012, 168, nennt etwas niedrigere Zahlen, jedoch eine höhere Wachstumsrate: von ca. 10 Millionen Orthodoxen im Jahr 1722 bis zu 98.363.874 im Jahr 1914. Tsypin, Vladislav, Istoriia Russkoi Pravoslavnoi Tserkvi: Sinodal'nyi i noveishii periody (1700–2005), 5. Aufl. Moskau 2012, 792, gibt die Gesamtbevölkerung Russlands für das Jahr 1724 mit ca. 14 Millionen an (wobei vermutlich alle als orthodox veranschlagt werden) und mit ca. 178.400.000 für das Jahr 1914 (wovon ca. 105 Millionen als orthodox gezählt werden). Vgl. auch Werth, Paul W., The Tsar’s Foreign Faiths. Toleration and the Fate of Religious Freedom in Imperial Russia, Oxford 2014, 4, 37; Pipes, Richard, Rußland vor der Revolution. Staat und Gesellschaft im Zarenreich, München 1977, 172; Pospielovsky, Dimitry, The Orthodox Church in the History of Russia, Crestwood, NY 1998, 198–199.

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1. Russlands Konturen vom frühen 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert

Auch wenn Städte und Industrie anschließend merklich zu wachsen begannen, stellten die Bauern um 1914 immer noch rund 80 Prozent der Bevölkerung. So blieb die Landwirtschaft die tragende Säule der Ökonomie. Im Verhältnis zum gewaltigen Umfang des Territoriums war die Bevölkerung jedoch nicht groß – sie verteilte sich auch weiterhin nur wenig und sehr ungleichmäßig über das Land. Während der beiden hier betrachteten Jahrhunderte lebte die große Mehrheit der russischen Bevölkerung im europäischen Teil Russlands. Nur ein kleiner, wenn auch wachsender Teil breitete sich über Sibirien aus, vor allem im gastlicheren Süden – eine Migrationsbewegung, die erst mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einen bedeutenden Aufschwung erlebte. Sibirien wurde allerdings nicht nur von Russen bevölkert, sondern von Anfang an auch von einigen Hundert nichteuropäischen und nichtchristlichen ethnischen Gruppen mit ungefähr 120 verschiedenen Sprachen.3 Ebenso bevölkerten nicht nur Russen den europäischen Teil Russlands. Dort, westlich vom Ural, verbanden sich imperiale Expansion und zaristische Einwanderungspolitik, um ganze Völkerschaften von Finnen, Esten, Letten, Litauern, Deutschen, Polen, Weißrussen, Ukrainern, Tataren, Juden, Kaukasiern und anderen ins Russische Reich zu holen. Auch wenn all diese nichtrussischen Völker und Stämme als Einzelne relativ klein, die meisten sogar sehr klein blieben, waren sie zusammengenommen den Russen in der Spätphase des Reichs zahlenmäßig überlegen – bei der Volkszählung von 1897 hatten die ethnischen Russen noch einen Anteil von etwa 44 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Ihre Eingliederung ins Zarenreich trug unausweichlich zum zunehmend multinationalen, multikulturellen und multireligiösen Charakter des Landes bei. Russland blieb nicht die Heimat der Russen allein, sondern erlangte – möglicherweise zum Schaden seiner eigenen nationalen Entwicklung – supranationalen Charakter.4 Der Atlas veranschaulicht also zwei Themen, die von höchster Bedeutung sind, wenn man das Christentum in Russland im Licht der globalen christlichen Geschichte verstehen will: zum einen die Frage der europäischen Identität Russlands und zum anderen die Expansion Russlands, den russischen Einfluss in Europa und im nördlichen Teil Asiens sowie die Rolle des Christentums in beiden Bereichen. Wie oben beschrieben, ist mit Christentum in diesem Zusammenhang in erster Linie das orthodoxe Christentum gemeint, wie es von der russisch-orthodoxen Kirche und ihren verschiedenen Verzweigungen repräsentiert wird. Im gesamten hier diskutierten Zeitraum blieb die Orthodoxie die vorherrschende Religion im Zarenreich, wenn auch im Verlauf seiner Expansion mit abnehmender Tendenz.

3 Hartley, Janet M., Siberia. A History of the People, New Haven 2014, 19 und 164–167. 4 Hosking, Geoffrey, Russland. Nation und Imperium 1552–1917, Berlin 2000, 19 und 25, interpretiert die russische Geschichte ausgehend von der These, dass die Errichtung des Zarenreichs die Entwicklung der russischen Nation behindert hat.

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Das Christentum in Russland 1700–1917

Machten die Orthodoxen (einschließlich der sog. „Altgläubigen“, s. u.) im Jahr 1719 noch 84,5 Prozent der Bevölkerung aus, war ihr Anteil 1897 auf 69,4 Prozent gefallen.5 Obwohl also der Anteil der Russen in der ethnischen Zusammensetzung des Reichs auf weniger als die Hälfte fiel, behauptete die russisch-orthodoxe Religion sich immer noch bei der überwiegenden Mehrheit. Aus diesem Grunde blieben die Orthodoxie und die orthodoxe Kirche ein wichtiges integratives Moment bei den Bemühungen, das Reich zusammenzuhalten. Für dessen Bevölkerung setzte die orthodoxe Kirche 1722 insgesamt 61 111 Geistliche in 15 761 Kirchen ein. Ihre Zahl erreichte im Jahr 1908 den Höchststand von 107 906 Geistlichen in 61 959 Kirchen (nicht alle davon waren Parochialkirchen), das heißt, ihre Zahl verdoppelte sich nicht ganz, während die Gemeinden um das Sieben- bis Zehnfache wuchsen. Ungefähr im gleichen Zeitraum wuchs die Zahl der Ordensleute von 25 207 Mönchen, Nonnen und anderen mit einem Kloster verbundenen Menschen im Jahr 1724 auf 94 629 im Jahr 1914, wenn auch mit beträchtlichen Schwankungen.6 Nach dem Fall Konstantinopels im Jahr 1453 war Russland nicht nur das größte orthodoxe Land, sondern für die folgenden vier Jahrhunderte (und den Großteil des hier behandelten Zeitraums) auch das einzige orthodoxe Land, das sich nicht unter nichtorthodoxer Herrschaft befand. Es war also das einzige Land, in dem sich die Orthodoxie frei und ungehindert entfalten konnte. Andere orthodoxe Länder in Europa erlangten die Unabhängigkeit erst im 19. Jahrhundert (Griechenland 1830; Bulgarien, Rumänien, Serbien und Montenegro 1877–1878), zum Teil mit russischer Unterstützung. In Russland hingegen brachte die stetige Expansion des Reichs auch die zunehmende Präsenz von Katholiken, Protestanten und anderen Formen des Christentums sowie von nichtchristlichen Religionen innerhalb der eigenen Grenzen mit sich, auch wenn keine von ihnen je mit der Orthodoxie konkurrieren konnte. Im Gegenteil: Nichtorthodoxe Christen sahen sich mehr oder minder unter Druck, zur Orthodoxie zu konvertieren, während Nichtchristen – vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zum Ziel orthodoxer Missionierungsbemühungen wurden. Als die im Lande vorherrschende Konfession bestimmt die russisch-orthodoxe Kirche mit ihrer Geschichte auch die chronologischen Grenzmarkierungen dieses Kapitels: 1700–1917. Aufgrund der Kirchenreform, die Zar Peter der Große verfügt hatte, ist dieser Zeitraum dadurch gekennzeichnet, dass die russisch-orthodoxe Kirche ihres Patriarchen, d. h. ihrer unabhängigen Leitung, beraubt wurde. Obwohl die Vakanz des Patriarchats, zu der es im Jahr 1700 gekommen war, ursprünglich nur ein Provisorium sein sollte, wurde sie 1721 für dauerhaft erklärt: Das Patriar-

5 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 37. 6 Tsypin, Istoriia Russkoi, 793–796; Hosking, Russland, 286.

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1. Russlands Konturen vom frühen 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert

chat wurde formell aufgehoben und durch eine staatliche Verwaltungsbehörde ersetzt, die als der „(Aller-)Heiligste Regierende Synod“ bekannt wurde. Deshalb wird diese Epoche der russischen Kirchengeschichte traditionell als „Synodale Periode“7 bezeichnet, auch wenn die Synodalherrschaft formell nicht schon im Jahr 1700 begonnen hat. In der Begrifflichkeit der Profangeschichte fällt dieser Zeitraum fast exakt mit dem des petrinischen Imperiums zusammen. Dabei markieren die Reformen Peters des Großen den Beginn dieser Epoche und die Revolutionen von 1917 deren Ende. Nicht nur die beinahe vier Jahrhunderte des Zarentums gingen damit zu Ende, auch das Amt des Patriarchen wurde fünf Tage nach dem bolschewistischen Umsturz wieder eingeführt. Die Epoche, deren grundlegendes Merkmal das Synodalregime wurde, bietet sich aufs Ganze gesehen nicht für augenfällige Unterteilungen an. Dennoch können im Verlauf dieser 217 Jahre einige Hauptphasen unterschieden werden. So markiert das Jahr 1721 das Ende der anfänglichen Übergangsphase, und die Säkularisation des kirchlichen Grundbesitzes, die Katharina II. im Jahr 1764 durchführte, kann als das wichtigste Ereignis im weiteren 18. Jahrhundert gelten. Im Übrigen sind die Regierungszeiten der aufeinanderfolgenden Monarchen die offenkundigsten Kriterien für eine Periodisierung.8 Dies gilt auch für das gesamte 19. Jahrhundert, wobei es allerdings eine klare Trennlinie zwischen den beiden Jahrhunderten gibt – gekennzeichnet durch die Machtübernahme Alexanders I. im Jahr 1801. Das 18. Jahrhundert kann als Zeit der widerstrebenden Anpassung an die Reformen Peters des Großen betrachtet werden; das 19. und das frühe 20. Jahrhundert sind indessen durch deren allmähliche Verankerung, aber auch zunehmende Gegenreaktionen gekennzeichnet, sowohl in der orthodoxen Kirche als auch in der übrigen Gesellschaft. Besondere Vorkommnisse wie der Angriff Napoleons im Jahr 1812, der Aufstieg der Slawophilen-Bewegung in den 1840er Jahren und die Reformen Alexanders II. in den 1860er Jahren waren ebenfalls auf direkte oder indirekte Weise wirkmächtig. Zumindest ein Historiker neigt dazu, die Regentschaft des letzten Zaren, Nikolaus II. (1894–1917), wegen dessen persönlicher Frömmigkeit (und vielleicht angesichts seiner Heiligsprechung im Jahr 2000) als eigenständige Periode anzusehen.9 Andere mochten dies nicht als entscheidenden Unterschied sehen, doch ein bedeutsames Ereignis in seiner Regierungszeit markiert, wenigstens im Grundsätzlichen, einen Wendepunkt: Die Einführung der Religionsfreiheit im Jahr 1905 brachte das Ende der über lange Zeit bestehenden Begünstigung der russisch-orthodoxen Kirche. Man könnte die Regentschaft von

7 Vgl. etwa Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 321 und passim; Hilarion, Pravoslavie, Bd. I, 154 und passim; Tsypin, Istoriia Russkoi, 8 und passim; Avdeev, R. I. (Hrsg.), Istoriia Russkoj Pravoslavnoj Tserkvi, Bd.II, Moskau 2015, 293; Pospielovsky, Orthodox Church, 16. 8 Durchgehend z. B. bei Kartasˇev, Ocˇ erki; Tal'berg, Nikolai, Istoriia Russkoi Tserkvi, 2. Aufl. Moskau 2009; Tsypin, Istoriia Russkoi; Avdeev, Istoriia Russkoj. 9 Tsypin, Istoriia Russkoi, 6 und 296.

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Das Christentum in Russland 1700–1917

Nikolaus auch als Übergangsperiode betrachten, weil in ihr das Kirchenkonzil vorbereitet wurde, das schließlich nach dem Sturz des Zaren das Patriarchat wieder einführte. Auf jeden Fall verschwand das Synodalregime definitiv zusammen mit dem Zaren im Jahr 1917. Auch wenn dieser Teilband das 19. Jahrhundert in den Blick nimmt, setzt dieses Kapitel aus diesen Gründen bereits um 1700 ein.

2. Die Reformen Peters des Großen Die Reformen Peters des Großen (1672–1725; Alleinherrscher ab 1696) gelten gemeinhin als Wasserscheide in der russischen Geschichte, für die Profangeschichte ebenso wie für die Kirchengeschichte, denn mit ihnen wurden eine ganze Reihe westeuropäischer Gepflogenheiten in die russische Gesellschaft eingeführt. Obwohl westliche Einflüsse für Russland nicht völlig neu waren – manche waren bereits während der Herrschaft von Ivan III. (1462–1505) und Ivan IV. (1547–1584) wahrzunehmen, und einige konnten ebenso mit der gerade eingegliederten Ukraine in Verbindung gebracht werden10 – kann Peter dennoch zu Recht als der wesentliche Impulsgeber für westlich inspirierte Reformen gesehen werden. Anders als seine Vorgänger, die lediglich von verschiedenen westlichen Erfindungen Gebrauch machten, hat Peter als Erster aktiv versucht, ganz Russland nach dem Vorbild Westeuropas umzubauen. Das zeigt sich am deutlichsten an Peters neuer Hauptstadt Sankt Petersburg, die im Jahr 1703 an den sumpfigen Ufern der Newa in der westlichsten Ecke Russlands gegründet wurde. Die Vielzahl, die Reichweite und die Wirkkraft seiner Reformen veränderten Russland in nicht mehr rückgängig zu machender Weise, wie dies nur wenigen anderen Herrschern gelungen ist. Darüber hinaus eröffneten Peters Reformen nicht nur einen neuen Abschnitt in der Geschichte Russlands, sondern auch in der Geschichte Europas und des europäischen Christentums insgesamt, denn sie führten zum Auftritt Russlands auf der gesamteuropäischen Bühne, auf der es bis dahin kaum eine Rolle gespielt hatte. Mit Russland als neuer europäischer Großmacht wurde Europa, wie es nun vom Atlas Russicus definiert wurde, mit einem Mal ein viel größerer, vielfältigerer und komplexerer Ort. Gewissermaßen wurde es nun erst wirklich „Europa“. Bis zum 18. Jahrhundert hätten weder die Russen noch die Westeuropäer sich selbst oder einander als Europäer definiert. Die Russen betrachteten sich als „orthodox“ (pra-

10 Vgl. Pospielovsky, Orthodox Church, 106; Nørretranders, Bjarne, The Shaping of Czardom under Ivan Groznyj, Copenhagen 1964, 63; Onasch, Konrad, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte (Die Kirche in ihrer Geschichte 3), Göttingen 1967, 88.

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2. Die Reformen Peters des Großen

voslavnje), die Westeuropäer bezeichneten sich als Angehörige der „Christenheit“ (Christianitas), gemäß der Definition des westlichen oder lateinischen Christentums. Mit dem plötzlichen Aufstieg des Russischen Reichs jedoch – der mit anderen Entwicklungen in Westeuropa zusammenfiel – erschien nun ein umfassenderes, neutraleres und säkulareres Konzept von Europa angebrachter.11 Ob aber Russland tatsächlich im Vollsinn als „europäisch“ gelten darf, ist bis heute sowohl in den Augen von Russen als auch von Europäern umstritten. Ist Russland wirklich ein integraler Teil Europas – nicht nur in geografischen Begriffen, sondern auch in einem kulturellen, zivilisatorischen und religiösen Sinn? Und wenn die Antwort „Ja“ lauten sollte, hat dann die russische Expansion die Grenzen „Europas“ – oder vielleicht sogar des „Westens“ – bis hin zur Beringstraße erweitert? Wie diese Fragen zeigen, sind die Perspektiven, die Peters Reformen eröffneten, im wörtlichen Sinne weitreichend, ja von weltweiter Bedeutung. Als Teil Europas hatte Russland Anteil an der allgemeinen Ausweitung der europäischen Vorherrschaft über die übrige Welt, die sich bis tief ins 20. Jahrhundert hinein erstrecken sollte. Wie andere europäische Imperien setzte auch Russland viel daran, das Christentum auf seinem Territorium zu verbreiten und so zu dessen globaler Expansion beizutragen. Zugleich aber war Russland auch das erste nichtwestliche Land, das, obwohl christlich, einen Kurs der „Verwestlichung“ einschlug, und so wurde es selbst zu einer Triebkraft der Verwestlichung, ein Vorläufer für zahlreiche andere Länder auf dem Globus, die sich, ob sie sich nun christlich oder anders verstanden, auf einen ähnlichen Weg begaben. Auf einen Weg, der für Länder, die sich modernisieren wollten, vorbestimmt schien – und vielleicht noch immer vorbestimmt scheint.12 Aus dieser Perspektive wurden Peters Reformen nicht ohne Grund als „Revolution“ bezeichnet. Gewiss kann man hier – nicht zuletzt mit dem spezifischen Blick auf die Kirchengeschichte – von einem eindeutigen „Vorher“ und „Nachher“ sprechen.13 Ungeachtet ihres epochalen Charakters folgten die Reformen keinem zuvor ausgearbeiteten großen Entwurf. Vielmehr scheinen sie zunächst von der konkreten militärischen Notwendigkeit diktiert worden zu sein, den Krieg gegen Schweden zu gewinnen (den Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721), zu dessen Beginn Russland nicht sehr erfolgreich war. Peters Reform des russischen Heeres (die schließlich zum Sieg Russlands und zum Ende der schwedischen Vorherrschaft führte) machte bald deutlich, dass sie, sollte sie Bestand haben, von einer Reihe anderer Reformen der russischen Gesellschaft unterfüttert werden musste. Weil

11 Davies, Norman, Europe. A History, London 1997, 6; Malia, Martin, Russia under Western Eyes. From the Bronze Horseman to the Lenin Mausoleum, Cambridge, MA 1999, 18. 12 Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 325. 13 Raeff, Marc, Political Ideas and Institutions in Imperial Russia, Boulder 1994, Kap. „The Enlightenment in Russia and Russian Thought in the Enlightenment“, 293; Cracraft, Revolution, passim; Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 323.

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ein Militär von zeitgemäßem europäischem Standard keinen Bestand haben konnte ohne eine effiziente Verwaltung, eine starke Wirtschaft und eine solide Ausbildung, ergab sich die Notwendigkeit für eine Reihe weitreichender Reformen im Bereich der Verwaltung, Diplomatie, Wirtschaft, Kultur, Erziehung usw. Doch erst im letzten Jahrzehnt seiner Regentschaft begann Peter, der anfangs viele Reformmaßnahmen entsprechend den Erfordernissen der jeweiligen Situation eingeleitet hatte, sein Reformprogramm zu systematisieren. Von großen Projekten wie der Gründung einer russischen Marine und einer neuen Hauptstadt bis hin zu kleinteiligen Verordnungen sollten die Reformen Peters eine tiefe und bleibende Wirkung entfalten. Die Vielzahl von Ideen, Konzepten, Verfahren, Methoden, Handwerkskünsten, Werkzeugen, großen und kleinen Dingen, die es nie zuvor in Russland gegeben hatte, machte sich im Alltagsleben bemerkbar. Peters Reformen nahmen greifbare Gestalt an, vor allem in der neuen Hauptstadt. Mit ihnen trat eine große Zahl westlicher Fachleute auf den Plan: Architekten, Ingenieure, Künstler, Handwerker, Naturwissenschaftler, Gelehrte, Verwaltungskräfte und andere, die Peters Einladung angenommen hatten, sich in Russland niederzulassen und bei der Verwirklichung seiner zahlreichen Projekte zu helfen. Auch wenn scheinbar hinter den Reformen kein Gesamtkonzept, keine umfassende Theorie stand, wiesen sie dennoch eine Anzahl von Gemeinsamkeiten auf. Außer der Tatsache, dass sie westeuropäischen Inspirationen folgten, kennzeichnete sie im Allgemeinen ihre rationalisierende Ausrichtung, ihre radikale Neuartigkeit und die Ungeduld und Rücksichtslosigkeit, mit der sie durchgesetzt wurden. Alle Innovationen wurden eingeführt und gerechtfertigt mit dem wiederholten Verweis auf das „Gesamtwohl“ (obshchaia pol'za) der Gesellschaft. Dieses Regierungskonzept, allem Anschein nach inspiriert von Vertragstheorien westeuropäischer politischer Denker, bildete die theoretische Grundlage von Peters autokratischer Herrschaft. In ihr kann man durchaus ein frühes Beispiel eines „aufgeklärten Absolutismus“ sehen. Um es anders auszudrücken, was Peter der Große mit seinen Reformen erreicht hat, kann man von einem Prozess der „Modernisierung“ sprechen. Auch wenn dieser Begriff allgemein als zu vage und ethnozentrisch kritisiert wird, bleibt er vor allem im russischen Kontext relevant. Auf jeden Fall sahen sich Peter und seine Mitstreiter eindeutig als selbstbewusste Modernisierer, auch wenn sie sich nicht mit diesem Wort bezeichneten. Die zahlreichen europäischen Ideen und Gepflogenheiten wurden ja gerade deshalb eingeführt, weil man sie als neu, besser, effizienter und moderner ansah als ihre altmodischen russischen Entsprechungen (sofern es diese überhaupt gab). Der Präzedenzfall, den Peter geschaffen hatte, wurde allmählich zu einem Grundanliegen der Regierungspolitik und letztlich zu einer Tradition für die nachfolgenden Regierungen des petrinischen Reichs.14 Die

14 Dixon, Simon, The Modernisation of Russia 1676–1825, Cambridge 1999, 5.

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damit implizierte Ineinssetzung von Modernisierung und Verwestlichung blieb eine Konstante in der russischen Politik, im gesellschaftlichen Denken und im kulturellen Diskurs. An Peters Führungsrolle schieden sich schon in seiner eigenen Zeit die Geister, und daran hat sich seither nichts geändert. Dies gilt vor allem im kirchlichen Kontext.

2.1. Die Kirchenreform Peters des Großen Vor diesem Hintergrund scheint es selbstverständlich, dass die russische Kirche sich Peters Vorstellung vom „Gesamtwohl“ und der neuen rationalen Ordnung von Staat und Gesellschaft ebenso fügen musste. Doch auch im Blick auf die Kirche hat es anscheinend vorher keinen längerfristigen Plan gegeben, und es dauerte lange, bis die endgültige Reform sich herausgebildet hatte: Mehr als zwanzig Jahre lang war über die Situation der Kirche nicht entschieden worden.15 Der Beginn im Oktober 1700 war dem Zufall geschuldet: Auslöser war der Tod des damaligen Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Adrian, der den Patriarchenstuhl seit 1690 innegehabt hatte. Anstatt den Prozess zur Wahl eines Nachfolgers in Gang zu bringen, entschied Peter, den Stuhl bis auf Weiteres vakant zu lassen. Auf seine Order hin wurden die bis dahin vom Patriarchat verwalteten nichtkirchlichen Angelegenheiten an geeignete Körperschaften der Zivilverwaltung übergeben, während geistliche Aufgaben Stefan Javorskij (1658–1722), dem Metropoliten von Rjasan und Murom, zufielen, und der zum Statthalter des Patriarchen ernannt wurde. Die Bevorzugung Javorskijs gegenüber mehreren anderen Kandidaten war umstritten. Javorskij war ein in Lwiw (Lwow oder Lemberg) gebürtiger Ukrainer (oder Ruthene16), der im Grenzgebiet zwischen der orthodoxen und der katholischen Welt aufgewachsen war. In eigener Person verkörperte er das Zusammentreffen von östlichem und westlichem Christentum, wobei er mehrmals vom einen zum anderen gewechselt war. Er war Absolvent der Kiewer Akademie, studierte später bei polnischen Jesuiten, war eine Zeit lang uniert, bis er nach Kiew und zur Orthodoxie zurückkehrte, um Mönch im Kiewer Höhlenkloster zu werden. Zum Professor der Philosophie, später auch der Theologie berufen, gewann er hohen Einfluss an der Kiewer Akademie, die bereits als Zentrum der „papistischen Lehre“ galt. Aus Moskauer Perspektive war dies keine Empfehlung, und Javorskij wurde als „Latinisierer“ abgestempelt – ein Vorwurf möglicher Häresie, der potenziell lebensbedrohlich sein konnte. Dennoch war der moskowitische Widerstand gegen

15 Cracraft, James, The Church Reform of Peter the Great, London 1971, 119. Avdeev, Istoriia Russkoj, Bd. II, 294–295. 16 Vgl. Brüning, Alfons, Die Russische Kirche, in: Jens Holger Schjørring/Norman Hjelm (Hrsg.), Geschichte des Globalen Christentums Teil 1 Frühe Neuzeit, Stuttgart 2017, 133.

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ihn vergeblich. Javorskijs Ernennung im Dezember 1700 war nur das sichtbarste Beispiel für die wachsende Bedeutung ruthenischer Geistlicher, die in der russischorthodoxen Kirche in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beträchtlich an Einfluss gewannen.17 Dass die Wahl des führenden Kopfes der russischen Kirche auf Javorskij fiel, kann als deutliches Zeichen dafür gesehen werden, dass Peter sich generell eine westlich inspirierte Reform wünschte. Als Ukrainer, der mit den „großrussischen“ Traditionen weniger vertraut war und stärker von der Gunst des Zaren abhing, würde Javorskij wahrscheinlich eine westlich orientierte Reform williger unterstützen als die großrussische Hierarchie. Manche Historiker sehen darin ein Zeichen, dass Peter bereits in dieser frühen Phase eine „Revolution“ in der Kirche anstrebte.18 Nichtsdestoweniger gab es für Peter auch ein noch näherliegendes Motiv. Aus diesem kann man schließen, dass sein Schritt zu jenem Zeitpunkt nicht schon in erster Linie darauf zielte, das Patriarchat als solches abzuschaffen: Der Krieg gegen Schweden erforderte die Aufbietung gewaltiger Mittel, und wenn Peter entschied, die Wahl eines neuen Patriarchen zu verschieben und die weltlichen Befugnisse des Patriarchats zu übernehmen, so geschah das vorrangig, um die Kontrolle über die Finanzen der Kirche zu erlangen.19 Dieses unmittelbare Ziel dürfte im Lichte der Beziehungen zwischen Zar und Patriarch in den letzten Jahrzehnten lediglich noch dringender erschienen sein. Dass das Verhältnis belastet war, war schon ausländischen Diplomaten aufgefallen, und auch Peter selbst hatte es bereits erfahren. Seit dem dramatischen Verlauf der Karriere des Patriarchen Nikon war es offensichtlich geworden. Dieser hatte in den 1650er Jahren versucht, seine Unabhängigkeit gegenüber dem Zaren zu behaupten und womöglich gar die Oberhoheit der Kirche über das Zarentum durchzusetzen. Nikons Haltung lebte in einigen seiner Nachfolger weiter, u. a. in Patriarch Adrian, der bei seiner Inthronisation im Jahr 1690 auf der Oberhoheit des Patriarchen über dem Zaren bestand.20 Auch wenn Peter nicht mit einem umfassenden Plan zur Reform der russischen Kirche angetreten war, machten seine ersten Schritte dennoch ein grundlegendes Prinzip seiner Einstellung deutlich: Sein Umgang mit der Kirche war vor allem von den Interessen des Staates und von einem gänzlich säkularen Verständnis des „Gesamtwohls“ geleitet. Viele Vorkommnisse in der langen Interimsperiode vor der endgültigen Reform bestätigten, dass dies seine Einstellung war – und zuletzt

17 Cracraft, Church Reform, 122–124; Skinner, Barbara, The Western Front of the Eastern Church. Uniate and Orthodox Conflict in 18th Century Poland, Ukraine, Belarus, and Russia, DeKalb, IL 2009, 92; Charipova, Liudmila V., Latin Books and the Eastern Orthodox Clerical Elite in Kiev, 1632–1780, Manchester 2006, 90–91. 18 Pospielovsky, Orthodox Church, 106. 19 Cracraft, Church Reform, 120. 20 Pospielovsky, Orthodox Church, 105; Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 89; Cracraft, Church Reform, 118.

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zeigte es auch die Reform selbst. Bis dahin nutzte Peter jede sich bietende Gelegenheit, sich in konkrete Führungsfragen der Kirche einzumischen. Er verstieß damit offen gegen das Prinzip, dass über kirchliche Angelegenheiten immer noch die Kirche selbst entscheiden sollte, und trotzte der Tatsache, dass die traditionelle Führungsstruktur aus einem Rat der Bischöfe und Metropoliten in Zusammenarbeit mit dem Statthalter des Patriarchen weiterbestand. Tatsächlich erwiesen sich die meisten der konkreten Maßnahmen, die Peter mit Blick auf die Kirche anordnete, als Vorläufer der endgültigen Reform von 1721 – wenn nicht im Detail, so doch dem Prinzip nach. Deshalb werden die Details von Peters Kirchenpolitik aus der Zeit vor der endgültigen Reform hier nicht weiter diskutiert.21 Die Kirche in diesem Klima zu führen war keine leichte Aufgabe für Javorskij, dessen latinisierende Tendenzen ihn einerseits von eher traditionell denkenden Kollegen entfremdeten, ihn aber andererseits nicht daran hinderten, die Sicht Nikons über das Verhältnis zwischen Zar und Kirche gutzuheißen, sie möglicherweise sogar zu unterstützen. Javorskijs Buch Der Fels des Glaubens (Kamen' very, erschienen um 1713) war eine leidenschaftliche Polemik gegen den Protestantismus und eine kompromisslose Verteidigung des patriarchalen Systems,22 was ihn hinsichtlich künftiger Veränderungen kaum dem Zaren empfohlen haben dürfte. Sein ständiger Einspruch gegen alles, was er als Einmischung des Zaren in rein kirchliche Angelegenheiten angesehen haben muss, war für Peter eine Enttäuschung, aber als Widerstand letztlich wirkungslos. Tatsächlich dürfte Javorskij damit nichts weiter bewirkt haben, als den Zaren in seiner Entschlossenheit zu bestärken, das Amt des Patriarchen dauerhaft abzuschaffen. Da Javorskij also nicht mit der Vorbereitung dieses Wandels betraut werden konnte, wurde ein anderer Theologe damit beauftragt, Theophan Prokopovicˇ (1681– 1738), der 1715 zum Bischof ernannt wurde. Er stammte ebenfalls aus der Ukraine und hatte einen ähnlichen Hintergrund wie Javorskij. Wie er war Prokopovicˇ Absolvent der Akademie von Kiew, hatte sich ebenfalls der unierten Kirche angeschlossen, war dann Mönch geworden und hatte seine Studien bei den Jesuiten fortgesetzt, er hatte sogar ein akademisches Jahr in Rom verbracht und in dieser Zeit ein Studium der scholastischen Theologie absolviert. Und wie Javorskij hatte er sich nach seiner Rückkehr nach Kiew umgehend wieder der Orthodoxie angeschlossen, war Mönch in Potschajiw und wenige Jahre später Dozent an der Kiewer Akademie geworden. Anders als Javorskij jedoch wurde Prokopovicˇ ein überzeugter Gegner der katholischen Kirche und neigte zunehmend der protestantischen Theologie zu. Unter seinen zahlreichen Werken findet sich eine Abhandlung über Das Recht des monarchischen Willens (Pravda voli monarshei) aus dem Jahr 1722. Darin entwickelt er eine Theorie des absolutistischen monarchischen Regierens. Nach Proko-

21 Cracraft, Church Reform, 110. 22 Cracraft, Church Reform, 130–132. Pospielovsky, Orthodox Church, 109.

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povicˇ ist der Zar der „oberste Hierarch“ und der „oberste Hirte“, weshalb gerade er die uneingeschränkte Macht um des „Gesamtwohls“ willen ausübe. Da der Wille des Volkes mit dem des Zaren übereinstimme, unterwerfe sich das Volk dem Willen des Herrschers gemäß einem „Kontrakt“ – eine Vorstellung, die deutlich den Einfluss westlicher Naturrechtstheoretiker wie Grotius, Hobbes, Pufendorf und Christian Thomasius zeigt. Man kann Prokopovicˇ darum als frühen Repräsentanten der Aufklärung in Russland bezeichnen, jedoch sollte man nicht übersehen, dass er zahlreiche Argumente auch dem byzantinischen Kirchenrecht entlehnte und dass die aufklärerische Vorstellung eines theokratischen Absolutismus sich bei ihm mit theokratischen Ideen verband, die er aus Byzanz übernommen und die Ivan der Schreckliche abgewandelt aufgegriffen hatte.23 Als enger Mitarbeiter von Peter und 1718 in Pskow geweihter Bischof kann Prokopovicˇ durchaus als Chefideologe des petrinischen Reichs gelten, ebenso als erster Historiker und Apologet von Peters Regentschaft – sozusagen ein russischer Eusebius, wenn auch von einem anderen, weltlicheren Geist getragen. Prokopovicˇ s bedeutendstes Werk war sein Geistliches Reglement (Dukhovnyi reglament)24, das er Anfang 1720 vollendete. Peter hatte es gegen Ende des Jahres 1718 in Auftrag gegeben. Als eine Art Kirchenverfassung legte das Reglement Inhalt und Voraussetzungen der russischen Kirchenreform fest, die umgehend in Kraft treten sollte. Es schuf die Grundlage für die Leitung der russischen Kirche in den folgenden knapp zwei Jahrhunderten, d h. bis zum endgültigen Zusammenbruch des petrinischen Reichs in den Revolutionen von 1917. Als womöglich entscheidendstes Dokument der russischen Kirchengeschichte scheint es auch in der gesamten Geschichte der Orthodoxie einzigartig zu sein. Vor dem geistigen Hintergrund der russischen Orthodoxie war das Geistliche Reglement sicher radikal. Es enthält keine der byzantinischen Tendenzen, die sonst im Werk von Prokopovicˇ zu finden sind, sondern macht einen ausgesprochen „unbyzantinischen“ Eindruck und ist ein klarer Bruch mit der Tradition aller früheren orthodoxen Kirchenordnungen. Tatsächlich haben sowohl Zeitgenossen als auch später Historiker darauf hingewiesen, dass das Reglement nicht zuletzt durch seine konsequente Anwendung des protestantischen Prinzips vom Vorrang der Schrift vor der Tradition hervorsticht, womit eine relative Herabstufung der Institution Kirche verbunden ist. Die sich daraus ergebende Definition von Kirche war jedoch keineswegs spezifisch protestantisch oder typisch für irgendeine andere Konfession. Sie versteht Kirche auch nicht als höchste Lehrautorität oder als Werkzeug

23 Madariaga, Isabel de, Autocracy and Sovereignty, in: dies., Politics and Culture in Eighteenth-Century Russia. Collected Essays, London 1998, 45f.; Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 90–92; Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 338; Cracraft, Church Reform, 49–62. 24 Cracraft, Church Reform, viii–ix und passim, bevorzugt die Übersetzung „Eccleciastical Regulation“ (Kirchliches Reglement).

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des Heils. Vielmehr bedient sie sich der Begrifflichkeit eines einfachen bürgerlichen Utilitarismus und beschreibt Kirche als „eine Vereinigung des Volkes Gottes innerhalb einer Gesellschaft oder einer Republik von Bürgern mit dem Zweck, einander besser kennenzulernen, einander eine Hilfe zu sein, um sich, mit Gottes Hilfe, besser gegen ihre Feinde verteidigen zu können“.25 Diese Ekklesiologie mochte vage sein, doch sie besagte unausgesprochen, dass die traditionelle hierarchische Ordnung der orthodoxen Kirche zu einer Angelegenheit von zweitrangiger Bedeutung zurückgestuft wurde, und das erlaubte es Prokopovicˇ , die Kirche in das Gesamtgefüge des Staates einzubinden. Da die Unterordnung der Kirche unter den Staat eindeutig der Zweck von Peters Reform war, war die Anwendung „protestantischer“ Prinzipien ganz passend, so umstritten sie auch sein mochten.26 Die bedeutendste Veränderung betraf die Art und Weise der Kirchenleitung. An die Stelle des Patriarchenamts setzte das Reglement ein neues Gremium, das „Geistliche“ oder „Kirchliche Kollegium“ (Dukhovnaia kollegiia) genannt wurde. Dies muss im Rahmen von Peters allgemeiner Verwaltungsreform verstanden werden. Im Jahr 1711 war der Senat als höchstes Verwaltungsorgan unter dem Zaren geschaffen worden, und 1717 war eine Reihe von „Kollegien“ (ursprünglich neun) eingerichtet worden, die das Rückgrat der neuen Verwaltung bilden sollten. In ausdrücklicher Anlehnung an das schwedische Modell (soweit auf Russland anwendbar) war jedes neue Kollegium verantwortlich für ein bestimmtes Verwaltungsressort.27 Ein Kollegium für kirchliche Angelegenheiten schien gut zur Logik der neuen Verwaltungsstruktur zu passen. In den Augen Prokopovicˇ s sollte dem kirchlichen Kollegium der ranghöchste Metropolit vorstehen, des Weiteren sollten ihm zwei Erzbischöfe, drei Archimandriten, vier Erzpriester und ein Ordenspriester angehören. Allerdings wurden der Status und die Befugnisse des Kollegiums und seiner Mitglieder niemals genau definiert und blieben deshalb letztlich der Macht des Zaren untergeordnet, der im Reglement als „Bischof der Bischöfe“ sowie als „Höchster Aufseher des Staates“ bezeichnet wird.28 Mit seinem Anklang an den Titel summus episcopus, den manche lutherischen Landesherren in Deutschland führten, gab der zweite der Beinamen zu verstehen, dass der Zar fortan als Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche zu betrachten sei. Um diese Änderung der Kirchenordnung zu rechtfertigen, brachte Prokopovicˇ eine Reihe von Argumenten vor. Keines von ihnen stützte sich auf theologische Erwägungen – die meisten beruhten vielmehr auf dem Gedanken, dass die Herrschaft eines Kollektivs der Herrschaft eines Einzelnen vorzuziehen sei. Neben anderen Gründen vertrat Prokopovicˇ also die Ansicht, dass mehrere Personen eine Angelegenheit besser beurteilen könnten als nur eine Person; dass mehrere grö-

25 26 27 28

Zit. nach Pospielovsky, Orthodox Church, 112. Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 92f. Cracraft, Church Reform, 152. Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 358. Pospielovsky, Orthodox Church, 112 und 115.

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ßere Autorität besäßen als einer; dass deren Loyalität gegenüber dem Staat sicherer sei; dass diese ohne Unterbrechungen arbeiten könnten; dass diese weniger zu Vorurteilen neigten; dass sie zusammen keinen Grund hätten, die Autorität eines allmächtigen Einzelnen zu fürchten; und dass sie als gemeinsam arbeitendes Kollektiv nicht die Gefahr einer Rebellion gegen den Staat darstellen würden. Insbesondere der letztgenannte Grund zeigt, dass einer der wesentlichen Zwecke der Reform darin bestand, das Aufkommen von Ambitionen wie jener des Patriarchen Nikon und seiner Nachfolger zu verhindern. Unter Hinweis auf die Erfahrungen von Byzanz und des Papsttums führt Prokopovicˇ zu diesem Punkt aus, dass die Existenz eines Patriarchen die einfachen Leute dazu verführen könnte, den Oberhirten fälschlicherweise für eine Art zweiten Herrscher zu halten, der sich auf Augenhöhe mit dem Autokraten befinde.29 Das erklärt auch das offenkundige Paradox, dass solche Argumente zugunsten der Vorteile einer kollektiven Führung von einem Autor vorgebracht werden, der sonst ein Verfechter des uneingeschränkten monarchischen Absolutismus war. Die Aufgaben der neuen kollektiven Kirchenleitung waren im Prinzip dieselben wie die des Patriarchen, doch weisen sie – wie von Prokopovicˇ dargelegt – auch deutlich auf die Prioritäten Peters hin. Neben Angelegenheiten der Glaubenslehre, kirchlicher Rechtsprechung und Disziplin, Bischofsernennungen sowie Entscheidungen über liturgische und zeremonielle Fragen war das Kollegium auch für die Durchführung der Reformen der kirchlichen und weltlichen Bildung verantwortlich. Genau genommen befasste sich ein volles Fünftel des Reglements ausschließlich mit der Förderung des Bildungswesens30 – eine Widerspiegelung der Tatsache, dass Bildung in den Augen Peters und seiner Mitstreiter der Schlüssel zu weiteren nutzbringenden Effekten der Kirchenreform war. Und ein Schlüssel zu den umfassenderen Veränderungen in Russland, die Peter erreichen wollte. Peters Prioritäten zeigten sich auch in Bezug auf die Ordenseinrichtungen der Kirche, die in seinen Augen vollkommen nutzlos waren, ohne Wert für das „Gesamtwohl“. Viele Klöster wurden deshalb geschlossen, und über die verbleibenden wurden etliche Auflagen verhängt, um so viele Menschen wie möglich daran zu hindern, jemals Mönche oder Nonnen zu werden. Diejenigen, die dennoch Mönche oder Nonnen wurden, sollten lieber etwas Sinnvolles tun, beispielsweise die vielen Soldaten pflegen, die in den Kriegen des Zaren verwundet wurden, anstatt ihr Leben mit Gebeten und in Kontemplation zu verbringen.31 Nach gründlicher Prüfung und Durchsicht von Peter und Prokopovicˇ wurde das Reglement von den Mitgliedern des Senats und den Bischöfen der orthodoxen Kirche ratifiziert und unterzeichnet und sollte unmittelbar nach der Vorlage am

29 Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 93f. 30 Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 94. Cracraft, Church Reform, 262ff. 31 Zwischen 1724 und 1738 fiel die Gesamtzahl der Mönche, Nonnen und Novizen von 25 207 auf 14 282; vgl. Cracraft, Church Reform, 251f.

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25. Januar 1721 in Kraft treten.32 Das Kirchliche Kollegium bildete nun, unter Vorsitz von Javorskij in seiner Eigenschaft als ranghöchster Metropolit, die neue Führung der Kirche. Jedoch wurden nicht alle Vorgaben Prokopovicˇ s so umgesetzt, wie er sich das vorgestellt hatte. So entschieden, mit Peters Erlaubnis, die Mitglieder gleich in der ersten Sitzung des Kollegiums im Februar 1721, dessen Namen zu ändern in „Heiligster Regierender Synod“ (Sviateishii pravitel'stvuiiushii sinod), weil „Synod“ für eine Institution der Kirche angemessener schien. Das war mehr als eine Formalie, denn die Namensänderung bedeutete auch eine Statuserhöhung des Synods: Er war nicht mehr nur eines unter mehreren Kollegien, sondern formell dem Senat gleichgestellt, dem höchsten Verwaltungsorgan in Peters neuer Regierung. Außerdem entschied Peter, als bald darauf, im Jahr 1722, der gegnerisch eingestellte Javorskij starb, keinen neuen Vorsitzenden zu ernennen, sondern stattdessen Prokopovicˇ zum amtierenden Vorsitzenden zu berufen – was dieser auch bis ans Ende seiner Karriere blieb. Zusätzlich aber ernannte Peter, vielleicht aus Misstrauen gegenüber der Geistlichkeit, einen Laienbeamten unter dem Titel Oberprokuror. Direkt vom Zaren ernannt und ihm allein verantwortlich, wachte der Oberprokuror als „Auge des Zaren“ über den Synod und wurde später de facto zu dessen Leiter. Und schließlich brachte es die weitere Entwicklung mit sich, dass die geistlichen Mitglieder des Synods irgendwann ausschließlich Bischöfe waren.33 Eine weitere wichtige Frage, die geklärt werden musste, war die nach der kanonischen Gültigkeit der Kirchenreform: Konnte der Synod tatsächlich den Patriarchen als maßgebliche Spitze einer autokephalen orthodoxen Kirche ersetzen? Auch wenn Prokopovicˇ sich jede erdenkliche Mühe gab, seine Sache zu verteidigen, ließen sich viele seiner Glaubensbrüder, einschließlich Javorskij, nicht überzeugen. Um die Debatte darüber zu beenden, konsultierte Peter, den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel und andere orthodoxe Patriarchen und schaffte es im September 1723, ihre volle formelle Anerkennung zu erhalten. Diese Anerkennung war eine wichtige Formalität, auch wenn sie möglicherweise nicht bei voller Sachkenntnis entschieden wurde – dennoch konnte sie die Frage nach der kanonischen Gesetzmäßigkeit des Synods nicht ganz ruhigstellen. Inoffiziell blieb die Entscheidung umstritten, und in den folgenden zwei Jahrhunderten wurde sie immer wieder in Frage gestellt und debattiert, bis es schließlich, nach dem Niedergang des petrinischen Systems, auf dem Landeskonzil 1917/18 zu einem ablehnenden Beschluss kam.34 Die Einrichtung des Synods und des Synodalsystems führten zum formalen Ende der Unabhängigkeit der russischen Kirche und zum Beginn von zwei Jahrhunderten des Staatskirchentums. Es handelte sich dabei jedoch um weit mehr als um eine rein institutionelle Veränderung. Von allen Reformen Peters war die Kirchenreform viel-

32 Cracraft, Church Reform, 157–161. 33 Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 92f.; Pospielovsky, Orthodox Church, 111; Cracraft, Church Reform, 175. 34 Cracraft, Church Reform, 223–225.

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leicht der radikalste und entschlossenste Bruch mit der Vergangenheit, denn das Patriarchat und die Kirche als Ganzes standen mehr als jede andere Institution für die russische Geschichte und Tradition.35 Im Gegensatz zu anderen Reformen ging es bei der Kirchenreform nicht allein um technische Änderungen und Verbesserungen. Weit mehr, als es Peter und seinen Mitstreitern vielleicht bewusst war, ließ die Reform der orthodoxen Kirche einen Umbruch für Kultur und Mentalität erkennen, den man auch dreihundert Jahre später noch spüren kann. Peters Bruch mit der Tradition und sein Verhältnis zur orthodoxen Kirche fanden ihren sichtbarsten Ausdruck in der Peter-und-Paul-Kathedrale der gleichnamigen Festung in Sankt Petersburg. Sie war der erste Kirchenbau in der Stadt, ein Entwurf des italienischen Architekten Domenico Trezzini (um 1670–1734), und wurde in den Jahren 1712 bis 1737 errichtet – im Geist der Kirchenreform und gemäß der ausdrücklichen Anweisung Peters, dass sie nicht wie eine traditionelle russisch-orthodoxe Kirche aussehen solle. Diese Anweisung wurde ganz eindeutig erfüllt. Die rechteckige Basilika in schlichtem Barock mit einem hohen vergoldeten Turm würde auch in einem protestantischen Land Nordeuropas nicht fehl am Platz sein. Doch im Vergleich mit traditionellen orthodoxen Kirchen, wie beispielsweise jenen im Moskauer Kreml, bot die Peter-und-Paul-Kathedrale den Anblick einer Kirchenarchitektur, die nie zuvor in Russland gesehen worden war. Das bestätigt auch der Innenraum: Hell, geräumig und kunstvoll geschmückt, beinahe ganz ohne Bilder, aber ausgestattet mit einer bemerkenswerten Kanzel, ist das Innere der Kathedrale Welten entfernt von den dämmerigen, leicht beengten und labyrinthischen, mit Ikonen und Fresken reichlich bestückten Räumen, die sonst typisch für orthodoxe Kirchen sind. Wenn die sparsame Bebilderung auch keineswegs das Vorhandensein einer Ikonostase ausschloss, bedingte sie doch deren radikal andere Ausführung. In ihr scheint sich der Geist der petrinischen Reform zu verdichten. Während die traditionelle Ikonostase einfach der Anbringung der Ikonen dient, die wesentliche Aspekte der orthodoxen Theologie darstellen, ist die Ikonostase der Peter-und-Paul-Kathedrale (begonnen im Jahr 1722 von dem Moskauer Künstler Ivan Zarudnyi) von solch barocker Pracht, künstlerischer Qualität und Ausdruckskraft, dass sie mühelos die Ikonen selbst überstrahlt und zu einem eigenständigen Kunstwerk geworden ist. Sie ist eher ein Skulpturenensemble und auf den Altarraum hin so durchsichtig gestaltet, dass sie kaum als Ikonostase erkennbar ist. Trotzdem sind auf ihr mehrere Ikonen angebracht, wobei fast die Hälfte von ihnen (18 von 43) offenkundig der Überhöhung des Königtums gewidmet ist.36

35 Cracraft, Church Reform, 162 und 306. 36 Koljakin, A.N. (Hrsg.), Petropavlovskii Sobor i Velikokniazheskaia Usypal'nitsa, Sankt Petersburg 2007; Konnova, Larissa/Frolov, Vladimir (Hrsg.), The Iconostasis of Sts. Peter and Paul Cathedral, Sankt Petersburg 2004, passim; Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 103.

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Somit dürfte die Peter-und-Paul-Kathedrale (die auch zur Nekropole der Zaren37 von Peter dem Großen bis zu Nikolaus II wurde) einen charakteristischen Zug von Peters Reform am sichtbarsten zum Ausdruck bringen: den Triumph vom Westen inspirierter stilistischer Ideale und Ausdrucksweisen über die orthodoxen Traditionen in einem solchen Ausmaß, dass die Kathedrale kaum noch als orthodoxer Kirchbau zu erkennen ist. Zugleich liefert die Kathedrale auch zahlreiche Anhaltspunkte für die Rolle, die die orthodoxe Kirche nach Peters Willen spielen sollte. Traditionelle orthodoxe Ausdrucksformen wurden unterdrückt, beinahe an den Rand des Verschwindens gebracht, doch war die Kirche immer noch von Nutzen, und zwar für die Inszenierung der absolutistischen Macht des von Gott eingesetzten Monarchen. Die Peter-und-Paul-Kathedrale war der Präzedenzfall, und sie gewann beherrschenden Einfluss auf die Kirchenarchitektur für den Rest des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit großer Beharrlichkeit, wenn auch unterschiedlich radikal, setzten sich Barock und Neoklassizismus aus dem Westen gegenüber russischen und orthodoxen Traditionen des architektonischen und künstlerischen Ausdrucks durch. Als augenfällige Beispiele können Gebäude und Gebäudekomplexe wie das Alexander-Newski-Kloster (1710 gegründet), das Smolny-Kloster (1746), die Kasaner und die Isaaks-Kathedrale (1811 und 1858) dienen. Alle befinden sich in Sankt Petersburg. Der Trend ist auch in der Profanarchitektur wahrnehmbar, wie die ganze Stadt bezeugt. Mit ihrer rationalen Planung, ihrem grandiosen Grundriss und ihrer monumentalen Architektur sollte Sankt Petersburg das Ideal einer europäischen Stadt und der europäischen Zivilisation vor Augen stellen – ein Modell, in dem Russland nach Peters Willen seine Zukunft erblicken sollte. Der Gegensatz zwischen dem Alten und dem Neuen trat jedoch am schärfsten und radikalsten in seinem Verhältnis zur Kirche zutage.38 Der augenscheinliche Triumph der westlichen Formensprache, der in der Peterund-Paul-Kathedrale so deutlich wird, legt es nahe, auch zu fragen, was Peters Kirchenreform nicht war. Obwohl sie ganz offensichtlich zum Teil von protestantischen Vorstellungen und Methoden der Kirchenführung inspiriert war, war niemals beabsichtigt, eine Reformation, wie sie im Westen bekannt ist, zuwege zu bringen (wie manche Autoren glauben)39. Prokopovicˇ s Geistliches Reglement zielte nicht auf ein neues Bekenntnis, sie sollte keine Anleitung für eine Reform der Glaubenslehre sein. Weder Peter noch Prokopovicˇ hatten die Absicht, etwas an der theologischen Substanz der Orthodoxie zu ändern. Keiner vertrat die Notwendigkeit einer „Rückkehr“ zu den Grundsätzen und Praktiken des Neuen Testaments

37 Peter II. allerdings wurde in Moskau beerdigt. 38 Kagan, Moisei S., Grad Petrov v Istorii Russkoi Kul'tury, 2. Aufl. Sankt Petersburg 2006; Amery, Colin/Curran, Brian, St. Petersburg, London 2006. 39 Hosking, Russland, 260 (mit Bezug auf G. V. Florovskij); Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 336.

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oder der frühen Kirche – auch eine Übersetzung der Heiligen Schrift in die Landessprache gehörte nicht zum Vorhaben. Der Antrieb zur Reform kam zudem keineswegs aus der Kirche selbst. Was die Glaubenslehre, die Spiritualität, das Gemeindeleben und die kirchliche Hierarchie anging, blieb die Kirche Russlands auf allen Ebenen unterhalb der Führungsspitze dezidiert orthodox, hielt an ihrer bischöflichen Struktur und an der kanonischen Gültigkeit der sieben ökumenischen Konzilien fest. Im Ergebnis wird man deshalb Peters Reform als ein hybrides Konstrukt bezeichnen müssen: eine orthodoxe Kirchenordnung, zum Teil auf protestantischen Prinzipien basierend, die aus nicht kirchlichen Gründen einem anderen Kontext entnommen wurden, ohne Vorbild und ohne theologische Fundierung in der orthodoxen Tradition. In einer protestantischen Perspektive, die in der Reform unausgesprochen enthalten ist, mag dies als weitgehend „äußerliche“ Verwaltungssache erscheinen, eher als eine Frage der Form als der Substanz. Aus traditioneller orthodoxer Perspektive war dies allerdings schlimm genug. Die Frage der Kirchenführung in protestantischer Manier als lediglich „äußerliche“ Angelegenheit zu betrachten erscheint in einem orthodoxen Kontext kaum angebracht. Für Kirchenmänner wie Javorskij und viele seiner Kollegen war die Reform nicht bloß eine Äußerlichkeit oder eine unliebsame Neuerung, sondern ein vom Kirchenrecht nicht gedeckter Bruch der Tradition und altehrwürdiger Gepflogenheiten. Nach dem kanonischen Recht konnten nur geweihte Bischöfe die Kirche führen, und darum war die Einführung einer Verwaltung, die zum Teil nicht aus Bischöfen und sogar aus Laien (selbst wenn es der Zar war) bestand, prinzipiell inakzeptabel. Denn natürlich war die neue Führungsstruktur de facto die Abschaffung oder zumindest Aussetzung des traditionellen byzantinischen symphonischen Ideals der theokratischen Regierung, der bis dahin bestehenden Leitlinie im Verhältnis zwischen Kirche und Staat.40 Die ideale „Symphonie“ der Mächte, erstmals formuliert von Kaiser Justinian im Jahr 535, geht von der Gleichrangigkeit zwischen Kaiser (Zar) und Patriarch und einem harmonischen Zusammenwirken beider aus. Auch wenn die praktische Umsetzung dieses Ideals nie völlig gelungen sein mag, war dieses doch die formelle Basis für die Unabhängigkeit der Kirche. Das Ende dieser Unabhängigkeit hinterließ bei Traditionalisten das Gefühl, die petrinische Reform habe ihnen einen weltlichen rationalistischen Geist von außen auferlegt.41 Aus einem breiteren Blickwinkel können Peters umstrittene Reformen im Spannungsfeld zwischen Theokratie und ihrem nichttheokratischen Gegenteil betrachtet werden, ganz gleich, ob man dieses Gegenteil als Protestantismus, Humanismus, säkularen Rationalismus, gar als königlichen Absolutismus oder eine Mi-

40 Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 340; Tsypin, Istoriia Russkoi, 27. 41 Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 385f.

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schung aus alledem bezeichnen möchte. Während diese Seite des Spektrums kaum in Frage steht, gehen die Meinungen bei der Bewertung der Theokratie – und damit der grundsätzlicheren Bedeutung von Peters Programm – auseinander. Westliche Historiker neigen dazu, unter Theokratie den Inbegriff einer (nicht wünschenswerten) Symbiose von Kirche und Staat und eines Charakteristikums der Kirche des Ostens zu verstehen. In dieser Perspektive erscheint der Absolutismus als Variante oder Weiterentwicklung der Theokratie. Orthodoxe Historiker hingegen betrachten die Theokratie wohlwollender: als etwas, das der Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem Staat zuträglich ist. Für sie ist die Unterordnung der Kirche unter den Staat wie im Absolutismus eine westliche Erfindung. Kartasˇev brachte darum das Wesen der Synodalen Periode folgendermaßen auf den Punkt: „Der westliche, säkulare, antitheokratische Geist des absolutistischen Vorrangs des Staates gegenüber der Kirche ist charakteristisch für diese im Wesentlichen europäische Ära.“ Das ist zugleich die Grundlage für sein Verständnis des Unterschieds zwischen Theokratie und Absolutismus: „Der theokratische Zar stellte sein Zarentum in den Dienst der Kirche; der absolutistische Monarch stellt die Kirche in den Dienst des Staates.“ In Kartasˇevs Augen kann der petrinische Staat, der Kirche und Religion vollkommen dem Zaren unterordnete, sogar „totalitär“ genannt werden. In dieser Sichtweise sind Theokratie und Absolutismus Gegensätze. Die meisten westlichen Historiker sehen das wahrscheinlich genau umgekehrt.42

2.2. Das Synodale System in der Praxis im 18. und 19. Jahrhundert Unter dem Synodalsystem wurde die orthodoxe Kirche zur Staatskirche des Russischen Reichs. Als solche sollte sie nach den Prinzipien von Peters Kirchenreform geführt werden, worauf sich auch fast alle nachfolgenden russischen Regierungen im 18. Jahrhundert berufen würden. Im Grundsatz hieß das, dass die Kirche letztlich dem Willen des Herrschers unterworfen war, auch wenn die formelle Deklaration des Herrschers als „Oberhaupt der Kirche“ erst im Jahr 1797 durch Zar Paul I. erfolgte.43 Das Geistliche Reglement hatte, wie sich in der Praxis erwies, viele Details offengelassen, und die tatsächliche Leitung der Kirche unter dem Synodalregime zeigte sich voller Widersprüche. Vieles hing ab von den wechselnden Arrangements mit den jeweiligen Regierungen und von den unterschiedlichen Persönlichkeiten, Einstellungen und Launen der aufeinanderfolgenden 13 Monarchen und 34

42 Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 323f. (Hervorhebung CG), 340 und 358. Vgl. auch Pospielovsky, Orthodox Church, 106f. Vgl. dagegen Pipes, Rußland vor der Revolution, 230, für den die „beinahe symbiotische Identifikation von Kirche und Staat, die das östliche Christentum charakterisiert“, gerade von ihrem theokratischen, byzantinischen Ursprung herrührt. 43 Tsypin, Istoriia Russkoi, 73f.

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Oberprokuroren (einigen von ihnen war die Kirche fremd oder sie standen ihr gar feindselig gegenüber) sowie von den jeweiligen Mitgliedern des Synod. Im 19. Jahrhundert rückte insbesondere die Rolle des Oberprokurors in den Vordergrund, als das Amt mehr Einfluss auf die Kirche und ihre Rolle in der Gesellschaft bekam. Die Unterwerfung der Kirche unter den Staat, die das Synodalregime vorsah, wurde immer offensichtlicher, bis schließlich in der Schlussphase im frühen 20. Jahrhundert gegenläufige Tendenzen sichtbar wurden. Als offizielle Institution war die Kirche niemals frei, unabhängig vom Staat zu handeln, und ihr hybrider Status führte immer wieder zu Problemen im Verhältnis zwischen Kirche und Staat.44 Weil das Verhältnis so eng war, kann die Geschichte der Kirche und insbesondere die ihrer Führung nicht isoliert vom petrinischen Staat betrachtet werden.

Das 18. Jahrhundert Die Frühphase nach Peters Tod, die Jahre 1725 bis 1741, waren bestimmt von einer Reihe kurzer Regentschaften von nicht weniger als vier Monarchen: Katharina I. (1725–1727), Peter II. (1727–1730), Anna (1730–1740) und Ivan VI. (1740–1741). Keiner von ihnen zeigte ernsthaftes Interesse an Kirchenangelegenheiten oder besondere Kompetenz in der Staatsführung (Peter war bei seiner Thronbesteigung zwölf Jahre alt, Ivan zwei Monate). Die Tatsache, dass zwei der Monarchen Frauen waren (wie auch zwei unter den nachfolgenden im Verlauf des Jahrhunderts), brachte eine wichtige theoretische Implikation mit sich, was die Macht des Monarchen über die Kirche anging. Da Frauen nach der orthodoxen kanonischen Tradition nicht zum Priesteramt zugelassen sind und deshalb auch der Kirche nicht vorstehen können, ist eine Frau als Monarchin, auch wenn sie als Oberhaupt der Kirche angesehen wird, dem Klerus gegenüber nicht gleichrangig. Von daher war anzunehmen, dass die monarchische Macht auf die äußerlichen, „weltlichen“ Aspekte der Kirche beschränkt war, und das war wiederum ein Prinzip, das dann auch für die männlichen Monarchen gelten musste. Wenn die ganze Sache nicht ohnehin als weiterer skandalöser Beweis für die rechtswidrige Natur des Synodalregimes zu sehen war, wie viele zeitgenössische Kirchenmänner glaubten.45 Die Unzufriedenheit vieler kirchlicher Würdenträger mit der petrinischen Reform, die zu Peters Lebzeiten kaum geäußert werden konnte, trat nun offen zutage. Während der Regentschaft Peters II., der sich selbst als Gegner der Reformen seines Großvaters zeigte, gab es sogar Versuche, zu vorpetrinischen Verhältnissen zurückzukehren. 1728 wurde die Hauptstadt für kurze Zeit nach Moskau zurückverlegt. Innerhalb der Kirche wurde offen von der Wiedereinführung des Patriar-

44 Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 394. 45 Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 393.

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chats gesprochen.46 Doch das alles führte nirgendwohin, und unter der Herrschaft von Anna wurde die Geltung von Peters Reformen ausdrücklich bestätigt, und dies sogar in entschieden anti-orthodoxer Manier. Höflinge und Günstlinge deutschprotestantischer Herkunft (am wichtigsten unter ihnen der de-facto-Regierungschef Johann Friedrich Ostermann sowie der Liebhaber der Zarin, Ernst Johann von Biron) trugen am Zarenhof schon durch ihre Anwesenheit zu einem unzureichenden Verständnis der Orthodoxie und zu einer Verstärkung der Verwestlichung bei, was durch terroristische Methoden noch verschärft wurde.47 Ein bedeutender Mitspieler war in diesem Zusammenhang Theophan Prokopovicˇ , der als geschäftsführender Vorsitzender des Synods in den 1730er Jahren eine Reihe von Prozessen gegen prominente Kirchenführer initiierte: gegen Erzbischof Lew von Woronesch, die Metropoliten Georg, Ignatius und Silvestr, den Archimandriten Platon und Erzbischof Feofilakt. Sie alle wurden mit politisch motivierten Anklagen vor Gericht gebracht, aus dem Priesteramt entlassen und in weit entfernte Klöster verbannt. Ziel dieser Prozesse war es, die Opposition in der großrussischen Geistlichkeit in den Griff zu bekommen. Feofilakt wurde vor allem der Prozess gemacht, weil er im Jahr 1728 eine Neuauflage von Javorskijs Buch Der Fels des Glaubens herausgebracht hatte – jenes Buchs, das die Orthodoxie gegen die Lehren des Protestantismus verteidigte und damit das Synodalregime implizit kritisierte. Ähnliche Methoden wurden auch gegen Vertreter niedrigerer Ränge der Hierarchie angewandt. Zahlreiche Gemeindepfarrer und die männlichen Mitglieder ihrer Familien wurden als Soldaten zum Militärdienst gezwungen, viele Klöster wurden geschlossen. Neun Hierarchen und Hunderte einfacher Gemeindepfarrer und Mönche sowie Tausende von Laien fielen den Repressionsmaßnahmen des Regimes zum Opfer.48 Die zweite Phase ist die der Regentschaften von Elisabeth (1741–1761) und Peter III. (1761–1762). Nach der repressiven Herrschaft von Anna war Elisabeths Regierung eine Entlastung. Viele Exilierte wurden freigelassen und rehabilitiert, und im Jahr 1742 verlagerte ein neues Dekret die Rechtsaufsicht über die Geistlichkeit vom Senat zum Synod, auch in Fällen politischer Anklagen. Außerdem wurde das Ministerkabinett, das 1731 als höchstes Regierungsorgan eingeführt worden war, wieder abgeschafft, und der Senat erhielt diese Funktion zurück. Somit standen Senat und Synod einander wieder gleichrangig gegenüber, wie es Peter vorgesehen hatte. Maßnahmen wie diese bedeuteten schon für sich genommen eine Aufwertung des Status der Kirche. Allerdings war Elisabeth trotz ihrer kirchenfreundlichen Einstellung nicht bereit, auch noch das Amt des Oberprokurors abzuschaffen, um den Status des Vorsitzenden des Synods zu verbessern, oder gar das Patriar-

46 Tsypin, Istoriia Russkoi, 53f. 47 Tsypin, Istoriia Russkoi, 55. Pospielovsky, Orthodox Church, 116. 48 Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 415–436; Avdeev, Istoriia Russkoj, Bd. II, 350–357; Pospielovsky, Orthodox Church, 116f.

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chat wieder einzuführen, wie es einer der Hierarchen, Metropolit Arsenij von Rostow schriftlich vorgeschlagen hatte. Im Gegenteil: Sie bestätigte formell alle Gesetze, die Peter der Große erlassen hatte und behielt damit auch das Synodalregime bei. Ebenso wenig verhinderte sie den Ausschluss Arsenijs aus dem Synod, als dieser sich weigerte, den Amtseid abzulegen, weil darin der Monarch und nicht Christus als höchster Richter genannt wurde.49 Nach Elisabeths Tod im Jahr 1761 bestieg für kurze Zeit ein anderer Enkel Peters des Großen den Thron: Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein, der Zar Peter III. wurde. Obwohl er offiziell zur Orthodoxie konvertiert war, blieb er doch innerlich ein deutscher Lutheraner. In dieser Eigenschaft unternahm er den Versuch, die Ikonen aus den orthodoxen Kirchen zu entfernen und die russischen Geistlichen dazu zu bringen, ihre Bärte abzunehmen und sich wie deutsche Pastoren zu kleiden.50 Auch wenn diese Vorhaben bald mit ihm starben und niemals eine Rolle spielten, zeigten sie doch deutlich das Konfliktpotenzial, das dem Synodalsystem innewohnte. Das galt insbesondere dann, wenn der Herrscher mit der Orthodoxie nicht vertraut oder ihr gegenüber sogar feindselig eingestellt war. Die dritte Phase im 18. Jahrhundert ist die der Regentschaften von Katharina II. (1762–1796) und Paul I. (1796–1801), wobei Katharina, bekannt als „die Große“, die bedeutendsten Veränderungen hinterlassen hat, nicht nur in der Kirche, sondern auch in der russischen Gesellschaft als Ganzes. Wie ihr berühmtes Reiterstandbild „für Peter I. von Katharina II.“ (bekannt aus dem späteren Puschkin-Gedicht als „Der eherne Reiter“) auf dem Senatsplatz in Sankt Petersburg andeutet, sah Katharina sich bewusst als Peters Erbin und Nachfolgerin, beauftragt mit der Fortführung seiner westlich orientierten Reformen im Interesse des „Gesamtwohls“. Als Anhängerin der französischen Aufklärung hielt sie Montesquieu in hohen Ehren und korrespondierte mit Voltaire und den Herausgebern der großen französischen Encyclopédie (erschienen 1751–1780), Diderot und D’Alembert, auch wenn diese Verbindungen sie nicht ernsthaft dazu bewegten, etwas von ihrer autokratischen Macht abzugeben. In Deutschland geboren und im lutherischen Glauben erzogen (wie ihr verstorbener Ehemann Peter III.), war ihr Religion weitgehend gleichgültig, doch schaffte sie es geschickt, sich einerseits als orthodoxe Herrscherin zu präsentieren und andererseits die Unterwerfung der orthodoxen Kirche unter den russischen Staat zu ihrem logischen Abschluss zu bringen. Sie wollte, wie sie selbst sagte, „den Glauben ehren, ihm aber auf gar keinen Fall Einfluss auf die Staatsangelegenheiten zubilligen“. Die starke Tendenz zur Säkularisierung des Staates und der Gesellschaft, die Peter I. verfolgt hatte, wurde von Katharina ausdrücklich bestätigt. Manche Historiker meinen, dass sie der Kirche sogar weniger Wertschätzung entgegenbrachte als Peter, und es war ihre Weiterentwicklung des petrini-

49 Tsypin, Istoriia Russkoi, 59–62; Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 105. 50 Tsypin, Istoriia Russkoi, 63; Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 105.

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schen Modells, das schließlich zur Grundlage der russischen Staatskirche im 19. Jahrhundert wurde.51 Ihre bedeutendste Leistung in dieser Hinsicht war die Säkularisation des Kirchenbesitzes. Auch wenn es dafür schon Vorbereitungen in den Regierungszeiten von Elisabeth und Peter III. gegeben hatte, wurde sie erst unter Katharina verwirklicht. Gemäß ihrem Erlass vom 26. Februar 1764 wurden alle Besitzungen der Diözesen und Klöster der Kirche in Großrussland in die Hände des Staatskollegiums für Wirtschaft überführt. Das schloss eine Bevölkerung von fast einer Million Bauern und ihren Dörfern mit ein.52 Zum Ausgleich für diese Inbesitznahme sagte der Staat zu, künftig die Verantwortung für die Finanzierung der laufenden Kosten der Kirche zu tragen. Inspiriert war dieser Schritt zum Teil von aufklärerischen Ideen zur Säkularisierung (mit Parallelen im katholischen Österreich der Zeit, in der Kaiser Joseph II. [1764–1790] die Idee verfolgte). Doch in einheimisch-russischer Perspektive kann die Säkularisation auch als Vollendung ähnlicher Versuche gesehen werden, die bereits im vorpetrinischen moskowitischen Russland gemacht wurden. Die Frage des Kirchenbesitzes war schon im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert ein Streitpunkt sowohl innerhalb der Kirche als auch zwischen der Kirche und den Großfürsten und späteren Zaren. Und es war nicht allein eine Angelegenheit von Wirtschaft, Macht und Politik. Betrachtete man die Sache mithilfe theokratischer Begrifflichkeit, die in der Orthodoxie seit byzantinischen Zeiten vorherrscht, dann erhielte die Anhäufung von Kirchenbesitz besondere Bedeutung als Ausdruck der zunehmenden Heiligung des Lebens. Der zugrundeliegende Gedanke war, dass alles, was einmal Gott geweiht worden ist, für alle Zeit unveräußerlich war. Die Herausgabe von kirchlichem Landbesitz war demnach kirchenrechtlich unzulässig und fand gegen den Protest der Hierarchie statt – wenn auch Metropolit Arsenij der einzige war, der sich offen dagegen aussprach (und dafür aus dem Priesterstand ausgeschlossen und verhaftet wurde und 1772 im Gefängnis starb).53 Vor diesem Hintergrund waren die Folgen der Herausgabe des kirchlichen Besitzes mindestens so schwerwiegend wie Peters Kirchenreform. Indem Katharina die Kirchen ihrer Ländereien beraubte, nahm sie ihnen das letzte Fundament ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Übergang der kirchlichen Wirtschaft in die Hände des Staates war die Kirche nicht mehr nur formal und administrativ dem Staat unterworfen, sondern auch materiell. Die staatliche Übernahme des

51 Tsypin, Istoriia Russkoi, 64f.; Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 106. 52 Pospielovsky, Orthodox Church, 121, nennt die Zahl von „fast einer Million Bauern“; Tsypin, Istoriia Russkoi, 67, hingegen spricht von „annähernd einer Million Seelen, d. h. ungefähr zwei Millionen Bauern beider Geschlechter“. 53 Kartasˇev, Ocˇ erki, Bd. II, 453. Laut Pipes, Rußland vor der Revolution, 247, gab es überhaupt keine Proteste: „Keine christliche Kirche ließ sich so widerstandslos säkularisieren wie die russische.“

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kirchlichen Grundbesitzes bedeutete für die Kirche den Verlust der materiellen Basis ihrer byzantinisch-theokratischen Struktur – sie war nun ganz und gar zu einem Zweig des säkularen Staatsapparats geworden, im Prinzip ähnlich wie Armee und Marine. Die Auswirkungen dieser Veränderung waren unmittelbar zu spüren, da die Geldmittel der Kirche drastisch verringert wurden. Zwar hatte der Staat die Kirchenfinanzierung übernommen, jedoch, wie sich herausstellte, in stark reduziertem Maße. In den 1780er Jahren erhielt die Kirche nur etwa 12–13 Prozent ihrer Gewinne zurück. Diese Verringerung war besonders hart für das Ordensleben: die Zahl der Klöster nahm drastisch ab (von 1 201 Klöstern im Jahr 1701 auf 387 im Jahr 1764), und die Ordensbevölkerung wurde – im Vergleich zum Stand 40 Jahre zuvor – halbiert (von 25 207 im Jahr 1724 auf 12 392 im Jahr 1764). Als die Säkularisation 1786 und 1788 auf Kleinrussland (Ukraine) ausgedehnt wurde, führte dies in diesem Teil des Reichs ebenfalls zur Schließung von mehr als 40 Klöstern. Im Jahr 1796 erreichte die Zahl der Ordensleute ihren Tiefststand (5 861) im vorrevolutionären Russland. Katharina setzte also die antimonastische Politik von Peter fort und folgte damit breiteren europäischen Strömungen.54 Gegen Ende ihrer Regentschaft erlosch Katharinas Liebe zur Aufklärung, als diese zur Französischen Revolution führte und damit Letztlich zur Hinrichtung von König Ludwig XVI. im Jahr 1793. Natürlich erkannte die russische Regierung die Gefahr und die spezifisch antichristliche Ausrichtung des aufklärerischen Denkens, für die die Revolution impulsgebend gewesen war, doch beschränkte sich ihre unmittelbare Reaktion auf verschiedene Polizeimaßnahmen gegen die Einfuhr von Büchern aus Frankreich. Zu einer Revision der eigenen Politik, die mehr oder weniger vom Denken der Aufklärung inspiriert war, kam es indes nicht. Auf längere Sicht führten die Französische Revolution und ihre Nachwirkungen allerdings zu einem grundlegenden Wandel im Verständnis des petrinischen Projekts der Westorientierung. In dem Maße, wie sich in den folgenden Jahrzehnten revolutionäre Impulse aus Frankreich in anderen Teilen Europas ausbreiteten, wurde Europa zu einem anderen Ort, nicht nur für sich selbst, sondern auch in den Augen der russischen Elite, für die Europa bis dahin das bewunderte Vorbild für die russische Entwicklung war, das Ideal, nach dem Russen streben sollten. Nach der Revolution jedoch war aus Europa – und besonders aus Frankreich – ein Entstehungsort von Ideen geworden, die das gesamte Gebäude des petrinischen Reichs zu unterminieren drohten. Das war die Ursache einer ausgeprägten Zwiespältigkeit in den offiziellen Interpretationen des petrinischen Erbes im 19. Jahrhundert.

54 Tsypin, Istoriia Russkoi, 65–71 und 796; Pospielovsky, Orthodox Church, 121; Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 106.

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Das 19. Jahrhundert Nach dem Tod Katharinas II. 1796, folgte ihr Sohn Paul I. ihr auf dem Zarenthron. Nach dessen Ermordung im Jahr 1801 ging der Thron an seinen Sohn, Alexander I. (1801–1825) über. Seine Regentschaft war stark beeinflusst von den Nachwirkungen der Französischen Revolution sowie von seinen persönlichen spirituellen und religiösen Ansichten. Erzogen im aufgeklärten Geist seiner Großmutter, hegte Alexander zugleich eine verträumte, visionäre Religiosität, die sich sehr von derjenigen Katharinas II. unterschied. Im romantischen Überschwang der postrevolutionären Ära fühlte Alexander sich zu einem überkonfessionellen Glauben hingezogen, zu einer Art „universalem“ Christentum. Davon erhoffte er sich die Rettung Europas, das er von Revolution, Krieg und Gottlosigkeit zerrissen sah. Später im Leben zogen ihn auch die westlichen Mystiker an. Diese Haltung fand ihren Ausdruck in seiner Ernennung des Fürsten Alexaner N. Golizyn zum Oberprokuror im Jahr 1803. Golizyn, gehörte anfangs keiner Religion an, wandte sich aber der Mystik zu und wurde schließlich ein hingebungsvoller Freimaurer. In seiner Amtszeit wuchs die Macht des Oberprokurors ebenso wie der Einfluss freimaurerischer Ideale.55 Waren die Auswirkungen der Französischen Revolution für die russische Elite ursprünglich eher von theoretischem Interesse, so wurde die Angelegenheit mit dem Angriff Napoleons und seiner Grande Armée auf Russland im Juni 1812 ausgesprochen konkret. Dieser stellte nicht nur eine militärische und politische Herausforderung von äußerstem Ernst dar – die Invasion war darüber hinaus der unmissverständliche Beweis dafür, dass Frankreich, eines der herausragenden europäischen Länder und die geistige Heimat von vielen Protagonisten der russischen Elite, nicht nur Urheber der Zerstörung der alten Ordnung Europas war, sondern auch der direkte Feind Russlands. Der „Vaterländische Krieg“ (Otechestvennaia voina), wie er später genannt wurde, brachte also das Ende der großen Bewunderung für Frankreich und veränderte nicht nur die Einstellung des Zaren, sondern auch großer Teile der russischen Elite. Die Frankophilie und das Freidenkertum, die in ihr bis dahin geherrscht hatten, machten der Einsicht Platz, dass Russland eben doch keine nahtlose Verlängerung Europas war. Viele Russen und Russinnen wurden sich nun ihres Russischseins als einer eigenständigen Identität bewusst.56 Es stellte sich die Frage, wie man diese Identität definieren sollte. Für viele junge, liberal gesinnte Offiziere, die aus dem Krieg mit persönlichen Erfahrungen von der augenscheinlichen Überlegenheit Westeuropas zurückkehrten, war es nicht zuletzt die Rückständigkeit, die Russland von anderen Ländern unterschied. Ganz wie Peter I. ein Jahrhundert zuvor kehrten sie aus Europa zurück mit zahlrei-

55 Tsypin, Istoriia Russkoi, 139; Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 112. 56 Hosking, Russland, 163–168.

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chen Ideen für konstitutionelle und gesellschaftliche Reformen ihres Heimatlandes. Mit anderen Worten: Ihr Rezept für die Entwicklung Russlands war eine noch stärkere Orientierung am Westen. Konservativere Geister veranlasste der Konflikt mit Frankreich unausweichlich dazu, sich von der weiteren Nachahmung Westeuropas abzuwenden und sich stattdessen – im Umkehrschluss, wenn nicht aus Neigung – auf die heimischen Qualitäten Russlands zu besinnen. Auch den Angehörigen der russischen Elite wurde langsam bewusst, was die Kirche schon immer vor Augen gehabt hatte: wie tief der Graben zwischen „Europa“ und der russischen bzw. orthodoxen Tradition war. Auch wenn es Jahrzehnte dauern würde, bis diese Einsicht Konsequenzen hervorbrachte, bestimmte der Gegensatz das Denken in der russischen Gesellschaft nun auf immer radikalere Weise bis zum Ende des petrinischen Reichs. Konkret: Die ambivalente Haltung von Alexanders Regentschaft gegenüber Europa und dem petrinischen Vermächtnis wurde nicht zuletzt in religiösen Zusammenhängen sichtbar. So war beispielsweise die Entstehung der Sankt Petersburger Bibelgesellschaft im Jahr 1812 (ab 1814: Russische Bibelgesellschaft), ursprünglich gegründet als ein Ableger der 1804 gegründeten British and Foreign Bible Society, ein beredter Ausdruck des interkonfessionellen Geistes.57 Unter dem Vorsitz von Golizyn sollte die Gesellschaft erstmals eine Übersetzung der Bibel in modernes Russisch zur Verfügung stellen (anstelle der früheren Übersetzungen ins Kirchenslawische) und war darum ein Projekt von sowohl nationaler als auch religiöser Bedeutung. Zugleich aber brachte die interkonfessionelle (oder womöglich protestantische) Sichtweise der Bibel als eines Dokuments universaler Humanität die Bibelgesellschaft in Konflikt mit der orthodoxen Tradition. Insbesondere die Absicht, das Alte Testament vom hebräischen Text ausgehend zu übersetzen anstatt von der Septuaginta, die für die Orthodoxie verbindlich war, wurde Anlass zum Streit mit Traditionalisten (unter denen der Archimandrit Fotij Spasskij und Admiral Šiškov sich besonders lautstark äußerten). Des Weiteren machten sich die Traditionalisten Sorgen darüber, dass das gewöhnliche Russisch eine zu profane Sprache für den heiligen Text sein könnte, und sie fürchteten, dass die „wahllose“ Verbreitung der Bibel in der Landessprache zu abweichenden Lesarten, Häresien oder sogar zum Atheismus führen könnte. Obwohl die Opposition gegen das Projekt stark war, gelang es ihr nicht, es ganz zu verhindern, doch sie verursachte eine beträchtliche Verzögerung. Das Neue Testament wurde als Ganzes im Jahr 1822 veröffentlicht, doch blieben der Pentateuch und der Psalter für längere Zeit die einzigen Teile des Alten Testaments, die in modernes Russisch übersetzt wurden. 1825 wurde das Übersetzungsvorhaben gestoppt, die bereits gedruckten Teile

57 Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 112f.; Hosking, Russland, 169–173; Avdeev, Istoriia Russkoj, Bd. II, 406–410; Rizhskii, Mikhail I., Istoriia Perevodov Biblii v Rossii, Nowosibirsk 1978, 130; Tsypin, Istoriia Russkoi, 143f., nennt als Gründungsjahr 1813.

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des Alten Testaments wurden konfisziert und die Verteilung des Neuen Testaments auf Gefängnisinsassen beschränkt. Es brauchte mehrere Jahrzehnte, bis das Übersetzungsprojekt wiederaufgenommen werden konnte und – erst im Jahr 1876 – eine vollständige russische Übersetzung der ganzen Bibel erschien. Nebenbei: Dazu kam es – vielleicht bezeichnenderweise – vier Jahre nach der russischen Übersetzung des ersten Bands von Karl Marx’ Das Kapital. Eine weitere Eigentümlichkeit in der Regierungszeit Alexanders war die Einrichtung eines Ministeriums für geistliche Angelegenheiten und Volksaufklärung, des sogenannten Doppelministeriums, im Jahr 1817. Es handelte sich dabei um eine Verschmelzung des Ministeriums für Volksaufklärung (Bildung) mit der SynodalKanzlei des Oberprokurors und der Oberverwaltung der geistlichen Angelegenheiten fremder Konfessionen. Auch dieser neuen Institution stand Golizyn vor, was wiederum für eine enge Verbindung mit der Bibelgesellschaft sorgte. Als Ministerium für geistliche Angelegenheiten war die neue Organisation in vier Sektionen unterteilt. Eine davon war befasst mit den Belangen der „griechisch-russischen Konfession“, womit diese gleichrangig mit anderen Konfessionen und Religionen des Reichs behandelt wurde. Das war eine klare Degradierung des Synods und der orthodoxen Kirche, doch kam in dieser neuen Ordnung auch der zunehmend multireligiöse Charakter des Reichs zum Ausdruck. Ebenso zeigte sich darin die konsequente Umsetzung der interkonfessionellen Orientierung des Zaren sowie Golizyns und seiner freimaurerischen Ideen, die in manchen Kreisen der Elite Zuspruch fanden. Es überrascht nicht, dass diejenigen, die gegen die Bibelgesellschaft opponiert hatten, sich auch gegen die Politik des Doppelministeriums wandten – mit einem ähnlichen Ergebnis. Die Entlassung Golizyns im Jahr 1824 und die Schließung der Bibelgesellschaft ein Jahr darauf bedeuteten auch das Ende des Ministeriums: Es wurde noch im selben Jahr abgeschafft. Dieses Zwischenspiel war der einzige Fall, in dem die formelle Vorherrschaft der Orthodoxie tatsächlich herausgefordert wurde. Unter Alexanders Nachfolger kehrte die Kirchenverwaltung wieder zum früheren Synodalsystem zurück.58 Die interkonfessionelle Orientierung während der Regentschaft Alexanders zeigte sich auch in Russlands Beziehungen zu anderen Staaten, vor allem, als Russland, Preußen und Österreich sich im September 1815 in Paris zur „Heiligen Allianz“ zusammenschlossen. Jeder der drei Staaten stand für einen der drei Hauptzweige des Christentums: Orthodoxie, Protestantismus und Katholizismus. Auf Alexanders Initiative hin trafen sich die drei Mächte im Anschluss an den Wiener Kongress nach Napoleons endgültiger Niederlage. Sie schmiedeten ihre Allianz „im Namen der allerheiligsten und unteilbaren Trinität“ gegen die Kräfte des Republikanismus, des Säkularismus und der Volkssouveränität. Die drei Partner verstanden sich also als Repräsentanten des christlichen Ancien Régimes von Eu-

58 Tsypin, Istoriia Russkoi, 144–148.

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ropa. Für Alexander war die Allianz eine Bestätigung seiner Auffassung, dass Russland tatsächlich ein integraler Teil Europas war, und das gerade aufgrund seines christlichen Erbes. Ihn selbst bestärkte die Allianz in seiner Unterstützung des petrinischen Projekts, auch wenn er dabei stillschweigend hinwegsah über die konfessionellen Unterschiede zwischen Orthodoxie und westlichem Christentum sowie über die Möglichkeit, dass die Ideen der Aufklärung authentisch europäisch sein könnten.59 Dass nicht alle in Russland dieser Einschätzung zustimmten, wurde schon ein Jahrzehnt später klar, als der Tod Alexanders I. im November 1825 einen Monat darauf den Anlass bot für den sogenannten Aufstand der Dekabristen gegen das Zarentum. Eine Gruppe von Offizieren, unterstützt von etwa 3 000 Soldaten, nutzte die Wirren um die Thronfolge und organisierte einen Aufstand am Senatsplatz in Sankt Petersburg. Sie forderte das Ende des Absolutismus, die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Einführung einer verfassungsgebundenen Regierung. Das war genau das, was Alexander I. hatte verhindern wollen. Doch obwohl der Aufstand umgehend niedergeschlagen wurde, die Anführer hingerichtet und über hundert Beteiligte nach Sibirien verbannt wurden, war der Vorfall ein entscheidender Bruch, der deutlich machte, dass radikale oder liberale europäische Ideen nun auch nach Russland eingedrungen waren. Die Ambivalenz der alexandrinischen Ära gegenüber Europa, Russland und der Orthodoxie fand auch ihren Ausdruck in der Kunst und Architektur der Zeit. Ein weithin sichtbares Beispiel dafür ist die neue Christ-Erlöser-Kathedrale, deren Entstehung sich fast über das ganze Jahrhundert erstreckte. Alexander hatte gelobt, sie in Moskau im Falle eines russischen Sieges über Frankreich zu bauen – als Dank an Gott für die Rettung Russlands. Geplant wurde die Kathedrale 1815 vom schwedischen Architekten Karl Magnus Vitberg als neoklassizistischer Tempel für ein universales paneuropäisches Christentum – für Alexander, der sich als „Retter Europas“ sah, sollte sie zu einem Monument des Sieges eines vereinten Europas über die dunklen Mächte der Revolte, Gottlosigkeit und Usurpation werden, zu einem Monument der Versöhnung und des Friedens auf der Grundlage des gemeinsamen christlichen Erbes im Geiste der „Heiligen Allianz“. Mit dem Tod Alexanders im Jahr 1825 kam das Vorhaben jedoch zum Erliegen. Als es mit einiger Verzögerung von seinem Nachfolger, Nikolaus I. (1825–1855), wiederaufgenommen wurde, hatten sich Standort, Stil und Absicht radikal geändert. Nun, in den 1830er Jahren, sollte die Kathedrale von Architekt Konstantin Thon an einer Stelle am Fluss in der Nähe des Kremls errichtet werden, und zwar im neu entwickelten neobyzantinischen Stil, der an die Architektur orthodoxer Kirchen des vorpetrinischen Russlands anknüpfte – wie im benachbarten Kreml. Die künstlerische Ausstattung sollte die neue Zweckbestimmung der Kathedrale zum Ausdruck bringen:

59 Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 114.

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Nicht vom Sieg des vereinten christlichen Europa über den gemeinsamen antichristlichen Feind sollte sie künden, sondern von jenem des orthodoxen Russland über das gottlose Westeuropa. Das künstlerische Programm der Christ-ErlöserKathedrale, das der prominente Metropolit Philaret von Moskau entwickelt hatte, sollte das orthodoxe Russland als direkten Nachfolger des biblischen Israel und die russischen Zaren als direkte Nachkommen der biblischen Könige präsentieren. Als Ganzes sollte die Kathedrale ein Denkmal für das vorpetrinische Russland sein, harmonisch regiert vom Zaren und der orthodoxen Kirche in den Tagen, als letztere noch von einem Patriarchen geführt wurde. Die unübersehbare Beschwörung einer idealen vorpetrinischen russischen Orthodoxie an einem so prominenten Platz der alten Hauptstadt war vielleicht das herausragende Merkmal der Kathedrale. Als sie schließlich nach einer Bauzeit von einem halben Jahrhundert in den ersten Jahren der Regentschaft von Alexander III. geweiht wurde, waren solche Empfindungen unter den Repräsentanten des zaristischen Regimes und seiner Anhänger noch ausgeprägter. Das zeigte sich auch in der großen Zahl von Kirchen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im neobyzantinischen Stil gebaut wurden.60 Wenn die Ambivalenz der Christ-Erlöser-Kathedrale und ähnlicher Bauwerke nicht sofort ins Auge springt (viele von ihnen sind nicht mehr erhalten), tritt sie zutage, wenn man sie mit einem anderen berühmten Kathedralenprojekt vergleicht, das ebenfalls in der Regierungszeit Alexanders I. angestoßen und fast zur selben Zeit ausgeführt wurde: der Isaakskathedrale in Sankt Petersburg (1818– 1858). Dieses grandiose Bauwerk, ein monumentaler neoklassizistischer Entwurf des französischen Architekten Auguste de Montferrand, ist ein typisches Beispiel für den Sankt Petersburger Stil und damit ein klarer Ausdruck des petrinischen Geistes.61 Führt man sich diese beiden Kathedralen nebeneinander vor Augen, dann erscheinen sie als beredte Zeugen der zwei konkurrierenden Visionen von Russlands religiöser und seiner kulturellen Identität. Nachfolger von Alexander I. wurde mit 19 Jahren sein jüngerer Bruder Nikolaus I. (1825–1855). Eine geringe Verzögerung bei seiner Thronbesteigung hatte den Dekabristen-Aufstand ausgelöst. Wie seine Umdeutung des Kathedralenprojekts seines Bruders zeigt, wollte auch Nikolaus die Verbreitung radikaler Ideen verhindern, allerdings aus ganz anderen Gründen und mit anderen Mitteln. Er teilte die religiöse Suche seines Bruders nicht und scheint entschieden an seinem traditionellen orthodoxen Glauben festgehalten zu haben. Obwohl er zumeist als Inbegriff der unerschütterlichen Reaktion und des Autoritarismus, als „Gendarm Europas“ beschrieben wird, sehen ihn orthodoxe Historiker auch als einen gottes-

60 Strickland, John, The Making of Holy Russia. The Orthodox Church and Russian Nationalism before the Revolution, Jordanville, NY 2013, 112f. 61 Akinsha, Konstantin, u. a., The Holy Place. Architecture, Ideology, and History in Russia, New Haven 2007; Hilarion, Pravoslavie, Bd. II, 65–67.

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fürchtigen Christen, der der Kirche wohlgesinnt war.62 Wie man ihn auch immer einschätzen mag, seine lange Regentschaft war auf jeden Fall durch sein anhaltendes und recht erfolgreiches Bemühen gekennzeichnet, die bestehende Ordnung durch konsequente Repression des geringsten Anzeichens von Widerspruch oder Opposition zu bewahren. Russland blieb darum unberührt von den revolutionären Erhebungen in Europa in den 1820er Jahren, im Jahr 1830 und selbst von denen im Jahr 1848. Zur Rechtfertigung seiner Politik entwarfen Nikolaus und seine Regierung eine Staatsideologie – sie war die erste derartige seit dem 16. Jahrhundert und beruhte auf dem Konzept der „offiziellen Nationalität“. Formuliert von seinem Bildungsminister, Graf Sergej Uvarov , im Jahr 1833, basierte das Konzept auf drei Säulen: „Orthodoxie, Autokratie, Nationalität“ (Pravoslavie, Samoderzhavie, Narodnost'). Unter der Voraussetzung der Zusammengehörigkeit dieser drei Begriffe beschwor die Formel die quasi natürliche Orthodoxie sowohl des russischen Zarentums als auch des russischen Volkes (bzw. der Nation). Sie bejahte die Unentbehrlichkeit der orthodoxen Kirche, betonte aber zugleich deren völlige Unterordnung unter das Zarentum. In diesem Sinn war die Formel eindeutig eine Bekräftigung des petrinischen Projekts. Die Behauptung jedoch, dass das russische Volk orthodox sei, wies auch auf einen ganz offensichtlichen Unterschied gegenüber Westeuropa hin. Denn darin lag ein wesentlicher Anhaltspunkt für seine spezifische Identität. Und wie nebenbei war damit gesagt, dass Russland, wenn es seine Identität bewahren wolle, sich vor allzu großem Einfluss aus Westeuropa hüten müsse. Das hieß zwar nicht, dass Nikolaus Russland nicht mehr als einen Teil Europas sah, doch es besagte immerhin, dass Westeuropa nicht mehr als das eigentliche Europa gelten konnte. Ihre umfassende Bestätigung fand diese Folgerung in Nikolaus’ Augen letztlich durch die europäischen Revolutionen des Jahres 1848.63 Die Staatsideologie wurde zur theoretischen Grundlage für die repressiven Maßnahmen von Nikolaus’ Regentschaft, für die Praxis unausgesetzter polizeilicher Überwachung und blindwütiger Zensurmaßnahmen. Bezeichnenderweise verhinderte die Zensur nicht nur die Veröffentlichung von Büchern, die für radikale europäische Ideen warben, sondern auch von Werken unabhängiger christlicher Autoren wie Alexej Stepanovich. Chomjakov, der slawophile Ideen vertrat, die

62 Avdeev, Istoriia Russkoj, Bd. II, 411; Tal'berg, Istoriia russkoi tserkvi, 744. 63 Avdeev, Istoriia Russkoj, Bd. II, 413. Der Begriff narodnost' wird mit der Übersetzung „Nationalität“ nicht besonders gut getroffen. Er leitet sich von narod = Volk her, demnach könnte er auch mit „Populismus“ wiedergegeben werden, wenn nicht die meisten Konnotationen dieses Begriffs irreführend wären. Narodnost' hat in diesem Kontext natürlich nichts mit der Vorstellung der Volkssouveränität zu tun, zumal die Idee der Nation im 19. Jahrhunderts von Westeuropa ausging. Vgl. auch Hosking, Russland, 177 und 179f.; Pipes, Richard, Russian Conservatism and its Critics. A Study in Political Culture under the Old Regime, New Haven 2005, 99–101; Malia, Russia, 139f.

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durchaus mit Vorstellungen der offiziellen Ideologie oder der offiziellen Architektur wie der Christ-Erlöser-Kathedrale verwandt waren. Was die Kirche betraf, wurden Nikolaus’ Grundsätze vor allem von Oberprokuror Nikolaj Aleksandrovich Protasov durchgesetzt. Dieser übernahm das Amt im Jahr 1836, hatte es für die gesamte übrige Regierungszeit von Nikolaus inne und tat viel dafür, dessen Bedeutung auszuweiten. Als Gegner des Bibelübersetzungsprojekts schlug er dem Synod vor, die alte kirchenslawische Übersetzung für kanonisch zu erklären, wie es die katholische Kirche mit der Vulgata getan hatte. Auch wenn der Vorschlag vom Synod zurückgewiesen wurde, war er dennoch charakteristisch für das Ansinnen, die Kirche zu stärken, indem sie dazu gebracht wurde, sich fest hinter Formen der Vergangenheit zu verschanzen. In ähnlicher Weise wollte Protasov Russland auch zu einem monokonfessionellen Staat erklären und grenzte sich von der Politik der umfassenden religiösen Toleranz unter Katharina II. und Alexander I. ab. Zwar wurden andere Religionen nicht verboten, doch das Strafgesetzbuch von 1846 verhängte harte Strafen für den Abfall orthodoxer Personen von der Orthodoxie und ächtete die Missionsbemühungen durch „fremde Religionen“. Solche Maßnahmen mochten als Schutzmaßnahmen zugunsten der Kirche gesehen werden, doch in der Hauptsache ging es dabei um den Schutz des Staates.64 Während des Krimkriegs (1853–1856) bestieg Alexander II. den Thron (1855– 1881). Er wurde schon zu seinen Lebzeiten als „Befreier-Zar“ bekannt. Er befreite nicht nur das Land vom autoritären Regime seines Vaters, sondern vor allem die ungeheure Zahl von Russen und Russinnen, die direkten Nutzen von seinen Reformen in den frühen 1860er Jahren hatten. Ausgelöst von Russlands Niederlage im Krimkrieg betrafen die Reformen die Wirtschaft, die lokalen Regierungen, die Gerichte und das Bildungswesen; sie lockerten die Zensur und hoben – vor allem anderen – im Jahr 1861 die Leibeigenschaft auf. Nach einer langen Zeit des Abwägens befreite das Manifest der Emanzipation vom 19. Februar 1861 um die 23 Millionen Leibeigene – ungefähr die Hälfte der Bauernschaft und damit mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung (im europäischen Teil Russlands)65 – aus einer sklavereiähnlichen Situation, die über Jahrhunderte praktiziert und in der Gesetzessammlung Sobornoe Ulozˇ enie von 1649 formell kodifiziert worden war. Wie die beinahe gleichzeitige Abschaffung der Sklaverei in Amerika (angekündigt während des Bürgerkriegs im Jahr 1863), nur in weit größerem Maßstab, war die Emanzipation der russischen Leibeigenen ein gewaltiger Umschwung für die russische Gesellschaft: Millionen von Bauern sahen sich plötzlich mit denselben Rechten ausgestattet wie andere Russen. In gewissem Sinn wurden die Russen in ihrer

64 Tsypin, Istoriia Russkoi,150. 65 Pipes, Rußland vor der Revolution, 150; Hosking, Russland, 229, gibt an, dass 45 Prozent der männlichen Gesamtbevölkerung im Jahr 1858 Leibeigene waren. Vgl. ebd., 353f.

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Gesamtheit zu einem neuen Volk, und die Emanzipation erwies sich als Stimulans zur Nationsbildung, als Beitrag zu den Versuchen, die Identität des russischen Volks innerhalb des Russischen Reichs zu definieren.66 Indes wurde die Freude über die Emanzipation bald eingeholt von den riesigen sozialen Problemen, die diese mit sich brachte, denn sie enthielt keine wirtschaftlichen Reformen, die ein Auskommen der gerade befreiten Bauern ermöglichen konnten. In den kommenden Jahrzehnten erwies sich das als eine Hauptursache sozialer Unruhen auf dem Land, aber auch in den Städten, in die viele Bauern, deren Zahl aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums stark gestiegen war, auf der Suche nach Arbeit gezogen waren. Das beschleunigte wiederum die Säkularisierung breiter Massen und, damit verbunden, die Zunahme radikaler Politik, wie zuletzt auch durch Alexanders Tod von der Hand eines revolutionären Terroristen, der zur Gruppe „Volkswille“ gehörte, deutlich wurde.67 Natürlich hatten diese Reformen für die Kirche ebenso große Bedeutung, wenn auch eher auf lange Sicht. Ihre unmittelbaren Auswirkungen auf die Kirche waren begrenzt.68 Im Übrigen war Alexanders Politik in Bezug auf die Kirche von widersprüchlichen Tendenzen gekennzeichnet. So wurde einerseits auf Betreiben von Metropolit Philaret 1856 das Bibelübersetzungsprojekt wiederaufgenommen und seiner Fertigstellung entgegengeführt, andererseits wurde im Jahr 1865 Graf Dmitry Andreyevich Tolstoj zum Oberprokuror ernannt. Ihm war die Kirche vollkommen fremd, er verachtete die Bischöfe und ihre Priesterschaft und tat viel dafür, deren Einfluss auf die Gesellschaft zu unterbinden. Bis zum Ende seiner Amtszeit (1880) hatte er 200 Gemeinden der orthodoxen Kirche aus Gründen mangelnder wirtschaftlicher Effizienz schließen lassen.69 Außenpolitisch wiederum wurde Russlands orthodoxe Identität ein wichtiger Faktor im Krieg gegen das Osmanische Reich, der von 1877 bis 1878 zur Unterstützung der orthodoxen Völker des Balkans geführt wurde. Der russische Sieg brachte Bulgarien, Rumänien, Serbien und Montenegro nach fast 500 Jahren die Unabhängigkeit und führte damit zu einer neuen Situation für die Orthodoxie und für Europa als Ganzes. Die Ermordung Alexanders II. konnte seinen Sohn und Erben, Alexander III. (1881–1894) nur in seinen antiliberalen Überzeugungen bestärken. Dessen Thronbesteigung bedeutete das sofortige Ende der Reformpolitik seines Vaters. Die neue Regierung kehrte wieder zurück zu autoritären Maßnahmen gegen alle Schattierungen von radikalen und revolutionären Ideen und Bewegungen. Als diese den-

66 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 150f. 67 Strickland, The Making of Holy Russia, 45f. 1862–1910 verdoppelte sich die Gesamtbevölkerung Russlands beinahe von ca. 82 Millionen auf ca. 163 Millionen (Tsypin, Istoriia Russkoi, 793). 68 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 128f.; Pospielovsky, Orthodox Church, 176. 69 Tsypin, Istoriia Russkoi, 155 und 157, zur Bibelübersetzung vgl. 214–220. Pospielovsky, Orthodox Church, 176–180, gibt die Zahl der geschlossenen Gemeinden mit über 2 000 an.

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noch wachsenden Zulauf erhielten, bemühte sich die Regierung erneut um eine Stärkung der orthodoxen Kirche als Hüterin traditioneller Werte. Wie schon zur Regierungszeit Nikolaus’ I. wurden die Prinzipien der Orthodoxie, Autokratie und Nationalität hochgehalten, wenn nicht mit genau diesen Begriffen, dann zumindest dem Geiste nach. Der Wortführer bei diesen Anstrengungen, Konstantin Pobedonoscev, wurde im Jahr 1880 zum neuen Oberprokuror. Er hatte das Amt bis 1905 inne, länger als jeder andere Oberprokuror, und wurde nahezu allein zur maßgeblichen Stimme im Synod wie auch in weiten Bereichen des offiziellen Russland in der letzten Phase gegen Ende des 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Als ehemaliger Juraprofessor von großer Gelehrsamkeit und hoher Intelligenz zweifelte er sehr an der Leistungsfähigkeit des menschlichen Intellekts, am Wert der Allgemeinbildung und mithin an den Aussichten weiterer Reformmaßnahmen. Anders als sein Vorgänger war Pobedonoscev ein religiöser Mensch mit fester orthodoxer Überzeugung, auch wenn sein Interesse an der Kirche in erster Linie von dem Wunsch bestimmt war, das bestehende zaristische Regime zu schützen. Nur in dieser Hinsicht hielt er dem petrinischen Erbe die Treue. Ansonsten war er grundsätzlich und praktisch dagegen, vor allem hielt er nichts von dessen Tendenz zur Verwestlichung. Ganz im Gegenteil, er war unzweifelhaft gegen die moderne westliche Zivilisation eingestellt und sah in Erscheinungen wie Parlamenten, demokratischen Verfahren, Bürgerrechten, Pressefreiheit, weltlicher Erziehung und sozialen Reformen Schritte auf dem Weg zum totalen gesellschaftlichen Zusammenbruch. Für Pobedonoscev gab es nur ein einziges Bollwerk gegen diese Entwicklung: die Autokratie in Verbindung mit dem einfachen Volk und ihren einfachen Traditionen, vor allem mit der orthodoxen Kirche. Wenn es Bildung vermied und keinen westlichen Einflüssen ausgesetzt wurde, dann war das einfache Volk in Pobedonoscevs Augen immer noch Träger elementarer Weisheit, die es unbedingt zu bewahren galt. Damit es nicht verdarb, „sollte man Russland einfrieren“ und auf diese Weise beschützen.70 Pobedonoscevs Haltung ist als eine Art „reaktionärer Populismus“ bezeichnet worden, denn wie der revolutionäre Populismus setzte er sein Vertrauen auf das Volk, nur mit dem entgegengesetzten Ziel, das Ancien Régime zu bewahren, anstatt es zu stürzen. Er versuchte auch mit einigem Erfolg, seinen Glauben Alexander III. und dessen Nachfolger, Nikolaus II., einzuimpfen (da er Lehrer und Erzieher der beiden war). Als Gipfelpunkt des petrinischen Synodalsystems zeigte Pobedonoscevs Amtszeit in aller Klarheit die widersprüchliche Situation, in die dieses System die orthodoxe Kirche und den russischen Staat gebracht hatte. War Peter und seinen Nachfolgern die Unterdrückung oder zumindest Einschränkung vieler

70 Tsypin, Istoriia Russkoi, 159–161; Avdeev, Istoriia Russkoj, Bd. II, 450–453; Pospielovsky, Orthodox Church, 180–182.

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Aspekte der traditionellen russisch-orthodoxen Kultur, einschließlich der orthodoxen Kirche selbst, notwendig erschienen, um Russland „modernisieren“ zu können, so führte das im Endergebnis zu einer immer tieferen Entfremdung der Regierung und der Elite von der großen Mehrheit der gewöhnlichen Leute. Auf dem Land lebten die Menschen – weitgehend unberührt von Peters Reformen – weiterhin im alten nichtreformierten Russland, während sich die Elite der westeuropäischen Lebensart angepasst hatte. „Verwestlichung“ und „Modernisierung“ mochten Russland mit Macht und Status auf der europäischen Bühne versehen haben, doch sie hatten auch die Kirche geschwächt und die traditionellen religiösen und geistlichen Fundamente des Zarentums ausgehöhlt. Die russischen Regierungen im 18. Jahrhundert ahnten davon noch nichts, aber im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das Problem den aufeinanderfolgenden Regierungen immer deutlicher bewusst. Entsprechend wurde ihre zwiespältige Haltung gegenüber dem petrinischen Projekt der Westorientierung immer ausgeprägter. Als die oberste Führungskraft des Synodalsystems das ganze Ausmaß des Problems gegen Ende des Jahrhunderts endlich erkannte, gab es für Pobedonoscev nur noch eine Lösung: die vollkommene Abkehr von der Westorientierung, auch wenn gerade diese das Ziel der petrinischen Reformen einschließlich des Synodalsystems selbst gewesen war. Was Pobedonoscev erreichen wollte, war der Erhalt des petrinischen Regimes unter Verzicht auf seine ursprüngliche Zielsetzung, dafür aber mit Unterstützung zweier Faktoren: der orthodoxen Kirche und des gewöhnlichen Volks, die beide von früheren Regierungen so geschwächt und frustriert worden waren. Wie die Geschichte der letzten Phase des Synodalregimes zeigt, ist dieser Versuch kläglich gescheitert.

3. „Fremde Religionen“: Von der Norm abweichende christliche Konfessionen Wie schon Voltaire feststellte und wie man noch heute sehen kann, sind orthodoxe Kirchen nicht die einzigen religiösen Gebäude in der Hauptstadt des orthodoxen Russland.71 Selbst auf Sankt Petersburgs berühmtester Straße, dem Newski-Prospekt, stehen immer noch eine römisch-katholische, eine lutherische, eine niederländisch-reformierte und eine armenische Kirche als steingewordene Beweise für den multireligiösen Charakter des Russischen Reichs und für seine offizielle Politik der Duldung anderer Formen des Christentums. Um die Wende zum 20. Jahrhundert beherbergte Sankt Petersburg außerdem eine große Synagoge, eine weithin

71 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 1.

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sichtbare Moschee und einen buddhistischen Tempel. Wie diese Gebäude zeigen, genoss die orthodoxe Kirche, obwohl sie als privilegierte Religion und als russische Staatskirche anerkannt war, nie eine faktische oder auch nur formelle Monopolstellung innerhalb des Russischen Reichs. Auch wenn sich manche ein konfessionelles Monopol gewünscht haben mögen, wurde dies in der Praxis immer verhindert durch die multinationale und multireligiöse Beschaffenheit des Reichs, vor allem als es zu expandieren begann und mehr Länder und Völker mit anderen Religionen umfasste. Tatsächlich war gegen Ende des 18. Jahrhunderts die religiöse Vielfalt zu einem der unverwechselbaren Merkmale Russlands geworden – im Vergleich mit anderen absolutistischen europäischen Staaten, von denen manche seit der Reformation versucht hatten, religiöse Uniformität durchzusetzen gemäß dem Prinzip cuius regio, eius religio. Auch wenn die Orthodoxie in Russland immer privilegiert war, war sie nie allein. So war die religiöse Gesamtsituation Russlands während des Synodalregimes immer vielschichtiger, als das System zuzulassen beabsichtigte – es war voller widersprüchlicher Tendenzen und Mehrdeutigkeiten. Einerseits sah sich der russische Staat selbst als Wächter der Orthodoxie und betonte den orthodoxen Charakter sowohl der Regierung als auch des Volkes, andererseits entpuppten sich die Spitzenkräfte der religiösen Verwaltung des Staats oft genug als wenig vertraut oder gar feindselig gegenüber der Orthodoxie. Russland war ein Staat, der das Abfallen von der Orthodoxie ebenso verbot wie das Missionieren für andere Religionen, zugleich aber behauptete er mit einem gewissen Recht, andere Konfessionen und Religionen zu tolerieren. Wie auf andere Weise das petrinische Projekt der Westorientierung, so schuf auch der zunehmend multireligiöse russische Staat eine Vielzahl von Spannungen zwischen dem offiziellen orthodoxen Fundament des Staats und den vielen anderen Bekenntnissen, die im Widerspruch zur Orthodoxie standen oder sich zumindest von ihr unterschieden. Die Präsenz anderer Religionen auf dem russischen Staatsgebiet war spätestens seit der Eroberung des Khanat Kasan im Jahr 1552 eine Realität, und sie nahm mit dem weiteren Drang nach Osten in immer größere Teile Sibiriens weiter zu, obwohl die sibirische Bevölkerung nie sehr groß war. 1719 kamen die Nichtorthodoxen auf einen Anteil von ungefähr 15,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung; davon waren 4,1 Prozent Protestanten (hauptsächlich Lutheraner, ein paar Calvinisten, Baptisten und Mennoniten), der Rest waren Muslime (6,5 Prozent) sowie Anhänger verschiedener indigener Religionen (4,9 Prozent). Als Katharina II. im Jahr 1762 den Thron bestieg, war der Anteil der Nichtorthodoxen leicht gefallen (auf 13,1 Prozent), doch mit den Eroberungen hauptsächlich in Europa während ihrer Regentschaft und im Anschluss daran das ganze 19. Jahrhundert hindurch stieg diese Zahl beträchtlich an. 1834 hatten die Nichtorthodoxen einen Anteil von über 30 Prozent an der Bevölkerung des Reichs – ein Niveau, das bis zum Ende des Jahrhunderts gehalten wurde.

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Unter den nicht orthodoxen Christen bildeten seit der Eingliederung der baltischen Staaten, Polens und eines Teils der Ukraine im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert die Katholiken die größte Gruppe (mit etwa 10 Prozent, leicht steigend). Diese Erweiterungen des Reichs erklären seit dieser Zeit auch die Präsenz von Unierten (2–3 Prozent, bevor sie in die orthodoxe Kirche gezwungen wurden und nicht mehr gezählt wurden). Die konstante Präsenz von 4–5 Prozent Protestanten geht zurück auf die Eroberungen im Baltikum im frühen 18. Jahrhundert; sie nahm weiter zu, als ein Jahrhundert später Finnland annektiert wurde. Eine kleine Gruppe von Armeniern (0,9 Prozent beim Höchststand im Jahr 1897) gehörte ebenfalls zur Gruppe der christlichen Minderheiten. Die Eingliederung ukrainischer, weißrussischer und polnischer Gebiete fügte dem Reich eine wachsende jüdische Bevölkerung hinzu (4,1 Prozent beim Höchststand im Jahr 1897), die von 1815 bis 1917 nur innerhalb des sogenannten Ansiedlungsrayons leben durften. In ähnlicher Weise steigerten die Eroberungen an der Schwarzmeerküste, im Kaukasus und in Zentralasien den muslimischen Bevölkerungsanteil auf 10,8 Prozent im Jahr 1897. Die Anhänger indigener Religionen hingegen verschwanden bald in der Bedeutungslosigkeit, ohnehin erreichten sie nie mehr als 1 Prozent seit dem späten 18. Jahrhundert.72 Der multireligiöse Charakter Russlands ist also in erster Linie das Ergebnis der Expansionspolitik der russischen Regierungen. Das erklärt, warum die religiöse Vielfalt auch in sich selbst sehr vielgesichtig, das heißt sehr ungleichmäßig verteilt ist. In den Provinzen des historischen russischen Kernlands, in den zentralen und nördlichen Regionen des europäischen Teils Russlands blieb die Bevölkerung fast vollständig orthodox. Die Minderheiten lebten zumeist in den eroberten Gebieten, etwa in Polen, in den baltischen Ländern und in Finnland, oder im Kaukasus und in Zentralasien, wo die Minderheitsreligionen in Wirklichkeit große lokale Mehrheiten waren. Zu stärker gemischten Strukturen kam es hauptsächlich in den Provinzen rings um das russische Kernland – im Westen, Süden und Osten sowie in Sibirien.73 Obwohl die nicht orthodoxen Konfessionen und Religionen per definitionem nicht in den Verantwortungsbereich des Synodalregimes gehörten und die Orthodoxie tonangebend blieb, kamen auch die „fremden Religionen“ (wie die offizielle Bezeichnung lautete) in gewissem Maße in den Genuss von Unterstützung und Schutz durch die Regierung. Denn das Synodalregime wurde für den Staat mit der Zeit zu einem Modell, um auch für die „fremden Religionen“ einen „multireligiösen institutionellen Rahmen“ zu schaffen.74 Dies begann im späten 18. Jahrhundert mit der römisch-katholischen Kirche. Zu ihrer Einbindung gehörte, analog zum

72 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 30–39. 73 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 12–29. 74 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 4 und 46–48.

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Geistlichen Reglement, der Erlass eines formellen Statuts (im Jahr 1769 mit späteren Revisionen) und die Einrichtung einer Verwaltungsbehörde, des römisch-katholischen Geistlichen Kollegiums (1801), das die Kirche gemäß dem Statut leiten sollte. Später, im fortschreitenden 19. Jahrhundert, kam es dann zu ähnlichen Arrangements mit den anderen christlichen Minderheiten (hauptsächlich in den 1830er Jahren) sowie mit allen anderen religiösen Gruppierungen. Diese Einbindung geschah auf Initiative des russischen Staats, veranlasst in erster Linie durch die Neuerwerbung nicht orthodoxer Territorien und die Notwendigkeit, dort Ordnung und Stabilität zu gewährleisten, in geringerem Maße auch inspiriert durch das aufklärerische Ideal der Toleranz.75 Somit hatte das Russische Reich seit dem frühen 19. Jahrhundert Regelungen für die Präsenz nicht orthodoxer Religionen geschaffen, und es entstand eine offizielle Praxis ihrer Duldung. Obwohl aber die religiöse Toleranz ein wichtiges Prinzip für Peter I. war (formell proklamiert in dem Gesetz, das 1702 ausländische Experten nach Russland einlud) und mehr oder weniger auch für seine Nachfolger, war die Duldung in der Praxis immer abhängig von den Erfordernissen der Reichsentwicklung und den Konsequenzen der Einwanderungspolitik der jeweiligen Regierung.76 Bis zur Einführung der Religionsfreiheit im Jahr 1905 war darum die Toleranz gegenüber anderen religiösen Gemeinschaften im Wesentlichen eher eine pragmatische Notwendigkeit als eine prinzipielle Sache. Gewiss wurde sie nicht als individuelles Recht auf Gewissensfreiheit verstanden, insbesondere nicht dort, wo sich nicht orthodoxe Religionen mit nicht russischem Nationalismus verbanden. Der Respekt des Staates gegenüber fremden Bekenntnissen blieb an Bedingungen geknüpft.77 Zudem bedeutete die etablierte Politik der Toleranz gegenüber bestimmten religiösen Gemeinschaften keineswegs, dass alle Arten von Nonkonformisten toleriert wurden. Ebenso wenig war damit ausgeschlossen, dass beständig auf religiöse Uniformität gedrungen und so intensiv wie möglich für die Orthodoxie geworben wurde. Diese Seite des Verhältnisses zwischen dem russischen Staat und nonkonformen Gruppen trat besonders klar zutage, wo solche Gruppen ethnisch als russisch eingestuft wurden, was vor allem Weißrussen und Ukrainer betraf. Aufgrund der ideologischen Identifikation des Russischseins mit der Orthodoxie stellten „einheimische“ Abweichler wie die Altgläubigen und die Unierten eine besondere Herausforderung für die Behörden dar. Die Förderung der Orthodoxie zeigte sich auch in missionarischen Aktivitäten gegenüber paganen Völkern. Am bedeutendsten unter den einheimischen Nonkonformisten waren diejenigen, die als „Altgläubige“ oder „Altritualisten“ (staroobriadtsy) bekannt waren und

75 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 48–64. 76 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 35f, 45, 105; Pospielovsky, Orthodox Church, 122. 77 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 103.

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von der offiziellen Kirche und der Regierung nur als „Schismatiker“ (raskolniki) bezeichnet wurden. Seit ihrer Entstehung in der Mitte des 17. Jahrhunderts als Reaktion auf die liturgischen Reformen des Patriarchen Nikon waren die Gemeinden der Altgläubigen vielfältiger Verfolgung ausgesetzt, schafften es aber zu überleben, meistens in entlegenen Gebieten im Norden und zunehmend in Sibirien, wo die offiziellen Behörden dünn gesät waren. Die Zahl der Altgläubigen ist nicht bekannt, da die amtlichen Aufzeichnungen hierzu unzuverlässig sind. Die Volkszählung von 1897 kam auf 2 143 340 Angehörige der Gemeinschaft, doch ist diese Zahl sicher zu niedrig, da einerseits bekannt ist, dass viele von ihnen ihre religiöse Zugehörigkeit verbargen, und andererseits die Behörden kein Interesse daran hatten, allzu viele von ihnen zu finden. Nach wissenschaftlichen Schätzungen muss die wirkliche Zahl wenigstens doppelt so hoch sein; möglicherweise gehörten bis zu 10 Prozent der orthodoxen Bevölkerung im 19. Jahrhundert zu ihnen.78 Nach schweren Verfolgungen im 17. Jahrhundert begann mit der Regentschaft Peters I. eine neue Ära relativer Toleranz, trotz der Tatsache, dass die Altgläubigen ihn und seine Reformen sicher nicht guthießen und ihn als den Antichrist denunzierten. Dennoch blieben Peter und seine Nachfolger im 18. Jahrhundert relativ duldsam, entweder, weil sie aktiv für Toleranz eintraten (wie Peter selbst und Katharina II.) oder aus mangelndem Interesse. So waren es im 18. Jahrhundert vor allem die eigenen Differenzen, die das Schicksal der Altgläubigen bestimmten. Am vordringlichsten war für sie die Frage, was sie tun sollten, wenn die letzten Priester aus der Zeit vor Nikon verstorben waren. Manche waren bereit, nikonianische Priester zu akzeptieren, die die offizielle Kirche mit ihrer reformierten Liturgie verlassen wollten; andere verwahrten sich dagegen, weil sie nikonianische Priester per definitionem für unkanonisch hielten, da sie dem Antichrist erlegen waren. Erstere, die „Priesterlichen“, schafften es, eine eigene Geistlichkeit aufzubauen und so ein ordnungsgemäßes kirchliches Leben aufrechtzuerhalten, während Letztere ohne Priester weitermachten und deshalb als die „Priesterlosen“ bezeichnet wurden. Für diese Gruppe bedeutete die Abwesenheit von Priestern außerdem, dass sie ohne die beiden Sakramente leben mussten, die in ihren Augen nur von einem Priester gespendet werden konnten: die Trauung und die Eucharistie. Einige bestanden deshalb auf dem Zölibat und akzeptierten damit, dass ihr Glaube mit ihnen sterben würde, andere ließen das nichtkonsekrierte Zusammenleben von Mann und Frau zu, vermieden also das eine gottlose Tun, indem sie ein anderes praktizierten. So trieb ihr eigenes Zelotentum die priesterlosen Altgläubigen praktisch aus der Kirche, und sie zersplitterten schließlich in weitere, mehr oder weniger fanatische

78 Hartley, Janet M., Siberia. A History of the People, New Haven 2014, 134; Pospielovsky, Orthodox Church, 150f., geht von einer Rate von 25 Prozent unter der ostslawischen Bevölkerung des Reichs aus. Vgl. auch ebd., 185.

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Gruppen. Die Priesterlichen schafften es indessen, eine Art alternativer orthodoxer Kirche zu bilden. In dieser Form konnten sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine wachsende Zahl von Konvertiten aus der offiziellen Kirche anziehen, sowohl Laien, insbesondere Bauern und Handwerker, als auch Priester, die die offizielle Kirche, aus welchen Gründen auch immer, verlassen wollten. So gelang es ihnen schließlich auch, ihre eigene Hierarchie zu etablieren. Die relative Mühelosigkeit, mit der nikonianische Priester in die Gemeinden der Altgläubigen aufgenommen werden konnten, veranlasste die offizielle orthodoxe Kirche im Jahr 1800 zur Deklaration über den „Einglauben“ (edinoverie). Laut diesem Dokument waren die Altgläubigen dazu eingeladen, sich mit der orthodoxen Kirche wiederzuvereinigen, wobei es ihnen gestattet sein sollte, ihre Rituale beizubehalten. Viele Altgläubige nahmen die Einladung an.79 Ursprünglich war die Edinoverie-Vereinbarung als freiwillige Möglichkeit gedacht, doch mit der Thronbesteigung von Nikolaus I. wurde sie zu einem neuen Instrument der Repression. Der Zwang zur religiösen Uniformität wurde stark forciert, und scharfe Maßregelungen sollten die Altgläubigen dazu bewegen, sich der offiziellen Kirche anzuschließen. In der Regierungszeit Alexanders II. wurden die Maßnahmen wieder gelockert (und es stellte sich heraus, dass viele befreite Leibeigene Altgläubige waren), doch mit Alexander III. und Konstantin Pobedonoscev kehrte die Repression zurück. Und auch Nikolaus II. startete im Jahr 1900 noch eine letzte Runde der Repression gegen die Altgläubigen – fünf Jahre vor der Einführung der Religionsfreiheit. Auch wenn die Altgläubigen schon per definitionem keine Erneuerung der Orthodoxie oder der Kirche als Institution bewirkten, übten sie dennoch einen bedeutenden Einfluss auf die russische Kirche und die russische Gesellschaft insgesamt aus, gerade auch im Lichte des petrinischen Reformprojekts. Wegen ihres unerschütterlichen Konservatismus kann man die Altgläubigen als eine Art antipetrinischer Reaktion noch vor Peters Zeit bezeichnen. Mehr als alle anderen standen sie für die alte orthodox-moskowitische Kultur, die Peter loswerden wollte. In dieser Perspektive erscheint es paradox, dass die Nachsicht, mit der er und seine Nachfolger im 18. Jahrhundert die Altgläubigen behandelten, zum Teil von genau jenen aufklärerischen Ideen inspiriert war, die diese Leute veranlassten, Peter und sein System als antichristlich zu beschimpfen. Ebenso paradox ist die Tatsache, dass diejenigen Zaren des 19. Jahrhunderts, die die Altgläubigen am vehementesten verfolgten, Nikolaus I., Alexander III. und Nikolaus II., gerade diejenigen waren, die sich immer mehr auf den tiefsitzenden Konservatismus, den Traditionalismus und die orthodoxen Werte stützten, die die Altgläubigen treuer repräsentierten als jede andere Strömung im russischen Volk. Anstatt nun aber die ideale Allianz anzustreben zwischen dem orthodoxen Zaren und seinem treuen Volk, das beson-

79 Pospielovsky, Orthodox Church, 122–126.

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ders Konstantin Pobedonoscev so idealisiert hatte, entfremdete die offizielle Verfolgung viele Altgläubige vom Zarentum und trieb sie in die mehr oder weniger aktive Unterstützung revolutionärer Bewegungen.80 Ein anderer Aspekt des alten Glaubens war die Unabhängigkeit, die er zum Ausdruck brachte (was für sich genommen ebenfalls ein Grund für Verfolgung gewesen sein konnte). Weitab von Leibeigenschaft und Zarentum widerstanden viele Altgläubige erfolgreich der Verfolgung und bewahrten sich ein Maß an selbstbewusster Eigenständigkeit, wie es die offizielle russisch-orthodoxe Kirche nach Peter nicht länger besaß. Und so standen die Gemeinden der Altgläubigen weiterhin für eine Art alternativer Orthodoxie, die manchen sogar authentischer erschien, eine Orthodoxie frei von den Restriktionen, die der synodalen Kirche auferlegt worden waren. Diese Unabhängigkeit, die kein Selbstzweck war, hatte insofern auch weiterreichende soziale Auswirkungen, als manche altgläubigen Gemeinschaften sich als Förderer der tatkräftigsten Unternehmerfamilien und Einzelpersonen der russischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert erwiesen (unter denen Pavel Tret'jakov , der Gründer der Tret’jakow-Galerie, das prominenteste Beispiel sein dürfte). Die Altgläubigen waren nicht die einzige nichtkonforme religiöse Gruppe, die auf russischem Boden entstanden ist. Eine ganze Anzahl mehr oder weniger fanatischer Sekten (die Molokanen, die Duchoborzen, die Chlysten, die Skopzen u. a.), unter denen manche aus einem altgläubigen Umfeld hervorgingen, blieben das ganze 18. und 19. Jahrhundert hindurch präsent. Weil die Regierung sie als schädlich für die Gesellschaft einstufte, wurden diese Gruppen immer wieder zum Ziel von Unterdrückung, jedoch ohne nachhaltigen Erfolg. Sie blieben aber immer Randerscheinungen und übten niemals einen größeren Einfluss auf das religiöse oder gesellschaftliche Leben in Russland aus. Ihr einzig bekannter oder berüchtigter Vertreter war Grigórij Raspútin,. Seine Verbindung mit der Familie des letzten Zaren erlaubte es ihm, auf einige Ernennungen von orthodoxen Hierarchen Einfluss zu nehmen, doch erreichte er kaum ernsthafte Resonanz in der breiteren Gesellschaft.81 Größere Bedeutung hatten die unierten oder griechischen Katholiken. In ihrem Fall kann man jedoch darüber streiten, ob man sie als „einheimisch“ bezeichnen sollte. Sie bevölkerten hauptsächlich einige Gebiete im Westen, die sich Russland im Zuge der Teilungen Polens im späten 18. Jahrhundert angeeignet hatte (Wolhynien und Weißrussland). 200 Jahre lang hatten sie unter polnisch-litauischer Herrschaft gelebt und waren mehr oder weniger polonisiert und latinisiert. Als Anhänger der Union von Brest im Jahr 1596 hatten sie die Oberhoheit des Papstes und die Gültigkeit der römisch-katholischen Lehre anerkannt, aber den östlichen Ritus

80 Pospielovsky, Orthodox Church, 185. 81 Pospielovsky, Orthodox Church, 77; Hartley, Siberia, 135–137.

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3. „Fremde Religionen“: Von der Norm abweichende christliche Konfessionen

und die verheiratete Geistlichkeit beibehalten und waren in diesem Sinn orthodox geblieben. Die Unia kam also unter Ruthenen zustande, die vom russischen Staat ethnisch für russisch gehalten wurden, jedoch auf einem Gebiet, das seit dem 13. Jahrhundert nicht zu diesem Staat gehört hatte. Wäre dieses Gebiet damals russisch geblieben, dann wäre die unierte Kirche höchstwahrscheinlich nie entstanden. Im Grenzland zwischen dem östlichen und dem westlichen Christentum nahmen die Unierten eine Art Mittelposition.82 Dafür wurden sie traditionell von der orthodoxen Kirche als Häretiker und vom russischen Staat als eine Art Verräter angesehen. Im 19. Jahrhundert konnte diese Wahrnehmung aus großrussischer Sicht nur bestätigt werden, als die unierte Kirche zunehmend mit dem ruthenischukrainischen Nationalismus in Verbindung gebracht wurde. Dies erklärt auch ihr Schicksal im 19. Jahrhundert. Nach der Eingliederung des unierten Territoriums ins Russische Reich wurden die Unierten schrittweise mit der orthodoxen Kirche „wiedervereinigt“ – ein Prozess, der im Süden schon 1794 begann und während der Regentschaften Nikolaus’ I. und Alexanders II. abgeschlossen wurde. Im Jahr 1839 wurde die unierte Kirche in Weißrussland und in der Ukraine offiziell aufgelöst, 1875 in den polnischen Gebieten. Diese „Wiedervereinigungen“ schlossen die offizielle Konversion ganzer Bevölkerungsgruppen ein (insgesamt 3,3 Millionen Menschen) und wurden nur mit beträchtlichem Druck erreicht, wozu auch Kerkerhaft und unmittelbare militärische Gewalt gehörten. Solche Maßnahmen wurden von lokalen Behörden auch gegen zahlreiche römisch-katholische Christen in Weißrussland angewandt, von denen man annahm, dass sie mit der orthodoxen Kirche geschichtlich verbunden waren. In einem anderen Fall von Massenkonversion ging es um etwa 110 000 Angehörige der lutherischen Bauernbevölkerung Livlands (ca. 17 Prozent), die in den 1840er Jahren aus eigener Initiative um die Aufnahme in die orthodoxe Kirche baten. Sie taten dies in der Hoffnung, dass dies nach einer Reihe von Missernten die Behörden eher dazu veranlassen würde, ihnen zu helfen. Zwischen 1700 und 1900 wurden annähernd 3 965 000 Menschen als Konvertiten in die orthodoxe Kirche aufgenommen – ein beträchtlicher Wandel der religiösen Landschaft in den betroffenen Gebieten. Mit Blick auf das Gesamtbild lässt sich dennoch nicht sagen, dass diese Massenkonversionen als Beispiele für eine durchgängige und einheitliche Politik der religiösen Uniformität gelten können.83 Wie die Altgläubigen können auch die Unierten aus der Perspektive des petrinischen Projekts der Westorientierung betrachtet werden, auch wenn sie ein ganzes Jahrhundert vor Peter die Bühne betraten und ihren Ursprung in einer Sphäre

82 Skinner, Barbara, The Western Front of the Eastern Church. Uniate and Orthodox Conflict in 18th century Poland, Ukraine, Belarus, and Russia, DeKalb 2009. 83 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 17–20, 76–85 und 156; Pospielovsky, Orthodox Church, 102f.; Skinner, The Western Front, 196–225.

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jenseits des russischen Einflusses hatten. In diesem Licht betrachtet, stehen die beiden Bewegungen für gegensätzliche Tendenzen. Während die Altgläubigen mit ihrem starrköpfigen Bestehen auf ihrer eigenen Auffassung von der authentischen russischen Tradition eine anti-westliche Reaktion vorwegnahmen, repräsentierten die Unierten die Offenheit gegenüber dem Westen, zumindest auf kirchlicher Ebene. Selbst wenn die Anerkennung der päpstlichen Oberhoheit gewissermaßen auf römischen Druck hin erfolgt sein mag, führte die Union von Brest doch zu beträchtlichem westlichen (insbesondere jesuitischen) Einfluss auf die ruthenischen Gebiete im 17. Jahrhundert. Wie bereits angedeutet, fügten sich auch diese Einflüsse in den Zusammenhang der petrinischen Reformen. Aus dieser Warte scheinen die repressiven Maßnahmen russischer Regierungen im 19. Jahrhundert ein Gleichgewicht wahren oder Fallstricke vermeiden zu wollen: keinen Rückfall in ein übertriebenes Russentum mitsamt seiner Orthodoxie, aber auch keine allzu weitgehende Verwestlichung.

4. Orthodoxe Mission Für das nicht orthodoxe Christentum, das Judentum, den Islam und den Buddhismus wurden „Einbindung“ und Duldung zu Leitlinien der offiziellen Politik der russischen Regierungen. Für die sogenannten paganen Religionen wurde das kaum in Erwägung gezogen. Diesen Religionen gegenüber blieben sich Kirche und Staat einig über das Ziel, dass deren Anhänger christianisiert werden sollten. Die missionarischen Aktivitäten der russisch-orthodoxen Kirche außerhalb des historischen russischen Kernlandes, das heißt in Sibirien, Fernost, Alaska, China, Japan und anderenorts, sind ein bedeutender eigener Aspekt ihrer Geschichte. Sie waren weniger offensichtlich vom Synodalsystem geprägt, und weil sie weit entfernt von den Zentren der Verwaltung stattfanden, wurden sie sogar zu einem Rahmen, in dem orthodoxe Kirchenmänner unabhängiger von offiziellen Beschränkungen agieren konnten. Die orthodoxe Mission begann wie die russische imperiale Entwicklung im 16. Jahrhundert mit der Eroberung der Khanate von Kasan und Astrachan während der Herrschaft Ivans des Schrecklichen. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts waren ganze Völker der Wolga-Ural-Region – Tataren, Tschuwaschen, Mordwinen und Udmurten – vom Islam oder anderen Religionen zur Orthodoxie konvertiert worden, wobei sich die Versuche, Muslime zu bekehren, damals und später als letztlich wenig erfolgreich erwiesen.84 Mit der Eroberung Sibiriens im 17. und 18. Jahrhundert wurde

84 Werth, The Tsar’s Foreign Faiths, 76f.

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4. Orthodoxe Mission

das Missionsgebiet enorm erweitert. Die Russen trafen auf eine ungeheure Vielfalt indigener Völker, die sich zu verschiedenen schamanistischen und lamaistischen Religionen bekannten. Die große Zahl nicht christlicher sibirischer Völker und Stämme stellte eine immense Herausforderung dar für die orthodoxe Kirche wie für den russischen Staat, deren Interessen in diesem Punkt offensichtlich übereinstimmten. Ein russischer Kirchenmann des frühen 20. Jahrhunderts drückte es folgendermaßen aus: „All diese Rassen mussten der Nationalität und Zivilisation Russlands angegliedert werden, indem sie durch den Glauben an Christus erleuchtet wurden.“85 Mit anderen Worten: Die Christianisierung war kein reiner Selbstzweck, sondern ein Mittel nationaler und zivilisatorischer Integration, und so versah sie das entstehende Russische Reich mit einem Ziel, das dem anderer europäischer Kolonialreiche durchaus ähnlich war. Christianisierung, Zivilisation und Russifizierung gingen immer mehr Hand in Hand, wie sich besonders konkret im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigte, als zahlreiche Kirchen und Schulen in den neuen Siedlungen entlang der vorrückenden Transsibirischen Eisenbahn errichtet wurden.86 Die ersten missionarischen Initiativen waren den Herausforderungen jedoch kaum gewachsen, und zwar aufgrund der ungenügenden Kenntnis der ins Visier genommenen Völker und ihrer Sprachen. Nach einigen anfänglichen Erfolgen bei Tataren, Ostjaken, Wogulen und anderen Völkern Westsibiriens unter dem Metropoliten Filofej von Tobol'sk in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, später auch weiter im Osten unter Bischof Innokentij von Irkutsk, stagnierte die Mission um die Jahrhundertmitte und kam für lange Zeit praktisch zum Erliegen. Erst in den 1820er Jahren wurde die Missionsarbeit wieder aufgenommen, als der Synod sich zu einem langfristigen systematischen Einsatz entschloss. Das führte dazu, dass der wichtigste Beitrag zur Mission im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfolgte. Die erste Hürde bestand in der Bereitstellung von Übersetzungen der Liturgie und der Schrift in die große Zahl weitgehend unbekannter Sprachen. Bereits 1802 hatte der Synod eine Weisung zur Übersetzung kurzer Katechismen und Gebete erlassen, doch war mehr vonnöten, wenn die Mission erfolgreich sein sollte. Ein entscheidender Schritt in diese Richtung war die Eröffnung eines Fachbereichs für Islam und östliche Religionen sowie für sibirische Sprachen an der Theologischen Akademie von Kasan im Jahr 1842. Diese Institution sollte eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung des Christentums überall in Sibirien und darüber hinaus spielen. Ein wesentlicher Akteur bei diesem Unternehmen war ein Absolvent der Akademie, Nikolaj Il'minskij (1846), dessen umfassende linguistische Bildung und Organisationstalent große Wirksamkeit entfalteten. Unter seiner Mitarbeit und zuletzt unter seiner Leitung gelang es der Akademie von Kasan bis zu seinem Tod im Jahr

85 Smirnov, Evgenii, A Short Account of the Historical Development and Present Position of Russian Orthodox Missions, London 1903, 7. 86 Smirnov, A Short Account, 74.

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Das Christentum in Russland 1700–1917

1891, eine umfassende Reihe von Übersetzungen der Liturgie, der Heiligen Schrift, von Informationsschriften und Lehrbüchern in den Sprachen der Tataren, Jakuten, Burjat-Tungusen, Golden, Wotjaken, Mordwinen, Tscheremissen, Ostiak-Samojeden und Kirgisen herauszubringen. Da die meisten dieser Sprachen nicht als Schriftsprachen existierten, war die Erstellung dieser Übersetzung (in kyrillischer Schrift) eine Großtat linguistischer Kreativität.87 Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang eine Entscheidung, die bereits früh im Verlauf des Prozesses getroffen wurde, nämlich einem Vorschlag Il'minskijs zu folgen, den er hinsichtlich der tatarischen Sprache gemacht hatte: Anstatt bei der Übersetzung christlicher Texte auf die Sprache zurückzugreifen, die in Moscheen und Koranübersetzungen Verwendung fand und stark vom Arabischen beeinflusst war, sollte besser die tatsächliche Volkssprache, die für gewöhnliche Tataren unmittelbar verständlich war, verwendet werden. Als diese Entscheidung zum Erfolg führte, wurde dieses Prinzip bei Übersetzungen in alle anderen Sprachen angewandt, soweit es passte. Auf diese Weise schenkte die 0rthodoxe Kirche diesen Völkern einen Zugang zum Christentum in deren eigener Sprache, und zwar so, wie sie in ihrer Zeit gesprochen wurde. Vom Prinzip her war das der gleiche Weg, über den auch den Slaven im 9. und 10. Jahrhundert das Christentum nahegebracht wurde. Neben dem wichtigen Fortschritt für die Mission hatte diese Errungenschaft auch weitere, anhaltende kulturelle und zivilisatorische Auswirkungen. Genauer gesagt führte es zu zwei unbeabsichtigten und teilweise widersprüchlichen Konsequenzen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts: Was die Russen anbelangte, schufen diese Übersetzungen die eigentümliche Situation, dass die neu bekehrten nicht russischen Völker der sibirischen Teile des Russischen Reichs den orthodoxen Glauben dieses Reichs in ihrer eigenen Sprache, wie sie aktuell gesprochen wurde, feiern konnten, dass die Russen selbst dies aber in einer uralten archaischen Version ihrer Sprache tun mussten, das heißt im tausend Jahre alten Kirchenslawisch, das längst nicht mehr unmittelbar ohne besondere Anstrengung verstanden werden konnte. Denkt man an die Hindernisse, die der Übersetzung der Bibel ins Russische in den Weg gelegt wurden, ist es paradox zu beobachten, in welcher Geschwindigkeit und Effizienz die Bibel ungefähr zur selben Zeit in eine ganze Reihe nicht russischer Sprachen übersetzt wurde. Die andere Konsequenz, die sich aus den Übersetzungen ergab, war die, dass die für die neu bekehrten Völker geschaffene Schriftsprache, die den Zweck hatte, sie ins Russische Reich zu integrieren, zugleich zu einem Impuls und Medium für das Entstehen eines Nationalbewusstseins unter diesen Völkern wurde, also zu einem potenziell desintegrierenden Faktor. Am deutlichsten zeigte sich dies in der panturkistischen Bewegung, die in den 1880er Jahren unter den Krimtataren aufkam.88

87 Smirnov, A short Account, 39; Pospielovsky, Orthodox Church, 160. 88 Pospielovsky, Orthodox Church, 160–161.

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5. Christliches Denken und Spiritualität in der Synodalzeit

Trotz solcher Spannungen, Widersprüche und mancher Rückschläge waren die Missionsanstrengungen der orthodoxen Kirche nach eigenen Maßstäben in weiten Bereichen erfolgreich. Dank dieser Bemühungen war es dem orthodoxen Christentum gelungen, sich jenseits der Grenzen des historischen Russlands fest zu etablieren. Im Kaukasus (der dem Russischen Reich im frühen 19. Jahrhundert angegliedert wurde) wurden Stämme wie die Osseten und Abchasen, die zuvor zum Islam konvertiert waren, bis zur Jahrhundertmitte zu Zehntausenden zur Rückkehr zum Christentum bewegt. In Alaska begann die Mission im Jahr 1794 und wurde seit 1824 unter den Aleuten und Tlingit fester etabliert, nachdem eine Schriftsprache für diese Völker geschaffen worden war. Als Alaska schließlich an die USA verkauft wurde, wurde die orthodoxe Mission dort zur ersten russischen Überseemission. Im fernen Osten wurde eine fast komplette Bekehrung der riesigen Region von Jakutsk erreicht, und in Kamtschatka und Wladiwostok wurden im späten 19. Jahrhundert Diözesen als Missionszentren eingerichtet.89 Russisch-orthodoxe Missionen ließen sich auch jenseits der Grenzen des Russischen Reichs nieder, nicht nur in Alaska, sondern anfänglich auch in China (begonnen im Jahr 1686) und zuletzt in Korea, Japan (wo russische Missionare ebenfalls die maßgeblichen Übersetzungen lieferten), Amerika und im Nahen Osten.

5. Christliches Denken und Spiritualität in der Synodalzeit Das Synodalregime wirkte sich nicht allein auf die Verwaltung und das Leben der orthodoxen Kirche aus, sondern auch, ohne das beabsichtigt zu haben, auf die Entwicklung des geistlichen Lebens und des religiösen und theologischen Denkens. Zwei unterschiedliche Bewegungen kamen im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts auf und entfalteten sich bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein. Beiden ging es um die Wiederbelebung dessen, was sie für „authentische“ Orthodoxie hielten. Sie entwickelten sich bezeichnenderweise an den Rändern oder außerhalb der etablierten Kirche, abseits der offiziellen Zentren der Lehre und Verwaltung. Die erste und spirituell bedeutendste Bewegung setzte mit dem Auftreten heiliger Männer oder „Ältester“ (startsy, Starzen) ein. Es handelte sich meist, aber nicht notwendigerweise um Mönche, deren geistliche Beratung zu einer weithin bekannten religiösen Institution wurde, wenn auch nie als formelle Einrichtung der Kirche. Am berühmtesten war der Mönch Paisij Weličkowskij (1722–1794), ein Ver-

89 Pospielovsky, Orthodox Church, 160f., 170–172.

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Das Christentum in Russland 1700–1917

fechter des hesychastischen90 Jesusgebets, der eine alte spirituelle Tradition wiederbelebte, die in Russland mindestens seit Nil Sorskij bekannt war, aber ursprünglich von der Mönchskolonie am griechischen Berg Athos stammte. Weličkowskijs Übersetzung der Philokalia, eines Handbuchs der mystischen Spiritualität, wurde zu einer herausragenden Inspiration für das Starzentum im 19. Jahrhundert. Unter dessen verschiedenen Zentren wurde die Einsiedelei des OptinaKlosters (Optina Pustin) südwestlich von Moskau zur berühmtesten Pilgerstätte. Dort boten Starzen wie Makarij (1788–1860) und Amvrosij (1812–1891) einer großen Zahl russischer Ratsuchender ihre Unterweisung an. Zu ihnen gehörten auch Schriftsteller und Denker wie Dostojevskij, Tolstoj und Vladimir Solov'ëv.91 Die andere wichtige Bewegung ist die Entstehung einer Tradition der Religionsphilosophie und Theologie. Sie setzt in den 1830er Jahren ein und ist der erste ernsthafte Versuch, über die Konsequenzen aus Peters Reformen systematisch zu reflektieren und eine Antwort darauf aus spezifisch orthodoxer Perspektive zu finden. Die Bewegung nahm ihren Anfang im Jahr 1836 mit einer scharfen Kritik der russischen Geschichte von Pëtr Čaadaev (1796–1856). Er vertrat die Auffassung, dass die Geschichte Russland anscheinend in einer Art historischen Vakuums zurückgelassen habe – ohne Vergangenheit und ohne Zukunftsperspektive. Keine der großen historischen Entwicklungen, die die Zivilisation Westeuropas geprägt hätten, habe jemals Auswirkungen auf Russland gehabt, und nichts von Wert sei jemals aus Russland gekommen. Was in Russland als Kultur durchgehe, sei nichts als eine bastardisierte Version dessen, was man sich bei anderen Völkern geborgt habe. Deshalb habe Russland keine Identität, sondern sei wie „ein Blatt weißes Papier“, auf dem Peter der Große endlich zu schreiben begonnen habe. Die Ursache dieser Misere liege darin, dass Russland von Konstantinopel aus christianisiert worden sei und dem Land deshalb der segensreiche Einfluss des Katholizismus fehle. Für Russland sei nur die stagnierende und statische orthodoxe Kirche geblieben.92 Čaadaevs Kritik entfachte eine erhitzte Debatte über das Vermächtnis Peters, das Schicksal Russlands und die Bedeutung der Orthodoxie. Seit den 1840er Jahren standen dabei zwei Lager einander gegenüber: die „Westler“ (zapadniki) und die „Slawophilen“ (slavianofily). Beide Gruppen hatten regen Zulauf, doch sorgten sie in den Jahrzehnten vor 1917 auch für einen bleibenden Gegensatz in den sozialen, kulturellen und politischen Diskursen Russlands. Die Westler glaubten mit Čaadaev, dass Russland sich dem Weg Westeuropas anschließen müsse, wie Peter das angestoßen habe, auch wenn sie, anders als

90 Vgl. Schjörring/Hjelm, Globales Christentum I, S. 136. 91 Onasch, Grundzüge der russischen Kirchengeschichte, 108f., 118f.; Louth, Andrew, Modern Orthodox Thinkers. From the Philokalia to the Present, London 2015, 1–12. 92 Walicki, Andrzej, The Slavophile Controversy. History of a Conservative Utopia in Nineteenth-Century Russian Thought, Oxford 1975, 98–101 und 105.

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5. Christliches Denken und Spiritualität in der Synodalzeit

Čaadaev, meist Atheisten oder Agnostiker waren. Frühe „progressive“ Westler wie Vissarion Belinskij (1811–1848) und Aleksander Gercen (1812–1870) befürworteten normalerweise das Erbe der Französischen Revolution, die anfangs für Liberalismus, verfassungskonformes Regieren, demokratische Verfahren und die Rechte der Einzelnen eintrat, was in Russland alles nicht existierte. Wie die Dekabristen wollten die Westler die von Peter vorgezeichnete Europäisierung in eine Richtung vorantreiben, der die Regierung nicht folgen konnte, ohne sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Mit der Unnachgiebigkeit des Zarenregimes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Nihilismus, Anarchismus und Sozialismus immer stärker. Auch wenn manche weiterhin liberale Werte vertraten, bestimmte doch zunehmend der Sozialismus die Position der Westler. Die anhaltende Radikalisierung führte zuletzt in Richtung einer revolutionären Bewegung, aus der ein Zweig dann im Jahr 1917 triumphierte. Die Slawophilen vertraten die entgegengesetzte Sicht: Russland käme am besten voran, wenn es seine heimische Kultur und seine eigenen Traditionen aus der Zeit vor der Ära Peters des Großen wiederbeleben würde. Dies war unter russischen Gegebenheiten eine Form des Konservatismus, doch war es in gewissem Sinne im Kontext des petrinischen Regimes auch eine radikale Position. Die ersten, die diese Idee propagierten, waren Aleksej Chomjakov (1804–1860) und Ivan Kireevskij (1806–1856).93 Weitere frühe Slawophile waren Peter Kireevskij (1808–1856), Konstantin und Ivan Aksakov (1817–1860 und 1823–1886) sowie Jurij Samarin (1819– 1876). Die slawophile Position basierte zum Teil auf einer philosophischen Kritik von Westeuropas philosophischer Tradition (hauptsächlich von Kireevskij), zum anderen Teil auf der orthodoxen Ekklesiologie (hauptsächlich von Chomjakov). Die Kritik der westlichen Philosophie zielte auf deren fragmentierten Rationalismus, für den auf je verschiedene Weise Katholizismus und Protestantismus standen, wohingegen die orthodoxe Ekklesiologie nicht nur eine Theorie der Kirche war, sondern ein Ideal des Zusammenlebens. Die vermeintliche „Ganzheit“ der orthodoxen Wahrheit fand ihren Niederschlag in Chomjakovs Ausdruck sobornost': der freien Gemeinschaft in Christus, wie die frühe Kirche sie praktiziert hatte. Inspiriert vom Heiligen Geist und verwirklicht durch die konziliare Verfassung der orthodoxen Kirche sei sobornost' immer noch eine – zumindest latente – Realität in der russischen Kirche und im russischen Volk.94 Von solchen Ideen ausgehend glaubten die Slawophilen, dass Russlands „historisches Vakuum“ nicht bloße Rückständigkeit sei, sondern durchaus von Vorteil, hatte es das Land doch vor den schädlichen Auswirkungen des westlichen Rationalismus bewahrt: vor Materialismus, Nihilismus, Atheismus und Säkularisierung,

93 Walicki, The Slavophile Controversy, 121–178 und 179–237. 94 Walicki, The Slavophile Controversy, 192–195.

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Das Christentum in Russland 1700–1917

die jetzt die europäischen Gesellschaften aushöhlten. Dank seiner orthodoxen Tradition sei Russland vor Peter auf einem Sonderweg gewesen, auf den es nach Ansicht der Slawophilen zurückkehren müsse. Auch wenn Westeuropa materiell überlegen sei, sei die europäische Zivilisation eine Sackgasse. Russland und die Orthodoxie hingegen stünden für den Weg zu einem authentischen christlichen Leben. Die Unausführbarkeit der romantischen und utopischen Vorstellungen der Slawophilen mag der Nachwelt klar vor Augen stehen. Sie waren jedoch wichtig, weil sie der erste konsequente Versuch waren, die Identität Russlands und der Orthodoxie aus sich selbst heraus zu bestimmen, anstatt sie als verspätete oder irregeleitete Spielart ihrer westeuropäischen Pendants zu betrachten. Unbeschadet der einzelnen Analysen und Argumente markierte die Slawophilie eine wesentliche Position und Grundeinstellung von bleibender Bedeutung. Die Betonung der orthodoxen, vorpetrinischen Vergangenheit Russlands, der engen Verbindung zwischen der Orthodoxie und dem russischen Volk und seiner besonderen Rolle als Träger von Wahrheit und authentischen Werten sowie der Einzigartigkeit von Russlands Lage fanden alle ihren Widerhall im gesellschaftlichen Denken bis ans Ende der Synodalen Periode. Später wurden die Ideen der Slawophilen diskutiert, weiterentwickelt und erläutert von Schriftstellern und Denkern wie Fëdor Mihajlovič Dostojevskij (1821–1881), Vladimir Sergeevič Solov'ëv (1853–1900), Sergej Bulgakov (1871–1944), Nikolaj Berdjaev (1874–1948) und vielen anderen. Nicht nur als abstrakte Gedanken tauchten sie auf, sondern auch als Inspiration für Kunst, Architektur, Design, Literatur, Musik, Politik und, in einer späten Phase, für konkretes soziales Handeln in manchen Kreisen der orthodoxen Kirche. Ein anderes bleibendes Merkmal war die Kritik des „Westens“, westlicher Prinzipien und Praktiken sowie, in enger Verbindung damit, zahlreicher „moderner“ Entwicklungen. Während einige slawophile Vorstellungen eindeutig antimodern waren, könnte man manche späteren Ideen vielleicht besser als „gegenmodern“ bezeichnen, das heißt als Versuche, einen nicht westlichen Weg zur Moderne zu beschreiben.

6. Die Orthodoxe Kirche im frühen 20. Jahrhundert Die letzte Phase des Synodalsystems fiel mehr oder weniger exakt mit der Regentschaft des letzten Zaren, Nikolaus II. (1894–1917), zusammen – wenn nicht aufgrund seiner persönlichen Frömmigkeit, dann gewiss deshalb, weil es während seiner Herrschaft die ersten ernsthaften Versuche seit Peter dem Großen gab, das System zu erneuern oder gar zu reformieren. In der Regierungszeit von Nikolaus wurden mehr neue Heilige kanonisiert als in den vorangegangenen zwei Jahrhunderten. Das war schon für sich genommen die Anerkennung einer lange vernach-

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6. Die Orthodoxe Kirche im frühen 20. Jahrhundert

lässigten Seite der Orthodoxie.95 Nikolaus zeigte sich Reformanliegen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen, jedoch weigerte er sich wiederholt, Reformschritte tatsächlich umzusetzen, und hielt so das System am Leben – bis es zusammen mit ihm verschwand, als er im März 1917 abdankte. Im Nachhinein erscheint diese Entwicklung charakteristisch für die Situation gewesen zu sein. Die Notwendigkeit einer Reform des Synodalsystems war zuletzt unumstritten, doch kann man das Scheitern ihrer Umsetzung als eine von vielen verpassten Gelegenheiten sehen, die den Weg zum endgültigen Zusammenbruch von 1917 ebneten. Viele Entwicklungen und Probleme der vorangegangenen zwei Jahrhunderte scheinen in den beiden letzten Jahrzehnten des petrinischen Reichs auf katastrophale Weise zusammenzutreffen. Zudem kam es, außerhalb der Kirche, während Nikolaus’ Regentschaft zu bedeutenden wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen in der russischen Gesellschaft. Ein Regierungsprogramm zur Industrialisierung, das in den 1890er Jahren von Finanzminister Sergej Vitte initiiert worden war, beschleunigte die Wirtschaftsentwicklung rapide und führte zu einem Anstieg der arbeitenden Bevölkerung in den Städten. Ökonomisch gesehen war Russland nun nicht mehr bloßer Exporteur von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten (obwohl diese immer noch den Hauptanteil der Wirtschaft ausmachten), sondern schickte sich an, Teilnehmer der expandierenden Marktwirtschaft des Industriekapitalismus zu werden.96 Dieser weitere Schritt der Verwestlichung war die logische Fortführung der Politik früherer Regierungen, doch er brachte zugleich den Import einer Reihe von sozialen und politischen Problemen mit sich, die bis dahin in Russland kaum eine Rolle gespielt hatten. Zum traditionellen Spannungsverhältnis zwischen Grundbesitzern und Bauern kam nun in den großen Städten das neue Verhältnis zwischen Fabrikbesitzern und Arbeitern hinzu. Mit dem voranschreitenden Städtewachstum war der „europäische“ Lebensstil nicht mehr nur den Eliten vorbehalten – auch die entstehende Arbeiterklasse erhielt ihren Anteil daran, aber vor allem an seinen Schattenseiten in Form von Armut, Slums und Elend. Damit einher gingen dann auch eine wachsende Säkularisierung und Entfremdung von der traditionellen russisch-orthodoxen Kultur des Dorflebens. Die Kluft zwischen Stadt und Land wurde größer und stellte die Kirche vor eine Herausforderung ganz neuer Art. Zur Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert war die orthodoxe Kirche eine beindruckende Institution. Mit etwa 100 Millionen Gläubigen war sie die größte einzelne „nationale“ Kirche der Welt. Sie war in einer privilegierten Position, vom Gesetz und der Polizei geschützt als offizielle Staatskirche eines der größten Rei-

95 Tsypin, Istoriia Russkoi, 296. 96 Malia, Martin, Russia, 172f.; Pipes, Richard, Die Russische Revolution, Bd. 1, Berlin 1994, 142–149.

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Das Christentum in Russland 1700–1917

che der Welt. Sie bestand aus 67 Diözesen, die von 130 Bischöfen geleitet wurden, und war bis hinab auf die Dorfebene in rund 48 000 Gemeinden überall im Russischen Reich präsent. Kaum eine andere Institution des offiziellen Russland kam ihr darin gleich. Um diese Struktur aufrechtzuerhalten, unterhielt die Kirche vier theologische Akademien und 57 kirchliche Seminare mit einer Gesamtzahl von ungefähr 20 000 Studenten. Hinzu kamen etwa 35 000 Konfessionsschulen, 185 kirchliche Hochschulen und über 1 000 Klöster.97 An der Spitze der Kirche gelang es dem (Aller-)Heiligsten Regierenden Synod und dem alternden Oberprokuror Konstantin Pobedonoscev, das Synodalsystem unnachgiebig aufrechtzuerhalten. Rein äußerlich betrachtet war also die russisch-orthodoxe Kirche immer noch ein integraler Bestandteil der letzten Bastion des Ancien Régime in Europa. Dieses Erscheinungsbild täuschte jedoch. Wie die revolutionären Ereignisse bald zeigen würden, befand sich die orthodoxe Kirche in einem geschwächten Zustand. Sie war isoliert vom Rest der Gesellschaft und nur schlecht darauf vorbereitet, auf die Probleme und Widersprüche ihrer eigenen Situation und jene der ganzen Gesellschaft zu reagieren. Viele zeitgenössische kirchenkritische Intellektuelle und spätere Historiker waren sich darüber im Klaren und sahen es als Anzeichen für die Stagnation und Agonie der orthodoxen Kirche, doch sollte nicht übersehen werden, dass auch zeitgenössische Kirchenleute auf allen Ebenen – wenn auch nicht überall in der Kirche – sich des Ernsts der Lage völlig bewusst waren. Ihr Aufruf zur Reform zeigt zudem, dass sie auch bereit waren, etwas zu unternehmen.98 Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dann wurde dieser mit dem Jahr 1905 erbracht. Die Krise dieses Jahres, die alle Schichten der Gesellschaft betraf, hatte sowohl externe als auch interne Ursachen. Außenpolitisch war es der Krieg Russlands mit Japan, begonnen im Jahr zuvor, der zu einem schweren Ansehensverlust für das Russische Reich führte. Nach mehreren Niederlagen an Land und auf See erlitt Russland den schmachvollsten Schlag im Mai 1905, als Russlands Ostseeflotte, nachdem sie den halben Globus umrundet hatte, an der Koreastraße beinahe vollständig von den Japanern zerstört wurde. Das darauf folgende Friedensabkommen vom September 1905 hatte den russischen Rückzug aus der Mandschurei und aus Korea sowie die japanische Annexion der Insel Sachalin zur Folge. Selbst wenn das relativ unbedeutend war, war die Zurückweisung der imperialen Ambitionen Russlands durch den kleinen Emporkömmling Japan zugleich das erste Mal in der Moderne, dass eine europäische Nation von einer asiatischen Nation in einer direkten militärischen Konfrontation besiegt worden war. Dieser Aspekt der russischen Niederlage hatte weltweite Bedeutung. Auch

97 Pospielovsky, Orthodox Church, 198–199; Tsypin, Istoriia Russkoi, 794–796; Cunningham, James W., A Vanquished Hope. The Movement for Church Renewal in Russia, 1905–1906, Crestwood, NY 1981, 15–47. 98 Cunningham, Vanquished Hope.

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6. Die Orthodoxe Kirche im frühen 20. Jahrhundert

wenn Russlands Glaubwürdigkeit in Westeuropa oder in Russland selbst angezweifelt wurde, war das bis dahin doch nie von Japan aus oder irgendwo sonst in Asien geschehen. Die russische Konfrontation mit Japan hatte der Welt gezeigt, wie weit die Russen ihr Reich ausdehnen und ihre Version der europäischen Zivilisation – und mit ihr das Christentum – in die Welt hinaustragen konnten, aber sie zeigte auch, dass sie nun eine Grenze erreicht hatten und vor einem Widersacher standen, den sie einfach nicht überwinden konnten. Innenpolitisch wirkte sich die Niederlage umgehend auf die russische Gesellschaft aus. Die Ernüchterung und Demoralisierung entfesselten eine Menge aufgestauter Unzufriedenheit mit dem Zarenregime und stellten so die Regierung vor große Probleme – bereits während der Krieg noch im Gang war. Der erste und sichtbarste Protest fand statt am Sonntag, dem 9. (22.) Januar 1905, den man später als „Blutigen Sonntag“ bezeichnete. Ein orthodoxer Priester, Georgij Gapon, führte eine große Arbeiterdemonstration in Form einer traditionellen orthodoxen Kreuzesprozession (krestnyi khod) zum Winterpalast in Sankt Petersburg. Die Arbeiter trugen Kreuze, Ikonen und Porträts des Zaren, sie waren unbewaffnet und friedlich und nicht eigentlich politisch. Ihr Ziel war die Übergabe einer Petition direkt an den Zaren in der Hoffnung, dass dieser sich mit ihren Beschwerden auseinandersetzen und ihre Arbeitsbedingungen in einer Reihe konkreter Punkte verbessern würde. Als die Demonstranten sich dem Palast näherten, eröffnete die Palastwache das Feuer und tötete und verwundete mehrere hundert Teilnehmer.99 Dieses Ereignis wurde zu einem Wendepunkt für das Zarentum und die orthodoxe Kirche, denn ein Sturm des Protests und der Empörung brach los und erschütterte das Regime so heftig, dass es beinahe darüber stürzte. Drei wohlbekannte Oppositionsgruppen meldeten sich auf der Bühne zurück: die Liberalen, die Terroristen und die Marxisten. Sie alle verlangten das Ende des Ancien Régime, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Mitteln und Zielen. Was das Zarentum anging, richtete der Blutige Sonntag irreparablen Schaden an, sowohl an der Institution als auch am persönlichen Ansehen Nikolaus’ II. Obwohl er an jenem Tag nicht im Palast gewesen war und nicht persönlich den Schießbefehl gegeben hatte, gab man ihm die Schuld an den Toten und am Verrat des jahrhundertealten Glaubens, dass der Zar sein Volk schützen würde. Man warf ihm vor, den ungeschriebenen Kontrakt zwischen Zar und Volk, auf den sich Pobedonoscev verlassen hatte, grob verletzt zu haben. Damit schien der Zar alle Legitimation verloren zu haben, wie selbst Gapon es ausdrückte: „Es gibt keinen Gott mehr, es gibt keinen Zaren.“100 Im Laufe des Jahres wurden die Proteste so bedrohlich, dass der Zar sich schließlich, ganz gegen seine eigene Neigung, im Oktober 1905 in einem Manifest mit der Einführung grundlegender Bürgerrechte und eines gewählten repräsentativen

99 Cunningham, Vanquished Hope, 93; Pipes, Russische Revolution, Bd. 1, 51–57. 100 Zit. nach Pipes, Russische Revolution, Bd. 1, 57.

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Das Christentum in Russland 1700–1917

Organs, des ersten russischen Parlaments in der Geschichte, einverstanden erklärte. Das Manifest wurde bestätigt im Reichsgrundgesetz des Russischen Zarenreichs, das im April 1906 als allererste russische Verfassung in Kraft trat. Allerdings hielt das Gesetz zugleich fest – und die tatsächliche Umsetzung bestätigte es –, dass noch immer der Zar die höchste uneingeschränkte Macht innehatte. Die gewählte Duma war kein unabhängiger Gesetzgeber. Trotz der offiziellen Reform blieb die neue Regierung ein halbherziges, nur quasi-konstitutionelles Arrangement. Sie wurde vom Zaren selbst nie respektiert, doch sie konnte den endgültigen Zusammenbruch des Regimes um weitere elf Jahre hinausschieben.101 Auch für die Kirche schuf die politische Entwicklung eine neue ungeklärte Lage. Vor dem Manifest vom Oktober hatte die Regierung bereits in ihrem Toleranzmanifest vom April 1905 (angekündigt im Dezember 1904) Religionsfreiheit gewährt. In der Hoffnung, das friedliche Zusammenleben unter den Einwohnern des Zarenreichs zu fördern, hob die Regierung überraschend einige lange bestehende Restriktionen für Orthodoxe und Nichtorthodoxe auf. In der Folge ergriffen Gläubige in großer Zahl (exakte Daten sind nicht bekannt) die Gelegenheit, zur Religion ihrer Wahl zu konvertieren oder zurückzukehren. Allein unter ehemaligen Unierten bzw. ihren Nachkommen entschied sich eine halbe bis eine Million, zum unierten Glauben zurückzukehren. Auch andere frühere Massenkonversionen zur Orthodoxie erwiesen sich in ähnlicher Weise als unbeständig.102 Die Einführung der Religionsfreiheit brachte die orthodoxe Kirche, die immer noch unter dem Synodalsystem lebte, in die eigentümliche Lage, im Verhältnis zu all den nicht orthodoxen oder sogar antiorthodoxen Minderheiten plötzlich benachteiligt zu sein. Während die Sanktionen gegenüber jenen aufgehoben wurden, blieben die Bindungen der der orthodoxen Kirche an den Staat weiterhin bestehen. Sie war nicht frei, unabhängig zu handeln und sich augenblicklichen Herausforderungen zu stellen. Dieses Problem wurde dem Zaren schon im Dezember 1904 erläutert (vom Metropoliten Antonij von Sankt Petersburg), als die Religionsfreiheit angekündigt worden war. Darüber hinaus bedeutete die Einrichtung der Duma, dass die orthodoxe Kirche von 1906 an nicht nur vom Zaren abhängig war, der wenigstens nominell orthodox war, sondern auch von den Mitgliedern der Duma, in der alle Arten von nicht orthodoxen, antiorthodoxen und religionsfeindlichen Meinungen vertreten waren.103 Die neue Staatsform brachte eindeutig auch die Staatskirche in eine neue Situation. Der nächstliegende Ausweg schien in der Wiederherstellung der vollen Autonomie der Kirche zu bestehen. Dass dies die Position der Kirchenführung war, zeigte sich schon im Lauf des Jahres 1905, sehr zum Erstaunen von Oberprokuror

101 Pipes, Russische Revolution, Bd. 1, 85–89. 102 Cunningham, Vanquished Hope, 127f. 103 Pospielovsky, Orthodox Church, 195.

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Pobedonoscev , der auf den Konservatismus der Hierarchie gezählt hatte, um das bestehende System zu erhalten. Während aber ein Regierungsmemorandum zur Kirchenreform (verfasst von Bischof Sergij von der Sankt Petersburger Theologischen Akademie) das Synodalsystem verwarf und eine unverzügliche Einberufung eines Lokalkonzils (sobor) forderte, um die Kirche von aller staatlichen Kontrolle zu befreien, ging der Synod selbst sogar noch weiter und rief zur Wiedereinführung des Patriarchats auf. Wie sich zeigte, teilten fast alle Diözesanbischöfe der orthodoxen Kirche diese Sicht. Pobedonoscev hatte an alle einen Fragebogen geschickt, der ihnen die Gelegenheit gab, ihre Sicht zur Lage der Kirche ausführlich zu schildern. In ihren Antworten lehnten die Bischöfe fast einhellig das Synodalsystem ab und mit ihm die Folgen einer zweihundertjährigen Unterordnung der Kirche unter den Staat. Die Bischöfe glaubten, dass die lange Periode, in der die Kirche dem Staat als Werkzeug zur Durchsetzung seiner politischen Interessen gedient hatte, diese verkrüppelt und ihrem Ansehen im Volk geschadet hatte. Eine Trennung von Kirche und Staat würde deshalb nicht nur die religiöse Leidenschaft der Menschen wiedererwecken, sondern die Kirche in die Lage versetzen, wirksamer als moralischer Führer in der russischen Gesellschaft gegen die kritische Intelligenzija aufzutreten. Die Bischöfe träumten sogar von der Wiedererrichtung der byzantinischen „Symphonie“ in den kirchlichstaatlichen Beziehungen – sie sollte zum leitenden Prinzip für das Verhältnis zwischen der neuen Duma und einer erneuerten konziliaren Kirchenführung werden. Kurz, die Bischöfe forderten eine grundlegende Reform der orthodoxen Kirche: Abgesehen von der Abschaffung des Oberprokurors, der Unabhängigkeit vom Staat und der Wiedereinrichtung des Patriarchats, riefen sie auch nach regelmäßigen Konzilen, der Dezentralisierung der Kirchenstruktur, der Wiedereinführung der Autonomie der Gemeinden, die berechtigt sein sollten, ihre eigenen Gemeindepriester zu wählen, sowie nach aktiverer kirchlicher Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und nach der Feier der Liturgie in einer Sprache, die näher an der Umgangssprache sei.104 Im zeitgenössischen Kontext zielten diese Vorschläge auf eine umfassende Veränderung der orthodoxen Kirche. Man konnte sie durchaus für radikal halten, wenn auch einige von ihnen eigentlich eine Rückkehr zu älteren, vorpetrinischen Gepflogenheiten verlangten. Zweihundert Jahre nach der Einführung des Synodalsystems, das dem Ziel der „Modernisierung“ dienen sollte, wurde dieses System nun hauptsächlich von erzkonservativen Antimodernisten wie Konstantin Pobedonoscev aufrechterhalten, wohingegen die Kirchenmänner, die sich für Reformen einsetzten, um die Kirche zu revitalisieren und in engeren Kontakt mit der Gegenwart zu bringen, sich an Prinzipien und Praktiken orientierten, die man als „vormodern“ bezeichnen könnte.

104 Cunningham, Vanquished Hope, 160f.; Pospielovsky, Orthodox Church, 192.

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Diese Überlegungen hätten den Zaren kaum beunruhigt, aber sein tatsächliches Wanken drückte natürlich die tiefe Ambivalenz der Situation aus. Anfänglich war Nikolaus für die Idee eines Sobor und die Einleitung von Kirchenreformen durchaus aufgeschlossen. Im April 1905 gestattete er auch Konsultationen zur detaillierten Vorbereitung des Sobor, doch 1907 entschied er sich schließlich doch gegen dessen Einberufung. Das Muster wiederholte sich im Jahr 1912, als der Synod eine VorSobor-Konferenz einberief in der Hoffnung, dass die Feier des dreihundertjährigen Bestehens der Romanow-Dynastie (1913) ein Anlass für einen Sobor sein könnte, und zuletzt noch einmal im Jahr 1916, als geistliche Mitglieder der Duma an den Zaren appellierten, umgehend einen Sobor einzuberufen und einen Patriarchen zu wählen.105 Zu dieser Zeit war Russland jedoch schon am Rande des Zusammenbruchs und des Chaos – der Erste Weltkrieg brachte verheerende Schäden und Unglück über Russland, sowohl an der Front als auch im Hinterland. Der Ruf nach Reformen wurde indessen nicht nur von der Spitze der Hierarchie her laut, sondern kam auch von einfachen Priestern. So bildete, ebenfalls 1905, eine Gruppe von 32 Priestern aus Sankt Petersburg eine „Vereinigung für die Erneuerung der Kirche“, um ihre Ansichten im Blick auf die Notwendigkeit einer Kirchenreform zum Ausdruck zu bringen. Sie griffen viele Forderungen der Bischöfe auf, riefen aber auch nach der Entwicklung eines sozialen Christentums und nach einem konkreten Einsatz für soziale Gerechtigkeit seitens der Kirche. Besorgt über die sozialen Verhältnisse äußerten sich auch die meisten geistlichen Mitglieder der ersten beiden Dumas, die sich linksgerichteten und zum Teil sogar revolutionären Parteien anschlossen. Für die Regierung war das so schockierend, dass im Jahr 1907 Geistlichen verboten wurde, sozialistischen Parteien beizutreten. Doch auch wenn die geistlichen Duma-Mitglieder der dritten und vierten Sitzungsperiode mehrheitlich zur Rechten gehörten, war die Sache bereits deutlich geworden: Die orthodoxe Geistlichkeit konnte nicht automatisch der politischen Rechten zugeordnet werden. Zeitgenössische christliche Intellektuelle wie Nikolai Aksakov und Sergej Bulgakov vertraten eine russische Version des Christlichen Sozialismus (wenn auch nicht so entwickelt wie im Westen).106 Obwohl aber kaum jemand unter den Geistlichen mit dem Synodalsystem zufrieden zu sein schien, war die russische Geistlichkeit insgesamt politisch tief zwischen links und rechts gespalten, wie die Entwicklungen nach der bolschewistischen Machtergreifung bald schon zeigten. Das Unvermögen des Zaren, einen Sobor einzuberufen, um einen Reformprozess in Gang zu setzen, ließ erkennen, dass sich die Kirche nach den Reformen von 1905/06 noch sehr viel weniger im Gleichklang mit der übrigen russischen Gesellschaft befand. Das war zwar für sich genommen kaum eine Ursache für

105 Pospielovsky, Orthodox Church, 196–198. 106 Pospielovsky, Orthodox Church, 194f.; Tsypin, Istoriia Russkoi, 302f.

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6. Die Orthodoxe Kirche im frühen 20. Jahrhundert

die Revolution, doch verschlimmerte es die Situation auf jeden Fall. Das bedeutete, dass die Kirche, als die Revolution dann im Februar/März 1917 tatsächlich kam, sich in einer völlig ungewissen Situation wiederfand. Als Nikolaus am 4. (17.) März 1917 auf den Thron verzichtete, kündigte dies nicht nur das Ende von fast vier Jahrhunderten des russischen Zarentums (und von 16 Jahrhunderten „konstantinischer“ Kirche-Staat-Beziehungen) an, sondern es beraubte die orthodoxe Kirche auch ihres offiziellen Oberhaupts und ließ sie in einem chaotischen Zustand zurück, völlig unvorbereitet darauf, mit den Wirren der Revolution fertig zu werden.107 Andererseits war gerade aus diesem Grund das Verschwinden des Zaren eine Entlastung für die Kirche. Das wird offensichtlich an der Tatsache, dass sogar die konservativsten Mitglieder des Synod sich weigerten, einen Appell an die Nation zur Unterstützung des Zaren zu verabschieden, aber nicht zögerten, zur Unterstützung der Provisorischen Regierung aufzurufen, die an seiner Stelle eingesetzt wurde. Mit dem Abgang des Zaren hatte die Kirche endlich die Unabhängigkeit gewonnen, nach der viele ihrer Vertreter sich so lange gesehnt hatten. Zu guter Letzt wurde es im August 1917 möglich, den Sobor einzuberufen, der dann das Patriarchat wieder einführte, das fast zwei Jahrhunderte zuvor aufgehoben worden war. Zumindest in institutioneller Hinsicht bedeutete dies die endgültige Außerkraftsetzung des Synodalsystems Peters des Großen. Das Synodalsystem beeinflusste nicht nur die oberste Ebene des Verhältnisses von Kirche und Staat, wie oben beschrieben. Die Auswirkungen von Peters Reform wurden in allen Bereichen der orthodoxen Kirche spürbar, von der bischöflichen und diözesanen Verwaltung bis hinunter zur einzelnen Gemeinde und ihrem Priester, für den die widersprüchliche Lage der Kirche unangenehme alltägliche Realität war. Abgesehen von seinen seelsorglichen Pflichten als Vertreter der Kirche war er ja zugleich ein Vertreter des Staates, von dem verlangt wurde, ein gewisses Maß an polizeilicher Autorität über die Gemeinde auszuüben, die wiederum für seinen Lebensunterhalt sorgen sollte. Trotz der Tatsache, dass die orthodoxe Kirche fortwährend das ideologische Fundament des Zarenregimes zur Verfügung stellte und dafür eine privilegierte Position genoss, erlegte das Regime der Kirche schwere Restriktionen auf und hinderte sie in vielen Fällen aktiv daran, sich weiterzuentwickeln. Nach Meinung vor allem orthodoxer Historiker waren die Folgen des petrinischen Systems hauptsächlich negativ, nicht nur aus der Warte der Kirche betrachtet, sondern auch für die russische Gesellschaft in einer umfassenderen Perspektive, denn sie scheinen eine der Hauptursachen für den desaströsen Zusammenbruch von 1917 gewesen zu sein. Als wesentlicher Teil von Peters Projekt der Westorientierung kann das Synodalsystem jedoch nicht beurteilt werden, ohne

107 Pospielovsky, Orthodox Church, 200.

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Das Christentum in Russland 1700–1917

dabei das Projekt zu berücksichtigen. Aus diesem Grund bleiben Peter und sein Vermächtnis ein beständiger Anlass zur Auseinandersetzung. Übersetzung: Norbert Reck

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Das Osmanische Reich 1881 bis 1915.

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Fezzan

Bengasi

Mittelmeer

Suez

(Khartoum)

Chartum

Mahdisaat

o p o ta m ie n

Basra

Bagdad

Täbris

Mekka

Medina

(1858 brit.)

Kuwait

Persischer Golf

(1867/1925 brit.)

Bahrein

(1880/99 brit. Protektorat)

Isfahan

PERSIEN

Teheran

Baku

Kasp isches Meer

Hamadan

(1839 brit.)

Aden

Aden

ARABIEN

es

I. Kamaran

Rotes Meer

Dschidda

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Omdurman

Akaba

Jerusalem

Damaskus

ha

Wadi Halfa

Ägypten (1882 brit. Okkupation 1914 brit. Protektorat)

Kairo (1906)

Port Said

Jaffa

M

Mosul

Erzurum

Eriwan

RUSSLAND Armenien

Adana Aleppo

Kayseri

(seit 1878 unter brit. Verwaltung Beirut 1914 brit.)

Zypern

Antalya

Konya

Ankara

Sinop

Schwarzes Meer

Konstantinopel

Tat-al-Kebir

Darna/Derne Alexandria

Cyrenaica

Izmir

(1912 ital.)

(1909/13 griech.)

Kreta

(1913 griech.)

Saloniki

(1885 bulg.)

Bulgarien

Athen

(1913 griech.)

(1913 A l b a n i e n serb.)

Serbien

sc

Verluste 1881–1912 Verluste nach dem ersten Balkankrieg 1913 Osmanisches Reich 1915

Tripolis (1912 ital.)

Tripolis

Neapel

ITALIEN

Montenegro

H ed

A rabisches Meer

I ndis cher O zean

Maskat

DAS CHRISTENTUM IM NAHEN OSTEN 1799 UND 1917

ZWISCHEN

Mitri Raheb

Eine Vorbemerkung zum Begriff „Naher Osten“1 Der Begriff „Naher Osten“ wurde im 19. Jahrhundert geprägt und bringt eine eurozentrische Weltsicht zum Ausdruck. Nur wenn man von Europa aus auf die Region schaut, denkt man, dass sie im Osten oder Südosten liegt. Um sie vom Fernen Osten zu unterscheiden, sprachen die Europäer vom Nahen Osten oder später, im englischsprachigen Raum, vom Mittleren Osten. Folglich ist der Name der Region eng verbunden mit imperialer Machtausübung. Der Begriff wurde erst gebräuchlich, als das Osmanische Reich zusammengebrochen war – jene riesige Formation, die die Region über Jahrhunderte zusammenhielt. Die Bezeichnung „Naher Osten“ ist darum ein wesentlicher Bestandteil der Kolonialgeschichte des 19. Jahrhunderts in dieser Region. „Der West-Ost-Gegensatz hatte ursprünglich eine dualistische, aber zugleich hierarchische Sicht der Welt hervorgebracht. Als man den Orient aber als Nahen bzw. Mittleren sowie als Fernen Osten gegenüber von Europa neu konzipierte, bestätigte das nur die zentrale Position Europas in diesem Bild und rückte den Osten weiter an die Peripherie, während Europa die Metropole war.“2 „Die Vorstellung des Nahen Ostens kann nicht losgelöst gedacht werden von der Macht, Wissenskategorien zu erzeugen und über den Rest der Welt zu verhängen. Der Nahe Osten existiert, weil der Westen ausreichend Macht besessen hat, dieser Vorstellung Gestalt zu verleihen. In dieser Hinsicht sind die koloniale Vergangenheit und die imperiale Gegenwart Teile der Gleichung, die den Nahen Osten real macht.“3 Hinter dieser Bezeichnung steckt jedoch nicht nur eine koloniale Perspektive, sondern eine echte Frage der Identität. Eine wesentliche Eigenschaft des Nahen oder Mittleren Ostens ist, dass er keine „Mitte“ oder Zentrum hat. Er besitzt vielmehr verschiedene Machtzentren, die durch Wüsten und/oder Bergketten voneinander getrennt sind. Geografisch gesehen liegt ein Teil des Na-

1 Bonine, Michael u. a. (Hrsg.), Is There a Middle East? The Evolution of a Geopolitical Concept, Stanford, 2012. 2 Yilmaz, Huseyin, The Eastern Question and the Ottoman Empire. The Genesis of the Near and Middle East in the Nineteenth Century, in: Bonine u. a. (Hrsg.), Middle East, 11–35, 25. 3 Gasper, Michael Ezekiel, There Is a Middle East!, in: Bonine u. a. (Hrsg.), Middle East, 231–242, vgl. 240–242.

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Das Christentum im Nahen Osten zwischen 1799 und 1917

hen Ostens in Asien, ein anderer Teil gehört zu Nordafrika. So könnte man den Großteil des Nahen Ostens Westasien nennen, wie es die Vereinten Nationen ja auch tatsächlich tun, während sie den Rest Nordafrika zuordnen. Im 19. Jahrhundert, das in diesem Band im Fokus steht, versteht man unter dem Nahen Osten mehr oder weniger das Gebiet vom Arabischen Golf im Osten über Syrien und Irak im Norden bis nach Ägypten im Westen, mit Palästina, dem heutigen Jordanien und dem Libanon in der Mitte. Dieser Beitrag konzentriert sich in der Hauptsache auf Ägypten und Großsyrien (d. h. Syrien, Libanon und Palästina), mit einigen Verweisen auf Irak, Sudan und Jordanien.4

1. Die Kirchen unter osmanischer Herrschaft 1798, das Jahr, in dem Napoleon in Ägypten landete, markiert gemeinhin den Anfang eines neuen Kapitels in den Beziehungen zwischen Europa und dem Nahen Osten – eines Kapitels, das von großen Veränderungen im Nahen Osten selbst zu berichten hat. Natürlich gab es auch vorher Kontakte; sie reichen zurück bis zu den frühen Begegnungen der Christen im syrisch-libanesischen Raum mit Rom. Und umgekehrt standen im 17. Jahrhundert die Osmanen vor den Toren Wiens. Die Ankunft Napoleons auf ägyptischem Boden eröffnete jedoch eine neue Ära der europäischen Intervention – auch wenn er nach drei Jahren zum Rückzug gezwungen war. Sein Auftreten war ein Symptom für die Schwächung des Reichs am Bosporus, doch die Folgen waren nicht nur sozioökonomischer und politischer, sondern auch religiöser Art, insofern das Christentum in der Region betroffen war. Der römische Katholizismus und der Protestantismus wurden in der Folgezeit in Länder eingeführt, in denen das Christentum bis dahin hauptsächlich in Form verschiedener orthodoxer und orientalisch-orthodoxer Kirchen zu finden war.

1.1. Die Landkarte der Kirchen im Osmanischen Reich im frühen 19. Jahrhundert Das Osmanische Reich war ein multiethnisches und multireligiöses Gebilde. Der Islam war die dominante Religion, doch Juden, Christen und andere religiöse Gruppen wurden toleriert. Bis zum 19. Jahrhundert existierten drei verschiedene kirch-

4 Es ist festzustellen, dass der Begriff „Naher Osten“ bzw. „Middle East“ in akademischen und regierungspolitischen Zusammenhängen westlicher Nationen am gebräuchlichsten ist. Eine starke Bewegung, die stattdessen für den Gebrauch der Begriffe „Westasien“ und „Nordafrika“ eintritt, besteht aber weiterhin.

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1. Die Kirchen unter osmanischer Herrschaft

liche Gruppierungen im Nahen Osten. Die erste könnte man, um eine Kategorie aus dem Norden zu verwenden, als Gruppe der „Nationalkirchen“ bezeichnen. Diese Kirchen waren die Überreste antiker christlicher „ethnisch-kultureller“ Gemeinschaften. In ihnen bildeten die kulturelle Identität, das religiöse Erbe, die Sprache und die Geografie eine Einheit. Das trifft zu im Fall der Koptisch-Orthodoxen Kirche von Alexandria in Ägypten, der Syriakisch-Orthodoxen Kirche (auch bekannt als Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien) und der Armenischen Apostolischen Kirche in Armenien und der Türkei. Diese drei Gemeinschaften gehören zur Familie der orientalisch-orthodoxen Kirchen und werden auch als monophysitische oder nicht-chalcedonensische Kirchen bezeichnet. Zu dieser Gruppe gehört, trotz einiger Unterschiede, auch die Assyrische Kirche des Ostens in Mesopotamien, im Iran und der Türkei (früher als Nestorianer bezeichnet). Die koptische Sprache hatte bis ins frühe 19. Jahrhundert hauptsächlich als liturgische Sprache der Kirche in Ägypten überlebt; in ihrem Alltagsleben sprachen die meisten ägyptischen Kopten Arabisch. In der syriakischen Gemeinschaft war Aramäisch für die meisten syrisch-orthodoxen und assyrischen Kirchenmitglieder sowohl Liturgie- als auch Alltagssprache. Im armenischen Volk war Armenisch ebenfalls immer noch die Sprache im Alltag und in der Liturgie, obwohl viele auch Türkisch sprachen. Die zweite Gruppe kirchlicher Körperschaften bestand aus den drei „griechischorthodoxen“ Patriarchaten: dem Griechisch-Orthodoxen Patriarchat von Jerusalem, dem Griechisch-Orthodoxen Patriarchat von Antiochien und dem gesamten Morgenland sowie dem Griechisch-Orthodoxen Patriarchat von Alexandria und ganz Afrika. Zusammen mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel sind diese Kirchen die Überreste des antiken Byzantinischen Reichs und werden auch als rum-orthodox bezeichnet, wobei „rum“ das arabische Wort für (Ost-) Rom, also Byzanz, ist. Im frühen 19. Jahrhundert war Griechisch die liturgische Sprache in diesen vier Patriarchaten; Arabisch war die Alltagssprache der griechisch-orthodoxen Christen in Syrien, im Libanon, in Palästina und Ägypten. Auch Türkisch wurde von vielen orthodoxen Christen gesprochen. Die dritte Gruppe waren die orientalischen katholischen Kirchen, heute meist als katholische Ostkirchen bezeichnet. Zu dieser Kategorie gehörten die Patriarchate der Melkitischen Griechisch-Katholischen Kirche in Antiochien, Alexandrien und Jerusalem, die Maronitische Kirche von Antiochien und dem gesamten Morgenland, die Armenisch-Katholische Kirche, die Syrisch-Katholische Kirche von Antiochien, die Koptisch-Katholische Kirche und die Chaldäisch-katholische Kirche. Diese Kirchen, jede mit ihrer ganz eigenen Geschichte, stehen in voller Kirchengemeinschaft mit der Römisch-Katholischen Kirche. Sie haben sich ihren orientalischen Ritus und ihre Kirchensprachen bewahrt, erkennen aber den römischen Papst als ihr Oberhaupt an. Zu diesen Kirchen kommen dann noch die Franziskaner hinzu, die nach dem Vierten Kreuzzug im 13. Jahrhundert vom Papst ausgesandt worden waren, um als

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Das Christentum im Nahen Osten zwischen 1799 und 1917

Wächter der Kirchen und heiligen Stätten im Heiligen Land zu dienen; und auch die Dominikaner haben mit ihrer Niederlassung in Mossul im Irak auf der Karte des nahöstlichen Christentums am Anfang des 19. Jahrhunderts einen Platz. Um die Mitte jenes Jahrhunderts hatten die Franziskaner an die 35 Gemeinden in der Region, und bei allen war Latein die Liturgiesprache.

1.2. Die sozialen Gegebenheiten für das Christentum im Nahen Osten um die Mitte des 19. Jahrhunderts Die soziale und kulturelle Situation der Christen im Nahen Osten war von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Ägypten befand sich die größte Konzentration koptischer Christen in Oberägypten. Christen bebauten dort das Land am Rand des Nils. Städte wie Asyut, Kairo und Alexandria hatten ebenfalls einen großen christlichen Bevölkerungsanteil. In Syrien und im Libanon lebte die Mehrheit der Maroniten in Dörfern des Libanongebirges und im Wadi Qadischa. Es gab viele christliche Bauern in Syrien, im Irak und in Palästina, doch viele weitere Christen lebten in Städten und Metropolen wie Damaskus, Aleppo, Bagdad, Mossul, Jerusalem, Bethlehem und Nazareth. Die meisten griechisch-orthodoxen Christen waren entlang der Mittelmeerküste in Städten wie Alexandria, Jaffa, Beirut und Tripoli zu finden. Viele der Christen, die in diesen Städten lebten, waren Kaufleute mit lange bestehenden Verbindungen nach Europa und seinen Handelszentren. Ein großer Prozentsatz der Christen lebte als Handwerker, was sich auch in den arabisch-christlichen Familiennamen spiegelte: „Haddad“ (Schmied), „Najjar“ (Zimmermann), „Khayyat“ (Schneider), „Sayigh“ (Juwelier), „Bustani“ (Gärtner) und so weiter. Die Christen dürften einen Anteil von 15 bis 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung gehabt haben.

1.3. Das Millet-System Die meisten kirchlichen Einrichtungen, die in der Zeit des Osmanischen Reichs bestanden, waren im Rahmen des sogenannten „Millet-Systems“ anerkannt. Der Begriff „Millet“ bezog sich auf eine „nationale Gemeinschaft“, die mit einer bestimmten Religion in Verbindung gebracht wurde. Diese Gemeinschaften oder Konfessionen, denen ein Patriarch oder Bischof vorstand, setzte sich aus Dhimmis zusammen, das heißt aus Personen, die nur einen Minderheitenstatus besaßen. Die Millets dagegen erhielten ein bestimmtes Maß an Autonomie, das ihnen erlaubte, ihre eigenen religiösen und sozialen Angelegenheiten zu regeln, solange sie die Oberhoheit des muslimischen Osmanischen Reichs akzeptierten. In einem gewissen Sinn waren die Millets also eine Art „kirchlicher Staaten“ im Rahmen des Osmanischen Reichs, dessen Sultan für sich den Titel „Kalif“ (Nachfolger des

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1. Die Kirchen unter osmanischer Herrschaft

Propheten Mohammed) beanspruchte. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts genossen zwei dieser Kirchen im Millet-System engste Verbindungen zu den osmanischen Behörden: Sowohl die Griechisch-Orthodoxe als auch die Armenische Kirche hatten ihre Patriarchen in Istanbul und somit direkten Zugang zum Palast des Sultans. Die Sultane wiederum hatten ein Interesse daran, die kirchlichen Angelegenheiten in den Händen von Patriarchen vereinigt zu sehen, die sich in unmittelbarer Nähe des Palasts und damit direkt unter ihrer Kontrolle befanden. Für den „Schutz“ des Staates und als Kompensation dafür, dass sie nicht in der Armee dienten, hatten die Christen eine besondere Kopfsteuer, genannt Dschizya, zu entrichten. Im 19. Jahrhundert wurde diese Steuer in Ägypten abgeschafft und existiert in islamischen Ländern heute nicht mehr. Neben dem Schutz, den das Osmanische Reich selbst bot, beanspruchten noch zwei weitere Reiche, Christen im osmanischen Herrschaftsbereich zu beschützen. Frankreich machte für sich das Recht geltend, römisch-katholischen Christen und den mit Rom unierten Kirchen Schutz zu gewähren. Und im Gefolge des Friedens von Küçük Kaynarca zwischen dem Osmanischen und dem Russischen Reich (Bulgarien 1774) meldete auch die Russisch-Orthodoxe Kirche den Anspruch an, die orthodoxen Christen zu schützen.

1.4. Die Ära von Muhammad Ali und der Tanzimat Die eigentliche moderne Ära des Nahen Ostens steht in Verbindung mit Muhammad Ali Pascha (1769–1849), einem osmanischen Albaner, der es geschafft hatte, nach dem Rückzug von Napoleon die Macht über die osmanische Provinz Ägypten an sich zu reißen. Im Jahr 1811 gelang es ihm, die Herrschaft der Mamluken in Ägypten zu beenden, 1812 besetzte er die Region Hedschas auf der arabischen Halbinsel, 1821 den Sudan. Sein Traum war die Erschaffung eines modernen Großstaats nach europäischem Muster, der das Gebiet zwischen Nil und Euphrat umfassen sollte. 1831 besetzte sein Sohn Ibrahim Pascha (1789–1848) Palästina und Teile von Syrien. Davon fühlten sich nicht nur die osmanischen Herrscher bedroht, sondern auch die Europäer, vor allem England und Österreich, die ein starkes Interesse am Nahen Osten hatten. Um ihre Kontrolle über Handelsrouten und Rohstoffe, ja über die ganzen nahöstlichen Regionen, die sich noch im osmanischen Herrschaftsbereich befanden, zu sichern, erwirkten die osmanischen Herrscher den Rückzug von Ibrahim Pascha aus dem Gebiet zwischen Syrien und Ägypten. Von dieser Zeit an beschränkte die Dynastie von Muhammad Ali ihre Kontrolle auf Ägypten und führte das Land in die Moderne. Muhammad Ali gelang es, eine moderne Armee aufzubauen und wesentliche wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Reformen auf den Weg zu bringen. Dafür, dass sie Muhammad Ali und seinen Sohn zum Rückzug aus Syrien und Palästina gezwungen hatten, und

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um ihre eigene Herrschaft im Inneren zu festigen, begannen die Osmanen nun ihrerseits mit Veränderungen und Reformen. In den frühen 1830er Jahren fing das Millet-System langsam aber sicher an, sich zu verändern. 1832 erklärte Muhammad Ali: „Muslime und Christen sind allesamt unsere Untertanen. Die Frage der Religion hat nichts mit politischen Erwägungen zu tun. [In religiösen Angelegenheiten] muss jeder Einzelne in Ruhe gelassen werden: der Gläubige, um seinen Islam zu praktizieren, und der Christ, um sein Christentum auszuüben. Aber niemand soll Befehlsgewalt über den anderen haben...“5 Der Aufstieg von Muhammad Ali und das Eingreifen Großbritanniens und Österreichs zur Unterstützung der Osmanen setzten das Reich unter Druck, seine Streitkräfte und seine Bürokratie zu reformieren. 1839 unterzeichnete Sultan Abdülmecid I. das Edikt von Gülhane und setzte damit eine Ära von Reformen in Gang, die Tanzimat (wörtlich „Neuordnung“) genannt wurde. Sie garantierte unter anderem gleiche Rechte für alle osmanischen Bürger, ungeachtet ihrer Religion oder Hautfarbe. Diese Rechte waren dringend nötig, besonders im Licht der griechischen Abspaltung vom Reich und der Gründung einer unabhängigen Monarchie im Jahr 1832; zudem wuchs die Unzufriedenheit auch bei anderen osteuropäischen Gemeinschaften innerhalb des Reichs. Während der Ära Muhammad Alis wurden in größeren Städten des Nahen Ostens wie Alexandria, Damaskus, Beirut, Bagdad und Jerusalem europäische und amerikanische Konsulate eröffnet. Missionare durften frei arbeiten. „Der christliche Missionar genießt unter der ägyptischen Regierung vollkommene Freiheit, seine Tätigkeit weiterzuführen, sogar in größerem Maße als unter der britischen Regierung in Malta oder Indien.“6 Nach dem Krimkrieg und der Intervention Großbritanniens und Frankreichs gegen Russland zugunsten des Osmanischen Reichs wurde 1856 ein neues offizielles Reformedikt der Hohen Pforte unter der Bezeichnung Hatt-ı Hümayun („Großherrliches Handschreiben“) verkündet. Dieses Edikt leitete weitere Reformen ein, beispielsweise die Freiheit des Gottesdiensts, die Möglichkeit, Kircheneigentum zu verwalten und instand zu setzen, das Recht, Schulen zu eröffnen, und das Recht von Ausländern, Land zu erwerben. Diese Reformen, die den zunehmenden europäischen Einfluss widerspiegelten, aber auch die stärkere christliche Sichtbarkeit in der Gesellschaft fassten viele im muslimischen Establishment als Bedrohung des Status quo und Beschneidung ihres wirtschaftlichen und politischen Einflusses auf. Die wachsende Angst innerhalb dieses Establishments führte zu einer Reihe von Gewaltausbrüchen von Muslimen gegen ihre christlichen Nachbarn, so etwa

5 Zit. nach Sinno, Abdel-Raouf, Deutsche Interessen in Syrien und Palästina 1841–1898. Aktivitäten religiöser Institutionen, wirtschaftliche und politische Einflüsse (Studien zum modernen islamischen Orient 3), Berlin 1982, 11. 6 Zit. nach Tibawi, Abdul Latif, British Interests in Palestine 1800–1901. A Study of Religious and Educational Enterprise, Oxford 1961, 16.

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in Aleppo im Jahr 1850, in Mossul 1854, in Nablus 1856 und in Dschidda 1858. Die Gewalt erreichte ihren Höhepunkt mit einem Massaker von Drusen an der christlichen Bevölkerung im Libanon im Jahr 1860.7

2. Die protestantischen Missionen und die Entstehung der protestantischen Kirchen Während dieser Zeit des politischen und sozialen Wandels ging die Welle der „Zweiten Großen Erweckung“ durch die Vereinigten Staaten (ca. 1790–1850). Parallel zu dieser inneramerikanischen Wiederbelebung des Christentums begann ein neues Kapitel in der Weltmission. Erwähnenswert ist, dass der Pionier der Mission im Nahen Osten, Pliny Fisk (1792–1825), in Izmir in der Türkei mit seiner Arbeit begann, sein Ziel aber eindeutig Palästina war.

2.1. Die erste protestantische Kirche in Palästina8 1808 sandte die 1795 gegründete London Missionary Society einen Missionar nach Malta mit dem Auftrag der „Wiedererweckung der reinen Religion in der griechisch-orthodoxen Kirche“.9 Auf Malta eröffnete dieselbe Missionsgesellschaft ein Verlagshaus für den Druck und Vertrieb von Bibeln und christlicher Literatur. Im selben Jahr wurde die London Society for Promoting Christianity Amongst the Jewish People („Londoner Gesellschaft zur Förderung des Christentums unter den Juden“), weithin bekannt als die London Jews Society, gegründet. Ihr Zweck war die Linderung „der zeitlichen Not der Juden und zur Förderung ihrer Wohlfahrt“10. Im Jahr 1818 beschloss das American Board of Commissioners for Foreign Missions, die Missionsarbeit in Palästina aufzunehmen, und sandte 1819 die ersten zwei Missionare nach Palästina: Pliny Fisk and Levi Parsons (1792–1822). Diese beiden amerikanischen Missionare teilten die millenaristische Überzeugung, dass vier

7 Masters, Bruce, Christians and Jews in the Ottoman Arab World. The Roots of Sectarianism, Cambridge 2001, 156–165. Vgl. auch ders., Christen unter osmanischer Herrschaft (1483–1800) in der vorliegenden Geschichte des globalen Christentums, Teil 1: Frühe Neuzeit, Stuttgart 2017. 8 Mehr Details bei Raheb, Mitri, Das reformatorische Erbe unter den Palästinensern. Zur Entstehung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien, Gütersloh 1990; Sinno, Deutsche Interessen. 9 Kawerau, Peter, Amerika und die Orientalischen Kirchen. Ursprung und Anfang der amerikanischen Mission unter den Nationalkirchen Westasiens, Berlin 1958, 171. 10 Tibawi, British Interests, 12.

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Dinge vor der Wiederkunft Christi geschehen mussten: das Wiedererwachen der orientalischen Kirchen, der Sturz des Islam, der Sieg über den Papst und die Wiederherstellung des jüdischen Volks. Tatsächlich aber waren bis zum Ende der 1820er Jahre die Aufenthalte aller Missionare zeitlich sehr begrenzt, da es ihnen als Ausländern verboten war, im Osmanischen Reich Land zu besitzen oder sich gar in Jerusalem niederzulassen. Als Reaktion auf die zunehmenden missionarischen Bestrebungen erließen die Osmanen 1824 einen Ferman, das heißt ein Edikt oder Dekret, das die Einfuhr und Verbreitung von in Europa gedruckten Bibeln und Psalmenausgaben verbot. Erst nach der Besetzung Palästinas durch Ibrahim Pascha war es aufgrund seiner Toleranzpolitik seit 1839 möglich, ein Grundstück zu erhalten für den ersten protestantischen Kirchenbau im Osmanischen Reich. Dieser war die Errungenschaft von Hans Nicolajsen (1803–1856), einem Missionar der London Jews Society. Interessanterweise lag diese Kirche im armenischen Viertel der Jerusalemer Altstadt. Nach der Niederlage von Ibrahim Pascha im Jahr 1840 traten jedoch die europäischen Länder in eine Debatte über die Zukunft Palästinas und des Heiligen Landes ein. Im selben Jahr wurde Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) König von Preußen. Er hatte seine eigenen Vorstellungen im Blick auf Palästina nach dessen Befreiung von Ibrahim Pascha. Als erstes dachte er an einen extraterritorialen Status für Palästina, doch eine Woche später entwickelte er die Idee einer Internationalisierung Jerusalems und seiner Umgebung in Form eines Protektorats der fünf europäischen Großmächte England, Russland, Österreich, Frankreich und Preußen. Allerdings war Preußen ein neuer Akteur auf der europäischen Bühne und verfügte noch über wenig Macht, weshalb sein Vorschlag nie ernst genommen wurde. Ein dritter Vorschlag war indessen realisierbar. Der preußische König war sich der Schwierigkeiten, die die Bekehrungen zum protestantischen Glauben mit sich bringen würden, vollkommen bewusst; denn der Protestantismus war im MilletSystem des Osmanischen Reichs nicht anerkannt. Sein Ziel war es, „Sicherheiten und Schutz, wie sie in ähnlicher Weise Christen anderer Konfessionen genießen“11, auch für Protestanten zu erwirken, ganz gleich, ob sie nun Ausländer oder osmanische Untertanen waren. Das heißt, er wollte die Anerkennung des Protestantismus als Millet innerhalb des Osmanischen Reichs durchsetzen, wobei er überzeugt war, dass dies nur durch ein gemeinsames Auftreten der protestantischen Kirchen zu erreichen sei. Eine solche „protestantische Millet“ sollte also England und Preußen zur Schutzmacht für die protestantischen Christen machen – ähnlich wie Russland sich für die orthodoxen Christen und Frankreich für die römisch-katholischen und mit Rom unierten Kirchen verantwortlich erklärte. Dadurch würde Preußen gleichberechtigt einen Fuß in die Tür des Heiligen Landes bekommen, was es

11 Tibawi, British Interests, 79.

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2. Die protestantischen Missionen und die Entstehung der protestantischen Kirchen

dem König erlauben würde, irgendwann ein deutsches protestantisches Bistum in Bethlehem zu etablieren.12 Um diese Ziele zu erreichen schickte Friedrich Wilhelm seinen Emissär Christian Karl Josias von Bunsen (1791–1860) nach London, um die Kirche von England dazu zu bewegen, einen Bischofssitz in Jerusalem zu errichten, an dem eine vereinigte (lutherische und reformierte) preußische Kirche partizipieren könnte. Mit diesem Schritt ging es dem preußischen König darum, eine Vereinigung der protestantischen Kirchen und ein System der Bistümer in Preußen zuwege zu bringen. Am 19. Juli 1841 wurde ein Übereinkommen erzielt (und am 7. Dezember des Jahres unterzeichnet), ein „Bistum der Vereinten Kirche von England und Irland zu Jerusalem“ zu errichten und einen Bischof nach Jerusalem zu entsenden, der alternierend von der Krone Englands und der Krone Preußens ernannt werden sollte. Zwei Tage später wurde zu dieser Übereinkunft ein „Statement of Proceedings“ („Darlegung der Schritte“) veröffentlicht, das die Pflichten des Bischofs definierte: „Seine hauptsächliche Missions-Thätigkeit wird sich auf die Bekehrung der Juden wenden, so wie auf den Schutz und die nützliche Beschäftigung der Bekehrten. Er wird, so viel an ihm liegt, Beziehungen christlicher Liebe mit den anderen in Jerusalem vertretenen Kirchen zu schaffen und zu erhalten suchen, insbesondere mit der orthodoxen griechischen Kirche, und vorzügliche Sorge tragen, sie alle zu überzeugen, daß die englische Kirche sie weder zu stören noch zu entzweien, noch irgend wie sich einzumischen wünscht; daß sie dagegen bereit ist, im Geiste christlicher Liebe, ihnen alle Dienste zu erzeigen, die sie selber wünschen mögen.“13

Für die Erfüllung dieser Mission, wie sie im „Statement of Proceedings“ vorgesehen war, galt ein jüdischer Konvertit als am geeignetsten. Folglich wählte man Professor Dr. Michael Solomon Alexander (1799–1845) zum ersten anglikanischen Bischof von Jerusalem; er traf dort im Januar 1842 ein. Bischof Alexander legte sein Hauptaugenmerk auf die Bekehrung der Juden, und er war auch sehr darum bemüht, gute Beziehungen mit den altorientalischen Kirchen zu pflegen. Er starb am 26. November 1845, und der König von Preußen ernannte Samuel Gobat (1799– 1879) zu seinem Nachfolger. Bischof Gobat verlegte den Schwerpunkt von der Bekehrung der Juden auf die Reformation der altorientalischen Kirchen – eine Arbeit, für die er sich als sehr geeignet erwies. Bald nach seiner Ankunft in Jerusalem am 30. Dezember 1846 begann Bischof Gobat mit der Verteilung von Bibeln unter Mitgliedern der orientalischen Kirchen. Er führte die persönliche Schriftlektüre ebenso ein wie das Bibelstudium in Gruppen, was besonders für die orientalischen Kirchen völlig neu war, da die Bibel bis dahin hauptsächlich in der Liturgie und selten privat gelesen wurde. Da die meisten Menschen Analphabeten waren, eröffnete er zunächst Schulen, „Bibelschulen“, an denen die Heilige Schrift das

12 Raheb, Das reformatorische Erbe, 105. 13 Zitiert nach: Tibawi, British Interests, 84.

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Hauptwerkzeug des Unterrichts war. Als er im Jahr 1879 starb, hatte Bischof Gobat zwölf protestantische Gemeinden im Heiligen Land gegründet. Die Ordnung dieser Gemeinden hielt sich an die anglikanischen Strukturen, wonach der Bischof die oberste Autorität war. Neben der Errichtung von Schulen und der Gründung von Gemeinden unternahm es Bischof Gobat mit Erfolg, deutsche Missionsgesellschaften zur Arbeit nach Palästina zu holen: die Kaiserswerther Diakonissen, die sich auf soziale Dienste konzentrierten, den Jerusalemsverein, der sich hauptsächlich dem Aufbau von Schulen widmete, und Johann Ludwig Schneller (1820–1896), der in Jerusalem ein Waisenhaus unterhielt. Um die Arbeit der deutschen und englischen Missionsgesellschaften abzustimmen, arbeitete Bischof Gobat ein Übereinkommen zwischen ihnen aus. Danach wurde das nördliche Palästina zum Missionsfeld der englischen Missionare, und die Deutschen bekamen das südliche Palästina. Bis heute findet man deshalb die lutherischen Gemeinden hauptsächlich südlich von Jerusalem und die anglikanischen im Norden.

2.2. Die protestantische Kirche im Libanon Wie bereits erwähnt, beschloss im Jahr 1818 das American Board of Commissioners of Foreign Missions – ein Werk von Kongregationalisten aus Neuengland – Missionen in Palästina und anschließend in Syrien aufzubauen. Aus einer Reihe von Gründen wurde allerdings Beirut und nicht Jerusalem die Basisstation für die sechs Missionare, die das American Board ausgesandt hatte: Levi Parsons, Pliny Fisk14, Isaac Bird, Jonas King, Eli Smith und William Goodell – alle Absolventen der Andover Theological School. 1827 bildete sich eine Keimzelle der ersten protestantischen Gemeinde im Nahen Osten, und mit der ersten Taufe, die die amerikanischen Missionare spendeten, war der nahöstliche Protestantismus geboren. Interessanterweise war das erste Kind, das in der neuen Kirche getauft wurde, der Sohn des armenischen Bischofs Dionysius Karapet. Es brauchte jedoch weitere zwanzig Jahre, bis am 31. März 1848 die Evangelische Nationalkirche von Beirut gegründet werden konnte. Die neue Kirchenleitung entschied sich für den Presbyterianismus als Kirchenverfassung. Der amerikanische Missionar Eli Smith (1801–1857) wurde zum Pastor der neuen Gemeinde ernannt. Eines ihrer prominenten Mitglieder war Butrus al-Bustani (1819–1883), ein Anwärter auf die Position des ersten arabischen protestantischen Pastors im Nahen Osten, der dann allerdings doch nicht zu solch einem Schritt bereit war, später aber zu einem führenden Intellektuellen und Wortführer der „Arabischen Renaissance“ wurde, die in der zweiten Hälfte des

14 Hubers, John/Makari, Peter E., I Am a Pilgrim, a Traveler, a Stranger. Exploring the Life and Mind of the First American Missionary to the Middle East, the Rev. Pliny Fisk (1792– 1825), Eugene, OR 2016.

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19. Jahrhunderts aufkam. Zur selben Zeit erhielten die Protestanten die Anerkennung als unabhängige Millet im Osmanischen Reich. Zusammen mit Butrus al-Bustani und Nasif al-Yaziji (1800–1871), einem prominenten griechisch-katholischen Autor, unternahm es Eli Smith, die Bibel ins Arabische zu übersetzen. Mit der Unterstützung von Cornelius Van Dyck (1818–1895), einem amerikanischen Missionsarzt mit einer gründlichen Kenntnis der arabischen Sprache und ihrer Literatur, wurde das Werk schließlich im Jahr 1865 vollendet. Diese Bibelübersetzung war eine herausragende Leistung; sie wurde zum Standardwerk und war über ein Jahrhundert in Gebrauch bei den nahöstlichen Protestanten, aber auch in der Koptisch-Orthodoxen Kirche in Ägypten.

2.3. Die protestantische Kirche in Ägypten Die Missionare der Herrnhuter Brüdergemeine erreichten Ägypten im 18. Jahrhundert als Verfolgte. 1825 kamen weitere protestantische Missionare nach Ägypten. Diese gehörten der anglikanischen Church Mission Society (CMS) an, jedoch entsprachen die finanziellen und personellen Mittel der Organisation zu jener Zeit nicht den eigenen globalen Ansprüchen, und so war ihre Wirkung in Ägypten eher begrenzt. Den größten Erfolg hatten in Ägypten letztlich die Presbyterianer, die zur größten protestantischen Kirche im Nahen Osten wurden. Der erste presbyterianische Missionar kam mit seiner Frau im November 1850 nach Ägypten als Vertreter des schottisch-irischen Presbyterianismus. Die Hauptziele seiner Mission bestanden darin, mit der christlichen Grundbotschaft auf Juden und Muslime zuzugehen und die altorientalische Koptische Kirche zu reformieren. Die Arbeit begann in Unterägypten: in Kairo, Alexandria und im Nildelta. Am 15. September 1859 wurde die erste Gruppe von vier Bekehrten in die neue presbyterianische Kirche aufgenommen; zu ihr gehörten ein ägyptischer Mönch, ein syrischer Kaufmann und ein armenischer Juwelier. Wie in Beirut und Jerusalem scheinen auch hier die Armenier die am meisten für den Protestantismus aufgeschlossene Gruppe gewesen zu sein. Am 13. April 1860 fand die erste ägyptische presbyterianische Synode statt, und von 1899 an gehörte auch der Sudan dazu – zusammen bildeten sie die „Nilsynode“. Am 5. Januar 1863 wurde in Kairo die erste presbyterianische Gemeinde (damals unter der Bezeichnung „evangelisch“) gegründet. Im selben Jahr wurde ein theologisches Seminar eröffnet, dessen Studenten anfangs auf einem Boot unterrichtet wurden, während sie den Nil auf und ab fuhren. Ziel war es, dass sie zusammen mit ihren Lehrern Missionsveranstaltungen in den Dörfern am Fluss abhielten. 1871 wurde der erste einheimische ägyptische Pastor ordiniert. Gegen Ende des Jahrhunderts erlebte die Nilsynode zusehends ein Stadium der Reife und des Wachstums – sie gründete Schulen und Krankenhäuser, bot Entwicklungsprogramme für Selbstverwaltung an und leitete verschiedene soziale Einrichtungen und Projekte.

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2.4. Die protestantische Kirche im Irak und am Persischen Golf Die britische CMS gründete bereits in der ersten Jahrhunderthälfte mehrere protestantische Gemeinschaften im Irak. Armenische Presbyterianer gründeten Kirchen in Bagdad, Mossul, Kirkuk und Basra. Im Jahr 1889 wurde die Nationale Evangelikale Kirche Bahrain die erste Kirche in der Golfregion.

3. Die Reaktion der Kirchen im Nahen Osten auf die protestantischen Missionen und die Entstehung der protestantischen Kirchen Ähnlich wie Muhammad Ali die Politik und Methoden des herrschenden Osmanischen Reichs in Frage stellen konnte, so hinterfragten die protestantischen Missionen im Nahen Osten den jeweiligen Status quo bei den altorientalischen Kirchen vor Ort. Dementsprechend könnte man erwarten, dass die Reaktionen selbiger altorientalischer Kirchen auf die protestantischen Missionare alles andere als einladend waren. Tatsächlich aber können drei verschiedene allgemeine Reaktionen unterschieden werden.

3.1. Angriffe und Verfolgung Die protestantischen Missionare betrachteten die örtlichen orthodoxen Kirchen als „tot“. So beschrieb etwa Andrew Watson die Koptisch-Orthodoxe Kirche in Ägypten: „Christlich dem Namen nach, christlich der Form nach, wurde [sie] am besten versinnbildlicht von einem mumifizierten menschlichen Körper, den man aus seinem Grab herausgeholt hat.“15 Häufig wurden die Liturgien der altorientalischen Kirchen des Nahen Ostens charakterisiert als Klang ohne Inhalt, Form ohne Kraft und Körper ohne Seele. Daher ist es umgekehrt nur verständlich, dass die örtlichen Kirchen diese Angriffe nicht einfach stumm zur Kenntnis nahmen – besonders als einige ihrer Mitglieder begannen, sich den Protestanten anzuschließen und nach ihrer Konversion den Glauben ihrer Altvorderen hinter sich ließen. Einige der altorientalischen Kirchen gingen zu Gegenangriffen über. Sie klagten die Missionare an, Eindringlinge zu sein, Ausländer, „Engländer“ oder Häretiker, die der „Mutter Kirche“ davongelaufen

15 Zit. nach Sharkey, American Evangelicals, 19.

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3. Die Reaktion der Kirchen im Nahen Osten auf die protestantischen Missionen

seien. Weil sie aber nicht in der Lage waren, den Missionaren, die unter dem Schutz ihrer eigenen Regierungen standen, etwas zuleide zu tun, griffen sie oft jene an, die zur protestantischen Ausdrucksweise des Christentums konvertiert waren. Diese Menschen wurden weniger beschützt und waren wesentlich verletzlicher. Man übte Druck auf sie aus, indem man ihnen höhere Steuern aufbürdete, indem ihre Familien ihnen den Rücken kehrten oder sogar, indem man sie ins Gefängnis warf. Assad Schidyaq war der erste arabischsprachige Mensch, der von Missionaren bekehrt wurde. Er wurde der erste protestantische Märtyrer im Nahen Osten und als Hauptzeuge für die Verfolgung der protestantischen Konvertiten durch die altorientalischen Kirchen herausgestellt.16 Assad war 1798 in Hadet in der Nähe von Beirut geboren worden. Er beherrschte Arabisch und Aramäisch, und für einige Jahre arbeitete er sowohl für den maronitischen Patriarchen als auch für den Emir vom Libanongebirge. Im Jahr 1825 wurde er angestellt, dem amerikanischen Missionar Jonas King Aramäischunterricht zu geben und dessen arabische Predigten zu redigieren. Durch diese Arbeit lernte Assad die Bibel und den Protestantismus kennen. Die erste Reaktion des Patriarchen war Fassungslosigkeit, aber die wandelte sich bald zur Drohung der Exkommunikation, falls Assad nicht alle Verbindungen mit den „Bibelmännern“ kappte. Der Patriarch unternahm viele Versuche, ihn zu überzeugen, sich von den neuen Lehren wieder abzuwenden. Doch Assad nahm eine Haltung ein, die der von Martin Luther in Worms nicht unähnlich war: „Wenn sich jemand fände, der beweisen könnte, dass ich im Irrtum bin und dass es für mich kein Heil gibt, wenn ich nicht dem Papst folge, oder wenigstens, dass es das Gesetz verlangt, ihm zu folgen, dann bin ich bereit, meine subjektiven Ansichten aufzugeben und mich allen im Herrn zu unterwerfen. Doch ohne Beweis, dass meine Ansichten irrig sind, kann ich sie nicht aufgeben und mich dem Gehorsam der Blinden unterwerfen.“17 Diese unerschütterliche Überzeugung veranlasste den Vatikan, sich über die Congregatio de Propaganda Fide („Kongregation für die Verbreitung des Glaubens“) am 26. Oktober 1826 an den Patriarchen Jussuf Hobaisch zu wenden: „Erhabenste und angesehenste Eminenz: Tränenreiche Nachrichten von einer verderblichen Entwicklung unter den Studenten des Kollegs von Ain Warqa haben die Heilige Kongregation erreicht. Es heißt, der Student Assad Schidyaq sei Protestant geworden und arbeite mit den Oberhäuptern der englischen Protestanten zusammen, die ihren Sitz in Beirut haben. Er sei nicht nur in seiner eigenen Häresie befangen, sondern auch willens, andere zu täuschen, indem er gegen die Katholiken lehre und disputiere und bei frommen Menschen schweren Anstoß errege. Zusätzlich zu den Sorgen, die der genannte Student verursacht hat, wurde berichtet, auch andere Lehrer dieser Schule zeigten ein zweifelhaftes und verderbliches Verhalten. Eure Eminenz wissen, dass es von entschei-

16 Die ganze Geschichte von Assad Schidyaq findet sich bei Makdisi, Ussama, Artillery of Heaven. American Missionaries and the Failed Conversion of the Middle East, New York 2008. 17 Makdisi, Artillery of Heaven, 113.

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Das Christentum im Nahen Osten zwischen 1799 und 1917 dender Bedeutung für Sie ist, unverzüglich einen Schutzzaun zu errichten, um ein so großes Übel zu unterbinden, wenn es denn tatsächlich besteht. Sie müssen dringend untersuchen, ob diese Anklagen der Wahrheit entsprechen, und dann unter allen Umständen die Maßnahmen ergreifen, die Eurer Weisheit und Frömmigkeit geeignet erscheinen, um der Entwicklung dieses um sich greifenden Übels Einhalt zu gebieten. Verständigen Sie die Heilige Kongregation in allen Einzelheiten darüber und ebenso über das Wesen der Berater und Lehrer des Kollegs, damit die Heilige Kongregation sich für einen anderen Lehrplan einsetzen kann, der zum geistlichen Wohl dieser Nation beiträgt, deren Kennzeichen immer schon die Verbundenheit mit unserem heiligen Glauben ist. In großer Sorge harren wir unruhig Eurer Antwort.“18

Nachdem er sich geweigert hatte, seinem protestantischen Glauben abzuschwören, der in seinen Augen auf der Schrift basierte, wurde Assad Schidyaq als Gefangener im Qannubin-Kloster zu Tode gefoltert. Die Spitzen der altorientalischen Kirche sahen in seinem Tod eine Warnung an alle Libanesen vor dem Übertritt zum Protestantismus. Die Verfolgung der protestantischen Konvertiten war nicht nur eine Strategie des maronitischen Patriarchen im Libanon, sondern auch des koptischen Papstes in Alexandria, Demetrios’ II. (Amtszeit 1862–1870).19 Auch in Palästina ist sie gut dokumentiert.

3.2. Die Reaktion in Jerusalem Die Errichtung des „Bistums der Vereinten Kirche von England und Irland zu Jerusalem“ im Jahr 1841 versetzte verschiedene Bereiche der Römisch-Katholischen Kirche im Vatikan, in Deutschland und anderenorts in Alarmstimmung. Ein Jahr später, 1842, stellte die Heilige Kongregation für die Verbreitung des Glaubens Untersuchungen an, ob es möglich wäre, einen päpstlichen Delegaten mit dem Titel des Patriarchen für Jerusalem zu ernennen. Allerdings stieß diese Idee auf starken Widerstand von zwei Seiten: Zum einen empfand der Kustos des Heiligen Landes eine solche Nominierung als Bedrohung seiner eigenen Autorität und Zuständigkeit für eben dieses Heilige Land. Zum anderen sah die französische Regierung, die ja zur alleinigen Schutzmacht der römisch-katholischen Christen im Reich ernannt worden war, die Idee einer solchen Ernennung als beunruhigend an. In der Folge blieb die Idee zwischen 1842 und 1846 in der Schwebe. Zwei bedeutende Ereignisse im Jahr 1846 führten dann aber zur endgültigen Entscheidung des Papstes, einen Patriarchen für Jerusalem zu ernennen.20 Das

18 Zitiert nach: Makdisi, Artillery of Heaven, 125. 19 Guirguis, Magdi/van Doorn-Harder, Nelly, The Emergence of the Modern Coptic Papacy (The Popes of Egypt, 3), Kairo 2011. 20 Eine detaillierte Darstellung der Einrichtung des Lateinischen Patriarchats in Jerusalem gibt Kildani, Hanna, Modern Christianity in the Holy Land, Bloomington, IN 2010.

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erste war der Einzug des Schweizer Bischofs Gobat in Jerusalem. Er war vom preußischen König eingesetzt worden mit der Aufgabe, „die orientalischen Kirchen zu reformieren“. Rom sah darin eine direkte Bedrohung, weil man vorhatte, die orientalischen Kirchen an eine Vereinigung mit Rom heranzuführen. Das zweite große Ereignis war die Wahl von Papst Pius IX. im Jahr 1846. Sein Interesse war es, mittels der Errichtung katholischer Bistümer in der ganzen Welt die Christen im Osten zu ermuntern, sich mit Rom zu vereinigen. In seiner Amtszeit errichtete er 29 Erzdiözesen und 132 Diözesen. 1847 wurde Giuseppe Valerga, ein 34-jähriger italienischer Priester, zum Bischof und zum Lateinischen Patriarchen von Jerusalem ernannt. Weil es schon einen „Bischof von Jerusalem“ gab, nämlich den Bischof der Vereinten Kirche von England und Irland, war es wichtig für die Römisch-Katholische Kirche, einen erhabeneren Titel, den des „Patriarchen“, zu wählen und Valerga also zum „Lateinischen Patriarchen von Jerusalem“ zu machen. Damit reagierte die Römisch-Katholische Kirche auf das 1841 neugeschaffene anglikanische Bischofsamt und positionierte sich selbst dabei mitten im Geschehen. Diese Entwicklungen veranlassten auch das Griechisch-Orthodoxe Patriarchat, im Jahr 1845 seine Residenz nach Jahrzehnten in Konstantinopel wieder nach Jerusalem zu verlegen. Auf diese Weise wurde Jerusalem zum offiziellen Sitz dreier Patriarchate und mehrerer Bischöfe, die alle Leiter von Kirchenbehörden waren.

3.3. Eine „Gegenreformation“ als Reaktion auf die Protestanten Ähnlich wie die Gegenreformation eine tridentinische Antwort auf die Reformation war, veranlasste der neu angekommene Protestantismus im Nahen Osten die altorientalischen Kirchen zu neuen Reaktionsmustern. Es war notwendig für diese Kirchen, neue Arbeitsmethoden zu entwickeln in Reaktion auf die Protestanten und ihre neuen Formen der Organisation, der Bildung, der Sozialarbeit und – natürlich – ihres Bibelgebrauchs. So kam es, dass die presbyterianische Mission in Ägypten in der Mitte des 19. Jahrhunderts etwas in Gang setzte, das als „koptische Aufklärung“ bekannt wurde. Als Teil dieser Entwicklung gründete der koptische Papst Kyrill IV. (Amtszeit 1854–1861) die Große Koptische Schule, um mit dem presbyterianischen Schulsystem konkurrieren zu können. Tatsächlich war jedoch das protestantische Bildungssystem Teil einer sehr viel breiteren Bewegung, an der auch Katholiken und Anglikaner beteiligt waren. Natürlich konnte das ganze Unternehmen nicht vonstattengehen, ohne dass Wissenschaftler, die sich mit den Wurzeln der Kolonialisierung unter den gesellschaftlichen Eilten beschäftigen, immer wieder Kritik daran übten.21

21 Vgl. Sedra, Paul D., John Lieder and His Mission in Egypt, in: The Journal of Religious History 28 (2004), 219–239.

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In vergleichbarer Weise führten das presbyterianische Verständnis des „Presbyters“ und die Bedeutung, die man ihm gab, im Jahr 1874 zur Entwicklung einer Laienbewegung innerhalb der Koptisch-Orthodoxen Kirche. Emblematisch dafür war die Schaffung des sogenannten Majlis al-Milli, dem ersten koptischen Gemeinderat seiner Art. „Majlis“ bezeichnet einen Sitzplatz zum Beispiel in einer Ratsversammlung. Und 1881 gründete die Koptische Kirche die Koptische Wohltätigkeitsgesellschaft, um die Sozialarbeit in Ägypten nicht allein den katholischen und protestantischen Kirchen zu überlassen. „Kurz, die Ankunft der amerikanischen Missionare bedeutete, dass die Kopten vor einer neuen Wahl standen, wie sie ihr Christentum leben und praktizieren wollten. Dieses Element der Wahl zwang dann die koptischen Führer aller konfessionellen Hintergründe, sich der Aufgabe zu stellen, die Loyalität ihrer Anhänger in einem umkämpften Markt christlicher Vorstellungen aufrechtzuerhalten. Heraus kam dabei letztlich eine verjüngte und pluralistischere Kultur des ägyptischen Christentums.“22 Nicht allein in Ägypten, sondern überall im Nahen Osten löste das Erscheinen der Protestanten eine Konkurrenz zwischen Protestanten und Katholiken sowie zwischen Protestanten und Orthodoxen aus, eine Konkurrenz um „Seelen“, Köpfe und Loyalitäten. Die russische kirchliche Mission23 in Palästina war ein Beispiel für eine orthodoxe „Gegenreformation“. Auf Empfehlung von Porphyrius Uspenskij (1804–1885), einem russischen Orientalisten, Archäologen, Theologen und Bischof, der zur panslawischen Bewegung gehörte, wurde 1847 in Jerusalem eine russische diplomatische Vertretung eingerichtet, um dem Einfluss der römisch-katholischen und protestantischen Missionen etwas entgegenzusetzen. Uspenskij leitete diese Vertretung von 1848 bis 1854. Nach einer Unterbrechung durch den Krimkrieg erfand sie sich im Jahr 1857 neu, indem sie sich der Bildung der orthodoxen Bevölkerung von Palästina und Syrien widmete. Mehr als 102 russisch-orthodoxe Schulen wurden eröffnet, besonders in Städten und Dörfern mit einer orthodoxen Mehrheit. Die Unterstützung der arabisch-orthodoxen Gemeinschaft bei ihren Kämpfen mit der griechischen Hierarchie war ein weiteres wichtiges Kennzeichen der russischen Vertretung. Gestärkt wurde der russische Einfluss in Palästina außerdem durch die Gründung der Orthodoxen Russischen Gesellschaft im Jahr 1882, die seit dem Jahr 1889 als Kaiserliche Orthodoxe Palästina-Gesellschaft auftrat. Eine ihrer Hauptaktivitäten bestand darin, russische Pilger ins Heilige Land zu bringen. 1882 unternahmen um die 2 000 Russen Pilgerreisen nach Jerusalem; ihre Zahl wuchs bis zum Jahr 1914 auf über 15 000. Aus keinem anderen Land kamen mehr Pilger ins Heilige Land.

22 Sharkey, American Evangelicals, 47. 23 Hopwood, Derek, The Russian Presence in Syria and Palestine 1843–1914. Church and Politics in the Near East, Oxford 1969.

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4. Die Umgestaltung der christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten

4. Die Umgestaltung der christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten des 19. Jahrhunderts Im 19. Jahrhundert erlebte der Nahe Osten bedeutende Veränderungen, die für die christlichen Gemeinschaften wichtige Konsequenzen hatten.

4.1. Die Revolution der Presse Die Einführung der Druckerpresse war grundlegend für die Modernisierung des Nahen Ostens, denn sie ebnete den Weg zur Demokratisierung der Erziehung, zur Verbreitung religiöser und nationalistischer Ideen sowie zu einer literarischen Renaissance. Im Nahen Osten waren Druckerpressen seit dem späten 16. Jahrhundert bekannt, doch fand man sie lange ausschließlich in Klöstern im Libanon, wo sie ausschließlich für den Druck religiöser Texte verwendet wurden. 1798 brachte Napoleon eine Druckerpresse mit nach Ägypten, die anfänglich von seinen Truppen und dann von der wissenschaftlichen Delegation, die ihn begleitete, benutzt wurde. Zehn Jahre später gründete die London Missionary Society auf Malta eine Druckerei, die für die Aktivitäten dieser Missionsgesellschaft zur Verfügung stehen sollte. Amerikanische Missionare taten es ihnen gleich. Die erste Zeitung, die von Arabern für Araber herausgebracht wurde, erschien im Jahr 1816 im Irak. Wenige Jahre später eröffnete Muhammad Ali in seinem Eifer für den Aufbau eines modernen Staatswesens das erste arabische Verlagshaus in Ägypten, in dem zwei Zeitungen gedruckt wurden. 1834 zogen die amerikanischen Missionare mit ihrem Druckund Verlagsgeschäft von Malta nach Beirut, und 1854 eröffneten dort auch die Jesuiten einen Verlag. In Jerusalem gab es um die Mitte des 19. Jahrhunderts vier Verlagshäuser. Je eines davon betrieben Franziskaner (1846), britische Protestanten (1848), Armenier (1848) und Griechisch-Orthodoxe (1852). Später entstanden noch drei weitere protestantische Verlage im Nahen Osten; der berühmteste von ihnen wurde vom Syrischen Waisenhaus an der Schneller-Schule in Khirbet Kanafar im Libanon betrieben. Schließlich sollte erwähnt werden, dass Papst Kyrill IV. von Alexandria die koptische Kirche Ägyptens ebenfalls mit dem Drucken und Publizieren religiöser und pädagogischer Texte bekannt machte und dass die Druckerei der Dominikaner in Mossul im Irak beträchtliche Bedeutung erlangte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die meisten Zeitungen im Besitz von Regierungen oder religiösen Einrichtungen; in der zweiten Jahrhunderthälfte brachten mehr und mehr Privatleute, unter ihnen einige Christen, Zeitungen heraus. 1858 gründete der syrische Patriot Khalil al-Khoury die Zeitung Hadiqat al-akhbar („Garten der Neuigkeiten“). 1875 brachten in Alexandria zwei griechisch-katholische (melkitische) Brüder, Bischara und Salim Takla, erstmals die Zeitung Al-Ahram („Die

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Pyramiden“) heraus. Bezeichnenderweise hatte Salim Takla seine Ausbildung bei dem protestantischen Missionar Cornelius Van Dyck begonnen und sie an der National School, die von Butrus al-Bustani in Aabey gegründet wurde, fortgesetzt. Neben ihrer Beteiligung an der Entwicklung von Zeitungen wirkten Christen auch mit beim Start bedeutender Magazine und Journale. Yaqub Sarruf, ebenfalls ein Schüler von Van Dyck und Bustani, eröffnete ein neues „wissenschaftliches“ Magazin unter dem Titel Al-Muqtataf („Die Auslese“), und Dschurdschi Zaidan, ein Absolvent des Syrian Protestant College, gründete die Zeitschrift Al-Hilal („Die Mondsichel“). Der Einfluss der amerikanischen Missionare und der protestantischen Bewegung auf diese journalistischen Entwicklungen ist deutlich erkennbar. Der Eifer der protestantischen Missionare für die Verbreitung des Evangeliums beeinflusste zweifellos die arabischen christlichen Pioniere des Pressewesens, denen sehr an der Verbreitung von Wissen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Aufklärung gelegen war. Um die Zeit des Ersten Weltkriegs war das Verlagswesen schon lange kein exklusiv christliches Unterfangen mehr, sondern weit verbreitet. Allein in Ägypten gab es 283 Zeitungen und Zeitschriften, in Palästina waren es 34.

4.2. Sozioökonomische Veränderungen Das Eindringen Europas in den Nahen Osten auf dem Wege von Erziehung, Handel und politischen Verträgen führte im Osmanischen Reich zu bedeutenden sozioökonomischen Veränderungen. Viele nahöstliche Städte wurden zu wichtigen Knotenpunkten der wirtschaftlichen Entwicklung und des Bevölkerungswachstums. Um genügend Seide für die französischen Märkte zu erzeugen, verließen viele libanesische Bauern ihre Bergdörfer und ließen sich in den Küstenregionen nieder. Beirut wurde zu einem der führenden Häfen im Nahen Osten, seine Bevölkerung wuchs von ein paar Tausend Einwohnern zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf über Hunderttausend an seinem Ende.24 Alexandria wurde zu einem Zentrum der Baumwollindustrie und zog viele Menschen aus Oberägypten an; seine Bevölkerung explodierte von wenigen Tausend am Anfang des Jahrhunderts auf beinahe eine viertel Million am Ende.25 In Palästina gab es im 19. Jahrhundert 50 Prozent weniger christliche Dörfer als im 16. Jahrhundert, und im Jahr 1922 lebten 76 Prozent der palästinensischen Christen in Städten. Diese sozioökonomische Verlagerung vom Land in die Stadt wurde immer sichtbarer, je mehr Christen ihre traditionellen landwirtschaftlichen Tätigkeiten aufgaben und Händler oder Geschäftsleute wurden. Eine wachsende christliche Mittelschicht

24 Fawaz, Leila, Merchants and Migrants in Nineteenth Century Beirut, Cambridge, MA 1983, 44–60. 25 Reimer, Michael J., Colonial Bridgehead. Government and Society in Alexandria 1807– 1882 Boulder, CO 1997, 90–110.

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4. Die Umgestaltung der christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten

entstand in den meisten Ballungsräumen des Nahen Ostens. Die in den christlichen Schulen erworbenen Sprachkenntnisse verschafften diesen Menschen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ihren muslimischen Nachbarn. Kontakte zu europäischen Wirtschaftskreisen erschlossen neue Anlaufpunkte für den Export. Palästinensische christliche Kaufleute aus Bethlehem stellten ihre Olivenholz- und Perlmuttprodukte 1876 auf der Centennial Exposition in Philadelphia, 1893 auf der World’s Columbian Exposition in Chicago und 1904 auf der Louisiana Purchase Exposition in St. Louis aus.26 Auf die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestiegene Mobilität osmanischer Christen folgten gegen Ende des Jahrhunderts Wellen der Auswanderung aus dem Reich. Geschätzte 90 Prozent der 86 111 Syrer, die zwischen 1899 und 1914 in die Vereinigten Staaten emigrierten, waren Christen.27 Dasselbe gilt für die 330 000 Libanesen, die zwischen 1860 und 1914 auswanderten. „Unter denen, die bis 1932 ausgewandert sind, waren 123 397 Maroniten, 50 031 waren griechisch-orthodox, und 26 627 waren Melkiten (griechische Katholiken). Aber nur 36 865 waren Muslime oder Drusen.“28 Bis 1914 war ungefähr die Hälfte der Christen von Bethlehem und ein Drittel der Nachbarstadt Bait Dschala nach Lateinamerika emigriert. Mit einer geschätzten halben Million besitzt Lateinamerika heute die größte palästinensische Diaspora außerhalb der arabischen Welt und die größte palästinensisch-christliche Bevölkerung. Die meisten Lateinamerikaner mit palästinensischen Wurzeln leben in Chile, während der höchste prozentuale Anteil von ihnen in Honduras zu finden ist (drei Prozent).29 Die meisten der ersten Auswanderer in die Neue Welt arbeiteten als Kaufleute; einige waren dabei äußerst erfolgreich. Mehrere arabische und christliche Autoren, die emigrierten, wurden auch in der Diaspora aktiv und gründeten eine arabisch-amerikanische Literaturgesellschaft mit dem Namen The Pen League. Ihr Ziel war die Wiederbelebung der arabischen Sprache, die Überführung ihres altertümlichen Stils in die Moderne. Unter jenen Autoren waren Nasib Arida, Abdul Massih Haddad, Gibran Khalil Gibran, Amin al-Rihani, Elia Abu Madi und Mikhail Naimy.

4.3. Die Ausweitung der Bildungsmöglichkeiten Zu Beginn des 19. Jahrhunderts existierten im Osmanischen Reich nur religiöse Schulen: muslimische Schulen, die man „Katatib“ nannte, und christliche Schulen, die zu orthodoxen, maronitischen oder franziskanischen Klöstern gehörten. Die europä-

26 Musallam, Adnan, The Formative Stages of Palestinian Arab Immigration to Latin America and Immigrants’ Quest for Return and for Palestinian Citizenship in the Early 1920s, in: Raheb, Viola (Hrsg.), Latin Americans with Palestinian Roots, Bethlehem 2012, 17. 27 Naff, Alixa, Becoming American. The Early Arab Immigrant Experience, Carbondale, IL 1985, 110. 28 Abdelhady, Dalia, The Lebanese Diaspora. The Arab Immigrant Experience in Montreal, New York, and Paris, New York 2011, 6. 29 Raheb, Viola (Hrsg.), Latin Americans, 9.

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ischen und amerikanischen Missionare und die römisch-katholischen Orden brachten neue Theorien und Praxismodelle von Erziehung mit. Ihre Schulen behielten die Religion als Grundlage bei, aber dieser Grundlage fügten sie andere Disziplinen hinzu, etwa Naturwissenschaften, Mathematik, Geschichte und Geografie. Die Sprachen der Institute, die die Schulen unterhielten, wurden ebenfalls unterrichtet: Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Russisch oder Griechisch. Zwischen diesen Instituten – vor allem zwischen Protestanten, Katholiken und (Russisch-)Orthodoxen – herrschte ein erbitterter Wettbewerb um die Köpfe und Seelen der Menschen im Nahen Osten. Selbst als in Europa im 19. Jahrhundert bereits die Existenz „religiöser“ Schulen in Frage gestellt wurde, war die Mehrheit der im Nahen Osten zur selben Zeit eröffneten Schulen noch immer christlich. Es hatte den Anschein, dass kirchliche Einrichtungen, die in ihren Heimatländern keine religiösen Schulen mehr eröffnen konnten, sich auf neue Schulen in ihren Missionsfeldern konzentrierten. Um 1870 hatten die Jesuiten im Nahen Osten mehr als 500 Schulen errichtet; und 1914 befanden sich 3 397 römisch-katholische Missionare in jenem Teil der Welt; zwei Drittel von ihnen waren Franzosen.30 1912 waren 12 800 Schüler in britischen protestantischen Schulen eingeschrieben, 34 317 in amerikanischen protestantischen, 59 414 in französischen katholischen und zwischen 10 000 und 15 000 in russischen orthodoxen Schulen. Staatliche Schulen hatten zur selben Zeit insgesamt 81 226 Schüler.31 Im Jahr 1917 gab es allein in Palästina 116 römisch-katholische, 100 russisch-orthodoxe, 52 protestantische und 22 griechisch-orthodoxe Schulen. Diesen insgesamt 290 Schulen standen 174 staatlich geführte Schulen gegenüber. Anglikanische Schulen waren hauptsächlich in ländlichen Gebieten anzutreffen, deutsche und französische Schulen in urbanen Zentren; orthodoxe Schulen lagen hauptsächlich in orthodoxen Dörfern. Neben den „normalen“ Schulen führten die christlichen Missionare auch berufsbildende Schulen ein, in denen Handwerke oder andere Berufe gelehrt wurden. Ein herausragendes Beispiel dafür war das Syrische Waisenhaus in Jerusalem, das von dem deutschen protestantischen Missionar Johann Ludwig Schneller (1820–1896) gegründet worden war. Schneller hatte kein Interesse daran, „fromme geschwätzige Christen“ heranzuziehen. Ihm ging es vielmehr darum, Christen in einem Beruf auszubilden, mit dem sie für sich und ihre Familien sorgen konnten. Er führte Ausbildungsgänge in den neuen Berufen ein, die im veränderten sozioökonomischen Klima dieser Zeit aufkamen: Buchbinder, Schneider, Schuhmacher, Keramiker, Köche, Bäcker und Mechaniker. Schnellers Schule und ähnliche Einrichtungen des römisch-katholischen Salesianerordens leisteten auf diese Weise einen Beitrag zur Entstehung einer neuen gesellschaftlichen Klasse im Nahen Osten: der Klasse der ausgebildeten Handwerker. Die Missionsschulen, die ursprünglich den

30 Tejirian, Eleanor H./Simon, Reeva S., Conflict, Conquest, and Conversion. Two Thousand Years of Christian Missions in the Middle East, New York 2012, 101f. 31 Masters, Christians and Jews, 151.

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4. Die Umgestaltung der christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten

Zweck hatten, neue Anhänger des Christentums und Konvertiten heranzuziehen, wurden zu bedeutenden Faktoren in der Renaissance der arabischen Welt. „Über lange Zeit kam es im 19. Jahrhundert vor allem in den protestantischen Missionsunternehmungen zu Spannungen zwischen dem evangelikalen Bestreben, Muslime, Juden und orientalische Christen zum Protestantismus zu bekehren, und der Vorstellung einer notwendigen Modernisierung (der Vorstellungen und der Lebensführung), die jeder wahren Bekehrung vorausgehen müsse. Dies wurde als ‚Dialektik von Christus und Kultur‘ bezeichnet und lag dem Konflikt zwischen einer Konzentration auf evangelistischer Predigt und Bekehrung einerseits und Bildung und wirtschaftlicher Entwicklung andererseits zugrunde.“32 Die Schließung des amerikanischen Protestantischen Theologischen Seminars in Aabey im Libanon im Jahr 1878 wurde zu einem Wendepunkt in der Geschichte der amerikanischen Missionen im Nahen Osten. Die amerikanischen Missionare wurden sich allmählich der Tatsache bewusst, dass die Region nicht in erster Linie Hunderte von Pastoren und Predigern brauchte, sondern Ärzte, Pharmazeuten, Volkswirtschaftler und andere Fachleute. Das Scheitern der amerikanischen Missionare in ihrem Bestreben, die Region zu christianisieren, veranlasste sie dazu, ihre Bemühungen auf das „Zivilisieren“ zu verlagern, sich als Vertreter einer säkularen und höheren Allgemeinbildung neu zu erfinden und die Schüler auf nützliche Beschäftigungsverhältnisse vorzubereiten.33 Frauenbildung war schon früh ein wesentlicher Teil der missionarischen Bildungsangebote. Bereits 1825 eröffnete die amerikanische Mission in Beirut die erste Schule für Mädchen, und das ermöglichte es Hetty Butler Smith, der Frau des ersten amerikanischen Missionars Eli Smith, im Jahr 1834 die erste reguläre Mädchenschule in Syrien zu gründen. In einer berühmt gewordenen Rede betonte Butrus al-Bustani 1848 die Wichtigkeit der Mädchenbildung, die sie später als Frauen dazu befähige, einen Haushalt zu führen und für ihre Kinder zu sorgen. Hunderte von Mädchenschulen eröffneten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überall im Osmanischen Reich; die meisten wurden von französischen, englischen, amerikanischen und deutschen Missionen geleitet. Frauenbildung erschien der wachsenden Mittelschicht als Notwendigkeit, denn ihr wurde immer klarer, dass eine gebildete und fürsorgliche Mutterschaft bei der voranschreitenden Modernisierung der Völker des Nahen Ostens unverzichtbar war. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt jedoch – besonders unter den Intellektuellen der Mittelschicht – Frauenbildung allein nicht mehr als ausreichend. Vielmehr wurden die Befreiung der Frauen und die Schaffung der „neuen Frau“ zum anzustrebenden Ziel.34

32 Tejirian/Simon, Conflict, Conquest, and Conversion, 189. 33 Khalaf, Samir, Protestant Missionaries in the Levant. Ungodly Puritans 1820–60, New York 2012. 34 Greenberg, Ela, Preparing the Mothers of Tomorrow. Education and Islam in Mandate Palestine, Austin, TX 2010, 3.

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Von Napoleons Einmarsch in Ägypten im Jahr 1798 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs erlebte der Nahe Osten eine rapide Umgestaltung, vor allem aufgrund der Bildungsarbeit der christlichen Kirchen. Es ist keine Übertreibung, wenn man behauptet, dass die christlichen Schulen den gesamten Nahen Osten geprägt haben. Ihre Absolventen setzten ihre Studien häufig an führenden Universitäten Amerikas und Europas fort. Man fand sie überall in einflussreichen und wichtigen Positionen. Der Nahe Osten schien zunehmend „im Griff der Christen“ zu sein. Das 20. Jahrhundert begann mit der Zuversicht, dass es „das christliche Jahrhundert“ werden würde; die Evangelisierung des Nahen Ostens würde innerhalb einer Generation abgeschlossen sein. Dass aber innerhalb eines Jahrzehnts vieles von dem, was das westliche Christentum geschaffen hatte, wieder auf dem Spiel stand oder gar zerstört wurde, schien undenkbar. Doch die Samen der Zerstörung keimten bereits. „Der Orient“ wurde von den europäischen Mächten als irrationales, schwaches, weibliches „Anderes“ dargestellt, das nach Unterwerfung durch den rationalen, starken und männlichen Westen verlangte. So brachte das europäische Eindringen dem Nahen Osten nicht nur Modernisierung, Bildung und Christentum. Mit diesem Eindringen kamen auch Kolonisation, Nationalismus und Zionismus. Diese drei Elemente der europäischen Begegnung mit dem Nahen Osten im 19. Jahrhundert waren die Saat künftiger Konflikte in der Region.35

5. Die Folgen des Imperialismus 5.1. Kolonialismus Napoleons Einmarsch in den Nahen Osten an der Schwelle zum 19. Jahrhundert (1798) markiert die Eröffnung der europäischen Kolonialisierungsgeschichte. Das erste Land, das unter französische Herrschaft fiel, war 1830 Algerien. Im Jahr 1852 besaß Frankreich nach gewaltsamen Eroberungen Siedlungen und Kolonien im Land. 1860 zog das französische Militär in den Libanon ein und stellte sich an der Seite der Maroniten gegen die Drusen, die wiederum von den Briten unterstützt wurden. 1881 wurde Tunesien französisches Protektorat, Frankreichs zweite Kolonie in Nordafrika. Mit diesem französischen Zugriff begann ein heftiger Wettkampf der europäischen Mächte um die Vorherrschaft im Nahen Osten. 1882 wurde Ägypten britische Kolonie, gefolgt vom Sudan im Jahr 1889. Libyen wurde 1911 italienische Kolonie, und im folgenden Jahr wurde Marokko französisches Protek-

35 Vgl. Said, Edward W., Orientalismus, Frankfurt am Main 2009 (Originalausgabe: Orientalism, New York 1978).

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5. Die Folgen des Imperialismus

torat. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war der Nahe Osten vollständig unter europäischer Kontrolle. Offensichtlich hielten die Briten ihr früheres Versprechen, den Arabern einen eigenen Staat zu geben, der von der Ostküste des Mittelmeers bis nach Mesopotamien reicht, nicht. Stattdessen unterzeichneten das Vereinigte Königreich und Frankreich mit der Zustimmung Russlands 1916 einen Vertrag, der ursprünglich geheim war, dann aber als Sykes-Picot-Abkommen bekannt wurde. Dieses teilte im Wesentlichen den Nahen Osten unter den beiden Großmächten auf: Syrien wurde von Frankreich besetzt, der Irak von England; der Libanon wurde französisches Mandatsgebiet, Transordanien und Palästina wurden britische Mandatsgebiete. Die Araber und die anderen Einwohner des Nahen Ostens, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert um die Befreiung vom Osmanischen Reich gekämpft hatten, fanden sich stattdessen unter der Kontrolle zweier europäischer Mächte wieder. Über die Jahre kam es immer wieder zu ermüdenden Debatten über die Rolle der christlichen Missionen im Zusammenhang mit dem europäischen Kolonialismus. Häufig wurden die christlichen Missionare als „Kulturimperialisten“ oder „Agenten des Imperiums“ dargestellt. Tatsächlich aber kann man weder folgern, dass die christliche Mission der Europäer im Nahen Osten unzweifelhaft ein kolonialistisches Unternehmen war, noch dass man eindeutig zwischen den beiden unterscheiden könnte. Was die beiden gemeinsam hatten, war der Wunsch nach Expansion – der des Christentums und der der Nationen – über die nationalen oder geografischen Grenzen hinaus. Man kann zweifellos die Auffassung vertreten, dass beide Phänomene, „Mission“ und „Kolonialismus“, aus einer gemeinsamen europäischen expansionistischen Kultur stammen, die sich stark genug fühlte, weit entfernte Andere unter ihre militärische oder religiöse Kontrolle zu bringen. Beide waren überzeugt, dass sie (europäische) „Waren“ anzubieten hatten und dass es „Märkte“ im Ausland gebe, die darauf warteten. Zweifellos gab es Zusammenhänge zwischen dem Aufstieg der imperialistischen Herrschaft im Nahen Osten und der Ausbreitung der missionarischen Unternehmungen. Manchmal profitierten die Missionswerke in der Tat von der imperialen Macht ihrer europäischen Mutterländer, aber es ist ebenfalls richtig, dass die christlichen Missionen oft einen hohen Preis zahlten, wenn die Einheimischen ihre Arbeit mit der Kolonialmacht in Verbindung brachten.

5.2. Nationalismus Das Osmanische Reich basierte in der Hauptsache auf religiöser Identität, nicht auf Volkszugehörigkeit. Ethnisch, religiös und den Hautfarben nach war es extrem pluralistisch. Die Französische Revolution bereitete den Weg für den europäischen Nationalstaat und damit auch für den Aufstieg des Nationalismus. Es handelt sich

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dabei um ein westliches Konzept, das nach und nach in viele Teile der übrigen Welt einschließlich des Nahen Ostens gelangte, als man neue Gemeinschaften – Nationen – schuf, die auf einer gemeinsamen Sprache, Geografie, Erinnerung und Religion beruhten.36 Muhammad Ali war der erste Herrscher, der davon träumte, einen vierhundert Jahre alten Status quo in Frage zu stellen, indem er zur Bildung einer Art Nationalstaat zwischen Nil und Euphrat aufrief. 1832 folgten die Griechen seinem Beispiel, indem sie sich vom Osmanischen Reich lossagten, um eine unabhängige Monarchie zu begründen. Und um die Mitte des 19. Jahrhunderts riefen Intellektuelle wie Butrus al-Bustani nach einem „Arabischen Erwachen“. Nicht in erster Linie gegen das Reich sollte es gerichtet sein, sondern gegen die religiösen Subidentitäten, die schwere Konflikte verursachten und gelegentlich zu Massakern geführt hatten. Bustani erwartete von einem solchen Erwachen nicht, dass es neue Grenzen zwischen den Völkern schaffen, sondern zu ihrer Einheit führen würde. In Bustanis Augen würde die Ausrichtung auf die Einheit aller Araber eine „Meta-Identität“ hervorbringen, in der sich Christen und Muslime gleichermaßen heimisch fühlen könnten. Darum betonten er und andere christliche Intellektuelle, wie wichtig für alle Araber die arabische Sprache, die gemeinsamen Wurzeln und das gemeinsame Schicksal sei. Literarische Werke verbanden einzelne Regionen mit ihrer vorislamischen Geschichte – etwa Ägypten mit den Pharaonen, den Libanon mit den Phöniziern, Syrien mit Assyrien und Palästina mit dem „Gelobten Land“. Die Wiederbelebung alter Identitäten wurde auch von archäologischen Entdeckungen von Ruinen ruhmvoller Reiche der Vergangenheit stimuliert. Dieses Arabische Erwachen, das sich durch christliche Schulen verbreitete, hatte große Auswirkungen auf die Christen im Nahen Osten und auf ihre Gesellschaften. Einerseits richtete sich das Erwachen größtenteils gegen das Osmanische Reich, da immer mehr arabische Intellektuelle sich die Unabhängigkeit von den Osmanen ausmalten. Aber gleichzeitig hatte es auch eine allgemeinere anti-imperiale Seite. Das drückte sich auch im Verlangen vieler christlicher Gemeinschaften nach größerer Unabhängigkeit von den Missionswerken aus. Es ist aufschlussreich, die Empfänglichkeit dieser Werke für das allgemeine Streben nach größerer Unabhängigkeit zu untersuchen. Die amerikanischen Missionare zeigten am meisten Verständnis. „1870 entschieden die amerikanischen Presbyterianer, dass die Evangelische Kirche von Ägypten genügend gewachsen war, um größere Unabhängigkeit in einem Verband arabischsprachiger Gemeinden, die durch ein Presbyterium verbunden waren, zu rechtfertigen. Deshalb entschlossen sie sich, die Amerikanische Mission formell von der Evangelischen Kirche von Ägypten zu lösen und letzterer die presbyteriale Kontrolle zu überlassen. Nach

36 Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin 3. Aufl. 2005 (Originalausgabe: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 1983 u. ö.).

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5. Die Folgen des Imperialismus

guter amerikanischer Gewohnheit verfassten sie eine Satzung, in der diese Prinzipien der Kirchenleitung festgehalten wurden.“37 1878 führte dies Muhammad Tawfiq (1852– 1892), den Khedive (Vizekönig) von Ägypten und den Sudan, dazu, die protestantische Gemeinschaft in Ägypten als eigenständige christliche Taifa (Religionsgemeinschaft) anzuerkennen. Die Entwicklungen in anderen Teilen des Nahen Ostens brauchten mehr Zeit. Erst im Jahr 1920 gelang es der Evangelischen Nationalsynode von Syrien und Libanon, von der Amerikanischen Mission unabhängig zu werden. Vergleichbare Vorgänge fanden auch in den anglikanischen Kirchen, die von der Church Mission Society (CMS) gegründet worden waren, statt. 1871/72 erachtete man es als notwendig, eine lokale Synode für die anglikanischen Gemeinden in Palästina einzurichten. Die Verhandlungen zwischen der CMS und den örtlichen Pastoren waren aber schwierig, und die Synode kam erst nach 24 Jahren zustande. Die CMS war nicht bereit, einheimische Geistliche oder ihre Schulen in die Unabhängigkeit zu entlassen. Erst 1905 wurden die „Regulations of the Palestinian Native Church Council“ angenommen, und eine anglikanische Synode mit Sitz in Jerusalem nahm ihre Arbeit auf. Im selben Jahr veröffentlichte Najib Azuri (1873–1916), ein syrischer Christ, der mit einer palästinensischen Christin verheiratet war, ein Buch über die Erweckung der arabischen Nation, in dem er zur Gründung einer arabischen Nation aufrief, zur Beendigung der osmanischen Herrschaft und zur Vereinigung aller Kirchen in Großsyrien, die sich als eine einzige katholische Kirche zusammenfinden und ihre Gottesdienste in arabischer Sprache halten sollten. Ebenfalls sprach sich Azuri in seinem Buch gegen die zionistische Bewegung aus. Ähnliche Entwicklungen gab es in der Gemeinschaft der griechisch-orthodoxen Christen. Obwohl ihre Kirchen auf eine längere Geschichte im Nahen Osten zurückblickten, blieb der griechische Einfluss auf sie stark. In Großsyrien setzte innerhalb der orthodoxen Kirchen im späten 19. Jahrhundert eine Bewegung für die „Arabisierung“ von Liturgie und Hierarchie ein. In Palästina wurde die Arabisierung der Griechisch-Orthodoxen Kirche von der russisch-orthodoxen Mission unterstützt. Porphyrius Uspenskij, der Gründer der Russisch-Orthodoxen Kirchlichen Mission, entfachte ein ethnisches Bewusstsein unter orthodoxen Arabern auf der Grundlage des arabischen Nationalismus mit der Ziel der Unabhängigkeit von der griechischen Hierarchie. Die Bestrebungen, die orthodoxen Kirchen zu arabisieren, setzten bereits 1872 ein und erreichten ihren Zenit zwischen 1899 und 1908. Alle Versuche scheiterten jedoch. Die russische Unterstützung der Bewegung endete im Jahr 1917 mit der Revolution im Mutterland, was die arabisch-orthodoxe Gemeinschaft merklich schwächte. So blieb die Hierarchie unter ausschließlich griechischer Kontrolle, unter der sie sich immer noch befindet. In Syrien und im Libanon hingegen wurde das Patriarchat gegen Ende des Jahrhunderts arabisch.

37 Sharkey, American Evangelicals, 42.

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Für zwei bedeutende christliche Gemeinschaften hatte der Aufstieg des Nationalismus im Osmanischen Reich verhängnisvolle Konsequenzen. Im frühen 20. Jahrhundert war Nationalismus nicht nur unter Arabern, sondern auch bei anderen ethnischen Gruppen verbreitet. 1887 war die erste armenische nationalistische Partei, die Sozialdemokratische Huntschak-Partei oder Hntschak, in Genf von russischarmenischen marxistischen Studenten gegründet worden. Ihr tiefsitzendes, zunehmendes Bewusstsein ihrer ethnischen Identität brachte die Partei von 1892 an in einen brutalen Konflikt mit türkischen Nationalbewegungen und führte 1894 zu einem Massaker. Zwischen jenem Jahr und 1896 wurden geschätzt 100 000 Armenier getötet. 1908 setzte eine türkische Nationalpartei, die „Jungtürken“, Sultan Abdülhamid II. ab und übernahm die Macht im Osmanischen Reich. Während des Ersten Weltkriegs verübte das Reich einen Völkermord an den Armeniern (1915/ 1916) und an den Syrern in Ostanatolien (1915). „Was die Syrisch-Orthodoxen betrifft, schätzt man, dass sie ein Drittel ihrer Bevölkerung in der Region verloren; und infolgedessen wurden acht von zwanzig Diözesen damals völlig ausgelöscht und hörten auf zu existieren.“38 Auf armenischer Seite wurden zwischen 800 000 und 1,5 Millionen Menschen massakriert; Hunderttausende flohen in die Nachbarregionen Syrien, Libanon und Palästina. Vier Jahre lang lebten die Menschen im Nahen Osten in der Angst vor Krieg, Massakern, Deportationen, wirtschaftlicher Not, Hunger und Krankheit. Die Missionswerke sahen sich gezwungen, ihre Aktivitäten von der Bekehrungstätigkeit auf Nothilfe und Beistand umzustellen. Die Ursachen dieser nahöstlichen Katastrophe lagen im Zusammenbruch des Osmanischen Reichs, in den Allianzen des Ersten Weltkriegs und in den ethnischen und religiösen Konflikten in der ganzen Region.

5.3. Zionismus Die Geschichte des Christentums im Nahen Osten des 19. Jahrhunderts ist äußerst vielfältig; man kann sie in konkreten Geschichten einzelner Nationen und Menschen entdecken. So gäbe es beispielsweise aus Aleppo in Syrien und Mossul im Irak noch wichtige christliche Geschichten zu erzählen. Dieser Beitrag schließt damit, die Elemente einer dieser Geschichten zusammenzutragen: die der religiös und politisch wichtigen Bewegung des Zionismus. Im 20. Jahrhundert griffen die Debatten über „säkularen“ oder „politischen“ Zionismus wie über „christlichen Zionismus“ um sich, und beide wurden oft verwechselt und vermischt. Wir werden uns Aspekte des religiösen Ausdrucks dieser Bewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts und ihres weitgehend politischen

38 O’Mahoney, Anthony/Loosley, Emma (Hrsg.), Eastern Christianity in the Modern Middle East, New York 2010, 16.

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5. Die Folgen des Imperialismus

Ausdrucks am Ende unseres Betrachtungszeitraums, 1917, vor Augen führen. Diese beiden Pole werden häufig mit zwei britischen Persönlichkeiten in Verbindung gebracht – mit Anthony Ashley-Cooper, dem Siebten Earl of Shaftesbury, später Lord Shaftesbury (1801–1885) und mit Arthur James Balfour, dem Ersten Earl of Balfour (1848–1930), der 1917 Außenminister war. Das 19. Jahrhundert begann mit einem weitverbreiteten missionarischen Eifer zur Bekehrung des jüdischen Volks. Dieser Eifer verflocht sich jedoch mit den Ambitionen des europäischen Kolonialismus und diversen Erscheinungsformen des Nationalismus. Den Hintergrund all dessen bildete vor allem die internationale Rolle des britischen Weltreichs. 1854 schrieb der Earl of Shaftesbury in sein Tagebuch: „Das Türkische Reich befindet sich in raschem Niedergang; jede Nation ist unruhig; aller Herzen erwarten mancherlei große Dinge […] Niemand kann sagen, dass wir einer Prophezeiung vorgreifen; ihre Erfordernisse scheinen beinahe erfüllt; Syrien ‚ist verödet ohne einen Bewohner‘; diese weiten und fruchtbaren Regionen werden bald ohne Herrscher sein, ohne eine bekannte und anerkannte Macht, die die Herrschaft beansprucht. Das Territorium muss dem einen oder anderen zugewiesen werden; kann es irgendeinem europäischen Machthaber gegeben werden? Irgendeiner amerikanischen Kolonie? Irgendeinem asiatischen Monarchen oder Stamm? Sollten Anwärter aus Afrika einen Anspruch auf den Boden von Hama bis zum Fluss Ägyptens anbringen? Nein, nein, nein! Es gibt ein Land ohne Nation; und Gott weist uns nun in Seiner Weisheit und Gnade auf eine Nation ohne Land hin. Sein eigenes einstmals geliebtes, nein, noch immer geliebtes Volk, die Söhne Abrahams, Isaaks und Jakobs.“39

Der Kontext, in dem Shaftesbury diese Zeilen schrieb, ist bedeutsam. 1831 hatte Muhammad Ali von Ägypten aus Großsyrien erobert, woraus eine Veränderung der Lage für die europäische Machtpolitik im Nahen Osten resultierte. Des Weiteren trug zu dieser Neuordnung bei, dass Großbritannien sich im Jahr 1854 mit den Osmanen verbündete, die im Krimkrieg mit Russland kämpften. Im Kampf der europäischen Reiche um Rohstoffe, Handelsrouten und eben um die Zukunft des Osmanischen Reichs sah Lord Shaftesbury eine Gelegenheit für Großbritannien, „die Herrschaft“ über Palästina „zu beanspruchen“ und die britischen Juden nach dorthin umzusiedeln. Shaftesburys Aussage mischte biblische Sprache – „jede Nation ist unruhig; aller Herzen erwarten mancherlei große Dinge“ – mit Ausdrücken, die die imperialen Interessen des britischen Weltreichs beschreiben. Er sah England als Instrument zur Erfüllung biblischer Prophezeiungen, als hätten diese Prophezeiungen über Generationen nur auf die Briten gewartet. Nicht zufällig fiel diese Sicht der Erfüllung biblischer Prophezeiungen zusammen mit der politischen Ausdehnung des

39 Zitiert nach: Hodder, Edwin, The Seventh Earl of Shaftesbury, K.G., as Social Reformer, Toronto 1898, 14 (Neuaufl. London 2016).

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britischen Imperiums auf Kosten anderer Imperien. Gottes Verheißungen und imperiale Interessen gingen Hand in Hand. Typisch für diese Auffassung war, dass sie Palästina (von Shaftesbury unter „Syrien“ subsummiert) als „verödet ohne einen Bewohner“ und als „Land ohne Nation“ ansah. Dies führte zu einer Gleichsetzung des biblischen Gottesvolks mit einer Gruppe der Gegenwart, den europäischen Juden des 19. Jahrhunderts, die als „eine Nation ohne Land“ angesehen wurden. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass diese Sicht der Geschichte seither zu einem festen Bestandteil der britischen Imperialpolitik und zu einem bleibenden Merkmal der europäischen und amerikanischen Außenpolitik im Nahen Osten wurde. Die Christen, die Lord Shaftesbury folgten, konzentrierten sich anfangs auf die „Wiedereinsetzung“ des jüdischen Volks in das Land, das als ihre historische Heimat betrachtet wurde: Palästina, das zu einem Teil wieder „Israel“ heißen sollte. Darüber hinaus konstruierte diese Sichtweise „Freunde (Juden) ebenso wie Feinde (Muslime und römisch-katholische Christen) und pflegte zugleich einen abendlandzentrierten Diskurs, der die orientalischen Christen außer Acht ließ. Diese Konstruktionen schlagen sich nieder in gegenwärtigen westlichen Diskursen um den israelisch-palästinensischen Konflikt; sie geben Juden eine Rolle in eschatologischen Dramen, dämonisieren Muslime und verleumden Christen, die Palästinenser sind oder mit der palästinensischen Sache sympathisieren.“40 Die zionistische Bewegung benutzte diese Sicht der jüdischen Geschichte und ihr Bibelverständnis, um sie in eine „realpolitische“ Agenda zu übersetzen mit dem Ziel, die Palästinenser aus ihrem Land zu vertreiben und palästinensische Stadtregionen zu besetzen, in denen sich dann jüdische Einwanderer niederließen Dieses Muster wurde das ganze 20. Jahrhundert hindurch fortgesetzt von „christlichen Zionisten“, die theologische Blaupausen entwickeln für Zionisten, die sie wiederum in politische Programme übersetzen, die auf die Erreichung ihrer Ziele ausgerichtet sind. Der Zionismus kann dies jedoch nicht aus eigener Kraft erreichen; die Unterstützung durch das „Imperium“ wurde gebraucht, und 1917, zum Zeitpunkt unserer Betrachtung war das Großbritannien. Am 2. November 1917 schrieb der Erste Earl of Balfour, Lord Arthur James Balfour, britischer Außenminister, an seinen Parlamentskollegen Baron Walter Rothschild (1868–1937), einen prominenten britischen Zionisten, die folgenden Worte, die als „Balfour-Deklaration“ bekannt wurden: „[…] ich bin sehr erfreut, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgende Erklärung der Sympathie mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen übermitteln zu können, die dem Kabinett vorgelegt und gebilligt worden ist: ‚Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Errei-

40 Smith, Robert O., More Desired than Our Own Salvation. The Roots of Christian Zionism, Oxford/New York 2013, 185.

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5. Die Folgen des Imperialismus chung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.‘“41

Der Zeitpunkt dieser englischen Kabinettsentscheidung war kein Zufall. Die britische Armee, die in Ägypten stationiert war, stand bereit, Südpalästina einzunehmen. Am 22. November, unmittelbar nach dieser Deklaration, wurde Bethlehem vom Oberbefehlshaber der Ägyptischen Expeditionsstreitkräfte, Sir Edmund Allenby, besetzt. Jerusalem folgte zwei Wochen später. Die vierhundertjährige osmanische Besatzung des Nahen Ostens ging zu Ende. Palästina wurde britisches Mandatsgebiet. Aus der biblischen „Landverheißung“ wurde nun die imperiale Verheißung Palästinas an die europäischen Juden. Der Hintergrund dieser britischen „Verheißung“ war Großbritanniens „neue imperialistische“ Agenda, auch „koloniale Entwicklung“ genannt. Palästina war also „ein bedeutendes Teil im entstehenden Puzzle von Großbritanniens zukünftiger Rolle in der Region, vor allem wegen seiner hervorragenden Küstenlage: ‚Es gibt überhaupt keinen Zweifel, dass die landwirtschaftliche Produktivität des Landes [Palästina] enorm gesteigert werden kann; und es ist ebenso gewiss, dass es mit ordentlichen Häfen und Eisenbahnen wie früher eine große Schnellstraße des Austauschs zwischen dem Mittelmeer und dem Osten werden kann.‘“42 Wir sehen also wiederum das Muster, die britische Imperialpolitik mit einer bestimmten Rezeption der biblischen Geschichte zu verbinden. Die „große Schnellstraße“, die in Jesaja 40 versprochene „ebene Bahn“, wurde projiziert auf das britische Interesse an der Kontrolle und dem Schutz der Handelsstraßen. In diesem Kontext wurde die biblische „Landverheißung“ übersetzt in eine britische Landzusage. Das „verödete Land“ sei nicht mehr vergeudet, wenn es von europäischen Juden bestellt würde, die den britischen Interessen dienen. Das Land wird in der Erklärung dadurch als Land ohne Volk dargestellt, dass die Einwohner via negationis als „nichtjüdische Gemeinschaften“ bezeichnet werden, die „bürgerliche und religiöse Rechte“ besitzen; der Begriff „Volk“ (nation, people) jedoch ausschließlich in Bezug auf Juden verwendet wird. Mit dieser Landzusage wurde die Saat für den israelisch-palästinensischen Konflikt ausgebracht, dessen Folgen uns auch im 21. Jahrhundert erhalten bleiben. Übersetzung: Norbert Reck

41 Khalidi, Rashid, British Policy towards Syria and Palestine 1906–1914. A Study of the Antecedents of the Hussein-McMahon Correspondence, the Sykes-Picot Agreement, and the Balfour Declaration, Oxford 1980. 42 Norris, Jacob, Land of Progress. Palestine in the Age of Colonial Development 1905– 1948, Oxford 2012, 8.

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Das Christentum im Nahen Osten zwischen 1799 und 1917

Literatur Haddad, Robert, Syrian Christians in Muslim Society. An Interpretation, Princeton 1970. Hourani, Albert, Arabic Thought in the Liberal Age 1798–1939, Cambridge 1995. Kildani, Hanna, Modern Christianity in the Holy Land, Bloomington, IN 2010. Khalaf, Samir, Protestant Missionaries in the Levant. Ungodly Puritans, 1820–1860, New York 2012. Masters, Bruce, Christians and Jews in the Ottoman Arab World. The Roots of Sectarianism, Cambridge 2001 (1. Aufl. 1994). O’Mahoney, Anthony/Loosley, Emma, Eastern Christianity in the Modern Middle East, New York 2010. Raheb, Mitri, Das reformatorische Erbe unter den Palästinensern. Zur Entstehung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien, Gütersloh 1990. Sanderson, Lillian, Education, Religion and Politics in Southern Sudan 1899–1964, London 1981. Sharkey, Heather J., American Evangelicals in Egypt. Missionary Encounters in an Age of Empire, Princeton 2008. Tejirian, Eleanor/Spector Simon, Reeva, Conflict, Conquest, and Conversion. Two Thousand Years of Christian Missions in the Middle East, New York/Chichester 2012.

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DAS CHRISTENTUM IN NORDAMERIKA 19. JAHRHUNDERT

IM

Margaret Bendroth

Im 19. Jahrhundert schlug Nordamerika ein neues Kapitel in der Geschichte des Christentums auf. Immer neue Wellen außergewöhnlicher Entwicklungen überspülten in diesem Jahrhundert den ganzen Kontinent: ein massiver Bevölkerungszustrom aus Europa, die enorme und oftmals gewaltsame Eroberung neuen Landes an der Grenze nach Westen sowie der kraftvolle, ungezügelte Aufschwung des kapitalistischen Wirtschaftens. In derselben Zeit entwickelten sich die Vereinigten Staaten und Kanada von europäischen Siedlungen zu selbsternannten „christlichen Nationen“, und zwar nicht aufgrund eines staatlichen Dekrets, sondern als Ergebnis des unerwarteten freiwilligen Engagements unzähliger Laien. Dieses „lebendige Wagnis“ („lively experiment“), wie es der Historiker Sidney Mead einmal genannt hat, zeitigte einzigartige Wirkungen – und hinterließ den modernen Kirchen ein kompliziertes Vermächtnis.1 Zur Schilderung dieser Vorgänge gehören zwei Geschichten: die der Vereinigten Staaten und die ihres nördlichen Nachbarn Kanada. Im groben Umriss ähneln sich ihre Geschichten. Beide Länder sind ehemalige britische Kolonien, geprägt von Zuwanderung und Grenzlandbesiedelung, beide haben den Anspruch, „christliche Nationen“ zu sein, versehen mit einem göttlichen Auftrag an die umliegende Welt. Jedoch entfachte die Religion, wie viele Beobachter festgestellt haben, südlich der kanadischen Grenze heftigere Leidenschaften und brachte ein breiteres Spektrum von Irrtümern und Schwärmereien hervor. Diese Unterschiede, so die These im vorliegenden Essay, verraten viel von der weiterwirkenden Kraft der „Alten Welt“ – dem Bedürfnis nach Ordnung und dem Verlangen nach Tradition – und von den scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten, die die „Neue Welt“ bot.2

1 Mead, Sidney E., The Lively Experiment. The Shaping of Christianity in America, New York 1963 (deutsche Ausgabe: Das Christentum in Nordamerika. Glaube und Religionsfreiheit in vier Jahrhunderten, Göttingen1987). 2 Zum Vergleich des Christentums in Kanada mit jenem in den Vereinigten Staaten siehe u. a. Airhart, Phyllis, „As Canadian as Possible Under the Circumstances“. Reflections on the Study of Protestantism in North America, in: Stout, Harry S./Hart, Darryl G. (Hrsg.), New Directions in American Religious History, New York 1997, 116–137; Westfall, William, Voices from the Attic. The Canadian Border and the Writing of American Religious History, in: Tweed, Thomas (Hrsg.), Retelling U.S. Religious History, Berkeley 1997, 181–199; Handy, Robert, A History of the Churches in the United States and Canada, New York 1977; Noll, Mark A., A History of Christianity in the United States and Canada, Grand Rapids, MI 1992; Noll, Mark A., What Happened to Christian Canada?, in: Church History 75 (2006), 245–273.

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Das Christentum in Nordamerika im 19. Jahrhundert

Zwischen diesen Polen entspann sich die Geschichte des 19. Jahrhunderts selbst, einer Übergangszeit zwischen der Zeit der Revolutionen und der Moderne. Vieles machte die Welt weniger geheimnisvoll – es war eine Zeit des Kartierens, Vermessens und Standardisierens; die Zeitmessung selbst wurde weltweit vereinheitlicht, ein System von 24 Zeitzonen umspannte nun den Globus, und alle wurden koordiniert von einer einzigen Uhr in Greenwich in England. Zugleich wurde die Welt aber auch unverständlicher, angetrieben vom „Big Business“, von erdteilumgreifenden Großreichen und Städten von überwältigender Größe und Unübersichtlichkeit. Zugleich fremd und vertraut, ist das 19. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht die „Vorgeschichte der Gegenwart“, wie der Historiker Jürgen Osterhammel schreibt; es bringt Institutionen und Erkenntnisweisen hervor, „die sich bis zur allgemeinen Verbreitung des Fernsehens [...] nicht grundlegend veränderten“.3 Nordamerika bekam diese Veränderungen intensiv zu spüren, denn es entwickelte sich von einer wirtschaftlich unbedeutenden Provinz zur führenden kapitalistischen Weltmacht; aus einer Ansammlung kolonialer Außenposten in einer Welt hinter dem Atlantik wurden Nationen, die den Kontinent umfassen. Ohne feudalistische Geschichte, die es zu überwinden galt, und ohne Aristokratie, die abzusetzen war, traten die Vereinigten Staaten und Kanada beinahe über Nacht als durch und durch moderne Nationen auf den Plan, mit allen Möglichkeiten und allen Komplikationen, die das Versprechen von „Leben, Freiheit und Streben nach Glück“ mit sich brachte. Alle möglichen neuen Fragen tauchten auf: Kann eine freie Gesellschaft auch moralisch sein? Wie sieht nationale Einheit in einer Demokratie aus? Gibt es Grenzen für die individuelle Freiheit? Die Religion spielte beim Stellen und Beantworten solcher Fragen im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Debatten über die Trennung von Staat und Kirche versuchten zu klären, was es hieß, Bürger in einer Demokratie zu sein, und umrissen die Verantwortungsbereiche freier Menschen. In Konflikten zwischen Mitgliedern von Religionsgemeinschaften und Außenstehenden – über das Verhältnis zwischen alten anerkannten Glaubensformen und Bewegungen an den „Rändern“ – wurden die Grenzen von Toleranz und Vielfalt bestimmt und erweitert. Möglicherweise war es ganz folgerichtig, dass die Nationszugehörigkeit im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten und in Kanada starke religiöse Untertöne annahm. Die nationale Einheit fand ihren Ausdruck in der Sprache des Glaubens, aufs engste verbunden mit Vorstellungen von Schicksal und göttlicher Berufung. Das Folgende ist keinesfalls eine erschöpfende Darstellung des Christentums in Nordamerika, und es ist auch kein ausgewogener Bericht über zwei verschiedene

3 Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 5. Aufl. 2010, 17 und 82. Vgl. auch Kern, Stephen, The Culture of Time and Space. 1880–1918, Cambridge, MA [1983] 2003.

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1. Die Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten und Kanada

Länder, wie es das Thema eigentlich verlangt. Der Ansatz ist weitgehend chronologisch und thematisch und geht der Frage nach, wie Religionsfreiheit, religiöse Toleranz und Nationszugehörigkeit sich auf dem gemeinsamen Kontinent entwickelt haben. Obwohl die Fragen im Norden und Süden der Staatsgrenze im Wesentlichen dieselben waren, kam man hier und dort zu ausgesprochen unterschiedlichen Antworten. Tatsächlich sind die Gegensätze zwischen den beiden Nationen genauso bedeutsam wie ihre Gemeinsamkeiten; an ihnen zeigt sich die Kraft und Zersplitterung der Religion in den Vereinigten Staaten und ihre sorgfältig ausgewogene bürgerschaftliche Rolle in Kanada.

1. Die Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten und Kanada Das große Projekt der westlichen Welt im frühen 19. Jahrhundert war die Entstehung der Nationen, der Aufbau neuer Formen gesellschaftlicher Stabilität nach der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Die neuen Nationalstaaten waren mehr als die Summe ihrer geografischen Grenzen oder der Gesetze, die ein König oder Kaiser erlassen hatte. Sie waren „imaginierte Gemeinschaften“ von Menschen, die Ethnizität, Geschichte und Sprache teilten, aber sie waren nicht länger Untertanen, sondern Bürger mit öffentlichen Rollen und Verantwortlichkeiten. Der neue soziale Klebstoff war der Patriotismus, die starke Loyalität gegenüber Frankreich oder Großbritannien oder den Vereinigten Staaten. Das waren im Wesentlichen abstrakte Vorstellungen, doch sie wurden gefeiert mit Nationalhymnen, Zeremonien und Gelöbnissen, und sie verlangten öffentliche Treuebekenntnisse und eine entschiedene persönliche Loyalität.4 In Europa herrschte – auch wenn die jeweiligen politischen Konzepte wechselten oder sich mit der Zeit weiterentwickelten – überwiegend die Überzeugung, dass die Religion ein Feind des Fortschritts sei. Die Kirche hatte über lange Zeit die Königshäuser unterstützt und freies Denken verfolgt, deshalb war sie eine Kraft, die man kontrollieren und aufmerksam beobachten musste. In den Vereinigten Staaten bildete sich dagegen etwas völlig anderes heraus: Religion und Nationsbildung verschmolzen zu einer gemeinsamen Sache. Der französische Gesellschaftskritiker Alexis de Tocqueville (1805–1859), fand, als er über seine Reisen in

4 Vgl. Anderson, Benedict, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983 (deutsche Ausgabe: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt am Main 1988); Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 2012.

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Das Christentum in Nordamerika im 19. Jahrhundert

die Vereinigten Staaten schrieb, den Kontrast verblüffend: „Bei uns [in Frankreich] sah ich den Geist des Glaubens und den Geist der Freiheit fast immer einander entgegengerichtet. Hier [in Amerika] fand ich sie innig miteinander verbunden: sie herrschten gemeinsam auf dem gleichen Boden.“5 Auch nachdem die Tinte auf der Verfassung der Vereinigten Staaten trocken war, blieb die Frage der Trennung von Kirche und Staat eine schwierige Angelegenheit. Der Erste Zusatzartikel zur Verfassung verbot es der Regierung, ein Gesetz zu erlassen, „das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat“ oder „die freie Religionsausübung verbietet“. Das waren einfache Worte, aber beladen mit komplexer historischer Bedeutung. In nur wenigen Sätzen demontierte die Verfassung der Vereinigten Staaten so die jahrhundertealte Allianz zwischen Königen und Kirchenhierarchien, wie sie von mittelalterlichen Päpsten und Kaisern geschmiedet worden war. Sowohl in den römisch-katholischen als auch in den protestantischen Ländern Europas war die Religion eine Institution des Staats; sie verlieh dem weltlichen Herrscher moralische und geistliche Autorität und genoss dafür einen steuerbegünstigten Monopolstatus. Anfangs wurde dieses Arrangement auch im Nordamerika des 17. und 18. Jahrhunderts beibehalten: im katholischen Quebec, im spanischen Südwesten, im puritanischen Neuengland, unter den anglikanischen Kirchen im britischen Kanada und im Küstengebiet Virginias. Auch wenn die Abmachungen darüber aufgrund immer weiterer Ausnahmen keineswegs in Stein gemeißelt waren, überdauerten sie doch überwiegend die Zeit der Revolutionen und den Aufstieg andersdenkender Gemeinschaften – der Baptisten, Methodisten, Quäker und zahlreicher anderer Gruppen, die kleiner, aber nicht weniger leidenschaftlich waren.6 Die Verfassung der Vereinigten Staaten bereitete dem Staatskirchentum schließlich ein Ende und untersagte es den Bundesstaaten, Bewerber um öffentliche Ämter auf ihren Glauben oder ihre Glaubenspraxis zu prüfen oder andere derartige Anforderungen zu stellen. Danach war es nicht mehr die Sache von Bundes- oder Staatsregierungen, religiöse Angelegenheiten zu regeln, weder durch Verbote noch durch Förderung bestimmter Glaubensinhalte. Natürlich war das genaue Ausmaß der Religionsfreiheit eine Frage der Interpretation. Auch wenn Andersgläubige wie Baptisten oder Methodisten plötzlich ein unvorhergesehenes Maß an Freiheit genossen, gingen die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner davon aus, dass es dennoch Grenzen gab, besonders was die nicht christlichen Religionen anging. Es war eine völlig neue Situation, und sehr vieles schien nun möglich. Die „Trennwand zwischen Kirche und Staat“, die Präsident Thomas Jefferson vor Au-

5 De Tocqueville, Alexis, Über die Demokratie in Amerika, Bd. I: Stuttgart 1959, 341. Vgl. auch Noll, Mark A., America’s God. From Jonathan Edwards to Abraham Lincoln, New York 2002. Ergänzungen im Original. 6 Zahlreiche Quellen z. B. bei Meyerson, Michael, Endowed By Our Creator. The Birth of Religious Freedom in America, New Haven 2012.

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1. Die Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten und Kanada

gen gehabt hatte, verschaffte religiösen Gruppierungen zunächst einen Raum, um sich entfalten und zu Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu Wort melden zu können – auf längere Sicht war es der Startschuss für die Entwicklung einer neuen, volksnahen Form des protestantischen Christentums. Der religiöse Niedergang, den manche befürchtet hatten, blieb aus, vielmehr kam es zu einem rasanten Aufstieg einer aggressiven selbstbewussten evangelikalen Bewegung, die genau auf die Hoffnungen und Ängste der einfachen Leute ausgerichtet war. Mit anderen Worten: Die Religion spielte eine zentrale Rolle dabei, die amerikanische Kultur zu „demokratisieren“, mittels einer neuen Form des protestantischen Christentums: Sie beruhte auf der Gleichheit aller, war durch und durch individualistisch und in höchstem Maße gefühlsbetont.7 Als die evangelikale Bewegung im frühen 19. Jahrhundert aufkam, war sie sowohl eine Angelegenheit des Stils wie der Theologie. Die Historiker sind sich weder einig über die Anfänge und Ursprünge dieser Bewegung, die bis in die Gegenwart einen so prägenden Einfluss auf weite Teile der Religiosität ausübt, noch über ihre Lehren und konfessionellen Konturen. Die meisten stimmen jedoch zu, dass das evangelikale Christentum auf den Pietismus des 18. Jahrhunderts zurückgeht, und zwar auf dessen Wiederaufleben, das in den 1730er und 1740er Jahren sowohl Europa als auch Nordamerika erfasst hatte und heute als „Erste Große Erweckung“ („First Great Awakening“) bezeichnet wird. Es war eine Religion der – oft spontanen und gefühlsbetonten – Bekehrung, und sie war eher auf persönliche Erfahrung ausgerichtet als auf eine konventionelle Kirchlichkeit und ihre Hierarchien. So wurde der „evangelikale Stil“ im 19. Jahrhundert zum markantesten Zug des Protestantismus in den Vereinigten Staaten und, in beträchtlichem Ausmaß, ebenso in Kanada.8 Demgegenüber hatte es der Calvinismus alten Stils, die Grundausstattung des Puritanismus in Neuengland, in der neuen Republik natürlich nicht leicht. Dessen Lehren von göttlichen Befehlen und menschlicher Hilflosigkeit kollidierten mit der neuen Ethik des Marktes, die jeden Bürger dazu befreite – und verpflichtete –, sein individuelles Glück zu schmieden. Die jungen Männer folgten nicht mehr automatisch der Laufbahn ihrer Väter und blieben auch seltener zu Hause, um die Farm der Familie zu übernehmen. Der neue Geist war entschieden arminianisch, d. h. er folgte einer Theologie, die im 17. Jahrhundert aus der Auseinandersetzung mit der Ethik des Calvinismus hervorgegangen war. Der Arianismus argumentierte, dass die Calvinistische Lehre von Göttlicher Allmacht und doppelter

7 Hatch, Nathan, The Democratization of American Christianity, New Haven, CT 1989. 8 Die Darstellung dieser Debatte würde den Rahmen dieses Essays sprengen. Eine allgemeine Einführung zur Frage der evangelikalen Anfänge bietet Stout, Harry S., Divine Dramatist: George Whitefield and the Rise of American Evangelicalism, Grand Rapids, MI 1991; vgl. auch die Diskussion bei Brekus, Catherine, Sarah Osborne’s World. The Rise of Evangelical Christianity in Early America, New Haven, CT 2013.

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Das Christentum in Nordamerika im 19. Jahrhundert

Prädestination zu Heil oder Verdammnis zu einer moralischen Lähmung führe, wenn sie exklusivistisch interpretiert würden. Der Arminianismus verband diese Lehren mit einer Betonung der menschlichen Verantwortung und Freiheit bei der Erlangung der Gaben des Heiligen Geistes. Er fand einen kraftvollen Ausdruck in den Lehren des englischen Predigers John Wesley (1703–1791) und in der methodistischen Bewegung, die dieser inspirierte und anführte. Der Calvinismus starb daran nicht sofort, er verschwand nicht einmal völlig. Tatsächlich war das 19. Jahrhundert in protestantischen Seminaren und Predigten sogar eine Zeit leidenschaftlicher und gedankenreicher Debatten über die menschliche Freiheit und die göttliche Souveränität.9 Aber während die Theologen in Harvard, Yale und Princeton noch über Syllogismen debattierten, zog die neue Zeit des Heiligen Geistes bereits herauf. Das Jahrhundert begann mit aufsehenerregenden Nachrichten von Ereignissen in Cane Ridge im Bundesstaat Kentucky. Dort war es zu einem Ausbruch spiritueller Ekstase und zu Massenbekehrungen auf einer Waldlichtung gekommen –ohne dass die Kirche und die offizielle Geistlichkeit davon hatten profitieren können. Die Berichte wussten von religiösen „Übungen“, verbunden mit hemmungslosem Gelächter, plötzlichen Trancen und Zuckungen, die immer neue Kandidaten in unkontrollierte Konvulsionen trieben. Der Geist der Erweckungstreffen äußerte sich unumwunden und enthusiastisch antielitär. Ein Augenzeuge, der methodistische Prediger Peter Cartwright (1785–1872), erinnert sich in seiner Autobiografie: „Einige Sünder spotteten und manche der alten und steifen Presbyterianerprediger predigten gegen diese Art des Gottesdienstes. Dennoch war dieses Werk nicht aufzuhalten. Es verbreitete sich nahezu in alle Richtungen und gewann zusätzliche Durchschlagskraft, bis es so schien, als käme das ganze Land zurück zu Gott.“10 Aufregend für die einen, erschreckend für die anderen, wurden die Erweckungsübungen zu einer bewährten Methode bei der Verbreitung des evangelikalen Christentums, nicht nur in der entlegenen ländlichen Provinz, sondern auch in den Städten. Die Erweckungsbewegung zeigte sich bemerkenswert anpassungsfähig an verschiedene Orte und an den Zeitgeist. Tatsächlich sprach man mit Blick auf den Anfang des 19. Jahrhunderts von einer „Zweiten Großen Erweckung“, die

9 Einen Überblick über die Geschichte des Calvinismus in den Vereinigten Staaten gibt Davis, Thomas J. (Hrsg.), John Calvin’s American Legacy, New York 2010. Allgemeinere Beobachtungen zum religiösen Denken in dieser Zeit machen Holifield, E. Brooks, Theology in America. Christian Thought from the Age of the Puritans to the Civil War, New Haven 2003, und Smith, H. Shelton, Changing Conceptions of Original Sin, New York 1955. 10 Cartwright, Peter, Erweckung im Wilden Westen. Peter Cartwrights Autobiografie, Grasbrunn 2008, 33 (Originalausgabe: Autobiography of Peter Cartwright. The Backwoods Preacher, New York 1856). Einen älteren, aber klassischen Bericht über Cane Ridge bietet Weisberger, Bernard A., They Gathered at the River. The Story of the Great Revivalists and Their Impact upon Religion in America, Boston 1958.

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1. Die Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten und Kanada

es leicht mit der ersten aufnehmen konnte, wenn sie sie nicht sogar übertraf. Tatsächlich war „Erweckung“ ein Charakteristikum des volksnahen Protestantismus im gesamten 19. Jahrhundert – und in gewissem Sinn ist das bis heute so. Zugleich war diese Art der Religiosität keineswegs universell. Einige Kirchen – die Unitarier, die Episkopalen und Konfessionskirchen wie die Lutheraner und die niederländischen und deutschen Reformierten – verurteilten die emotionalen Exzesse und die populistische Rhetorik, die Verachtung der Liturgie und die Gleichgültigkeit gegenüber den Sakramenten.11 Andere hingegen machten von diesen Merkmalen guten Gebrauch. Baptisten und Methodisten zeigten sich besonders geschickt darin, predigende Farmer („farmer preachers“) und Wanderprediger einzusetzen. Sie bauten Kirchen in entlegenen Siedlungen auf, trotzten harten Umständen und legten viele Meilen auf dem Rücken von Pferden zurück, um das Evangelium zu verkündigen. Die Arbeit war mühselig, doch letztlich wirkungsvoll und erfolgreich. Methodistische Wanderpfarrer zum Beispiel versammelten kleine Gruppen zu informellen „Klassentreffen“, die mit der Zeit zu Keimzellen für richtiggehende Gemeinden wurden, zumeist ohne dass reguläre Geistliche etwas davon hatten. Gegen 1850 hatten diese beiden Konfessionen die übrigen weit überholt: Aus winzigen Gruppen von Kirchgängern war eine unübersehbare Mehrheit geworden. Die Methodisten waren von kaum 700 Gemeinden im Jahr 1790 auf annähernd 20 000 im Jahr 1860 angewachsen, oder anders ausgedrückt: Aus ungefähr 2,5 Prozent Anhängern im Jahr 1776 waren im Jahr 1850 etwa 35 Prozent geworden. Die Baptisten wuchsen ebenso, wenn auch weniger dramatisch: Aus rund 900 Gemeinden im Jahr 1790 waren in derselben Zeit an die 12 000 geworden. Sie erreichten damit 20,5 Prozent aller Kirchgänger im Jahr 1850. Was die Zahlen und die geografische Verbreitung angeht, ist das 19. Jahrhundert mit Recht als „methodistisches Zeitalter“ bezeichnet worden.12 Die Erweckungsbewegung setzte menschliches Handeln voraus. Im Bundesstaat New York zog der presbyterianische Evangelist Charles Finney (1792–1875) predigend durch die Städte und Dörfer, die nach der Eröffnung des Eriekanals gegründet worden waren. Es war ein Gebiet, das immer neue Wellen der Erweckung und ein Anwachsen der randständigen Bewegungen erlebte, bis es schließlich schon als „übermissionierter Landstrich“ galt. Trotz aller Begeisterung hatten Finneys „neue Maßnahmen“ die Ausgießung des Heiligen Geistes zur Routine gemacht. Anstatt darauf zu warten, dass Gott handele, erklärte Finney, liege es in der Ver-

11 Bratt, James, Religious Anti-Revivalism in Antebellum America. A Collection of Religious Voices, New Brunswick, NJ 2006. 12 Wigger, John, Taking Heaven By Storm. Methodism and the Rise of Popular Christianity in America, Urbana 2001. Zahlen nach Noll, Mark A., The Civil War as a Theological Crisis, Chapel Hill 2006, 27, und Finke, Roger/Stark, Rodney, The Churching of America 1776–1990. Winners and Losers in Our Religious Economy, New Brunswick 1992, 55.

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Das Christentum in Nordamerika im 19. Jahrhundert

antwortung der Gläubigen, die nötige Vorarbeit zu leisten – sie sollten tun, was sie konnten, um den Weg zu bereiten für die wahrhafte Ankunft des Heiligen Geistes. Eine Erweckung, so sagte er im Kontext einer berühmten Vortragsreihe, entstehe einfach aus „dem rechten Gebrauch der geeigneten Mittel“. Finneys Erweckungsversammlungen etablierten bestimmte Formen, die auch heute noch anzutreffen sind, etwa die „anxious bench“, eine Bankreihe für diejenigen, die sich besonders von ihren Sünden niedergedrückt fühlten und um Gebet und Zuwendung baten, oder das „protracted meeting“, eine öffentliche Zusammenkunft, die sich über viele Tage oder gar Monate erstreckte. Allein daran konnte man schon ablesen, wie viel an Überzeugungskraft der calvinistische Determinismus inzwischen eingebüßt hatte. Der neue Glaube war leidenschaftlich individualistisch, lebhaft gefühlsbetont und auf die persönliche Entscheidung ausgerichtet.13 Zugleich aber war der evangelikale Protestantismus des 19. Jahrhunderts zutiefst biblisch, mit einem Schriftverständnis, das stark auf rationalistischen Kategorien beruhte. In dem Maße, wie sich die protestantischen Konfessionen und Gemeinschaften vervielfachten, wurde die Bibel zu einem zentralen Bezugspunkt, zu einem Prüfstein, der die wahren Gläubigen einte und um einen gemeinsamen Glauben scharte. Dazu war es nicht einfach so gekommen. Seit der Reformation lasen Protestanten die Bibel auf vielerlei, oft einander widersprechende Weisen. Die Protestanten des 19. Jahrhunderts jedoch bauten ihren Schriftglauben auf bestimmte Vorstellungen von der menschlichen Vernunft und auf das Vertrauen in die universelle, angeborene Fähigkeit, die klare, einfache Bedeutung der Schrift zu erkennen. Diese Überzeugung ging zurück auf ein philosophisches System, nämlich auf die Argumente für den „gesunden Menschenverstand“ der schottischen Denker Dugald Stewart (1753– 1828) und Thomas Reid (1710–1796). Ihr System war eine Antwort auf den radikalen Skeptizismus von David Hume (1711–1776), der die Zuverlässigkeit der menschlichen Wahrnehmung in Frage gestellt hatte: Wie können wir wissen, dass das, was wir sehen, die Wirklichkeit ist? Stewart und Reid – und mit ihnen eine wachsende Zahl von Anhängern in den Vereinigten Staaten – bestanden darauf, dass jeder Mensch mit der Gabe der Vernunft beschenkt sei, mit einem angeborenen Alltagsverstand, der ihm erlaubte, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich war. Selbst David Hume, so argumentierten sie, ducke sich unter einer niedrigen Türöffnung. Ihre Position war von unschätzbarer Bedeutung für die neue Demokratie, schuf sie doch ein Grundvertrauen in die menschliche Vernunft und die Fähigkeit eines jeden Bürgers, die Welt auf dieselbe Art und Weise zu sehen und zu verstehen. Sie ermöglichte auch den festen Glauben an die Bibel als glasklares, weder geheimnisvolles noch esoterisches

13 Hambrick-Stowe, Charles, Charles G. Finney and the Spirit of American Evangelicalism, Grand Rapids, MI 1996; Johnson, Paul, Shopkeepers Millennium Society and Revival, New York 1978. Die Beschreibung dieses Gebiets im Staat New York entstammt dem klassischen Werk Cross, Whitney R., The Burned-Over District. The Social and Intellectual History of Enthusiastic Religion in Western New York 1800–1850, Ithaca, NY 1950.

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1. Die Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten und Kanada

Buch. Die ganze Schrift sei für jeden mit einem klaren und ehrfurchtsvollen Verstand zugänglich. In philosophischer Hinsicht mochte der Rationalismus des Alltagsverstands lediglich eine kleine Korrektur im Streit von ein paar Philosophen und elitären Theologen sein – tatsächlich aber war er eine Idee mit immenser kultureller Bedeutung: Die Vereinigten Staaten wurden zu einer Nation, die tief in die biblische Überlieferung und Sprache eintauchte, gegründet auf einen rationalen Glauben an Gott.14 Der evangelikale Protestantismus des 19. Jahrhunderts war in vielerlei Hinsicht ein Glaube ohne Grenzen. Selbst die Bekehrung war nur der Beginn einer lebenslangen Suche nach „persönlicher Heiligkeit“, und der Weg dorthin bestand aus immer neuer Selbstverleugnung und dem festen Willen, über die Sünde zu triumphieren. Die Erweckungsbewegung ging davon aus – und forderte –, dass jeder einzelne Gläubige nach moralischer Vervollkommnung strebte. Diese sollte darin bestehen, frei zu werden von dem Drang, Gottes Gebote zu missachten. Vor allem unter Methodisten entstand aus diesem Anspruch eine ganz eigentümliche Verbindung von John Wesleys Doktrin der Vervollkommnung einerseits und der marktwirtschaftlichen Kultur des Gewinnstrebens, die in der Mittelschicht Fuß fasste, andererseits. Unter den berühmten Lehrern der Vervollkommnung im frühen 19. Jahrhundert stach eine Frau besonders hervor: Phoebe Palmer (1807–1874). Ihre „Dienstagstreffen zur Förderung der Heiligung“ („Tuesday Meetings for the Promotion of Holiness“) und ihre bekannte Zeitschrift The Guide to Holiness schulten eine ganze Generation von Führungspersönlichkeiten und mündeten in sogenannte Evangelisationsreisen nach Kanada und Großbritannien.15 Dieser Glaube an den Anteil des menschlichen Handelns an der Erlösung hatte, in Kombination mit der wachsenden Macht des freien religiösen Markts, langanhaltende und tiefe Auswirkungen auf die Grundstimmung der Religion in den Vereinigten Staaten und, noch schicksalhafter, auf deren politische Kultur. Das Streben nach Vollkommenheit war nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Ideal. Die Gläubigen konnten – und sollten – sich auf eine Zukunft des Friedens und des Wohlstands freuen, auf ein bevorstehendes neues Zeitalter. Das war keine vage Hoffnung, sondern die konkrete Erwartung, die der Predigt und den Aktivitäten der Evangelikalen besondere Dringlichkeit verlieh. „Wenn die Kirche ganz ihre Pflicht tut,“ erklärte Finney 1835, „dann beginnt das neue Zeitalter in diesem Land in drei Jahren.“16

14 Hatch, Nathan O./Noll, Mark A. (Hrsg.), The Bible in America. Essays in Cultural History, New York 1982; Noll, Mark A., Common Sense Traditions and American Evangelical Thought, in: American Quarterly 37 (1985), 216–238. 15 White, Charles Edward, The Beauty of Holiness. Phoebe Palmer as Theologian, Revivalist, Feminist, and Humanitarian, Grand Rapids, MI 1986. 16 Zit. nach Johnson, Shopkeeper’s Millennium, 2f. Vgl. auch den klassischen Text von Smith, Timothy, Revivalism and Social Reform. American Protestantism on the Eve of the Civil War, New York 1957.

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Zweifellos war es dieser perfektionistische Antrieb, der die Religion eine zentrale Rolle spielen ließ, als die neue Nation geografisch und kulturell expandierte. In den Jahren nach der Amerikanischen Revolution war die Kirchenmitgliedschaft überraschend niedrig, ihr Anteil lag vielleicht bei nur fünf Prozent der Bevölkerung, wobei die Statistik eher den Mangel an Kirchen in einem nur schwach bevölkerten Land widerspiegelte als ein besonderes Ausmaß von Unglauben. In dieser Situation war die Trennung von Staat und Kirchen keine willkommene Aussicht. Lyman Beecher (1775–1863), der berühmte Spross einer der bekanntesten evangelikalen Familien des Landes, brachte, wie er sich erinnert, die Befürchtungen vieler zum Ausdruck, als er seine anfängliche Verzweiflung angesichts der Erwartung einer kirchen- und gottlosen Gesellschaft bekundete. Doch dann ging ihm auf, welche enormen Möglichkeiten dieses Disestablishment mit sich brachte. Tatsächlich sei die Loslösung vom Staat, so sagte er, „das Beste, was dem Staat Connecticut je passiert ist. Sie kappte die Abhängigkeit der Kirchen von der staatlichen Unterstützung und warf sie ganz auf ihre eigenen Ressourcen zurück.“17 Die Trennung vom Staat ließ explosionsartig unabhängige Gesellschaften und Reformbewegungen entstehen, eine enorme Infrastruktur, die allgemein als „Reich des Wohlwollens“ („benevolent empire“) bekannt wurde. Selbst wenn man die vielen Tausend lokaler und regionaler Organisationen außer Acht lässt, ist die Liste noch lang. An die Seite der Amerikanischen Bibelgesellschaft, die 1816 gegründet wurde, um Bibeln an alle Haushalte zu verteilen, trat im Jahr 1825 die Amerikanische Traktat-Gesellschaft, die evangelikale Bücher und Pamphlete druckte und vertrieb. Die American Home Missionary Society wurde 1826 gegründet, um Gemeinden im Grenzland aufzubauen und auszustatten, und die American Education Society, im selben Jahr ins Leben gerufen, arbeitete gegen das Wachstum nicht protestantischer Gruppen, insbesondere der römisch-katholischen Christen und der Mormonen. Bevor öffentliche Schulen so gut wie überall zur Verfügung standen, vermittelte die American Sunday-School Union (1824) sowohl religiöse Bildung als auch Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen. Engagierte Protestanten gründeten in erstaunlichem Tempo auch Institute für höhere Bildung. Viele davon begannen bescheiden in kleinen Präriestädten und entwickelten sich zu angesehenen Colleges und Universitäten – zwar nicht gerade Harvard, Yale und Princeton, aber immerhin Oberlin, Bates, Colgate und Williams. Tatsächlich wurden von den vierhundert Colleges, die in den Vereinigten Staaten vor dem Jahr 1860 eingerichtet wurden, die allermeisten von religiösen Gruppen gegründet und finanziert.18

17 Cross, Barbara M., The Autobiography of Lyman Beecher, Cambridge 1961, Bd. 1, 251– 253. 18 Der klassische Bericht hierzu: Foster, Frank H., The Evangelical United Front, 1790–1837, Chapel Hill 1960. Zu den Hochschulen vgl. Marsden, George, The Soul of the American University. From Protestant Establishment to Established Nonbelief, New York 1994.

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Das frühe 19. Jahrhundert war dann auch die große Zeit der Missionen. Es begann 1810 mit der Einrichtung einer Auslandsmissionsgesellschaft unter dem Namen American Board of Commissioners for Foreign Missions (ABCFM). Dem ABCFM und den vielen konfessionellen Agenturen ging es um nichts Geringeres als um einen weltweiten Einsatz. Die ersten protestantischen Missionare gingen zu den Stämmen amerikanischer Ureinwohner in Alabama, Georgia und Tennessee, aber auch nach Hawaii, in die Türkei, nach Indien, Sri Lanka, China und schließlich nach Afrika. Sie lernten bald, dass zur Verkündigung des Evangeliums mehr gehörte als das Predigen an Straßenecken und Dorfplätzen. Die Neubekehrten mussten – wie ihre nordamerikanischen Gegenüber – die Bibel lesen und verstehen können, und das hieß, die Missionare mussten Dolmetscher finden, nicht westliche Sprachen lernen, diese in vielen Fällen transkribieren und dann Schulen und Seminare bauen, um die Einheimischen nicht nur im christlichen Glauben zu unterrichten, sondern auch im Lesen, Schreiben und manchmal sogar in Geschichte und Geografie. Die „Verlorenen“ zu erreichen wurde zu einer immer umfassenderen Aufgabe; mit der Zeit fingen die Missionare auch an, Hospitäler und Waisenhäuser zu bauen sowie einheimische Männer und Frauen zu Wanderpredigern auszubilden.19 Auch den Laien zu Hause, insbesondere den Frauen, eröffnete dieses „Reich des Wohlwollens“ die Möglichkeit, sich organisatorische Fähigkeiten anzueignen, wozu auch das Reden in der Öffentlichkeit und das Sammeln von Spenden gehörte. Die evangelikale Erweckungsbewegung war ihrem Selbstverständnis nach egalitär – am Fuß des Kreuzes waren alle gleich –, und ihr Unternehmungsgeist überwand oft eingefleischte soziale Gewohnheiten, besonders, was die Rolle der Frauen anging. Finneys „neue Maßnahmen“ sahen beispielsweise ausdrücklich darüber hinweg, dass Frauen in der Öffentlichkeit beteten, und auch wenn ihre Zahl niemals groß war, waren etliche (schwarze und weiße) Frauen als Wanderpredigerinnen und Evangelistinnen aktiv.20 Aufs Ganze gesehen waren die demokratisierenden Triebkräfte des frühen 19. Jahrhunderts weitgehend an den Frauen vorbeigegangen, als Klasse blieben sie rechtlos und wirtschaftlich von Männern abhängig. Zu Hause, in ihrer eigentlichen „Sphäre“, sollten sie uneingeschränkt herrschen, aber niemals eine Rolle in der Öffentlichkeit übernehmen. Doch weil so viele Tausende Seelen zu retten und soziale Missstände zu bekämpfen waren, war es ein unerschwinglicher Luxus, sie auf den privaten häuslichen Bereich zu begrenzen. Auch wenn die formelle Ordination zum Pfarrdienst noch viele Jahrzehnte entfernt war, eröffnete das Reich des Wohlwollens ein scheinbar endloses Feld der Betätigung außerhalb des Heims. Für viele protestantische Frauen hieß das, ihre eigenen sepa-

19 Hutchison, William R., Errand to the World. American Protestant Thought and Foreign Missions, Chicago1987; Robert, Dana, American Women in Mission. The Modern Mission Era 1792–1992, Macon, GA 1997. 20 Brekus, Catherine, Strangers and Pilgrims. Female Preaching in America 1740–1845, Chapel Hill 1998.

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raten Organisationen zu gründen – und sie zu leiten. In der Anfangszeit sammelten sie hauptsächlich Spenden für Missionare oder die Armenfürsorge, aber im Lauf der Zeit bauten sie auch landesweite, kapitalkräftige Missionsorganisationen auf, bildeten Hunderte von Missionarinnen aus und unterhielten sie. Mehr und mehr wurde Religion zu einer „Frauensache“, man sah darin ihre natürliche Gabe und die für sie am besten geeignete Sphäre der Betätigung.21 Die Hautfarbe erwies sich als die schwerer zu überwindende Barriere. Im frühen 18. Jahrhundert war die Sklaverei eine in den Vereinigten Staaten tief verwurzelte Institution – wirtschaftliches Fundament sowohl für die baumwollerzeugenden Staaten im Süden als auch für die Textilindustrie im Norden. Die Christianisierung der Sklaven war lange eine heikle Frage, der die Sklavenbesitzer überwiegend auswichen, denn sie machten sich Sorgen, dass die Religion ein Gefühl der Gleichheit aufkommen lassen könnte. „Wenn von meinen Sklaven welche in den Himmel kommen,“ fragte sich ein Südstaatler besorgt, „muss ich sie dort sehen?“ Die religiöse Unterweisung, die afrikanische Sklaven erhielten, bestand in der Einübung von Gehorsam gegenüber der Autorität, sei sie irdisch oder göttlich, und wurde gelegentlich von Besitzern oder Pfarrern vor Ort abgehalten. Das alles änderte sich in den Jahren nach der Revolution, als methodistische und baptistische Wanderprediger in Sklavenunterkünften zu predigen begannen und in der Folge Scharen von Afroamerikanern zum Christentum übertraten. Auch wenn die Statistiken für diese Zeitspanne nicht ganz zuverlässig sind und die Zahlen zu hoch sein mögen – die Methodisten berichteten, dass die Afroamerikaner im Jahr 1797 ein Viertel ihrer Mitglieder ausmachten, die Baptisten gaben ähnliche Zahlen an – kann man sagen, dass das Christentum in den Vereinigten Staaten nicht mehr allein den weißen Einwanderern aus Europa vorbehalten war.22 Die Religion der Sklaven führte bald zu einer Infragestellung der „besonderen Einrichtung“ („peculiar institution“), wie die Sklaverei häufig euphemistisch genannt wurde. Auch wenn die Plantagenbesitzer eine biblische Ethik des Gehorsams lehrten, schöpften die Christen in den Sklavenunterkünften ihren Glauben aus den biblischen Geschichten vom Exodus und der Freiheit, vom kommenden Gericht durch Christus, den befreienden König. Es war zudem auch afrikanisch geprägt. Die Wissenschaft ist sich nicht einig darüber, in welchem Ausmaß afrikanische Glaubensvorstellungen und Praktiken unter den Bedingungen der Sklaverei überlebten, doch war die Religion der Sklaven sehr viel mehr als eine einfache Übernahme des weißen Christen-

21 Schneider, A. Gregory, The Way of the Cross Leads Home. The Domestication of American Methodism, Bloomington 1983; Ginzberg, Lori, Women and the Work of Benevolence. Morality, Politics, and Class in the Nineteenth Century United States, New Haven 1990. Einen Überblick gibt Braude, Ann, Sisters and Saints. Women and American Religion, New York 2007. 22 Zit. nach Butler, Jon, Awash in a Sea of Faith. Christianizing the American People, Cambridge 1990, 134.

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tums. Was oft – mit Blick auf Verfluchungen, Heilkuren und Geisterglauben – abschätzig als „Beschwörungskult“ bezeichnet wurde, war, wie der Historiker Claude Clegg schreibt, „Teil eines kulturellen Erbes aus mystischer Kraft und Gläubigkeit, das die Afroamerikaner mit ihren afrikanischen Vorfahren verband“ und „im Einklang mit dem schwarzen christlichen Glauben, nicht gegen ihn“ praktiziert wurde.23 Zudem spielten die Sklavenprediger eine wichtige Rolle – nicht nur bei der Verbreitung des Christentums, sondern auch bei der Anstiftung zur Rebellion. Sowohl Denmark Vesey (ca. 1767–1822) als auch Nat Turner (1800–1831) waren Kirchenmänner; sie predigten und organisierten Widerstand. Veseys Aufstand im Jahr 1822 in Charleston im Bundesstaat South Carolina wurde bald niedergeschlagen, aber die Erhebung, die Nat Turner im Bezirk Southampton in Virginia 1831 organisiert hatte, führte zu massenhaften Tötungen weißer Eigentümer und zu einem fieberhaften Anstieg von Furcht und Repression.24 Außerhalb des Südens begannen befreite Sklaven, die der Ungleichbehandlung in den weißen Gemeinden überdrüssig waren, ihre eigenen Kirchen aufzubauen. In Philadelphia verließ Richard Allen (1760–1831) die St. George’s Methodist Episcopal Church, in der Schwarze bei Gottesdiensten und Gebeten isoliert wurden, und baute 1794 die erste afrikanisch-methodistische Episkopalgemeinde auf. Mother Bethel, wie die Kirche bald genannt wurde, war die erste von vielen, die zusammen die älteste unabhängige afroamerikanische Konfession bilden sollten. Schwarze Kirchen wie Mother Bethel waren weit mehr als nur Räume für Gottesdienste. Sie fungierten als Begegnungsstätten und boten Dienstleistungen an, die Afroamerikanern anderswo verweigert wurden: Bildung, medizinische Betreuung und finanzielle Hilfe.25 Sie wurden auch zu Plattformen der Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei. David Walker (1796–1830), dessen „Appell an die farbigen Bürger der Welt“ („Appeal To the Colored Citizens of the World“, 1829) die Bewegung entfachte, da er die Sklaven im Süden zur Rebellion aufrief, war in seinen frühen Jahren Mitglied von Mother Bethel. Henry Highland Garnet (1815–1882), James W. C. Pennington (1807–1870) und viele andere prominente schwarze Abolitionisten waren dort Pfarrer.26

23 Clegg, Claude, African Americans and the Making of Evangelical Christianities 1760– 1860, in: Stein, Stephen J. (Hrsg.), The Cambridge History of Religions in America. Volume II 1790 to 1945, Cambridge 2012, 192. 24 Zum allgemeinen Hintergund vgl. Raboteau, Albert J., Slave Religion: The „Invisible Institution“ in the Antebellum South, New York 1978; zum „Überleben“ des Afrikanischen vgl. Joyner, Charles, „Believer I Know“. The Emergence of African-American Christianity, in: Johnson, Paul E. (Hrsg.), African-American Christianity. Essays in History, Berkeley, CA 1994, 18–46. 25 Lincoln, C. Eric/Mamiya, Lawrence H., The Black Church in the African American Experience, Durham, NC 1990, 20–76. Vgl. auch Singleton, George (Hrsg.), The Life Experience and Gospel Labors of the Rt. Rev. Richard Allen, Nashville 1960. 26 Horton, James Oliver/Horton, Lois E., In Hope of Liberty. Culture, Community, and Protest Among Northern Free Blacks 1700–1860, New York 1997.

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Letztlich aber offenbarten Hautfarbe und Sklaverei die Grenzen der Religion evangelikalen Stils. Die Betonung der individuellen Bekehrung ließ kaum ein Bewusstsein für strukturelle soziale Missstände aufkommen, und die Leidenschaft für die Selbstperfektionierung ließ sich nicht gut in die Welt der Politik und der Staatsführung überführen. Das zeigt sich deutlich an der Geschichte der Reformbewegungen in den Vereinigten Staaten, besonders an ihren beiden Hauptanliegen: der Abstinenz- und der Anti-Sklaverei-Bewegung. Im frühen 19. Jahrhundert war der Alkohol ein sehr viel beliebteres Getränk als Wasser, und Reformer wie Benjamin Rush (1746–1813) traten lediglich für Mäßigung beim Alkoholkonsum ein. Sie zählten die mutmaßlichen Gefahren des Trinkens auf und lobten die Vorteile der Nüchternheit, wenn es darum ging, eine Arbeitsstelle zu behalten und sich eines friedlichen Familienlebens zu erfreuen. Die Evangelikalen jedoch forderten Reinheit. Gegen 1830 war aus der Aufforderung zur Mäßigung ein Alles-oder-nichtsKreuzzug geworden. Man forderte das Verbot aller alkoholischen Getränke, vom Whisky, der in entlegenen Siedlungen gebrannt wurde, bis hin zum Wein bei den Abendmahlsfeiern der Kirchen. Kinder marschierten in „Kaltwasserarmeen“ und flehten ihre Väter an, strikte Abstinenz zu „geloben“.27 Dasselbe galt für die Anti-Sklaverei-Bewegung, wenn auch mit weiter reichenden Konsequenzen. Die allgemeine Ablehnung der Sklaverei als eines Systems, das Besitzer wie Sklaven moralisch entwürdigte, war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in den protestantischen Kirchen im Norden durchaus verbreitet. Die Sklaverei galt als Übel, und die beste Lösung war in den Augen vieler Religionsvertreter, die gesamte Sklavenbevölkerung zurück nach Afrika zu schicken, wo sie in Kolonien leben sollte, die wohlwollende Christen eingerichtet hatten. Das afrikanische Land Liberia war eine solche Kolonie, auch wenn aufs Ganze gesehen die Kolonisierungsbewegung kein Erfolg war und weder von Weißen noch von befreiten Sklaven enthusiastisch begrüßt wurde. In den 1830er Jahren, im Gefolge der von Nat Turner angeführten Rebellion und einem zunehmend polarisierten politischen Klima, war die vornehme Abneigung gegen die Sklaverei nicht mehr genug. Die neue Moral verlangte die Abschaffung, das sofortige Ende der Sklaverei, die nun in jeder Hinsicht als absolute Sünde gebrandmarkt wurde. Weiße Abolitionisten kamen aus der ganzen Breite des religiösen Spektrums. Viele von ihnen, wie Lucretia Mott (1793–1880), Angelina und Sarah Grimké (1805–1879 bzw. 1792– 1873) sowie John Greenleaf Whittier (1807–1892), waren Quäker, die eine schlichte humanitäre Ethik praktizierten. Andere, wie Theodore Parker (1810–1860), Lydia Maria Child (1802–1880) und Parker Pillsbury (1809–1898), hatten einen liberalen unitarischen Hintergrund. Wieder andere wie William Lloyd Garrison (1805–1879)

27 Vgl. etwa Rorabaugh, William J., The Alcoholic Republic. An American Tradition, New York 1979, und Morone, James, Hellfire Nation. The Politics of Sin in American History, New Haven 2003.

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waren von jeder Art organisierter Religion enttäuscht, ganz unabhängig vom jeweiligen Bekenntnis. Einige der wichtigsten Mitkämpfer der Bewegung – Theodore Dwight Weld (1803–1895) und die „Lane Rebels“ – kamen aus protestantischen Seminaren, insbesondere den Seminaren von Lane und Oberlin in Ohio, die mit der Idee des Perfektionismus verbunden waren.28 Die religiösen Energien, die in der Anti-Sklaverei-Bewegung entstanden, ließen sich nicht so einfach mit der organisierten Religion verbinden. Tatsächlich traf die Auseinandersetzung um die Sklaverei den evangelikalen Glauben mitten ins Herz, vor allem was die moralische Autorität und die absolute Klarheit der Bibel anbelangte. Die Verteidiger der Sklaverei legten umgehend dar, dass eine einfache Schriftlektüre mithilfe des gesunden Menschenverstands ihre Position weit mehr unterstützte als diejenige der Abolitionisten. So besaßen nicht nur alle biblischen Patriarchen Sklaven, vielmehr enthielten auch die Gesetze des Volkes Israel entsprechende Anweisungen, die regeln sollten, was ganz offensichtlich allgemeine Praxis war. In seinen Briefen an die Christen des 1. Jahrhunderts ermahnte Apostel Paulus die Sklaven, ihren Herren zu gehorchen; ein komplettes Buch des Neuen Testaments, der Brief an Philemon, richtete sich an den Herrn eines entflohenen Sklaven, den Paulus ihm zurücksandte. Und, noch entscheidender, Christus selbst hatte die Institution nie verurteilt und war einerseits dazu bereit, Sklaven zu heilen, und andererseits mit ihren Besitzern Mahl zu halten. Die Abolitionisten mochten darüber schäumen – und argumentieren, dass die Schrift insgesamt die völlige Gleichheit aller Menschen vor Gott befürworte – doch eine wortgetreue Lektüre der Bibel verschaffte ihren Gegnern eindeutig die Oberhand. Die Folgen, schreibt der Historiker Mark Noll, waren gravierend: eine „theologische Krise“, die die protestantischen Kirchen niemals völlig überwunden haben. An die Stelle einfacher Klarheit, die sie von der Bibel erwarteten, war eine Kakofonie getreten, die das Vertrauen in die Unfehlbarkeit der Bibel und damit in die gottgegebene moralische Mission der Nation aushöhlte. „Bei keinem anderen Thema erreichte die Kakofonie solche schmerzhaften Tiefen“, meint Noll, „wie bei der Frage nach Gottes providentiellem Plan für die Vereinigten Staaten von Amerika.“29 Unter dem wachsenden Druck, der von der Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei ausging, begannen die größeren protestantischen Konfessionen, sich zu spalten. Die Methodisten trennten sich 1844 in wütende nördliche und südliche Lager, und die Baptisten teilten sich im folgenden Jahr, 1845, und blieben bis heute getrennt. Bei den Presbyterianern waren die inneren Streitigkeiten komplexer, doch das Ergebnis war dasselbe: die Spaltung im Jahr 1857. Es dauerte fast ein Jahrhundert, bis ihre Einheit wieder ganz hergestellt war. Die protestantischen

28 Einen ausführlichen Bricht gibt Drescher, Seymour, Abolition. A History of Slavery and Antislavery, Cambridge 2009. 29 Noll, The Civil War as a Theological Crisis, 1.

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Das Christentum in Nordamerika im 19. Jahrhundert

Kirchen, einstmals bedeutende nationale Institutionen, hatten ihre verbindende Funktion verloren. Mehr noch, das sich verschärfende Klima der Angst, geschürt von Gerüchten über ein Erwachen („Revival“) unter den Sklaven und von einer leidenschaftlichen Rhetorik gegen die Sklaverei, brachte die protestantischen Konfessionen auf einen gesellschaftlich konservativen Pfad und ließ sie vor jeder Art öffentlicher Auseinandersetzung zurückschrecken, ganz gleich, ob es um die Sklaverei, den Alkohol oder um die Frauenrechte ging. Im Süden blieb der Protestantismus bibelzentriert und auf Erweckung ausgerichtet, doch in den Jahren vor dem Bürgerkrieg wurde er immer moralisierender und strikt unpolitisch.30 Mit anderen Worten: Der Erfolg der Erweckungsbewegung hatte einen Preis. Um die Energie und die Errungenschaften der freien Religiosität halten zu können, bedurfte es der beständigen Unterstützung aus dem Volk und darum einer Sensibilität für die Bedürfnisse und Nöte der einfachen Leute. Das war ihre Stärke und zugleich auch ihre Schwäche. Tocqueville hatte festgestellt: „Ich kenne kein Land, in dem im allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und weniger wahre Freiheit herrscht als in Amerika.“ Dass die Mehrheit bestimmte, hieß, die Religion dürfe „nicht unnötig gegen die allgemein geltenden Ansichten und die dauernden Interessen der Masse verstoßen; denn die öffentliche Meinung“, so warnte er, „erscheint mehr und mehr als die erste und unwiderstehlichste Macht“.31 Die Religion Amerikas war nicht von Haus aus antiintellektuell. Das „Reich des Wohlwollens“ brachte ein riesiges Netzwerk von Bildungseinrichtungen hervor, darunter einige der angesehensten Colleges und Seminare. Dennoch war dessen tiefster Impuls pragmatisch, mehr auf die Rettung von Seelen als auf die Vertiefung des Geisteslebens ausgerichtet, mehr am Aufbau von Gemeinden als an theologischer Reflexion interessiert. Gestützt auf ein bodenloses Vertrauen in die Wahrheit und die absolute Klarheit der Bibel, entstand daraus eine beeindruckend weitgespannte protestantische Infrastruktur, aber die Religiosität in den Vereinigten Staaten ging aus diesem Grund auch mehr in die Breite als in die Tiefe. Sie konnte die Verheerungen des Bürgerkrieges nicht verhindern, und den kommenden moralischen, intellektuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen hatte sie nicht genügend entgegenzusetzen. Allerdings musste es für religiöse Institutionen keineswegs so enden. In Kanada, das bis 1867 eine britische Kolonie blieb und die volle Unabhängigkeit erst im Jahr 1982 erhielt, war die aktive Unterstützung von Religionsgemeinschaften durch die Regierung sehr viel länger möglich als in den Vereinigten Staaten. Das verlangte vom religiösen Führungspersonal, die Kunst des strategischen Kompromisses zu erlernen – untereinander und mit dem säkularen Staat – sowie die Balance zu

30 Heyrman, Christine Leigh, Southern Cross. The Beginnings of the Bible Belt, New York 1997; Mathews, Donald, Religion in the Old South, Chicago 1977. 31 Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. I, 294 und Bd. II: Stuttgart 1962, 38.

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halten zwischen den jeweiligen eigenen Mitgliedern und der Loyalität gegenüber den staatlichen Behörden. Von Anfang an hatte Kanada ein doppeltes religiöses und kulturelles Erbe. Es setzte sich hauptsächlich zusammen aus protestantischen britischen Besitzungen entlang der Atlantikküste und aus der französisch-katholischen Kolonie der Provinz Quebec, einem riesigen Gebiet, das von der Mündung des Sankt-LorenzStroms bis zu den Großen Seen und dem Tal des Ohio River reicht und 1763 an die britische Krone abgetreten wurde. Im Jahr 1774 gewährte das britische Parlament, das mit Aufständen in seinen rebellischen Kolonien im Süden zu kämpfen hatte, dem französischsprachigen Teil Kanadas ein gewisses Maß an Autonomie, einschließlich einer Rechtsgarantie für die Katholiken, um deren Loyalität zu festigen. Dabei blieb es allerdings nicht, und als Folge der Amerikanischen Revolution begannen die britischen Behörden, ihre verbliebenen nordamerikanischen Besitzungen wieder direkter zu überwachen. Davon profitierten unmittelbar die Anglikaner, die die offiziell anerkannte Kirche Großbritanniens waren. Der Canada Act, das Verfassungsgesetz, das das Parlament 1791 beschloss, teilte das Territorium von Quebec in zwei Provinzen mit getrennten Kolonialverwaltungen. Niederkanada, das heutige Quebec, war französisch-katholisch, und Oberkanada, heute Ontario, sollte anglikanisch und englischsprachig sein. Das Gesetz sah außerdem ein System zur Unterstützung der Geistlichen vor, das auf dem Wege von Landzuteilungen direkt den protestantischen (anglikanischen) Kirchen zugutekam (Clergy Reserves). Als nach der Revolution verstärkt Loyalisten ins Land strömten, fiel den anglikanischen Kirchen die Rolle der stabilisierenden Kraft zu; sie bekräftigten den „gesellschaftlichen Nutzen“ der Religion und unterstützten die Zivilverwaltungen.32 Die Katholiken brauchten nun eine geschickte Führung. Der Canada Act erlaubte es Quebec zwar, das französische Zivilrecht und die religiöse Selbstständigkeit beizubehalten, aber er isolierte die Region doch noch weiter in einem Staat, dessen Regierung die Anglikaner bevorzugte. Um den Stand der römisch-katholischen Kirche im Land abzusichern, mussten deren Vertreter ihre Loyalität klar herausstellen, auch wenn sie dafür Positionen zu vertreten hatten, die an der Basis unpopulär waren. Als Joseph-Octave Plessis (1763–1825) im Jahr 1806 Bischof von Quebec wurde, legte er einen Treueid auf die britische Krone ab, und während seiner gesamten Amtszeit unterstützte er öffentlich alle britischen Entscheidungen, auch wenn das die Kirche in Konflikt mit ihren ursprünglichen Bindungen an Frankreich brachte. Der Britisch-Amerikanische Krieg von 1812 war eine entscheidende Zäsur. Auch wenn er im Gedächtnis der Vereinigten Staaten als relativ unbedeutender Konflikt gilt, als enttäuschender zweiter Akt der Revolution, der nur die

32 Murphy, Terrence/Perin, Robert (Hrsg.) A Concise History of Christianity in Canada, New York 1996, 125.

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bereits errungene Unabhängigkeit bestätigte, hatte er in Kanada weiter reichende Konsequenzen. Unruhe ergoss sich von den Vereinigten Staaten her über die Grenze, und die Sorge kam auf, dass sich Frankreich in den Konflikt einschalten könnte. In der Folge griffen die britischen Behörden wieder direkter in die Regierungsgeschäfte in Kanada ein, und die französischsprachigen Katholiken sahen sich zu vermehrten öffentlichen Loyalitätsbekenntnissen genötigt, die Plessis dann auch erbrachte. Aber das wurde belohnt. 1817 erkannte die britische Regierung Plessis formell als Bischof der römisch-katholischen Kirche von Quebec an und erlaubte der Kirche sogar die Gründung weiterer Diözesen. Plessis erhielt darüber hinaus einen Sitz im Legislativrat von Niederkanada.33 Zu einem erneuten Wendepunkt kam es in den 1830er Jahren, als die Kirche sich ein weiteres Mal für die britische Regierung einsetzte – dieses Mal gegen eine Erhebung, die von liberalen Idealen inspiriert war und Rechte für die französisch-kanadischen Bürger forderte. Die Rebellion von 1837 war vielleicht das Ereignis, mit dem Kanada einer Revolution im amerikanischen Stil am nächsten kam: eine Aufwallung des Unmuts sowohl in Ober- als auch in Niederkanada mit dem Ruf nach größerer politischer Freiheit und Autonomie von Großbritannien. Sie endete mit einer schnellen, aber entscheidenden militärischen Niederlage, stärkte jedoch Kanadas transatlantische politische Verbindungen und seine Bereitschaft zu einem geordneten, ausgewogenen Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Zugleich war Kanada aber keineswegs immun gegen abrupte Veränderungen. Während des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts kam auch in Kanada, hauptsächlich in den Seeprovinzen, eine evangelikale Bewegung auf. Obwohl sie größtenteils von US-amerikanischen Missionaren und reisenden Erweckungspredigern ins Land gebracht worden war, gab sie sich großsprecherischer und gefühlsbetonter als das Original und war weniger interessiert an der Vision einer bürgerschaftlichen Ordnung. Angeführt von dem charismatischen Henry Alline, einem schroffen Baptistenprediger in den Seeprovinzen, gedieh eine radikale Bewegung, unbelastet vom „Gepäck des bürgerlichen Humanismus, Republikanismus und des Bundesgedankens“34, wie George Rawlyk schreibt. Auch der Methodismus schlug schnell Wurzeln im protestantischen Kanada, nachdem zwischen 1790 und 1812 aus den Vereinigten Staaten 76 Missionare ins Land geschickt worden waren.35 1812 aber gebot der Britisch-Amerikanische Krieg, in dessen Folge US-Truppen einen gewaltsamen Angriff auf kanadischen Boden unternahmen, dem Wachstum des religiösen Populismus im US-amerikanischen Stil effektiv Einhalt. Zugleich

33 Murphy/Perin, Concise History, 82–83. 34 Rawlyk, George, „A Total Revolution in Religious and Civil Government“. The Maritimes, New England, and the Evolving Evangelical Ethos 1776–1812, in: Noll, Mark A. u. a. (Hrsg.), Evangelicalism. Comparative Studies of Popular Protestantism in North America, the British Isles, and Beyond 1700–1900, New York 1994), 137–155. 35 Handy, History of the Churches in the United States and Canada, 242.

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verursachten die Napoleonischen Kriege einen neuen Immigrantenstrom von den Britischen Inseln, der die britische Staatskirche und die Loyalität zur Krone weiter stärkte. Als die Trennung von Staat und Kirche (Disestablishment) einsetzte, ging das schrittweise und moderat vor sich. Das Schulgesetz, das im Jahr 1846 verabschiedet wurde, schuf ein System von staatlich geförderten Gemeinschaftsschulen, die protestantisch ausgerichtet, aber überkonfessionell waren. Nach einiger Zeit erreichten es nach Protesten auch die Katholiken, dass sie ein separates, wiewohl nicht staatlich finanziertes Schulsystem aufbauen konnten, und in einem gewissen Grad gelang das auch den hochkirchlichen Anglikanern. 1854 machte die Gesetzgebung dann endlich den Clergy Reserves ein Ende und ließ die freigewordenen Mittel nun den öffentlichen Schulen zukommen. Anstatt also eine „Trennwand“ zwischen Kirche und Staat zu errichten, unterstützte die Regierung im britischen Nordamerika damit schließlich alle größeren Konfessionen auf einer gleichberechtigten Basis. Das bedeutete für die protestantische Vielfalt eine Begrenzung. Im Jahr 1861 gehörten die meisten kanadischen Protestanten einer von vier Konfessionen an: den Anglikanern (22,3 Prozent der Bevölkerung), den Methodisten (25,1 Prozent), den Baptisten (24,4 Prozent) oder den Presbyterianern (21,7 Prozent). Die Zahl der kleineren Glaubensgemeinschaften blieb gering, selbst als sie sich südlich der Grenze stark vermehrten. Doch in einem anderen wichtigen Bereich war der Effekt der Entstaatlichung derselbe wie der in den Vereinigten Staaten einige Jahrzehnte zuvor: Es entstand ein blühendes Netzwerk von Kirchen, wohltätigen Gesellschaften und Missionsinstituten, die alle zusammengehalten wurden von einer bibelzentrierten Frömmigkeit.36

2. Pluralismus und Toleranz Das 19. Jahrhundert war eine ruhelose Zeit. „Keine andere Epoche der Geschichte“, schreibt der Historiker Jürgen Osterhammel, „war in einem ähnlichen Maße […] ein Zeitalter massenhafter Fernmigration. Zwischen 1815 und 1914 waren mindestens 82 Millionen Menschen freiwillig grenzüberschreitend unterwegs. Das waren jährlich pro eine Million der Weltbevölkerung 660 Migranten.“37 Die Menschen wechselten ihre Wohnorte aus den unterschiedlichsten Gründen. Afrikaner wurden gewaltsam auf die Sklavenmärkte in Nord- und Südamerika gebracht, britische Straftäter wurden in Strafkolonien nach Australien geschickt, Flüchtlinge flohen vor Krieg und Aufruhr

36 Van Die, Marguerite, „The Double Vision“. Evangelical Piety as Derivative and Indigenous in Victorian English Canada, in: Noll u. a., Evangelicalism, 254. 37 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, 235.

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überall in Europa. Auch die Ausbreitung des Kapitalismus, der sowohl Inseln düsterer Armut als auch Chancen für Wohlstand und sozialen Aufstieg schuf, setzte ganze Bevölkerungsgruppen in Bewegung, vor allem in Richtung Vereinigte Staaten und Kanada, was durch die Fortschritte im Transportwesen und in der Kommunikationstechnologie beschleunigt wurde. Eine Seereise von Europa nach Nordamerika, die um 1800 mit dem Segelschiff mehrere Monate dauerte, reduzierte sich hundert Jahre später auf ein paar Tage auf einem Ozeandampfer. Die sozialen Auswirkungen waren enorm. Während eines Großteils des 19. Jahrhunderts gab es keine Einwanderungsbeschränkungen, mit Ausnahme der rassistisch motivierten „Exklusionsgesetze“ gegen Asiaten, die die Vereinigten Staaten in den 1880er Jahren verabschiedeten. Die kanadischen Seeprovinzen und die Neuenglandstaaten bildeten die meiste Zeit des Jahrhunderts eine gemeinsame Region, in der die Bevölkerung über die Fundybucht nach Frankokanada und zurückströmte.38 Zwischen 1880 und 1884 verzeichneten die Vereinigten Staaten 3,2 Millionen Neuankömmlinge; zehn Jahre später war die Zahl auf 5,5 Millionen angewachsen und erreichte mit 6 Millionen ihren Höhepunkt in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg (auch Kanada bekam die Auswirkungen zu spüren, wenn auch später als die Vereinigten Staaten, sodass die Geschichte dort eher ins 20. Jahrhundert gehört und durch die Tatsache gemildert wurde, dass die meisten Neuankömmlinge von den Britischen Inseln kamen). Viele der Neueinwanderer blieben in den Städten, in denen sie angekommen waren, insbesondere die Iren und die Süd- und Osteuropäer, die um die Jahrhundertwende eintrafen. An Orten wie New York, Chicago, Cleveland, Minneapolis und San Francisco machten die Einwanderer der ersten und zweiten Generation bis zu drei Viertel der Gesamtbevölkerung aus. Deutsche, skandinavische und niederländische Einwanderer bevölkerten große ländliche Gebiete der Vereinigten Staaten, gründeten Farmen und kleine Dörfer überall im oberen Mittleren Westen.39 Den größten Anteil an den Neueinwanderern hatten Katholiken und Juden, und das veränderte das religiöse Profil der Vereinigten Staaten für immer. Die jüdische Immigration ging über weite Strecken des 19. Jahrhunderts langsam und in überschaubarem Umfang vonstatten, erreichte schließlich eine Zahl von 250 000, bevor sie dann in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg dramatisch anstieg. Um 1914 gab es 3,5 Millionen Jüdinnen und Juden in den Vereinigten Staaten, was ungefähr 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte.40 Die römisch-katholische Immi-

38 Der klassische Text über die Einwanderung nach Neuengland und Kanada stammt von Hansen, Marcus Lee, The Mingling of the Canadian and American Peoples, Bd. I: Historical, New Haven 1940. 39 Painter, Nell Irvin, Standing at Armageddon. The United States 1877–1919, New York 1987, xxix–xxxvii. 40 Kraut, Benny, Jewish Survival in Protestant America, in: Sarna, Jonathan (Hrsg.), Minority Faiths and the American Protestant Mainstream, Champaign, IL 1998, 18–19.

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2. Pluralismus und Toleranz

gration begann früher und stieg stufenweise an. Im Jahr 1789 lebten die meisten der 35 000 Katholiken des Landes in Maryland; um 1860 waren es bereits mehr als 2,5 Millionen, also lediglich zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Die gravierendsten Veränderungen kamen in den Jahren zwischen 1870 und 1910, als die römischkatholische Bevölkerung auf über 15 Millionen anstieg. Obwohl die Katholiken damit gerade einmal 16 Prozent der Bevölkerung ausmachten, waren sie laut Zensus von 1890 für sich genommen die größte religiöse Gruppe der Vereinigten Staaten. Zudem waren sie nicht mehr die Ärmsten der Armen, sondern zunehmend Angehörige der Mittelschicht und politisch einflussreich.41 Auch wenn Außenstehende meinten, die Katholiken würden sich alle gehorsam an die Anweisungen des Papstes halten, war die römisch-katholische Kirche in Nordamerika außerordentlich vielfältig. Die kanadischen Katholiken waren natürlich mehrheitlich französischsprachig, sowohl in Quebec als auch in Acadia im Nordosten an der Küste, doch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs auch der Anteil der Iren an. Im Südwesten – d. h. im heutigen Kalifornien, New Mexico, Arizona und Texas – existierte der Katholizismus schon seit Jahrhunderten und hatte seine eigenen und einzigartigen Frömmigkeitsformen entwickelt. Der chronische Priestermangel in den nur dünn besiedelten Gebieten hatte eine stärker familien- als kirchenzentrierte Form der Religiosität hervorgebracht. In ihr spielten Hausaltäre und örtliche Heiligtümer eine größere Rolle als kirchliche Liturgien, die von Gemeindepriestern gefeiert wurden. Wie der Katholizismus des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen, so war auch der Glaube der Latinos auf die Jungfrau Maria bezogen; personifiziert wurde sie nicht als weiße Europäerin, sondern als Unsere Liebe Frau von Guadalupe, eine amerikanische Eingeborene in einem Sternenmantel. In Kanada wie im Nordosten und oberen Mittleren Westen der Vereinigten Staaten rangen die Immigranten verschiedener Herkunftssprachen und Frömmigkeitsformen um einen Platz in den städtischen Kirchengemeinden. Die ethnischen und historischen Unterschiede blieben bestehen, wobei die Grenzen zwischen den verschiedenen katholischen Glaubens- und Lebensweisen allmählich verwischten. Einige Traditionen – wie die der Iren – waren entschieden romorientiert und pflegten eine leidenschaftlich kirchenzentrierte Frömmigkeit; andere – wie die Italiener – hatten weniger ausgeprägte Loyalitäten gegenüber der Institution und brachten ihren Glauben in festlichen Straßenprozessionen, Gemeindegruppen und durch eng geknüpfte Familienbande zum Ausdruck.42

41 Finke/Stark, Churching of America, 109–115. Vgl. Noll, The Civil War as a Theological Crisis, 205f., 348–349. Die Zahlen für Katholiken sind schwer zu bestimmen und mit denen der Protestanten zu vergleichen, weil dort die Erwachsenen, die sich einer örtlichen Gemeinde anschlossen, zu den Mitgliederzahlen gehören, nicht aber ganze Gemeinden. 42 O’Toole, James, The Faithful. A History of Catholics in America, Cambridge, MA 2008, 94–144; Orsi, Robert, The Madonna of 115th Street. Faith and Community in Italian Harlem 1880–1950, New Haven 1985.

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Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten die katholischen Immigranten eine blühende Subkultur aus Kirchen, Schulen, Krankenhäusern und Wohlfahrtseinrichtungen aufgebaut. Dieser Katholizismus „vor Ort“ war eine außergewöhnliche Errungenschaft und dazu fast völlig durch Spenden von der Basis finanziert. Dabei waren Gemeindeschulen besonders wichtig, um den Glauben in einem neuen Land zu bewahren. Sowohl vom Gesetz her wie aus Tradition waren öffentliche Schulen in den Vereinigten Staaten und in Kanada durchgehend protestantisch ausgerichtet. Die Schüler lasen dort die King-James-Übersetzung der Bibel und nicht die von Katholiken bevorzugte Douay-Rheims-Bibel, und europäische Geschichte wurde ausschließlich in der Perspektive Luthers und Calvins gelehrt. Auch wenn sie von der protestantischen Mehrheit oftmals heftig angegriffen wurde, trug die separate katholische Erziehung, die fast ausschließlich in den Händen von Nonnen und Priestern lag, dazu bei, enge Bindungen zwischen Glauben und kultureller Identität aufrechtzuerhalten. In Kanada, wo die französischsprachigen Katholiken die ersten waren, die nach Quebec kamen und dann, geografisch abgesondert, dort wohnen blieben, waren die Spannungen mit den britisch-protestantischen Behörden scharf und dauerhaft. Das Unionsgesetz von 1840 („Union Act“), das Ober- und Niederkanada vereinigte und mit einer repräsentativen Legislative und einem Gouverneur ausstattete, war ein Meilenstein in der kanadischen Selbstverwaltung, auch wenn es auf religiösen und kulturellen Vorurteilen basierte. Der Vorschlag zur Vereinigung, der mit dem sogenannten Durham-Report gemacht wurde, war offen herablassend gegenüber den Frankokanadiern, sprach abschätzig von ihnen als einem Volk ohne Geschichte und literarische Kultur und ächtete den Gebrauch der französischen Sprache. So brachte die neue politische Einheit zwar eine begrenzte Unabhängigkeit und ermöglichte ein separates Schulsystem (das die katholischen Gemeinden selbst finanzieren mussten), doch sie führte zu einem Anschwellen des frankokanadischen Nationalismus, der von dem tiefen Gefühl erlittenen Unrechts angestachelt wurde. Dieser Strom der Empörung nährte sich zudem aus einer weiteren starken Quelle, nämlich dem katholischen Ultramontanismus dieser Zeit. Die Kirche des 19. Jahrhunderts, wie sie sich vor allem in Quebec zeigte, neigte nicht zum Ausgleich mit Außenstehenden. Unter der Führung von Bischof Ignace Bourget (1799–1885) errichtete sie ihre eigene Infrastruktur aus katholischen Krankenhäusern, Schulen, Zeitschriften und Erbauungsliteratur und installierte ihre Missionsposten im westlichen Grenzland Kanadas.43 Diese katholische Solidarität führte zu Konfrontationen und manchmal zu offener Gewalt. Ein auslösendes Moment war die Entscheidung des britischen Parlaments, den Katholizismus wieder in seine Rechte einzusetzen. Im Jahr 1850, drei Jahrhunderte nach dem Verbot durch Heinrich VIII, ordnete Pius IX. die Wieder-

43 Murphy/Perin, Concise History, 96–213.

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einrichtung der katholischen Hierarchie in England und Wales. Die Protestanten reagierten scharf, in zusätzliche Aufregung versetzt durch eine Reihe von gewalttätigen Zusammenstößen: 1853 hatten in Montreal Soldaten in eine Menge protestantischer Protestierer gefeuert, nachdem Katholiken einen Vortrag des Theologen Alessandro Gavazzi, erklärter Gegner der römischen Hierarchie, gesprengt hatten. Des Weiteren war es zu Ausschreitungen und Todesopfern bei Gedenkfeiern am St. Patrick’s Day gekommen, gesteigert durch die Teilnahme von Angehörigen der Fenian Brotherhood und irischer Politiker. Der gravierendste Vorfall hatte allerdings mit Louis Riel (1844–1885) zu tun, einem Méti (Mestize, Nachkomme aus der Verbindung amerikanischer Ureinwohner mit Europäern), der 1869 gegen die Bildung einer provisorischen Regierung in Manitoba kämpfte und seinem Militärrat erlaubt hatte, den protestantischen Agitator Thomas Scott hinzurichten. Als er im Jahr 1885 aus seinem Exil in den USA zurückkehrte, um eine Méti-Regierung zu bilden, wurde er gefangen genommen und wegen Hochverrats hingerichtet.44 Die Rechte religiöser Minderheiten, der Protestanten in Quebec und der Katholiken außerhalb Quebecs, blieben ein zentrales Thema in der Religionsgeschichte Kanadas, auch wenn es aufgrund politischer Erfordernisse immer wieder in den Hintergrund gedrängt wurde. In den Jahren bis 1867 war die katholische Unterstützung der nationalen Einheit vorrangig; sie ebnete in den dann folgenden Jahren den Weg für größere bürgerliche Mitspracherechte. Zwei der führenden Persönlichkeiten, die sich für die Unabhängigkeit Kanadas stark machten, waren Frankokanadier: George-Étienne Cartier (1814–1873) und Wilfrid Laurier (1841– 1919). Der grundlegende Dualismus der kanadischen Gesellschaft zwischen der englisch- und der französischsprachigen Bevölkerung war außerdem ein Hindernis für jeden Versuch, eine Staatsreligion zu etablieren, sei sie nun katholisch oder protestantisch. Die religiösen Spannungen verblieben damit eher innerhalb der kirchlichen Institutionen, wo sie umsichtiger behandelt werden konnten als im Bereich der Politik.45 In den Vereinigten Staaten, wo die protestantische Mehrheit die Kontrolle über die Schlüsselinstitutionen hatte, insbesondere den Zugang zu den öffentlichen Schulen, sahen sich die Katholiken mit unbeugsamerer Opposition konfrontiert. Die meisten von ihnen waren Einwanderer, denen der Protestantismus so fremd war wie die Nationalität und die Sprache. Bevor in den 1840er Jahren die Iren in großer Zahl ins Land kamen, war die katholische Präsenz gering und in den mittleren Atlantikstaaten auf meist wohlhabende Familien konzentriert. Die Große Hungersnot in Irland änderte dies grundlegend, denn sie trieb Tausende armer, buchstäblich verhungernder Flüchtlinge auf Schiffe nach Boston, Philadelphia und New York.

44 Murphy/Perin, Concise History, 219–223. 45 Murphy/Perin, Concise History, 96–106, 190–226.

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Wie in Kanada war auch in den Vereinigten Staaten der Antikatholizismus in der Öffentlichkeit ein explosives Thema. Angeheizt wurde es von den Auseinandersetzungen um die öffentlichen Schulen, von Verschwörungstheorien und politischen Interessen. Schlüpfrige Geschichten von unzüchtigen Priestern und hinterhältigen Nonnen in der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur regten die Phantasie an. Am berühmtesten war das Buch The Awful Disclosures of Maria Monk („Die furchtbaren Enthüllungen der Maria Monk“). Es erschien im Jahr 1836 und begeisterte Tausende mit schockierenden Berichten aus einem Nonnenkloster in Montreal, angeblich aus erster Hand. Sensationsliteratur dieser Art und Gerüchte führten zu Gewaltausbrüchen eines erregten Mob gegen Katholiken, zu Ausschreitungen in Philadelphia und 1842 zum Niederbrennen eines Ursulinenklosters in Boston. Es herrschte große Angst vor dem „Römertum“, vor einer Verschwörung gegen die Demokratie, angeführt von einer katholischen Hierarchie, die den Papst als Herrscher über die Vereinigten Staaten einsetzen wolle. Der Streit um die Schulen beschäftigte den Antikatholizismus dabei noch mehr als in Kanada; es entstand eine aufgeheizte politische Debatte von nationaler Bedeutung. „Kein anderes Thema rief so schnell den Anti-Katholizismus und die katholische Streitlust wach“ wie die erbitterten Bildungsdebatten in den Bundesstaaten und in der nationalen Politik, schreibt der Historiker John McGreevy. Gegen katholische Neueinwanderer richteten sich auch die „Nichtswisser“, eine nativistische politische Partei, die aus Geheimgesellschaften hervorging – deren Mitglieder bei Verhören „Ich weiß nichts“ antworten sollten – und in den 1850er Jahren größere Wahlerfolge erzielte, bevor sie im Streit über die Sklaverei auseinanderbrach. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat der politische Antikatholizismus erneut in Erscheinung – und wiederum als Reaktion auf die sprunghaft ansteigenden Immigrantenzahlen. Die American Protective Association („Amerikanische Schutzvereinigung“), die 1887 gegründet wurde, kämpfte für „wahren Amerikanismus“ und für Einwanderungsbeschränkungen. Im Jahr 1894 erreichte sie mit einer halben Million Mitglieder ihren Höchststand.46 Die wahren Grenzen des Pluralismus wurden in den Vereinigten Staaten jedoch an den religiösen Rändern ausgehandelt. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch entstanden kontinuierlich kleine Glaubensgemeinschaften und verschwanden wieder, wobei die meisten von ihnen kaum Bedeutung erlangten. Einige, wie die Jünger des baptistischen Predigers William Miller (1782–1849), galten als sonderbar, aber kaum gefährlich. Mit seiner Überzeugung, dass Christus 1843 zur Erde zurückkehren würde, fand Miller breite öffentliche Aufmerksamkeit und überraschend viele, die ihm glaubten, selbst als seine ursprüngliche Vorhersage sich als

46 McGreevy, John T., Catholicism and American Freedom, New York 2003, 112; Higham, John, Strangers in the Land. Patterns of American Nativism 1860–1925, New York 1965, 81–83. Vgl. auch Massa, Mark, Anti-Catholicism in America. The Last Acceptable Prejudice, New York 2003.

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falsch erwies und er den Termin auf das Jahr 1844 verlegen musste. Es zirkulierten Geschichten über Anhänger, die all ihren weltlichen Besitz verkauft hatten und auf den Dächern ihrer Häuser die Ankunft Christi erwarteten, um nicht nur einmal, sondern gleich zweimal enttäuscht zu werden. Millers Jünger bewahrten sich das Vertrauen in seine prophetische Gabe, indem sie dann glaubten, Christus sei tatsächlich zurückgekehrt, aber im Geheimen. Unter der geschickten und charismatischen Führung von Ellen G. Harmon White (1827–1915) erwuchs daraus schließlich sogar eine anerkannte und respektable protestantische Gemeinschaft: die Siebenten-Tags-Adventisten. Andere Gruppen suchten größere Nähe zum Skandalösen, üblicherweise mit unorthodoxen Ansichten über Sex. Die OneidaGemeinschaft zum Beispiel praktizierte eine Form serieller Eheschließungen, bei denen die Partner – gewöhnlich zu eugenischen Zwecken – von John Humphrey Noyes (1811–1886) ausgewählt wurden. Doch Oneida überlebte und prosperierte sogar im Bundesstaat New York, wo sie erfolgreich Tellereisen und Tafelsilber herstellten.47 Die Mormonen oder Heiligen der Letzten Tage waren hingegen eine echte Herausforderung für die religiöse Toleranz. Ihr Gründer Joseph Smith (1805–1844) war ein religiös Suchender, der im berühmten „übermissionierten Landstrich“ des Bundesstaats New York lebte und unter all dem spirituellen Gewimmel nach Gewissheit suchte. Diese erreichte ihn im Jahr 1827 in einer Vision, einer Heimsuchung durch den Engel Moroni, der ihn zu den lange verlorenen goldenen Platten führte, die das Buch Mormon enthielten. Der Engel gab Smith den Auftrag, den antiken Bericht zu übersetzen: ein historisches Epos vom Besuch Christi in Nordamerika (nach seiner Kreuzigung und vor seiner Auferstehung) und eine lange Saga vernichtender Kriege, die zur Auslöschung des Stammes Mormon geführt hätten. Die Geschichte wurde in kleinen Ausschnitten veröffentlicht und begann, Neugierige anzuziehen. Die meisten waren unzufriedene Protestanten wie Smith selbst, und so wuchs eine Gefolgschaft heran. Joseph Smith erwies sich als kluger und charismatischer Führer; seine Gemeinde siedelte er zuerst in Kirtland im Bundesstaat Ohio an, wo sie für ihren Fleiß und ihre Sparsamkeit bewundert wurde. Zunehmend aber geriet sie wegen ihrer als abweisend empfundenen Cliquenhaftigkeit unter Verdacht. Die Mormonen wurden aus Ohio nach Nauvoo in Illinois vertrieben, dort mussten sie dann Angriffe von Regierungsbehörden und marodierenden Bürgerwehren erdulden. Im Jahr 1844 wurden Smith und sein Bruder Hyrum inhaftiert und von Randalierern, die das Gefängnis angriffen, getötet. Auch als die Heiligen der Letzten Tage nach Utah gingen und sich dort eine neue Heimat schufen, die sie „Desert“ nannten, hörte die Verfolgung nicht auf. Unter der Füh-

47 Zu Miller vgl. Land, Gary, Adventism in America. A History, Grand Rapids, MI 1986; Dopp Aamodt, Terrie u. a. (Hrsg.), Ellen Harmon White. American Prophet, New York 2014. Zu Oneida vgl. Klaw, Spencer, Without Sin. The Life and Death of the Oneida Community, New York 1993.

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rung von Brigham Young (1801–1877) blühte die Gemeinschaft zwar auf und wuchs schnell an, lebte aber unter dem immer bedrohlicher werdenden Schatten eines Übergriffs der Bundesregierung. Zu jener Zeit war Joseph Smiths Geheimoffenbarung über die Vielehe ein fester Bestandteil der mormonischen Glaubenspraxis geworden, und damit kamen zu den dogmatischen Abweichungen – Mormonen hielten das Buch Mormon für eine göttlich inspirierte Ergänzung der Bibel – sexuelle Vergehen und die militante Missachtung von Regierungsbehörden hinzu. Das Oberste Bundesgericht entschied 1879, dass eine neue Reihe von Gesetzen, die die Polygamie für ungesetzlich erklärten, die freie Religionsausübung der Mormonen nicht beeinträchtigte. Der amerikanische Kongress fügte dem weitere Rechtsvorschriften gegen die Vielehe hinzu, darunter den Edmunds Act von 1882, der auch Bußgelder und Strafen vorsah. Die Bundesregierung verweigerte Utah zudem die Eigenstaatlichkeit, bis im Jahr 1890 die Heiligen die Vielehe aufgaben. Die Religionsfreiheit war zwar ein Prinzip, das gesetzlich verankert und von der Verfassung garantiert war, aber sie galt eindeutig nicht absolut.48

3. Christliche Nationen Im späten 19. Jahrhundert begann der Aufstieg des „Christlichen Kanada“ und des „Christlichen Amerika“, nachdem beide Nationen in den 1860er Jahren „neugegründet“ worden waren. Das kanadische Verfassungsgesetz von 1867 vereinte die Provinzen Nova Scotia, New Brunswick, Ontario und Quebec zum Bundesstaat Kanada (andere Provinzen folgten bald darauf). Die Vereinigten Staaten zwang das traumatische Ende des Bürgerkriegs in eine nationale Einheit zurück, mitsamt den jahrzehntelang unbeantworteten Fragen nach den Rechten befreiter Sklaven und der Reichweite der Befugnisse der Bundesregierung. Vielleicht mehr als alles andere signalisierte die Reaktion des Südens auf die Niederlage im Krieg, dass die Religion eine zentrale Rolle bei der Definition der nationalen Identität spielen würde. Entgegen dem verbreiteten Klischee von der Religiosität des Südens war vor dem Bürgerkrieg nur ein relativ kleiner Bevölkerungsanteil der Region evangelikal: Im Jahr 1835 waren es gerade einmal 25 Prozent der weißen Erwachsenen. Doch der Krieg war von Anfang an ein religiöser Kreuzzug, in dem es um den Schutz der Ehre und der Frömmigkeit des Südens

48 Zur Geschichte der Mormonen gibt es viele Quelleneditionen. Eine der besten Möglichkeiten, die Geschichte und Kultur der Mormonen zu verstehen, besteht indessen im Studium von Biografien. Vgl. etwa Bushman, Richard, Joseph Smith. Rough Stone Rolling, New York 2005, und Turner, John, Brigham Young. Pioneer Prophet, Cambridge, MA 2012.

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gegen die Vorherrschaft der gottlosen Yankees ging. Die Verfassung der Konföderierten Staaten von Amerika war zwar derjenigen der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 durchaus ähnlich, doch legte sie besonderen Wert darauf, sich von deren säkularer Sprache abzuheben. So rief sie ausdrücklich die „Gnade und Führung des Allmächtigen Gottes“ an. Während des Kriegs erklärte der Präsident der Konföderierten, Jefferson Davis, zehn Tage zu Fastentagen – Zeiten des besonderen Gebets für die Nation – während sein nördliches Gegenüber Abraham Lincoln nur zu drei solchen Tagen aufrief. Die religiösen Erweckungsbewegungen florierten zwar auf beiden Seiten des Konflikts, aber unter den Konföderierten entfachten sie weit mehr Leidenschaft und waren insgesamt erfolgreicher. Verschiedenen Schätzungen zufolge gab es dort um die 150 000 Neubekehrungen. Nach dem Krieg und dem Ende der Sklaverei wurden die Bindungen zwischen Religion und Region noch sehr viel enger. Die Südstaatler scharten sich um ihre Niederlage als eine „verlorene Sache“, als Gottes speziellen Akt der Züchtigung und Erlösung für sein erwähltes Volk, nun aber mit einer rassistisch belasteten Mission. Aus dem Süden wurde der „Bibel-Gürtel“, eine Region, die historische Ressentiments, Erweckungsfrömmigkeit und die Vorstellung weißer Überlegenheit einte.49 Im Westen des Kontinents war die christliche Nationalidentität vieldeutiger. Die Region umfasste riesige Gebiete der Vereinigten Staaten und Kanadas und wurde erstmals nach den 1860er Jahren aktiv besiedelt. In den Vereinigten Staaten geschah die Ausdehnung nach Westen mit deutlich religiös-missionarischen Untertönen. Sie galt als „offenkundige Bestimmung“, als Gottes Plan zur Ausbreitung der Nation von der Atlantik- bis zur Pazifikküste. Sie sollte durch Krieg, diplomatische Ultimaten und Zwangsaufkäufe erreicht werden. Die kanadische Nationalidentität ging indessen aus der Ablehnung der frankokanadischen Militanz und aus den fortbestehenden Loyalitäten gegenüber Großbritannien hervor. „Wir sind kanadisch,“ erklärte George Monro Grant von der Queens-Universität in Toronto, „und um kanadisch zu sein, müssen wir britisch sein.“50 Für beide Nationen waren jedoch die Besiedlung und die Konsolidierung der Grenzgebiete prägende Unterfangen, eng verknüpft mit Vorstellungen von den überragenden Tugenden der „christlichen Zivilisation“. Zu jener Zeit hatte die missionarische Arbeit unter amerikanischen Ureinwohnern bereits eine lange Geschichte. Sie ging zurück auf die Jesuitenmissionen im 17. Jahrhundert im französischen Kanada. Doch im späten 19. Jahrhundert, als die Indianerstämme dezimiert waren durch Epidemien und Jahrzehnte vergeblicher Anstrengungen, ihr Land gegen das Eindringen der Weißen zu verteidigen, ging

49 Harvey, Paul, Freedom’s Coming. Religious Culture and the Shaping of the South from the Civil War to the Civil Rights Era, Chapel Hill 2005. 50 Zit. nach Murphy/Perin, A Concise History of Christianity in Canada, 304.

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es der Mission um weit mehr als um Bekehrung und Taufe. Das Heimstättengesetz (Homestead Act), das der US-Kongress im Jahr 1862 verabschiedet hatte, teilte das Land der Stämme in Grundstücke von je zwei Morgen, die jenen Ureinwohnern gegeben werden sollten, die das Christentum samt einer bäuerlichen Lebensweise angenommen hatten und sich einverstanden zeigten, ihre Muttersprache und Gebräuche aufzugeben. Dahinter steckte eine komplexe Mischung aus Gier, kultureller Insensibilität und Mitleid. Wenn die Stämme sich nicht an die weiße Gesellschaft assimilierten, so argumentierten die Reformer, dann seien sie von der Auslöschung bedroht. In Kanada wie in den Vereinigten Staaten waren die wirkungsvollsten und umstrittensten Mittel der Assimilation die Internatsschulen, die von protestantischen Missionaren in Kooperation mit staatlichen Stellen betrieben wurden. Die Tausenden von Kindern, die diese Schulen besuchten und die manchmal mit Gewalt ihren Familien entrissen worden waren, hatten wie noch nie zuvor Zugang zu Bildung und damit auch zu sozialem Aufstieg. Doch das hatte seinen Preis. Die Schüler gaben ihre traditionelle Kleidung und ihre Gebräuche auf, und es war ihnen verboten, in ihren Stammessprachen zu sprechen.51 Im Osten, der rapide verstädterte, war die christlich-nationale Identitätsbildung ein ungleich vielgestaltigeres Unterfangen. Für die Entwicklung der Kirchen in den Vereinigten Staaten eröffnete der zunehmende Wohlstand im goldenen Zeitalter des Kapitalismus enorme neue Möglichkeiten, er stellte aber auch schwierige moralische Fragen zu Reichtum, Armut und Ungleichheit. Der Graben zwischen Arm und Reich wurde beispielsweise in den USA im Verlauf des 19. Jahrhunderts ohnehin beständig tiefer, aber nach dem Bürgerkrieg erweiterte er sich exponentiell. Um 1790 lebte in den Vereinigten Staaten nur ein Millionär, Elias Derby, dessen Vermögen dasjenige eines mittleren Haushalts von 250 Dollar um ein 4000-Faches überstieg. Im Jahr 1890 war William H. Vanderbilt der reichste Mann des Landes. Sein Besitz hatte einen Wert von 200 Millionen Dollar und war somit 370 000 Mal höher als der Durchschnitt, der bei 540 Dollar lag.52 Dies war Wohlstand einer neuen Dimension, einer Größenordnung von Geld und Zurschaustellung, die ein zeitgenössischer Soziologe wie Thorstein Veblen als „Geltungskonsum“ bezeichnete – es war eine Wirtschaft, die mehr und mehr auf Begierden als auf Bedürfnissen basierte. Die sogenannten Räuberbarone, Industriekapitäne wie J. P. Morgan, Andrew Carnegie und John Rockefeller, herrschten über riesige Wirtschaftsimperien. Um 1880 kontrollierte Jay Gould, bekannt als „der meistgehasste Mann Amerikas“, 15 000 Meilen an Eisenbahnstrecken, die die gesamte Westhälfte des Landes von St. Louis zur Pazifikküste abdeckten. Er

51 Adams, David Wallace, Education for Extinction. American Indians and the Boarding School Experience 1875–1928, Lawrence, KS 1995; Reyner, Jon/Eder, Jeanne, American Indian Education. A History, Norman 2004. 52 Zahlen nach Phillips, Kevin, Wealth and Democracy, New York 2002, 38. Vgl. auch Veblen, Thorstein, The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, New York 1899.

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besaß auch einen Telekommunikationskonzern, zu dem u. a. die Western Union Telegraph gehörte. Gould prahlte einmal, er könne „die eine Hälfte der Arbeiterklasse einstellen, um die andere Hälfte umzubringen“. Zur selben Zeit wurde die Armut verzweifelter und unsichtbarer, verborgen in den Außenbezirken von Riesenstädten wie New York und Chicago.53 Religiöse Institutionen rangen um eine Antwort darauf. Oft begrüßte der Protestantismus des Goldenen Zeitalters die neue Wirtschaft der Begierden in unkritischer Weise. Der Baptistenpfarrer Russell Conwell (1843–1925) wurde berühmt mit einer Rede, die er tausendfach hielt und der er den Titel „Land der Diamanten“ („Acres of Diamonds“) gegeben hatte. „Geld ist Macht,“ erklärte er, „und man sollte sich mit vernünftigem Ehrgeiz darum bemühen, es zu haben.“ Tatsächlich mahnte Conwell: „Wenn Sie Reichtümer auf ehrliche Weise erwerben können […], dann ist es Ihre christliche und göttliche Pflicht, dies auch zu tun.“54 Wohlhabende Familien statteten Seminare aus und finanzierten riesige gotische Kirchen. John D. Rockefellers Millionen finanzierten großzügig den Aufbau von Einrichtungen der Nordstaaten-Baptisten und deren Missionsprogramme; John T. Wanamaker aus Philadelphia unterstützte ein presbyterianisches Netzwerk kirchlicher Einrichtungen sowie die Erweckungsarbeit von D. L. Moody (1837–1899).55 Andere Protestanten und Katholiken jedoch machten zur selben Zeit neue Anstrengungen zur Verringerung der Armut. In beiden Konfessionen spielte dabei das Engagement der Basis eine wichtige Rolle. Die St. Vincent de Paul Society war die größte Wohlfahrtseinrichtung nordamerikanischer Katholiken; sie war in Frankreich gegründet worden und kam 1845 in die Vereinigten Staaten. Die Organisation wurde zwar von Geistlichen geleitet, bestand aber aus Laien, die Geld sammelten und von Tür zu Tür gingen, um den Armen und vor allem den notleidenden Kindern Hilfe zu bringen. Und obwohl die meisten Katholiken vom viktorianisch-protestantischen Moralismus nicht sehr erbaut waren, unterstützten sie auch die Abstinenzbewegung, u. a. mit der Gründung einer Vereinigung für völlige Abstinenz („Catholic Total Abstinence Union of America“) im Jahr 1872. „Gegen Alkoholkonsum zu kämpfen“, schreibt der Historiker Jay Dolan, „war so katholisch wie der Gang zur Sonntagsmesse.“56 Die katholische Kirche unterstützte auch Gewerkschaften. Im Wildwuchs-Kapitalismus des Goldenen Zeitalters gab es nur wenige Arbeiterorganisationen, und sie galten als höchst verdächtig. Die größte Organisation der 1880er Jahre, die Knights of Labor („Ritter der Arbeit“), war eine Geheimgesellschaft mit Schwüren und Initiationsritualen, die zeitweise mit Gewalt in Verbindung gebracht wurde. Anfänglich

53 Painter, Standing at Armageddon, 33–34. 54 Conwell, Russell H., Acres of Diamonds, New York 1915, 20f. 55 Leach, William, Land of Desire. Merchants, Power, and the Rise of a New American Culture, New York 1993, 191–224. 56 Dolan, American Catholic Experience, 326.

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wurde sie von der Mehrheit der Priester abgelehnt; einige von ihnen verweigerten den Mitgliedern die Sakramente. Andere aber, vor allem irische Geistliche und Laien – der Pfarrer Edward McGlynn (1837–1900) in New York sowie Leonora Barry (1849– 1923) und Elizabeth Flynn Rogers (1847–1939) in Chicago – übernahmen Führungsrollen in dieser Arbeitervereinigung. Der Wendepunkt kam im Jahr 1884, als der Vatikan auf Ersuchen des Erzbischofs Taschereau von Quebec den Katholiken verbot, sich den Knights of Labor anzuschließen. Als Reaktion darauf verfassten die Bischöfe John Ireland (1838–1918) aus Saint Paul, Minnesota, John Keane (1857–1929) aus Richmond, Virginia, und vor allem Kardinal James Gibbons (1832–1921) aus Baltimore ein Protestschreiben, in welchem sie die Kirche aufriefen, die Rechte der arbeitenden Menschen zu verteidigen. Der Vatikan hob daraufhin seine Entscheidung nicht nur auf; vielmehr veröffentlichte 1891 Papst Leo XIII. Rerum Novarum – eine bahnbrechende Enzyklika, die das Recht der Arbeiter, sich zu organisieren, ausdrücklich unterstützte. Obwohl das Dokument den Sozialismus verurteilte und am Recht auf Privateigentum festhielt, formulierte es die bis dahin schärfste kirchliche Kritik an den Exzessen des Kapitalismus. Die Botschaft war klar und beispiellos, das Papsttum stellte sich damit an die Seite der arbeitenden Menschen und etablierte eine moderne katholische Position für soziale Gerechtigkeit.57 Die protestantische Antwort war bruchstückhafter. Nach dem Bürgerkrieg gewann die Heiligungsbewegung, die unter der Führung von Lehrerinnen wie Phoebe Palmer entstanden war, neue Stärke und Intensität. Sie rief die wesleyanischen Kirchen zu tieferer geistlicher Hingabe und zum Einsatz für die Armen auf. Als Reaktion darauf entstanden neue Organisationen – und neue Konfessionen. Die umfassendste Antwort war die Heilsarmee, die der evangelikale Prediger William Booth (1829–1912) im Jahr 1865 in Großbritannien gegründet hatte. 1880 traf George Railton (1849–1913) in Begleitung von sieben „Lassies“ (Mädchen) in Militäruniform in New York City ein. Sie pflanzten eine Eroberungsfahne auf und knieten zum Gebet nieder. In Kanada begann die Arbeit im Jahr 1882. Die Organisation erregte schnell Aufmerksamkeit und Meinungsstreit wegen ihrer farbigen Uniformen und kühnen Vorgehensweisen. Sie rüstete junge Frauen dafür aus, in Slums von Tür zu Tür zu gehen, laute öffentliche Andachten abzuhalten, samt Hörnern und Tamburinen. Die Heilsarmee und andere Organisationen, die mit der Heiligungsbewegung verbunden waren, waren allerdings in erster Linie evangelistisch ausgerichtet. Die Werke der Barmherzigkeit überschatteten nie den obersten Imperativ, das Evangelium zu predigen, um die Verlorenen zu retten. Tatsächlich lautete die Kopfzeile des War Cry, der Zeitung der Heilsarmee, einfach „Seelen! Seelen!“58

57 Vgl. Abell, Aaron I. (Hrsg.), American Catholic Thought on Social Questions, Indianapolis 1968. 58 Winston, Diane, Red-Hot and Righteous. The Urban Religion of the Salvation Army, Cambridge, MA 1999; Magnuson, Norris, Salvation in the Slums. Evangelical Social Work 1865–1920, Metuchen, NJ 1977.

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Eine andere protestantische Antwort gab die Social Gospel-Bewegung, eine Bewegung, die sich der Christianisierung der gesamten Gesellschaft widmete. Individuelles Seelenheil war gut und notwendig, doch sei es die wichtigste Aufgabe der Kirche, wie der Baptist Walter Rauschenbusch (1861–1918) schrieb, das Reich Gottes zu errichten, und zwar auf „den christlichen Prinzipien der gleichen Rechte für alle, der demokratischen Verteilung wirtschaftlicher Macht, des Vorrangs des Gemeinwohls, des Gesetzes von gegenseitiger Abhängigkeit und Unterstützung sowie des beständigen Fließens von Wohlwollen in der gesamten menschlichen Familie.“ Washington Gladden (1836–1918), ein Gemeindepfarrer, trat gegen die Korruption in der Politik und gegen die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus auf und unterstützte das Recht der Arbeiter auf Selbstorganisation. Er wandte sich gegen die American Protective Association, traf sich als Vorsitzender der American Missionary Association, einer Gemeindeorganisation, die sich für die Gründung schwarzer Colleges und Seminare einsetzte, mit dem afroamerikanischen Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois (1868–1963) und bezog öffentlich Stellung gegen die Lynchjustiz, jene Kampagne rassistischer Gewalt, die er als „Mordepidemie“ brandmarkte. Weil die Verfechter des Social Gospel die Armut und mögliche Lösungen systemisch betrachteten, verbündeten sie sich auch mit der Settlement House-Bewegung. Sie kam wie die Heilsarmee aus Großbritannien, aber sie stellte die gesellschaftlich bedingte Natur sozialer Missstände in den Mittelpunkt. Anstelle von Wohltätigkeit oder Mission versuchten die Settlement-Arbeiter – vielen von ihnen waren Frauen mit College-Abschluss wie die Presbyterianerin Jane Addams (1860–1935) – den Armen zu helfen, indem sie die Armut auf dem Wege des Miteinanderlebens in beengten städtischen Nachbarschaften aus erster Hand verstehen lernten. Die sogenannten etablierten Kirchen griffen den Ansatz auf und boten in ärmeren Nachbarschaften Englischunterricht, Freizeitprogramme, berufliche Bildung und Kinderbetreuung an.59 Auch für Sozialreformen setzten Protestanten sich ein. In Kanada war die Allianz für den Tag des Herrn (Lord’s Day Alliance) die bekannteste Kampagne. Vertreter der Kirchen und der Gewerkschaften kämpften darin zusammen für Gesetze gegen Sonntagsarbeit und verkaufsoffene Sonntage. Als Ergebnis wurde im Jahr 1906 das Tag-des-Herrn-Gesetz verabschiedet. Das weitaus größte Anliegen auf beiden Seiten der Landesgrenze war jedoch das Alkoholverbot, und die größte Anstrengung, um dieses Ziel zu erreichen, unternahm die Women’s Christian Temperance Union (WCTU). Sie wurde 1874 in den Vereinigten Staaten gegründet und

59 White, Jr., Ronald C./Hopkins, C. Howard (Hrsg.), The Social Gospel. Religion and Reform in Changing America Philadelphia 1976; Dorrien, Gary, The New Abolition. W. E. B. Du Bois and the Black Social Gospel, New Haven 2015; Carter, Heath, Union Made. Working People and the Rise of the Social Gospel in Chicago, Oxford 2015; Bowman Matthew, The Urban Pulpit. New York City and the Fate of Liberal Evangelicalism, New York 2014; Addams, Jane, Twenty Years at Hull House, New York 1910.

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hatte einen kanadischen Zweig, der im selben Jahr entstand. Die WCTU war eine internationale Organisation; sie mobilisierte Frauen, sich an der Aufklärung der Öffentlichkeit über die Gefahren des Trinkens zu beteiligen – Alkohol galt im 19. Jahrhundert als Nahrungsmittel – und Parlamentsabgeordnete mit Petitionen und öffentlichen Kampagnen unter Druck zu setzen. Unter der Führung von Frances Willard bemühte sich die WCTU auch um direkten Einfluss auf die Politik. Die meisten ihrer Mitglieder waren in sozialer Hinsicht konservativ eingestellte protestantische Frauen. Viele von ihnen engagierten sich auch in unabhängigen, nur Frauen offenstehenden Missionsgesellschaften, also im anderen bedeutenden Aktionsfeld für Frauen in der Zeit nach dem Bürgerkrieg. Willard vertrat die Auffassung, dass ohne Wahlrecht Frauen der Schlagkraft von Brauereien und Saloons niemals etwas entgegensetzen könnten. Die „Sorge für das Heim“, wie sie es nannte, verlangte von Frauen, ihre traditionellen Sphären zu verlassen und die ganze Welt als „größeres Heim“, das ihrer Fürsorge bedurfte, anzusehen. Die Kampagne war umstritten, aber letzten Endes erfolgreich, denn sie unterstützte die Bewegung für das Frauenwahlrecht ganz entscheidend und führte schließlich 1920 zur Verabschiedung des 19. Verfassungszusatzes, der Frauen gleichberechtigten Zugang zur Wahlurne verschaffte.60 Trotz all dieser Energie und Aktivitäten hatte die Religion jedoch einen überraschend schweren Stand. Weil vor allem die praktische Arbeit beim Aufbau der eigenen Einrichtungen im Vordergrund stand und der christliche Nationalismus weitgehend unkritisch unterstützt wurde, waren die Katholiken und Protestanten in Kanada und den Vereinigten Staaten nicht auf die sozialen und intellektuellen Herausforderungen vorbereitet, die im späteren 19. Jahrhundert immer drängender wurden. Nördlich und südlich der Landesgrenze standen die Kirchen unter demselben Druck, auch wenn die Dynamik der Veränderung durchaus unterschiedlich war. Mark Noll bemerkte, dass die kanadischen Kirchen „ins 20. Jahrhundert eher hinüberwuchsen als taumelten“.61 Für Katholiken waren die Probleme sowohl politischer als auch ideologischer Art. Die Häresie des „Amerikanismus“, die der Vatikan 1899 mit der Enzyklika Testem Benevolentiae Nostrae verurteilte, hatte genau genommen kaum etwas mit der korrekten Glaubensvermittlung zu tun. Über die längste Zeit des vorangegangenen Jahrhunderts hatten sich die katholischen Führungspersonen – allen voran die Bischöfe Ireland, Keane und Gibbons – sorgfältig an die Regeln gehalten und waren dem Vatikan gegenüber loyal geblieben, hatten aber zugleich betont, dass es notwendig sei, sich zu assimilieren. So drängten sie die Neueinwanderer, ihre Gewohnheiten aus der Alten Welt abzuwerfen und die fortschrittlichen Werte der

60 Bordin, Ruth, Woman and Temperance. The Quest for Power and Liberty 1873–1900, Philadelphia 1981; Hill, Patricia R., The World Their Household. The American Woman’s Foreign Mission Movement and Cultural Transformation 1870–1920, Ann Arbor, MI 1985. 61 Noll, History of Christianity in the United States and Canada, 276.

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Neuen anzunehmen. Manchen, wie den Iren, die bereits Englisch sprachen und die Kirchenhierarchie in den Vereinigten Staaten schon früh dominierten, war klar, dass es nicht anders gehen konnte. Andere, vor allem die deutschen und polnischen Neuzugänge, sahen in den nach Ethnien gebildeten Gemeinden ein Mittel des wirtschaftlichen und geistlichen Überlebens und bestanden darauf, dass, nach einem populären Slogan jener Zeit, „die Sprache den Glauben bewahrt“. Die schroffe Zurückweisung des „Amerikanismus“ durch den Vatikan verstärkte darum deren Bindung an Rom und stellte die irische Dominanz in der US-Kirche in Frage. Sie beendete auch das katholische Engagement in Gesellschaft und Kultur. Die Kirche, so hieß es im Vatikan, sei aus Gottes Willen hervorgegangen und darum immun gegen Veränderungen; sie stehe über und jenseits aller Wechselfälle der Geschichte.62 Während die Katholiken sich gegen die moderne Kultur abschotteten, kämpften die Protestanten – manchmal mit der Moderne und manchmal miteinander. In Kanada hielt der „evangelikale Konsens“ aufgrund der relativ unkomplizierten konfessionellen Struktur länger – bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Aufs Ganze gesehen war der kanadische Evangelikalismus ein Glaube der „moralischen Verantwortlichkeit, Kontinuität und Gemeinschaft“, wie die Historikerin Marguerite Van Die schreibt, und selbst als die persönliche Frömmigkeit zurückging, verlor er seine gesellschaftliche und kulturelle Rolle nicht.63 In den Vereinigten Staaten war die Zersplitterung eher die Regel als die Ausnahme. Das konfessionelle System driftete immer weiter auseinander und geriet in Gefahr, seine Mitte zu verlieren. Grundsätzlich brachte der Umgang der protestantischen Kirchen mit der Moderne lange bestehende intellektuelle Schwächen ans Licht: Aus der Denkstruktur, die einst die Grundlage des Glaubens bildete, wurde gegen Ende des Jahrhunderts eine verpflichtende Anschauung. Das Vertrauen in die absolute Klarheit der Bibel, in ein Buch, das ausnahmslos allen die Wahrheit sagte, die sich ihm offen und vernünftig zuwandten, erwies sich als zerbrechliches Schilfrohr in den theologischen Kontroversen der Zeit. Apologetik schien nahezu ein Fremdwort zu sein. Es war eine Sache, die offenkundige Wahrheit der Schrift zu bekennen, und eine andere, dafür plausible Argumente zu entwickeln. Im späten 19. Jahrhundert fand die protestantische Orthodoxie in den Vereinigten Staaten und Kanada innerhalb eines relativ breiten Spektrums von Glaubensweisen ihren Ausdruck. Der theologische Liberalismus war eines seiner Mosaiksteinchen; institutionell reichte er zurück bis zur Gründung der American Unitarian Association im Jahr 1825. Zu jener Zeit war der Unitarismus ein Glaube für rationale Menschen, eine Alternative zu den emotionalen Exzessen der Erweckungsbewe-

62 D’Agostino, Peter, Rome in America. Transnational Catholic Ideology from the Risorgimento to Fascism, Chapel Hill 2004; McGreevy, Catholicism and American Freedom. 63 Van Die, „The Double Vision“, 266.

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gung, zu den Paradoxen der Trinitätslehre und den unveränderlich festgelegten Syllogismen des Calvinismus. Zahlenmäßig hatte er nur wenige Anhänger – am meisten in Neuengland –, doch seine intellektuelle Ausstrahlung war beträchtlich. In seiner weitreichenden Einflusssphäre befanden sich das Harvard-College, das nicht mehr die Schule der puritanischen Orthodoxie war, sowie die Denker und Dichter, die sich dem Transzendentalismus zurechneten.64 Unter dem wachsenden Einfluss europäischer Denkrichtungen nahm der Liberalismus in den 1860er und 1870er Jahren jedoch eine neue Form an. Bis dahin war die Bibelwissenschaft in den Vereinigten Staaten generell konservativ, unberührt von der radikalen Kritik an der christlichen Orthodoxie, die in französischen, deutschen und zum Teil auch in britischen Kreisen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert laut wurde. Erst nach dem Bürgerkrieg überquerte das große Floß der Forschung, die an deutschen Universitäten mit der Textkritik und der historischen Analyse der Bibel befasst war, endlich den Atlantischen Ozean. Und weitere Jahrzehnte vergingen, bis all dies die Kirchenkanzeln und die Sonntagsschulen erreichte. In der schwankungsanfälligen religiösen Kultur der Vereinigten Staaten war die Wirkung sehr viel grundstürzender. Alte Orthodoxien standen hilflos vor den Erkenntnissen der Wissenschaftler, die die Zuverlässigkeit der Berichte des Alten Testaments und sogar die Historizität von Jesus in Frage stellten. Die Bibel stand allmählich da wie jeder andere antike Text.65 Nicht immer waren die neuen Ideen umstritten: In Kanada nahmen Theologen und Kirchenvertreter die Bibelkritik überwiegend mit Gelassenheit zur Kenntnis. Ein „liberaler Evangelikalismus“, der den traditionellen Einsatz für die Besserung der sozialen Verhältnisse mit persönlicher Bekehrungserfahrung verband, war in der Lage, die Impulse des progressiven theologischen Denkens aufzunehmen, zumal ihm die Universitätsstruktur Schutz bot, indem sie die konfessionellen Seminare ins Ganze integrierte und zugleich institutionelle Unabhängigkeit gewährleistete.66 Natürlich waren auch die naturwissenschaftlichen Entdeckungen ein Faktor bei der Infragestellung der Unanfechtbarkeit der Bibel, aber nicht unmittelbar. Die evangelikalen Protestanten hatte lange geglaubt, dass die Bibel ein klarer, transparenter Text sei, ein „Faktenspeicher“, wie der Princetoner Theologe Charles Hodge sagte. Die Parallele zwischen Naturwissenschaft und Theologie sei offenkundig: Die Aufgabe der Naturwissenschaft bestehe darin, „die Fakten der natürlichen Umwelt zu ordnen und zu systematisieren“ und daraus allgemeine Gesetze

64 Wright, Conrad, The Unitarian Controversy. Essays on American Unitarian History, Boston 1994; Dorrien, Gary, The Making of American Liberal Theology. Imagining Progressive Religion 1805–1900, Philadelphia 2001. 65 Clark, Elizabeth, Founding the Fathers. Early Church History and Protestant Professors in Nineteenth-Century America, Philadelphia 2011; Noll, Mark A., Between Faith and Criticism. Evangelicals, Scholarship, and the Bible in America, New York 1986. 66 Airhart, Phyllis, Serving the Present Age. Revivalism, Progressivism, and the Methodist Tradition in Canada, Montreal 1992.

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und Prinzipien zu gewinnen; „der Gegenstand der anderen“, so argumentierte Hodge, sei es, „die Fakten der Bibel zu systematisieren“ und von dort her „die Prinzipien oder allgemeinen Wahrheiten, die in diesen Fakten enthalten sind, zu erkunden“.67 Im frühen 19. Jahrhundert, als die Naturwissenschaft noch eine Beschäftigung interessierter Gentlemen war und nicht ein Beruf auf Universitätsniveau, war sie „sowohl institutionell als auch intellektuell“ mit der Theologie eng verbunden, wie der Historiker Jon H. Roberts schreibt. Die Entdeckungen in der Natur führten allemal zu ihrem göttlichen Schöpfer zurück, der das Universum angelegt habe. Jede andere Annahme sei einfach falsch.68 Mit diesem Verständnis begegnete die erste Generation der Protestanten den Theorien von Charles Darwin über die Evolution. In einer Zeit, die an die Realität des Fortschritts glaubte, wonach jedes kommende Zeitalter besser als die Vergangenheit sein würde, war das völlig einleuchtend. Aber in der Ära nach dem Bürgerkrieg änderte sich die Stimmung unter den Evangelikalen. Die großen religiösen Erweckungsbewegungen jener Jahre, die von international bekannten Köpfen wie Dwight L. Moody (1837–1899), Charles Haddon Spurgeon (1834–1892) und Hugh Crossley (1850–1934) angeführt wurden, brachten einen neuen Geist zum Ausdruck: Skepsis gegenüber sozialen Reformen und einen zunehmenden Wunsch nach spirituellen Gewissheiten. Riesige Mengen strömten zu Moodys Versammlungen überall in den Städten der Vereinigten Staaten, in Kanada und Großbritannien. Was sie anzog, waren das schwungvolle Singen von Hymnen, die ernsthafte schlichte Frömmigkeit und die unzweideutige evangelikale Botschaft. Im Gegensatz zur früheren evangelikalen Generation wollte Moody nicht, dass soziale Fragen seinen dringenden Aufruf zu Umkehr und Rettung verdrängten. „Ich schaue auf diese Welt wie auf ein Schiff in Seenot“, sagte er einmal. „Gott gab mir ein Rettungsboot und sagte, Moody, rette so viele du kannst.“69 Eine besonders langanhaltende und machtvolle Kritik am Protestantismus des Goldenen Zeitalters kam aus einer lockeren Vereinigung von Geistlichen und Laien, die dann im 20. Jahrhundert in eine fundamentalistische Bewegung einmündete. Ihr Hauptinteresse bestand darin, die Bibel gegen eine rigorose wissenschaftliche Analyse in Schutz zu nehmen, die in ihren Augen unter der Hand dem Säkularismus Vorschub leistete. Sie bestanden darauf, dass die Bibel nicht einfach „wahr“ sei, sondern irrtumslos, ohne falsche naturwissenschaftliche, geografische oder historische Fakten. Die Doktrin der Irrtumslosigkeit war eine Form protestantischer Orthodoxie, die lange mit dem Seminar von Princeton in Verbindung stand, einer presbyterianischen Institution, die für ihre felsenfesten Verteidiger

67 Hodge, Charles, Systematic Theology, New York 1874, 1:18. 68 Roberts, Jon, Darwinism and the Divine in America. Protestant Intellectuals and Organic Evolution 1859–1900, Notre Dame 1988, 9. 69 Zit. nach Findlay, James F., Dwight L. Moody. American Evangelist 1837–1899, Chicago 1969, 253.

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des Glaubens bekannt war: Charles Hodge (1797–1878), B. B. Warfield (1851–1921) und William Henry Green (1825–1900). In einer Zeit der Glaubensunsicherheit gewann das Seminar viele Anhänger unter Protestanten, die von den liberalen Zweideutigkeiten und Differenzierungen ernüchtert waren und nach einer absoluten Plattform für die biblische Wahrheit suchten.70 Die Kritik am Mainstream der protestantischen „Kirchlichkeit“ fand auch in einer zunehmend lebhaften Eschatologie ihren Ausdruck, das heißt in Lehren über das Ende der Welt. Die meisten Protestanten im 19. Jahrhundert glaubten fast instinktiv an den Fortschritt und lebten in Erwartung des kommenden Gottesreichs auf Erden, sobald die Menschheit endlich eine vollkommen gerechte und friedliche soziale Ordnung errichtet hätte. Der Prämillenarismus, wie eine andere Strömung genannt wurde, erwartete das Gegenteil: eine immer böser und chaotischer werdende Welt, die mit der plötzlichen Rückkehr Christi und der Vernichtung des Satans endete. Diese Vorstellung war im christlichen Denken tief verwurzelt und tauchte im 19. Jahrhundert im Protestantismus immer wieder auf, am auffälligsten sicher in William Millers Vision des Endes im Jahr 1844. Am Ende des Jahrhunderts ging es dem Prämillenarismus jedoch weniger um die Vorhersage von Christi Wiederkehr als um eine Harmonisierung des ganzen Themenstrangs der biblischen Prophezeiungen in Form einer schlüssigen Gesamtsicht. Das daraus entstehende System, der Dispensationalismus, der zu Anfang des Jahrhunderts aus Gruppen englischer Abweichler hervorgegangen war, teilte die Geschichte in verschiedene Abschnitte auf: in Zeitalter göttlichen Segens, menschlicher Auflehnung und daraus resultierender Zerstörung. Der sich herausbildende Fundamentalismus kombinierte die Überzeugung von der biblischen Irrtumslosigkeit, Prämillenarismus, Dispensationalismus und eine intensive persönliche Frömmigkeit. So wurde er zur Ausprägung des Glaubens in einer Zeit der Entfremdung. Er entstand in nichtkonfessionellen Zusammenhängen, Bibelkonferenzen und Ausbildungszentren. Vor allem die Niagara-Konferenzen, die seit 1876 regelmäßig abgehalten wurden, zogen eine immer größere Zahl von Geistlichen an, hauptsächlich aus konservativen presbyterianischen und baptistischen Kirchen, aber auch Laien, die die Geheimnisse der biblischen Prophezeiungen verstehen wollten. Viele gehörten auch zur Bewegung „Higher Life“, einer Form der Heiligkeitsfrömmigkeit, die ihre Wurzeln in der britischen Keswick-Bewegung hatte. Zumindest in seinen Anfangsjahren, bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts, war der Fundamentalismus eine Art Protest, eine Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung. Er war der Glaube von Menschen, die nichts mehr mit der konventionellen Religiosität und der Perspektive einer „christlichen Nation“ anfangen konnten, die aber entschlossen waren, vor dem Ende der Welt jede Seele zu retten, die sie retten konnten.71

70 Marsden, George, Fundamentalism and American Culture. The Shaping of TwentiethCentury Evangelicalism, 1875–1925, Oxford 1980. 71 Sandeen, Ernest R., The Roots of Fundamentalism. British and American Millenarianism 1800–1930, Chicago 1970.

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Gegen Ende des Jahrhunderts hing dem Fundamentalismus dann ein loser Zusammenschluss von Menschen an, die nicht mehr auf sozialen Wandel hofften, aber zusammengehalten wurden von der leidenschaftlichen Bindung an schwierige Wahrheiten, an die Irrtumsfreiheit der Schrift und die prämillenarische Erfüllung der Prophetie. Die Bewegung wuchs in den Vereinigten Staaten wie in Kanada, südlich der Grenze aber immer dramatischer und mit mehr Spaltungen. In Kanada war es eine eher verhaltenen Minderheit innerhalb des weiten protestantischen Spektrums, die dem Fundamentalismus zugeneigt waren, vor allem aufgrund seiner weiterbestehenden kulturellen und religiösen Bindungen an Großbritannien. Britische Evangelisten und Prediger wie W. H. Griffith Thomas (1861–1924) und W. Graham Scroggie (1877–1958) hatten großen Einfluss in ganz Nordamerika. Sie waren bekannt für ihren gebildeten konservativen Stil und ihre Abneigung gegen die „Kriegsführung mit höchstem Dezibel-Pegel“, die zunehmend charakteristisch für die Religion in den Vereinigten Staaten wurde. Während dort in der Tat größere protestantische Konfessionen in der Hitze der Kontroversen zersplitterten, schmiedeten ihre kanadischen Gegenüber noch engere Bündnisse der ökumenischen Zusammenarbeit. 1925, im Jahr des berühmten „Scopes-Prozesses“ über die Evolutionstheorie, der die konservative Religion im öffentlichen Bewusstsein für alle Zeiten gegen die Naturwissenschaften ausspielte, festigten die Kanadier die Einigkeit unter den Konfessionen mit der Gründung der United Church of Canada.72 Doch schwierige Verhältnisse standen allen bevor. Die letzte Überlegung dieses Essays gilt der Säkularisierung und der Frage, warum in den letzten Jahren die Vereinigten Staaten und Kanada sich auf der Ebene des Glaubens und der religiösen Praxis so unterschiedlich entwickelt haben. Wie Mark Noll feststellte, war der Anteil der kanadischen Gottesdienstbesucher in den 1950er Jahren noch sehr hoch; er überstieg das Niveau in den Vereinigten Staaten um ein Drittel oder teils sogar um die Hälfte. „Die Gottesdienstbesucherzahlen in Quebec“, sagt Noll, „waren möglicherweise die höchsten der Welt.“ Ein halbes Jahrhundert später jedoch kehrten sich diese Zahlen um. Der überraschend schnelle und anscheinend unumkehrbare Niedergang des „christlichen Kanada“ in den 1960er Jahren steht in starkem Kontrast zum anhaltend hohen Grad an Religiosität in den Vereinigten Staaten. Wenn überhaupt irgendwo, dann schien die christliche Frömmigkeit in der kanadischen Kultur des Anstands und der Ordnung sehr viel tiefer verwurzelt als bei den streitlustigeren Cousins im Süden, aber dennoch flaute sie viel schneller ab.73 Dieser Essay hat keine Antwort auf dieses Paradox, doch er bietet vielleicht ein paar wichtige Anhaltspunkte – nicht nur zum ungleichen Tandem der beiden

72 Rennie, Ian S., Fundamentalism and the Varieties of North Atlantic Evangelicalism, in: Noll u. a., Evangelicalism, 333–350. Airhart, Phyllis, A Church with the Soul of a Nation. Making and Remaking the United Church of Canada, Montreal 2014. 73 Noll, What Happened to Christian Canada? 249f.

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Nationen, sondern zur komplexen Entwicklung der Religion in der modernen Welt. Wie die Geschichte des Christentums Nordamerikas im 19. Jahrhundert zeigt, ist die freie Religionsausübung natürlich eine machtvolle Angelegenheit. Statistische Untersuchungen, historische Darstellungen und persönliche Berichte zeigen wieder und wieder, dass ein frei gewählter Glaube kreative Energien entfesselt, wie es eine Staatskirche, mit all den rechtlichen Zwängen des Staates dahinter, niemals könnte. All das führte manche Wissenschaftler zu dem Schluss, dass der freie Religionsmarkt tatsächlich ein Gegengift gegen den Säkularismus ist. Vielleicht, so argumentieren sie, sind die Vereinigten Staaten aus diesem Grund einfach eine Ausnahme und werden dem europäischen Muster von extrem niedrigen Gottesdienstbesucherzahlen und geringer Gläubigkeit niemals folgen. Und es könnte sogar sein, so meinen manche, dass die Säkularisierung eher ein wissenschaftliches Konstrukt als eine Interpretation der Wirklichkeit ist.74 Die andere Möglichkeit aber könnte sein, dass eine Religion an Boden verliert, wenn sie zu gut funktioniert. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, so legen es historische und statistische Erkenntnisse nahe, war der breite, bürgerschaftlich gesinnte und optimistische Glaube, der sowohl für die US-amerikanischen als auch die kanadischen Kirchen typisch war, unmerklich mit der Kultur seiner Umgebung verschmolzen. Trotz der polarisierenden Rhetorik der „Kulturkriege“ ging der tiefere Trend bei den öffentlichen Werten, selbst in unserer Zeit, in Richtung Toleranz und Pluralismus. Die überwiegende Mehrheit unserer Zeitgenossen, auch derjenigen, die sich als religiös konservativ bezeichnen, lebt und arbeitet ohne größere Schwierigkeiten Seite an Seite mit Menschen, die anderen Religionen zugehören und andere Werte haben. Selbst jene mit starken theologischen und moralischen Überzeugungen glauben nicht, wie Untersuchungen zeigen, dass allein sie im Recht seien und alle anderen sich irrten.75 Welche Wege auch immer Glaube und Glaubenspraxis in der Zukunft einschlagen mögen, sie werden sich dabei tief verwurzelter historischer Muster bedienen. Sie werden weiterhin die vergangenen Stärken des nordamerikanischen Kirchenlebens widerspiegeln – den Enthusiasmus an der Basis, die ethnische und theologische Vielfalt sowie die Tradition der Fürsorglichkeit für die Seelen und für die Gesellschaft. Und sie werden ebenso seine moralische Zwiespältigkeit weiter mit sich führen – das Vermächtnis der Intoleranz gegenüber Unterschieden und der Blindheit für massive Sünden wie die Sklaverei und die Ungerechtigkeit gegenüber den eingeborenen Völkern. Mit anderen Worten: Der Glaube und

74 So argumentieren etwa Finke/Stark, Churching of America; vgl. auch Giggie, John M./ Winston, Diane (Hrsg.), Faith in the Market. Religion and the Rise of Urban Commercial Culture, New Brunswick, NJ 2002. 75 Putnam, Robert/Campbell, David, American Grace. How Religion Divides and Unites Us, New York 2010, 104–105 und 122–123.

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Literatur

seine Praxis werden so komplex und herausfordernd sein wie die Geschichte des Christentums insgesamt. Übersetzung: Norbert Reck

Literatur Braude, Ann, Sisters and Saints. Women and American Religion, New York 2007. Butler, Jon, Awash in a Sea of Faith. Christianizing the American People, Cambridge 1990. Handy, Robert T., A History of the Churches in the United States and Canada, New York 1977. Holifield, E. Brooks, Theology in America. Christian Thought from the Age of the Puritans to the Civil War, New Haven 2003. Mathews, Donald G., Religion in the Old South, Chicago 1977. McGreevy, John T., Catholicism and American Freedom, New York 2003. Murphy, Terrence/Roberto Perin, A Concise History of Christianity in Canada, New York 1996. Noll, Mark A., A History of Christianity in the United States and Canada, Grand Rapids, MI 1992. O’Toole, James M., The Faithful. A History of Catholics in America, Cambridge, MA 2008. Raboteau, Albert J., Slave Religion. The „Invisible Institution“ in the Antebellum South, New York 1978.

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Kolonien in Asien 1914

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Oman

Ceylon

Madras

FranzösischIndochina

(Brit.)

Sumatra

Celebes

Java

Niederländisch-Indien

Borneo

Singapur

(Brit.)

Timor

Philippinen (USA)

Hongkong

Formosa (Japan)

(Deutsch)

Tsingtao/Qingdao

DeutschNeuguinea Papua 1884 brit. 1906 zu Australien

Neuguinea

Guam (USA)

Marianen (Deutsch)

SalomonInseln (Brit.)

Pazifischer Ozean

Palau-Inseln (Deutsch)

Japanisches Meer Korea JAPAN (Japan)

Malaiische Sultanate

SIAM

Indischer Ozean

Burma

BHUTAN

Golf von Bengalen

NEPAL

TIBET

Großbritanniens überseeische Besitzungen Frankreichs überseeische Besitzungen Überseeische Besitzungen des Deutschen Reiches Überseeische Besitzungen der Niederlande Vereinigte Staaten

(Port.)

Peking

CHINESISCHE REPUBLIK

Britisch-Indien

Goa

Bombay

AFGHANISTAN

BUCHARA

Taschkent

RUSSISCHES REICH

ASIEN

IM

19.

UND FRÜHEN

20. JAHRHUNDERT

Klaus Koschorke

1. Das christliche Asien um 1800 Um 1815 beklagt der französische Geistliche Abbé Jean-Antoine Dubois (1770– 1848), der viele Jahre als Missionar in Indien tätig war, den fast vollständigen Niedergang des Katholizismus auf dem Subkontinent: „Die christliche Religion katholischer Glaubensrichtung ist vor etwas mehr als dreihundert Jahren in Indien eingeführt worden, und zwar zur Zeit der portugiesischen Invasion [im 16. Jh.]. […] Der niedrige Stand, den die christliche Religion heute erreicht hat, und die Verachtung, der sie gegenwärtig ausgesetzt ist, können nicht mehr übertroffen werden. Es gibt […] zur Zeit in diesem Land nicht mehr als ein Drittel der Christen, die es hier noch vor achtzig Jahren gab, und ihre Zahl geht von Tag zu Tag durch ständigen Abfall zurück. Sie wird in kurzer Zeit auf null schrumpfen; und wenn sich die Lage weiter so entwickelt, wird es, fürchte ich, in weniger als fünfzig Jahren keine Spuren des Christentums unter den Einheimischen mehr geben. Die christliche Religion, die früher Gegenstand der Gleichgültigkeit […] war, ist inzwischen – wage ich zu sagen – fast zu einem Gegenstand des Horrors geworden. Fest steht, dass während der letzten sechzig Jahre keine neuen Anhänger oder nur sehr wenige gewonnen wurden“ (Quellenband Text 39).1

Um 1800 befand sich die katholische, vom kolonialen Staat getragene Mission in einer tiefen inneren und äußeren Krise – in Indien wie auch global. In Europa hatten die Aufklärung, die Verwüstungen der französischen Revolution und die napoleonischen Kriege, der Zusammenbruch der alten kirchlichen Ordnung sowie die Welle der Säkularisationen den Missionsorden die ideologische, institutionelle und ökonomische Basis entzogen. Der Kirchenstaat war zeitweilig von französischen Truppen besetzt, die römische Missionszentrale – die Propaganda Fide – vorübergehend aufgehoben, und der Jesuitenorden, wichtigstes Instrument der römischen Überseemission, bereits seit 1773 aufgelöst. In Lateinamerika zeichnete

1 Zitiert nach dem Quellenband: Koschorke, Klaus/Ludwig, Frieder/Delgado, Mariano (Hrsg.), Außereuropäische Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 1450– 1990 (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen Bd. VI), 4. Auflage Neukirchen 2012; dieser Quellenband liegt auch in englischer und spanischer Fassung vor (s. Literaturverzeichnis). – Der vorliegende Artikel verweist wiederholt auf Dokumente aus diesem Quellenband; sie sind jeweils mit Nummer des entsprechenden Dokuments und vorangestelltem „Text“ gekennzeichnet.

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Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

sich das Ende des Ersten Kolonialzeitalters ab, und mit den spanischen (bzw. portugiesischen) Kolonialherren sollten in der Folgezeit auch zahlreiche europäische Kleriker und Ordensangehörige den Kontinent verlassen. In Indien waren die portugiesischen Besitzungen auf das Gebiet um Goa geschrumpft. In den Berichten europäischer Reisender wie des Schotten Claudius Buchanan in seinen „Christian Researches“ wird Goa um 1808 als Hort finsterer Rückständigkeit und Sitz einer tyrannischen Inquisition geschildert. In anderen Regionen wie beispielsweise in China war die christliche Religion seit der Amtszeit des Kaisers Yongzheng (reg. 1723–1735) als Folge des sogenannten Ritenstreits verboten. Im Jahr 1724 waren alle katholischen Missionare mit Ausnahme einiger Hofastronomen des Landes verwiesen worden. Ein kaiserliches Edikt des Jahres 1800 bestätigte das seit langem bestehende Verbot, und 1811 sowie 1827 wurden zwei bzw. drei der vier berühmten, einst von den Jesuiten in Peking (Beijing) errichteten Kirchen zerstört. Japan war ohnehin seit Anfang des 17. Jahrhunderts ein „geschlossenes Land“. Das so bezeichnete „christliche Jahrhundert“ – also die kurze Blütezeit bzw. Phase von der Ankunft der Jesuiten 1549 bis zur Ausweisung aller Missionare 1639 – war dort längst vorbei. Im hermetisch abgeschlossenen Korea hatte sich seit 1784 auf die Initiative koreanischer Literati hin eine katholische Untergrundkirche gebildet, die jedoch in der Folgezeit heftigsten Verfolgungen ausgesetzt war. Generell waren die meisten Gebiete Asiens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts europäischen Missionaren verschlossen. Niedergang kennzeichnete aber nicht nur auch die katholischen Missionen, sondern gleichermaßen die kolonialprotestantischen Kirchentümer in Asien. In verschiedenen Gebieten – so in Sri Lanka, Südindien, Malakka und im indonesischen Archipel – hatten die Niederländer Mitte des 17. Jahrhunderts die Portugiesen als Kolonialherren abgelöst. Anstelle der katholischen etablierten sie dort reformierte Kirchentümer, die freilich, eingezwängt in das Korsett kolonialkirchlicher Abhängigkeiten, nie zu rechter Blüte gelangten, trotz teilweise außergewöhnlicher Initiativen wie etwa der Errichtung zweier Seminare zur Ausbildung eines indigenen Klerus in Sri Lanka. In diesem Land war es bemerkenswerterweise der Katholizismus, der sich im Untergrund regenerierte und später als antikoloniale Alternative wachsenden Zulauf erhielt. Im Jahr 1799 ging die „Vereenigde Oost-Indische Compagnie“ (Niederländische Ostindien-Kompanie) bankrott. Zugleich kollabierte die Herrschaft der Niederländer in weiten Teilen Afrikas und Asiens. Die meisten ihrer Besitzungen wurden dauerhaft von den Briten übernommen – mit Ausnahme der Insel Java und anderer Teile des heutigen Indonesiens, die den Niederländern 1815 zurückgegeben wurden. Aber der Niedergang der holländischen Kolonialkirche in Asien hatte teilweise schon lange vorher eingesetzt. Um das Jahr 1812 schildert der bereits erwähnte Claudius Buchanan die Situation in Sri Lanka wie folgt: „Die meisten Kirchen [in Jaffna] […] sind jetzt Ruinen. Die niederländischen Geistlichen, die hier früher amtierten, sind nach Batavia [Jakarta] bzw. Europa gegangen. Der ganze

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1. Das christliche Asien um 1800 Distrikt ist jetzt in den Händen römischer Priester. […] [Im Süden der Insel] ist eine große Zahl von [singhalesischen] Protestanten zur [buddhistischen] Idolatrie zurückgekehrt. […] Es trifft wahrscheinlich zu, dass die Religion Christi in keinem Zeitalter so in Unehre gefallen ist wie in der letzten Zeit“ (Text 40).

Das Christentum in Asien ist bekanntlich sehr viel älter als der Katholizismus und Protestantismus der westlichen Missionare. Als die Portugiesen 1498 Südindien erreichten, trafen sie dort in Gestalt der Thomaschristen eine uralte und im Land seit mehr als 1000 Jahren kontinuierlich existierende Gemeinschaft an. Diese gehörte seit dem 6. Jahrhundert dem asiatischen Netzwerk der ostsyrisch-„nestorianischen“ „Kirche des Ostens“ an, die ihre Blüte im 13./14. Jahrhundert erlebte und sich von Syrien bis Ostchina und von Sibirien bis Südindien erstreckte. In anderen Regionen wie in Sri Lanka hingegen war das ostsyrische Christentum bei Ankunft der Portugiesen längst wieder verschwunden. Auch im Reich der Mitte traf der italienische Jesuit und Missionar Matteo Ricci zu Beginn des 17. Jahrhunderts keine Überlebenden früherer ostsyrischer Gemeinden mehr an. In Südindien hingegen existierten um 1800 weiterhin thomaschristliche Gemeinden in beachtlicher Zahl, wenngleich konfessionell und jurisdiktionell vielfach gespalten. Auch die isolierten ostsyrisch-„nestorianischen“ Gemeinschaften Westasiens (im Bereich der heutigen Türkei, des Iran und des Irak) waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Schismen und interne Dispute geschwächt. Eine andere in Asien weit verbreitete altorientalisch-christliche Glaubensgemeinschaft war die der Armenier. Sie waren um 1800 nicht nur im heutigen Armenien und verschiedenen Provinzen des Osmanischen Reiches anzutreffen, wo sie zwar im Rahmen des sogenannten Millet-Systems begrenzte Autonomie genossen, aber immer wieder auch heftigen Verfolgungen ausgesetzt waren. Armenische Kaufleute waren ebenso in den Händlerkolonien Persiens, im indischen Bengalen, auf der malaiischen Halbinsel und in anderen Regionen unterwegs. Ein neuer Faktor im Asien des frühen 19. Jahrhunderts war die protestantische Mission. Zwar hatten sich, wie erwähnt, zuvor bereits die Niederländer (und andere westeuropäische Mächte) in ihren Territorien um die Verbreitung des christlichen Glaubens in seiner protestantischen Ausprägung bemüht. Missionsgeschichtlich kommt dabei insbesondere der Dänisch-Halleschen Mission in der südindischen Mietkolonie Tranquebar seit 1706 eine besondere Bedeutung zu, da es hier erstmals nicht primär um die religiöse Betreuung europäischer Siedler oder Kompanie-Angestellter ging, sondern um die Gewinnung einheimischer Christen. Unstrittig markiert aber die Gründung von Serampore im indischen Bengalen eine neue Etappe. 1800 etabliert, entwickelte es sich rasch zu einem missionarischen Zentrum von regionaler und überregionaler Ausstrahlung. Bibelübersetzungen in viele indische und asiatische Sprachen wurden hier erstellt, mittels der neu eingeführten Drucktechnik vervielfältigt und exportiert sowie Bildungseinrichtungen errichtet. Gegründet wurde Serampore von britischen Baptisten um William Carey

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(1761–1834), der – Laie, Autodidakt und Sprachgenie – im Jahr 1792 im englischen Nottingham die „Baptistische Gesellschaft zur Verbreitung des Evangeliums unter den Heiden“ initiiert hatte. Bereits diese Organisationsform war signifikant: als freier Zusammenschluss religiös mündiger Bürger, unabhängig vom kolonialen Staat und etablierten Kirchen, wurde sie modellhaft für die protestantische Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts. Generell waren es zunächst vor allem religiöse „Non-Konformisten“ bzw. freikirchlich-erweckte Kreise in Großbritannien und auf dem europäischen Kontinent (sowie bald auch in den USA), die Träger dieser neuen Welle protestantischer Missionsinitiativen waren. Erst später wuchs auch in den verfassten Kirchen Europas die Neigung zu missionarischen Engagements. Anfangs wurden die evangelisatorischen Aktivitäten Careys in Bengalen nach Kräften von der lokalen britischen Kolonialverwaltung behindert. Konkret war dies die – mit einem staatlichen Monopol ausgestattete – englische East India Company (EIC), die religiöse Umtriebe als schädlich für ihre kommerziellen Interessen betrachtete. Das ist der Grund, weshalb Carey 1799 aus dem britischen Kalkutta ins (damals noch) dänisch beherrschte Serampore wenige Meilen vor der Stadt umzog und einige Jahre später auch der amerikanische Baptist Adoniram Judson gleich nach seiner Ankunft in Kalkutta 1812 mit einem der nächsten Schiffe nach Burma abgeschoben wurde, woraufhin er dann – im damals noch unabhängigen oberen Landesteil – zum Pioniermissionar unten den Ethnien der Karen wurde. 1813 wurden dann gegen den erbitterten Widerstand der EIC die sogenannte Missionsklausel in ihre vom britischen Parlament erneuerte Charter aufgenommen, die britischen Gesellschaften evangelistische Aktivitäten im Herrschaftsgebiet der EIC gestattete (Text 41). 1833 wurde diese Lizenz dann auch auf nicht-britische Gesellschaften ausgeweitet. In der Folge kamen neben englischen Anglikanern und schottischen Presbyterianern nun auch deutsche und skandinavische Lutheraner, französische Jesuiten, schweizer Reformierte und amerikanische Kongregationalisten, Presbyterianer, Baptisten oder Methodisten ins Land. Die pralle Fülle des euroamerikanischen Missionsprotestantismus hielt so sukzessiv Einzug in Indien. Vielfach war sie auch, anders als in den territorial und konfessionell getrennten Kirchentümern Europas, nebeneinander und zuweilen konkurrierend auf engstem Raum präsent – eine wesentliche Voraussetzung für das frühe Erstarken der indischen Ökumenebewegung gegen Ende des Jahrhunderts. Die protestantische Missionsbewegung trat in Asien nicht nur evangelisatorisch in Erscheinung. Sie erzielte vielerorts Wirkungen weit über den missionsgemeindlichen Bereich hinaus. Als Faktor der Modernisierung und Kanal eines multidirektionalen Wissensaustausches vermittelte sie teils weitreichende Impulse in die traditionsbestimmten asiatischen Gesellschaften. Noch vor der ersten Kapelle wurden vielerorts Schulen und Spitäler errichtet, und in ihrem Kampf gegen manche als „social evils“ bezeichneten traditionellen Sitten und Gebräuche reproduzierte und verstärkte sie zwar auf der einen Seite oft westliche Kulturstereotype, inspirierte zugleich aber auch lokale Reformbewegungen und Emanzipationsbestrebungen.

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Dies gilt insbesondere für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, das Kenneth Scott Latourette als „the great century of protestant missionary advance“ bezeichnet hat. Die Förderung weiblicher Bildung ist ein solcher Bereich, wo westliche Missionare und einheimische Christen vielfach eine führende Rolle beanspruchten. Entwicklung und numerisches Wachstum der protestantischen Missionsgemeinden verlief in den einzelnen Regionen recht unterschiedlich. Auch wenn zahlenmäßig den katholischen Gemeinschaften in vielen Gebieten unterlegen, waren sie doch in den öffentlichen Debatten und interreligiösen Auseinandersetzungen vielfach die tonangebende Referenzgröße. Reform- und Modernisierungsbestrebungen im hinduistischen Indien oder buddhistischen Sri Lanka des ausgehenden 19. Jahrhunderts orientierten sich vielfach am – sowohl bekämpften wie imitierten – Vorbild des Missionsprotestantismus.

2. Südasien (Schwerpunkt Indien): Mission als Faktor der Modernisierung 2.1. Serampore Wie erwähnt, fand der Neueinsatz der protestantischen Mission im Indien des 19. Jahrhunderts – nach früheren Anfängen im südindischen Tranquebar – in Serampore in Bengalen statt. Serampore war eine dänische Mini-Kolonie in der Nähe von Kalkutta (heute: Kolkata), wohin sich die baptistischen Pioniermissionare um William Carey (1761–1834) im Jahr 1799 begaben, nachdem ihnen die britische Kolonialverwaltung den Aufenthalt in der bengalischen Metropole verweigert hatte. Das damals dänische Serampore hingegen entwickelte sich rasch zu einem missionarischen Zentrum mit überregionaler Ausstrahlung. Evangelisatorische Aktivitäten (u. a. Straßenpredigten) waren ein Merkmal dieses Neueinsatzes, Engagement im Erziehungswesen ein anderes. Erste Schulen für Mädchen wurden gegründet und 1818 das Serampore College „zur Ausbildung asiatischer Christen und anderer Jugendlicher in östlicher Literatur und europäischen Wissenschaften“ etabliert (Text 45). Das College entwickelte sich später zu einer renommierten Universität, die überregional akademische Grade verlieh. Besondere Aufmerksamkeit galt der Bibelübersetzung sowie – eng damit verbunden – der Einrichtung einer Druckerpresse. Bis zum Jahr 1820 lag das Neue Testament in bengalischer Übersetzung sowie in Sanskrit, Oriya, Hindi, Marathi, Punjabi, Assamesisch und Gujarathi vor. Insgesamt wurden Teile der Bibel in vierzig Sprachen Indiens und der benachbarten Länder – wie der Malediven, Burmas, Javas und Chinas – übersetzt. Für manche indischen und ostasiatischen Sprachen

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wurden hier zum ersten Mal Typen hergestellt. Aus einem Brief William Wards, eines engen Mitarbeiters Careys, von Ende 1811 geht hervor: „Wenn Du hereinkommst, siehst Du in einem kleinen Raum Deinen Cousin, der eine weiße Jacke trägt. Er liest oder schreibt und beaufsichtigt das Büro, das mehr als 170 Fuß lang ist. Es gibt da Inder, die die Hlg. Schrift in die verschiedenen Sprachen übersetzen oder Korrekturfahnen lesen. Du siehst, in Kästen sortiert, Drucktypen in Arabisch, Persisch, Nagari, Telugu, Panjabi, Bengali, Marathi, Chinesisch, Oriya, Burmesisch, Kanaresisch, Griechisch, Hebräisch und Englisch. Inder hinduistischen, muslimischen und christlichen Glaubens sind da beschäftigt. Sie übersetzen, korrigieren und verteilen. Die vier Männer neben mir ziehen die Blätter mit der Hlg. Schrift in den verschiedenen Sprachen ab; andere falten die Blätter und bringen sie in das große Lager; und sechs Muslime binden sie. Hinter dem Büro befinden sich die Behälter mit den verschiedenen Drucktypen, dahinter stellt eine Gruppe von Männern Tinte her, und an einem geräumigen, offenen, ummauerten runden Platz steht unsere Papiermühle, da wir unser Papier selbst herstellen“ (Text 44).

2.2. Stationen der Missions- und Kolonialgeschichte Die 1813 erneuerte Charter der englischen Ostindiengesellschaft (EIC) brachte Freiheit für die christliche Mission sowie die Einrichtung einer anglikanischen Hierarchie in Indien. Englische und schottische, nicht aber Missionare anderer Nationalität hatten nun Zugang zu den britisch regierten Territorien. Im Jahr 1833 fiel auch diese Beschränkung. In der Folgezeit kamen Missionen aus den verschiedensten Ländern (wie auch die deutsch-schweizerische Basler Mission) nach Indien, und das breite konfessionelle wie nationale Spektrum des Missionsprotestantismus hielt Einzug auf dem Subkontinent. Um 1900 waren etwa allein in Madras City elf verschiedene protestantische Gesellschaften aktiv, die sechs unterschiedliche Denominationen repräsentierten. Insgesamt waren in Indien gegen Ende des 19. Jahrhunderts zehn unterschiedliche baptistische, dreizehn presbyterianische, zwei kongregationalistische, sechs anglikanische, sieben lutherische, drei methodistische sowie drei den Herrnhutern zuzuordnende Gesellschaften tätig. Sie kamen aus England, Schottland, Deutschland, der Schweiz, Kanada, den USA und anderen Ländern. Seit den 1830er Jahren erholte sich auch der Katholizismus schrittweise von dem absoluten Tiefstand zu Beginn des Jahrhunderts. Prominent unter den Rückkehrern waren die Jesuiten. Im Jahr 1838 begannen französische Jesuiten, die verlassenen Territorien der alten Madura-Mission wieder in Besitz zu nehmen. In Bengalen wurden englische, irische und belgische Angehörige der Societas Jesu tätig, im Norden die Kapuziner und im Süden Missionare der Pariser Gesellschaft. Viele andere Orden und Gesellschaften aus verschiedenen europäischen Ländern folgten. Dieser beginnende Aufschwung fällt in das Pontifikat von Gregor XVI. (1831–1846), der zuvor Präfekt der Propaganda Fide – also der römischen Missions-

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zentrale – gewesen war und als Papst die katholische Mission in Indien unter vom Vatikan ernannten „Apostolischen Vikaren“ neu organisierte. Dies führte zum sogenannten Padroado-Propaganda-Konflikt, der zeitweilig die Gestalt eines innerkatholischen Schismas annahm. Er resultierte aus den konkurrierenden Jurisdiktionsansprüchen Portugals, das an seinen alten – aber längst hinfällig gewordenen – Patronatsrechten in Indien festhielt, und dem Bestreben der vatikanischen Zentrale, dort neue Strukturen aufzubauen. Der Konflikt schwelte lange Zeit und fand erst mit dem Konkordat von 1886 ein vorläufiges Ende. Der „große Aufstand“ von 1857/58, später zur ersten nationalen Revolution verklärt, erschütterte die britische Herrschaft in Indien. Er führte zum Ende der Englischen Ostindien-Kompanie. Britisch-Indien – ein Konglomerat aus direkt beherrschten Territorien und begrenzt autonomen Fürstenstaaten – wurde nun Kronkolonie und „Juwel“ im Imperium der Queen Victoria, die sich im Jahr 1877 als Kaiserin von Indien ausrufen ließ. Religionspolitisch vertrat ihre Regierung die Linie strikter Neutralität gegenüber den verschiedenen Religionen des Landes. Die christlichen Gemeinschaften erlitten durch den Aufstand Rückschläge, wuchsen aber beständig weiter. Die Zahl der Katholiken um 1860 wird auf etwas über eine Million geschätzt. 1900 waren es ca. 1 920 000. Die entstehenden protestantischen Gemeinden waren naturgemäß kleiner. Sie erlebten aber in der Folgezeit ein sehr viel stärkeres Wachstum: von ca. 139 000 um 1860 auf ca. 1 200 000 um 1900. Den orthodoxen bzw. syrischen Gemeinschaften Indiens gehörten um 1900 ca. 650 000 Christen an.2

2.3. Mission als Faktor der Modernisierung Die missionarische Bewegung führte nicht nur zur Gründung konfessionell unterschiedener (und zahlenmäßig überschaubarer) Missionsgemeinden. Sie war auf vielfältige Weise im öffentlichen Raum präsent durch ihre Publizistik, ihre sozialen (und sozialpolitischen) Aktivitäten, die Einführung (bzw. Nutzung) neuer Technologien sowie ihr Engagement im medizinischen und im Bildungsbereich. Vielfach wurden Missionare wahrgenommen als Pioniere und Multiplikatoren westlicher Modernität. Beispiel Druckerpresse: Sie gehörte zur Grundausstattung fast jeder größeren Missionsstation. Im Madras des frühen 19. Jahrhunderts etwa waren die meisten privat betriebenen Pressen im Besitz christlicher Missionare. Deren Techniken religiöser Publizistik inspirierte umgekehrt die Hindus, und Gründungen wie die der Hindu Tract Society folgten dem Vorbild der christlichen Madras Religious Tract Society. Fragen der Kaste, der Kinderheirat und anderer als „social evils“ verurteilten Traditionen der Hindu-Gesellschaft waren nicht nur Gegenstand besorgter Beratungen auf Missions-

2 Religionsstatistiken hier und in den folgenden Abschnitten nach Moffett, Samuel H., A History of Christianity in Asia. Vol. II: 1500 to 1900, Maryknoll, New York 2005.

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konferenzen. Sie wurden auch zum Thema öffentlicher Kampagnen und Vorstöße an die Kolonialregierung. Das frühe Beispiel einer erfolgreichen Kampagne war der Kampf gegen „Sati“, den Brauch der Witwenverbrennung, deren Abschaffung in Bengalen insbesondere auch der große Hindu-Reformer Ram Mohan Roy forderte. Im Jahr 1829 wurde diese Praxis verboten. Medical Mission – also der Betrieb von Spitälern und Dispensatorien, die Entsendung von Ärzten und die medizinische Ausbildung einheimischer Helfer – war von Anfang an ein zentraler Aspekt missionarischer Arbeit. Später wurde sie zum Markenzeichen insbesondere amerikanischer Gesellschaften. Besonders weitreichend war der Einfluss der Missionen im Bildungsbereich. Seit den Tagen des schottischen Bildungspioniers Alexander Duff (1806–1882) spielten christliche Colleges – wie das Scottish Church College in Kalkutta oder das Wilson College in Bombay – bei der Verbreitung westlicher Bildung eine wichtige Rolle. Die Absolventen dieser Colleges fanden gute Posten im staatlichen Verwaltungsdienst, aber auch als Richter, Rechtsanwälte, Lehrer und Professoren. Seit Mitte des Jahrhunderts waren die missionarischen Gründungen stärkerer Konkurrenz ausgesetzt, durch staatliche Institutionen wie die im Jahr 1857 etablierte Madras University sowie seit den 1880er Jahren zunehmend auch durch Schulgründungen der Theosophen. Gleichwohl behaupteten die Missionen ihre starke Position im Bildungssektor, und die indischchristliche Gemeinschaft konnte sich rühmen, direkt nach der traditionellen Elite der Brahmanen und trotz ihrer heterogenen Zusammensetzung den höchsten Alphabetisierungsgrad insbesondere in Südindien aufzuweisen. Eine renommierte Einrichtung wie das Madras Christian College – 1837 für die oberen Hindu-Klassen gegründet – fungierte als Eliteschmiede nicht nur für die Mehrheit der Hindu-Studenten, sondern auch für künftige christliche Führungspersönlichkeiten wie den späteren ersten indischen Bischof V. S. Azariah (1874–1945). Auch andere von den Missionen betriebene Colleges erfreuten eines überproportionalen Andrangs. Phänomenal waren insbesondere die Erfolge im Bereich der weiblichen Bildung. Christliche Frauen wiesen in Madras den höchsten Bildungsgrad auf. Durch die daraus resultierende Führungsrolle im Bereich der female education zählten indische Christen sehr bald zu den Kernmerkmalen der christlichen Progressivität. Über die Religionsgrenzen hinweg genoss eine christliche Persönlichkeit wie die aus einer Brahmanen-Familie stammende Erzieherin und Sozialaktivistin Pandita Ramabai (1858–1922) Respekt und Anerkennung. Nicht nur in christlichen Kreis galt sie als sichtbarer Beweis für die emanzipatorische Kraft des Christentums.

2.4. Reaktionen, Rezeption und Impulse außerhalb der Missionskirchen Es zählt zu den Merkmalen der indischen Christentumsgeschichte, dass die Rezeption missionarischer Impulse vielfach auch außerhalb der missionskirchlichen Ka-

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näle erfolgte. Ein frühes Beispiel stellt der bengalische Reformer Raja Ram Mohan Roy (1772–1833) dar, einer der führenden Köpfe im kulturellen Leben Bengalens des frühen 19. Jahrhunderts und oft als „Vater des modernen Indiens“ bezeichnet. Selbst zeit seines Lebens Hindu, hat er Jesus als den „vollkommenen Lehrer“ bezeichnet und den von ihm verworfenen volkstümlichen Hinduismus u. a. im Licht der Ethik Christi und der Bergpredigt zu reformieren gesucht. „Die Gebote Jesu, des Führers zu Frieden und Glück“, lautet der Titel einer von ihm im Jahr 1820 auf Bengali und Englisch veröffentlichten Schrift. Sie enthält Auszüge der ethischen (nicht aber dogmatischen) Passagen des Neuen Testaments (Text 51). Das Angebot der Serampore-Missionare, Christ zu werden, lehnte er ab. Stattdessen begründete er mit dem Brahmo Samaj eine Bewegung, die im Hindu-Revival des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen sollte. Umgekehrt fanden aber auch immer wieder Einzelne durch ihn den Weg zur Bibel und in die christliche Kirche. Auch andere Hindu-Reformbewegungen waren in unterschiedlichen Maß sowohl von christlichen Impulsen wie vom Gegensatz zum Missionsprotestantismus bestimmt. Ein Pendant zum ursprünglich in Bengalen beheimateten Brahmo Samaj, der zunehmend Anhänger in ganz Indien fand, war der 1867 in Bombay gegründete Prarthana Samaj. Die Ramakrishna Mission mit ihrer Lehre, dass alle Religionen letztlich eins seien, entwickelte sich seit dem Jahr 1870 aus dem Leben und der Lehre des Ramakrishna Paramahamsa. Der Arya Samaj, eine stärker militante Organisation zur Reform und Verteidigung des Hinduismus, begann 1875 in Bombay. International großes Aufsehen erregte seit seinem Auftritt im Jahr 1893 auf dem Weltparlament der Religionen Swami Vivekananda (1863–1902). Als wandernder Mönch hatte er zuvor stets seine zwei Lieblingsbücher mit sich getragen: die Bhagavad Gita und eine Schrift von der „Nachfolge Christi“. Das Christentum enthalte nichts Wertvolles – so seine Botschaft –, was sich nicht auch und besser im Hinduismus finde. Indische Christen wiederum sahen in den vielfältigen sozialen und religiösen Reformbewegungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts das „Ferment“ der christlichen Botschaft wirksam. Die Rückbesinnung auf die ethischen Dimensionen der Hindu-Tradition – so eine um 1900 vielfach geäußerte Meinung – sei Folge der Auseinandersetzung mit der Botschaft Jesu.

2.5. „Pioneers of Indigenous Christianity“ Früh gab es unter indischen Christen eine eigenständige Rezeption biblischer Impulse. Krishna Mohan Banerjee (1813–1885) etwa, einer der ersten Konvertiten von Alexander Duff und später Professor am Bishop’s College in Kalkutta, stellte fest: „Having become Christians, we have not ceased to be Hindoos“. Er verwies auf Parallelen zwischen dem Alten Testament und den Veden, den heiligen Schriften der Hindus. Ganz ähnlich bezeichnete A. S. Appasamy Pillai (1848–1926) die Rigveden, also den ältesten Teil der vier Veden, als „Antizipation“ des Christen-

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tums. Upadyaya Brahmabandhav (1861–1907), aus einer brahmanischen Familie stammend, erst anglikanisch getauft und später zum Katholizismus konvertiert, versuchte das Verhältnis von Christentum und Hinduismus im Rahmen des thomistischen Konzepts von Natürlichem und Übernatürlichem zu bestimmen. Stimmen wie diese hat Kaj Baago im Jahr 1969 als „Pioneers of Indigenous Christianity“ bezeichnet3 und eine systematische Sicherung und Erforschung ihrer literarischen Hinterlassenschaft in Gang gesetzt. Andere indische Christen suchten den neuen Glauben in Formen der traditionellen Kultur zum Ausdruck zu bringen. H. A. Krishnapillai (1827–1900) etwa, Verfasser des Rakshanya Yatrikam („Weg der Erlösung“), war ein bekannter tamilischchristlicher Dichter. Er versuchte tamilisch-christliche Gesänge (lyrics) analog zu den klassischen Hindu-Epen zu verfassen. Krishnarao Sangle (1834–1908) aus Ahmednagar komponierte um das Jahr 1860 auf Marathi Lieder in indischen Rhythmen. Um dieselbe Zeit begann Vishnupant Karmakar, die indische Form des Oratoriums (erzählerisches Singen) des Kirtan für christliche Werke zu nutzen. Seit den 1860er Jahren gab es erste lokale Bestrebungen, christliche Gemeinschaften oder Kirchen frei von missionarischer Kontrolle zu gründen. Frühe Beispiele sind die „Hindu Church of the Lord Jesus Christ“ (1858), „The Bengal Christian Association for the promotion of Christian truth“ (1868) oder der „Bengal Christian Samaj“ (1887). Überregionale Bedeutung erlangte seit dem Jahr 1886 das in Madras gestartete Projekt einer „National Church of India“, auf das später eingegangen wird.

2.6. Mass Movements Erfolge verzeichneten die Missionen nicht nur bei westlich gebildeten Indern. Seit den 1860er Jahren kam es in verschiedenen Regionen, ganz unabhängig voneinander, vermehrt zum Übertritt ganzer ethnischer oder sozialer Gruppen insbesondere unter den Angehörigen der niedrigsten Kasten (Dalit). Solche „Massenbekehrungen“ waren zwar keine ganz neue Erscheinung. Bereits im 16. Jahrhundert hatte es unter der Fischerkaste der Parava im Süden oder im frühen 19. Jahrhundert unter den Nadar im ebenfalls südindischen Distrikt Tirunelveli ähnliche Bewegungen gegeben. Aber sie veränderten das soziale Profil insbesondere der entstehenden protestantischen Gemeinden, die bisher stärker auf das Prinzip der Einzelbekehrung gesetzt hatten. Bemerkenswerterweise waren diese GruppenÜbertritte zumeist das Ergebnis lokaler Initiativen. „Significantly, mass movements began not with the missionaries but under Indian Christian leadership, and they centered not among the elite of Indian society but among the lowest of the

3 Baago, Kaj, Pioneers of Indigenous Christianity, Bangalore/Madras 1969 passim.

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low, the ‚outcastes‘ (better called dalits, the ‚oppressed‘)“.4 Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten eine Million Dalit das Christentum angenommen. Solche Massen-Bewegungen fanden etwa im heutigen Andhra Pradesh unter Telugu-sprechenden Gruppen statt und führten zu einem rapiden Kirchenwachstum bei Baptisten und Lutheranern. Ein anderer regionaler Schwerpunkt war der Punjab, wo sich die Kaste der Chuhra presbyterianischen Gemeinden anschloss. In Chota Nagpur setzte ein Zustrom zu Anglikanern und Katholiken ein. Eine andere Welle des Übertritts erfolgte unter den Bergstämmen in der Grenzregion zwischen Indien und China und führte zu einem starken Wachstum baptistischer Gemeinden in Assam und den Naga Hills.

2.7. Indische Christen als „progressive community“ Regional lag der Schwerpunkt des indischen Christentums im Süden des Landes. Dabei entwickelte sich Madras (heute Chennai) gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Zentrum einer kleinen, aber einflussreichen Elite protestantischer Christen. Diese Gruppe umfasste Lehrer, Rechtsanwälte, Staatsangestellte, Mediziner und andere sozial hochstehende und finanziell unabhängige Personen und erwarb sich den Ruf einer „progressiven Gemeinschaft“. Selbst Minderheit innerhalb einer Minderheit, sah sie sich dennoch an der Spitze des „sozialen, religiösen und intellektuellen Fortschritts“ des ganzen Landes. Sie bildete ihre eigenen Gesellschaften (wie die „Madras Native Christian Association“) und suchte Verbindung zu analogen Vereinigungen indischer Christen in anderen Landesteilen und Übersee (etwa in Südafrika und Großbritannien). Sie startete zahlreiche Initiativen und publizierte ihre eigenen Zeitschriften und Periodika. Ein prominentes Beispiel ist der im Jahr 1890 gegründete „Christian Patriot“, dessen Name bereits Programm war. Es galt als Christ – in Zeiten des nationalen Erwachens – zugleich Patriot zu sein. Der Paternalismus westlicher Missionare wurde darin ebenso scharf kritisiert wie hindu-fundamentalistische Tendenzen in Teilen der indischen Nationalbewegung. Das Blatt erreichte eine beachtliche Verbreitung. In New York gehörte J. R. Mott zu den Abonnenten, aus Südafrika kommentierte Gandhis Journal Indian Opinion. Die Weltmissionskonferenz Edinburgh wird im ‚Christian Patriot‘ als „universales Ereignis“ gewürdigt und zugleich die geringe Zahl „orientalischer“ Delegierter kritisiert. Leserbriefe bemängeln den Auftritt des Pioniers der christlichen Ökumene-Bewegung V. S. Azariah in Edinburgh als zu „schüchtern“ und erwarten von der Konferenz „absolute independence“ für indische Christen. Großes Interesse gilt den Emanzipationsbestrebungen einheimischer Christen in anderen Ländern, und V. S. Azariah wird – nach seiner Erhebung zum ersten indischen Bischof der

4 Moffett, Asia, 420.

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anglikanischen Kirche im Jahr 1912 – in eine Reihe mit seinem „großen afrikanischen Vorgänger“ Bischof S. A. Crowther aus Nigeria gestellt.

2.8. Sri Lanka Das mehrheitlich buddhistische Sri Lanka (damals Ceylon) – seit 1803 britische Kronkolonie – unterschied sich von Indien u. a. durch seinen anders gearteten religiösen Kontext. Bemerkenswert war hier eine Serie öffentlicher Streitgespräche zwischen Christen und Buddhisten zwischen den Jahren 1865 und 1899, die weit über das Land hinaus für Aufsehen sorgten. So insbesondere die berühmte Religionsdebatte von Panadura im Jahr 1873, bei der sich der singhalesische methodistische Geistliche David de Silva und der buddhistische Mönch Mohottivatte Gunanda Thera vor 4000 Zuhörern gegenüberstanden (Text 52). Beide Seiten beanspruchten den Sieg für sich. In jedem Fall gab diese Debatte den Buddhisten nach einer langen Phase der Stagnation erheblichen Auftrieb. Aber auch die christliche Gemeinschaft wuchs weiter. Um 1900 machte sie mit ca. 379 000 Mitgliedern (davon 296 000 Katholiken und 83 000 Protestanten) 10,6 % der Bevölkerung des Insellandes aus.

2.9. Myanmar Myanmar (Burma) unterstand erst seit dem Dritten Anglo-Birmanischer Krieg 1885/86, der zur Annexion von Oberburma führte, ganz britischer Kontrolle. Im Jahr 1824 hatten die Briten erstmals Teile des Landes besetzt. Aber bereits seit 1813 waren der bereits erwähnte Adoniram Judson sowie später andere amerikanische Baptisten dort als Missionare tätig – mit dem Ergebnis, dass bis heute die Mehrheit der christlichen Bevölkerung des Landes einer der baptistischen Kirchen angehört. Erfolg hatten die baptistischen Prediger freilich vor allem bei bestimmten ethnischen Minoritäten – der Karen (seit 1827), der China (seit 1845) und der Kachin (seit 1876), die teils in geschlossenen Gruppen übertraten –, kaum jedoch unter den buddhistischen Burmesen selbst. Dies gilt auch für andere christliche Gemeinschaften wie die Anglikaner, die sich in den britisch kontrollierten Territorien niederließen, aber auch außerhalb dieser Gebiete tätig wurden. So errichteten sie in den 1870er Jahren auf Einladung des König Mindon, der Burma von 1853 bis 1878 regierte, im damals noch unabhängigen Mandalay Schulen (Text 50). Vereinzelt hatten sich in Burma bereits seit dem 16. Jahrhundert auch Katholiken niedergelassen, von denen zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum noch Spuren zu finden waren. Eine Erholung setzte in den 1860er Jahren ein. Um 1900 gab es ca. 70.000 Katholiken und 162.000 Protestanten im Land. Beide Gruppen erfuhren in der Folgezeit ein rapides Wachstum.

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3. Nordostasien (China, Japan, Korea): Opiumhandel und Bibelschmuggel

3. Nordostasien (China, Japan, Korea): Opiumhandel und Bibelschmuggel China, Japan und Korea waren um 1800 für Europäer (und insbesondere für westliche Missionare) „verschlossene“ Gebiete. Ebenfalls gemeinsam ist diesen drei Ländern, dass sie im Lauf des 19. Jahrhunderts gewaltsam für den Handel mit der Außenwelt „geöffnet“ wurden – China seit 1842 zunächst durch die Briten, als Folge der Opiumkriege und des Systems der „Ungleichen Verträge“ (mit massiven Souveränitätseinschränkungen für das Kaiserreich), Japan seit 1854/55 durch amerikanische Kanonenboote, und Korea seit dem Jahr 1876. In Korea waren es freilich nicht westliche Mächte, sondern der neu erwachte japanische Imperialismus, der die Öffnung dieser „abgeschotteten“ Nation erzwang und das Land schließlich im Jahr 1910 auch formell okkupierte – wobei sich die in diesem Land entstehenden protestantischen Gemeinden in singulärer Weise zum Träger des koreanischen Nationalbewusstseins entwickelten.

3.1. China In China existierten um 1800 nur noch Überreste der früheren katholischen Gemeinden. Während es um 1700 noch ca. 800 000 katholische Christen im Reich der Mitte gegeben hatte, dürfte ihre Zahl um 1800 auf ca. 187 000 zurückgegangen sein. Sie überlebten unter schwierigsten Bedingungen. 1800 erneuerte ein Edikt des Kaisers Jiaqing das seit dem frühen 18. Jahrhundert bestehende Verbot des Christentums. Zwei schwere Verfolgungen im Jahr 1805 und 1811 beendeten zudem die seit 200 Jahren bestehende Präsenz katholischer Gelehrter am Kaiserhof. In der Folge nahmen die Repressionen weiter zu. Selbst Sprachunterricht für Ausländer wurde mit dem Tode bestraft. Die Anfänge protestantischer Präsenz unter den Chinesen lagen darum zunächst weitgehend außerhalb des Reiches der Mitte. Da missionarische Aktivitäten in China selbst strikt verboten waren, plädierte der Brite Robert Morrison (1782–1834), vielfach als Pionier der protestantischen China-Mission bezeichnet, für die Ausbildung von Laien-Evangelisten außerhalb des Landes – in dem breiten Gürtel chinesischer Auslandsgemeinden, der sich vom heutigen Thailand über Malaysia bis hin zum indonesischen Archipel erstreckte. Im Jahr 1817 wurde ein solcher Stützpunkt in Malakka errichtet. Er entwickelte sich rasch zu einem Zentrum missionarischer Übersetzungs-, Presse- und Bildungsaktivitäten. Auch der Deutsche Karl Gützlaff (1803–1851) erwarb seine chinesischen Sprachkenntnisse zunächst in den Diaspora-Gemeinden in Java, Singapur und Thailand, bevor er zwischen 1831 und 1833 seine berühmten Reisen entlang der chinesischen Küste unternahm. Dabei schmuggelte er, notgedrungener Ma-

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ßen auf Opium-Booten, christliche Traktate ins Land. Die Gützlaff ’sche Bibelübersetzung und insbesondere seine Übertragung von Teilen des Alten Testaments sollten später bei der Genese der revolutionären Taiping-Bewegung in China eine wichtige Rolle spielen (s. dazu Abschnitt 5.3). Seit 1842 war Missionaren (als Folge des Ersten Opiumkriegs 1840–1842) erstmals der Aufenthalt in fünf Vertragshäfen sowie in dem nun britisch gewordenen Hongkong gestattet. Um das „herrliche Evangelium“ auch im Landesinnern zu verbreiten, entwickelte Gützlaff das Projekt einer Evangelisierung des Riesenreiches durch einheimische Akteure. Zwar scheiterte das Projekt in der von ihm entwickelten Gestalt. Es gab aber in den 1860er Jahren den Anstoß für die Gründung der interkonfessionellen „China-Inland-Mission“ durch den Briten T. Hudson Taylor, die sich – offen für Männer und Frauen unterschiedlicher Denomination und Nationalität – bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zur größten protestantischen Missionsorganisation in China entwickelte. Um 1880 überstieg dabei die Zahl der chinesischen Evangelisten die der ausländischen Missionare. Der Zweite und der Dritte Opium-Krieg führten zu den Verträgen von Tianjin (1858) und Peking (heute: Beijing) (1860), die den Missionen beider Konfessionen freien Zugang auch ins Landesinnere ermöglichten. Zu trauriger Berühmtheit kam der Vertrag von Peking dadurch, dass durch eine Fälschung des als Übersetzer fungierenden französischen katholischen Missionars Abbé Delamarre eine Klausel mit zusätzlichen Sonderrechten in den Vertragstext hineingeschmuggelt wurde. Die Auswirkungen der erzwungenen Öffnung waren ambivalent. Einerseits stieg nun die Zahl der in China tätigen protestantischen und katholischen Gesellschaften bzw. Orden sprunghaft an. Auf der anderen Seite führte das Prinzip der Exterritorialität, das die Missionare (und vielfach auch ihre einheimischen Schutzbefohlenen) der Rechtseinwirkung der chinesischen Behörden entzog, zu zahlreichen lokalen Konflikten. Vor allem aber blieben die „Ungleichen Verträge“ bis heute als nationale Demütigung Chinas im kollektiven Gedächtnis haften. Insbesondere Frankreich nutzte das Instrument des „Katholikenprotektorats“, um seine eigenen macht- und wirtschaftspolitischen Interessen im Land zu verfolgen. Um 1860 gab es in China nur wenige getaufte Protestanten. Für das Jahr 1870 wird die Zahl der katholischen Christen mit 404 000 angegeben. Um 1900 dürfte die Zahl der Protestanten auf ca. 436 000 und die der Katholiken auf 1 200 000 angestiegen sein. In den katholischen Gemeinden, die ja lange im Untergrund überlebt hatten, übernahmen nach 1860 zunehmend europäische Geistliche wieder die Kontrolle. Das führte wiederholt zu Konflikten und Beschwerden einheimischer Christen, wie einige jüngst in den vatikanischen Archiven aufgefundene Dokumente zeigen5. Die etablierten protestantischen Missionen wurden neben ihrem evangelisatorischem Engagement v. a. auch im Bildungssektor und im sozialen Be-

5 Bays, Daniel H., A New History of Christianity in China, Malden, MA/Oxford, UK 2012, 52f.

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3. Nordostasien (China, Japan, Korea): Opiumhandel und Bibelschmuggel

reich aktiv. Über die Gründung von Gemeinden hinaus wirkten sie so in eine breite Öffentlichkeit hinein. Zahlreiche renommierte Bildungseinrichtungen entstanden seit den 1880er Jahren ursprünglich als missionarische Gründungen, vom St. John’s College in Shanghai (1879), der Shantung Christian University (*1904) bis zur Tsinghua-University in Peking (1911) und anderen Institutionen eines multidisziplinären Wissenstransfers. Gleiches gilt für Gründung von Krankenhäusern und journalistische Unternehmungen. Eines der prominentesten säkularen chinesischen Journale in den 1880er Jahren namens Wangua gongboa etwa hatte sich aus missionarischer Publizistik entwickelt. 1895 erfuhr China mit der Niederlage im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg eine weitere nationale Demütigung. Die Rückständigkeit seiner politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen war unübersehbar. Sie löste vielfältige Reformbestrebungen sowie heftige Auseinandersetzungen zwischen Reformbefürwortern und deren Gegnern am Kaiserhof und in der Öffentlichkeit aus. Im Jahr 1905 wurde das traditionelle konfuzianische Prüfungssystem abgeschafft. In großer Zahl strömten chinesische Studenten nun ins Ausland, etwa nach Tokio. Bereits zuvor hatte sich in der chinesischen Diaspora außerhalb des Kaiserreichs eine westlich gebildete Elite formiert, die zunehmend mit dem Christentum als Träger gesellschaftlicher Modernisierung sympathisierte. Sun Yat-Sen beispielsweise, ab 1912 erster provisorischer Präsident des republikanischen Chinas, war getaufter Christ. Er war in den 1880er Jahren auf einer anglikanischen Schule in Hawaii erzogen worden und hatte sich danach, ebenso wie verschiedene seiner revolutionären Weggefährten, einer christlichen Kirche angeschlossen. Der sogenannte Boxeraufstand der Jahre 1899/1901, der sich gegen die ausländischen „Barbaren“ im Allgemeinen und das westliche Christentum im Besonderen richtete, war zwar eine xenophobe Gegenbewegung. Etwa 250 ausländische Missionare und 30 000 chinesische Christen fielen ihm zum Opfer. Aber er beschleunigte zugleich die Indigenisierung der protestantischen Kirchen des Landes. Es bildeten sich unabhängige christliche Gemeinschaften unter chinesischer Führung, und im Jahr 1903 wurde in Shanghai die Chinese Christian Union (Jidutu hui) ins Leben gerufen. Auf der ersten Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 plädierte der chinesische Delegierte Cheng Ching Yi unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit für eine vereinte chinesische Kirche, frei vom Denominationalismus der Missionare. Ein Jahr später (1911) stürzte die Qing-(Mandschu-)Dynastie, und die chinesische Edinburgh-Fortsetzungskonferenz in Shanghai im Jahr 1913 verwies mit Nachdruck auf die „gegenwärtig beispiellose Gelegenheit“, die sich nun für eine Evangelisierung des „ganzen“ Reichs der Mitte biete. Erforderlich dafür sei freilich eine verstärkte Entwicklung des nationalen und „einheimischen Charakters“ der Kirche unter chinesischer Führung (Text 71a). Diese Erwartung einer raschen Christianisierung des Riesenreichs hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Was stattdessen folgte, war der Erste Weltkrieg als moralische Katastrophe des westlichen Christentums. Später kam die Enttäuschung über die unerfüllten Hoffnungen

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Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

hinzu, die die „Vierzehn Punkte“ des amerikanischen Präsidenten (und Presbyterianers) Woodrow Wilson geweckt hatten. Beides waren Faktoren, die u. a. zur „antichristlichen Bewegung“ im China der 1920er Jahre beitrugen (Text 81).

3.2. Japan Auch Japan zählte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu den „geschlossenen“ Ländern. Erst ein amerikanisches Flottengeschwader erzwang seit 1853/54 die schrittweise Öffnung japanischer Häfen für den Handel (und als Zwischenstation auf der Seeroute von San Francisco nach Shanghai). Seit den 1870er Jahren suchte das Land der aufgehenden Sonne dann von sich aus den Anschluss an die westliche Welt. Dabei modernisierte es sich in einem atemberaubenden Tempo. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Japan zum Modell asiatischer Progressivität avanciert, vielfach bewundert und imitiert von den Eliten anderer asiatischer Länder. Vor dem Aufkreuzen amerikanischer Kanonenboote 1853/4 war allein den Holländern als einziger europäischer Nation der Handel mit Japan gestattet, beschränkt auf einen einzigen Hafen. Schiffbrüchige wurden bei nächster Gelegenheit wieder abgeschoben, und die Einfuhr christlicher Bücher war strengstens untersagt. Noch im Jahr 1848 etwa musste ein gestrandeter amerikanischer Geschäftsmann seine Nicht-Zugehörigkeit zum Katholizismus dadurch unter Beweis stellen, dass er – so das für verdächtige Japaner übliche Testverfahren – auf ein Madonnen-Bild trat. Er überstand das anschließende Verhör beim Gouverneur von Nagasaki nur deshalb, weil der Dolmetscher die Auskünfte des Amerikaners über seine Religion nach Ausweis des erhaltenen Protokolls bewusst falsch übersetzte (Text 56a). Auch nach den ersten Verträgen mit westlichen Mächten blieb das Verbot des Christentums zunächst bestehen. Amerikanische Missionare, die seit 1859 ins Land kamen, durften anfangs nur als Lehrer oder Ärzte in den Ausländervierteln der Hafenstädte tätig werden. Die „verborgenen Christen“ (Sempuku Kirishitan), die über zwei Jahrhunderte im Untergrund überlebt hatten und sich 1865 erstmals einem europäischen Priester zu erkennen gaben, wurden weiterhin verfolgt (s. dazu Abschnitt 5.2). Eine grundsätzliche Änderung zeichnete sich erst als Folge der sogenannten MeijiRestauration des Jahres 1868 ab. In einem Putsch wurde das Tokugawa-Shogunat – die feudale Militärregierung, die seit 1603 geherrscht hatte – entmachtet und der Kaiser als Herrscher des Landes restituiert. Fast 300 Jahre lang hatte er nur als machtloses Symbol nationaler Identität fungiert. Dabei ging es den Reformern keineswegs um eine Wiederherstellung des alten Systems, sondern um eine umfassende Neugestaltung Japans zu einer Nation, die dem Westen gewachsen war. Das neue Schlagwort hieß „(Westliche) Zivilisation und Aufklärung“. Japanische Delegationen reisten im Jahr 1871 nach Europa und in die USA, um die dortigen Rechts-, Staats-, Wirtschaftsund Erziehungssysteme zu studieren und moderne Technologien kennenzulernen. Sie

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3. Nordostasien (China, Japan, Korea): Opiumhandel und Bibelschmuggel

kamen unter anderem mit der Erkenntnis zurück, dass Religionsfreiheit eine unverzichtbare Voraussetzung für die internationale Anerkennung Japans als „zivilisierter“ Nation war. 1873 wurden die öffentlichen Tafeln mit dem Verbot des Christentums entfernt (Text 56d). Formell aufgehoben wurde dieses aber erst mit der im Jahr 1889 promulgierten Meiji-Verfassung, die erstmals den Grundsatz der Religionsfreiheit festschrieb (Text 56e). Zugleich aber schrieb das 1890 erlassene „Reskript über die Erziehung“ die Kaiserverehrung als geistigen Mittelpunkt des modernen Japan fest, die mit dem Staats-Shinto fest verflochten war. Die Missionare, die seit dem Jahr 1859 sukzessive einströmten, kamen aus verschiedenen Ländern. Bei den Katholiken waren es insbesondere Franzosen – darunter der Priester Bernard Petitjean (1829–1884), der 1865 erstmals den Untergrundkatholiken (Sempuku Kirishitan) begegnete (s. Abschnitt 5.2). Die protestantischen Pioniere kamen zunächst aus Amerika (Presbyterianer, Kongregationalisten, Methodisten, Baptisten und Episkopalisten), später gefolgt von Missionaren anderer Nationalität. Im Jahr 1861 begann auch die russisch-orthodoxe Kirche eine Mission, zuerst in Hokkaido und dann in Tokio. 1873 waren insgesamt 53 protestantische, katholische und orthodoxe Missionare in Japan tätig. Wichtiger aber waren die Initiativen japanischer Konvertiten. Von Anfang an war das japanische Christentum des 19. Jahrhunderts eine primär urbane Bewegung unter Studenten und Intellektuellen der oberen Mittelklasse. 30% der frühen japanischen Christen kamen aus den Reihen der Samurai – der infolge der MeijiRestauration entmachteten, aber immer noch einflussreichen Klasse des Kriegeradels. „Japanese students, usually from the samurai background, were the most open social group in the nation to Christian evangelism, and they became electric proponents of the Christian faith. They gave the protestant movement its first outstanding national leaders“.6 Masahisa Uemura (1858–1925) gründete 1872 zusammen mit einigen heimlich getauften Mitstudenten (bzw. Mitschülern) in Yokohama die erste protestantische Gemeinde. Aus dem „Bund der Bekenner Jesu“, einer christlichen Studentenverbindung in Sapporo (Hokkaido), kam Kanzo Uchimura (1861–1930), der später die japanische Nicht-Kirchen-Bewegung (Mukyokai) ins Leben rief (Text 78). Internationale Bekanntheit erlangte Niijima Jo (Joseph Neesima, 1843–1890), der im Jahr 1875 in Kyoto mit der Doshisha die größte der frühen christlichen Schulen gründete. Später erhielt die Doshisha den Status einer Universität. „Christianity as wave of the future“ und als Kanal modernen Wissens, unerlässlich zur Überwindung überkommener Rückständigkeit – das war eine unter gebildeten Japanern zeitweilig weit verbreitete Vorstellung. Vereinzelt gab es sogar Überlegungen (etwa des einflussreichen Erziehungswissenschaftlers Fukuzawa Yukichi), das Christentum zur Nationalreligion zu erklären. „Our Japan is a new

6 Moffett, Asia, 514.

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Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

country. The old institutions and ancient customs are fast dying out … Buddhism is gone. Confucianism has lost its power“ – erklärten beispielsweise um das Jahr 1885 Dozenten der Doshisha in Kyoto.7 Das Christentum verbreite „sich wie ein Grasfeuer, so dass es in Stadt und Land keinen Platz gibt, wo es nicht gepredigt wird“, beklagte ein buddhistischer antichristlicher Traktat aus dem Jahr 1881 (Text 53). Zu Beginn der 1890er Jahre war dann freilich eine nationalistische Gegenreaktion gegen die unkritische Übernahme westlicher Vorbilder zu beobachten, verbunden mit einem Wiederaufleben von Buddhismus und Shinto. Bei Protestanten wie bei Katholiken gingen die teils enormen Zuwachsraten der 1870er und 1880er Jahre deutlich zurück. Insgesamt blieben die japanischen Christen eine kleine, aber vielfach tonangebende Minderheit. Der nationale Enthusiasmus wurde befördert durch die Siege Japans in den Kriegen gegen China (1895) und Russland (1904/05). Letzterer war ein Ereignis von gesamtasiatischer Bedeutung. Erschütterte er doch, auf dem Höhepunkt des westlichen Kolonialismus, nachhaltig den Mythos europäischer Unbesiegbarkeit. Er verstärkte panasiatische Bestrebungen auf dem ganzen Kontinent und führte zugleich zu einer Intensivierung der Kontakte japanischer Christen mit anderen asiatischen Kirchen. Auf indische Initiative hin kam es im Jahr 1906 zum Besuch einer Delegation japanischer Christen in Indien. Ihre Vortragstour durch den ganzen Subkontinent stieß auf enormes Interesse. Japan wurde dabei als Modell erfolgreicher Emanzipation auch für andere asiatische Kirchen präsentiert. Einheimische Führungspersönlichkeiten, eine weitestgehende finanzielle und organisatorische Unabhängigkeit von den Missionaren sowie die Förderung von Bildung speziell für Frauen seien Teil des japanischen Erfolgsrezeptes, so die Redner. Das Christentum sei zwar aus dem Westen in das Land der aufgehenden Sonne gekommen. Aber „… we immediately make it our own – make it Japanese“. Man sei sogar bestrebt, eine dem Westen überlegene Form des Christentums zu entwickeln.8 Zu Indien und anderen asiatischen Kirchen bestehe ein enges Gefühl der Zusammengehörigkeit. Im Jahr 1907 fand in Tokio, weitgehend organisiert vom japanischen Zweig der ‚World’s Student Christian Federation‘, eine internationale Konferenz statt. Es war die erste ökumenische Versammlung in Asien mit einer Mehrheit asiatischer Delegierter. Zentrales Thema: Asien könne nur durch seine eigenen Söhne evangelisiert werden. Zugleich gehöre die Zukunft den „nationalen Kirchenorganisationen“. Die Rolle Japans bei der Evangelisierung des ganzen Kontinents wurde erörtert. Auf der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 war Japan mit einer kleinen, aber prominenten Delegation einheimischer Kirchenführer vertreten. Bei

7 Thelle, Notto R., Buddhism and Christianity in Japan. From Conflict to Dialogue, 1854– 1899, Honolulu 1987, 61. 8 Koschorke, Klaus/Hermann, Adrian/Burlacioiu, Ciprian/Mogase, Phuti (Hrsg.), Discourses of Indigenous Christian Elites in Colonial Societies in Asia and Africa around 1900. A Documentary Sourcebook from Selected Journals, Wiesbaden 2016, 128f.

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3. Nordostasien (China, Japan, Korea): Opiumhandel und Bibelschmuggel

den Edinburgh-Nachfolgekonferenzen in Asien in den Jahren 1912/13 kam es in Japan zu separaten Tagungen einheimischer Kirchenführer und westlicher Missionare. Die Eigenständigkeit des japanischen Christentums wurde so auch organisatorisch dokumentiert.

3.3. Korea Die Geschichte des koreanischen Christentums ist in vielerlei Hinsicht singulär. Korea ist neben den Philippinen das asiatische Land mit dem höchsten christlichen Bevölkerungsanteil (Zensus 2005: 29,32 %). In seinen beiden Hauptzweigen, dem katholischen und dem protestantischen, war dies in hohem Maße das Ergebnis eines Prozesses der Selbst-Christianisierung. Im Unterschied zu anderen asiatischen Ländern war Korea zudem nicht europäischer, sondern japanischer Kolonialherrschaft unterworfen. In der Nationalbewegung des Landes nahmen koreanische Christen früh eine führende Rolle ein. Die Anfänge des katholischen Christentums gehen auf das Jahr 1784 zurück. Eine Gruppe konfuzianischer Gelehrter beschloss, mehr über das „westliche Wissen“ in Erfahrung zu bringen, das im hermetisch abgeschlossenen Korea durch jesuitische Traktate in chinesischer Sprache bekannt geworden war. Sie schickten 1783 einen der Ihren – Lee Seung-Hun (Yi Seung-Hun) (1756–1801) – als Mitglied der jährlichen königlichen Tributkommission nach Peking, wo er katholische Priester aufsuchte, sich in der Nordkirche taufen ließ und mit christlichen Schriften nach Korea zurückkehrte. Diese wurden im Kreis seiner Freunde diskutiert und für wahr befunden, woraufhin sich auch die übrigen Mitglieder dieses Kreises von Yi SeungHun taufen ließen. Trotz rasch einsetzender blutiger Verfolgung verbreiteten sie die neue Lehre schrittweise im ganzen Land und begannen mit der Produktion einer theologischen Literatur erst in chinesischer und dann in koreanischer Sprache (Text 33a-b). Im Jahr 1794 zählte man bereits ca. 4 000 Katholiken. Das alles ereignete sich etwa 50 Jahre bevor 1836 mit dem Franzosen Pierre Maubant der erste europäische Priester das Land betrat. Die zahlreichen Martyrien des 19. Jahrhunderts., als Folge sukzessiver Verfolgungswellen (1801, 1815, 1827, 1839, 1846), wurden von einheimischen Christen genau dokumentiert. Die meisten Opfer forderte die Verfolgung des Jahres 1866/67. Zu dieser Zeit zählte die katholische Gemeinschaft in allen Provinzen des Landes in etwa 23 000 Gläubige. Die Anfänge des protestantischen Christentums werden traditionellerweise auf die Tätigkeit amerikanischer Missionare seit dem Jahr 1884 zurückgeführt. Aber bereits zuvor hatten koreanische Christen, die außerhalb des Landes (in der Mandschurei oder in Japan) den neuen Glauben angenommen hatten, diesen nach Korea gebracht. So etwa der koreanische Pionierevangelist Suh Sang-Yun, der 1883 in seinem Heimatdorf Sorai eine erste Hauskirche gründete. „As in the case of Catholicism, it is the boast of Korean Protestants that baptised Koreans established

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Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Protestant communities […] before any foreign missionaries had been admitted to the country“.9 Die ersten amerikanischen Missionare – der Arzt Dr. Horace Allen, der Presbyterianer Horace G. Underwood sowie der Methodist Henry G. Appenzeller – gewannen rasch Anerkennung durch ihre Initiativen im Gesundheits- und Erziehungswesen. Faktisch aufgehoben wurde das Verbot des Christentums erst in den frühen 1890er Jahren. Die Errichtung von Schulen (seit 1886 erstmals auch für Mädchen), von Krankenhäusern und die Verbreitung westlicher Medizin zählten zu wichtigen Tätigkeitsfeldern der Missionare. Zentral waren Bibelübersetzungen sowie die Produktion einer christlichen Literatur im koreanischen Alphabet Hangul, die eine breite Leserschaft erreichte. Schrittweise erweiterte sich auch das konfessionelle Spektrum missionarischer Arbeit, und neben Presbyterianern und Methodisten wurden auch andere Missionen im Land tätig. Verbreitung fand das Christentum zunächst v. a. in Kreisen der urbanen Intelligentsia und der reformorientierten Kräfte, die im protestantischen Christentum eine modernisierende Kraft und Voraussetzung auch für sozialen Wandels sahen. „The Protestant Jesus appeared to be more activist than Buddha, more progressive than Confucius, more powerful than the spirits of traditional religion and more modern than the Catholic Lord of Heaven“.10 Seit ca. 1900 überstieg die Zahl protestantischer Christen die der Katholiken. Ein wesentlicher Faktor für das rasche Wachstum christlicher Gemeinden lag im sogenannten Drei-Selbst-Prinzip. Das war an sich ein älteres missionarisches Konzept, in Korea v .a. unter dem Namen Nevius-Plan bekannt, das auf die möglichst schnelle Gründung sich selbst finanzierender, selbst ausbreitender und selbst regierender einheimischer Gemeinden setzte. In Korea wurde es besonders zielstrebig befolgt und war seit 1891 zunächst bei den Presbyterianern offizielle Politik. Aus einem Bericht der presbyterianischen Mission aus dem Jahr 1902: „Von Anfang an [seit 1886] durften koreanische Christen auf keine bezahlte Anstellung seitens der Missionare hoffen, und sie bekamen sie auch nicht, außer in verhältnismäßig seltenen und ganz außergewöhnlichen Fällen. Sie wurden unterwiesen, nach dem Evangelium zu leben und es ohne Bezahlung unter ihren Landsleuten zu verbreiten. Heute sehen wir die Erfüllung der […] 1896 ausgesprochenen Prophezeiung, daß ‚die einheimischen Christen durch mündliche Predigt, gedruckte Schriften und das Zeugnis eines erneuerten Lebens das Evangelium in hunderte von Städten und Dörfer bringen werden [...].‘ Die Gläubigen treffen sich in ihren Häusern, bis sie in der Lage sind, ohne fremde Hilfe eine Kirche zu errichten“ (Text 58b).

Seit dem Ende des Ersten Japanisch-Chinesischen Krieges 1894/95 geriet Korea immer stärker unter japanische Kontrolle. 1905 wurde das Land zum japanischen Protektorat erklärt und 1910 auch formell annektiert. In der sich schrittweise

9 Kim, Sebastian C.H./Kim, Kirsteen, A History of Korean Christianity, New York 2015, 59. 10 Kim/Kim, History, 81.

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4. Thailand, Indochina, Indonesien, Philippinen

formierenden Nationalbewegung spielten koreanische Christen von Anfang an eine überproportional wichtige Rolle – trotz des oft eher bremsenden Einflusses konservativer amerikanischer Missionare. Bereits der im Jahr 1896 gebildete und bald darauf verbotene „Unabhängigkeitsklub“ (Dognip Hyeophoe), der rasch Dependancen im ganzen Land unterhielt, war eng mit den protestantischen Kirchen verbunden. Mit den zunehmenden japanischen Repressionen seit 1905 verstärkte sich auch das patriotische Engagement koreanischer Christen. Vielfältige Faktoren waren dafür ausschlaggebend: die durch das Drei-Selbst-Prinzip geförderte Eigenständigkeit und Unabhängigkeitsbestrebungen; protestantische Kirchen, Schulen und Bibelklassen als Übungsfeld einheimischer Führungspersönlichkeiten; landesweite Organisationsstrukturen (etwa in Gestalt nationaler Missionskonferenzen), die überregionale Kommunikation ermöglichten sowie das Angebot einer alternativen Modernisierung durch die protestantischen Kirchen (gegenüber konfuzianischer Rückständigkeit und japanischer Zwangsmodernisierung). Mit der Annexion des Landes im Jahr 1910 verschärften sich die Bedingungen erneut. Politische und soziale Organisationen der Koreaner wurden verboten, religiöse blieben weiterhin erlaubt. In dieser Zeit „nationaler Hoffnungslosigkeit“ wurden die internationalen Verbindungen koreanischer Christen immer wichtiger – einerseits durch die Nutzung missionarischer Netzwerke und andererseits durch die Unterstützung der wachsenden koreanischen Übersee-Diaspora. Ein entscheidendes Datum nach Ende des Ersten Weltkrieges war die koreanische Unabhängigkeitsbewegung vom 1. März 1919, die die Japaner gewaltsam unterdrückten. Ausgerufen wurde sie gleichzeitig an verschiedenen Orten innerhalb und außerhalb des Landes. Unterzeichnet worden war sie von 33 religiösen Führern, darunter 16 Protestanten (unter ihnen 11 ordinierte Pastoren), 16 Vertretern des Cheondogyo (einer synkretistischen neo-konfuzianischen Reformbewegung) sowie zwei Buddhisten (Text 80).

4. Thailand, Indochina, Indonesien, Philippinen: Vielfalt kolonialer und außerkolonialer Kontexte 4.1. Thailand Thailand (bis 1939: Siam), das „Land der Freien“, war niemals eine Kolonie. Als Pufferzone zwischen dem sich arrondierenden britischen Empire in Indien und dem französisch dominierten Indochina konnte es auch im 19. Jahrhundert seine Unabhängigkeit bewahren. Das unterscheidet Thailand von den anderen Regionen, die ebenfalls Gegenstand dieses Kapitels 4 sind. Ein anderer Grund seiner Unabhängigkeit, neben der Rivalität der benachbarten Kolonialmächte, war seine lange

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Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Reihe befähigter Herrscher aus der seit 1782 regierenden Chakri-Dynastie. Dies trifft insbesondere zu auf König Mongkut (Rama IV., 1851–1868), den Reformer, der Siam den Weg zur Modernisierung auftat, sowie seinen Sohn Chulalongkorn (Rama V., 1868–1910), der die Eigenständigkeit des Landes gegenüber Briten und Franzosen verteidigte und es zugleich westlichen Einflüssen öffnete. 1870 (sowie 1878) erließ er ein Edikt religiöser Toleranz. Bereits zuvor fanden protestantische Missionare freundliche Aufnahme und waren u. a. als Lehrer am königlichen Hof tätig. Trotz dieser toleranten Grundhaltung waren die Früchte missionarischer Arbeit bescheiden. Konvertiten fanden sich kaum unter den Thais, sondern v. a. unter den im Land lebenden Chinesen (so v. a. bei den Protestanten) und Vietnamesen (bei den Katholiken) sowie später unter den Bergvölkern im Norden. Die katholischen Anfänge im Land reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Im Jahr 1554 übernahmen zwei Priester des Dominikanerordens die Position von Militärkaplänen für portugiesische Soldaten am Königshof und bekehrten zugleich etwa 1 500 Thai. Es folgten Franziskaner und Jesuiten, und 1673 wurde für Siam ein Apostolisches Vikariat errichtet. Das 18. Jahrhundert war dann von einer Serie heftiger Verfolgungen gekennzeichnet, und im Jahr 1779 wurden alle Missionare des Landes verwiesen, später aber wieder zurückgerufen. In den folgenden Jahrzehnten erschwerten bittere Rivalitäten zwischen Portugiesen und Franzosen, die erst 1834 durch eine Neuordnung der kirchlichen Jurisdiktion beendet wurden, die katholische Mission in Siam. Prominente Vertreter der katholischen Mission im 19. Jahrhundert waren die Franzosen Jean-Baptiste Pallegoix (Linguist und Bischof, 1805–1862), der anfangs gute Kontakte zum Königshof unterhielt, sowie Jean-Louis Vey (1840–1909), der 1875 zum Bischof und Apostolischen Vikar in Siam ernannt wurde. Die Anfänge protestantischer Mission sind verbunden mit den Namen August Friedrich Gützlaff und Jacob Tomlin, die 1828 im Auftrag der London Missionary Society (LMS) nach Bangkok kamen. Sie blieben nur kurze Zeit. Kontinuierliche missionarische Arbeit wurde erst nach der Ankunft amerikanischer Baptisten (1833), Kongregationalisten (1834) und Presbyterianer (1847) geleistet. Die erste protestantische Kirche in Thailand wurde im Jahr 1837 von Baptisten für chinesische Immigranten errichtet. Amerikanische Missionare publizierten 1844 mit dem Bangkok Recorder die erste im Land selbst gedruckte Zeitung; und es war es eine Missionspresse, auf der im Jahr 1839 zum ersten Mal in Thailand ein königliches Dekret – gegen den Handel und Konsum von Opium – gedruckt wurde. Im Jahr 1868 errichtete der amerikanische Presbyterianer Daniel McGilvary (1828–1911) eine Station in Chiang Mai, die zum Zentrum der Mission unter den Lao-Völkern im Norden des Landes wurde. Auch eine Mission unter den Thai-Völkern in China und Französisch-Indochina wurde ins Auge gefasst. Dennoch blieben die Erfolge regional begrenzt. Massenkonversionen wie bei den Karen in Burma oder den Dalit in Indien blieben aus. Um 1900 zählten die protestantischen Gemeinden in Thailand etwa 5 000 getaufte Mitglieder, bei den Katholiken waren es 30 000. Zugleich

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4. Thailand, Indochina, Indonesien, Philippinen

übten die katholischen und protestantischen Missionen durch ihr System von Schulen, Krankenhäusern und Druckerpressen einen erheblichen Einfluss weit über den begrenzten Bereich der entstehenden Missionsgemeinden aus.

4.2. Vietnam Das heutige Vietnam ist im 19. Jahrhundert schrittweise der französischen Herrschaft unterworfen worden. 1862 wurde das südliche Drittel des Landes unter dem Namen Cochinchina französische Kolonie. Bis zum Jahr 1884 wurden auch der mittlere (Annam) und nördliche (Tonking) Teil okkupiert. 1887 wurden dann diese drei vietnamesischen Territorien formell in die Union von Französisch-Indochina eingegliedert. Das stete Vordringen der Franzosen und die Entwicklung der katholischen Mission in der Region waren eng miteinander verknüpft. Die wachsende Präsenz der Franzosen provozierte indigene Abwehrreaktionen und war ein wesentlicher Faktor für die sukzessiven Christenverfolgungen im 19. Jahrhundert, die wiederum den Ruf der Missionare nach Schutz durch den französischen Staat verstärkten. Andererseits ist gerade in jüngerer Zeit deutlich geworden, wie stark der antikoloniale Widerstand annamesischer Literati nach der vollständigen Okkupation des Landes auch von der lokalen katholischen Intelligenz mitgetragen wurde. Bemerkenswert ist die Geschichte dreier katholischen Priester – Nguyen Thanh Dong, Nguyen Van Tuong und Dau Quang Linh –, die im Jahr 1909 in Saigon als revolutionäre Rädelsführer verurteilt wurden11. Die Anfänge katholischer Präsenz in der Region reichen in das 16. Jahrhundert zurück. Aus Japan vertriebene Jesuiten gründeten in Faifo, einer Küstenstadt in Zentralvietnam, eine Missionsstation. Besonders wichtig wurde die Arbeit des französischen Jesuiten Alexandre de Rhodes (1591–1660), der sich rasch intensive Kenntnisse der lokalen Kultur und Sprache aneignete. Durch seine Übersetzungstätigkeit – er entwickelte u. a. ein frühes vietnamesisches Alphabet, das in vereinfachter Form bis heute in Gebrauch ist – sowie als Verfasser eines in der Folgezeit breit rezipierten Katechismus legte er die Grundlagen künftiger Missionsarbeit, die bald beachtliche Früchte trug. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte das Christentum auf diesem Wege Eingang in Vietnam gefunden. Die Zahl der Katholiken um 1800 wird auf ca. 300 000 geschätzt. Unter dem Nguyen-Kaiser Gia Long (r. 1802–1820), der sich auch mit französischer Hilfe von chinesischer Oberhoheit hatte lösen können, genossen die Missionare in seinem Reich Bewegungsfreiheit. Das änderte sich unter seinen Nachfolgern. Unter den Kaisern Minh Mang, Thieu Tri und Tu Duc kam es zu heftigen Verfolgungen. „Der Grund der zunehmenden Konflikte lag vor allem in der gespaltenen vietnamesischen Gesellschaft, in der die konfuzianisch gebildete, durch jahrhundertelange Abhängig-

11 Keith, Charles, Catholic Vietnam: A Church from Empire to Nation, Berkeley etc 2012, 1ff.

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Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

keit vom ‚Reich der Mitte‘ an chinesischen Traditionen ausgerichtete Oberschicht einer bäuerlichen, buddhistischen, aber zum religiösen Synkretismus neigenden Unterschicht gegenüberstand. Die unterdrückten Bauern waren […] zu einer Übernahme des Christentums eher bereit, zumal sich der Buddhismus […] in einem Verfallsprozess befand.“12 1825 untersagte Kaiser Minh Mang die Einreise fremder Missionare. Französische Interventionen zur Befreiung von Missionaren fanden in den Jahren 1843 und 1847 statt. Sie lösten starke Reaktionen gegen die katholische Minorität aus. Ein Edikt des Kaisers Tu Dúc aus dem Jahr 1851 (Text 57) führte zum Tod von 115 Priestern und 90 000 Gläubigen. Nahezu zwangsläufige Folge waren die immer dringlicher werdenden Rufe der französischen Missionare nach Schutz, d. h. nach einer militärischen Intervention in Indochina. Der französische Kaiser Napoleon III., der das Instrument des Katholikenprotektorats zu einem Eckpfeiler seiner Außen- und Kolonialpolitik machte, griff diese Anregung auf. 1859 fielen Saigon und das Mekong-Delta in die Hände der Franzosen. Ihre späteren Vorstöße in den Norden lösten dort wiederum erneute Christenverfolgungen aus, auch wenn nun in der französischen Kolonialpolitik religiöse Motive eine immer geringere Rolle spielten. Seit dem Jahr 1884 war ganz Vietnam unter französischer Herrschaft vereint. In der Folgezeit nahm die Zahl europäischer Missionare sprunghaft zu. Diese neue Generation aber war mit den lokalen Verhältnissen weit weniger vertraut als die seit Jahrzehnten im Land tätigen Missions-Veteranen und dafür umso kritischer gegenüber dem „Heidentum“, das sie in vielen Gebräuchen der vietnamesischen Gesellschaft auszumachen glaubten. Dies wiederum führte zu verstärkten Konflikten in den katholischen Gemeinden. Auch die zunehmende Teilnahme katholischer Intellektueller an antikolonialen Aktivitäten fügt sich in dies Bild ein. „Moderne Ideen“, so klagte 1906 der Bischof von Hanoi, hätten „die Herzen einheimischer Priester und Katecheten infiltriert“13. Die eingangs erwähnten Geistlichen gehörten einer Gruppe an, die Studenten nach Japan schicken wollte, wo sich die revolutionäre Intelligenz auch anderer asiatischer Länder einfand. Zugleich ging das Wachstum der katholischen Kirche weiter. Um 1900 hatte sie ca. 900 000 Mitglieder (8,2 % der Gesamtbevölkerung). Heute ist Vietnam, trotz der Entwicklungen nach 1945, das asiatische Land mit dem zweithöchsten katholischen Bevölkerungsanteil. Protestantischen Missionaren wurde erst 1911 offiziell der Zutritt ins Land gewährt. Vereinzelte frühere – noch illegale – Vorstöße blieben ohne längerfristige Wirkung. Das bescheidene Wachstum protestantischer Gemeinschaften setzte erst später ein. Zum christentumsgeschichtlichen Profil des Landes gehören seit Ende des 19. Jahrhunderts auch verschiedene synkretistische

12 Gründer, Horst, Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit, Gütersloh 1992, 374. 13 Keith, Vietnam, 79.

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4. Thailand, Indochina, Indonesien, Philippinen

Bewegungen, die in unterschiedlichem Maße von christlichen Einflüssen mitbestimmt waren. Ein prominentes Beispiel aus etwas späterer Zeit ist die im Jahr 1926 entstandene Caodai-Sekte.

4.3. Indonesien Auf dem indonesischen Archipel waren die Niederländer seit der Mitte des 17. Jahrhunderts als Kolonialherren präsent – zunächst in Gestalt der „Vereenigde Oost-Indische Compagnie“ (VOC), die im Jahr 1799 bankrottging und deren Nachfolge der niederländische Staat antrat. Zwischen 1810 und 1815 besetzten Briten die holländischen Territorien. Im Jahr 1816 wurde jedoch die niederländische Herrschaft auf dem Inselreich wiederhergestellt, im Rahmen eines globalen Interessenausgleichs zwischen den europäischen Kolonialmächten. Sie erstreckte sich freilich wie in den Jahrzehnten zuvor zunächst nur auf Java, Südsumatra und einige Gewürzinseln. Erst um 1909 war die koloniale Unterwerfung der meisten Gebiete des heutigen Indonesiens – unter dem Namen „Niederländisch-Indien“ – abgeschlossen. Das Ende der VOC brachte auch religionspolitische Veränderungen mit sich. Das bisherige Monopol der reformierten Kolonialkirche fiel. 1806 wurde der Grundsatz der Religionsfreiheit proklamiert, und katholische Priester konnten das Land betreten. In Batavia (heute: Jakarta) wurde im Jahr 1808 die erste katholische Kirche (für die dortige holländische bzw. indo-europäische Gemeinde) offiziell eröffnet. Die alte VOC-Kirche wurde 1817 reorganisiert (Text 42). Als „Protestantische Kirche in Niederländisch-Indien“ nahm sie fortan fast wieder den Status einer Staatskirche ein, jedoch – da vom Staat finanziert – ohne zu missionieren. Gemäß einer von König Wilhelm I. im Jahr 1820 dekretierten Union hatten sich ihr auch die anderen protestantischen Kirchen in der Kolonie anzuschließen. Zugleich aber wurden verschiedene neugebildete Missionsgesellschaften unterschiedlicher Konfession und Nationalität in den äußeren Regionen tätig. Im Jahr 1827 begann etwa die Niederländische Missionsgesellschaft ihre Arbeit auf Celebes (heute: Sulawesi) und die deutsche Rheinische Mission im Jahr 1836 in Südkalimantan. Die katholische Mission setzte in der Regel später ein. Seit 1859 wurden die Jesuiten auf allen großen Inseln aktiv. Missionarische Aktivitäten waren jedoch deutlichen Restriktionen unterworfen. Die Missionare benötigten von der Kolonialverwaltung eine ausdrückliche Arbeitsgenehmigung, die jeweils auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt war. Im Jahr 1854 wurde das Verbot einer „Doppelmission“ erlassen, wonach in einem Gebiet jeweils nur die Mission einer Kirche oder Richtung arbeiten durfte. Dieser Grundsatz wurde jedoch von verschiedenen Gruppen, vor allem der römisch-katholischen, nicht anerkannt und vielfach durchbrochen, was mehrfach zu heftigen Konflikten führte. Muslime zu missionieren war lange Zeit verboten. Java blieb – abgesehen von den drei größten Hafenstädten – bis 1850 für christliche Missionare geschlossen. Für einzelne Gebiete galt dies sogar bis zum Ende der Kolonialzeit. Gerade auch ange-

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sichts der religionspolitischen Neutralität der niederländischen Kolonialverwaltung erzielte der Islam im 19. Jahrhundert große Fortschritte. Zudem nutzte der Bau neuer Straßen und die Erschließung unzugänglicher Landschaften oft gerade muslimischen Händlern, die zugleich ihren Glauben verbreiteten. Neue christliche Gemeinden entstanden in verschiedenen Landesteilen. Am eindrücklichsten war das Wachstum bei den Minahasa sowie insbesondere unter den Batak in den Bergregionen Nordsumatras. Die Zunahme an christlichen Gemeinden führte dort zur Entstehung einer der größten Volkskirchen Asiens und der größten protestantischen Denomination Indonesien, der „Christlich-Protestantischen Batak-Kirche“ (Huria Kristen Batak Protestan/HKBP, mit gegenwärtig ca. 4,5 Millionen getauften Mitgliedern). Englische Baptisten unternahmen im Jahr 1824 einen ersten erfolglosen Vorstoß in diese Region. Prägend wurde das Wirken des deutschen lutherischen Missionars Ludwig Ingwer Nommensen (1834–1918). Er traf 1862 in dem damals noch nicht kolonial okkupierten Hochland ein und begann seine Arbeit unter den Toba-Batak, den Anhängern traditioneller Stammesreligionen. Er gewann das Vertrauen lokaler Chiefs (Raja), übertrug ihnen Verantwortung in den entstehenden Gemeinden, übersetzte das Neue Testament und Luthers Kleinen Katechismus und errichtete ein Seminar zur Ausbildung einheimischer Mitarbeiter. Bei seinem Tod im Jahr 1918 zählte die Kirche ca. 180 000 Mitglieder, 14 ordinierte Batak-Pfarrer, 78 Lehrer und 2 200 Älteste. Die Ordination einheimischer Pfarrer (erstmals durchgeführt 1885) war singulär und wurde von anderen im Inselreich des 19. Jahrhunderts tätigen Missionen oder Orden nicht praktiziert. Zunehmend integrierten die Toba- und Karo-Batak das Christentum in ihre kulturelle Identität. Die Zahl der nicht-europäischen Christen auf dem indonesischen Archipel um 1900 wird sehr unterschiedlich angegeben: für die Katholiken schwanken die Zahlen zwischen knapp 27 000 und 56 000, für die Protestanten zwischen 250 000 und 470 000.14 In jedem Fall erfolgte die eigentliche Wachstumsphase später. Neue Herausforderungen im frühen 20. Jahrhundert stellten das Aufkommen nationaler Bestrebungen, modernisierende Reformbewegungen innerhalb des Islam und zunehmend säkularisierende Tendenzen innerhalb der europäischen Kolonialgesellschaft dar.

4.4. Philippinen Die Philippinen schließlich – bis heute das katholischste Land Asiens mit einem Bevölkerungsanteil der Katholiken von 81 % im Jahr 2015 – waren bis zum Jahr

14 Moffett, Asia, 629; Aritonang, Jan Sihar/Steenbrink, Kareel (Hrsg.), A History of Christianity in Indonesia, Leiden/Boston 2008, 161.

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4. Thailand, Indochina, Indonesien, Philippinen

1898 spanische Kolonie. Im Unterschied zu den spanischen Besitzungen auf dem amerikanischen Festland, die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Unabhängigkeit erlangt hatten, unterstand das philippinische Archipel bis 1898 der Herrschaft der Spanier. Auf sie folgten die Amerikaner als Kolonialherren bis zum Jahr 1946, und dies sehr zur Enttäuschung der philippinischen Revolutionäre, die in den 1890er Jahren für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft und 1896 eine kurzlebige „erste christliche Republik im Orient“ ausgerufen hatten. Die Proteste gegen die Fremdherrschaft gingen jedoch weiter und waren ein Faktor für die Gründung der romunabhängigen Iglesia Filipina Independiente im Jahr 1902. Bei der Entwicklung des philippinischen Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert spielten Kontroversen um den einheimischen Klerus eine wichtige Rolle. Von Anfang an bestanden Spannungen zwischen den privilegierten spanischen Ordensbrüdern und den einfachen philippinischen (Welt-)Klerikern. Letzteren waren in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, also in Zeiten eines allgemeinen Priestermangels, zahlreiche Gemeinden übertragen worden, trotz rassistischer Ressentiments und der Kritik an ihrer oft eher bescheidenen Bildung. Angesichts der Rolle, die einheimische Priester bei der Emanzipation der südamerikanischen Kolonien gespielt hatten, begegneten ihnen auch in den Philippinen liberale wie konservative Regierungen mit wachsendem Misstrauen. Etwa ab 1825 begannen die spanischen Patres ihre von den philippinischen Weltpriestern geleiteten Pfarreien zurückzufordern. Die Spannungen verschärften sich in den 1860er Jahren, als auch die 1768 vertriebenen Jesuiten zurückkehrten und ihre früheren Gemeinden wieder übernahmen. Dabei beklagten die einen die „Unzuverlässigkeit“ der philippinischen Kleriker, während letztere das Ende rassistischer Diskriminierung verlangten. Die Situation entwickelte sich so, dass zunehmend jedes Eintreten für die Rechte des einheimischen Klerus als Angriff auf die Herrschaft der Spanier auf dem Inselreich verstanden wurde. Im Jahr 1872 kam es im Arsenal von Cavite in der Nähe von Manila zu einer bewaffneten Revolte, in deren Folge auch drei prominente einheimische Priester zum Tode verurteilt wurden. Zu ihnen zählte José Burgos, der 1864 mit einem Manifest für den philippinischen Klerus in Erscheinung getreten war. Die Hinrichtung dieser drei noch heute als Helden gefeierten Priester im Jahr 1872 beflügelte eine neue Welle des Patriotismus und Antiklerikalismus. Letzterer richtete sich insbesondere gegen die reiche spanische Kirche und die von Europäern dominierten Mönchsorden. Bei aller Kritik an der diktatorischen Kolonialregierung in Manila wurde doch die Zugehörigkeit zu Spanien selbst lange Zeit nicht in Frage gestellt. Es ging vielmehr um gleiche Rechte für Filipinos und Spanier. 1888 etwa demonstrierten zahlreiche Menschen in Manila und übergaben eine Petition, die Loyalität zur spanischen Krone bekundete, verbunden mit scharfer Kritik an den Mönchsorden: „Lang lebe Spanien! […] Weg mit den Mönchen!“ Auch der im Jahr 1896 hingerichtete spätere philippinische Nationalheld José Rizal

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(1861–1896), der in seinen Schriften Machtmissbrauch und Korruption der Kirche anprangerte, hatte friedliche Reformen im Rahmen des gegebenen Systems befürwortet. Die wachsenden Spannungen entluden sich in der bewaffneten Revolution der Jahre 1896 bis 1898. Dabei kamen auch etliche Mönche ums Leben. Die militärische Intervention der Amerikaner im Jahr 1898 wurde von den Revolutionären zunächst begrüsst und später – als diese das Land dauerhaft in Besitz nahmen – erfolglos bekämpft (1899–1902). Nach 1898 verließen die meisten spanischen Geistlichen das Land. Mit dem Sturz der spanischen Herrschaft verband sich die Hoffnung auf eine philippinische Nationalkirche mit eigener Hierarchie. Als Rom die Ernennung philippinischer Bischöfe verweigerte, kam es 1902 zur Gründung der Iglesia Filipina Independiente (IFI) unter dem früheren Militärgeistlichen Gregorio Aglipay (1860–1940) als „oberstem Bischof“. Treibende Kraft dabei war eine Gruppe philippinischer Intellektueller (Illustrados) unter Leitung von Isabelo de los Reyes (1864–1938), die sich – bei Anerkennung der inzwischen etablierten amerikanischen Herrschaft – sowohl der religiösen wie der sozialen und politischen Reform des Landes verschrieben hatten. Zeitschriften der IFI und der Gewerkschaftsbewegung beispielsweise wurden gemeinsam im ganzen Inselreich vertrieben. Zeitweilig gehörten ca. 25 % der Bevölkerung des Landes der IFI an. Im Jahr 1906 musste die IFI aufgrund eines Urteils des Obersten Gerichtshofes die meisten übernommenen Kirchgebäude den römischen Katholiken zurückgeben. Die IFI suchte früh den Kontakt zu anderen von Rom unabhängigen Kirchen Asiens (etwa in Goa und Sri Lanka) und Europas (etwa den Christkatholiken in der Schweiz) und existiert bis heute. Eine andere unabhängige Kirche unter philippinischer Leitung war die 1913 von Felix Manalo gegründete „Iglesia ni Cristo“. Mit den Amerikanern kamen seit 1899 auch verschiedene protestantische Missionen ins Land. Führend unter ihnen waren Presbyterianer, Methodisten und Baptisten. Eine Kooperation mit den römischen Katholiken gab es nicht. Letztere hatten in den Augen der meisten amerikanischen Missionare keine Bibelkenntnis und praktizierten eine Religion leerer Formen und Zeremonien. Auch frühe Verständigungsbemühungen mit der IFI scheiterten (Text 79b). Die Protestanten einigten sich im Jahr 1901 auf ein sogenanntes Comity Agreement, das die Aufteilung des Landes unter den verschiedenen Denominationen vorsah, und beschlossen die Gründung einer evangelischen Union unter dem Namen „Iglesia Evangelica“. Bemerkenswerterweise schlossen sich die Anglikaner unter dem Missionsbischof Charles F. Brent dieser Union nicht an. Sie beschränkten ihre missionarischen Aktivitäten auf chinesische Einwanderer sowie die Anhänger traditioneller Religionen und weigerten sich, einheimische Katholiken zu bekehren. Das war zugleich ein frühes Zeichen interkonfessionellen Respekts, das die spätere führende Rolle von Brent in der Ökumenischen Bewegung nach der Weltmissionskonferenz von Edinburgh im Jahr 1910 vorzeichnete.

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5. Indigene Christentumsvarianten

5. Indigene Christentumsvarianten Die westliche Missionsbewegung war nur ein Faktor unter anderen bei der Entstehung und Entwicklung des asiatischen Christentums. Christliche Kirchen und Gemeinschaften gab es dort längst, bevor europäische Ordensbrüder und Missionare den Kontinent betraten, und sie entstanden oder verbreiteten sich vielfach in Gebieten fernab jeglicher westlich-missionarischen Präsenz sowie nach dem Ende europäischer Kolonialherrschaft. Auch wo sie im kolonialen Kontext etabliert worden waren, entwickelten christliche Gemeinschaften in der Folgezeit immer wieder eine Eigendynamik, die sie von ihren kolonialen Anfängen schied. In jedem Fall waren es letztlich die einheimischen Akteure, die über die Annahme, Ablehnung, selektive Aneignung oder Modifikation der missionarischen Botschaft entschieden. Zum Verständnis der polyzentrischen Strukturen der asiatischen Christentumsgeschichte ist es erforderlich, stärker als bisher die Vielfalt indigener Initiativen, unterschiedliche Formen der Interaktion mit der lokalen Kultur sowie die Pluralität regionaler Zentren der Ausbreitung in den Blick zu nehmen. Einige relevante Beispiele einer nicht-missionarischen Ausbreitung (etwa in Korea) wurden im vorliegenden Beitrag bereits genannt. Andere Aspekte sollen im Folgenden beleuchtet werden.

5.1. Indien: Die Thomaschristen Zunächst also zu den Thomaschristen, dem ältesten Zweig der indischen Christenheit. Als die Portugiesen unter Vasco da Gama 1498 erstmals indischen Boden betraten, stießen sie bald auf die örtlichen Thomaschristen. Die verschiedenen Kirchen der thomaschristlichen Tradition führen ihre Anfänge auf eine Tätigkeit des Apostels Thomas in Indien zurück, was Legende sein dürfte. Unstrittig aber ist ihre langdauernde Präsenz im Süden des Subkontinents, die kontinuierlich bis mindestens ins dritte, wenn nicht sogar ins zweite Jahrhundert zurückreicht. Im 6. Jahrhundert integrierten sich die indischen Thomaschristen in das gesamtasiatische Netzwerk der ostsyrischen (sogenannten nestorianischen) „Kirche des Ostens“, die ihren Höhepunkt im 13./14. Jh. erlebte und noch heute existiert. Verbunden durch das Patriarchat in Mesopotamien als organisatorisches Zentrum und die syrische Kirchensprache – die bis heute von großer Bedeutung ist – standen die Inder zugleich in Kontakt mit anderen asiatischen Teilkirchen. Die Ankunft der Portugiesen in Indien im 16. Jahrhundert begrüßten sie zunächst. Im Jahr 1599 freilich wurden sie auf der berühmt-berüchtigten Synode von Diamper mehr oder minder zwangsweise in die portugiesische Kolonialkirche eingegliedert. Erst 1653 konnte sich ein Teil der Thomaschristen wieder aus der Abhängigkeit von Rom lösen, schloss sich dann aber nicht mehr – wie zuvor – dem ostsyrisch-„nestoriani-

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schen“ (chaldäischen) Zweig der orientalischen Kirchen an, sondern ging zum westsyrischen Ritus der miaphysitischen („jakobitischen“) Orthodoxie über, deren Zentrum in Antiochia lag. Fortan war die indische Thomaschristenheit gespalten, in einen mit Rom unierten Flügel und einen unabhängigen syrisch-orthodoxen Zweig. Im Lauf des 18. und des 19. Jahrhunderts kamen weitere Schismen hinzu, als Folge interner jurisdiktioneller Streitigkeiten und der Begegnung mit westlichen Missionen. Britische Anglikaner waren froh, zu Beginn des 19. Jahrhunderts im südindischen Kerala auf die romunabhängigen Thomaschristen zu stoßen. Sie sahen in ihnen potentielle Verbündete und ein mögliches Instrument zur Evangelisierung ganz Indiens. Waren die Thomaschristen doch in ihren Augen frei von zahlreichen Irrtümern der katholischen Tradition und kannten zum Beispiele weder Papsttum noch Fegefeuer. Anders als die „tyrannische“ katholische Hierarchie in Goa suchten die Anglikaner darum die indischen Thomaschristen in „brüderlicher“ Weise zu unterstützen. Dazu zählte die Errichtung eines theologischen Seminars in Kottayam sowie die Übersetzung der Bibel in das einheimische Malayalam. Sogar der Gedanke einer Kirchenunion wurde erwogen. Im Ganzen freilich unterschätzten die anglikanischen Missionare massiv die Unterschiede zwischen beiden kirchlichen Traditionen. Es kam zu Spannungen, und im Jahr 1836 beendete Metropolit Dionysius IV. die Zusammenarbeit mit der anglikanischen Church Missionary Society. 1889 erfolgte dann der definitive Bruch, und der Reformflügel innerhalb der syrisch-orthodoxen Gemeinschaft machte sich als „Syrische Mar-Thoma-Kirche“ (Mar Thoma Syrian Church) selbstständig – als eine Kirche der thomaschristlichen Tradition, die im Ritus orientalisch blieb und sich zugleich für wichtige Elemente der westlichen-reformatorischen Theologie geöffnet hatte. Weitere Spaltungen kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinzu. Heute ist die ehemals ungeteilte indische Thomaschristenheit in sieben Fraktionen geteilt, die „sich auf zwei Riten (ostsyrisch, westsyrisch) und vier Konfessionen (antiochenisch-dyophysitisch, miaphysitisch, katholisch, abendländisch-reformatorisch) verteilen“.15 Ein wesentlicher Faktor für das Überleben der indischen Thomaschristen war ihre Integration in das indische Sozialsystem. Als separate Gemeinschaft ohne missionarische Ausstrahlung hatten sie die Jahrhunderte in den Nischen des südindischen Kastensystems überdauert. In den Augen anderer, westlich-gebildeter indischer Christen des 19. Jahrhunderts galten sie darum lange Zeit als rückständig, lethargisch und mit vielen „sozialen Übeln“ der Hindugesellschaft behaftet und nicht eigentlich dem Christentum als einer modernen und emanzipatorischen Bewegung zuzurechnen. Diese Sichtweise änderte sich gegen

15 Hage, Wolfgang, Das orientalische Christentum (Die Religionen der Menschheit 31), Stuttgart 2007, 374.

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5. Indigene Christentumsvarianten

Ende des 19. Jahrhunderts, gleichzeitig mit dem Aufkommen der indischen Nationalbewegung, die das missionarische Christentums zunehmend als „denationalisierend“ kritisierte. Nun gewannen die Thomaschristen plötzlich als Repräsentanten eines vorkolonialen Christentums und Vertreter der „altehrwürdigen christlichen Kirche Indiens“, älter als alle missionarischen Unternehmeungen der Vergangenheit, neues Renommee. Aus ihrem „jahrhundertelangem Tiefschlaf“ erwacht, ohne finanzielle Unterstützung von außen und frei von „missionarischer Kontrolle“, habe sich diese Mutterkirche Indiens mehr als anderthalb Jahrtausende inmitten einer feindlichen Umwelt behauptet und in jüngster Zeit auch den sozialen Herausforderungen der Gegenwart in neuer Weise geöffnet – so eine indisch-christliche Zeitschrift des Jahres 1911. Darüber hinaus waren sowohl Mar-Thoma-Christen wie Vertreter der syrisch-orthodoxen Gemeinschaft an verschiedenen ökumenischen Initiativen zu Beginn des 20. Jahrhunderts beteiligt. Neue Wertschätzung wurde ihnen auch aus dem Lager der Hindu-Nationalisten zuteil. Vivekananda bezeichnete sie als „die reinsten Christen in der Welt“, Gandhi und Nehru würdigten sie als Vertreter eines asiatischen, nicht aus dem Westen importierten Christentums. Ähnlich äußerten sich christliche Stimmen außerhalb Indiens.

5.2. Japans „Verborgene Christen“ Auch in Japan trafen die seit den 1860er Jahren wieder ins Land strömenden europäischen Missionare bzw. Priester auf eine seit langem bestehende Gemeinschaft einheimischer Christen: die Sempuku Kirishitan bzw. „verborgenen Christen“, die im Untergrund 250 Jahre grausamster Verfolgung überlebt hatten, in vollständiger Isolation gegenüber dem Rest der christlichen Welt. Berühmt ist die Szene, die sich am 17. März 1865 in Nagasaki ereignete: in der für ausländische Residenten erbauten Kirche des französischen Priesters Bernard Petitjean gaben sich 15 Bewohner aus dem nahe gelegenen Dorf Urakami als Christen zu erkennen. „Wir alle haben dasselbe Herz wie Du“, flüsterte ihm eine alte Frau zu und fragte ihn nach einer Marienstatue und der Feier des Weihnachtsfestes (Text 59a). Nagasaki auf der Südinsel Kyushu war im 16. Jahrhundert ein Zentrum der katholischen Mission gewesen. Dort traf Petitjean nun erst hunderte und später tausende „verborgene Christen“ an. Insgesamt dürfte es zu dieser Zeit in der Umgebung von Nagasaki und auf den vorgelagerten Goto-Inseln noch in etwa 30 000 Sempuku Kirishitan gegeben haben. Die Sempuku Kirishitan waren die Nachkommen japanischer Christen, die ihren Glauben „im Verborgenen“ bewahrt und in der ihnen vertrauten Form von Generation zu Generation weitergegeben hatten. Sie feierten Gottesdienste in geheimen Räumen ihrer Privathäuser, gaben biblische Geschichten und Teile der Liturgie mündlich weiter – da der Besitz gedruckter Bücher zu gefährlich war und diese

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von den Behörden beschlagnahmt werden konnten – und waren nach der Vertreibung aller katholischen Kleriker im 17. Jahrhundert zur Durchführung ihrer Feiern und Riten auf Laienführer angewesen. Im Lauf der Zeit nahm die Jungfrau Maria die Gestalt eines Bodhisattva (Maria Kannon) an, und die Verehrung ihrer Märtyrer geschah in Gestalt der volkstümlichen Ahnenverehrung. Petitjean war bei seinen ersten Begegnungen mit diesen Untergrund-Christen von ihrer Kenntnis der katholischen Theologie beeindruckt: sie wussten um die Trinität, den Sündenfall, die Inkarnation und die Zehn Gebote. Viele kannten das Vaterunser, das Ave Maria, das apostolischen Glaubensbekenntnis, das Salve Regina sowie das Sakrament der Buße. Ihre religiöse Organisation bestand zu dieser Zeit im Wesentlichen aus zwei Ämtern: dem des Chokata – eines Mannes, der lesen und schreiben konnte und die Gemeinde sowie die Sonntagsgebete leitete –, sowie des Mizukata, der die Taufen vollzog. Später erhielt Petitjean von den Sempuku Kirishitan auch ein Exemplar ihres heiligen Buches, der Schrift Tenchi Haijmari no Koto („Anfang von Himmel und Erde“), in der sich – durchsetzt von lateinischen und portugiesischen Lehnwörtern – der biblische Schöpfungsbericht mit buddhistischer Mythologie und diversen lokalen Traditionen verband. Ursprünglich mündlich überliefert, wurde diese Sammlung teils folkloristischer Erzählungen später schriftlich fixiert und gewann zunehmend auch an dogmatischer Bedeutung (Text 59b). In der Forschung wird dieser Text als Versuch einer Christianisierung japanischer Traditionen und zugleich, so beispielsweise die Anthropologin Christal Whelan, der „Japanisierung des Christentums“ bezeichnet. Im Jahr 1865 sorgte die Nachricht vom Wiederauftauchen der „verborgenen Christen“ für großes Aufsehen. Aber bei weitem nicht alle Sempuku Kirishitan schlossen sich der römisch-katholischen Kirche wieder an und legten einige als unorthodox betrachtete Praktiken ab. Andere konnten im Katholizismus der französischen Missionare nicht den Glauben ihrer Vorfahren wiedererkennen und lebten weiter in eigenen Gemeinschaften. Jahrhunderte der Isolation hatten ihren Glauben verändert und Verborgenheit zu einem integralen Bestandteil ihres Selbstverständnisses werden lassen. Noch heute gibt es v. a. auf den SotoInseln im Süden des Landes eigenständige Gemeinschaften „verborgener Christen“, in der wissenschaftlichen Literatur als Kakure Kirishitan bezeichnet. Manche von ihnen haben inzwischen das Bewusstsein für ihre christlichen Ursprünge verloren. Die verborgenen Christen von Urakami (heute ein Stadtteil von Nagasaki), die sich 1865 dem französischen Priester Petitjean zu erkennen gaben, waren danach weiterhin Verfolgungen ausgesetzt. Viele wurden in die Verbannung geschickt, von der sie erst im Jahr 1873 zurückkehrten. 1895 begannen sie mit dem Bau einer eigenen Kirche – der Urakami-Kathedrale – die 1910 vollendet wurde. Genau über dieser Kirche explodierte am 9. August 1945 die zweite Atombombe der Amerikaner und zerstörte sie fast vollständig.

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5. Indigene Christentumsvarianten

5.3. China: Die Taiping-Bewegung Unter ganz anderen Bedingungen entstand die Taiping-Bewegung im China des 19. Jahrhunderts. Sie war eine christlich inspirierte Massen-Bewegung (1850–1864), gleichsam die chinesische Variante des deutschen Bauernkrieges, die die seit 1644 herrschende Qing-Dynastie zeitweilig an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Entstanden ist sie in den Unruhegebieten Südwestchinas, quasi in einem außerkolonialen Kontext, und stand anfangs nur in einem sehr indirekten Zusammenhang mit der westlichen Missionsbewegung. Hergestellt war dieser zunächst nur durch im Landesinnern zirkulierende christliche Traktate. Ihre Führung verstand sich dezidiert als christlich, ließ – trotz aller synkretistischen Elemente – die biblische Botschaft unter Ausschluss aller anderen Lehren predigen, verfocht eine puritanische Ethik, suchte freundschaftlichen Kontakt zu den Missionaren, blieb aber unabhängig in Theologie und Handeln. Ihre (schließlich von den westlichen Mächten unterstützte) Niederschlagung im Jahr 1864 forderte Millionen von Todesopfern. Anführer war ein gewisser Hong Xiuquan, der seit 1837 eine Reihe von Visionen hatte. Unter dem Einfluss des Studiums der chinesischen Bibel – die er durch Traktate des chinesischen Konvertiten Liang Fa und später durch das Studium der Gützlaff’schen Bibelübersetzung kennengelernt hatte – begann er, diese Visionen als Offenbarungen des christlichen Gottes zu verstehen und im Lichte der alttestamentlichen Verheißungen zu deuten. Daraus leitete er für sich den Auftrag ab, wie einst Josua im Lande Kanaan die alten Götter Chinas zu stürzen und stattdessen ein „Himmlisches Königreich des Friedens“ zu errichten. Die Kenntnis dieser Vision und ihrer Auslegung war für seine rasch wachsende Anhängerschaft ebenso obligatorisch wie die eines aus den Zehn Geboten, dem Vaterunser und anderen Gebeten bestehenden Katechismus, den – so ein zeitgenössischer Bericht – „jeder Rebell im Jahr 1854 besaß und der noch heute in unzähligen Händen ist“ (Text 61 a+b). Sich selbst bezeichnete Hong Xiuquan als jüngeren Bruder Jesu Christi. 1853 ließ er sich in Nanjing, dem „neuen Jerusalem“, zum König ausrufen. Er proklamierte die Gleichheit aller Menschen, organisierte Staatsexamina auf Grundlage der Bibel und ließ die Übertretung des Dekalogs und andere Laster wie das Opiumrauchen mit der Todesstrafe ahnden. Europäische Besucher begrüßte Hong als „transozeanische Brüder“, für sein China erstrebte er eine gleichberechtigte Stellung im Kreis der „christlichen“ – also westlichen – „Nationen“. Wie christlich war die Taiping-Bewegung? Diese Frage wird heute wie schon damals kontrovers beantwortet. Eine Autorität wie der amerikanische Historiker John K. Fairbank hat sie als chinesische „Variante des alttestamentarischen protestantischen Christentums“ bezeichnet. Sein Landsmann Daniel H. Bays spricht von „China’s first indigenous Christian movement“.16 Der chinesische Historiker

16 Bays, Daniel H., Christianity in China. From the Eighteenth Century to the Present, Stanford 1996, 53.

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Lee Chee Kong konstatiert: „The Taiping Movement started as a Christian-influenced movement with elements also from Chinese writings, but it ended as a revolutionary movement.“17 Missionare des 19. Jahrhunderts begrüßten sie anfangs als Zeichen für das weltweite Ausgießen des Heiligen Geistes und hofften auf ein neues China unter christlicher Führung. Später wurden ihre Stimmen immer kritischer – v. a. als die Bewegung in offene Rebellion umschlug. Chinesische Zeitgenossen und erbitterte Gegner wie der Hunanese Zeng Guofang werteten den Krieg zwischen den Taiping und der Qing-Dynastie als Konflikt zweier Zivilisationen, der konfuzianischen und christlichen (bzw. der „Religion Jesu und der westlichen Barbaren“). Die Taiping selbst sahen sich vom christlichen Gott berufen und als Kinder „desselben himmlischen Vaters“ wie ihre westlichen Besucher. Denn diese kannten ebenfalls – wie sie erfreut feststellten – die „himmlischen Gesetze“ in Gestalt der Zehn Gebote (Text 61d) In jedem Fall aber lässt der Taiping-Monotheismus mit seinen egalitär-universalistischen Tendenzen erkennen, welche revolutionären Folgen eine auch nur partielle Rezeption biblischer Impulse in den sozialen Konflikten der Zeit und Erschütterungen einer jahrhundertealten hierarchischen Gesellschaftsordnung haben konnte.

5.4. Ausbreitung durch Migranten und Indentured Labourers Bei der Beschreibung des Christentums als polyzentrische Bewegung gewinnt in letzter Zeit ein wichtiger Faktor verstärkt an Beachtung: die nicht-missionarische Ausbreitung als Folge regionaler oder transregionaler Migration. Dies gilt im globalen Maßstab – die Anfänge protestantischer Präsenz in Westafrika zu Beginn des 19. Jahrhunderts beispielsweise lassen sich ohne Berücksichtigung afroamerikanischer Remigranten von der anderen Seite des Atlantik und des Sierra-Leone-Experiments nicht angemessen beschreiben – und trifft insbesondere auch auf Asien zu. Die Migrationsströme des 19. Jahrhunderts veränderten traditionelle Religionsgeographien. Sie führten aber vielfach auch erstmals zu christlicher Präsenz in Regionen oder unter Gruppen, unter denen zuvor keine westlichen Missionare tätig waren. Indische Kontraktarbeiter (indentured labourers) etwa, sogenannte coolies, zirkulierten als billige Arbeitskräfte im expandierenden britischen Empire. Sie kamen seit Mitte des 19. Jahrhunderts vermehrt auf den Teeplantagen Ceylons, den Minenfeldern Südafrikas oder verschiedenen Inseln der Karibik zum Einsatz. In Guayana, Trinidad oder Surinam wurden sie zum Ausgangspunkt rasch

17 Kong, Lee Chee, Art. Taiping Rebellion, in: Sunquist, Scott W. (Hrsg.), A Dictionary of Asian Christianity, Grand Rapids, MI/Cambridge, UK 2001, 814f.

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5. Indigene Christentumsvarianten

wachsender Hindu-Gemeinschaften. Umgekehrt gelangten so aber auch Angehörige der christlichen Minorität in zahlreiche Übersee-Regionen. Allein für tamilische Christen aus Südindien ist um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Präsenz in so unterschiedlichen Gebieten wie Sri Lanka, Burma, Malaysia, den Nikobaren, Mauritius, Südafrika, Uganda, Britisch-Guyana, Trinidad und Fidschi bezeugt. Sie wurden dort vielfach zu indigenen Multiplikatoren des christlichen Glaubens. Dies geschah teils durch bloße Präsenz in Regionen, in denen europäische Missionare noch nicht tätig geworden waren – wie in den tea estates im Bergland Sri Lankas, wohin tamilische coolies Mitte des 19. Jahrhunderts ihr südindisches Christentum katholischer oder protestantischer Prägung mitgebracht hatten (Text 69) –, aber ebenso durch gezielte missionarische Aktivitäten. Besonders bemerkenswert ist auch das evangelisatorische Engagement indischer Christen unter den Indern Südafrikas. Sie gingen dorthin als Lehrer und Katecheten, teils als Angestellte etablierter Missionen und teils aus eigener Initiative bzw. entsandt von indigenen Missionsgesellschaft, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten. Sie suchten ihren darbenden Landsleuten dort soziale und spirituelle Hilfe zukommen zu lassen. Andere wurden in Ostafrika tätig. In China war, wie bereits erwähnt, westlichen Missionaren bis zum Jahr 1842 keine legale Präsenz möglich. Chinesische Christen und Gemeinden gab es zu dieser Zeit aber bereits in wachsender Zahl unter den Auslandschinesen an der Peripherie des Kaiserreichs, im heutigen Thailand, Malaysia, Indonesien und den Philippinen. Dies galt – noch als Folge früherer Migration – zunächst v. a. für chinesische Katholiken sowie dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend auch für Protestanten. Das beeindruckendste Beispiel einer frühen indigenen Ausbreitung entlang ethnischer Diaspora-Netzwerke bietet Korea. Im Katastrophenjahr 1910, als Korea von Japan annektiert wurde, waren koreanische Evangelisten bereits unter ihren Landsleuten in Sibirien, der Mandschurei, Japan, Hawaii, Kalifornien, Mexiko und Kuba unterwegs. Wenig später (1913) kam noch eine transkulturelle Missionstätigkeit in der nordchinesischen Provinz Shantung hinzu – und das, obwohl sich in Korea selbst protestantische Gemeinden erst in den 1880er Jahren gebildet hatten. Auch die weitere Geschichte des koreanischen Christentums im frühen 20. Jahrhundert lässt sich nicht ohne angemessene Berücksichtigung der globalen koreanischen Diaspora beschreiben. Analoges gilt für das ansonsten ganz anders gelagerte, da sehr viel ältere Beispiel des armenischen Christentums und seine bis ins europäische Mittelalters zurückreichende Diaspora. Die rasche Ausbreitung der Baptisten im Burma (Myanmar) des 19. Jahrhunderts hat viel mit Wanderungsbewegungen der Karen und Kachin zu tun. Das gilt entsprechend für die christlichen Gemeinden chinesischer und vietnamesischer Migranten im Thailand dieser Zeit.

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Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

6. Transregionale Entwicklungen und Herausforderungen seit 1890

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm der koloniale Druck auf Asien zu. In Analogie zum „Scramble for Africa“ (der mit dem Berliner Kongo-Kongress 1884 einsetzenden „Rauferei“ europäischer Mächte um Afrika) kann man auch von einem kolonialen Wettlauf um Asien sprechen. Dieser nahm die Gestalt einer formellen Eroberung oder – wie im Fall Chinas, das nominell unabhängig blieb – eines „scramble for concessions“ sowie der Abgrenzung von Einflusszonen an. Die Briten rundeten im Jahr 1886 mit der formellen Annexion Oberburmas ihren Kolonialbesitz im südlichen Asien ab und gliederten diese Region in Britisch-Indien ein, das das heutige Indien, Pakistan, Bangladesch, Myanmar und Sri Lanka umfasste. Die Franzosen arrondierten ihre Erwerbungen in Indochina und schufen 1886 die „Indochinesische Union“, die die drei Protektorate Annam, Tonking und Kambodscha mit der Kolonie Cochinchina unter einheitlicher französischer Verwaltung zusammenfasste. Die Niederländer schlossen 1909 mit der Unterwerfung eines letzten lokalen Herrschers in Aceh die koloniale Durchdringung des heutigen Indonesiens ab. Russland, das bereits in den 1860er und 1870er Jahren schrittweise in Zentralasien vorgedrungen war, erreichte im Zuge seiner territorialen Expansion Anfang der 1880er Jahre die Grenzen Afghanistans. Die US-Amerikaner vergaßen ihre antikoloniale Tradition und lösten um 1898 in den Philippinen sowie im pazifischen Guam und in der Karibik in Puerto Rico die Spanier als Kolonialherren ab. Auch das Deutsche Kaiserreich beteiligte sich am kolonialen Wettlauf der westlichen Mächte und erwarb im Jahr 1898 in Nordostchina das „Pachtgebiet“ Kiautschou sowie im Pazifik die Karolinen, Marianen und Palau-Inseln. Zwischen den sich arrondierenden Kolonial-Imperien ausgespart blieben einzelne Pufferzonen: so Siam (Thailand) zwischen Französisch-Indochina und Britisch-Indien und Persien zwischen dem englischen Kolonialimperium und dem Russischen Reich. China selbst blieb nominell unabhängig, wurde aber in Einflusssphären aufgeteilt. Und in Reaktion auf den sogenannten Boxeraufstand war es eine internationale Koalition von acht Mächten – England, Frankreich, Deutschland, Russland, Italien, Österreich-Ungarn, Japan und die USA –, die 1900 Peking besetzte und dem gedemütigten Reich der Mitte enorme Kriegskompensationen auferlegte, u. a. für die Zerstörung missionarischen Eigentums – ein Ereignis, das traumatisch in Erinnerung blieb. Zugleich nahmen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nationalistische Gegenreaktionen zu. Das „nationale Erwachen“ der Völker Asiens erfolgte in den einzelnen Regionen zu verschiedenen Zeitpunkten und in unterschiedlichen, aber doch vergleichbaren Verlaufsformen. In Indien wurde im Jahr 1886 der Indische Nationalkongress gegründet (Text 63b). Zunächst kaum mehr als eine Vereinigung mode-

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6. Transregionale Entwicklungen und Herausforderungen seit 1890

rater Honoratioren, wurde er seit der Jahrhundertwende zunehmend zur Plattform radikaler Stimmen. Auch in Indochina, das eine Serie kleinerer Revolten erlebte, war der Widerstand gegen die französische Kolonialherrschaft keineswegs erloschen, und anstelle der traditionellen Loyalität zum König forderten vietnamesische Patrioten nun zunehmend zur „Liebe zum Vaterland“ auf. Auch in den spanisch beherrschten Philippinen regte sich seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der einheimischen Elite der Widerstand gegen die politische, wirtschaftliche und religiöse Diskriminierung durch die Kolonialherren. Während diese Bewegung reformorientiert war, plante in den neunziger Jahren der philippinische Geheimbund „Katipunan“ gewaltsame Aktionen gegen die Spanier. In China verstärkte sich, parallel zur Einsicht in die tiefe Reformbedürftigkeit von Staat und Gesellschaft, in Kreisen der Gebildeten das Nationalgefühl. Das kam nach 1900 verstärkt im antiimperialistischen Kampf für die Revision der „Ungleichen Verträge“ und die Rückforderung verloren gegangener Rechte zum Ausdruck. Die Vernetzung dieser zunächst recht heterogenen und regional getrennten Entwicklungen wurde beschleunigt durch den Russisch-Japanischen Krieg (1904/05), der mit einem Sieg des „gelben“ Japans über das „weiße“ Zarenreich endete. Der Mythos europäischer Unbesiegbarkeit war damit auf dem Höhepunkt des westlichen Kolonialismus und Imperialismus nachhaltig erschüttert. Bis in die letzten Dörfer Bengalens wurde dies Ereignis mit ungläubigem Staunen diskutiert (Text 65). Wenn schon das relativ kleine Japan – so eine in Indien vielfach geäußerte Meinung – mit seinen 50 Millionen Einwohnern dem russischen Weltreich eine vernichtende Niederlage zufügen konnte, warum sollten sich dann nicht 320 Millionen Inder gegen nur 150 000 Briten auf dem Subkontinent zur Wehr setzen können? Die Tage der unangefochtenen weißen Vorherrschaft schienen definitiv beendet. In ganz Asien erfuhren die Nationalbewegungen einen enormen Aufschwung. Darüber hinaus wurde der Sieg Japans auch als der Sieg einer „orientalischen“ – und nicht-christlichen – Nation über das „christliche“ Zarenreich gefeiert. „Asia is one“ war nun eine vielerorts zu vernehmende Parole; und statt nach Oxford, Cambridge oder Yale strömten nun Studierende aus den britischen Kolonien und anderen asiatischen Ländern, aber auch aus der arabischen Welt in wachsender Zahl nach Tokio. Attraktiv wurde Tokio insbesondere auch für chinesische Studenten, in deren Land das traditionelle Prüfungssystem im Jahr 1905 aufgehoben worden war – eine Entwicklung, die auch christentumsgeschichtlich nicht ohne Folgen blieb. Die Anfänge des politischen Nationalismus waren vielerorts mit einem Revival der traditionellen Religionen des Kontinents verbunden. Vor der Formulierung politischer Forderungen stand meistens zunächst die Wiederentdeckung der eigenen Kultur – oft beflügelt durch europäische Archäologie und Philologie, die die lange verschütteten oder vergessenen „Splendours of the East“ einem breiten Publikum zugänglich machten. In ihrer Ausgabe vom 18. Januar 1899 äußerte sich

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etwa die in Jaffna erschienene ceylonesische Zeitschrift The Hindu Organ über dieses religiöse Revival als gesamtasiatisches Phänomen wie folgt: „Überall im Osten findet gegenwärtig eine Renaissance von [asiatischer] Überlieferung und Literatur statt, und es wird zügig daran gearbeitet, den Ruhm der orientalischen Religionen der vergessenen Vergangenheit zu entreißen. In Indien, Burma, Siam, Annam [Vietnam], Japan und sogar in China [...] ist das Bedürfnis nach religiöser und moralischer Erziehung stark zu spüren. Nicht, dass sich unsere Vorfahren dieser Sache nicht genauso intensiv widmeten, wie wir dies heute versuchen. Sie gingen diesbezüglich sogar weiter als wir es uns vorstellen können, die wir inmitten der materialistischen Tendenzen der heutigen Zeit leben. Tatsächlich lebten unsere Vorfahren fromm, sie bewegten sich fromm und ihr Wesen war von Frömmigkeit geprägt“ (Text 62).

Ähnliche Beobachtungen finden sich auch in den Schilderungen christlicher Missionare und europäischer Kolonialbeamter. Anglikanische Missionare beklagten zugleich das Anschwellen anti-christlicher Agitation, wie etwa in einem Bericht aus Sri Lanka vom Jahr 1899: „Der ganze Charakter des Buddhismus hat sich in den letzten Jahren geändert. Während vor einiger Zeit die Masse der Menschen nichts über den Buddhismus wusste […], ist der jetzige Buddhismus eine weitverbreitete Kraft, die sich dem Christentum widersetzt. Er wird in Schulen gelehrt, die mit den unseren wetteifern. […] [Die Singhalesen] widersetzen sich jetzt mit einer Art Patriotismus vielfältig den westlichen Sitten, und kehren, was Kleidung und Benehmen betrifft, zu den alten Bräuchen zurück“ (Text 94b). Und in Indien beschrieb der britische Kolonialbeamte Valentine Chirol im Jahr 1910 den Stimmungsumschwung der vergangenen Jahrzehnte wie folgt: „Als ich zum ersten Mal – ungefähr vor 30 Jahren – nach Indien kam, strebte das junge Indien wenigstens intellektuell danach, englischer als die Engländer zu sein. Die Überlegenheit westlicher Literatur und westlicher Ethik war ebenso allgemein anerkannt wie die der westlichen Naturwissenschaft und westlicher Regierungsmethoden. Irgendwann in den [18]80er Jahren begann das Pendel zurückzuschlagen. […] Schon in den 90er Jahren hatte die Bewegung eingesetzt, die zum außerordentlichen Hindu-Revival der letzten Jahre führte – zurück zu den Vedas [Hindu-Schriften], zurück zum Kali-Kult, [...] zurück zur goldenen Zeit vor der Ankunft der bösen Engländer, als es Wohlstand gab und die Tugenden blühten!“ (Text 63a).

Hindu-Revival und nationales Bewusstsein gingen zunehmend Hand in Hand, und umgekehrt wurde nun das missionarische Christentum immer stärker als „denationalisierend“ attackiert. Warum sollte etwa ein Inder der (anglikanischen) „Church of England“ angehören? „Ein Christ mehr, ein Chinese weniger“, so lautete ganz ähnlich eine verbreitete Parole in China. Dieses in verschiedenen Regionen gleichzeitig zu beobachtende religiöse Revival war nun aber keineswegs eine bloße Wiederbelebung traditioneller Glaubensformen. Weithin war es verbunden mit modernisierenden Impulsen, hervorgegangen aus der Auseinandersetzung mit westlichem Gedankengut und christlicher Mis-

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sion. Vor allem in Fragen der Organisation, in Übernahme vieler ihrer Propagandatechniken und in der Ausbildung internationaler Kommunikationsstrukturen wurde die protestantische Missionsbewegung vielfach zum – ebenso bekämpften wie imitierten – Vorbild. In Ablehnung wie in Nachahmung sei der „Sauerteig“ des Evangeliums auch im „wiedererwachenden Hinduismus“ wirksam, urteilte 1912 etwa der britische Missionar und spätere Gandhi-Vertraute C. F. Andrews. Ganz analog konstatiert der Historiker Axel Michaels für Indien: „In indischen Intellektuellenkreisen bildete sich ein ethischer Reformhinduismus, der aufgrund christlichen Einflusses hinduistische Auswüchse (Witwenverbrennung, Kastenwesen und anderes) verurteilte, eine Demokratisierung der Hindu-Religionen ohne priesterliche Dominanz der Brahmanen anstrebte und intellektualistische Befreiungslehren vertrat.“18

Prominentestes Beispiel einer christlich inspirierten neohinduistischen Reformbewegung war der Brahmo Samaj. Gegenüber dem christlichen Universalismus verkündete der Ramakrishna-Schüler Swami Vivekananda (1836–1902) den Hinduismus als eine universale Religion, die darüber hinaus mit den modernen Wissenschaften harmoniere. Andere Vereinigungen wie der im Jahr 1875 gegründete Arja Samaj vertraten demgegenüber einen betont „vedischen“, von schädlichen westlichen oder islamischen Einflüssen gereinigten Hinduismus. In China kam es 1898 während der sogenannten Reformbewegung der Hundert Tage bemerkenswerterweise zur Gründung einer konfuzianischen „Kirche“ („Church of Confucius“), die später – nach dem Sturz der Qing-(Mandschu-)Dynastie im Jahr 1911 – als nationalreligiöses Projekt wieder aufgenommen wurde. Das Ursprungsland des buddhistischen Modernismus war Sri Lanka, das frühere Ceylon. Intensiver als das benachbarte Indien war das Land den Einflüssen von mehr als drei Jahrhunderten europäischer Kolonialherrschaft und christlicher Mission ausgesetzt. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts schien der traditionelle Buddhismus von einem unaufhaltsamen Niedergang bedroht. Bald aber setzte schrittweise ein Aufschwung ein, der in einer Reihe öffentlicher Streitgespräche zwischen 1865 und 1899 seinen Ausdruck fand. Dabei bedienten sich die Buddhistischen zunehmend auch der Ideen und Organisationsformen der christlichen Gegenseite. Unter dem Stichwort Protestant Buddhism ist dieser Sachverhalt in der religionssoziologischen Forschung verhandelt worden. So wurden etwa anstelle der YMCAs (der unter urbanen Eliten beliebten Young Men’s Christian Associations) buddhistische YMBAs gegründet (sowie später auch hinduistische YMHA’s, muslimische YMMA’s und schließlich katholische YMCathA’s), anstelle christlicher Katechismen ein Buddhist Catechism verbreitet sowie – besonders bemerkenswert in einem Land, das traditionellerweise anstelle der Sieben-Tage-Woche einen Mondkalender hatte – die Einrichtung „buddhistischer Sonntagsschulen“ vorangetrieben. Die rationalen Elemente der

18 Michaels, Axel, Der Hinduismus. Geschichte und Gegenwart, München 1998, 63f.

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buddhistischen Lehre und ihre Vereinbarkeit mit westlichen Naturwissenschaften wurden nachdrücklich betont und die Bedeutung des Laienelements anstelle des traditionellen Vorrangs der Mönchsorden hervorgehoben. Zugleich nahmen die Bestrebungen zu, den Buddhismus international zu vernetzen. Im Jahr 1891 gründete der Ceylonese Anagarika Dharmapala (1864–1933) die Bodhgaya-Mahabodhi-Gesellschaft. Ziel war es, die Buddhisten aus allen Ländern – von Ceylon bis Tibet und Japan – zu einigen und das indische Bodhgaya wieder zum Zentrum buddhistischer Religiosität zu machen. Japanische Buddhisten fingen an, Missionare auch in andere asiatische Länder zu schicken. Das Aufkommen nationaler Bewegungen, verquickt mit dem Wiedererstarken der traditionellen Religionen des Kontinents, stellte die – geographisch, konfessionell und kulturell – höchst heterogenen protestantischen Missionsgemeinden Asiens erstmals vor eine einheitliche Herausforderung. Dies umso mehr, als nationale Identität zunehmend in Kategorien religiöser Zugehörigkeit definiert wurde: ein echter „Inder“ hatte zugleich auch „Hindu“, und der singhalesische Patriot ein engagierter Buddhist zu sein. In Japan erlebten Shinto und Buddhismus als durch und durch „japanische“ Religionen einen beachtlichen Aufschwung. Demgegenüber verstärkte sich nun auch im christlichen Lager der Drang und die Notwendigkeit, nach einer „einheimischen“ Gestalt und „nationalen Form“ der aus der westlichen Mission hervorgegangenen christlichen Gemeinschaften zu suchen. Man könnte diese gleichzeitig oder zeitverschoben an verschiedenen Orten zu beobachtenden Tendenzen als Indigenisierungsbewegung bezeichnen. Sie war in ihren konkreten Forderungen keineswegs einheitlich und stark von lokalen Gegebenheiten abhängig. Sie kennzeichnet aber eine durchaus konsistente Diskussionslage in unterschiedlichen Kirchen und Regionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Merkmale der Indigenisierung: • Die Forderung nach Überwindung des importierten Konfessionalismus der Missionare und „nationaler“ Organisationsformen einheimischer Christen (dazu mehr in Abschnitt 7). • Die Forderung nach Führungspositionen für einheimische Christen („indigenous leadership“), wie es von dem – ursprünglich missionarischen – Konzept der „DreiSelbst“ seit langem in Aussicht gestellt war. Afrika habe seit den Tagen S. A. Crowther’s einheimische Bischöfe, stellte etwa 1898 in Indien der „Christian Patriot“ fest, und fährt kommentierend fort: „When is India to have her native Bishops?“ Analog dazu äußerte sich 1899 eine andere Zeitschrift indischer Christen: „It [is] acknowledged by all that India is sadly behind-hand as regards the Episcopate“ (Text 67). • Die Erprobung neuer Liturgieformen, die Verwendung einheimischer Musikinstrumente und der Rückgriff auf lokale Musiktraditionen sind andere Beispiele. Tamil Lyrics wurden beispielsweise bei den eröffnenden Sitzungen der „National

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Church of India“ im Jahr 1887 in Madras gespielt (Text 77b). Anstelle der in vielen Missionskirchen üblichen Begleitung des Gottesdienstes durch ein Harmonium kamen nun verstärkt auch traditionelle Instrumente zum Einsatz. Die Aufnahme lokaler Architekturformen (anstelle des Standard-Modells viktorianisch-spätgotischer Kirchenbauten) ist ein anderes Paradigma, bei dem sich einheimische Christen zunächst oft reserviert zeigten. Zu stark drohten traditionell gestaltete Sakralbauten an das überwundenen „pagane“ Erbe zu erinnern. Im kolonialen Ceylon (Sri Lanka) etwa wurde 1918 der Grundstein einer im singhalesischen Stil errichteten Kapelle für das renommierte Trinity College in Kandy gelegt. Erste Vorüberlegungen und Debatten fanden jedoch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts statt. Gleiches gilt für die Einrichtung christlicher Ashrams. Ein bekanntes Beispiel ist die Gründung des Christikula-Ashram in Indien im Jahr 1921 (Text 68). Frühere Debatten und Überlegungen in diese Richtung sind jedoch in Indien und Sri Lanka bereits seit 1905 nachweisbar. Die Formulierung einer asiatischen christlich-kontextuellen Theologie selbst ist eine Entwicklung, die in ausgearbeiteter Gestalt erst in späteren Dekaden erfolgte. Andererseits gab es bereits früh Bestrebungen indischer „Pioneers of Indigenous Christianity“ (Kaj Baago), die Botschaft des Evangeliums auf die religiösen Traditionen des Landes zu beziehen (s. oben Abschnitt 5). Japanische Theologen – so erfahren wir anlässlich des Besuchs einer Delegation japanischer Christen im Jahr 1906 in Indien – entdecken den „orientalischen Christus“ wieder, den der Westen lange Zeit illegitimerweise okkupiert habe, und geben ihn den Nationen des Ostens zurück. Das ist ein Vorgeschmack auf die Debatten, die später in den 1970er Jahren beispielsweise im Rahmen der ‚Ecumenical Association of Third World Theologians‘ (EATWOT) geführt wurde. Die Verwendung einheimischer Namen für getaufte Christen ist ein anderes Beispiel, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Regionen intensiv diskutiert wurde, in Asien ebenso wie in Afrika. Wegen des theophoren Charakters (bzw. paganen Hintergrunds) vieler einheimischer Namen war es lange üblich gewesen, Konvertiten bei der Taufe eindeutig „christliche“ (und westliche) Namen zu geben. Diese Praxis wurde nun zunehmend in Frage gestellt, und die Beibehaltung traditioneller Namen auch für Neuchristen in der christlichen Presse Asiens lebhaft diskutiert. Gleiches gilt für traditionelle Kleidung und Lebensführung. Im kirchlichen Raum (etwa im Gottesdienst auf dem Boden sitzen) wie im häuslichen Gebrauch (z. B. Essen mit den Fingern) wurden lokale Gebräuche zögernd wiederentdeckt. Dies Thema spielte auch im – nun verstärkt einsetzenden – transkontinentalen Austausch indigen-christlicher Eliten aus verschiedenen Regionen eine Rolle. Afrikanische Christen verwiesen 1914 etwa lobend auf das Beispiel von V. S. Azariah, des ersten asiatischen Bischofs der anglikanischen Kolonialkirche, der sich bescheiden im herkömmlichen indischen Stil kleide.

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• Bibelübersetzungen schließlich, ein Herzstück gerade protestantischer Missionsaktivitäten im 19. Jahrhundert, wurden keineswegs allein von den Missionaren oder unter Inanspruchnahme der Dienste einheimischer „Helfer“ in abgeschirmten Komitee-Sitzungen erstellt. Sie wurden vielfach Gegenstand öffentlicher Debatten, wurden durch die missionarische sowie indigen-christliche Presse in alternativen Versionen publiziert und im weiteren Raum einer engagierten innerchristlichen Öffentlichkeit teils kontrovers diskutiert. Gleichsam als Programmschrift dieser frühen Indigenisierungsbewegung (obwohl dieser Begriff dort nirgends vorkommt) kann man beispielsweise den Traktat The Desire of India des nordindischen Laienchristen Surendra K. Datta (1878–1942) aus dem Jahr 1908 bezeichnen. Datta war dann von 1924 bis 1926 u. a. als politischer Repräsentant der indisch-christlichen Gemeinschaft in der Gesetzgebenden Versammlung des Landes tätig. Er forderte eine kulturelle Indigenisierung sowie die Selbst-Regierung und Selbst-Ausbreitung der „indischen Kirche“ und bedauerte das Fehlen einer genuin indischen Theologie, bei deren Entwicklung indische Christen viel von einer Bewegung wie dem Brahmo Samaj lernen könnten (Text 66a). Ähnliche Stimmen waren auch aus Japan und China zu vernehmen. Zugleich wurden nun an verschiedenen Orten auch Modelle einer „Erfüllungstheologie“ erörtert. Diese begriffen den christlichen Glauben nicht als Gegensatz, sondern als „Erfüllung“ (Mt 5,17) der religiösen Aspirationen Asiens. Träger der Indigenisierungsbewegung waren sowohl engagierte einheimische Christen als auch liberale Missionare vom Schlag eines C. F. Andrews, des späteren Freunds von Mahatma Gandhis, oder A. G. Fraser, der lange Zeit als Pädagoge erst in Uganda und später in Sri Lanka tätig war. „Heute“, so seine Analyse ebenfalls aus dem Jahr 1908, „ist die nationale Bewegung in Ceylon und Indien anti-christlich. Ich habe Menschen getroffen, die zutiefst von der Wahrheit Christi überzeugt sind und ihn anzunehmen begehren, sich später jedoch abgewendet haben, da ihnen eine Entscheidung für Christus als Verrat an Volk und Nation erscheint“. Daraus leitete Fraser die Forderung ab, den Menschen keinen „englischen Christus“ zu verkünden, sondern den „Christus Indiens und Ceylons zu predigen [...] Nur in der Kraft des auferstandenen Herrn und Christi kann ein Schüler die Ethik Buddhas erfüllen“ (Text 66a). Es waren Stimmen wie diese, die zunehmend das Klima und die Debatten asiatischer Kirchen im Vorfeld der Weltmissionskonferenz Edinburgh 1910 prägten.

7. Nationalkirchen, Ökumene und Vernetzungen Der Bereich, in dem sich die emanzipatorischen Bestrebungen asiatischer Christen am deutlichsten artikulierten, war die asiatische ökumenische Bewegung. Denn

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nirgends sonst schien der von vielen kritisierte „fremde“ Charakter des missionarischen Christentums so augenfällig wie bei der Vielzahl der aus Europa importierten Konfessionen, die den Ausweis ihres „ausländischen“ Ursprungs ja oft bereits im Namen vor sich hertrugen (wie etwa die anglikanische „Church of England“). Die Überwindung des konfessionellen „Sektierertums“ (sectarianism) der Missionare zählte darum früh zu den Forderungen indigen-christlicher Eliten in unterschiedlichen Regionen. „Wir hoffen auf eine Zeit“ – so heißt es in einem Journal indischer Christen um 1898 –, „in der die bedauerlichen sektiererischen Differenzen, die unser westliches Christentum kennzeichnen und die sich in beachtlichem Ausmaß auch in Indien festgesetzt haben, abgelöst werden durch ein freieres und vollständigeres Wachstum […] des spirituellen Lebens [...] Wir warnen dabei nicht nur vor der Mission der Engländer [Anglikaner] und Römer [Katholiken], sondern auch vor den schottischen, deutschen und amerikanischen Missionen“ (Text 69a). „Denominationalism has never entered the Chinese mind, nor are they interested in it“, erklärte 1910 der chinesische Delegierte Cheng Ching Yi auf der Weltmissionskonferenz in Edinburgh und erregte damit große Aufmerksamkeit. Im gleichen Jahr notierte in Indien der anglikanische Bischof von Bombay, E. J. Palmer: „Ich habe es oft sagen gehört, dass – wenn wir ausländische Missionare Indien heute geschlossen verliessen – sich alle indischen Christen sehr schnell vereinen und eine indische Kirche bilden würden. Wir haben es immer wieder sagen gehört, dass allein wir ausländischen Missionare die indischen Christen von der Einheit abhalten“ (Text 69b). Derartige Dauerkritik verstärkte den Druck auf die Missionskirchen, intensiver zu kooperieren. Seit 1900 nahm die Kooperation auch deutlich zu und führte zugleich zu vielfältigen lokalen Initiativen einheimischer Christen. Eine charakteristische Reaktion war das Anschwellen nationalkirchlicher Bewegungen. So wurde im Jahr 1886 in Madras die „National Church of India“ (NCI) gegründet. Sie suchte alle indischen Christen, unabhängig von ihrer Konfession und frei von missionarischer Kontrolle, schrittweise in einer nationalen Kirche zu vereinen. Diese sollte in Liturgie und Gottesdienst den „nationalen Eigentümlichkeiten“ und der „indischen Denkweise“ der einheimischen Gläubigen entsprechen (Text 77). Vor allem in der Frühphase bestanden personelle Querverbindungen zum 1885 gegründeten Indischen Nationalkongress. Die NCI existierte zwar nur bis zum Jahr 1930, spielte aber als Kristallisationspunkt der Autonomie-Bestrebungen südindischer Protestanten eine wichtige Rolle. Unabhängigkeitsbestrebungen gab es – angesichts autoritärer Strukturen und wachsenden Paternalismus in Teilen des kolonialkirchlichen Establishments – aber auch in anderen Regionen, etwa in der anglikanischen Kirche Sri Lankas (Text 76) oder in den baptistischen Gemeinden Burmas. Auch in China verstärkte sich bei vielen protestantischen Christen nach 1900 der Wunsch nach kirchlicher Eigenständigkeit. So wurde dort 1906, wie bereits erwähnt, eine missionsunabhängige überregionale Organisation namens „Chinese Christian Independent Church“ (Zhonghua Yesujiao zilihui) ins Leben geru-

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fen. Weitere Initiativen dieser Art folgten – In Japan fand die von Kanzo Uchimura (1861–1930) begründete „Nicht-Kirchen-Bewegung“ (Mukyokai) seit 1900 wachsende Verbreitung. Uchimura betonte die Notwendigkeit, sowohl Christ als auch Japaner zu sein, und leitete daraus die Notwendigkeit ab, keiner missionsgeleiteten und konfessionell abgegrenzten kirchlichen Organisation anzugehören (Text 78). Kirchliche Unabhängigkeitsbestrebungen in Asien waren im Regelfall weniger radikal als die zur selben Zeit in Afrika entstehenden independenten Bewegungen. In Westafrika kam es seit den 1890er Jahren zur einer Welle von Gründungen unabhängiger afrikanischer Kirchen. Sie waren weithin eine Reaktion auf die schrittweise Entmachtung von Samuel A. Crowther (1808–1891), dem ersten afrikanischen Bischof der Neuzeit und Symbolfigur der Aufstiegshoffnungen der westlich gebildeten afrikanischen Elite. Diese unabhängigen Kirchen Westafrikas vollzogen, ebenso wie die zeitgleich in Südafrika wie Pilze aus dem Boden sprießenden sogenannten äthiopischen Gemeinden, zumeist den sofortigen Bruch mit den weiß dominierten Missionskirchen, während etwa die indische NCI einen schrittweisen Übergang anstrebte. In beiden Kontexten aber, in den Missionskirchen Asiens wie auch Afrikas, spielten um die Jahrhundertwende die Debatten um die sogenannten Drei-Selbst (Three-Selves) eine entscheidende Rolle. Diese Formel bezeichnet die Zielvorstellung einer sich selbst ausbreitenden, selbst finanzierenden und selbst regierenden „einheimischen Kirche“. Ursprünglich ein missionarisches Konzept, das im 19. Jahrhundert in verschiedenen Regionen von unterschiedlichen missionarischen Akteuren formuliert worden war – so für West Afrika von Henry Venn (von der britischen „Church Missionary Society“) und für Ostasien von den amerikanischen Missionaren Rufus Anderson (Kongregationalist) und John L. Nevius (Presbyterianer) –, entwickelte es sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend zum Schlagwort der Emanzipationsbestrebungen indigen-christlicher Eliten auf beiden Kontinenten. Denn je länger desto deutlicher antworteten Vertreter des kirchlichen Establishments und der Kolonialgesellschaft auf das Verlangen einheimischer Christen nach gleichen Rechten mit einem „Noch nicht“. Nicht in der Gegenwart oder nahen Zukunft, sondern allenfalls in 30, 50 oder 100 Jahren (oder überhaupt nie) schien jene Gleichstellung realisierbar, die ursprünglich mit der Drei-Selbst-Formel in Aussicht gestellt worden war. Die Zunahme independentistischer oder nationalkirchlicher Bestrebungen insbesondere unter den westlich gebildeten Christen Asiens und Afrikas war die zwangsläufige Folge. Kirchlicher Independentismus war übrigens keineswegs nur im protestantischen Kontext anzutreffen. Analoge Bewegungen gab es auch im katholischen Asien. Prominentestes Beispiel einer romunabhängigen Kirche stellt die bereits an anderer Stelle erörterte „Iglesia Filipina Independentiente“ (IFI) dar. Im Jahr 1902 von einem Kreis philippinischer Illustrados („Aufgeklärter“) gegründet, umfasste sie zeitweilig bis zu 25 % der Bevölkerung des Inselstaates und existiert bis heute. Das Schisma mit Rom war der Höhepunkt des lang andauernden Kampfes philippi-

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nischer Kleriker und Intellektueller gegen ihre institutionelle Diskriminierung in der spanisch dominierten Kolonialkirche des Landes (Text 79). Bemerkenswerterweise strebte die IFI sehr rasch nach ihrer Gründung danach, sich mit anderen romunabhängigen Bewegungen zu vernetzen – global (etwa in den USA oder mit den Christ- bzw. Altkatholiken in der Schweiz) sowie speziell in Asien. So nahm sie Kontakt zu den „unabhängigen Katholiken“ in Sri Lanka und Goa auf, die ihrerseits um die Entsendung von IFI-Klerikern für ihre Kirche gebeten hatten. Proteste einheimischer Kleriker und katholischer Intellektueller gegen die mit Europäern besetzte kirchliche Hierarchie gab es auch in andern Ländern. Das Beispiel revolutionärer Kleriker in Vietnam zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde bereits an anderer Stelle erwähnt. In China glaubten europäische Missionare bereits um 1880, beim gesamten chinesischen Klerus eine tiefe Abneigung gegen alles Ausländische festzustellen, verbunden mit dem Verlangen nach eigenen, chinesischen Bischöfen.19 Das 19. Jahrhundert sei das Jahrhundert durchaus verdienstvoller westlicher Missionare gewesen, stellte in Madras der „Christian Patriot“ in seiner Ausgabe vom 28. September 1901 fest. Das 20. Jahrhundert hingegen werde in Asien ganz im Zeichen der einheimischen Christen stehen und gekennzeichnet sein durch „the self-support, the self-government and the self-extension of the Native Churches“20. Ein Bereich, in dem sich dieses Programm am einfachsten umsetzen ließ, waren eigene evangelistische Aktivitäten sowie die Gründung indigener Missionsgesellschaften. So wurde im Jahr 1905 in Serampore – in bewusster Aufnahme der Symbolik dieses Ortes, an dem hundert Jahre zuvor eine neue Epoche protestantischer Missionstätigkeit auf dem Subkontinent eingeläutet worden war – die „National Missionary Society of India“ als Initiative indischer Christen gegründet. Sie verstand sich als Ausweis eines christlichen Patriotismus und folgte dem Grundsatz: „Indian men, Indian money, Indian leadership“. Bereits nach kurzer Zeit wies sie knapp 100 Zweigstellen im ganzen Land auf. Sie wollte dabei den westlichen Missionaren keine Konkurrenz machen, wohl aber in bislang „unerreichten“ Gebieten tätig werden. Dies geschah sowohl innerhalb wie außerhalb Indiens – so in Burma, Sri Lanka und Singapur. Wichtig wurde die NMS zugleich als Übungsfeld einheimischer Führungspersönlichkeiten. Inspiriert war sie u. a. vom Vorbild einer Vereinigung christlicher Studenten aus Jaffna (Sri Lanka), die seit 1901 unter ihren tamilischen Landsleuten in Südindien und Südafrika tätig waren. Entsprechende Bewegungen gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen asiatischen Ländern. Geradezu programmatische Bedeutung gewannen eigene missionarische Aktivitäten für viele christliche Gemeinden in Korea. Bereits

19 Metzler, Josef, Die Synoden in China, Japan und Korea, 1570–1931, Paderborn etc, 1980, 108. 20 Koschorke, Discourses, 48.

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im Katastrophenjahr 1910 – als das Land seine Unabhängigkeit verlor – missionierten koreanische Evangelisten ihre Landsleute in Sibirien, Japan, der Mandschurei, Hawaii, Kalifornien, Mexiko und Kuba sowie bald darauf auch die lokale Bevölkerung im nordchinesischen Shandon. Anstelle der verlorenen nationalen Souveränität – so die Meinung vieler koreanischer Christen – komme dem Land nun die neue Funktion eines eigenständigen Zentrums der christlichen Weltmission zu. Auch japanische Christen begannen seit der Jahrhundertwende, eigene Evangelisten in benachbarte Länder zu schicken. „The recognition of the responsibility of the Christians of Japan for the evangelization of Formosa, Korea, Manchuria and North China [...] has been strengthened by the developments of the last year, until now it is generally shared by all intelligent Christians [sc. of Japan]“ – so die Erklärung japanischer Delegierter auf einer Konferenz in Tokio im Jahr 1907. Diese Tokio-Konferenz 1907 verdient ohnehin besondere Beachtung. Denn es handelt sich hier um die erste ökumenische Versammlung in Asien mit einer Mehrheit asiatischer Delegierter. Von den ca. 627 Teilnehmern kamen etwa 500 aus verschiedenen asiatischen Ländern, die meisten aus Japan, China und Indien. Veranstaltet wurde sie v. a. vom japanischen Zweig der „World’s Student Christian Federation“ (WSCF) – eine jener Organisationen (wie der YMCA), die sich in Asien rasch zur Kontaktbörse und Forum des Austauschs einheimischer Eliten entwickelt hatten. In der japanischen und in der internationalen missionarischen Öffentlichkeit fand die Konferenz große Beachtung. Presseberichte hoben die „Gleichheit“ im Status der westlichen und asiatischen Konferenzteilnehmer hervor. Thema der Veranstaltung war die Evangelisation Asiens „durch seine eigenen Söhne“. Angestrebt wurde u. a. eine intensivere Kooperation zwischen den christlichen Führungspersönlichkeiten des Kontinents. Auch zuvor war es verstärkt zu direkten Kontakten zwischen asiatischen Christen aus verschiedenen Regionen gekommen. Im Jahr 1906 etwa besuchte eine Delegation japanischer Christen Indien. Sie kamen „auf spezielle Bitte und Einladung der indischen YMCA’s“. Thema ihrer viel umjubelten Vortragstour, die sie vom Norden bis in den Süden des Subkontinents führte, war die Frage: „What can [Christian] India learn from Japan?“ Ihre Antwort: 1. Freiheit vom Denominationalismus der Missionare; 2. Einheimische Christen in Führungspositionen; 3. Förderung weiblicher Bildung. Regelmässige Kontakte und gegenseitige Besuche wurden vereinbart. Die Weltmissionskonferenz Edinburgh im Jahr 1910 gilt gemeinhin als Höhepunkt der protestantischen Missionsbewegung des 19. und als Ausgangspunkt der westlichen Missionsbewegung des 20. Jahrhunderts. Es ist viel zu wenig wahrgenommen worden, in welchem Umfang sie dabei auf die Entwicklungen und Debatten in den Kirchen Asiens und Afrikas reagierte. Dies geschah u. a. durch eine intensive vorbereitende Korrespondenz sowohl mit den Missionaren als auch mit den einheimischen Kirchenführern in den überseeischen „Missionsfeldern“. Es war vor allem das „Erwachen großer Nationen“ insbesondere in Asien, das in den Augen

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der Konferenz eine völlig neue Qualität der Kooperation auch zwischen den Missionen und Kirchen des Westens erforderte (Text 70). Die entscheidende Frage war dabei die, ob die asiatischen Nationalbewegungen – v. a. in Indien, Japan und China – ihren Weg mit oder ohne Christus gehen würden. Beide Optionen schienen möglich. Das verstärkte die dringliche Forderung nach intensivierter Zusammenarbeit und der Förderung indigener Leitungsstrukturen. In Edinburgh nahmen zwar nur siebzehn asiatische Delegierte teil. Sie waren aber im Konferenzprogramm an prominenter Stelle platziert und erhielten nach ihrer Rückkehr rasch Führungspositionen in ihren jeweiligen Heimatkirchen – so V. S. Azariah in Indien, Cheng Ching Yi in China oder J. S. Motoda in Japan. Langfristig von größter Bedeutung wurden dann v. a. die asiatischen EdinburghFortsetzungs-Konferenzen. Dreizehn solcher Continuation Committee Conferences fanden 1912/13 in verschiedenen asiatischen Ländern statt. Sie führten zur Bildung nationaler Missions-Räte, die später (um das Jahr 1924) teils in nationale ChristenRäte umgewandelt wurden – in Indien etwa mit der Maßgabe, dass 50% der Sitze indischen Christen vorzubehalten seien. Damit waren die Grundstrukturen für eine Selbstverwaltung asiatischer Kirchen gelegt, die in weiterentwickelter Form bis heute bestehen. Bemerkenswert ist auch die Teilnahme nicht-protestantischer Kirchen (etwa der orthodoxen Mar-Thoma-Kirche in Indien) an den EdinburghFortsetzungs-Konferenzen. Themen wie die Notwendigkeit nationaler (statt konfessioneller) Organisationsformen, die Entwicklung des „einheimischen Charakters“ der aus der westlichen Mission hervorgegangenen Kirchen sowie ein verändertes Verhältnis zur lokalen Kultur und den nicht-christlichen Religionen standen von nun an unüberhörbar auf der Tagesordnung der asiatischen Kirchen. „Im Blick auf das große Erwachen in China [sc. nach dem Sturz der Qing-(Mandschu-) Dynastie 1911] […] ist es die gemeinsame Überzeugung der Konferenz, dass eine befähigte chinesische Führung unbedingt erforderlich ist“, hieß es etwa in den Beschlüssen der nationalen China-Konferenz 1913 in Shanghai (Text 71). Während Edinburgh 1910 einen ersten Höhepunkt innerprotestantischer Globalisierung markiert und in Asien die regionalen Missionskonferenzen von Madras (1902) und Shanghai (1907) schon früher eine verstärkte Koordination der protestantischen Missionsarbeit auf dem Kontinent eingeleitet hatten, fielen im katholischen Asien wichtige Zentralisierungsprozesse in das Pontifikat von Papst Leo XIII. (1878–1903). Im Jahr 1886 wurde in Indien – in den nicht dem portugiesischen Patronat unterstehenden Territorien – erstmals eine reguläre kirchliche Hierarchie etabliert und sechs Erzdiözesen (in Agra, Bombay, Kalkutta, Madras, Pondicherry und Verapoly) sowie zahlreiche weitere Diözesen geschaffen, die direkt der Propaganda Fide in Rom unterstanden (Text 73). In Japan kam es 1891 zur Einrichtung einer ordentlichen kirchlichen Hierarchie, mit einem Metropoliten in Tokio und drei Suffragan-Bischöfen in Osaka, Nagasaki und Hakodate. Korea wurde dabei zunächst der japanischen Provinz zugewiesen, aber 1894 abgetrennt und der chinesischen Region zugeordnet. In China fanden im Jahr 1880 erstmals fünf Regio-

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nalsynoden statt (in Beijing, Shansi, Hankow, Szechuan und Hongkong); und seit 1891 residierte in Peking (Beijing) ein Vertreter des Apostolischen Stuhls. Die Idee einer chinesischen Nationalsynode wurde zwar seit den 1890er Jahren wiederholt erörtert, kam aber wegen französischer Widerstände erst im Jahr 1924 zustande. Mit diesen Maßnahmen wurden nicht nur frühere organisatorische Defizite der katholischen Missionen im Asien des 19. Jahrhunderts reduziert und zugleich die Stellung der vatikanischen Missionszentrale – der Kongregation De Propaganda Fide – gestärkt. Die Konkurrenz zu den traditionellen oder neuen Missionsprotektoraten europäischer Kolonialmächte (so der Portugiesen in Indien und der Franzosen in China) war damit zwar keineswegs beseitigt. Sie wurde aber doch zunehmend begrenzt bzw. – so im Fall Indiens – durch Klärung der Zuständigkeitsbereiche deutlich reduziert. Zugleich führten diese Maßnahmen zu zahlreichen Neuerungen im katholischen Schulwesen und anderen Feldern kirchlichen Handelns. So wurde im Jahr 1893 in Kandy-Ampitiya (im heutigen Sri Lanka) ein päpstliches Seminar zur Ausbildung eines einheimischen Priester-Nachwuchses in Indien, Burma und Ceylon gegründet. Es besteht, als nationales Seminar, bis heute und hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts wichtige einheimische Führungspersönlichkeiten hervorgebracht.

Literatur

Übergreifend Gründer, Horst, Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit, Gütersloh 1992. Hage, Wolfgang, Das orientalische Christentum (Die Religionen der Menschheit 31), Stuttgart 2007. Koschorke, Klaus/Hermann, Adrian (Hrsg.), Polycentric Structures in the History of World Christianity (StAECG Vol. 25), Wiesbaden 2014. Koschorke, Klaus/Hermann, Adrian/Burlacioiu, Ciprian/Mogase, Phuti (Hrsg.), Discourses of Indigenous Christian Elites in Colonial Societies in Asia and Africa around 1900. A Documentary Sourcebook from Selected Journals, Wiesbaden 2016. Koschorke, Klaus/Ludwig, Frieder/Delgado, Mariano (Hrsg.), Außereuropäische Christentumsgeschichte (Asien, Afrika, Lateinamerika) 1450–1990 (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen Bd. VI), 4. Auflage Neukirchen 2012. Metzler, Josef, Die Synoden in China, Japan und Korea, 1570–1931, Paderborn etc, 1980. Moffett, Samuel H., A History of Christianity in Asia. Vol. II: 1500 to 1900, Maryknoll, 2005. Phan, Peter C. (Ed.), Christianities in Asia, Singapore 2011. Sunquist, Scott W. (Hrsg.), A Dictionary of Asian Christianity, Grand Rapids, MI/Cambridge, UK 2001.

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Asien im 19. und frühen 20. Jahrhundert

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SPANIEN GRIECHENTunesien LAND Mittelmeer

Span.-Marokko Franz.-Marokko

OSMANISCHES REICH PERSIEN

Tripolitanien

Kairo

Cyrenaika

Algerien

Ägypten

Rio de Oro

Französisch-Westafrika

Franz.Äquatorialafrika

Gambia Port.-Guinea Sierra Leone

LIBERIA

Goldküste Togo

Franz.Somaliland Brit.Somaliland

Nigeria

ÄTHIOPIEN Kamerun Uganda

Rio Muni

Atlantischer Ozean

Eritrea Sudan

Franz.-Äquatorialafrika

Brit.Ostafrika

BelgischKongo DeutschOstafrika

ItalienischSomaliland

Indischer Ozean

Großbritanniens überseeische Besitzungen NjassaAngola Frankreichs überseeische land Besitzungen Nordrhodesien Mosambik Portugals überseeische Besitzungen Süd- Mosambik rhodesien Madagaskar Spaniens überseeische BetschuanaBesitzungen Deutschland Überseeische Besitzungen Südwestafrika des Deutschen Reiches Swasiland Belgiens überseeische Besitzungen Südafrikanische Basutoland Union Italiens überseeische Kapstadt Besitzungen

Kolonien in Afrika 1914

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DAS CHRISTENTUM IN AFRIKA VOM SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT BIS 1914 Kevin Ward

1. Überblick Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war das Christentum in Afrika schwach und zersplittert – es existierte nur auf weit verstreuten, isolierten Inseln. Der Islam war die wesentlich dynamischere und erfolgreichere Religion, er war die dominante Kultur in ganz Nordafrika und an der ostafrikanischen Küste; er begann, in der Sahara Fuß zu fassen und ebenso in Westafrika und im Sudan. Auch wenn manche afrikanisch-muslimischen Staaten glaubten, dass die Blütezeit ihrer Zivilisation bereits der Vergangenheit angehöre, dass sie von fremden Mächten beherrscht würden, vom Osmanischen Reich oder von der arabischen Halbinsel, war ihre Lage dennoch sehr viel besser als die der kleinen, sich abmühenden christlichen Gemeinschaften in Afrika. Anzeichen einer islamischen Erneuerung waren eher anzutreffen als ähnliche Entwicklungen innerhalb des afrikanischen Christentums. Das ägyptische Christentum schien im Niedergang begriffen, entkräftet nach Jahrhunderten des Ausharrens in einer oftmals feindseligen islamischen Gesellschaft. Das christliche Königreich Äthiopien hatte zwar die Krise des 16. Jahrhunderts überstanden, doch im 18. Jahrhundert hatte der Negus (König) praktisch keine Kontrolle mehr über den Staat, und die Kirche war in verschiedene Lager gespalten, die sich über die göttliche Natur Christi stritten (eine Folge des Kontaktes mit katholischen Missionaren) – nur wenig ließ auf die Fähigkeit schließen, wieder Zusammenhalt oder Erneuerung zu erreichen. In anderen Teilen Afrikas stagnierte die römisch-katholische Mission ebenfalls. Das kongolesische Königreich war aufgrund von Wirren, die allem Anschein nach denen im christlichen Staat von Äthiopien ähnelten, fast völlig zerfallen. Was vom Katholizismus im Kongo übrig blieb, war massiv eingeschränkt, fehlte es doch an Missionspersonal und einheimischem Klerus. Von den portugiesischen Enklaven um Luanda und im Sambesi-Tal existierten nur noch Reste, von denen nicht mehr genug Kraft ausging, um eine dauerhafte missionarische Wirkung zu entfalten. Zudem war die katholische Missionsarbeit durch ein Ereignis in Europa stark eingeschränkt: durch die Aufhebung des Jesuitenordens (eines der führenden Missionsorden in Afrika) im Jahr 1773 aufgrund der Anfeindungen seitens katholischer weltlicher Herrscher in Europa. Während der Französischen Revolution waren das Papsttum und die

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Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914

katholische Kirche als Institution in die Defensive geraten. Sie wurden schikaniert und marginalisiert, weil man sie für die Verkörperung des Ancien Régime, für Feinde der Freiheit und der Aufklärung hielt. Während die Kirche in Europa also solchermaßen unter Druck stand, war es ihr kaum möglich, ihre Missionsarbeit aufrechtzuerhalten, geschweige denn sie auszubauen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Protestanten kaum Interesse an missionarischen Aktivitäten in Afrika gezeigt. Die niederländisch-reformierte Kirche sah sich am Kap als Wächterin der niederländischen protestantischen Identität. Sie hatte außerdem norddeutsche und französische Hugenotten aufgenommen, woraus allmählich eine unverkennbare niederländische Kap-Kultur oder „Afrikaaner“-Kultur wurde. Zur reformierten Kirche gehörten auch – mit ausdrücklich geringerem Status – Angehörige niederländischer Haushalte: Sklaven aus Asien oder aus anderen Regionen Afrikas sowie Menschen aus der lokalen Khoisan-Bevölkerung, die gezwungen waren, als Vertragsknechte zu arbeiten, weil sie ihre eigene Wirtschaft und Kultur nicht mehr aufrechterhalten konnten. Doch fühlte man sich kaum veranlasst, die „heidnische“ afrikanische Bevölkerung insgesamt zu evangelisieren; tatsächlich gab es sogar eine Theologie, die die Verweigerung der Mission rechtfertigte. Der einzige ernsthafte Versuch einer Mission – die Niederlassung der mährischen Brüder in den 1740er Jahren, die unter dem Namen Genadendal bekannt wurde – war schon seit längerer Zeit aufgegeben worden, nicht zuletzt wegen der Gegnerschaft der Geistlichen der Reformierten Kirche. Trotzdem war es das protestantische Christentum, aus dessen Innerem eine neue Form der christlichen Mission entstand, die die Gestalt des afrikanischen Christentums im 19. Jahrhundert zutiefst verändern sollte. Der Aufstieg der evangelikalen Bewegung in Europa und Nordamerika, die Kampagne für die Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels und das Gefühl, als Christen verantwortlich zu sein für die von der Sklaverei entstellten Menschen in Afrika, verbanden sich zu einer starken und dynamischen Missionsbewegung. Im Gegensatz zu früheren Formen der europäischen Mission war diese nun unabhängig von staatlicher Initiative oder Schirmherrschaft. Finanziert wurde sie einerseits von Einzelpersonen, die freiwillige Missionsgesellschaften ins Leben riefen, und andererseits von Kirchen, die inspiriert waren von der neuen Erkenntnis, dass die Mission im Ausland ein wesentlicher Auftrag Gottes war, eine Verpflichtung zum Zeugnis gegenüber der „paganen“ Welt und zu ihrem Besten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden darum protestantische Missionen in den meisten Gegenden Afrikas „eingepflanzt“ (die landwirtschaftliche Metapher war sehr populär). Afrikanische christliche Konvertiten bildeten das Herz dieser Unternehmung – Afroamerikaner, die auf den Kontinent zurückkehrten, von dem ihre Vorfahren gewaltsam entführt worden waren, und befreite Sklaven, die vor dem Abtransport in die Neue Welt gerettet wurden. Schritt für Schritt erfasste die von Afrikanern getragene Missionsbewegung auch Gemeinschaften von Konvertierten und Diskriminierten ohne Versklavungserfahrung und sogar Menschen aus den herrschen-

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1. Überblick

den afrikanischen Eliten. Typischerweise übernahmen Afrikaner selbst den Aufbau christlicher Gemeinden – es waren hauptsächlich junge Männer und Frauen, die als Prediger, Übersetzer und ordinierte Pastoren arbeiteten. Manchmal geschah dies im Einklang mit ausländischen Missionaren, die die Mittel und das Know-how bereitstellten, zuweilen aber kam es mit diesen ausländischen Missionaren auch zu beträchtlichen Auseinandersetzungen über die Missionsstrategien, die Verwendung der Mittel und die Ausübung von Macht sowie über unterschiedliche Wahrnehmungen von „Rasse“ und Kultur. Nach dem Beginn der protestantischen Mission in Afrika dauerte es noch Jahrzehnte, bis die römisch-katholische Kirche die Stürme der Französischen Revolution überstanden und ihre internen Probleme überwunden hatte, so dass sie ihre Mission in Afrika wieder aufnehmen konnte. Sie konnte sich jedoch nicht mehr auf die alten Orden oder auf die Gunst katholischer Staaten stützen. Neue Missionsgesellschaften wurden gegründet, die viel stärker auf die aktive Förderung und Beteiligung der Gläubigen aus normalen katholischen Gemeinden setzten. Wie Großbritannien bei der Gründung ehrenamtlicher protestantischer Missionsgesellschaften vorausgegangen war, so übernahmen nach dem Sturz Napoleons Franzosen die Führung beim Aufbau der neuen katholischen Missionen in Afrika. Auch das Papsttum gewann wieder an Stärke und Ansehen. Im Jahr 1817 verlieh die Erneuerung der Congregatio de Propaganda Fide („Kongregation für die Verbreitung des Glaubens“), des missionarischen Arms des Papsttums, der Missionsarbeit neue Schubkraft. Großbritannien und Frankreich wurden im Lauf des Jahrhunderts zu den wichtigsten Kolonialmächten in Afrika. Über das Verhältnis von Mission und Kolonialismus ist viel geschrieben worden, und das scheint für Afrika besonders naheliegend zu sein. Jedoch war der ursprüngliche Vorstoß für ein missionarisches Engagement gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht durch den Wunsch nach Kolonialisierung motiviert. Das tropische Afrika war kein besonders geeigneter Ort für eine großangelegte Landnahme durch Siedler. Großbritannien ging es um die Aufrechterhaltung der Prinzipien des Freihandels, und es war misstrauisch gegenüber allen Plänen, die es in eine kostspielige Kolonialverwaltung verwickeln könnten. Südafrika war mit seinem günstigeren Klima und wachsenden Zahlen von Siedlern eine Ausnahme. Der französische Kolonialismus nahm seinen Anfang indessen in der überwiegend muslimischen Welt Nordafrikas, wo das Betätigungsfeld für direkte Mission begrenzt war. Erst in den 1880er Jahren setzte ein „Wettlauf um Afrika“ ein, das bis 1914 zur weiträumigen Eroberung des kolonialen afrikanischen Flickenteppichs führte. Ein kultureller Imperialismus bestand schon wesentlich länger, doch kam er gegen Ende des Jahrhunderts deutlicher zum Ausdruck, als der Sozialdarwinismus sich festsetzte, Rassehierarchien zum System erhob und die Gegensätze zwischen „primitiv“ und „zivilisiert“ oder zwischen „heidnisch“, „pagan“, „animistisch“ und „christlich“ auf die Spitze trieb. Die Missionare befürworteten den Kolonialismus anfangs nur hinsichtlich bestimmter kleinerer Projekte, wie etwa der Einweihung einer „Kolonie der Freiheit“

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Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914

in Sierra Leone, oder wenn man bei europäischen Regierungen darum nachsuchte, „Recht und Ordnung“ gegenüber gewissen Autokraten durchzusetzen, wenn diese sich (wie zum Beispiel der Herrscher von Lagos) als unfähig erwiesen, den AntiSklaverei-Maßnahmen zu entsprechen. Im Verlauf des Jahrhunderts forderten Missionare ihre Regierungen manchmal dazu auf, den Schutz bestehender afrikanischchristlicher Gemeinden vor Belästigung und Verfolgung zu gewährleisten oder andere europäische Mächte daran zu hindern, eine bestimmte Region einzunehmen. Doch selbst im Zeitalter des Kolonialismus sahen die Missionare es als ihre Pflicht an, sowohl koloniale als auch einheimische Behörden zu kritisieren, wenn sie glaubten, dass deren Politik der örtlichen Bevölkerung Schaden zufügte. Nur selten ließen sich die Missionen auf Vorhaben ein, die unmittelbar mit der Verwaltung der örtlichen Bevölkerung oder gar mit Eingriffen in deren Souveränität zu tun hatten. Wo sie es taten, kam kaum etwas Gutes dabei heraus. Allerdings neigten die Missionare dazu, ihre Bekehrten strengen Regeln zu unterwerfen, sei es durch die Verankerung von Ordnung und Disziplin in Schulen und Krankenhäusern oder durch das öffentliche Bloßstellen und die kircheninterne Bestrafung von „Lastern“. Dabei konnte es zu Formen von Zwangsausübung kommen, auch wenn sich diese kaum über längere Zeit gehalten haben dürften. Die afrikanischen Christen hielten sich oft aus freien Stücken an solche Normen und verschärften sie bisweilen sogar, auch wenn sie den missionarischen Paternalismus, auf dem diese fußten, letztlich ablehnten. Sie arbeiteten am Aufbau sich selbst verwaltender christlicher Gemeinden, die frei von der Kontrolle durch die Missionare waren, aber immer noch in Verbindung mit ihren Mutterkirchen standen. Zeitweise rebellierten sie und gründeten unabhängige Kirchen jenseits der Überwachung durch Missionare. Manche afrikanische Christen waren davon überzeugt, dass „zivilisiert“ und „christlich“ zu sein bedeutete, europäische Normen und Werte zu verinnerlichen; andere glaubten ebenso fest daran, dass es Wege gab, zivilisiert und christlich zu sein, ohne die traditionellen kulturellen Werte zu untergraben. Die Missionare haderten häufig auch selbst mit europäischen Werten – insbesondere mit solchen, die die Autonomie der Menschen betonten, die säkular ausgerichtet waren und eine Gesellschaft ohne religiösen Rahmen anstrebten. Ihnen ging es darum, eine alternative christliche Gesellschaft in Afrika aufzubauen, die eines Tages die schwindende Christenheit des modernen Europa ersetzen könnte. Während aber die Missionare oft die europäische Moderne (und besonders die gottlosen und materialistischen Aspekte des aufklärerischen Säkularismus) als Gegensatz zu den christlichen Werten empfanden, tendierten die afrikanischen Christen dazu, das Christentum gerade deshalb zu begrüßen, weil es für sie einen Weg in die Moderne darstellte. Die evangelikale Erneuerung, die die moderne Mission so stark beflügelt hatte, fand sich zunehmend durch die afrikanischen Erweckungsbewegungen bestätigt: Sie wurden von Afrikanern geleitet und sprachen in einer Weise, wie es die Missionare selbst selten vermochten; sie transformierten die afrikanische Kultur von innen heraus.

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2. Neue Ansätze in der Mission

Die Missionare sind oft für ihre mangelnde Sensibilität gegenüber der afrikanischen Kultur kritisiert worden, und da gab es in der Tat viel zu kritisieren. Dennoch sollte man sich auch daran erinnern, dass die Missionare selbst oft „bekehrt“ wurden: von einer ursprünglichen Geringschätzung und Ablehnung der „Primitivität“ und der „Abgötterei“ lokaler Kulturen und Religionen zu einer innigen Wertschätzung der Tiefe und Komplexität afrikanischer Gesellschaften und zum Respekt für das angetroffene religiöse Empfindungsvermögen. Gerade der Prozess der Übersetzung der Bibel in die Volkssprachen könnte ein bedeutender Impuls dafür gewesen sein, den afrikanischen Gemeinschaften Stärke und Widerstandskraft zu geben für den Umgang mit den zersetzenden Einwirkungen der europäischen „Zivilisation“. Als ein Weg zur Moderne verfehlte das Christentum auch seine Wirkung auf die altorientalischen Kirchen von Ägypten und Äthiopien nicht. In Ägypten öffnete sich die koptische Kirche vorsichtig einigen Aspekten der modernen europäischen Liberalität, denn sie sah darin eine Möglichkeit, der Marginalisierung des Christentums durch die traditionellen autoritären islamischen Regime zu entgehen. Oft versuchten westliche Missionare, mit koptischen und äthiopischen Kirchenführern zusammenzuarbeiten, auch wenn dies oft in Frage gestellt oder abgelehnt wurde, wenn sich die jeweiligen Ziele als unvereinbar herausstellten. Gerade was diese alten Kirchen betraf, mussten die westlichen Missionare mit äußerster Vorsicht vorgehen, wenn die Integrität und das historische Leben dieser Kirchen bewahrt werden sollten.1

2. Neue Ansätze in der Mission Gerade zu der Zeit, als die katholische Mission in Afrika stagnierte, wurden sich die Protestanten ihrer Verantwortung bewusst, „alle Völker zu Jüngern zu machen“. Die evangelikale Erweckung in Europa, Großbritannien und Amerika schuf eine Unzufriedenheit mit den etablierten Staatskirchen, die die Religion für die „Untertanen“ (verstanden als Gesamtbevölkerung) verwalteten. Die Bewegung gab den Einzelnen neuen Schwung, indem sie sie zu aktiven Teilnehmern machte, und verschaffte den Ideen der Eigenständigkeit, der Freiheit und der frei zum Ausdruck gebrachten „Religion des Herzens“ Auftrieb. Klasse, ethnische Zugehörigkeit, Status – all das wurde von der evangelikalen Botschaft relativiert. Die Quäker wurden

1 Einen ausgezeichneten Überblick unter ausführlicher Berücksichtigung des langen 19. Jahrhunderts geben Hastings, Adrian, The Church in Africa 1450–1950, Oxford 1994; Sundkler, Bengt/Steed, Christopher, A History of the Church in Africa, Cambridge 2000; und Isichei, Elizabeth, A History of Christianity in Africa, London 1995.

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zu Pionieren, als sie die Sklaverei und den Sklavenhandel angriffen, und dies wurde in zunehmendem Maß von Evangelikalen in Großbritannien sowie von Anglikanern, Methodisten und Nonkonformisten („Old Dissent“ – den Abweichlern vom anglikanischen Bekenntnis) aufgegriffen. Auch wenn kaum Berührungspunkte zwischen dem evangelikalen Christentum und dem Geist der Aufklärung auszumachen sind, so teilten doch beide die Abneigung gegen den autoritären Traditionalismus und gegen die Unnachgiebigkeit der staatskirchlichen Strukturen, und beide freuten sich über die Entstehung freier Organisationen, die sich für eine „Verbesserung“ der Gesellschaft stark machten.2 Das erforderte den Einsatz aktiver Individuen, die für ein gemeinsames Ziel arbeiteten, und fand seinen Ausdruck sowohl in der Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei als auch im Aufbau von Missionsgesellschaften, die unter den „Heiden“ wirken sollten. William Wilberforce (1759–1833), ein anglikanischer Evangelikaler, wurde zusammen mit Granville Sharp (1735–1813) und Thomas Clarkson (1760–1846) durch die Parlamentskampagne für die Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei bekannt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab es in London einen beträchtlichen Anteil von Schwarzen an der Bevölkerung. Viele von ihnen waren ehemalige Sklaven, die ursprünglich von ihren karibischen Eigentümern nach England gebracht worden waren. Die meisten gehörten dem städtischen Proletariat an, doch einige herausragende Persönlichkeiten gewannen Ansehen in höheren sozialen Sphären. Ignatius Sancho (der von Thomas Gainsborough porträtiert wurde) und George Bridgetower (dem Beethoven ursprünglich seine Kreutzersonate für Klavier und Violine mit den scherzhaften Worten „per un mulattico lunatico“ gewidmet hatte) waren beide namhafte Musiker. Ottobah Cugoano (ca. 1757–1791), ein Angehöriger der afrikanischen Volksgruppe der Fante, der in seiner Jugend versklavt worden war, kam schließlich nach England und erlangte nach dem Somerset-Urteil im Jahr 1772, das die Sklaverei für unvereinbar mit dem englischen Recht erklärte, seine Freiheit.3 1787 griff Cugoano die Sklaverei mit einem Buch aufs schärfste an: Thoughts and Sentiments on the Evil and Wicked Traffic of the Slavery („Gedanken und Gefühle über das böse und niederträchtige Betreiben der Sklaverei“). Es wurde von Abolitionisten häufig zitiert und inspirierte die Gestaltung von Josiah Wedgewoods weitverbreitetem Gedenkmedaillon, das einen Afrikaner zeigte, der seine angeketteten Hände mit den flehenden Worten hochhielt: „Bin ich kein Mensch und Bruder?“ Diese Worte wurden zum Motto der Abolitionisten ebenso wie der evangelikalen Missionsbewegung. Ein noch einflussreicherer afrikanischer Abolitionist war Olaudah Equiano (1745–1797), ein ehemaliger Sklave. Seine bemerkenswerte Autobiografie Interesting Narrative (1789) wurde sowohl zu einem Klassiker der Abolitionisten-Bewegung als auch zu einem Beispiel der evangelikalen Bekehrung: ein

2 Ward, W. Reginald, Early Evangelicalism: A Global Intellectual History, Cambridge 2006. 3 Fryer, Peter, Staying Power. The History of Black People in Britain, London 1984, 67–88.

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2. Neue Ansätze in der Mission

Dokument der Befreiung aus physischer Versklavung und der Humanität eines Afrikaners, dem als „Mensch und Bruder“ die Erlösung durch Jesus Christus zuteilwurde.4 Das Wachstum der freien Missionsgesellschaften war mit der AbolitionistenBewegung eng verbunden – für viele war gerade die Missionstätigkeit in Afrika eine Art der „Reparation“ für die Jahrhunderte des Sklavenhandels. Tonangebend unter diesen neuen Gesellschaften für Afrika war die Church Missionary Society (CMS), eine anglikanische Organisation, gegründet im Jahr 1799 von Mitgliedern der sogenannten „Clapham-Sekte“, einer Gruppe von evangelikalen Anglikanern, Männern des öffentlichen Lebens, die sich in der Pfarrei von Pfarrer John Venn in Clapham südlich von London trafen. Sie bezeichneten ihr Projekt als eine Gesellschaft „für die Mission in Afrika und im Osten“, womit sie dem afrikanischen Kontinent in ihrem strategischen Denken den Vorrang einräumten, den er in der Folge auch nie verloren hat.5 Auch die Kirche von Schottland und wichtige Freikirchen überall im Vereinigten Königreich wurden in der Missionsarbeit in Afrika aktiv, ebenso die konfessionsübergreifende London Missionary Society, deren Arbeit in Südafrika besonders wichtig wurde. Die CMS knüpfte starke Verbindungen mit der 1815 gegründeten Basler Mission, weshalb viele der frühen CMS-Missionare eigentlich in Basel ausgebildete deutsche Protestanten waren.6 Deutsche und skandinavische Missionen sowie die evangelikale Mission von Paris (Société des missions évangéliques de Paris) begannen bald dauerhaft in Afrika zu arbeiten.7 Zum Wiederaufleben der katholischen Afrikamission kam es ungefähr eine Generation nach dem Beginn der protestantischen Missionen. Den Hintergrund bildeten weniger die Kampagnen gegen die Sklaverei als die neuen Möglichkeiten, die sich der römisch-katholischen Kirche nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft und der Hegemonie einiger Ideen der Französischen Revolution eröffneten. In Afrika führte dies nicht zu einem weitflächigen Wiederaufblühen der alten Ordensmissionen wie den Jesuiten, Franziskanern und Benediktinern, sondern zur Begründung neuer Gesellschaften, die sich ganz der Missionsarbeit widmeten. Frankreich spielte dabei eine entscheidende Rolle, denn dort wurde eine ganze Reihe neuer Ordensgemeinschaften gegründet, wie etwa im Jahr 1816 die Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria. 1848 sorgte Francis Libermann, ein jüdischer Kon-

4 Unter den vielen neueren Ausgaben sei erwähnt: Carretta, Vincent (Hrsg.), An Interesting Narrative and Other Writings, Harmondsworth 1995. 5 Vgl. den monumentalen Bericht von Stock, Eugene, The History of the Church Missionary Society. Its Environment, Its Men and Its Work, 4 Bde., London 1899–1916. 6 Zur Basler Mission vgl. Christ-von Wedel, Christine/Kuhn, Thomas K., Basler Mission. Menschen, Geschichte, Perspektiven 1815–2015, Basel 2015. 7 Vgl. den klassischen Bericht zur protestantischen Missionsarbeit in Afrika im 19. Jahrhundert von Groves, Charles P., The Planting of Christianity in Africa, 4 Bde., London 1948–1958.

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vertit, für die Wiederbelebung eines alten französischen Ordens, der Missionsgesellschaft vom Heiligen Geist (Spiritaner). Der Orden brachte in Westafrika wichtige Projekte auf den Weg, die bald ausgebaut werden konnten, als im Jahr 1864 ein neuer Orden zu seiner Unterstützung hinzukam: die Gesellschaft der Afrikamissionen (Societas Missionum ad Afros – SMA), gegründet von Melchior de Marion Brésillac. Wenige Jahre später, 1868 rief der Erzbischof von Algier (und spätere Kardinal) Charles Lavigerie die Weißen Väter (Gesellschaft der Missionare von Afrika) ins Leben.8 Eine weitere bedeutende Persönlichkeit im Zusammenhang mit dem erneuerten katholischen Interesse an Afrika war der italienische Priester Daniele Comboni, dessen Orden (Comboni-Missionare) die katholischen Missionen am Oberen Nil wiederbelebte. Andere Italiener sowie Deutsche (unter ihnen auch Elsässer), Niederländer und Iren, meist von den französischen Missionsgesellschaften ausgesandt, trugen ebenfalls maßgeblich zum Wiederaufleben der katholischen Missionen in Afrika bei.9 Papst Gregor XVI. (1831–1846) untermauerte diese Erneuerung des katholischen Interesses an Afrika im Jahr 1839 mit seinem Apostolischen Schreiben In Supremo Apostolatus, einer Verurteilung des Sklavenhandels (etwas verspätet im Vergleich mit den protestantischen Abolitionisten). Die Fülle der französischen Missionen wurde ergänzt durch eine Laienvereinigung: das Werk der Glaubensverbreitung (Société pour la Propagation de la foi), das Pauline Jaricot 1822 in Lyon gründete. Das Werk sammelte unter einfachen Gemeindemitgliedern Kleinspenden „für die Missionen“. Diese Entwicklungen entsprachen den Bemühungen der Evangelikalen, ihre Laien für die Wichtigkeit der Missionsarbeit zu begeistern. Und so nahmen Großbritannien für die Protestanten und Frankreich für die Katholiken die Ehrenplätze bei der Förderung der missionarischen Aktivitäten in Afrika ein – gerade jene Nationen, die am Ende des Jahrhunderts bei der kolonialen Unterwerfung des Kontinents die Speerspitzen waren. Das Verhältnis zwischen Missionsarbeit und kolonialer Eroberung ist jedoch komplex.10

3. Kampf gegen die Sklaverei in Westafrika Die evangelikalen Abolitionisten waren sich schmerzhaft bewusst, dass nicht zuletzt in Afrika der transatlantische Sklavenhandel die Menschen als Ebenbild Gottes ent-

8 Renault, François, Le Cardinal Lavigerie 1825–1892. L’Église, l’Afrique et la France, Paris 1992. 9 Einen umfassenden Bericht gibt Ruggieri, Giuseppe (Hrsg.), Église et histoire de l’Église en Afrique, Paris 1988. 10 Hastings, The Church in Africa, 248–250.

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3. Kampf gegen die Sklaverei in Westafrika

stellt hatte. Deshalb bestand die Aufgabe darin, ihre menschliche Würde wiederherzustellen. Für den Wirtschaftshistoriker Philip Curtin war das transatlantische System eines, „das Menschen verbrauchte, wie andere Industrien Rohstoffe verbrauchen“.11 Er schätzte, dass zwischen dem späten 15. Jahrhundert und dem Jahr 1870, als der Handel endlich gedrosselt wurde, neun Millionen Menschen (hauptsächlich junge Männer) nach Nord- und Südamerika „exportiert“ wurden. Walter Rodney, Verfasser der klassischen wirtschaftspolitischen Polemik Afrika. Geschichte einer Unterentwicklung, setzt die Zahl mit ca. 15 Millionen wesentlich höher an.12 Doch selbst diese Zahlen berücksichtigen weder diejenigen, die in den Kriegen getötet wurden, welche der Sklavenhandel innerhalb Afrikas verursachte, noch die Schäden in den lokalen Gesellschaften durch die Korrumpierung der rechtlichen Institutionen, die politische Instabilität und die Aushöhlung von unter Umständen milderen Formen der Leibeigenschaft. Seit dem 18. Jahrhundert hatte Großbritannien als größter Sklavenhändler die Spanier, Portugiesen und Niederländer hinter sich gelassen. Es war darum angemessen, dass die Briten bei dem Versuch, den transatlantischen Handel zu unterbinden, die Führung übernahmen, indem sie die britische Anti-Sklaverei-Schwadron einsetzten, die für sich das Recht in Anspruch nahm, an Bord der Schiffe aller Länder zu gehen und deren Fracht zu befreien.13 Dennoch ging der Handel weiter, denn die Vereinigten Staaten und Brasilien (das für seine Plantagenwirtschaft weiterhin Sklaven brauchte) füllten die Lücke aus, die die Europäer hinterlassen hatten. Doch auch ungeachtet humanitärer Erwägungen war es nicht mehr in Großbritanniens wirtschaftlichem Interesse, das Dreieck des Sklavenhandels weiter aufrechtzuerhalten. Im Zuge der rapiden Industrialisierung lag Großbritannien (und zunehmend auch anderen Teilen Europas) mittlerweile mehr am „freien Handel“ in „rechtmäßigen Geschäftsbeziehungen“, durch welche das Rohmaterial für die eigenen Fabriken beschafft und Märkte für Baumwollstoffe, Eisen, Stahl und andere Erzeugnisse erschlossen werden konnten. Noch bevor der Sklavenhandel per Gesetz verboten worden war, arbeiteten die britischen Sklavereigegner daran, einen Brückenkopf des Kampfes gegen die Sklaverei in Westafrika zu errichten: Freetown an der Küste von Sierra Leone wurde dazu bestimmt, eine „Provinz der Freiheit“ zu werden.14 Auch Equiano ermutigte Schwarze in London, die noch zögerten, dazu, sich als Freiwillige den dortigen Siedler-Pionieren anzuschließen. In der Folgezeit erhielten sie weiteren Zuwachs durch Schwarze aus

11 Curtin, Philip, The Atlantic Slave Trade. A Census, London 1969. 12 Rodney, Walter, Afrika. Geschichte einer Unterentwicklung, Berlin 1975 (Originalausgabe: How Europe Underdeveloped Africa, London 1972). 13 Jakobsson, Stiv, Am I Not a Man and A Brother? British Mission and the Abolition of the Slave Trade, Uppsala 1972. 14 Peterson, John, The Province of Freedom. A History of Sierra Leone 1787–1870, Evanston 1969.

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der Karibik, aus den amerikanischen Kolonien und aus Kanada. Viele von ihnen hatten im Unabhängigkeitskrieg, aus dem die Vereinigten Staaten hervorgingen, auf der Seite der Briten gekämpft.15 Unter ihnen waren zahlreiche Christen, die als Baptisten oder Methodisten verschiedene Formen des evangelikalen Christentums angenommen hatten. Gegenüber der etablierten anglikanischen Kirche waren sie misstrauisch, denn sie repräsentierte in ihren Augen die Religion der Sklavenhalter. In den ersten Jahrzehnten war die Lebensfähigkeit der Kolonie in hohem Maße gefährdet, doch die Aufhebung des Sklavenhandels durch das britische Parlament im Jahr 1807 verschaffte ihr eine neue Grundlage: Freetown wurde der Ort, an dem afrikanische Sklaven an Land gebracht und freigelassen werden konnten, wenn die britische Schwadron sie von den Sklavenschiffen geholt hatte, bevor diese Amerika erreichten. Es wurden Siedlungen für befreite Gefangene errichtet, die nach dem Muster englischer Gemeinden mit einer anglikanischen Kirche und Bildungseinrichtungen ausgestattet waren. Diese Gemeinden schmückten sich mit patriotischen englischen Namen wie Wellington, Waterloo, Wilberforce und Regent. Methodistische und anglikanische Kirchen wurden eingerichtet, und die dort stationierten Missionare (im Falle der CMS waren es viele deutsche Lutheraner) besaßen sowohl verwaltungsrechtliche als auch kirchliche Abschlüsse. In den folgenden Jahrzehnten wurden zahlreiche Gefangene auf ihrem Weg in die Sklaverei befreit und in der Kolonie rehabilitiert. Sie waren stolz auf ihre neue christliche und „englische“ Identität. Bildung war äußerst begehrt. 1850 stellte man fest, dass in Sierra Leone der Anteil derer, die eine Schule besucht hatten, größer war als in England selbst. Das Fourah Bay Institute für die Ausbildung von Lehrern war im Jahr 1827 eingerichtet worden; ein Gymnasium für Jungen entstand in den 1840er Jahren und eines für Mädchen in den 1870ern. Fourah Bay, das zum College geworden war, wurde 1876 der Universität von Durham angegliedert und konnte nunmehr Hochschulabschlüsse vergeben. Englisch wurde die Lingua franca der Kolonie, und das anglikanische Book of Common Prayer von 1662 wurde zur maßgeblichen Agende für den Gottesdienst – während die Methodisten bei ihren Gebetszusammenkünften die Lieder der Erweckungsbewegung sangen. Zum Sonntagsgottesdienst wurde ordentliche viktorianische Kleidung erwartet. Die Gegensätze, die in der englischen Gesellschaft zwischen Kirche und Kapelle bzw. Anhängern der Staatskirche und der Freikirchen bestanden, existierten auch in der zweiten, „kreolisierten“ Generation, wobei beide Bevölkerungsgruppen weiterhin der viktorianischen Kleiderordnung folgten, die bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen blieb. Ein führender Repräsentant dieser neuen Gesellschaft war Sir Samuel Lewis (1843–1903): „Seine Laufbahn ist ein hervorragendes Beispiel für den erfolgreichen Umgang eines Afrikaners mit der westeuropäischen Kultur. Die wirklich prägenden Einflüsse seines Lebens hatten mit der afrikanischen Stammeskultur kaum etwas zu tun […]; obwohl er

15 Sanneh, Lamin, Abolitionists Abroad. American Blacks and the Making of Modern West Africa, Cambridge, MA 1999.

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3. Kampf gegen die Sklaverei in Westafrika bekannt dafür war, seinem Stolz über seine Herkunft aus dem Volk der Yoruba Ausdruck zu verleihen, war diese für ihn keine lebendige Kraft. Seine Karriere machte er in Institutionen, die ihrem Wesen nach ‚westlich‘ waren, und sein Charakter wurde dementsprechend geformt – in englischen Bars, in der wesleyanischen [methodistischen] Kirche, in der Geschäftswelt von Freetown, im Legislativrat.“16

Dieses Zitat gibt sicher einen Aspekt des kreolischen Lebens wieder, doch es sollte kritisch gelesen werden. Die essentialistischen Kategorien des „Westlichen“ oder des „Afrikanischen“ sind allzu einfach und übersehen die kreative Hybridität der Kultur von Sierra Leone. Freetown war eine kosmopolitische Gesellschaft, bewohnt von befreiten Sklaven aus vielen Teilen Westafrikas und der Neuen Welt. Die größte einzelne Bevölkerungsgruppe waren die Aku, die dem Volk der Yoruba angehörten. Die geografische Nähe des Lands ihrer Vorfahren bedeutete für die befreiten Yoruba und Kreolen, dass die Rückkehr dorthin in den Bereich des Möglichen gerückt war. Und es galt als christliche Pflicht, einem Land Aufklärung und Erneuerung zu bringen, das zerrissen und zerstört worden war. Seit den 1830er Jahren begannen Aku, sich in Lagos und Abeokuta niederzulassen, oftmals auf Einladung der lokalen Herrscher, die sich von ihnen einen Nutzen für ihre Staaten versprachen. Ein herausragendes Mitglied dieser Volksgruppe war Samuel Ajayi Crowther.17 1809 in Osogun im Yoruba-Staat Oyo geboren, war er im Jahr 1821 verschleppt und versklavt, aber fast unmittelbar danach befreit worden. Er nutzte die Bildungsmöglichkeiten in Freetown und war einer der ersten Studenten am Fourah Bay College. Bei einem Besuch in England erregte er die Aufmerksamkeit von Henry Venn, dem Generalsekretär der CMS von 1842 bis 1871, und wurde ein Pionier bei der verheerenden Niger-Mission. Er ließ sich in Abeokuta nieder, wurde als anglikanischer Priester ordiniert und beteiligte sich an der Übersetzung der Bibel in die Sprache der Yoruba. Als Realist und Pragmatiker war Crowther sich immer bewusst, was für ein komplexes Unterfangen es war, christliche Werte, wie die europäische Kultur sie verstand, in afrikanische Gesellschaften zu importieren. Dabei stieß er oft auf Missionare, die mehr Eifer als Toleranz an den Tag legten. Venn hingegen war überzeugt, dass Crowther ein Musterbeispiel für das Potenzial der afrikanischen Neuchristen war, die eine wesentliche Rolle bei der Verkündigung des Evangeliums spielen konnten. Er überzeugte den widerstrebenden Crowther davon, Missionsbischof „am Niger“ zu werden, unter Völkern, deren Kultur sich sehr von seiner angestammten Yoruba-Kultur unterschied. Dass die

16 Hargreaves, John D., A Life of Sir Samuel Lewis, Oxford 1958, 112. 17 Page, Jesse, The Black Bishop, London 1909. Eine Darstellung neueren Datums findet sich bei Sanneh, Lamin, The CMS and the African Transformation. Samuel Ajayi Crowther and the Opening of Nigeria, in: Ward, Kevin/Stanley, Brian (Hrsg.), The Church Missionary Society and World Christianity 1799–1999, Richmond 2000, 173–197.

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Yoruba-Mission selbst hingegen nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fiel, lag am Widerstand von Henry Townsend, dem Hauptmissionar in Abeokuta.18 Westliche Missionare kritisierten die kreolische Kultur oft für ihre unkritische Übernahme der Insignien der westlichen Zivilisation und für ihre vermeintliche Gleichgültigkeit gegenüber der Missionsarbeit unter den Eingeborenen von Sierra Leone.19 Tatsächlich gab es in Sierra Leone und mehr noch in Liberia Integrationsprobleme zwischen den Kreolen und den indigenen Gesellschaften, in deren Mitte sie sich niederließen. Das erwies sich als besonders schwierig in Liberia, wo schwarze Amerikaner wie Lott Carey (ca. 1780–1828) unter den Siedlern eine dynamische baptistische Kirche gründeten, aber von missgünstigen örtlichen Gruppen angefeindet wurden. Carey selbst wurde stellvertretender Gouverneur der Kolonie, starb aber, als bei der Verteidigung der Siedlung gegen einen Angriff von bewaffneten örtlichen Kriegern Munition explodierte. Liberia war sehr darum bemüht, ein positives Bild von sich zu schaffen, wie es Freetown mit der „Provinz der Freiheit“ gelungen war. Doch immer mehr wurde die Kritik an der kreolischen Gesellschaft zu einem Deckmantel für rassistische Einstellungen unter weißen Europäern und Amerikanern, die den Erfolg des abolitionistischen Projekts bei der Schaffung eines dynamischen und selbstbewussten afrikanischen Christentums mit Missgunst betrachteten.20 Einer der eloquentesten Wortführer für das große Potenzial der Menschen mit afrikanischem Erbe, ob es nun befreite Sklaven oder Einheimische waren, war Alexander Crummell (1819–1898), ein Afroamerikaner, der sich im Jahr 1850 in Liberia niedergelassen hatte und zu einem Pionier des Panafrikanismus wurde.21 Seine Ideen wurden von dem brillanten Presbyterianer Edward Blyden (1832–1912) weiterentwickelt, der, aus der Karibik stammend, in Liberia siedelte. Blyden war ein Kritiker des Missionschristentums, das sich in Westafrika entwickelt hatte. In seinen Augen hatte der Islam einen erfolgreicheren Weg gefunden, sich an die Kulturen der Region anzupassen. Sein großartiges Werk Christianity, Islam and the Negro Race (1887) war eine Verteidigung des afrikanischen Beitrags zur Zivilisation und zum Christentum, die sich an keiner Stelle der Vorstellung unterwarf, dass der Westen die einzige Quelle solcher Weisheit sei und dass Afrikaner kaum mehr als passive Empfänger seiner Freigebigkeit sein könnten.22

18 Yates, Timothy E., Venn and Victorian Bishops Abroad. The Missionary Policies of Henry Venn and Their Repercussions upon the Anglican Episcopate of the Colonial Period 1841–1872, London 1978; Wilbert R. Shenk, Henry Venn. Missionary Statesman, Maryknoll 1983. 19 Vgl. zum Beispiel den klassischen Bericht von Neill, Stephen, A History of Christian Missions, London 1964. 20 Sanneh, Lamin, Abolitionists Abroad, Cambridge MA 1999. 21 Moses, Wilson J., Alexander Crummell. A Study of Civilization and Discontent, New York 1989. 22 Livingston, Thomas W., Education and Race. A Biography of Edward Wilmot Blyden, San Francisco 1975.

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Crummell und Blyden waren echte Intellektuelle, deren christlicher Glaube sie zu einer Vision der afrikanischen Einheit und zur Kritik des Missionschristentums führte. Die Globalisierung der europäischen Technologie, des europäischen Kapitalismus, Imperialismus und Rassismus und der europäischen kulturellen Überlegenheit wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts immer bedrückender. Das Missionschristentum war Teil dieser Entwicklung. Aber das Christentum, selbst in seiner missionarischen Form, stellte auch wichtige Werkzeuge für den Widerstand zur Verfügung. Die Übersetzung der Bibel war unentbehrlich für die Schaffung einer lese- und schreibkundigen Gesellschaft, die Bewahrung des historischen Gedächtnisses und den Schutz der einheimischen Sprachen vor der Auslöschung.23 Als Samuel Johnson, ein kreolischer Anglikaner, damit begann, seine große History of the Yorubas zu schreiben, die er im Jahr 1897 abschloss, war ihm bewusst, dass die Yoruba-Identität vom Untergang bedroht war.24 Für ihn war das Christentum ein wesentlicher Faktor beim Kampf um die Erhaltung des Volks der Yoruba. Tatsächlich hatte es zur Schaffung einer gemeinsamen YorubaIdentität in einer Situation der Zersplitterung und Demoralisierung beigetragen.25

4. Südliches Afrika Wie in Westafrika bildete sich auch in Südafrika im 19. Jahrhundert eine kleine gebildete und wortgewandte Elite von Afrikanern heraus, für die das Christentum von höchster Bedeutung war, wenn es darum ging, die Menschenrechte und das afrikanische Erbe gegen deren ständige Bedrohung durch die weißen Siedler und die Kolonialherrscher zu verteidigen. Im Vergleich zu Westafrika war aber das südafrikanische Klima günstiger für die Besiedlung durch Europäer, und das hatte einen grundlegenden Einfluss darauf, wie die Südafrikaner auf das Christentum reagierten. Die weißen Siedler wiederum legten sich eine Reihe christlich argumentierender Begründungen zurecht, warum sie ein Recht hätten, in Afrika zu sein und zudem als „herrschende Rasse“ in Erscheinung zu treten. Das Christentum hatte, wie die Kultur- und Religionshistorikerin Elizabeth Elbourne sagt, „multiple Bedeutungen“; „in einem Klima des erbitterten Machtkampfs versuchten alle, Kontrolle über die Sprache des Christentums zu erlangen, doch keiner Interpretation gelang es, ihre Besitzansprüche endgültig durchzusetzen“.26 Den-

23 Sanneh, Lamin, Translating the Message. The Missionary impact on Culture, Maryknoll, NY 1989. 24 Johnson, Samuel, The History of the Yorubas, London 1921 (Neudruck 1966). 25 Peel, John D. Y., The Religious Encounter and the Making of the Yoruba, Bloomingham 2000. 26 Elbourne, Elizabeth, Blood Ground. Colonialism, Missions and the Contest for Christianity in the Cape Colony and Britain 1799–1853, London 2002, 5.

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noch wurde in Süd- ebenso wie in Westafrika die protestantische Mission aufs Engste mit den wachsenden humanitären Bestrebungen und mit der britisch-evangelikalen Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei in Verbindung gebracht. Der Historiker Richard Elphick behauptet sogar, die Missionare hätten ein radikal neues Verständnis des Christentums nach Südafrika gebracht.27 Das Evangelium richtete sich nach Ansicht der Missionare an Menschen aller Hautfarben, seien sie nun Europäer, indigene Khoisan am Westkap, aus Asien eingeführte Sklaven oder Schwarzafrikaner an der Ostgrenze der Kapkolonie. Diese Gleichheit basierte auf dem Gedanken der allgemeinen Sündhaftigkeit der Menschheit und der Fähigkeit aller Menschen, ob „wild“ oder „zivilisiert“, dem Ruf Christi zu antworten und am Aufbau einer neuen Gemeinschaft teilzunehmen, die wiederum Ethnizität, „Rasse“ und sozialen Status transzendieren sollte. Demgegenüber verstand der Protestantismus der niederländischen Siedler die Unterschiede der Hautfarbe als etwas Gottgegebenes und Wesentliches für eine rechte Ordnung des sozialen und politischen Lebens; „gelykstelling“ (die Gleichstellung der „Rassen“) galt ihnen als soziales und theologisches Unding.28 Das Interesse von Elphicks ausgewogener und fundierter Darstellung besteht darin zu zeigen, wie sich diese gegensätzlichen Auffassungen von Christentum, die die evangelikalen Missionare verkörperten, durch die Erfahrung des realen Lebens in Südafrika kontinuierlich abschliffen, nicht zuletzt weil die Missionare und ihre Kinder sich immer mehr in der südafrikanischen Gesellschaft verwurzelten, einer Gesellschaft, die sich auf die Unterschiede der „Rassen“ gründete. Die Beteuerung der Gleichheit aller Gläubigen blieb für die Botschaft der Missionare zwar grundlegend, aber eine Anpassung an die widerspenstigen Realitäten des rassistisch strukturierten gesellschaftlichen und politischen Lebens in Südafrika konnte nicht vermieden werden. Für die afrikanischen Neubekehrten hingegen blieb die Gleichheit der Gläubigen absolut zentral. Die Gemeinschaft der schwarzen Christen konnte sich ein Christentum, das in dieser Frage Kompromisse einging, überhaupt nicht vorstellen. Im Jahr 1793 kehrten die Herrenhuter in ihre Missionsstation Genadendal, das „Tal der Gnade“ zurück, die sie ungefähr 50 Jahre zuvor verlassen hatten. Dies geschah zu einem entscheidenden Zeitpunkt in der Geschichte Südafrikas, mitten in einem Umbruch, in dem die Herrschaft der Niederländischen Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie – VOC) zu Ende ging und Großbritannien die Kontrolle übernahm, die es ab 1806 dauerhaft innehatte. Die London Missionary Society (LMS), eine Gesellschaft in der reformierten Tradition, freikirchlich verfasst und stark beeinflusst von evangelikalen und abolitionistischen Bewegungen, nahm

27 Elphick, Richard, The Equality of Believers. Protestant Missionaries and the Racial Politics of South Africa, Charlottesville 2012. 28 Giliomee, Hermann, The Afrikaners. Biography of a People, Kapstadt 2003.

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im Jahr 1799 ihre Arbeit am Kap auf. Ihr erster Missionar war ein niederländischer Adliger, Johannes Theodorus van der Kemp. Er war geprägt von einem religiösen Erweckungserlebnis, kurz nachdem seine Frau und sein einziges Kind bei einem Bootsunfall ertrunken waren.29 Nach einem zweijährigen Aufenthalt beim Volk der Xhosa gründete van der Kemp die Siedlung Bethelsdorp am Westkap. Sie sollte ein Zufluchtsort für Volksangehörige der Khoi und der San (indigenen Hirtenvölkern am Westkap) werden, denn ihre Lebensart geriet durch die niederländischen Afrikaaner zunehmend in Bedrängnis. Im Jahr 1807 heiratete van der Kemp eine madagassische Sklavin im Teenageralter, Sara Janse – ein Akt, der den Zorn so mancher Siedler weckte (was für van der Kemp mit ein Grund für diese Heirat war). Viele andere frühe LMS-Missionare traten in van der Kemps Fußstapfen, insbesondere James Read, dessen Frau, die ebenfalls Sara hieß, zum Volk der Khoi gehörte. Read warb dafür, die 1829 gegründete Siedlung am Kat River zu einem sicheren Rückzugsort mit autonomer Landwirtschaft zu machen – für Einheimische, ehemalige Sklaven und Menschen gemischter Abstammung, für eine Gruppe also, die unter der Kollektivbezeichnung „Farbige“ („Coloured“) bekannt werden sollte. Es war ein mutiges Experiment, das der Historiker Robert Ross als „eine Geschichte des Glaubens, der Hoffnung und eines deutlichen Mangels an Liebe“30 beschrieben hat. Glaube und Hoffnung entsprossen der Gemeinschaft der Farbigen, für die die christliche Identität ein zentraler Bestandteil ihres Lebens war. Der Mangel an Liebe kam von den englischen und Afrikaaner-Siedlern, die Angst hatten, diese und ähnliche Gemeinschaften würden die Stabilität der Siedler-Wirtschaft untergraben: eine Wirtschaft, die unersättlich nach landlosen Proletariern suchte, um sie auf ihren Farmen zu beschäftigen. John Philip (1775–1851), van der Kemps Nachfolger als Leiter der LMS in Südafrika, hielt weiterhin das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz aufrecht und widersetzte sich den Manövern der Siedler, die Freiheit der nicht weißen Gemeinschaften einzuschränken.31 Er ermutigte eine Gruppe von Farbigen, die als Griqua bezeichnet wurden, auf dem späteren Afrikaaner-Territorium mit dem Namen Oranje-Freistaat einen eigenen Staat zu gründen. Die Griqua nannten ihre Hauptstadt nach ihrem Missionar und Fürsprecher Philippolis. Weiter westlich, in dem Gebiet, aus dem später Deutsch-Südwestafrika (Namibia) wurde, unternahmen es die ethnischen Mischvölker der Orlam und Baster, Gesellschaftsverfassungen zu entwerfen, in denen das Christentum ein fester Bestandteil war.32 Ihre Versuche wurden schließlich aber von der sich

29 Enklaar, Ido, The Life and Work of Dr J. Th. Van der Kemp. Mission Protagonist and Pioneer of Racial Equality in South Africa, Kapstadt 1988. 30 Ross, Robert, The Borders of Race in Colonial South Africa. The Kat River Settlement 1829–1856, Cambridge 2014. 31 Ross, Andrew, John Philip (1775–1851). Mission, Race and Politics in South Africa, Aberdeen 1986. 32 Lessing, Hanns u. a. (Hrsg.), Deutsche evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika, Wiesbaden 2011.

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ausbreitenden Kolonialherrschaft zunichte gemacht. Am Kap jedoch fand der Kampf für Gleichheit Niederschlag in der Gesetzgebung, die Schwarzen das Recht auf Landbesitz zusprach und ihnen das Wahlrecht gab. Diese Rechte wurden von Siedlern – Afrikaanern wie Engländern – heftig kritisiert.33 An der Kolonialgrenze wurden die Siedler seit dem späten 18. Jahrhundert mit einer neuen Macht konfrontiert: mit zahlreichen Bantu sprechenden Viehhirten und Ackerbauern. Das Eintreten der Missionare für die Rechte der Farbigen brachte die Bantu sprechenden Herrscher auf den Gedanken, dass es vorteilhaft sein könnte, Missionare in ihr Gebiet einzuladen. Der bekannteste Herrscher war Moshoeshoe I., und dieser unternahm es, aus disparaten Gruppen, die im Zuge des Aufstiegs des Zulu-Herrschers Shaka in den Norden vertrieben worden waren, ein Königreich zu errichten (das moderne Lesotho). 1833 lud er die Société des missions évangéliques de Paris (SMEP) ein, eine Missionsstation zu errichten, die dann den Namen Morija erhielt. Sie wurde fast zu einer Art Staatskirche im Königreich, was aber durch die Ankunft römisch-katholischer Missionare heftig in Frage gestellt wurde, die ihrerseits eine Missionszentrale mit dem Namen Roma einrichteten. Es kam zu einem ungebührlichen Gerangel um die Taufe des Königs auf seinem Sterbebett im Jahr 1870. In Wahrheit hatte sich Moshoeshoe I. bereits wieder von den Missionaren distanziert, denn er war enttäuscht von ihrer ablehnenden Haltung gegenüber wichtigen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens: der Polygamie, dem Brautgeld (lobola), bestimmten Initiationsriten und der Verehrung der Geister der Ahnen.34 Die Xhosa, die van der Kemp 1799 als erste besucht hatte, sahen die Zweideutigkeiten der Missionsarbeit noch kritischer. Während des langen Kampfes gegen den britischen Kolonialismus wurden die Missionare einerseits gelegentlich als Vermittler geschätzt; andererseits wurden die Missionsstationen aber bisweilen auch missbilligt, weil sie jenen Zuflucht gewährten, die Verpflichtungen ihrer Stämme entgehen wollten: Sie wurden Amaqoboka (die, die sich in einem Loch verstecken) genannt. Zwei Persönlichkeiten der Xhosa wurden wegen ihrer gegensätzlichen Reaktionen auf den Kolonialismus und das Christentum zu Symbolfiguren: Nxele und Ntsikana. Makhanda Nxele war ein traditioneller Wahrsager. Aus seiner anfänglichen Bewunderung für das Christentum wurde Verachtung und Gegnerschaft. Er bezeichnete Missionsstationen als Zentren der kolonialen Spionage und kam zu dem Schluss, dass das missionierende Christentum die afrikanischen Werte und ihre Spiritualität zersetze. Im Jahr 1819 stachelte er Krieger der Xhosa dazu auf, den neu errichteten britischen Garnisonsstandort von Grahamstown anzugreifen, und

33 Elphick, Equality, 202–221. 34 Elphick, Richard/Davenport, Rodney, Christianity in South Africa. A Political, Social and Cultural History, Kapstadt 1997, 110f.

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versprach ihnen, die Kugeln der Briten würden sich in Wasser verwandeln (ein auf dem ganzen Kontinent wiederkehrendes Motiv des afrikanischen Widerstands gegen die Kolonialherrschaft). Er wurde gefangen genommen und auf Robben Island inhaftiert – als einer der ersten von vielen politischen Gefangenen dort. 1820 ertrank er bei einem Fluchtversuch. Nxele wurde zu einem Symbol des Widerstands gegen die koloniale Übermacht, sowohl von der Sache her als auch spirituell. Im Kontrast dazu trat Ntsikana für Verständigung anstelle von vergeblicher Gegnerschaft ein. Durchdrungen von der traditionellen Xhosa-Spiritualität, die sich aus dem Zusammenleben mit Viehherden speiste, zogen ihn die christlichen Werte an, und er komponierte Loblieder auf den Allmächtigen, die zu einem festen Bestandteil der christlichen Hymnendichtung der Xhosa wurden. Ntsikana ist nie getauft worden, erlangte aber Bedeutung als Pionier des Christentums der Xhosa.35 1857 trat Nongqawuse, eine junge Xhosa-Frau, als Prophetin in Erscheinung. Sie riet den Xhosa, ihr Vieh zu schlachten und keinen Mais anzubauen. Denn dann würden die Ahnen wieder aufstehen, um die Erde zu erneuern, den früheren Wohlstand wiederherzustellen und das Volk der Xhosa von den Briten zu befreien. Doch was folgte, war eine Hungersnot, die viele Xhosa dazu zwang, auf weißen Farmen am Kap Zuflucht zu suchen, was letztlich zur weiteren Konsolidierung der britischen Herrschaft führte.36 Nach dieser schrecklichen Erfahrung wandten sich die Xhosa mehr und mehr dem missionarischen Christentum und seinen Schulen zu. Führend unter ihnen waren die schottischen Bildungseinrichtungen von Lovedale (1841 gegründet).37 Eine beeindruckende Reihe von Intellektuellen der Xhosa ging daraus hervor: Tiyo Soga, der erste südafrikanische presbyterianische Pfarrer, zugleich Dichter von Kirchenliedern und Übersetzer von John Bunyans Erbauungsbuch The Pilgrim’s Progress in die Sprache der Xhosa. Soga heiratete eine Schottin, die er während seines Studiums in Glasgow kennengelernt hatte. Ihr Sohn, John Henderson Soga, schrieb später eine beeindruckende Geschichte des Volks der Xhosa. Eine andere bedeutende christliche (methodistische) Familie war die Familie Jabavu. John Tengo Jabavu gründete im Jahr 1884 die wegweisende Xhosa-Zeitung Imvo Zabantsundu, ein wichtiges Organ der schwarzen Meinungsbildung am Kap, das das Wahlrecht für alle Hautfarben energisch verteidigte und zum Inbegriff wurde für den Beitrag, den gebildete christliche Schwarze für Südafrika leisten konnten.

35 Hodgson, Janet, The God of the Xhosa, Kapstadt 1981. 36 Peires, Jeffrey B., The Dead will Arise. Nongqawuse and the Great Xhosa Cattle-Killing Movement of 1856–7, Johannesburg 1989. 37 Duncan, Graham, Coercive Agency. Power and Resistance in Mission Education, Pietermaritzburg 2003.

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Lovedale und das 1916 von Jabavus Sohn, D. D. T. Jabavu, gegründete College von Fort Hare brachten Menschen aus dem ganzen südlichen Afrika zusammen. Viele, die im Jahr 1912 den African National Congress gründeten, waren Absolventen von Lovedale und anderen Missionsschulen. Zu ihnen gehörte auch Sol Plaatje, ein lutherischer Motswana, dessen Buch Native Life in South Africa (1916) zu einem Weckruf für christlich-politisches Engagement wurde – ganz wie Philips Missionary Researches im Jahrhundert zuvor. Plaatjes einleitende Worte, die sich auf die verheerenden Auswirkungen des Eingeborenen-Landgesetzes (Natives Land Act) von 1913 beziehen, brachten die Sache schonungslos und zugleich würdevoll auf den Punkt: „Beim Erwachen am Freitagmorgen, dem 20. Juni 1913, fand sich der südafrikanische Eingeborene zwar nicht als Sklave, aber doch als Paria im Land seiner Geburt wieder.“38 In Plaatjes Werk kulminierten ein Jahrhundert der missionarischen Humanität und seiner Grenzen. Lange vorher, im Jahr 1836, waren Afrikaaner zum „Großen Treck“ aufgebrochen, in der Hoffnung, die „Voraussetzung der Gleichheit“, für die die afrikanischen Christen eintraten, verwirklichen zu können. Für Anna Steenkamp war die Vorstellung unerträglich, dass Sklaven, die eben erst freigelassen worden waren, die gleichen Rechte wie Christen haben sollten, „entgegen den Gesetzen Gottes und der natürlichen Unterscheidung von Rasse und Religion […], weshalb wir uns nun zurückziehen, um unsere Glaubenslehren in Reinheit zu bewahren“.39 Doch auch das Afrikaaner-Christentum war kein Monolith. Die niederländischreformierte Kirche (in Afrikaans: Nederduitse Gereformeerde Kerk – NGK) missbilligte den Exodus der Voortrekker, die daraufhin in den autonomen Staaten, die sie in der Folgezeit schufen, ihre eigenen, von der NGK unabhängigen Kirchen gründeten. Die Hervormde Kerk wurde dagegen theologisch liberaler und in Angelegenheiten der „Rasse“ zugleich konservativer als die NGK. Außerdem entstand die Gereformeerde Kerk, eine Freikirche ohne jegliche Bindung an den Staat, mit einer kleinen Präsenz sowohl am Kap als auch in den Afrikaaner-Republiken.40 Trotz ihres anfänglichen Widerstands gegen die britisch-evangelikale Humanität war auch die NGK nicht frei von evangelikalen Einflüssen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts rekrutierte die NGK aktiv schottische Geistliche als dominees (Pastoren) für ihre Gemeinden. Sie interessierte sich auch zunehmend für die Mission unter Bantu sprechenden Völkern sowie unter Indern in Südafrika. Später baute sie in Njassaland (dem modernen Malawi) und in Nigeria ihre Missionsarbeit aus. Es geschah aber innerhalb der NGK, dass die ersten Schritte in Richtung einer „getrennten Entwicklung“ unternommen wurden: mit autonomen Kirchen für die drei „nicht weißen“ Gemeinschaften (Farbige, Schwarze, Inder) – eine Entwick-

38 Plaatje, Solomon, Native Life in South Africa, London 1916 (Neuausgabe Johannesburg 1982). 39 Giliomee, Afrikaners, 152. 40 Elphick, Equality, 39–51.

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lung, die vielen als Vorläuferin der Apartheidsideologie gilt und die als ein Weg gerechtfertigt wurde, auf dem jede „rassische“ Gemeinschaft sich entwickeln konnte, ohne von der mächtigen weißen Kirche dominiert zu werden. In den Burenrepubliken ermutigten die Behörden indessen die deutschen Missionen, der vermeintlichen Hegemonie der angelsächsischen Mission am Kap zumindest teilweise entgegenzuwirken. Doch der Wirkungsbereich der deutschen Missionen war nicht auf diese Republiken beschränkt. Die Berliner, die Rheinische und die Hermannsburger Missionsgesellschaft waren in vielen Teilen des südlichen Afrika aktiv und spielten bei der Entwicklung des Christentums insbesondere in jener Region, die zu Deutsch-Südwestafrika wurde, eine bedeutende Rolle. Die deutschen wie auch die skandinavisch-lutherischen Missionen waren weniger daran interessiert, englischsprachige Eliten heranzuziehen, als es die angelsächsische Missionskultur war. Sie legten oft größeres Gewicht darauf, die örtlichen Stammesidentitäten, Sprachen und Kulturen zu bewahren.41 Die anglikanische Kirche war in Südafrika ursprünglich ein Arm des britischen Kolonialismus. Zu Beginn kaum mehr als eine Einrichtung der Militärseelsorge, wurde sie schließlich auch zur Kirche der englischen Siedler (auch wenn unter den ersten Siedlern von 1820 viele Methodisten waren, die zudem von einem methodistischen Pfarrer begleitet wurden). Robert Gray, der erste anglikanische Bischof von Kapstadt, setzte sich für die Mission unter den Völkern der Xhosa und Zulu ein. Beeinflusst von der Bewegung der Traktarianer, wollte Gray eine Kirche schaffen, die (im Gegensatz sowohl zu den niederländisch-reformierten als auch zu den vielen britisch-protestantischen Missionen) Menschen aller Hautfarben in einer gemeinsamen Kirche aufnahm. Er hob außerdem hervor, dass die Kirche nicht als Organ des britischen Kolonialstaats gesehen werden sollte (obwohl er und seine Frau Sophie verantwortlich für die Wiederbelebung der Gotik in der südafrikanischen Kirchenarchitektur waren).42 Es ist tragisch, dass der größte anglikanische Missionar in Südafrika im 19. Jahrhundert, Bischof John Colenso (1814–1883), zu Grays unversöhnlichem Gegner wurde. Colenso war in Cambridge Professor für Mathematik gewesen, und als er zum Bischof von Natal ernannt wurde, machte er sich mit der Sprache und Kultur der Zulu gründlich vertraut. Die Übersetzung der Bibel hatte für ihn Vorrang vor allem anderen; unterstützt wurde er von einem fähigen Assistenten namens William Ngidi. Colensos Kritiker machten sich darüber lustig, dass er sich von den – wie sie fanden – naiven Fragen eines „Eingeborenen“ leiten ließ, denn diese führten ihn zu „unberechtigter“ Skepsis gegenüber der buchstäblichen Wahrheit der Bibel43 und zu radikalen Fragen

41 Lessing, Hanns u. a., Deutsche evangelische Kirche im kolonialen südlichen Afrika, Wiesbaden 2011. 42 Elphick/Davenport, Christianity, 330–333. 43 Draper, Jonathan A., The Eye of the Storm. Bishop Colenso and the Crisis of Biblical Inspiration, London 2003.

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darüber, ob die Ahnen eines Stammes verworfen seien und ob Polygamie sich mit dem christlichen Eheverständnis vertragen könnte. Colenso war sich völlig bewusst, dass man vorsichtig sein musste, wenn man den Leuten Verhaltensvorschriften machte. In seiner Auslegung von Römer 4,15, „wo aber das Gesetz nicht ist, da ist auch keine Übertretung“, schrieb er: „[…] unter den unwissenden Heiden werden viele Dinge praktiziert, sie sind aber – wie anstößig sie auch in den Augen eines weißen Mannes und eines Christen erscheinen mögen – keine Übertretungen von Gottes offenbartem Gesetz und werden vor Seinem Angesicht auch nicht als Sünden angerechnet werden, vor Ihm, der die Herzen erforscht und die Menschenkinder gerecht richtet, bis das Gesetz ihnen nahegebracht worden ist, ihrem Herzen und ihrem Gewissen nahegebracht durch Seinen eigenen guten Geist, nicht bloß für ihre Ohren wiederholt, mit der Stimme der Vollmacht, mit den Lippen eines Missionars, der das Gesetz vor ihnen niederlegt, oft mit den dunkelsten und dürftigsten Worten, in irgendeiner schwierigen Sprache der Einheimischen, zu Fragen von tiefster persönlicher und gesellschaftlicher Bedeutung. Wenn Tadel am Jüngsten Tage an uns ergehen wird, werden wir ihn etwa nicht mit Recht zu hören bekommen, wir Christen und Missionare, wegen unserer harschen, lieblosen Urteile, die wir in unserer arroganten Selbstsicherheit gefällt haben über unsere heidnischen Mitmenschen?“44

Gray kam zu der Überzeugung, dass Colenso von der Lehre der Kirche abgefallen war. Er entschied, ihn wegen Häresie vor Gericht zu stellen, und machte sich dafür die neue synodale Kirchenstruktur zunutze, die er selbst eingeführt hatte. Colenso weigerte sich, seine Amtsenthebung zu akzeptieren und berief sich auf seine Vereinbarung mit der Krone.45 Gray schaffte es nicht, seine Entlassung durchzusetzen. Trotz seiner Berufung auf die verfassungsmäßigen Bande zwischen Kirche und Staat hatte Colenso ironischerweise seine härtesten Auseinandersetzungen mit den Kolonialbehörden, als sie versuchten, den Autonomiestatus des Königreichs der Zulu zu unterminieren. Colenso verurteilte die britische Invasion des ZuluReichs nach der britischen Niederlage bei Isandhlwana im Jahr 1878. Er tat dies bei einer Predigt über Micha 6,8: „Was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben [...].“ „Wo in unserer Invasion des Zululandes haben wir gezeigt, dass wir Männer sind, die Liebe üben? Haben wir nicht die schreckliche Geißel des Kriegs über diese Menschen gebracht – von dem Moment an, da wir über ihre Grenzen kamen? Haben wir nicht schon, wie es heißt, 5 000 Menschen getötet und 10 000 Stück Vieh an uns gerissen? Es ist wahr, dass wir in diesem furchtbaren Desaster […] selbst viele kostbare Menschenleben verloren. Aber gibt es im Zululand keine Trauer, keine Verwandten, die ihre Toten beklagen?“

44 Colenso, John William, Commentary on Romans, hrsg. von Jonathan A. Draper, Pietermaritzburg 2003, 95f. Vgl. auch Draper, Jonathan, The Eye of the Storm: Bishop J. W. Colenso and the Crisis of Biblical Inspiration, London 2003. 45 Guy, Jeff, The Heretic, Pietermaritzburg 1983.

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5. Ost- und Zentralafrika

Seine Tochter, Harriette Colenso, führte mit hartnäckiger Entschlossenheit und kreativer Intelligenz sein Werk fort und verteidigte die Zulu weiterhin.46

5. Ost- und Zentralafrika Dieser Teil Afrikas gehörte zu den letzten auf dem Kontinent, die zum Ziel einer erneuerten und kontinuierlichen Missionsarbeit wurden. David Livingstone erwies sich als Schlüsselfigur. Der römisch-katholische Priester Adrian Hastings machte folgende Beobachtung: „Livingstone und Colenso bleiben die intellektuellen Fürsten der Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts. Livingstone war der außergewöhnlichste viktorianische Freikirchler, Colenso der bemerkenswerteste aller anglikanischen Bischöfe der viktorianischen Zeit. Aber sie waren beide wilde Elefanten, allzu unabhängige Geister, als dass die Bewegung sie hätte in Zaum halten können.“

Über die Missionsbewegung im Allgemeinen fährt Hastings fort: „Es ist wichtig, das schiere menschliche Format der missionarischen Führungsriege richtig einzuschätzen; sie war keine Gruppe, die hauptsächlich aus Spinnern und Eiferern bestand, auch wenn die einen wie die anderen darunter waren. Es waren Männer mit außergewöhnlichen und weitreichenden Fähigkeiten, auch wenn man zugeben muss, dass selbst in den fähigsten ein gewisses Ausmaß an Verschrobenheit festzustellen war, was aber durchaus zu ihrer Anziehungskraft beitrug.“47

David Livingstone (1813–1873) war der Schwiegersohn des schottischen Missionars Robert Moffatt, dem Gründer der LMS-Mission in Kuruman. Moffatt „wirkte“ (ein vielgeliebtes Wort unter Missionaren) während der meisten Zeit seiner langen Missionarskarriere im Volk der Barolong in Botswana. Er war ein Mann mit sehr entschiedenen Ansichten, sowohl über die afrikanischen Gemeinschaften, unter denen er arbeitete, als auch über seine Mitmissionare. Sehr kritisch sah er die gesellschaftlich liberale Humanität seiner LMS-Kollegen van der Kemp, Philip und Read. Livingstone heiratete Mary Moffatt, doch auch er passte nicht gut in das autoritäre Weisungen ausgebende Muster eines Missionars, wie es sein Schwiegervater verkörperte. Er mied die „normale“ Missionsarbeit des Predigens, Taufens und des Aufbaus einer disziplinierten christlichen Gemeinde; er begab sich lieber auf eine Reihe von Reisen, um das innere Afrika zu erkunden und es für „Handel und Christentum“ zu öffnen. Dabei war sich Livingstone der Leiden und Drangsale

46 Guy, Jeff, The View Across the River. Harriette Colenso and the Zulu Struggle against Imperialism, Kapstadt 2001. 47 Beide Zitate: Hastings, The Church in Africa, 265.

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Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914

der afrikanischen Gesellschaften, der Entmenschlichung durch Sklaverei und Sklavenhandel durch willkürliche und tyrannische Herrschaft, vollauf bewusst. Gewissermaßen stand er für eine Neuformulierung des abolitionistischen Eintretens für „legitimen Handel“ aus dem Geist der Jahrhundertmitte, zugleich aber zeigte sich in seiner Haltung bereits ein Vorausschauen auf das Zeitalter des Imperialismus. Livingstone war dafür bekannt, dass er weder mit seinen Mitmissionaren noch mit den Vertretern der Kolonialmacht gute Beziehungen pflegte, doch bei seinen afrikanischen Weggefährten rief er Liebe und Zuneigung hervor. Er fühlte sich wohler, wenn er sich abseits der Konventionen der europäischen Zivilisation bewegte. Und trotzdem inspirierte er vielerorts die missionarische Arbeit – die Arbeit der Pariser Mission unter den Balozi im heutigen Sambia, die schottischen Missionen in Blantyre (benannt nach Livingstones Geburtsort in Schottland), Livingstonia im heutigen Malawi und die anglokatholische Universitätsmission in Zentralafrika (Universities’ Mission to Central Africa – UMCA), deren erste Missionare Livingstone den Sambesi hinauf begleiteten, wo sie eine Mission im südlichen Malawi gründeten. Nach dem frühzeitigen Tod von Bischof Mackenzie im Jahr 1861 verlegte sein Nachfolger im Bischofsamt das Hauptquartier der Mission nach Sansibar, was Livingstone zu dem spöttischen Kommentar veranlasste, das sei so als ob Augustinus von Canterbury die englische Mission auf die Isle of Wight verlegt hätte.48 Eine ausgesprochene Kontrastfigur zum ruhelosen, ungeduldigen und visionären Livingstone war Johann Ludwig Krapf (1810–1881), ein Württemberger Lutheraner, der für die anglikanische Church Missionary Society (CMS) zuerst in Äthiopien und ab 1844 in Rabai, in der Nähe von Mombasa an der ostafrikanischen Küste, arbeitete. Krapfs Entdeckungsreisen ins Innere Afrikas waren unbedeutend im Vergleich mit jenen von Livingstone, und seine Welt war viel begrenzter, wenn er auch von einer Kette von Missionsstationen träumte, die sich durch ganz Afrika ziehen sollte. Wie Livingstone gelang es auch ihm nicht, eine Kirche aufzubauen, die sich nach Venns Vision selbst trug und weiterentwickelte. Die Mission, die er in Rabai gründete, war jämmerlich klein. Sein strenger Pietismus verlangte von ihm, mit gewissenhaftem Dienst zufrieden zu sein, anstatt große Früchte seiner Anstrengungen zu erwarten. Er glaubte nicht, dass die Kolonialherrschaft ein Allheilmittel sei. „Verbanne du vielmehr den Gedanken, als ob Europa seine schützende und helfende Fittige über Ostafrika ausbreiten müßte, wenn das Missionswerk dort gedeihen soll. Allerdings würde Europa manche Nachtheile und Hindernisse von dem Missionswerk entfernen, aber ebenso viele und vielleicht noch größere Hemmnisse an deren Stelle setzen.“49

48 Ross, Andrew, David Livingstone. Mission and Empire, London 2002. 49 Krapf, Johann Ludwig, Reisen in Ostafrika ausgeführt in den Jahren 1837–1855 (Erstausgabe 1858), Stuttgart 1964, 2. Teil, 520. Die Rechtschreibung folgt dem Originaltext.

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5. Ost- und Zentralafrika

Im Jahr 1873 schloss Sir Bartle Frere, der Repräsentant der britischen Regierung, einen Vertrag mit dem Sultan von Sansibar ab, wonach der Sklavenhandel zwischen dem afrikanischen Festland und der Insel Sansibar unterbunden werden sollte. Die UMCA setzte den Bau ihrer Kathedrale auf dem Gelände des alten Sklavenmarkts von Sansibar fort. Die Katholiken hatten ihre missionarische Präsenz in Ostafrika erneuert, als die Heilig-Geist-Väter (Spiritaner) 1868 eine Mission in Bagamoyo im heutigen Tansania gründeten. Sie wurde auf einem Grundstück errichtet, das ein muslimischer Landbesitzer gestiftet hatte und das zuvor ein Sammelplatz für Sklaven aus dem Inneren Afrikas gewesen war, die dort auf ihren Abtransport nach Sansibar warten mussten. Die Mission von Bagamoyo sollte von nun an ein Zentrum sein, von dem aus befreite Sklaven das Christentum bis ins Innere Afrikas verbreiten würden. Die Arbeits-, Gebets- und Schuldisziplin war streng, und einige befreite Sklaven fanden die Ordnung recht autoritär. Sie fragten sich, worin sie sich von jener der benachbarten Sklavenplantagen unterschied. „Die Strenge und Unbeweglichkeit der Spiritaner“ führte zu zahlreichen Ausbrüchen aus der Siedlung; diejenigen, die eingefangen und zurückgebracht wurden, mussten erwarten, dass sie gnadenlos bestraft würden. Frere drängte die CMS zu einer ähnlichen Unternehmung, um die seiner Meinung nach in Krapfs Missionsarbeit angelegten Beschränktheiten zu überwinden. So kam es im Jahr 1873 zur Gründung von Frere Town, unmittelbar nördlich von Mombasa im heutigen Kenia. Befreite Sklaven, die an der CMS-Schule von Nasik im indischen Gujarat ausgebildet worden waren, schlossen sich der Mission an. Sie besaßen praktische Fertigkeiten als Schmiede und Zimmerer, und ihre Sprachkenntnisse (in Englisch und Kisuaheli) machten sie zu nützlichen Lehrern. Wie die befreiten Sklaven in Sierra Leone waren sie stolz auf ihre „englische“ christliche Kultur. Sie wählten für sich englische Namen wie David und Priscilla George, William und Jemimah Jones, Ismael und Grace Semle. In Bagamoyo wie in Frere Town sah man die christliche Familie als Modell für die Verbreitung des Christentums in anderen Regionen von Ostafrika. Die ersten Versuche, christliche Filial-Siedlungen an der Küste zu gründen, stießen auf den Widerstand von muslimischen Plantagenbesitzern, weil diese Siedlungen oft zu Zufluchtsstätten für entlaufene Sklaven wurden. 1882 wurde David Koi, der in Krapfs Mission in Rabai geboren und in Frere Town ausgebildet worden war, wegen seiner Evangelisierungsarbeit angegriffen und auf Befehl des lokalen Häuptlings enthauptet. Mit der Errichtung der Kolonialherrschaft (der deutschen im Falle Bagamoyos und der britischen im Falle Frere Towns) versanken diese Siedlungen und die mit ihnen verbundene Missionsstrategie in der Bedeutungslosigkeit. Darüber hinaus verließen viele befreite Sklaven aus Verbitterung über den wachsenden Rassismus und die Missbilligung ihrer Rolle seit den 1890er Jahren die Missionen, um in Mombasa, Sansibar und Daressalam attraktivere Lebensmöglichkeiten zu finden.50

50 Reed, Colin, Pastors and Paternalism. African Church Leaders and Western Missionaries in the Anglican Church in Kenya 1850–1900, Leiden 1997.

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Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914

Zu jener Zeit war das Christentum schon nicht mehr auf die Küste begrenzt, sondern begann, starken Einfluss in der Region der Großen Seen zu entfalten. Das galt insbesondere für Buganda, eine starke, zentral regierte Monarchie. Buganda hatte mindestens seit dem frühen 19. Jahrhundert mit der Küste Handel getrieben, und der Islam hatte sich schon bemerkbar gemacht. Als im Jahr 1875 der Entdecker Henry Morton Stanley den Hof des Herrschers Kabaka Muteesa I. besuchte, war der König (Kabaka), der zuvor den Islam bei Hofe gefördert hatte, bereits misstrauisch gegenüber dieser neuen Religion geworden, denn türkisch-ägyptische Sklavenhändler hatten begonnen, vom Norden her in das Gebiet vorzudringen. Wenn er nun christliche Missionare in seinem Land willkommen hieß, so hoffte Muteesa, würden diese als ein Gegengewicht zur Bedrohung durch die „Türken“ (Ägypten befand sich zu jener Zeit unter der Oberhoheit des Osmanischen Reichs) fungieren. Stanley rief also nach Missionaren, und als Antwort darauf trafen 1877 zuerst die anglikanische CMS und 18 Monate später die katholischen Weißen Väter am Hofe Muteesas ein. Die beiden Missionen wurden vertreten von dem Schotten Alexander Mackay und dem Franzosen Siméon Lourdel. Beider unverhüllte Abneigung gegen den Glauben des jeweils anderen belustigte und faszinierte die jungen Adligen am Hofe. Ermutigt vom König, schlossen sie sich den Missionen an und wurden readers (Katechumenen). Bald entstanden zwei lebhafte Gemeinschaften getaufter Christen. Sie fingen an, die muslimischen Konvertiten herauszufordern, die bislang die neuen religiösen Strömungen am Hofe dominiert hatten.51 König Muteesa jedoch starb einigermaßen enttäuscht von allen drei Religionen. Sein Sohn und Nachfolger Mwanga, ein junger Mann von 18 Jahren, sah sich vor eine neue Situation gestellt: Die hauptsächliche imperialistische Bedrohung kam nicht mehr von Muslimen aus Ägypten, sondern von europäischen Christen, die sich an der ostafrikanischen Küste sammelten. James Hannington, ein anglikanischer Missionar, wurde zum Bischof für Ostäquatorialafrika (ein vages geografisches Gebiet, zu dem die Küste von Mombasa, aber auch Buganda gehörten) ernannt. Gegen den Rat der örtlichen Missionare entschied sich Hannington, eine neue, direktere Route ins Landesinnere zu suchen – anstelle der seit Langem bestehenden Handelsroute von Sansibar her. Dies alarmierte den Kabaka, denn es schien den Verdacht zu bestätigen, dass die Europäer Böses im Schilde führten. Der Bischof und über hundert Gepäckträger von Frere Town, unter ihnen viele Christen, wurden ermordet, als sie im Jahr 1885 versuchten, Buganda zu erreichen.52 Ein Jahr später kam es zu einem Massaker an christlichen Konvertiten in Buganda, in der Hauptsache an jungen Adligen, aber auch einigen Häuptlingen, die sich weigerten, ihren neuen Glauben auf den Befehl des Königs hin aufzugeben. Mwangas homosexuelle Beziehungen mit einigen seiner Höflinge wurden seither als Ursache des Gemetzels angeführt. Doch in Wahrheit war dies

51 Kiwanuka, Semakula, A History of Buganda. From the Foundation of the Kingdom to 1900, London 1971. 52 Ashe, Robert, Chronicles of Uganda, London 1894, und ders., Two Kings of Uganda, London 1898.

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6. Die altorientalischen Kirchen Afrikas

eine Nebensächlichkeit, verglichen mit der äußerst realen Furcht, dass das Christentum eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellte.53 1894 übernahmen die Briten dann auch tatsächlich Uganda als ihr Protektorat, angeblich um einen Religionskrieg zwischen Muslimen, Katholiken und Protestanten zu beenden. Die Briten unterstützten dabei die in gewisser Hinsicht schwächste der drei Gruppen (d h. die Anglikaner), die dann die Eliten von Bugandas Gesellschaft und anderer Gesellschaften, aus denen später der Staat Uganda hervorgehen sollten, dominierten. Während der Periode der britischen Herrschaft fungierte die anglikanische Kirche von Uganda als eine Art Staatskirche, auch wenn den Briten daran lag zu demonstrieren, dass sie in religiösen Fragen neutral seien und Religionsfreiheit für alle Religionen garantierten. Katholische und protestantische Konvertiten aus dem Volk der Buganda übernahmen die Führung bei der Ausbreitung ihres Glaubens in ganz Uganda, was schließlich zu einem der dramatischsten Beispiele für eine großflächige christliche Bekehrung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde.54 Der Islam fand sich hier in einer benachteiligten Position wieder und entwickelte sich zu einer zähen Minderheit, die sich ihres drittklassigen Status in der Hierarchie der Religionen völlig bewusst war. In Buganda selbst, dem Kerngebiet des britischen Protektorats, wurde eine christliche herrschende Klasse geschaffen, die mehrheitlich aus Protestanten bestand, aber einen beträchtlichen katholischen Anteil aufwies. Sir Apollo Kaggwa, Bugandas anglikanischer Premierminister (Katikkiro), verfügte über enorme Macht und Einfluss und der junge Kabaka, Daudi Chwa II. (ernannt als Kind, nachdem sein Vater Mwanga entthront worden war) wurde protestantisch erzogen. Die interkonfessionelle Rivalität und die Tapferkeit ihrer Märtyrer weckten den Enthusiasmus der Christen, ihre jeweiligen Glaubensversionen weiter aufzubauen. Weil den Katholiken ein gleich großer Anteil an der politischen Macht verweigert wurde, glichen sie das aus, indem sie sich auf die Bekehrung der ländlichen Bevölkerung verlegten, was sie allmählich zur demografisch größten religiösen Gruppe im kolonialen Uganda machte.55

6. Die altorientalischen Kirchen Afrikas Auch wenn Protestanten die treibende Kraft der Mission im 19. Jahrhundert waren, kam es in diesem Zeitraum ebenso zur Wiederbelebung und zum Wachstum der altorientalischen christlichen Traditionen Ägyptens und Äthiopiens. Der napo-

53 Faupel, John F., African Holocaust. The Story of the Uganda Martyrs, London 1962. 54 Pirouet, Louise M., Black Evangelists. The spread of Christianity in Uganda 1891–1914, London 1978. 55 Taylor, John Vernon, The Growth of the Church in Buganda. An Attempt at Understanding, London 1958.

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Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914

leonische Einfall in Ägypten am Anfang des 19. Jahrhunderts setzte in der ägyptischen Gesellschaft nicht zuletzt dadurch revolutionäre Veränderungen in Gang, dass die Macht der Osmanen eingeschränkt wurde. Der Khedive Muhammad Ali brachte ein starkes Modernisierungsprogramm auf den Weg, das auch für die koptischen Christen wichtige Konsequenzen hatte. Die Pflicht zur kennzeichnenden Bekleidung von Christen wurde formell abgeschafft, und die Beschränkungen des Kirchenbaus und der öffentlichen Äußerungsmöglichkeiten für das Christentum wurden gelockert. Die Kopten hatten immer professionelle Dienstleistungen für den Staat erbracht, doch in einem sich modernisierenden Staat, in dem Bürokratien und Rechnungswesen eine zentrale Bedeutung erlangten, wurde die koptische Kirche noch wesentlich wichtiger. Mit der Wahl des jungen Kyrill IV. zum Papst der koptischen Kirche im Jahr 1854 fanden die Modernisierungstendenzen ihren Niederschlag auch in den Strukturen und im Leben der Kirche. Kyrill war beeindruckt von der Arbeit der CMS in Ägypten und initiierte ein ehrgeiziges Programm zur Gründung von Schulen, zur Wiederbelebung der theologischen Ausbildung für die Geistlichen und zur Einführung moderner liturgischer und theologischer Texte durch die Inbetriebnahme einer Druckerpresse. Kyrill starb unter etwas mysteriösen Umständen im Jahr 1861. Es gab Gerüchte, dass er vergiftet worden sei, weil seine Kontakte zu westlichen Missionaren ihn bei der Regierung, aber auch innerhalb der koptischen Kirche in Misskredit gebracht hätten. Besonders Letztere waren voller Argwohn wegen seiner Angriffe auf den „Aberglauben“ und den Gebrauch von Ikonen.56 Die anglikanische CMS war in Ägypten um 1819 mit dem ausdrücklichen Ziel etabliert worden, der koptischen Kirche bei ihrer Reform und Modernisierung zur Seite zu stehen. Deshalb war sie auch sehr zurückhaltend, wenn es darum ging, eigene Bekehrungsanstrengungen zu unternehmen.57 Die amerikanischen Presbyterianer hingegen hatten geringere Hemmungen, für die eigene Gemeinschaft unter den Kopten zu missionieren. In Oberägypten richteten sie Schulen ein, die offenbar gezielt Kopten anziehen sollte. Beide protestantischen Missionen hofften darauf, Wege zu finden, auf denen sie Einfluss auf Muslime ausüben konnten. Insbesondere die Errichtung von Schulen und Krankenhäusern zielte darauf ab. Versuche, Muslime zu bekehren, waren immer eine äußerst heikle Sache, selbst unter der informellen britischen Herrschaft seit 1882. William Temple Gairdner, ein CMS-Missionar, wurde durch sein einfühlsames Engagement für muslimische Schüler an der anglikanischen Schule von Kairo zu einem der Pioniere des christlich-muslimischen Dialogs. Das spiegelt sich in seinem Buch The Reproach of Islam, einem Text, der den christlichen Westen aufforderte, sich über die Bekehrungstä-

56 Ibrahim, Vivian, The Copts of Egypt. The Challenges of Modernisation and Identity, London 2011. 57 Ward, Kevin, A History of Global Anglicanism, Cambridge 2006, 197–200.

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6. Die altorientalischen Kirchen Afrikas

tigkeit unter Muslimen Gedanken zu machen und dabei aufmerksam auf das islamische Selbstverständnis zu achten.58 In der koptischen Kirche kam es während der langen Amtszeit des Patriarchen Kyrill V. (1874–1927) zu einer konservativen Reaktion auf die Verwestlichungsprogramme seines Vorgängers, die vielen zu weit gingen. Die Stabilität und der Zusammenhalt der koptischen Kirche sollten bewahrt werden vor den potenziell zerstörerischen Kräften sowohl des dominanten islamischen Staats als auch der westlichen Moderne. Auch die äthiopisch-orthodoxe Kirche sollte im 19. Jahrhundert wiederbelebt werden. Der politische Zerfall des Landes seit dem 17. Jahrhundert konnte erst im 19. Jahrhundert aufgehalten werden. Auch die Kirche war zutiefst gespalten, insbesondere über christologische Fragen – eine Folge der katholischen Intervention im 16. und 17. Jahrhundert. Nur schrittweise gelang es der Tewahedo-Orthodoxie (der Lehre, dass die göttliche und menschliche Natur Christi bei der Inkarnation eine Einheit bildeten) sich als offizielle Lehre der Kirche durchzusetzen.59 Die Kaiser, vor allem Tewodros II. (1855– 1868) und Menelik II. (1889–1913), spielten eine entscheidende Rolle bei der Wiederherstellung Äthiopiens als einheitliches Reich und bei der Einigung der Kirche. Bei den Bemühungen um die Schaffung einer modernen Gesellschaft, die auch internationalem Druck standhalten konnte, wurden protestantische und katholische Missionare vorsichtig willkommen geheißen: Für die anglikanische CMS hielten sich Bischof Samuel Gobat und Johann Ludwig Krapf jeweils nur kurz im Äthiopien der 1830er und 1840er Jahre auf. Sie wollten der altorientalischen Kirche helfen, aber sie keineswegs verdrängen, doch Krapfs Beziehungen zu den äthiopischen kirchlichen und staatlichen Herrschern verschlechterten sich, und 1840 wurde er des Landes verwiesen. Hastings kommentiert: „Wie eh und je hatten die Herrschenden Interesse an Waffen, Technikern und Bündnissen mit dem Ausland, nicht aber an einer neuen Welle religiöser Kontoversen. Die Missionare erkannten nicht, welche Konsequenzen ihre eigenen religiösen Überzeugungen hatten, und gaben – wie die Evangelikalen bei vielen späteren Gelegenheiten – ‚römischen Intrigen‘ und ähnlichen Dingen die Schuld an dem, was ihr eigener Mangel an Sinn für die afrikanische Wirklichkeit anrichtete. Was die religiösen Ideale anging, bestand eine tiefe Kluft zwischen einem Protestanten und einem äthiopischen Christen auf der Höhe seines Glaubens. Das machte den Einsatz der CMS so wirklichkeitsfremd.“60

Verglichen damit waren sich der katholische Lazarist Justinus de Jacobis und der Kapuziner Guglielmo Massaia der von Katholiken in der Vergangenheit begangenen Fehler zutiefst bewusst, und sie zeigten auch größeres Einfühlungsvermögen gegenüber der Liturgie in altäthiopischer Sprache (Ge’ez) sowie allgemein gegen-

58 Gairdner, William T., The Reproach of Islam, London 1909. 59 Crummey, Donald, Priests and Politicians. Protestant and Catholic Missions in Orthodox Ethiopia 1830–1868, Oxford 1972. 60 Hastings, The Church in Africa, 225.

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über den orthodoxen Gepflogenheiten. Sie waren Italiener, und auch wenn man ihnen die späteren italienischen Pläne zur Unabhängigkeit Äthiopiens nicht persönlich zum Vorwurf machen konnte, schien doch die äthiopische Zurückhaltung im Umgang mit ausländischen Missionaren gerechtfertigt. Im erneuerten Reich betrieb man eine starke Ausweitung der amharischen Kultur und des orthodoxen Glaubens, wodurch erstmals auch viele Gemeinden der Oromo in Südäthiopien zum christlichen Glauben kamen. Wenn aber Äthiopien sich als christliches Reich konsolidieren sollte, dann konnte es niemals ausschließlich christlich sein. Äthiopien war multiethnisch und multikulturell verfasst, und der Islam war in vielen vom Kaiser kontrollierten Gegenden so tief verwurzelt, wie es das Christentum im Hochland war. Die Schaffung eines umfassenden, einheitlichen Staates war schon für sich genommen eine bemerkenswerte Errungenschaft, und sie war es umso mehr, als sie angesichts des zunehmenden Drucks von europäischen Aggressoren gelang. 1896 schlug Menelik allen Widrigkeiten zum Trotz die Italiener in der Schlacht von Adua. Die Äthiopier entgingen so dem Schicksal des übrigen Afrika und konsolidierten ihre Identität als christliche Nation. Und das Land wurde zu einem Leuchtfeuer für die Christen in anderen Teilen Afrikas, die unter den Zwängen des Kolonialismus lebten.61

7. Der Wettlauf um Afrika und das stillschweigende Einverständnis der Missionen

Jahrzehntelang waren die Missionare im 19. Jahrhundert damit einverstanden, friedlich unter der Herrschaft afrikanischer Obrigkeiten zu leben. Bisweilen und in speziellen Fällen jedoch forderten sie die europäischen Mächte zum Eingreifen auf. Die britische Regierung, die unter solchen besonderen Umständen am häufigsten angerufen wurde, weil sie am leistungsfähigsten zu sein schien, widerstand im Großen und Ganzen derartigen kolonialen Verwicklungen und setzte dagegen auf den „Freihandel“. Lord Palmerston machte zu Livingstones Sambesi-Expedition im Jahr 1858 die säuerliche Bemerkung: „Ich bin höchst unwillig, mich auf neue Maßnahmen zugunsten britischer Besitzungen einzulassen. Dr. Livingstones Informationen sind wertvoll, aber ihm darf nicht erlaubt werden, uns dazu zu verleiten, Kolonien zu bilden, nur um durch Dampfschiffe erreichbar zu sein, die die Wasserfälle hinaufgezwungen werden.“62

61 Crummey, Donald, Land and Society in the Christian Kingdom of Ethiopia, Oxford 2002. 62 Roberts, Andrew, A History of Zambia, London 1976, 153.

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7. Der Wettlauf um Afrika und das stillschweigende Einverständnis der Missionen

Andere europäische Länder waren zunehmend irritiert und frustriert darüber, dass der „Freihandel“ Großbritannien aus ihrer Sicht unlautere Vorteile verschaffte. Die diplomatischen Manöver, die zur Folge hatten, dass Großbritannien ein Protektorat in Ägypten ausrief, verstimmten insbesondere Frankreich. Das Verlangen des belgischen Königs Leopold II. nach einem Ventil für seine imperialistischen Ambitionen und seine Abenteuer im Kongobecken ließen bei den anderen Europäern die Alarmglocken schrillen. Bismarck strebte nach kolonialen Besitzungen für das kürzlich vereinigte Deutsche Reich. Die Berliner Konferenz von 1885, angeblich einberufen, um Leopolds afrikanischen Ambitionen Grenzen zu setzen, führte praktisch zur Aufteilung des gesamten afrikanischen Kontinents unter den konkurrierenden europäischen Nationen bis zum Jahr 1914.63 Die Missionen spielten bisweilen bei diesen Entwicklungen mit – oder sie wurden, selbst wenn sie skeptisch gegenüber dem Sinn des Kolonialismus waren, dazu benutzt, Ansprüche auf ein bestimmtes Gebiet zu untermauern (so erwies sich zum Beispiel die lange Präsenz deutscher Missionare in Namibia als äußerst nützlich, um den deutschen Ansprüchen auf Südwestafrika in den 1890er Jahren Anerkennung zu verschaffen). Nach diesem Gerangel begünstigten die europäischen Mächte aktiv die eigenen Missionen in ihren neuerworbenen Kolonien. Diese dürften im Falle Deutschlands überwiegend protestantisch oder im Falle Belgiens und Frankreichs katholisch gewesen sein. Doch häufiger war der Nationalismus und nicht die Konfession der entscheidende Faktor. So konnten die europäischen Volksvertreter zu Hause streng antiklerikal auftreten, aber die Missionen im Ausland wärmstens unterstützen. Das widersprach eindeutig der Erklärung des Berliner Kongresses, wonach sich die Religionen frei von staatlicher Einflussnahme entwickeln können sollten. Leopold verkündete dieses Prinzip mit lauter Stimme, und eine Anzahl protestantischer Missionen, wie etwa die Baptisten, konnten sich gut im Kongo etablieren. Doch nach dem Skandal um die Barbarei von Leopolds „persönlicher“ Herrschaft im „Kongo-Freistaat“, der den belgischen Staat veranlasste, die Kontrolle zu übernehmen, wurden auch dort die belgisch-katholischen Missionen tendenziell bevorzugt.64 Die Briten machten viel Aufhebens um ihre Politik der Religionsfreiheit und der gleichen Chancen für alle Missionen. Ihre Erfahrung in Indien hatte sie gelehrt, dass es wichtig war, sich den Islam nicht zum Gegner zu machen. In Afrika, vor allem in Nigeria und im Sudan, kontrollierten und begrenzten sie darum die Operationen der christlichen Missionen in Gebieten, die bereits als islamisch galten, aufs genaueste. In anderen Teilen von Subsahara-Afrika förderten

63 Robinson, Ronald u. a., Africa and the Victorians. The Official Mind of Imperialism, London 1963; Brunschwig, Henri, Le Partage de l’Afrique noire, Paris 1971; Pakenham, Thomas, The Scramble for Africa 1876–1912, London 1992. 64 Hochschild, Adam, King Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa, London 2000; Nemry, Claude, Le fantôme de Léopold au cœur des ténèbres. Un règlement de contes, Paris 2011.

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sie alle Arten von Konfessionen. Doch in Ländern wie Uganda dürfte die Behauptung der Unvoreingenommenheit als ziemlich heuchlerisch empfunden worden sein, da die britische Unterstützung der Protestanten dort deren Triumph in den „Religionskriegen“ der 1890er Jahre in großem Umfang möglich machte.65 Gelegentlich schwenkten die Missionen die Fahnen ihrer eigenen Nation (oder manchmal auch die einer Nation, von der man annahm, dass sie die katholische oder protestantische Identität der Mission teilte). Bischof Tucker startete eine starke und letztlich erfolgreiche Kampagne, die das britische Parlament dazu bewegte, Uganda im Jahr 1894 zu einem Protektorat zu erklären. Zugleich aber kritisierte er scharf manche Aspekte der britischen Herrschaft, als sie schließlich eingeführt worden war. Die Missionen waren sich bewusst, dass sie die unterjochten Völker schon länger und besser kannten als die Regierungsbehörden, und erwarteten deshalb, bei Entscheidungen über Fragen der Kolonialpolitik konsultiert zu werden. Und sie beklagten sich, wenn ihr Rat ignoriert wurde.66

8. Afrikanische Reaktionen auf den Kolonialismus

Für die meisten Afrikaner war das koloniale Gerangel nur eine in einer Reihe von Krisen, die Afrika im späten 19. Jahrhundert erschütterten: ökologische Krisen, Seuchen unter Menschen und Tieren, wachsende Unbeständigkeit der traditionellen Obrigkeiten, die Zunahme von Gewalt und vor allen Dingen – die unerbittliche Einbindung Afrikas in das System des globalen Kapitalismus, bei der Afrika immer im Hintertreffen blieb. In einer berühmten Diskussion nahm die Anthropologin Robin Horton die „Vergrößerung der Maßstäbe“ unter die Lupe: Diese Vergrößerung habe den Eindruck erzeugt, dass die alten, ortsgebundenen Religionen und Spiritualitäten im Scheitern begriffen waren, was zugleich den „Weltreligionen“ Islam und Christentum besonders starke Anziehungskraft verlieh.67 Im 19. Jahrhundert hatte Edward Blyden von der Fähigkeit des Islam gesprochen, sich in die lokalen Landschaften zu integrieren, was dem Christentum immer versagt blieb. John und Jean Comaroff verwiesen auf die „Kolonialisierung des Bewusstseins“ (schon vor der formellen Kolonisierung), wodurch die europäischen Ontologien und Erkenntnistheorien den afrikanischen Identi-

65 Wright, Michael, Buganda in the Heroic Age, London 1971. 66 Stanley, Brian, The Bible and the Flag. Protestant Mission and British Imperialism in the 19th and 20th Centuries, Leicester 1990. 67 Horton, Robin, African Conversion, in: Africa 41 (1971), 85–108.

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8. Afrikanische Reaktionen auf den Kolonialismus

täten aufgedrängt worden seien.68 Andererseits nahmen viele Wissenschaftler die Fähigkeit der Afrikaner wahr, den christlichen Glauben und seine Ziele für die Transformation und Erneuerung des afrikanischen Menschenbildes zu nutzen, und zwar auf eine Weise, die den Afrikanern als Individuen und als Mitglieder der größeren Gesellschaft ein Selbstbewusstsein gab, das sie aufblühen ließ und ihnen half, dem kulturellen Imperialismus zu widerstehen. Sowohl in West- wie in Südafrika entstand eine gebildete Klasse von afrikanischen Christen (allerdings überwiegend Männer), die kraftvoll die Würde und die Tüchtigkeit der „afrikanischen Rasse“ verteidigten. Noch vor der Ära des Hochkolonialismus hatten afrikanische Christen begonnen, ihre Unzufriedenheit mit dem Paternalismus der Missionare und mit deren Versagen, die Verantwortung an afrikanische Führungspersönlichkeiten abzugeben, zum Ausdruck zu bringen. Der missionarische Paternalismus und Autoritarismus wurde noch verschärft durch einen wachsenden „wissenschaftlichen Rassismus“, einen Sozialdarwinismus, der die „Negerrasse“ zu einem mehr oder weniger ewig untergeordneten Status verurteilte. In Süd- und Westafrika begannen die afrikanischen Kirchen zu wachsen, sie vermieden es, in die Richtung der Europäer zu gehen, und bildeten ihre eigenen unabhängigen Gemeinden. Oft verwendeten sie die Liturgien, Gesangbücher und Lehren der Kirchen, aus denen sie hervorgingen, aber frustriert von den Missionsstrukturen legten sie Wert auf afrikanisch geleitete Gemeinden. Im Jahr 1883 betrieb Nehemiah Tile, Spross einer Häuptlingsfamilie der Xhosa, die Abspaltung von der Wesleyanischen Kirche in Thembuland, um die Thembu-Nationalkirche zu gründen.69 Im Jahr 1888 gründete Mojola Agbebi in der Region, die einmal zu Nigeria werden sollte, unter den Yoruba die Native Baptist Church. Er unterstützte auch die Kampagne, die auf der Suche nach „Authentizität“ dafür eintrat, die „christlichen“ Vornamen zugunsten lokaler, ethnisch spezifischer Namen abzulegen.70 Diese neuen Kirchen wurden als „äthiopisch“ bezeichnet, denn man sah in ihnen die Erfüllung der biblischen Prophezeiung, „Äthiopien“ (worunter man ganz Schwarzafrika verstand) werde „seine Hände ausstrecken zu Gott“ (Psalm 68,31). Früher hatten Missionare diesen Vers als Metapher für das benutzt, was sie zu erreichen versuchten. Jetzt eigneten sich die Afrikaner selbst diese Worte an, ermutigt vom Sieg der Äthiopier der Gegenwart über die kolonialen Unterdrücker in der Schlacht von Adua im Jahr 1896. Die Altertümlichkeit der altorientalischen Kirche Äthiopiens (über deren Gebräuche und Glauben die protestantischen Christen in Subsahara-Afrika kaum etwas wussten) war ihnen Beweis genug, dass die Missionare nicht die Ersten waren, die Christus nach Afrika gebracht hatten.

68 John Comaroff/Jean Comaroff, Of Revelation and Revolution, Bd. I: Christianity, Colonialism and Consciousness in South Africa, Chicago 1991; Bd. II: The Dialectics of Modernity, Chicago 1997. 69 Detaillierte Bibliografien bei Elphick/Davenport, Christianity in South Africa, 424–426. 70 Ayandele, Emmanuel A., The Missionary Impact on Modern Nigeria 1984–1914, London 1966.

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Aber nichts wurde zu einem größeren Symbol für den christlich-afrikanischen Widerstand gegen den Paternalismus der Missionare als die Auseinandersetzungen um das Vermächtnis von Bischof Samuel Crowther, dem ersten und einzigen schwarzen anglikanischen Bischof in Afrika im 19. Jahrhundert. Für den Generalsekretär der CMS war Crowthers Ernennung zum Bischof „in the countries of Western Africa beyond the limits of our dominion“ im Jahr 1862 die Erfüllung seiner Vorstellungen von einer „Euthanasie der Mission“, wonach die ausländischen Missionare die Leitung einer „sich selbst verbreitenden, selbst finanzierenden und selbst verwaltenden“ Kirche einheimischen Führungspersonen übergaben.71 In Wirklichkeit aber gab es am Niger und an seinem Delta kaum autonome christliche Gemeinden, die auf eine unabhängige Entwicklung hoffen konnten. Es war immer noch in erster Linie ein Missionsgebiet. Crowther war fast vollständig auf seine kreolischen Mitarbeiter aus Sierra Leone und auf einige Yoruba aus Abeokuta angewiesen, um geeignete Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Crowther führte sein Amt dort beinahe 30 Jahre lang und gegen Ende seines Episkopats sandte der CMS Bevollmächtigte aus England: eine Gruppe „junger, impulsiver, unfreundlicher und eigensinniger Missionare“, die von der Keswick-Heiligungsbewegung beeinflusst waren. Sie vertraten eine Reihe rigider ethischer Ansprüche, nach denen „echte Christen“ streben sollten und die sie auch tatsächlich erfüllen könnten. Den lokalen Missionshelfern begegneten sie in verletzender Weise, verachteten deren Stolz auf ihre europäischen Kleider und Gewohnheiten, ihren Mangel an Begeisterung und evangelistischer Leidenschaft. Ein Missionar sprach in erniedrigender Weise von den Kreolen – sie seien, so sagte er, ehemalige Sklaven, von ihren eigenen Gesellschaften sitzengelassen, „Abschaum der Menschheit“. Besonders erzürnte die Keswick-Missionare die Duldung von Verhaltensweisen, die sie für offensichtliche Sünden hielten, insbesondere Polygamie und Ehebruch. Sie organisierten Säuberungsaktionen in den Kirchengemeinden der Diözese, verweigerten das Abendmahl allen, die ihre Standards nicht erfüllen konnten, und setzten eine strenge Disziplin unter den Geistlichen durch. Sie kritisierten den betagten Bischof wegen seiner vermeintlich leichthändigen Toleranz und seiner Unfähigkeit, in der Diözese für Disziplin zu sorgen. Sie hielten es für ausgemacht, dass nach seinem Tod kein Afrikaner geeignet sei, ihm als Bischof nachzufolgen. Diese Gruppe von Hitzköpfen fiel aber bald selbst dem eigenen Mangel an Einfühlungsvermögen zum Opfer – als nämlich ihr naiver Enthusiasmus mit den wahren Herausforderungen des Missionarslebens konfrontiert wurde. Nur einer oder zwei von ihnen blieben im Dienst.72 Ihr Benehmen hatte die afrikanische Intelligenz in Lagos, Abeokuta und Freetown aufgebracht; sie bestanden darauf, dass nur ein

71 Williams, Peter, The Ideal of the Self-Governing Church. A Study in Victorian Missionary Strategy, Leiden 1990. 72 Ayandele, The Missionary Impact; Tasie, Godwin O.M., Christian Missionary Enterprise in the Niger Delta 1864–1918, Leiden 1978.

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9. Afrikanische spirituelle Erneuerung

Afrikaner Crowther nachfolgen könnte. Crowther starb im Jahr 1891, und sein Nachfolger wurde ein europäischer Bischof. Viele Mitglieder der anglikanischen Hauptkirche in Lagos bestürmten daraufhin ihren Pastor James Johnson, sie im Falle einer Abspaltung anzuführen. Der „heilige Johnson“ wurde weithin für den offenkundigen Nachfolger Crowthers gehalten. Als von den Yoruba abstammender Kreole war er in der Pfarramtskontroverse der frühen 1870er Jahre einer der wortmächtigsten Kritiker der Versagens von Sierra Leone bei der Förderung afrikanischer Talente und Initiativkräfte.73 Johnson griff die CMS wegen ihrer Entscheidung, zwei afrikanische Hilfsbischöfe für Crowthers Diözese zu ernennen, aufs Schärfste an. „Halbbischöfe“ nannte er sie wütend. Zugleich aber blieb Johnson hartnäckig loyal gegenüber seinem anglikanischen Erbe. Im Jahr 1900 willigte er sogar selbst ein, Hilfsbischof zu werden, allerdings aufgrund des trügerischen Versprechens, dass er später auch ein „richtiger“ Diözesanbischof werden könne. Dazu kam es jedoch nie. Zwar hatte sich die CMS zu jener Zeit förmlich für das skandalöse Verhalten ihrer Missionare während Crowthers letzter Jahre entschuldigt, aber nachdem Nigeria nun zum britischen Protektorat geworden war, war die Gelegenheit, eine vollständig autonome afrikanische Kirche in Westafrika zu schaffen, letztlich verpasst worden.

9. Afrikanische spirituelle Erneuerung Die Antworten afrikanischer Christen auf den Kolonialismus waren keineswegs auf politische Proteste und Bekundungen eines afrikanischen Nationalismus beschränkt. Die Erneuerungsbewegungen in den Missionsstationen waren ebenso wichtig. Manchmal artikulierten sie sich im Rahmen der Missionseinrichtungen, in anderen Fällen mussten sie aus den engen Grenzen des Missionschristentums ausbrechen. Ogbu Kalu hat festgestellt, dass Afrika seit den Anfängen seiner Begegnung mit dem Christentum eine Erweckungstradition hervorgebracht hat, die nicht einfach den europäischen oder nordamerikanischen Mustern folgte.74 Die Erweckungsbewegung und der sie begleitende Gefühlsüberschwang wurden in Sierra Leone bereits 1817 beobachtet, und das war wahrscheinlich nicht ihr erstes Auftreten. Im Jahr 1866 führte der amerikanisch-methodistische Erweckungsprediger William Taylor eine Evangelisationskampagne in Südafrika durch. Auf fruchtbaren Boden fiel sein gefühlsbetonter Predigtstil vor allem bei den Xhosa, die ja knapp zehn Jahre zuvor von der Viehtötungskampagne der Prophetin Nongqawuse

73 Ayandele, Emmanuel A., Holy Johnson. Pioneer of African Nationalism 1836–1917, New York 1970. 74 Kalu, Ogbu, African Pentecostalism. An Introduction, Oxford 2008.

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Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914

traumatisiert worden waren (ihre Botschaft kann man ebenfalls als eine Art Erweckungskampagne verstehen). Taylors Predigten führten zu einer großen Zahl von Bekehrungen. Aber sein bleibendes Vermächtnis liegt in der Partnerschaft mit dem Xhosa-Methodisten Charles Pamla (1834–1917), der für Taylor auch übersetzt hat. Pamla führte die Festigung des Erweckungschristentums mit seinen eigenen leidenschaftlichen und inspirierenden Predigten fort. Es gelang ihm auch, für sich selbst eine maßgebliche Position zu schaffen, sowohl als gleichberechtigter Mitarbeiter von Taylor wie auch anschließend als selbstständiger Prediger. Solche Leute waren in der rassistisch ausgerichteten Gesellschaft und Kirche Südafrikas schwer zu finden.75 In den 1890er Jahren führte George Pilkington, ein irischer CMS-Missionar, der zusammen mit seinem Assistenten aus Muganda, Henry Wright Duta, bis 1897 die Bibel ins Luganda übersetzte, eine Erweckungskampagne. Vor allem junge Soldaten, die in den Glaubenskriegen der späten 1880er und frühen 1890er Jahre gekämpft hatten, konnte er dafür begeistern, in ihrer eigenen Gesellschaft, aber auch über deren Grenzen hinaus selbst als Evangelisten aufzutreten. Pilkington war von der Keswick-Heiligungsbewegung beeinflusst – wie schon die Missionare in Crowthers Diözese am Niger. Doch im Gegensatz zu jenen erfuhr Pilkington in der Kirche Ugandas anhaltende Verehrung, denn er war eine Schlüsselfigur für die Einbeziehung von Afrikanern in die Evangelisierungsarbeit.76 Aber auch wenn diese Bewegungen sich erkennbar in der Tradition des europäischen und amerikanischen evangelikalen Erweckungschristentums befinden, gab es andere afrikanische Evangelisten, die bis zum Jahr 1914 (das für Afrika ebenso zur Wasserscheide wurde wie für Europa) sich keineswegs im Fahrwasser dieser Orthodoxien bewegten: Propheten wie Isaiah Shembe in Südafrika77, Simon Kimbangu im Kongo78, William Wadé Harris in Westafrika79 oder Yoswa Kate Mugema in Uganda.80 Die Bewegungen, die sie ins Leben riefen, zogen sehr viele Menschen an, besonders solche, die bis dahin nur wenig oder nur oberflächlichen Kontakt mit dem missionarischen Christentum gehabt hatten. Sie boten einen Weg zu einer christlichen Identität auch ohne die Hürden, die die ausländischen Missionare aufgebaut hatten: ohne zuerst Lesen und Schreiben lernen zu müssen, ohne Entfremdung durch die Übernahme einer ausländischen Kultur. Bußfertigkeit, das

75 Mills, Wallace G., The Taylor Revival of 1866 and the Roots of African Nationalism in the Cape Colony, in: Journal of Religion in Africa 8/2 (1976), 105–122. 76 Ward, Kevin/Wild-Wood, Emma, The East African Revival. History and Legacies, Farnham 2012, 191f. 77 Sundkler, Bengt, Bantu Prophets, London 1948. 78 Martin, Marie-Louise, Simon Kimbangu. Un prophète et son Église, Lausanne 1981. 79 MacKay Haliburton, Gordon, The Prophet Harris. A Study of an African Prophet and His Mass-movement in the Ivory Coast and the Gold Coast 1913–1915, London 1971. 80 Welbourn, Frederick Burkewood/Ogot Bethwell A., A Place to Feel at Home. A study of Two Independent Churches in Western Kenya, London 1961.

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10. Fazit

Kreuz, das Erfülltsein vom Geist waren die zentralen Elemente ihrer Botschaft, und diese waren sehr ansprechend mit Blick auf wichtige afrikanische Anliegen: den Sieg Christi über Zauberei und Fetische (die Kräfte des Bösen), Geistheilung, Stammesidentität und familiäre Bindungen. Anders als die politischen und sozialen Proteste einer gebildeten christlichen Elite wandten sich diese Propheten direkt an die ländlich-bäuerlichen Gemeinschaften. Irgendwann sprachen sie auch zum anwachsenden Proletariat in den entstehenden modernen Großstädten Afrikas wie Johannesburg, Nairobi, Lagos oder Kinshasa. Das nichtmissionarische Christentum dieser Gruppen wurde „zionistisch“ genannt – im Kontrast zu den früheren „äthiopischen“ Kirchen, die von politisch bewussten, in Missionsschulen ausgebildeten Eliten gegründet worden waren. Das Wort „zionistisch“ bezog sich auf ein Merkmal vieler dieser Bewegungen, nämlich auf die Benennung eines heiligen Orts, zu dem man Pilgerreisen unternahm, einem Ort, an dem man Christus auf afrikanischem Boden begegnen konnte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Fisk Jubilee Singers großen Erfolg unter den Schwarzen in Afrika. Sie waren ein afroamerikanischer a capella-Chor, der Spirituals in engen Lagern sang, die in den Jahren der Sklaverei in Amerika entstanden waren. In ihren Programmen kombinierten sie ihre evangelistische Botschaft mit Black Pride. Ein Ergebnis davon war die Niederlassung der African Methodist Episcopal Church (AME) in Südafrika.81 Die Sänger waren für die Zuhörer Beispiele für die Würde der Schwarzen, während sie in Afrika selbst immer mehr diskriminiert und ausgeschlossen zu werden schienen. Im Kongo starteten afroamerikanische Presbyterianer in den 1890er Jahren ihre eigene Missionsarbeit. William Henry Sheppard veröffentlichte Berichte über die Grausamkeiten der Force Publique des belgischen Königs Leopold II. und wurde dafür als der „schwarze Livingstone“ gepriesen.82

10. Fazit Im Jahr 1910 versammelten sich die Teilnehmer der Ersten Weltmissionskonferenz in Edinburgh. Christen aus Asien konnten bei den Sitzungen einige bedeutende Beiträge leisten, doch die afrikanischen Christen waren gänzlich ausgeschlossen. Anwesend war eine kleine Gruppe von Afroamerikanern, die Erfahrungen in Afrika

81 Campbell, James, Songs of Zion. The African Methodist Episcopal Church in USA and South Africa, Oxford 1995. 82 Phipps, William, William Sheppard. Congo’s African American Livingstone, Louisville 2002.

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hatten, aber keine „gebürtigen Söhne“, geschweige denn „gebürtige Töchter“ Afrikas waren vertreten.83 Um 1910 war Afrika mehr oder weniger vollständig von europäischen Kolonialmächten beherrscht (Ausnahmen waren Äthiopien und Liberia). Die Missionare hatten gelernt, den Kolonialismus als eine Tatsache des Lebens zu akzeptieren. Sie glaubten, das Christentum sei lebensnotwendig für den Fortschritt und die Zivilisation Afrikas und sie als Missionare seien noch für einige Zeit diejenigen, die väterliche Weisung böten. Die Ansichten über die afrikanische Religion variierten immer noch beträchtlich; viele sahen in der „animistischen Religion“ eine völlig ungeeignete Grundlage für jedwede Entwicklung. Doch die reine Verurteilung indigener Religiosität hielten sie für „radikal unklug und ungerecht“ und fanden ergreifende Worte dafür, dass „ausnahmslos alle diese Religionen elementare Nöte der menschlichen Seele offenlegen, die allein das Christentum befriedigen kann“.84 Viele afrikanische Christen hätten dieser Einschätzung nicht unbedingt widersprochen, doch wenn sie in Edinburgh vertreten gewesen wären, hätten sie möglicherweise ausgeführt, dass solche Vorstellungen nur sporadisch in den praktischen Beziehungen zwischen Missionaren und Bekehrten realisiert wurden. 1910 war das Christentum immer noch nur die Religion einer Minderheit von Afrikanerinnen und Afrikanern und zahlenmäßig immer noch viel kleiner als der Islam: Es hatte – nach Schätzungen der World Christian Encyclopaedia – mit 9,2 Prozent weniger als ein Drittel des Anteils der Muslime, die auf 32 Prozent kamen.85 Nichtsdestoweniger hat die Geschichte des 19. Jahrhunderts gezeigt, dass das afrikanische Christentum zu einer dynamischen kreativen Kraft geworden war. Die altorientalischen orthodoxen Kirchen hatten sich verjüngt, die Katholiken waren wieder in Schwung gekommen, auch wenn es die Protestanten waren, die über die meiste Zeit des Jahrhunderts den Weg bereitet hatten. Eine selbstbewusste, in Missionsstationen erzogene Gruppe von afrikanischen Christen hatte sich herausgebildet, vor allem in West- und Südafrika. Ihr christlicher Glaube hinderte sie nicht daran, Kolonialismus und Paternalismus zu kritisieren und für neue Ausdrucksformen und Vertretungsweisen in der noch recht neuen kolonialen Landschaft einzutreten. Sowohl in West- als auch in Südafrika machten sich Formen des afrikanischen Nationalismus und des Panafrikanismus bemerkbar, getragen von einer lebendigen Presse in europäischen und afrikanischen Sprachen. Die Bibel und der protestantische Klassiker The Pilgrim’s Progress wurden durch Übersetzungen in afrikanische Sprachen gründlich eingemeindet. Die Bewahrung der

83 Stanley, Brian, The World Missionary Conference. Edinburgh 1910, Grand Rapids 2009. 84 Friesen, J. Stanley, Missionary Responses to Tribal Religion at Edinburgh 1910, Frankfurt 1996, 6. 85 Vgl. Barrett, David u. a. (Hrsg.), World Christian Enyclopaedia, 2. Aufl., Oxford 2001, Bd. I: Tafeln 1–4, S. 13.

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Literatur

Volkssprachen durch die Alphabetisierung trug zudem zum Wiederaufleben traditioneller Kulturen und ihrer Geschichte bei, besonders unter den Yoruba in Nigeria und den Baganda in Uganda. Das Christentum war im 19. Jahrhundert in Afrika immer noch eine männlich dominierte Religion, doch wurde die Bildung von Frauen gerade in jenen Regionen bedeutsam, wo das Christentum zu einer wesentlichen sozialen und politischen Kraft geworden war. „Sich gut zu verheiraten“, d. h. gemäß christlichem Brauch, wurde in Freetown oder Lagos zu einem Statusmerkmal. Die Missionare sahen in der Heranbildung einer emanzipierten „Frauenschaft“ eine ihrer Prioritäten. Weibliche Missionare sollten dem Ideal des christlichen Familienlebens Gestalt geben und es zu einem Unterscheidungsmerkmal der christlichen Identität machen. Trotz dieser Rhetorik konnte die christliche Betonung des Familienlebens die Autonomie der Frauen behindern, insbesondere in Gesellschaften, in denen Frauen wichtige Rollen im Handel und als „Marktfrauen“ spielten. Bischof Crowthers Ehefrau Susan wurde von verständnislosen Missionaren wegen ihrer unternehmerischen Talente ebenso kritisiert wie die Ehefrauen in Frere Town in Mombasa. Die europäisch-christlichen und afrikanisch-traditionellen Formen der Ehe, nicht zuletzt die Polygamie, erzeugten die unlösbarsten Konflikte bei der Einpflanzung des Christentums auf afrikanischem Boden.86 Übersetzung: Norbert Reck

Literatur Ayandele, Emmanuel A., The Missionary Impact on Modern Nigeria 1984–1914, London 1966. Comaroff, John und Jean, Of Revelation and Revolution, Bd. I: Christianity, Colonialism and Consciousness in South Africa, Chicago 1991. Bd. II: The Dialectics of Modernity on a South African Frontier, Chicago 1997. Crummey, Donald, Priests and Politicians: Protestant and Catholic Missions in Orthodox Ethiopia 1830–1868, Oxford 1972. Elphick, Richard, The Equality of Believers: Protestant Missionaries and the Racial Politics of South Africa, Charlottesville 2012. Hastings, Adrian, The Church in Africa 1450–1950, Oxford 1994. Ibrahim, Vivian, The Copts of Egypt: The Challenges of Modernisation and Identity, London 2011. Isichei, Elizabeth, A History of Christianity in Africa, London 1995. Peel, John D. Y., The Religious Encounter and the Making of the Yoruba, Bloomingham 2000. Sanneh, Lamin, Translating the Message: The Missionary impact on Culture, Orbis 1989.

86 Eine gute Darstellung dieser Probleme in Lagos findet sich bei Mann, Kristin, Marrying Well. Marriage, Status and Social Change among the Educated Elite in Colonial Lagos, Cambridge 1985.

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Christentum in Afrika vom späten 18. Jahrhundert bis 1914 Sanneh, Lamin, Abolitionists Abroad, Cambridge MA 1999. Sundkler, Bengt/Steed, Christopher, A History of the Church in Africa, Cambridge 2000. Ward, Kevin, A History of Global Anglicanism, Cambridge 2006.

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LATEINAMERIKA UND DIE KARIBIK 19. JAHRHUNDERT

IM

Martin N. Dreher

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Amerika in drei große Regionen unterteilt: Nordamerika mit den Vereinigten Staaten und Kanada; Lateinamerika, zu dem Mexiko, Mittelamerika und der übrige Kontinent bis Patagonien gehörten und schließlich die Karibik, ein Archipel, der die großen und die kleinen Antillen, Belize und Guyana und Französisch-Guayana umfasste. Mexiko hatte in dieser Zeit eine weit größere Fläche als die heutige Republik. Während Lateinamerika ehemals spanischer und portugiesischer Kolonialbesitz gewesen ist, war das Gebiet der Karibik schon damals ein sehr heterogenes Gebilde. Obwohl Haiti bereits im Jahr 1804 unabhängig wurde, finden wir im Gebiet noch französische, holländische, englische und nordamerikanische Kolonien. Stand das Gebiet im 16. Jahrhundert unter spanischer Herrschaft, so kamen im 17. Jahrhundert Holländer, Engländer und Franzosen hinzu. Die Kolonialmächte führten vom 17. bis zum 19. Jahrhundert die Sklaverei ein. Von den fast 10 Millionen eingeführten afrikanischen Sklaven erhielten die Karibik und Brasilien jeweils ein Drittel und das übrige Amerika das restliche Drittel. Im 20. Jahrhundert stand das Gebiet der Karibik unter nordamerikanischer Vorherrschaft.

1. Das lange Jahrhundert In Geschichte und Theologie ist das 19. Jahrhundert als das „lange Jahrhundert“1 bekannt geworden. Es beginnt nach Eric Hobsbawm mit der Französischen Revolution (1789) und endet mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs (1914). Die beiden Jahreszahlen, die Revolution und der Weltkrieg, haben die Kultur des Westens und der christlichen Kirchen, und, wie sich zeigen wird, auch die Lateinamerikas und der Karibik entscheidend beeinflusst. In der Theologiegeschichte ist dieses Jahrhundert durch eine Reihe defensiver, apologetischer und reaktionärer theologischer Bewegungen gekennzeichnet. Die Aufklärung und die Entwicklung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften haben eine ganze Reihe von Fragen aufgeworfen, die

1 Zu dieser Bezeichnung vgl. Hobsbawm, Eric, Era dos Extremos, 2. Aufl. São Paulo 1995.

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

beantwortet werden mussten und die mit der biblischen Offenbarung zu tun hatten. Sowohl die Französische als auch die Industrielle Revolution haben Themen formuliert, die die Bedeutung von Kirche und Christentum für die Gesellschaft und für die Kultur betrafen. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher resümierte sie 1799 in folgenden Fragen: Wird das Christentum von nun an mit Obskurantismus assoziiert werden? Wird die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften mit Unglaube gleichgesetzt werden? Wird Christsein sacrificium intellectus bedeuten? Ludwig Feuerbach meinte, Theologie sei weiter nichts als Anthropologie. David Friedrich Strauß beschrieb den Gott-Menschen als Mythos. Karl Marx meinte, dieser Mythos habe nichts Gutes an sich, denn er betäube den Verstand des Volkes. Die Kirche des Westens, grosso modo in römische Katholiken und Protestanten gespalten, die sich nach den Stürmen der mittelalterlichen Barbaren erneuert hatte, sah sich wiederum mit der „Barbarei“ der Französischen Revolution konfrontiert. Die Antworten auf das Barbarentum fielen unterschiedlich aus. Während der römische Katholizismus Türen und Fenster vor den Stürmen der Moderne verriegelte, fand der Protestantismus, wenn auch gegen diese Versuchung nicht völlig immun, in seinen Reihen solche, die zur Offensive übergingen und mit den „Barbaren“ ins Gespräch kamen. Das Papsttum setzte auf Antimodernismus und Ultramontanismus und versuchte so, die moderne Welt aus seiner Mitte zu vertreiben, da es sie nicht zerstören konnte. In der protestantischen Welt wurde eine apologetische Theologie entwickelt, die sich auf das Wesen des Christentums (Adolf von Harnack) konzentrierte um zu beweisen, dass das Christentum nicht zwangsläufig gegen die Moderne sei, sondern vielmehr einen großen Beitrag zu ihrer Entstehung geleistet habe. Im sozialen Bereich bemühten sich Katholiken und Protestanten, den Modernisierungsverlierern beizustehen, und versuchten, den immer breiter werdenden Graben zwischen der Kirche und der Masse des Volkes zu verkleinern.

2. Die Französische Revolution

Die Französische Revolution bewirkte tiefgreifende Änderungen. Deswegen stellen die Jahre um 1800 eine bedeutende Zäsur in der Geschichte der Menschheit dar. Es kam zum Fall und zum Ende des feudal-absolutistischen Ständestaates. Es entstanden Republiken, welche die Macht von der Aristokratie in den Bürgerstand verlegte, zugleich aber die Massen bewegte. Begriffe wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit griffen auf ganz Europa über und wurden auch nach Lateinamerika und in die Karibik hinübergetragen. Mit der Französischen Revolution kam das Phänomen des Nationalismus. So heißt es beispielsweise im brasilianischen Unabhängigkeitslied: „ ...entweder bleibt

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3. Aufklärung und kirchliches Leben

das Vaterland frei, oder wir sterben für Brasilien.“2 Diese neuen nationalistischen Bestrebungen hatten zur Folge, dass zum Schutz der eigenen Nationen die Wehrpflicht eingeführt wurde. In den Kriegen, die gegen das napoleonische Joch geführt wurden, explodierte der revolutionäre Nationalismus. Auch in der Karibik und in Lateinamerika stieß der europäische Freiheitsgedanke auf offene Ohren und kulminierte in Freiheitskämpfen gegen die früheren Metropolen. Die von Napoleon ausgelöste Krise führte zur Auflösung des portugiesischen und des spanischen Kolonialreichs, kappte aber nicht die Beziehungen zwischen den ehemaligen Kolonien und Europa. De facto vollzog sich jedoch ein Wandel in diesen Beziehungen, und die Vorgänge in Europa hatten tiefgreifende Auswirkungen auf den Kontinent.

3. Aufklärung und kirchliches Leben Auch in Portugal und Spanien hatte die Aufklärung merklichen Einfluss. Sie veränderte das kirchliche Leben, denn die Institution Kirche wurde der Staatsraison untergeordnet3. Es war die Staatsraison, die zur Vertreibung der Gesellschaft Jesu aus den Kolonien und zur Schwächung der übrigen Orden führte. Wie bereits skizziert, benutzte das iberische Patronat die Orden und die Weltpriester bei der Conquista des amerikanischen Territoriums. Ländereien wurden dem Klerus vermacht, damit er Hospitäler, Schulen, Armenhäuser und Missionen unterhalten konnte. Seit dem 18. Jahrhundert waren diese mittlerweile äußerst wertvollen Ländereien sehr begehrt. Deshalb wurde des Öfteren davon gesprochen, die Reichtümer seien die Ursache für den Verfall des Klerus. In Portugal führte die staatliche Finanzkrise zuerst zur Enteignung reicher Familien und dann der Gesellschaft Jesu, deren Güter und Ländereien der Staat sich aneignete. Die Missionen der Jesuiten bildeten das Hauptziel der staatlichen Gier. Sie hatten sich in alternative Projekte zum Privateigentum und zum kolonialen System verwandelt. Die hohen Gewinne, die die Jesuiten erzielten, standen im Gegensatz zu den niedrigen Einnahmen der europäischen Siedler. Nicht zuletzt waren sie dem Welthandel verschlossen und machten sich eine Arbeitskraft zu nutzen, auf die die europäischen Siedler nicht zugreifen durften. Die wirtschaftliche Macht der Missionen war Grund ewiger Klagen, die dem König vorgetragen wurden. Zuletzt kam es zur Rebellion der Großgrundbesitzer in Paraguay (1723), die vom

2 „Ou ficar a pátria livre ou morrer pelo Brasil.“ 3 Vgl. Bidegain Greising, Ana Maria, A Igreja na Emancipação (1750–1830) in: Dussel, Enrique (Hrg.), Historia Liberationis. 500 anos de História da Igreja na América Latina, São Paulo 1992, 123–161.

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

König die Vertreibung der Jesuiten forderten. Die Lage wurde noch komplizierter, als im Jahr 1750 das Abkommen von Madrid unterzeichnet wurde, mit dem Spanien das Vordringen der Portugiesen weit über die Grenzen des Vertrags von Tordesillas anerkannte. So fiel auch das Gebiet der Jesuitenreduktionen, jene festen Siedlungen, die die Jesuiten für die indigene Bevölkerung Südamerikas errichtet hatten, an Portugal. 1754 widersetzte sich der Stamm der Guaraní der geplanten Umsiedlung, griff zu den Waffen und besiegte die spanischen Truppen, die den neuen Grenzverlauf (Uruguay-Fluss) festlegende Kommission begleiteten. Im Jahr 1756 gelang den verbündeten Truppen der Königreiche Spanien und Portugal der Sieg über die Guaraní. Die Jesuiten waren weder Befürworter des neuen Grenzverlaufes noch waren sie mit der Umsiedelung des Stammes aus den Jesuitenmissionen einverstanden – sie sind aber keinesfalls für die Mobilmachung des Heeres der Guaraní verantwortlich gewesen. Trotzdem wurde der Widerstand der Guaraní zur Begründung der Vertreibung der Jesuiten. Zu diesem Motiv gesellte sich ein weiteres, als die Jesuiten sich im Jahr 1755 in Maranhão im Norden Brasiliens den von der portugiesischen Regierung eingeführten Änderungen in der Gesetzgebung widersetzten. Die portugiesische Krone versuchte nämlich, die indianische Bevölkerung in die koloniale Gesellschaft und Wirtschaft zu integrieren. Bezweckt wurden die Versklavung und die Ausbeutung der Arbeitskraft der Indios. 1759 wurden die Jesuiten aus Portugal und aus den portugiesischen Kolonien vertrieben. Der aufgeklärte Absolutismus begnügte sich aber nicht mit deren Vertreibung – es wurden auch Bischöfe deportiert. Das gleiche Schicksal ereilte jeden Kleriker, der sich den Maßnahmen der Portugiesen widersetzte. Die Regierungsmaßnahmen wurden von den Großgrundbesitzern und von Handelshäusern unterstützt, aber auch von einigen Bischöfen, die darauf spekulierten, den „Zehnten“ aus den ehemaligen Reduktionen der Jesuiten zu erhalten. Selbst seitens der Bevölkerung gab es Widerstände gegen dieses brutale Vorgehen, die mit Verbannung bestraft wurden. Jene Kreise, die die Vertreibung der Jesuiten als Gewalttätigkeit ansahen, sahen sich motiviert, für die Unabhängigkeit der Kolonie einzutreten, vornehmlich in den spanischen Besitzungen, aus denen diese nach dem 27. Februar 1767 vertrieben wurden. Die bisher angeführten wirtschaftlichen Aspekte erklären nicht gänzlich, was zur Vertreibung der Jesuiten führte.4 Es darf nicht aus dem Blick geraten, dass die bürgerlichen Segmente der Gesellschaft auf Weltebene nach einer neuen ideologischen Basis für ihr Vorwärtskommen suchten. Und es sollte nicht vergessen werden, dass die Gesellschaft Jesu lange Zeit der militante Arm des Tridentinums gewesen ist und eine eigene Theorie über das Verhältnis von Kirche und Staat

4 Vgl. Zum Folgenden Dussel, Enrique. Historia General de la Iglesia en America Latina I/1: Introduccion General. Salamanca 1983, 672–681.

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3. Aufklärung und kirchliches Leben

entwickelt hatte. Die Jesuiten vertraten eine humanistische Neoscholastik, in der Begriffe wie Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit von fundamentaler Bedeutung waren. Diese Begriffe kollidierten aber mit den Vorteilen, die wenige Reiche mit der Ausbeutung anderer erzielten. In den Schulen und Universitäten der Jesuiten wurde gelehrt, man dürfe sich bestehenden Gesetzen widersetzen, wenn wichtige Gründe vorlägen. Zu diesen Gründen zählte auch die Freiheit, die für die Jesuiten einen höheren Stellenwert hatte als die Obrigkeit. Obrigkeit wurde von der Volkssouveränität abgeleitet. Wenn der Tyrann die Suprematie der Freiheit missachtete, wurden der Tod des Tyrannen und das Recht auf Revolution nicht ausgeschlossen. Diese Haltung kollidierte aber mit den Interessen des absolutistischen Staates, der auf größere Kontrolle seiner Untertanen setzte. Es ist zwar richtig, dass das Bürgertum auch nach Freiheit verlangte, dabei ging es ihm aber um die Freiheit des Individuums, das seine Arbeitskraft verkauft. Folgerichtig verlangte das Bürgertum nach einem Staat mit einer funktionierenden „Ordnung“. Die Freiheitstheorien der Jesuiten verhinderten also eine Übereinstimmung zwischen Bürgertum und Jesuiten – das Bürgertum verweigerte ihnen daher jegliche Unterstützung. Die aufgeklärten Herrscher wollten die Kirche der Staatsraison unterstellen.5 Dabei kam es zum Zusammenstoß mit den Jesuiten, denn sie waren die wichtigsten Verbreiter der Universalität des Papsttums und des römischen Katholizismus. Der neue Staat der Aufklärung war aber der starke nationale Staat, in dem das Supranationale neutralisiert werden musste. Deshalb begünstigte er auch die nationalistischen Tendenzen der Religion: Gallikanismus, Josephinismus, Regalismus. Für die Vertreibung der Jesuiten findet sich hier eine weitere Ursache. Die Politik emanzipierte sich von der Religion; der Religion blieb der transzendentale Bereich. Andererseits sakralisierten Staat und Bürgertum drei Aspekte: das wissenschaftliche Wissen, das Privateigentum und die Entwicklung der Wirtschaft. In der spanischen Aufklärung erfuhr die Vermittlung von Bildung einen großen Aufschwung. Die Bildung von Frauen und Männern sei die Grundlage für den Fortschritt einer Gesellschaft und deshalb die Bildung der Bürger Aufgabe des Staates. Da also in den Bildungsinhalten die ideologische Suprematie des Staates zum Ausdruck kommt, kann man sagen, dass die Vertreibung der Jesuiten ebenfalls im Dienste der ideologischen Suprematie des Staates über die Schule stand. Wo Bildung weiterhin von kirchlichen Schulen vermittelt wurde, unterstanden sie der staatlichen Aufsicht. Zweck der Schule war es, „dem Vaterland nützliche Bürger“6 auszubilden. In Brasilien war die Lage eine andere. Hier beschränkte sich Erziehung auf Alphabetisierung und Katechese.

5 Vgl. Dreher, Martin N., A Igreja Latino-Americana no Contexto Mundial São Leopoldo 1999. 6 „Cidadãos úteis à pátria“.

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

4. Kirchliches Leben am Vorabend der Emanzipation Aufstände waren keine Seltenheit in Lateinamerika und in der Karibik. Das Gebiet war keineswegs friedlich. Es gab indianische und afrikanische Aufstände. Mestizen und arme Europäer verbündeten sich nicht selten mit den Indios und unterstützten deren Forderungen. Häufig beteiligten sich auch Priester an Rebellionen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Revolution der Afrikaner auf Haiti, die mit der Verkündigung der Unabhängigkeit Saint Domingues im Januar 1804 in der Gründung des ersten freien lateinamerikanischen Staates endete. Nach der Vertreibung der Jesuiten sah man von staatlicher Seite die einzige Aufgabe der Religion darin, die Untertanen in treuem Gehorsam gegenüber dem König zu erziehen. Ohne die Beteiligung der Jesuiten, das war dem Klerus klar, hing das Leben der Kirche von dem Leben des Staates ab. Widerstand gegen den Staat bedeutete Widerstand gegen die Kirche. So wie in Europa, wo der aufgeklärte Staat die Kirche seiner Kontrolle unterstellte, wurden auch in Amerika eine Reihe zentralistischer Reformen durchgeführt, die in allen Schichten zu Irritationen führten. Während ihrer Studien in Europa, hauptsächlich in Frankreich, übernahmen ihre Söhne die Ideen und die Ideale, auf die sich die Französische Revolution berief. Aus dem Norden des Kontinents kam der Wiederhall der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten. Aus dieser Verbindung kirchlicher und gesellschaftlicher Unzufriedenheit ergab sich eine antimonarchistische Strömung, die sich als republikanische behauptete.

5. Kirche und Emanzipation Im Jahr 1808 wurden Portugal, Spanien und die Päpstlichen Staaten von napoleonischen Truppen besetzt. Frankreich bereitete sich darauf vor, das industrielle Zentrum der Welt zu werden und Großbritannien die Vormachtstellung streitig zu machen. Bei der Schlacht von Trafalgar konsolidierte sich England als Königin der Meere. Die französische Industrie lieferte nach Europa. Spanien und Portugal waren England auf den Meeren unterlegen – und Frankreich auf dem Kontinent. Da auch England sich gegen die wirtschaftliche Vormacht Frankreichs in Europa nicht durchsetzen konnte, versuchte es sich auf Kosten des spanischen Imperiums in Amerika Absatzmärkte zu sichern. Hier würde sich in Zukunft ein größerer Markt bieten als in Indien. Das war der Grund, warum England die Unabhängigkeitsbestrebungen der spanischen Kolonien unterstützte. Als in den Jahren 1806 und 1807 die Kreolen am Rio de La Plata die Engländer vertreiben konnten, die

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5. Kirche und Emanzipation

ins La Plata-Gebiet eingedrungen waren, erwuchs daraus die Überzeugung, dasselbe könne auch gegen Spanien gelingen. In Spanien unterstützten die von der Aufklärung beeinflussten Kreise die französische Invasion, andere jedoch bekämpften sie im Namen der Volkssouveränität. Das Eigentümliche an diesem Widerstand war die Beteiligung des Klerus. So wurde der Widerstand gegen Napoleon auch zur Verteidigung des Glaubens, der Religion der Väter und des Kreuzzugs gegen die ungläubigen Franzosen. Wie Ikonen standen die Bildnisse des Königs, Christi und der Jungfrau Maria nebeneinander. Es entwickelte sich eine Kriegstheologie, und der Krieg wurde Bestandteil der Heilsgeschichte. Ab 1808 sprang der Widerstand vom europäischen Kontinent auf den amerikanischen über. In den spanischen Kolonien schwor man dem von Napoleon abgesetzten König Ferdinand VII. Treue, in einer Zeit, in der die Kontrolle über Amerika immer weiter abnahm. So wurden die antifranzösischen Juntas Amerikas de facto immer mehr zu Juntas autonomer Regierungen in Amerika. Im Jahr 1810 übernahmen die Kreolen die Regierung und erklärten die Unabhängigkeit in Caracas (19. April), Buenos Aires (25. Mai), Bogotá (20. Juli) und Santiago de Chile (18. September). Ihnen widersetzten sich spanische Beamten und Bischöfe. Die Kreolen wollten mit den Spaniern gleichgestellt werden, verweigerten aber diese Gleichheit den Mestizen, den Indios, ganz zu schweigen von den afrikanischen Sklaven. Der Klerus war gespalten. Einige waren königstreu, andere revolutionär eingestellt. Revolutionäre bildeten die Mehrheit. Als intellektuelle Gruppe hatte der Klerus eine entscheidende Rolle bei der Emanzipation. In Mexiko wurden Miguel Hidalgo und José María Morelos von circa 6 000 Priestern unterstützt. Siebzehn Priester unterzeichneten in Buenos Aires die dem Cabildo (Regierungssitz) von Buenos Aires vorgelegte Bittschrift zur Ernennung einer neuen Junta. Der Klerus flößte der Bevölkerung den revolutionären Geist ein. In den bewaffneten, guerillaähnlichen Gruppen waren von Mexiko bis zum Rio de La Plata Priester zu finden. In Mexiko gehörten die Priester Hidalgo und Morelos zu den Initiatoren der Rebellion gegen Spanien. Bei ihnen vermischten sich Seelsorge und Guerilla. Das sollte nicht weiter verwundern, denn war es nicht Aufgabe der Kirche, sich dem Staat gegenüber loyal zu verhalten? Priester gaben den Gläubigen die Anweisung, dem neu entstehenden Staat treu zu sein. Die Sache war heilig. Es entwickelte sich also eine Kriegstheologie, die mittels Schriften, Homilien und Predigten verbreitet wurde. Ihr Zweck war es, den Unabhängigkeitskrieg zu rechtfertigen und in die Heilsgeschichte einzubetten. Die Unabhängigkeit Amerikas wurde zum Werk Gottes und der zu erreichende Sieg würde der Sieg Gottes sein. Weil sich die Bischöfe gegen eine solche Theologie aussprachen, unterstützten sie die Unabhängigkeitserklärungen nicht. Als sie feststellten, dass die spanische Metropole die Unabhängigkeit nicht würde rückgängig machen können, floh die Mehrheit von ihnen nach Spanien. Die neuen Machthaber verstanden sich aber

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

als Erben des Patronats, ernannten Bischöfe und wandten sich an Rom mit der Bitte um Anerkennung der Republiken und natürlich auch des Patronats. Im Großen und Ganzen wollten die neuen Machthaber die Beziehungen zu Rom aufrechterhalten. Sie erklärten, ihre Staaten seien katholisch, verweigerten Andersgläubigen das Bürgerrecht und forderten von ihnen, die Vorherrschaft des Katholizismus zu respektieren. Hinter diesen Erklärungen und Forderungen standen sicherlich religiöse Überzeugungen, aber auch Gründe der Staatsraison. Nicht vergessen werden sollte aber auch eine andere Dimension, nämlich die politische. In einigen Staaten, wie beispielsweise in Argentinien, wurde der Regalismus eingeführt. Die Religion war die katholische, das Patronatsrecht nahmen die Regierenden wahr, und gegenüber den Nicht-Katholiken (acatolicos) wurde die Haltung des Josephinismus eingenommen: die nicht katholische Religion durfte in Privathäusern praktiziert werden. Ähnlich war es in Chile, Paraguay und Uruguay. Als Napoleon Ferdinand VII. von Spanien und Papst Pius VII. in die Freiheit entließ, versuchte Ferdinand die spanische Herrschaft über Amerika wiederherzustellen und bat den Papst, Rom möge den neuen amerikanischen Republiken die Anerkennung verweigern. Am 30. Januar 1816 veröffentlichte Pius VII. die Enzyklika Etsi longissimo terrarum, verteidigte Ferdinand VII. und bat die amerikanischen Bischöfe, sich gegen die Rebellen zu stellen. Die spanische Armee konnte die spanische Hoheit in Venezuela und in Kolumbien wiederherstellen. Simon Bolivar hatte keine andere Wahl als die Unterstützung Haitis zu suchen. Haiti hatte am 1. Januar 1804 als erstes Land in der Karibik die Unabhängigkeit erlangt. Als Gegenleistung versprach Bolivar, allen Sklaven in den zu befreienden Gebieten die Freiheit zu schenken. So konnte Bolivar die Unabhängigkeit mit Unterstützung der Afrikaner, der Landarbeiter und der Bewohner der Ebene erreichen. Nach und nach konsolidierten sich die Unabhängigkeiten, und Pius VII. blieb nichts anderes übrig, als zunächst seine Neutralität zu erklären und dann, im Jahr 1823, eine Mission nach Südamerika zu entsenden, deren Aufgabe es sein sollte, die römische Kirche neu zu organisieren. Die Mission blieb erfolglos. Deshalb stellte sich die römische Politik seit Ende des Jahres 1823 gegen die amerikanischen Republiken. Leo XII. (1823–1829) bereitete der Neutralitätspolitik seines Vorgängers ein Ende und veröffentlichte die Enzyklika Etsi Iam Diu vom 24. September 1824, in der er Ferdinand VII. unterstützte und die Übel der Kirche in Lateinamerika bedauerte. Hintergrund der Stellungnahme Leos XII. ist die Anerkennung der Unabhängigkeit der Republiken durch zwei protestantische Mächte seit dem Jahr 1824: England und die Vereinigten Staaten von Amerika. England stellte sich gegen die Entsendung europäischer Truppen nach Amerika, und der nordamerikanische Präsident James Monroe erklärte, Amerika gehöre den Amerikanern (des Nordens!). Im Dezember 1824 waren alle Kolonien unabhängig – mit Ausnahme Kubas, Puerto Ricos und Uruguays, das bis 1828 unter brasilianischer Besatzung stand. England anerkannte die Unabhängigkeiten, forderte aber von den neuen unabhängigen Staaten die Wahrung seiner eigenen wirtschaftlichen Interessen.

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6. Die Unabhängigkeit Brasiliens

6. Die Unabhängigkeit Brasiliens Der Einzug napoleonischer Truppen in Portugal hatte die Flucht der Königsfamilie nach Brasilien zur Folge und bewirkte eine sehr rasche Entkolonialisierung, die mit der Öffnung der brasilianischen Häfen begann. Industrie, Eisenhüttenwerke und Webereien wurden begünstigt. Pflanzen, deren Anbau bisher verboten war, wurden erlaubt. Druckereien wurden zugelassen. Die Begünstigungen brachten neue Berufe ins Land und ermöglichten den Einzug von Wissenschaftlern und Technikern, unter ihnen viele Protestanten. Das Ende der napoleonischen Herrschaft ebnete den Weg für Revolten in Brasilien, das seit dem 16. Dezember 1815 mit Portugal und den Algarven das „Vereinigte Königreich“ (Reino Unido) bildete. Unter diesen Aufständen verdient die sogenannte Revolution der Priester besondere Aufmerksamkeit. Sie ereignete sich mit großer Beteiligung von Priestern im Jahr 1817 in Pernambuco. Die Priester verbündeten sich mit Freimaurern und forderten die Unabhängigkeit des Landes. Die Tendenzen waren liberal, radikal und republikanisch, Vorrang hatte aber das Gedankengut der französischen Aufklärung. Der Kopf des Priesters João Ribeiro blieb zwei Jahre lang als Warnung auf dem Stadtplatz ausgestellt: die Revolution sollte sich nicht wiederholen! Als die „Cortes“, das portugiesische Parlament, die Rückkehr des Königs nach Lissabon verlangten, überschlugen sich die Ereignisse, denn die Rückkehr war mit der Forderung verbunden, Brasilien wieder in den Status einer Kolonie zurückzuversetzen. Aus den Kreisen des Klerus und der Freimaurer kamen die Berater, die dem Prinzregenten Dom Pedro, später Pedro I., zu zeigen versuchten, dass die Abspaltung unumgänglich war. Bei den dann getroffenen Entscheidungen, die zur Ausrufung der Unabhängigkeit führten, hatte seine Ehefrau Leopoldine von Österreich, Brasiliens spätere erste Kaiserin, eine entscheidende, bisher nicht ausreichend untersuchte Rolle. Der Architekt der Unabhängigkeit, José Bonifácio de Andrada e Silva, ein Liberaler, organisierte Heer und Marine. Zu diesem Zweck wurden ausländische Offiziere und Soldaten ins Land geholt. Das Anheuern dieser Menschen und die nötige Logistik zur Unterstützung der Truppen mit Lebensmitteln und Männern führte im Jahr 1824 und im Jahr 1826 zur Gründung der deutschen Kolonien von São Leopoldo und Torres. Die beiden Kolonien wurden zu Zellen für das Eindringen sowohl des Protestantismus als auch des Katholizismus der Restauration. Das kaiserliche Brasilien behielt das Patronat, so dass die Kirche weiterhin unter der Kontrolle des Staates stand. Die wenigen Bischöfe haben niemals die Einheit der katholischen Kirche vermittelt, denn Priester und Bischöfe waren ja Vertreter der Religion des Staates, Angestellte des öffentlichen Dienstes und keine Hirten. Man kann von zwei Strömungen innerhalb des Klerus reden. Eine aufgeklärte wurde von dem Priester Diogo Antônio Feijó geleitet und hatte als Ziel eine nationale Kirche im Sinn, die dann von einem Nationalen Rat geleitet und mit dem

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

Staat verbündet wäre. Sein Vorschlag ging auch dahin, das Zölibat und die Orden aufzuheben. Die andere Richtung, angeführt von Dom Antônio Seixas, Erzbischof von Bahia, wünschte sich einen mit Rom verbündeten zölibatären Klerus und eine vom Staat unabhängige Kirche. Der Staat sah aber in der Kirche eine staatseigene Institution, die zu seinen Diensten stand und die Aufgaben hatte, für Frieden und Ordnung zu sorgen und bei der Erhaltung der nationalen Einheit mitzuwirken. Der Staat ließ Apostolische Nuntien zu, die aber keinen Einfluss auf das Leben der katholischen Kirche hatten, sondern lediglich Botschafter des Vatikans waren. Das Patronat verhinderte also die Restauration der katholischen Kirche in Brasilien.

7. Patronat und Liberalismus Die Art und Weise, wie die Institution Kirche an den Unabhängigkeitsbewegungen teilnahm, das Beibehalten des Patronats und die Spielart der Aufklärung, die noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika und in der Karibik vorherrschte, sind für das Verständnis bestimmter Aspekte des Verhältnisses von Staat und Kirche in dieser Region von grundlegender Bedeutung. Von einer kritischen Distanz zu staatlicher Bevormundung, wie in der Beteiligung der Kirche an den Unabhängigkeitsbewegungen, sind auch die Philosophie und Theologie der Befreiung gekennzeichnet, die in Lateinamerika und in der Karibik besonders im 20. Jahrhundert entstanden. Beide gingen aus dem starken Drang nach Freiheit hervor. Beide hatten und haben aber auch große Schwierigkeiten durchzudringen und akzeptiert zu werden, denn in diesen Regionen fehlte das historisch-kritische Denken. Andererseits führte der Mangel an historischkritischem Denken zur Umwandlung von Wissenschaftstheorien in Religion. So wurde der von Auguste Comte begründete Positivismus von ihm später in Religion der Menschlichkeit verwandelt, ebenso wie der Evolutionismus durch Allan Kardec zu Spiritismus wurde. Im 19. Jahrhundert gab es in Lateinamerika und in der Karibik starke Strömungen, die sich liberal und kritisch nannten. Sie waren antikirchlich und zugleich Verteidiger des Patronats. Welcher Art war dieser Liberalismus? Das Christentum lebte jahrhundertelang in Lateinamerika und in der Karibik unter dem Patronat der Metropolen; im 19. Jahrhundert unter dem Patronat der kreolischen Oligarchien. Das bedeutete die Kontrolle des Staates und fortwährende Eingriffe in das Leben der Kirche. So konnte z. B. der brasilianische Katholizismus erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts Instruktionen direkt aus Rom empfangen. Auch die Bestimmungen des Tridentinums wurden erst seit dem 19. Jahrhundert in Brasilien umgesetzt. Das Patronat schuf ebenfalls die Grundlage, dass der Protestantismus in Brasilien Einzug hielt.

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7. Patronat und Liberalismus

Vom Patronat befreit unternahm der christliche Glaube den Versuch, auf eigenen Füssen zu stehen. Inzwischen war man aber schon im 20. Jahrhundert angelangt. Das ist der Grund, warum das 20. Jahrhundert dasjenige ist, in dem die größten Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat in Lateinamerika und in der Karibik stattfanden. Es ist auch das Jahrhundert, das die meisten Märtyrer hervorgebracht hat, das Jahrhundert der Verletzlichkeit, denn der christliche Glaube war stärker den Angriffen der ehemaligen Kontrolleure ausgesetzt. Es war dann auch das Jahrhundert der stärksten religiösen Konkurrenz. Diese Zuschreibungen stehen aber keinesfalls im Widerspruch zu der eben erwähnten Tatsache, dass sich die Christianisierung des Kontinents im Kontext des Patronats vollzog. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war das lateinamerikanische und karibische Christentum ein geduldetes, kontrolliertes, in Grenzen erlaubtes Christentum. In ganz Lateinamerika und in der Karibik verbreitete sich das Gedankengut der Aufklärung rasch. In Brasilien war es weniger stark präsent – eine Folge der kolonialen Administration. In den spanischen Kolonien wurde der Buchhandel nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert. Die Staatsfunktionäre und die Kleriker des 18. Jahrhunderts jedoch waren mehrheitlich reaktionär eingestellt. Erst nach der Französischen Revolution kam es de facto zur Repression der Gedanken- und der Meinungsfreiheit. Selbst der Inquisition konnte es nicht gelingen, das Eindringen aufklärerischen Denkens zu verhindern, da sie bürokratisch und uneffektiv war. Die wichtigsten Werke der Aufklärung wurden gelesen. Aber als Folge der Französischen Revolution kam es zu einer stärkeren Kontrolle des geistigen Lebens. Unter den Lesern der Bücher der Aufklärung fanden sich unzählige Mitglieder des Klerus, auch wenn diese mehrheitlich Traditionalisten gewesen sind. Größere Verbreitung fanden aber die Gedanken der Aufklärung in den Freimaurerlogen. Da sie den Absolutismus bekämpften, ist es verständlich, dass sich die Freimaurer in den Kolonien verbreiteten. Hier wurde die liberal-individualistische Ideologie des aufsteigenden Bürgertums als befriedigende Reaktion auf den Status quo angesehen. Es gab jedoch einen Unterschied: Während sich in Europa das Freimaurertum vom Bürgertum her definierte, wurde in Lateinamerika ihr Gedankengut von den Söhnen der Großgrundbesitzeraristokratie übernommen. Coimbra und Montpellier in Südfrankreich waren die Zentren, in denen diese Söhne die Ideen und Ideale der Freimaurer aufnahmen. Die ursprünglich überhaupt nicht politischen Einrichtungen der Logen verwandelten sich bald in meinungs- und gewissensbildende Vereine. Wenn auch ideologische Meinungsverschiedenheiten zwischen der Freimaurerei und der Kirche des Patronats bestanden, so haben sich ihr doch viele Priester angeschlossen, weil sie in ihr einen Exponenten des Kampfes für die Unabhängigkeit sahen. Aus demselben Grund haben sich später auch Protestanten für die Freimaurerei entschieden, um Religionsfreiheit zu erlangen. Ein anderer wichtiger Aspekt des hier behandelten Themas ist der Regalismus des 18. Jahrhunderts. Sowohl das Haus Bourbon als auch das Haus Braganza verstanden

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

das kirchliche Patronat im Kontext der Theorie des königlichen Stellvertreters Christi, der König war also Vicarius Christi. Gerade gegen dieses Verständnis des Stellvertreters wandten sich die Jesuiten. Als sie für die Emanzipation der Kirche von der Vormundschaft des Staates eintraten, wurden die Jesuiten für den Staat zum Stein des Anstoßes. Sebastião José de Carvalho e Mello, seit 1769 Marques de Pombal errichtete ein autoritäres, aufgeklärt-absolutistisches System in Portugal und seinen Kolonien und sah in der römischen Kirche den Hauptgegner dieses Zieles. In der von Jesuiten, Oratorianern, Augustinern, Karmeliten und Franziskanern geleisteten Arbeit sah Pombal Widerstand gegen das Kolonialsystem und vertrieb sie deshalb aus Brasilien. Der Haltung Pombals ähnlich war die des Conde de Aranda (Graf von Aranda) in Spanien. Nachdem bei meinen Beobachtungen zu Lateinamerika und der Karibik zunächst das Patronat und der Regalismus in den Blick genommen wurden, soll jetzt das Thema Erziehung und Ausbildung in den Fokus rücken. Von 1549 bis 1759 hatte die Societas Jesu eine Vorrangstellung in der Bildung inne, der eine Periode der Verweltlichung der Ausbildung folgte (1759–1808). Besonders in den Jesuitenschulen und -Universitäten wurden scholastische Theologie und Philosophie gelehrt. In der Erziehung wurden die Werte der iberischen christlichen Kultur tradiert. Ziel der Erziehung war die Katechese der Indios und die Erhaltung der kolonialen Herrschaft, indem der christliche Glaube als Ausdruck der spanischen und portugiesischen Kultur der Elite vermittelt wurde. Anderseits müssen die Bemühungen der Jesuiten anerkannt werden, sich dem Patronat zu entziehen. Das Ergebnis dieser Anstrengungen war unter anderem das Verbot, das dem Kolleg San Pablo in Lima erteilt wurde, akademische Titel zu verleihen. Die Vertreibung der Jesuiten führte zum Zusammenbruch des Erziehungswesens. In Brasilien ging es sogar soweit, dass sämtliche Schulen geschlossen wurden. Der Zusammenhang zwischen der aktuellen Situation der Erziehung in Lateinamerika und der Vertreibung der Jesuiten ist bislang nicht mit der nötigen Tiefe erforscht worden. Unklarheit herrscht vor allem im Blick auf die eine Frage, die das 18. Jahrhundert betrifft: Waren die Jesuiten nur Vertreter der Scholastik oder vielmehr die ersten Vertreter einer katholischen Aufklärung? In Brasilien blieb die Erziehung die Angelegenheit eines totalitären Staates. In den spanischen Kolonien wurde sie umgestaltet, und die Naturwissenschaften bekamen Vorrang. Insgesamt fehlte es aber dem Erziehungssystem an der geistigen Elite, die mit den Jesuiten vertrieben worden war. Das Ergebnis war, dass keine Bedingungen geschaffen wurden, die sich neu entwickelnde wissenschaftliche Umwälzung in einer kritischen Reflexion zu assimilieren. Mit dem Aufstieg Englands und als Resultat des Spanischen Erbfolgekriegs (1701– 1714) nach dem Aussterben des spanischen Zweiges der Habsburger begann der kulturelle Niedergang Spaniens. Der Aufstieg der Bourbonen brachte für die dekadenten iberischen Staaten Europas und Amerikas die Aufklärung mit sich. In einer Zeit, in der die Aufklärung in Amerika Einzug hielt, ereigneten sich hier auch die Unabhängigkeitskriege. Welches waren aber die Wechselwirkungen zwischen der Aufklärung, den

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7. Patronat und Liberalismus

Unabhängigkeitskriegen und der Krise, in die die dem Patronat unterstellte Kirche geriet? Es besteht kein Zweifel über die Tatsache, dass die Generation von 1808 zutiefst von der Aufklärung beeinflusst wurde. Die lateinamerikanischen Republiken begründeten ihre Unabhängigkeitserklärung mit ihren „natürlichen Rechten“. Es muss aber festgehalten werden, dass, während die politischen Aspekte in den Theorien von Montesquieu, Voltaire und Rousseau unterstrichen wurden, nicht dasselbe mit den philosophisch-wissenschaftlichen Aspekten in den Aussagen von Descartes, Locke und Newton geschah. Die Aufklärung führte in Lateinamerika nicht zu einem revolutionären Geist. Sie ermöglichte Reformen in der bestehenden Ordnung, einen aufgeklärten Despotismus. Weder gab die Aufklärung den Impuls für die Unabhängigkeitserklärungen noch war eine politische Philosophie dafür verantwortlich. Die Unabhängigkeitserklärungen waren durch wirtschaftliche und soziale Bedingungen motiviert, die im Interessenkonflikt zwischen Kaufleuten, Großgrundbesitzern und Händlern und der kolonialen Gesetzgebung ihren Ursprung hatten. Die Revolutionen basierten nicht auf neuen politischen Theorien und brachten auch keine hervor. Das Neue bei den amerikanischen Revolutionen war der Glaube an die Vernunft als Leiter des menschlichen Geistes in seiner Suche nach Wahrheit. Es war gleichgültig, ob die philosophische Grundlage dafür Aristoteles, katholisch-theologische Theorien oder der königliche Absolutismus war. Hier vermischten sich die Dinge. Tatsache ist, dass die Autorität der römisch-katholischen Kirche, falls sie jemals existiert hatte, relativiert wurde. Zur gleichen Zeit brachen die Strukturen der Kirche auseinander, die bis zu diesem Zeitpunkt vom iberischen Regalismus unterstützt worden waren. Es wuchs das Vertrauen in die menschliche Ratio, und es wurde der Versuch unternommen, die ehemals kolonialistische Mentalität zu modernisieren. Unterstützt wurde die „nützliche Wissenschaft“ im Gegensatz zur „nutzlosen Wissenschaft“. In diesem Punkt stimmten Regalisten und Revolutionäre überein: Glaube an den „Fortschritt“ als Folge des Wissens, der nützlichen Wissenschaft. Es kam nicht von ungefähr, dass die Devise auf der brasilianischen Fahne „Ordnung und Fortschritt“, Ordem e Progresso, lautet. Die neuen politischen Regimes wurden von tiefgreifenden Widersprüchen begleitet, die den kolonialistischen Charakter der lateinamerikanischen Aufklärung unterstreichen. Die lateinamerikanische Aufklärung war vorbürgerlich. Dies führte zu einem Widerspruch in der Beziehung zwischen Aufklärung und Unabhängigkeit. Die Situation der Krise in Bezug auf die Zentralmacht führte zur Unabhängigkeit, aus der Republiken oder im Falle Brasiliens eine konstitutionelle Monarchie hervorgingen. Die Aufnahme der Ideen der Aufklärung in die Verfassungen der neuen Länder war radikaler als in Europa. Auf sozialem Gebiet blieb das koloniale Gesicht allerdings gewahrt. Trotz der den revolutionären Idealen der Aufklärung schmeichelnden Erklärungen blieb die soziale, auf ethnischen und sozialen Unterschieden basierende Struktur der kolonialen Gesellschaft bestehen. Im Falle Brasiliens war dies noch offensichtlicher, denn die Sklaverei wurde nicht abgeschafft. Die Aufhebung der Sklaverei kam erst im

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

Jahr 1888. Das einzige Ziel war die politische Unabhängigkeit. Die führenden Schichten waren an der Aufrechterhaltung des Status quo ante interessiert. Der koloniale Feudalismus durfte im unabhängigen Land weiterhin bestehen. In Frankreich, das für die amerikanische Welt so wichtig war als Paradigma, haben diejenigen, die die Aufklärung gedacht haben, nicht die Revolution geführt. Im spanischen Amerika waren die Theoretiker zugleich die Revolutionäre. Die Revolution folgte aber nicht der Idee. Vorherrschend war der soziale Konservatismus einer Großgrundbesitzerklasse und im brasilianischen Fall noch dazu mit der Sklaverei verbunden. Der Konservatismus zeigte sich in der Beziehung zur Kirche. Die Herrschenden dachten weiterhin vom Regalismus her und forderten für sich die Patronatsrechte. „Die Katholische, apostolische Religion wird weiterhin die Religion des Staates sein“ hieß es in § 5 der Verfassung des Kaiserreichs Brasilien. Die für verfassungsrechtliche Texte einzigartige Formulierung „continuará a ser“ (hier: „wird weiterhin sein“), war die Saat für die ständigen Spannungen mit Rom, da sich der brasilianische Kaiser, Pedro I., damit den Anspruch auf das Patronat sichern wollte – so wie zuvor der portugiesische König als Großmeister des Christusordens Oberhaupt der Katholischen Kirche in Brasilien gewesen war. In Lateinamerika entstand also eine Situation, die als sui generis bezeichnet werden kann: Eine dominierende Klasse mit feudaler Charakteristik, die sich auf die Aufklärung berief und das Patronat aufrechterhielt. Die Thematik der Freiheit konnte keineswegs zum Durchbruch kommen. Die gezähmte Aufklärung verwandelte sich in Religion. Es darf nicht verwundern, dass sich Lateinamerika im langen 19. Jahrhundert nach und nach unter die Ägide des Positivismus stellte. Hier darf man nicht nur an den Positivismus des Auguste Comte denken. Hinzugezogen werden müssen Charles Darwin, Herbert Spencer und William Graham Summer. Nicht zu vergessen ist der Utilitarismus von Jeremy Bentham und John Stuart Mill. Es handelt sich um Denkart, die viele als Szientismus bezeichnen, eine Weltanschauung, die in der Form einer „Religion des Humanismus“ eine Art säkularisierte Religionsform darstellt. Dieser Positivismus wurde zum theoretischen und ideologischen Ausdruck der Herrschaftspraxis der liberalen kreolischen Oligarchien. Es handelt sich hier um eine vom europäischen Denken abhängigen Praxis. Erstaunlich ist aber die Tatsache, dass in Europa oder in den Vereinigten Staaten der Positivismus eine akademische oder philosophische Praxis war, ohne große politische Implikationen. In Lateinamerika führte er zur Ausbeutungspraxis. Gegen diesen liberal-oligarchischen Staat gab es Widerstand, der sich um messianische Figuren versammelte: Canudos7, Contestado8 und Mucker9. Sie alle waren Wider-

7 Vgl. Villa, Marco Antonio, Canudos. O povo da terra, São Paulo 1995. 8 Valentini, Delmir José, Da Cidade Santa à Corte Celeste. Memórias de Sertanejos e a Guerra do Contestado, 3. Aufl. Caçador 2003. 9 Amado, Janaína, A revolta dos Mucker, 2. Aufl. São Leopoldo 2002.

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8. Die Krise der Christianitas in Lateinamerika

standszentren der Volksreligiosität, welche von der Kirche und vom angeblich aufgeklärten Staat zurückgewiesen wurde. Im Ganzen sah der liberal-oligarchische Staat die Kirche, besonders in ihrer römisch-katholischen Ausrichtung, als sozial und politisch tätige Macht an, die sich gegen seine Interessen richtete. So wurde die Kirche auch als soziale Einrichtung abgelehnt. Weswegen? Der Staat hatte Interesse am positivistischen oder szientistischen Fortschritt und bewertete die Kirche als gesellschaftliche Einrichtung, die mit wissenschaftlichem Fortschritt nicht zu vereinbaren war. In vielen Regionen kam es fast zum Bruch zwischen Kirche und Staat. Die katholische Kirche behielt eine traditionelle, koloniale Haltung. Sie versuchte ihre juridischen, gesellschaftlichen und politischen Rechte auf zwei Wegen zu sichern: Durch Konkordate mit dem Staat, und indem sie Bündnisse mit der konservativen katholischen Oligarchie abschloss. Wo sie vom Staat zurückgewiesen wurde, neigte die katholische Kirche dazu, sich abzukapseln, verinnerlichte den Glauben und reduzierte ihn auf eine individualistische und familiäre Dimension. Sie konzentrierte sich auf Frömmigkeit und Erziehung, und zwar in der Weise, dass sie auf diesen Ebenen mit der neuen Elite kooperierte, umso ihren früheren Einfluss wiederzugewinnen. Dies führte zu einer paradoxen Situation, die bis ins 20. Jh. prägend war: Die von der regierenden Elite als rückschrittlich bezeichnete Kirche verbündete sich mit eben dieser Elite, die bei der Erhaltung des Patronats die Kirche als Mittel zur Kontrolle der Gesellschaft benutzte. Als Gegenleistung fokussierte die Kirche ihre Frömmigkeits- und Erziehungspraxis auf die Teile der Gesellschaft, die besser bemittelt waren und stärkeren gesellschaftlichen Einfluss hatten. Sie war der Meinung, dass sie über die Beeinflussung der Jugendlichen aus diesen Kreisen wieder wie früher herrschen könne. In Wirklichkeit wurde die Kirche aber beherrscht. Sie war der Meinung, sie bilde katholische Eliten für die Zukunft. In Wirklichkeit schuf sie Eliten, die die Kirche für ihre Zwecke benutzten. Als sie sich dessen gewahr wurde, versuchte sie als Ganzes neue Wege zu gehen, dies allerdings im kurzen 20. Jahrhundert.

8. Die Krise der Christianitas in Lateinamerika

In der Zeit der Unabhängigkeitskämpfe war die katholische Kirche die einzige Institution, die von der kolonialen Ordnung zur neuen Ordnung überging. Sie sah sich mit der Widersprüchlichkeit der Behauptung der Identität einer indianischen, kolonialen, konservativen Vergangenheit im Widerstreit mit der Moderne eines industriellen, liberalen Kapitalismus konfrontiert. Es bestand eine Spannung zwischen Tradition und Entwicklung, zwischen kultureller Gemeinschaft und demo-

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

kratischer Individualität, zwischen Liebe für das Nationale und Bewunderung des Fremden.10 Der neue Staat konzentrierte sich auf das zweite Moment. Er entschied sich für Entwicklung, demokratische Individualität und Bewunderung des Fremden. Die Kirche schaute auf das erste Moment. Sie entschied sich für Tradition, kulturelle Gemeinschaft und betonte das Nationale. Hier baute sich eine Ungleichheit auf. Beginnend mit dem Jahr 1825 änderte Rom seine Einstellung gegenüber Lateinamerika und der Karibik. Es wurden Bischöfe ernannt und die neuen Republiken wurden am 25. August 1831 durch die Enzyklika Sollicitudo Ecclesiarum anerkannt. Zugleich aber behielt das Christentum, hauptsächlich das römisch-katholische, personifiziert durch Papst Pius IX., gegenüber den jungen Republiken ein zutiefst konservatives und antiliberales Gesicht. Der Papst des Syllabus errorum und der päpstlichen Unfehlbarkeit untermauerte die konservativen Haltungen und ermöglichte die Entstehung der ultramontanen Hegemonie. Seine Einstellung verhinderte die Entstehung einer eigenen Identität. Es wurde noch schlimmer: Früher entstandene Identitäten wurden negiert und die Kennzeichen eines lateinamerikanischen und karibischen Christentums, das sich aus iberischen, neuchristlichen, indianischen und afrikanischen Traditionen herauskristallisiert hatte, wurde verdammt oder schlicht als „Heidentum“ charakterisiert. Die Volksreligiosität wurde geächtet. Die römisch-katholische Restauration bedeutete in Lateinamerika und in der Karibik die Negation einer dreihundertjährigen Geschichte des Christentums.11 Erst im 19. Jahrhundert beginnt daher eine römisch-katholische Geschichte, im Sinne einer direkt ohne den Weg über das Patronat der iberischen Monarchien gesteuerte, in Lateinamerika und in der Karibik. Diese römisch-katholische Kirche musste sich allerdings gegen einen Protestantismus behaupten, der viele Gesichter aufwies. Römisch-katholische Kirche und protestantische Missionen bildeten ein Novum in der Kirchengeschichte Lateinamerikas und der Karibik im 19. Jahrhundert. Die römische Behauptung, die Region sei heidnisch, entsprach der gleichen Behauptung seitens protestantischer Missionen.12 Das ist der Hintergrund vor dem die einzelnen Ereignisse der Kirchengeschichte des Kontinents zu verstehen sind. Das dominierende Charakteristikum des christlichen Glaubens in Lateinamerika und in der Karibik im 19. Jahrhundert war also die Krise des Regimes der Christenheit und des Übergangs zu einem neuen Systems des Patronats und der Konkor-

10 Vgl. Azzi, Riolando, A Crise da Cristandade e o Projeto Liberal, São Paulo 1991. 11 Azzi, Riolando, A Neocristandade. Um projeto restaurador, São Paulo 1994. 12 Vgl. Meier, Johannes. „ ...trazer auxílio ao catolicismo do Brasil, decadente e a caminho da perdição.“ A atividade dos franciscanos alemães no Brasil, segundo as cartas de Frei Evaristo (Wilhelm) Schürmann, recentemente descobertas. In: Fornet-Betancourt, Raúl (Hg.), A Teologia na História Social e Cultural da América Latina. Livro 3. São Leopoldo 1996, 189–215. Gueiros Vieira. O Protestantismo, a Maçonaria e a Questão Religiosa no Brasil. Brasília 1980.

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8. Die Krise der Christianitas in Lateinamerika

date. Bis Mitte des Jahrhunderts blieben die Prärogativen der kolonialen Periode erhalten. Erst dann wurde die Kirche mehr und mehr in die Position einer Institution der zivilen Gesellschaft gebracht. Brasilien war das letzte Land, in dem dies geschah (1889). Aus der politischen Arena entfernt, unternahm die katholische Kirche in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts den Versuch der Rückkehr, verwendete dann, ebenso wie die Kirchen Europas, die Sprache des Faschismus. Sie war aber nicht mehr in der Lage, dieselben Aufgaben wie in den vorangegangenen Jahrhunderten zu übernehmen. Es fehlte an Priestern. Viele von ihnen waren während der Unabhängigkeitskriege und Revolutionen gestorben, andere nach Europa zurückgekehrt. Gleichzeitig befanden sich die Orden in einer großen Krise, weil ihnen von den Regierenden verboten wurde, Novizen aufzunehmen oder Ausländer zu empfangen. Es fehlten aber auch Gelder für die Pfarreien. Ohne eigene finanzielle Mittel sahen sich die Staaten genötigt, die Güter der Pfarreien, Orden, der ganzen katholischen Kirche für sich in Anspruch zu nehmen und zu beschlagnahmen. Gleichzeitig bekämpften sie die Kirche, um diese Aktionen zu rechtfertigen. Zum großen Teil wurde dieser Kampf mittels der Freimaurerlogen geführt, denen häufig protestantische Missionare angehörten. Diese Missionare belieferten dann auch mit der Loge verbündete Journalisten mit theologische Argumente gegen die katholische Kirche.13 Was Protestanten und Freimaurer in dieser Zeit verband, war die liberale Idee. Protestanten wollten sich mit einem Staat verbinden, der ihnen die Kultusfreiheit zusicherte.14 Insgesamt lässt sich die Zeit nach der Unabhängigkeit als Zeit der Vertiefung der Auseinandersetzung zwischen katholischer Kirche und Staat bezeichnen. Aber das einfache Volk, die normalen Männer und Frauen, tauchten in diesen Auseinandersetzungen nicht auf. In dieser Periode, in der der Staat die Institution Kirche bekämpfte und in der diese sich an Rom orientierte, wurde der schlichte Glaube von den Frommen, den gläubigen Kirchgängern und den Müttern lebendig gehalten. In der Tat kam später der Vorwurf auf, die Kirche sei lediglich dazu in der Lage, Frauen, Kinder, Indios und Arme zu beeinflussen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich Bewegungen von Indios und Bauern im 19. Jahrhundert durchaus christlicher Symbole bedienten. Dort mischten sich auch Monarchismus und Moralismus. Nicht selten wurden die sogenannten messianischen Bewegungen monarchistischer und antirepublikanischer Haltungen bezichtigt, wie beispielsweise die messianische Bewegung in Canudos im Nordosten von Brasilien.15

13 Vgl. Vieira, David Gueiros, O Protestantismo, a Maçonaria e a Questão Religiosa no Brasil, 2. Aufl. Brasília 1980. 14 Vgl. Bastian, Jean-Pierre, Protestantes, liberales y francmasones. Sociedades de ideas y modernidad em América Latina, México 1990. 15 Vgl. Dickie, Maria Amélia. Messianismos na América Meridional. In: Dreher, Martin N. (Hg.). 500 anos de Brasil e Igreja na América Meridional. Porto Alegre 2002, 105–114.

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

Charakteristisch für die Auseinandersetzungen im Brasilien des 19. Jahrhunderts ist die sogenannte Questão Religiosa (Religiöse Frage). Während des Zweiten Brasilianischen Kaiserreichs (1831–1889) wurde die katholische Kirche tatsächlich zu einer römisch-katholischen, im Sinne einer direkten Anbindung an und Ausrichtung nach Rom, und dadurch weniger national auch in den Augen der Regierenden. Bischöfe suchten Hilfe in Rom gegen den als „liberal“ bezeichneten Kaiser, zielten in Wirklichkeit jedoch auf die Autonomie der Kirche.16 Bedeutung erlangten Persönlichkeiten wie Antonio Romualdo de Seixas, Erzbischof von Bahia, und Antônio Viçoso, Bischof von Mariana im Südosten von Brasilien. Im Mittelpunkt der „Questão Religiosa“ standen aber die Bischöfe Antônio de Macedo Costa und Dom Vital (Vital Maria Gonçalves de Oliveira, Bischof von Olinda). Im Jahr 1873 suspendierte Dom Vital die Bruderschaften und die Drittorden. Alle weigerten sich, ihre Beziehungen zur Freimaurerei abzubrechen. Die Bruderschaften appellierten an den Kaiser, der dann die Gefangennahme beider Bischöfe 1874 anordnete. Das Ergebnis war dann allerdings zwiespältig: die katholische Kirche erlangte mehr Autonomie, der liberale Staat wachsende Macht. Die Ambiguität machte sich aber auch in den Stellungnahmen der katholischen Kirche bemerkbar, die zwar die Freimaurerei bekämpfte, sich aber nicht für das Ende der Versklavung der Afrikaner einsetzte. Die Karmeliten weigerten sich explizit, ihre Sklaven zu befreien. Sie taten es erst, als ein Gesetz vom 13. Mai 1888 sie dazu zwang. Auch die Protestanten aus dem Süden der Vereinigten Staaten, die in Folge der Aufhebung der Sklaverei nach Brasilien auswanderten, traten den Freimaurern bei, setzten sich aber nicht für das Ende der Sklaverei ein. Sie waren ja gerade nach Brasilien ausgewandert, weil dort die Möglichkeit bestand, an der Sklaverei festzuhalten! Im Jahr 1870 legitimierte die katholische Kirche nachträglich den von der Tripel-Allianz (Brasilien, Argentinien, Uruguay) gegen Paraguay geführten Krieg, der mit der kompletten Niederlage Paraguays endete und als einer der blutigsten Kriege in der Geschichte Lateinamerikas gilt. Wer Gott liebe, liebe das Vaterland und gebe sein Leben im Kampf gegen den paraguayischen Feind17. Um das Jahr 1880 passten sich die unabhängigen Staaten Lateinamerikas und der Karibik dem großen Wandel des internationalen Marktes an. Das Verkehrsund Kommunikationswesen wurde ausgebaut, neue Technologien angewendet. Neue, auf den Export orientierte landwirtschaftliche Produkte, das Ersetzen der Arbeitskraft der Sklaven durch Angestellte auf dem Land und in den Städten, das Entstehen einer diversifizierten Gesellschaft als Folge der Einwanderung großer Massen von Europäern und Asiaten führten zu einem tiefen Wandel in der Bevölkerung. Am meisten litten die Indianer – gegen sie wurden Ausrottungskriege

16 Vgl. Azzi, Riolando, O Altar Unido ao Trono. Um projeto conservador, São Paulo 1992. 17 So Dussel, Enrique. A Igreja no processo da organização nacional e dos estados na América Latina (1830–1880). In: Ders., Historia Liberationis. 500 anos de história da igreja na América Latina. São Paulo, 1992, 166f.

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8. Die Krise der Christianitas in Lateinamerika

geführt. In Argentinien wurde die Effizienz der Gewehre der Marke Winchester erprobt, während in Brasilien Indianerjäger, Bugreiros genannt, eingesetzt wurden. Trotz all dem wuchs die Bevölkerung von 50 Millionen im Jahr 1880 auf 100 Millionen im Jahr 1930 an. Den größten Bevölkerungszuwachs wies Argentinien auf. Während das Land 1852 lediglich eine Million Einwohner hatte, waren es 1924 10,2 Millionen. In Brasilien war die Situation nicht wesentlich anders. Hier zählte die Bevölkerung im Jahr 1872 9,9 Millionen und wuchs bis 1920 auf 30 Millionen an. Die Welt der Einwanderer machte sich in beiden Ländern bemerkbar. Wenn auch nicht mit den gleichen Zahlen, so machten sich die Einwanderer in allen Ländern des Kontinents bemerkbar. Von der iberischen Dependenz befreit, gerieten die politisch unabhängigen Länder mehr und mehr in die Abhängigkeit Englands – auch Frankreich und Deutschland gewannen durch Investitionen an Einfluss. Wesentlich stärker zu spüren war jedoch die Expansion der Vereinigten Staaten von Amerika in Richtung Lateinamerika und die Karibik. 1823 erklärte der nordamerikanische Präsident James Monroe, Amerika gehöre den Amerikanern. Aus diesem Satz war nichts herauszuhören, was auf eine größere Unabhängigkeit der lateinamerikanischen und karibischen Staaten hätte schließen lassen. Lateinamerika und die Karibik wurden zum Einflussgebiet der Vereinigten Staaten erklärt, und folglich wurden Puerto Rico und Kuba besetzt. Im Zuge dieser tiefgreifenden Wandlungen gab es auch Änderungen auf dem religiösen Gebiet. Das römische-katholische Monopol kam zu einem Ende, mehr noch, das christliche Monopol insgesamt endete. In liberalen Verfassungen wurde die Religionsfreiheit festgeschrieben. Protestantische Missionen, zumeist nordamerikanischen Ursprungs, kamen nach Lateinamerika und die Karibik. Gleichzeitig mit diesen kamen auch verstärkt muslimische, hinduistische, buddhistische und schintoistische Einwanderer. Unter den christlichen Einwanderern fanden sich auch Orthodoxe, Lutheraner, Calvinisten, Valdenser, Mennoniten und Herrnhuter. In weiten Gebieten war der deutsche oder italienische Katholizismus so verbreitet, dass er in einen offenen Konflikt mit dem kolonialen Katholizismus geriet. In vielen Ländern ersetzten katholische Orden und Kongregationen den alten Klerus. Es kam zum Konflikt mit der Volksreligiosität. Die Katholische Restauration machte sich bemerkbar. Gleichzeitig bekämpfte der liberale Staat den römischen Katholizismus, trennte Kirche und Staat, säkularisierte die kirchlichen Güter, erklärte die Schule für laizistisch, führte das Zivilregister ein und die Friedhöfe wurden enteignet. Laut liberaler Ideologie wurde der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis, des Fortschritts gegen die Rückständigkeit, des katholischen Obskurantismus gegen den Fortschritt der protestantischen Ethik geführt. Zivilisation widersetzte sich der Barbarei. Mit Barbarei war aber nicht nur Religion gemeint, wie sich an Argentinien und Brasilien zeigt. Hier löschten die Einwanderer den „barbarischen“ Indianer aus. Indianer sollten grundsätzlich ausgerottet werden. Zivilisierung war gleichbedeutend

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

mit der Europäisierung der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Kirche. Mit Europäisierung der Kirche war im Fall des Katholizismus „Romanisierung“ gemeint. Auch die protestantischen Missionen trugen zur Europäisierung Lateinamerikas und der Karibik bei. Dies betraf alle Lebensbereiche bis hinein in Kleidungskonventionen, wie etwa dem Brauch, Anzug mit Krawatte zum Kirchgang zu tragen. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts trugen die Prediger der Pfingstkirchen statt eines Talares häufig Anzug und Krawatte nach europäischem Vorbild. Das Vordringen und die Expansion des Kapitalismus, verbunden mit der Kommerzialisierung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, der Landausbeutung durch internationale Gesellschaften, der Vermarktung des Bodens (sehr oft handelte es sich dabei um säkularisierte Ländereien der katholischen Kirche und der Indios, dann „Niemandsland“ = terras devolutas genannt), ermöglichten besonders die Expansion Nordamerikas. Bedeutende Teile mexikanischen Gebietes wurden durch die USA annektiert. Kuba, Puerto Rico und Nicaragua wurden besetzt, Panama wurde von Kolumbien getrennt. Wegen der Tätigkeit amerikanischer Obst-Konzerne gab es Interventionen in sämtlichen mittelamerikanischen Ländern, die in „Bananenrepubliken“ verwandelt wurden. Mit den „Abkommen“, die dann zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den einzelnen Republiken unterzeichnet wurden, gab es immer Begünstigungen für nordamerikanisches Kapital und die Freiheit für den Einzug protestantischer Missionen. Diese sah man bald als Handlanger des nordamerikanischen Kapitalismus, nach dem Motto: „Die Dämonen kommen aus dem Norden“.18 Der Zusammenklang dieser hier dargestellten Ereignisse drängte den bisher vorherrschenden Katholizismus in die Defensive. In Mexiko (1856), Kolumbien (1861) und Guatemala (1872) wurden religiöse Orden des Landes verwiesen und ihre Güter beschlagnahmt. Bei der Annektierung mexikanischen Territoriums wurden katholische Bevölkerungsteile diskriminiert. Sie waren nicht nur katholisch, sie waren aus Indios und Mestizen zusammengesetzt. Sie waren weder weiß noch protestantisch noch angelsächsisch. Sie waren nicht „WASP“, („white, anglosaxon, protestant“) eine Trias, welches auch die Basis für den nationalen und rassistischen Stolz der Nordamerikaner und für den Rassismus des Südens der Vereinigten Staaten gegenüber den Afrikanern bildete. Rom war aber auch mitverantwortlich für das traurige Los dieser Bevölkerungsteile. Der mexikanische Klerus der annektierten Gebiete wurde durch europäischen Klerus ersetzt. In Puerto Rico ersetzte das Englische in den protestantischen Missionsschulen das auf der Insel gesprochene Spanisch. In den Republiken bevorzugte die mit den Freimaurern verbündete Elite den Protestantismus. Überall wurde Indianerland mit Gewalt enteignet. Nicht selten waren die Kirchen die Instrumente, die der Zivilisation der Indios dienten. Die Yaquis in Mexiko,

18 Vgl. De Lima, Delcio Monteiro, Os Demônios Descem do Norte 2. Aufl. Rio de Janeiro 1987.

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9. Rom und der lateinamerikanische Katholizismus

die Kaigang, Coroados und Ofaié-Xavante in Brasilien, die Araukaner und Fueguinos in Argentinien, die Mapuches in Chile – sie alle wurden erbarmungslos ausgerottet. Auf ihren Ländereien wurden Einwanderer angesiedelt oder sie wurden den Besitzungen der neuen Landaristokratie hinzugefügt. Als Reaktion auf diese Welle der wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Gewalt entstanden messianische Bewegungen in Peru, Mexiko und Brasilien. Ordensleute wurden aufgefordert, bei Konflikten zu vermitteln. Doch führte ihre Vermittlung in den meisten Fällen zum Massaker.

9. Rom und der lateinamerikanische Katholizismus Während dieser Periode spielte Rom eine wichtige Rolle. Ohne Roms Stellungnahmen zu berücksichtigen ist es unmöglich, den Wandel des lateinamerikanischen und karibischen Katholizismus und das beträchtliche Wachstum seines kirchlichen Apparats zu verstehen. Das Patronatsrecht Spaniens und Portugals verhinderte praktisch die Einführung der Reformen des Tridentinums auf dem Kontinent. Die Unabhängigkeit führte auch nicht zum Ende dieses Patronats. Erst als liberale Regierungen die Macht übernahmen, wurde dem Patronat nach und nach ein Ende gesetzt: In Kolumbien im Jahr 1853, in Mexiko 1857 und zuletzt in Brasilien im Jahr 1890. Liberale Regierungen trennten Kirche und Staat, mischten sich aber auch tief in die inneren Angelegenheiten der katholischen Kirche ein. Damit kam die Zusammenarbeit zwischen Liberalen und Katholiken zum Erliegen. Viele Intellektuelle weigerten sich, sich als Katholiken zu bekennen. Staatliche Institutionen beschlagnahmten die Güter der katholischen Kirche, machte dem Zehnten ein Ende, vertrieb die Orden, entzog die Schulen dem Zugriff der Kirche, beschlagnahmte die Friedhöfe und führte das Zivilregister ein. Es wäre falsch, diese Maßnahmen als Säkularisierung zu bezeichnen, denn es ging um politische Hegemonie. Die Situation kann mit dem verglichen werden, was im Deutschland Bismarcks oder in positivistischen Kreisen Frankreichs geschah: die katholische Kirche wurde als Hindernis auf dem Weg zum Fortschritt gesehen, sie schien die Entwicklung der Wissenschaften zu behindern. Diese Haltung aber nahmen die führenden Schichten ein, deren Rede nicht bis zum einfachen Volk vordrang. Eine gegenteilige Tendenz machte sich bemerkbar. Gerade in der Zeit, als die Macht der Liberalen am größten war, tauchten messianische Bewegungen auf. Der Liberalismus allerdings drang nicht bis in die unteren Gesellschaftsschichten durch. Während seine Anhänger die Religion bekämpften oder der Lächerlichkeit preisgaben, wuchsen in ganz Lateinamerika volksnahe Bewegungen mit messianischem Charakter.

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

Normalerweise richteten sich diese Bewegungen nicht an einem Geistlichen aus, sondern an frommen Laien, waren ihrem Selbstverständnis nach zwar „katholisch“ aber keiner offiziellen katholischen Hierarchie untergeordnet und wurden von offizieller katholischer Seite nicht unterstützt. Vielmehr wurden diese Formen der Volksfrömmigkeit sowohl von Staat als auch von Klerus bekämpft. Der Staat sah die öffentliche Ordnung in Gefahr, der Klerus bangte um den Verlust der Kontrolle durch die religiöse Orthodoxie. Fast immer haben sich daher katholische Prediger mit den Truppen der Staaten verbündet. Interessanterweise wird sich die Mehrzahl dieser Bewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkbar machen. In ihnen haben wir Elemente der Volksfrömmigkeit, die den Liberalismus der Regierenden aber auch den neuen romzentrierten Katholizismus ablehnen. Dieser romzentrierte Katholizismus orientiert sich am Priester und lehnt die am Laien orientierte Religion ab. Im 20. Jahrhundert dann, werden wichtige Teile dieser Volkfrömmigkeit in die Pfingstbewegung einfließen. Durch die liberalen Staaten in die Enge gedrängt suchte der Klerus da Hilfe, wo er sie finden konnte. Da vom Staat keine Unterstützung zu erwarten war, wandte er sich an Rom. Aus der Konfrontation mit dem liberalen Staat entstand der ultramontane Katholizismus in Amerika. Rom schloss Konkordate mit den Staaten ab, was einen erhöhten Einfluss Roms zur Folge hatte. Die „Romanisierung“, d. h. die Ausrichtung des Katholizismus auf Rom, nahm ihren Anfang. Da es an öffentlichen Schulen keinen Religionsunterricht gab, war der erste und wichtigste Weg zur Wiedereroberung dieses Sektors die katholische Schule. Rom sandte eine ganze Reihe von Schulorden nach Amerika. Mit diesen neuen Schulorden gelangten auch bislang rein europäische Frömmigkeitsformen, etwa die Maria Immaculata-Verehrung in der Folge der Marienerscheinungen von Lourdes nach Lateinamerika und in die Karibik. Auch die Herz-Jesu-Verehrung ist vor allem auch durch die Jesuiten verbreitet und in Südamerika eingeführt worden und wurde dadurch zu einem interkontinentalen, „katholischen“ Phänomen. Am 21. November 1858 segnete Pius IX. in Rom die Gründung des Päpstlichen Lateinamerikanischen Kollegs „Pius“. In dem Kolleg wurde die ultramontane Reform des Kontinents vorbereitet. Hier wurden Priester für Amerika ausgebildet, die Rom treu ergeben waren, den Staaten aber feindlich gegenüberstanden. Aus dem gingen die neuen Theologieprofessoren für die Lokalkirchen hervor. Mit sich brachten sie die in Rom verwendeten Lehrbücher. Die Pädagogik, Spiritualität und Theologie Roms breitete sich aus. Die Kirche Roms verwandelte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in eine wirklich universale, römisch-katholische Kirche. 1899 beschlossen die Bischöfe, ihre Kandidaten für das Priesteramt nach Rom zu entsenden. Dort sollten sie erlernen, „jenen wahren römischen Geist, den blinden Glauben des vollkommenen Gehorsams und der Abhängigkeit vom unfehlbaren Stuhl Petri, der alle auf der katholischen Welt verbreiteten Kirchen mit dem einzigen und wahren Mittelpunkt der Kirche Jesu Christi, des Meisters,

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9. Rom und der lateinamerikanische Katholizismus

Erlösers und Ewigen Königs verbindet.“19 Kandidaten aus ganz Amerika oder Europäer, in diesem Geist vorbereitet, lernten sich kennen, überwanden sprachliche Barrieren und bildeten einen einheitlichen Körper für den Klerus ganz Amerikas. Um die Einstellung dieses neuen Klerus zu verstehen, ist es wichtig daran zu erinnern, dass die Initiative zu dessen Ausbildung auf Pius IX. mit seiner pessimistischen und ablehnenden Einstellung gegenüber Moderne und Liberalismus zurückgeht. Pius IX. brach mit dem Syllabus errorum von 1864 mit der Moderne und mit dem Liberalismus. Von diesem Zeitpunkt an gab es keine Daseinsberechtigung für katholische Liberale und für einen liberalen Katholizismus. Liberale Priester, die weiterhin ihr Amt ausüben wollten, landeten im Protestantismus. Von Mexiko bis nach Brasilien gab es zahllose Beispiele für ehemalige katholische Priester, die, nunmehr Protestanten, über die „Gründe meiner Bekehrung zu Christus“ (Razões de minha conversão a Cristo)20 schrieben und zum Wachstum und zur Ausbreitung des entstehenden Protestantismus südlich des Rio Grande beitrugen. Hier finden sich die Wurzeln der ersten Siege der nordamerikanischen protestantischen Missionen. Später, als der protestantische Fundamentalismus im Kommen war, gingen sie dazu über, katholische Nationalkirchen zu gründen. Am Ersten Vatikanischen Konzil nahmen 40 Bischöfe aus Lateinamerika teil. Alle vertraten eine ultramontane Position, alle unterstützten das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit. Diese führende, autoritäre Schicht wandte sich einstimmig gegen Liberalismus, Modernismus, Rationalismus und gegen philosophische und wissenschaftliche Kritik. Hier schließt sich der Kreis im Blick auf die oben gestellte Frage nach den Charakteristika der Rationalität Lateinamerikas und der Karibik. Es macht auch die Unnachgiebigkeit verständlicher, mit der der Katholizismus des Kontinents sich gegenüber dem liberalen Staat positionierte und, was nicht zu vergessen ist, die Erbitterung eben dieses Staates. Hier muss auf die Schwäche der städtischen liberalen Kreise gegenüber den weiten ländlichen konservativen Kreisen hingewiesen werden. Anderseits muss aber auch daran erinnert werden, dass der Konservatismus der ländlichen Kreise nicht bedeutete, dass sie notwendigerweise den von Rom dominierten Katholizismus annahmen. Hier wurde die spätere Ausbreitung der antiliberalen und antikatholischen Pfingstkirchen vorbereitet und ermöglicht. 1899 durch Leo XIII. einberufen, versammelte sich in Rom das Lateinamerikanische Plenar-Konzil, um „seriös über die beste Weise zu meditieren, für die gemeinsamen Interessen der lateinischen Rasse Sorge zu tragen, der mehr als die Hälfte der Neuen

19 Maina, Pedro, Memorias del Pontifício Colegio Pio Latino Americano de Roma, desde su fundación hasta nuestros dias, 1858–1958, Roma 1958, 250–251, zitiert nach Ascensio, Luís Medina, Historia del Colégio Pio Latino Americano – Roma 1858–1978, México 1978, 90. 20 Vgl. Alves, Gonçalo, Razões da Minha Conversão a Cristo, Porto 1932.

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Lateinamerika und die Karibik im 19. Jahrhundert

Welt angehört.“21 Italienische und deutsche Theologen ohne irgendwelche Erfahrungen mit Lateinamerika und der Karibik bereiteten das Plenar-Konzil vor und versuchten den amerikanischen Katholizismus Rom anzugleichen. So wurde mit dem Jahr 1899 dem kolonialen Katholizismus ein Ende bereitet. Katholische Volksfrömmigkeit wurde vollkommen ignoriert, obwohl sie bereits 400 Jahre alt war.22 Der lateinamerikanische Katholizismus hatte am Ende des 19. Jahrhunderts vornehmlich individualistische Züge, und als solcher etablierte er sich in den Städten im Mittelstand und unter den Einwanderern. Sein Motto fand sich auf dem Kreuz der „Heiligen Missionen“: Rette deine Seele! Betont wurde die Notwendigkeit der Kenntnis der Lehre und die Beachtung des religiös-sakramentalen Lebens. Der Grundton lag nicht mehr auf der Taufe, sondern auf Eucharistie und Ehe.23 Der Ehe – als Folge der Abschaffung der Sklaverei – wurde besondere Bedeutung zugesprochen, weil die Familie als der Ort angesehen wurde, an dem der neue Katholizismus gelebt werden sollte. In einer antireligiösen, liberalen Welt musste man sich Glauben persönlich, rational und doktrinär aneignen. Katechismus und katholische Schule waren die großen Wege, über die der römische Katholizismus verbreitet wurde. Die Agenten seiner Einpflanzung waren die männlichen und weiblichen Kongregationen, die aus Italien, Frankreich, Holland, Deutschland, Spanien, Belgien und Österreich kamen. Während in Amerika der Katholizismus unter den direkten Einfluss Roms kam, sah sich das Christentum Europas in Konflikt mit dem Sozialismus und der Arbeiterbewegung. In Europa veröffentlichte Leo XIII., vierzig Jahre nach dem Kommunistischen Manifest, die Enzyklika Rerum Novarum. Während in Amerika der Glaube individualisiert, verinnerlicht wurde, entdeckte er in Europa die soziale Dimension. Deswegen zeigte Rerum Novarum in Amerika anfänglich kaum Wirkung. Sie hatte zum Beispiel keinen Einfluss auf das Leben der Afrikaner, die erst 1888 in Brasilien emanzipiert worden waren, um dann am Rande der Gesellschaft vergessen zu

21 Zitiert nach Beozzo, José Oscar, A Igreja frente aos Estados Liberais, in: Dussel, Enrique, Historia Liberationis. 500 Anos de História da Igreja na América Latina, São Paulo 1992, 197f. 22 Vgl. Azzi, Riolando, O Episcopado do Brasil frente ao Catolicismo Popular, Petrópolis 1977; ders.: O Catolicismo Popular no Brasil, Petrópolis 1978. 23 Von den sieben Sakramenten der Kirche gewährte man gemeinhin den Sklaven in der Bevölkerung nur die Taufe. Das Sakrament der Ehe wurde Paaren verwehrt, weil diese durch Verkauf einer der beiden Personen getrennt werden konnten und so – sollten sie eine neue Bindung eingehen – in Sünde leben würden. Dazu waren sie von der Beichte ausgeschlossen, und folglich von der Kommunion. Auf Grund ihrer „schlechten Geburt“ wurde ihnen auch das Weihesakrament vorenthalten So blieb die Taufe übrig, aber nicht mehr als Sinnbild der Freiheit sondern als Eingliederung in das herrschende System. Man erinnere sich an dieser Stelle auch daran, wie ab dem 16. Jh. in Europa die Wiedertäufer bekämpft wurden, die die Kindertaufe ablehnten. Vgl. Beozzo, José Oscar. As Américas Negras e a História da Igreja: Questões Metodológicas. in: CEHILA. Escravidão Negra e História da Igreja na América Latina e no Caribe. Petrópolis 1987.

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Literatur

werden. Sie hatte auch keinen Einfluss auf die Konflikte zwischen den Großgrundbesitzern und den Einwanderern auf den Kaffeeplantagen. Da sie die Einwanderer eher als Quelle der Annäherung des Katholizismus an Rom betrachteten, waren die Kongregationen und religiösen Orden darauf bedacht, seine ethnische und religiöse Identität zu bewahren, als sich mit den sozialen Fragen zu beschäftigen, die die Länder Amerikas bedrückten. In Brasilien, wo die Industrialisierung mit der Arbeit der Sklaven begann, hatte der Katholizismus kein klares Wort gegen die Sklaverei und gerade deshalb auch kein klares Wort den Arbeitern gegenüber gesprochen. Beistand für die schwarzen Sklaven und Arbeiter gab es nur bei den von der katholischen Elite bekämpften afrikanischen Bruderschaften und in den verbotenen afrikanischen Kultstätten, den Terreiros.

Literatur Alves, Gonçalo, Razões da Minha Conversão a Cristo, Porto, 1932. Azzi, Riolando, História do Pensamento Católico no Brasil, 5 Bände, São Paulo 1990–1994. Bastian, Jean-Pierre, Historia del Protestantismo em América Latina, México, 1990. Bastian, Jean-Pierre, Protestantes, liberales y francmasones. Sociedades de ideas y modernidad em América Latina, siglo XIX, México 1990. Cehila, Historia General de La Iglesia em América Latina, 11 Bände, Salamanca, 1983ff: I. Introducción General; II. Brasil; III. Brasil; IV. Caribe; V. México; VI. América Central; VII. Colombia e Venezuela; VIII. Area andina; IX. Cono Sur; X. Latinoamericanos en Estados Unidos; XI. Filipinas, Mozambique y Angola. De Lima, Delcio Monteiro, Os Demônios Descem do Norte 2. Aufl. Rio de Janeiro, 1987. Dreher, Martin N., História do Povo de Jesus. Uma leitura latino-americana. São Leopoldo 2013. Dussel, Enrique (Hrsg.), Historia Liberationis. 500 anos de história da igreja na América Latina, São Paulo 1992. Dussel, Enrique, Historia de La Iglesia em América Latina. Coloniaje y Liberación 1492/1983, 5. Aufl. Madrid und Mexiko 1983. Hoornaert, Eduardo, História do Cristianismo na América Latina e no Caribe, São Paulo 1994. Lampe, Armando, História do Cristianismo no Caribe, Petrópolis 1995. Prien, Hans-Jürgen, La Historia del Cristianismo en América Latina, Salamanca 1985. Richard, Pablo, Morte das cristandades e nascimento da igreja, São Paulo 1982.

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DAS CHRISTENTUM IM KONTEXT ANDERER WELTRELIGIONEN: INTERRELIGIÖSE DYNAMIKEN UND ENTWICKLUNGEN IM 19. JAHRHUNDERT Ulrike Schröder & Frieder Ludwig

1. Zu den interreligiösen Verhältnisbestimmungen im 19. Jahrhundert: Forschungsansätze und Begriffsklärungen In der historischen Forschung wurde bis in die jüngste Gegenwart häufig die Bedeutung von Religion im 19. Jahrhunderts unterbewertet. In historiographischer Perspektive wurde das 19. Jahrhundert oft als Ausgangspunkt von Säkularisierungs- und Modernisierungsprozessen gedeutet, die die europäische Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert wesentlich mitbestimmt haben. Auch im Blick auf die Geschichte des Christentums wird das 19. Jahrhundert überwiegend als ein Jahrhundert der Emanzipation aus religiösen bzw. kirchlichen Zwängen im Gefolge der Aufklärung und des Nationalismus betrachtet, aus der eine abnehmende Bedeutung von Religion im Allgemeinen und des Christentums im Besonderen ergab. Heutzutage jedoch legt die neue Sichtbarkeit von Religion nahe, dass derartige säkularisierungstheoretisch verengten Zugänge zu Religion nicht nur für zeitgenössische Konstellationen zu überdenken sind, sondern gleichfalls für die Historiographie des 19. Jahrhunderts.1 Gerade der Blick über den westlichen bzw. christlichen Horizont hinaus kann dabei helfen, solche eurozentrisch verengten Perspektiven zu weiten und die Rolle anderer Religion(en) sowie interreligiösen Konstellationen und Verhältnisbestimmungen für die Religions- und Christentumsgeschichte des 19. Jahrhunderts in globaler Perspektive neu zu durchdenken.2 Es ist durchaus bemerkenswert, dass wichtige Impulse für die Erforschung der globalen Christentumsgeschichte und ihrer transregionalen und interreligiösen Vernetzungen im 19. Jahrhundert wesentlich aus dem Bereich der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung gekommen sind und derzeit zu einem grundlegenden Perspektivwechsel der kirchen- und christentumsgeschichtlichen For-

1 Siehe dazu die Einleitung zu diesem Band sowie Lehmann, Hartmut, Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen 2004 und Cox, Jeffrey, Secularization and Other Master Narratives of Religion in Modern Europe, in: Kirchliche Zeitgeschichte 14 (1), 24–35. 2 Zu den globalen und interreligiösen Bezügen der Säkularisierung siehe auch Asad, Talal, Formations of the Secular, Christianity, Islam, Modernity, Stanford 2003 und Fitzgerald, Timothy (Hrsg.), Religion and the Secular, Historical and Colonial Formations, London 2007.

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Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen

schung beitragen, der noch immer in vollem Gange ist. Insbesondere der sogenannte cultural turn in den Geisteswissenschaften und die PostkolonialismusDebatte haben zu einer kritischen Revision der älteren, eher traditionell missionsgeschichtlich orientierten Narrative der Christentumsgeschichte des 19. Jahrhunderts beigetragen und neue Themenfelder und Fragestellungen eröffnet.3 So werden etwa die interkulturellen und interreligiösen Begegnungen, die durch die Expansion des europäischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert und durch die weltweiten Aktivitäten der christlichen Missionsgesellschaften entstanden, in der neueren Forschung häufig als Aushandlungs- und Austauschprozesse mit Abgrenzungs- und Aneignungsdynamiken analysiert. Dabei stehen besonders die Verzahnung verschiedener geographischer Regionen und die Entstehung neuer diskursiver Räume (sogenannter „Kontaktzonen“4) für kulturelle und religiöse Interaktionen und Identitätspositionierungen auf lokaler und globaler Ebene im Mittelpunkt. Solche Interaktionen und Austauschprozesse verliefen freilich in unterschiedlichen Kontexten verschieden und waren durch die koloniale Expansion Europas häufig durch asymmetrische politisch-gesellschaftliche Rahmenbedingungen gekennzeichnet.5 Ferner profitieren diese neuen Forschungsansätze auch von komplementären Blicken auf andere Religionsgemeinschaften und deren Entwicklungen und Transformationsprozesse seit dem 19. Jahrhundert.6 Jedoch nehmen noch immer nur wenige der bisher erschienenen Überblicks-Darstellungen zur globalen oder zu lokalen bzw. regionalen Christentumsgeschichten interreligiöse Interaktionen überhaupt mit in den Blick.7

3 Siehe dazu Schultze, Andrea, Neuere, interdisziplinäre Ansätze in der Missionsgeschichtsschreibung, in: Dahling-Sander, Christoph/Schäfer, Klaus (Hrsg.), Leitfaden ökumenische Missionstheologie, Gütersloh 2003, 97–110 und Conrad, Sebastian /Habermas, Rebekka (Hrsg.), Mission und kulturelle Globalisierung (= Geschichte und Gesellschaft 36 (2)), Göttingen 2010. 4 Zum Konzept der „Kontaktzone“ vgl. Pratt, Mary L., Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992, 199ff. 5 Siehe dazu grundlegend Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: Dies. (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M., 2002, 9–49. 6 Siehe dazu stellvertretend für die Vielzahl neuerer Publikationen für den Islam: Green, Nile, Terrains of Exchange. Religious Economies of Global Islam, Oxford 2015, für den Hinduismus: Pennington, Brian K., Was Hinduism Invented? Britons, Indians, and the Colonial Construction of Religion, Oxford 2005 und für den Buddhismus: Hermann, Adrian, Unterscheidungen der Religion. Analysen zum globalen Religionsdiskurs und dem Problem der Differenzierung von 'Religion' in buddhistischen Kontexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Critical Studies in Religion10), Göttingen 2015. 7 Dies gilt selbst für die exzellenten Beiträge von Hastings, Adrian, A World History of Christianity, Grand Rapids 1999; Chidester, David, Christianity. A Global History, San Francisco, 2000 und Spickard, Paul R./Cragg, Kevin M., A Global History of Christians. How Everyday Believers Experienced Their World, Grand Rapids 2001.

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1. Zu den interreligiösen Verhältnisbestimmungen im 19. Jahrhundert

Thematisiert werden in neueren Forschungen drei verschiedene Dynamiken interreligiöser Verhältnisbestimmungen im 19. Jahrhundert. Zum ersten sind hier die Prozesse des Aus- bzw. Einschlusses zu nennen, die in interkulturellen und interreligiösen Kontaktzonen zur Herausbildung eines globalisierten Religionsbegriffes beigetragen haben. So hat sich gezeigt, dass das 19. Jahrhundert historiographisch nicht unbedingt allein als Ausgangspunkt der säkularen Moderne mitteleuropäischer Lesart betrachtet werden sollte, sondern vielmehr als transformatives Jahrhundert, in dem sich religiöse Ideen, Praktiken und Institutionen vieler religiöser Gemeinschaften nicht nur veränderten, sondern miteinander in einen globalen Interaktionsprozess unter kolonialem Vorzeichen eintraten. In diesem Interaktionprozess fungierte der Begriff Religion als hegemonialer Signifikant in einem spezifischen Diskurs, der dazu beitrug, dass dieser im europäischen Kontext ursprünglich christlich-philosophisch konnotierte Begriff weltweit rezipiert und adaptiert wurde.8 Wie Brian Pennington in Bezug auf Indien festestellt hat, veränderte der Religionsdiskurs im 19. Jahrhundert vor allem auch die Identitäten und konkreten Praktiken religiöser Gemeinschaften selbst – die der christlichen Kirchen und Gemeinschaften, besonders die evangelikale Erweckungsbewegung in Europa, ebenso wie die Identitäten und Praktiken der religiösen Gemeinschaften in den Kolonien in Übersee: „Die Konstruktion von Religion […] war mehr als eine Vorstellungsübung, die die Entstehung von Kategorien und beschreibende Diskurse umfaßte. Sie beinhaltete auch die Erzeugung realer religiöser Ideen und Praktiken für Christen wie Nicht-Christen gleichermaßen. Neue religiöse Ideen und Praktiken traten an Orten, die vom britischen Kolonialismus beeinflusst waren, zutage und orientierten sich [ihrerseits] an den Kategorien und deskriptiven Methoden der sich entwickelnden Religionswissenschaft.“9

Dieser Prozess der Herausbildung von Kategorien des Religiösen und der Transformation religiöser Praktiken fand vor allem dort statt, wo westlich-christliche Missionare außerhalb Europas direkt auf andere Religionsgemeinschaften trafen. Diese Begegnungen wirkten aber auch auf die kolonialen Metropolen zurück, zum Beispiel in Form der Verbreitung kolonialen Wissens über die „Heiden“. Deshalb musste sich beispielsweise die evangelikale Erweckungsbewegung in Großbritannien nun nicht mehr nur gegenüber anderen religiösen Strömungen innerhalb des Christentums verorten, sondern auch gegenüber dem nicht-christlichen Heidentum in Indien. Die – zumeist sehr apologetische – Darstellung anderer religiö-

8 Vgl. Nehring, Andreas, Aneignungen von 'Religion' – Postkoloniale Konstruktionen des Hinduismus, in: Strausberg, Michael (Hrsg.), Religionswissenschaft, Berlin 2012, 109–121. Zur Geschichte des Begriffs Religion siehe auch Smith, Jonathan Z., Religion, Religions, Religious, in: Taylor, Mark C. (Hrsg.), Critical Terms for Religious Studies, Chicago 1998, 269–284. 9 Pennington, Brian K., Was Hinduism Invented? Britons, Indians, and the Colonial Construction of Religion, Oxford 2005, 24 (Übersetzung U.S.).

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Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen

ser Traditionen und Praktiken in der Missionspresse im 19. Jahrhundert entwickelte sich daher zu einem zentralen Bestandteil missionarisch-christlicher Selbstvergewisserung im Gegenüber zu anderen Religionsgemeinschaften.10 Christlich-missionarische Praktiken und Diskurse hatten daher nicht nur eine wichtige Brückenfunktion bei der Verzahnung der kolonialen „Mutterländer“ und Kolonien inne, sondern waren auch konstitutiv für die Entstehung und Verbreitung neuer Kategorien (religiöser) Identität. In Indien entwickelte sich zum Beispiel der Begriff Hinduismus – verstanden als Äquivalenzbegriff zu Religion – im 19. Jahrhundert zu einem Sammelbegriff für zahlreiche und oft höchst unterschiedliche religiöse Gemeinschaften und Strömungen, die oft nur in einem sehr losen Verhältnis zueinander standen, im kolonialen Diskurs aber als einander zugehörig wahrgenommen wurden.11 Diese Entwicklungen ermöglichten auch die Entstehung eines Paradigmas sogenannter Weltreligionen, die als deutlich voneinander unterscheidbar wahrgenommen wurden, aber zugleich auch miteinander verglichen werden konnten.12 Das Weltparlament der Religionen in Chicago (s. u., Kap. 3.3.) trug wesentlich dazu bei, diese neuen Kategorien zu festigen und zu popularisieren. Als zweite Dynamik interreligiöser Verhältnisbestimmungen, die durch die globale Durchsetzung des Religionsbegriffes entstand, ist die Unterscheidung zwischen Religion und Nicht-Religion und deren Anwendung auf außereuropäische Kontexte zu nennen. So beschreibt etwa David Chidester, wie der Begriff „Religion“ in den kolonialen Kontaktzonen Afrikas eine strategische Bedeutung gewann, weil er dazu benutzt wurde, den jeweiligen zivilisatorischen Grad der einheimischen sozialen und kulturellen Gemeinschaften zu bemessen, denen die Europäer dort begegneten. Je nachdem, ob diesen Gemeinschaften eine Vorstellungs- und Gedankenwelt zugesprochen wurde, die im europäischen Sinne als religiös eingestuft werden konnte, legitimierten sich die kolonialen Deutungsmuster der kolonialen Unterwerfungspraxis durch unterschiedliche Bezüge auf Religion (im christlichen Sinne). Das geschah entweder durch Zuschreibung einer primitiven Religiosität, die durch das Christentum als höhere Religionsform kultiviert werden konnte oder durch Zuschreibung des Nichtvorhandenseins von Religion überhaupt, was einem noch viel grundsätzlicheren zivilisatorischen Mangel gleichkam. Die Idee von Religion fungierte in diesem Kontext zudem als Unterscheidungskriterium, um Religiöses von Nichtreligiösem zu unterscheiden.

10 Vgl. Altena, Thorsten, „Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils“. Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884–1918 (Internationale Hochschulschriften 395), Münster 2003 und Johnston, Anna, Missionary Writing and Empire, 1800–1860, Cambridge 2003. 11 Siehe dazu grundlegende Nehring, Andreas, Religion, Kultur und Macht. Auswirkungen des kolonialen Blicks auf die Kulturbegegnung am Beispiel Indiens, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft und Missionswissenschaft 87 (3), 200–217. 12 Siehe dazu Masuzawa, Tomoko, The Invention of World Religions, or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago 2005.

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2. Interreligiöse Kontakte und Dynamiken

Diese Unterscheidung sollte nicht nur als wichtiges Kriterium konkreter kolonialer Herrschaftspraxis in historischer Perspektive verstanden werden, sondern auch als wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung moderner säkularer Staatswesen, deren Begründungszusammenhänge sich im 19. Jahrhundert nicht allein in den (europäischen) Metropolen, sondern gerade in den kolonialen Peripherien entwickelten.13 Darüber hinaus stellten diese Formen einer „frontier comparative religion“ die Wissensgrundlage für das Entstehen der Religionswissenschaft (als „imperial comparative religion“) bereit.14 Die kritische Diskussion des Religionsbegriffs im Rahmen postkolonialer Kritik hat im Anschluss an dessen historiographische Aufarbeitung zudem deutlich gemacht, dass „die Zuschreibung und Anerkennung sowie die inhaltliche Bestimmung von ‚Religion‘ einem komplexen [kolonialen] Machtdiskurs folgt[e]“, den es in der Rekonstruktion der konkreten interreligiösen Begegnungskonstellationen des 19. Jahrhunderts stets zu berücksichtigen gilt.15 Die Ausführungen in den folgenden Kapiteln setzen daran an und wollen dies nach einem schlaglichtartigen Überblick an ausgewählten Beispielen vertiefen.

2. Interreligiöse Kontakte und Dynamiken: Ein schlaglichtartiger Überblick Seit Anfang des 19. Jahrhunderts intensivierten sich die Kontakte zwischen Vertretern des westlichen Christentums und Hindus, Buddhisten und Muslimen, zunächst vor allem durch die fortschreitende europäische Expansion und die damit möglich gewordenen Missionsinitiativen, die durch die Gründung protestantischer Missionsgesellschaften einen neuen Impetus erhalten hatten. Im Zuge der einsetzenden globalen Interaktionen kamen auch Angehörige dieser Religionsgemeinschaften in westliche Zentren. So fanden sich zum Beispiel die ersten iranischen Studierenden in London im Jahr 1812 und die ersten ägyptischen Studenten in Paris im Jahr 1826 ein, die als frühe transkulturelle Vermittler betrachtet werden können.16 Weiterhin er-

13 Zu dieser Debatte siehe Stoler, Ann Laura/Cooper, Frederick (Hrsg.), Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: Cooper, Frederick/Stoler Ann L., Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997, 1–56. 14 Siehe dazu ausführlicher Chidester, David, Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville 1996. Vgl. auch Ludwig, Frieder/Adogame, Afe, European Traditions in the Study of Religion in Africa, Wiesbaden 2004. 15 Vgl. Bergunder, Michael, Art. „Religionen“ und Art. „Religionsbegriff“, in: Enzyklopädie der Neuzeit 10, 1048–1062. 16 Green, Nile, Terrains of Exchange. Religious Economies of Global Islam, Oxford, 2015, 21.

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Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen

möglichten diese Autauschbewegungen auch Süd-Süd-Begegnungen nicht-westlicher Eliten, die mitunter entscheidend für die Entstehung bzw. Vernetzung kolonialismuskritischer Diskurse waren. In Lateinamerika zerfielen die spanischen und portugiesischen Kolonialreiche; mit der Revolution auf Haiti (1804) war ein Prozess eingeleitet, der nach und nach zur Unabhängkeit lateinamerikanischer Staaten (1810 Uruguay, Kolumbien, 1811 Paraguay, Venezuela, 1816 Argentinien, 1817 Chile, 1820 Mexiko, 1821 Peru, 1822 Brasilien, 1825 Bolivien) führte.17 In den Verfassungen der neu entstandenen Staaten genoss die katholische Kirche zwar nach wie vor einen gewissen Vorrang, gleichzeitig aber wurden auch andere Religionen erlaubt. Dies kam zunächst vor allem den Protestanten zugute.18 In Asien weiteten die Niederländer ihre Machtsphäre in Indonesien und die Briten die ihre in Indien aus; die Ostindienkompanie genehmigte ab 1813 offiziell die Missionstätigkeit. In China folgte der mit dem Opiumkrieg erzwungenen wirtschaftlichen 1842 die missionarische Öffnung; die Taiping-Bewegung (1850–1864) – eine der größten Aufstandsbewegungen des 19. Jahrhunderts – verstand sich als christlich. Die Franzosen dehnten ihren Einfluss peu à peu in Ostasien und in Nordafrika aus; während sich die Briten im Süden mit der Kapkolonie etablierten. An den west- und ostafrikanischen Küsten gab es verschiedene Stützpunkte, bevor in den 1880er Jahren fast das gesamte Afrika unter europäischen Mächten aufgeteilt wurde. Verallgemeinerungen zum Vorgehen der Missionare, auch in der Begegnung mit Menschen anderen Glaubens, lassen sich schnell mit Beispielen von einzelnen Missionsgesellschaften und aus verschiedenen Teilen der Welt in Zweifel ziehen. „Unter dem weiten Dach der Mission war Raum für ganz unterschiedliche Charaktere“19, hat Jürgen Osterhammel festgestellt. Neben Beispielen aggressiver Polemiken gab es auch Bemühen um Verständnis und Dialog; Missionare waren von den Interaktionen mit dem jeweils andersreligiösen Umfeld abhängig und deshalb häufig die ersten, die andere Religionen im konkreten Kontext ihrer Gesellschaften studierten. Dies schlug sich darin nieder, dass sie eine Pionierrolle in der Übersetzung zentraler Texte übernahmen.20 Die Verbindungen zu den europäischen Expansionsmächten waren ebenfalls unterschiedlich: Im frühen 19. Jahrhundert wurde das britische Hegemonialstreben auch mit humanitär-sozialen Interessen – etwa mit der Forderung nach

17 Prien, Hans-Jürgen, Das Christentum in Lateinamerika, Göttingen 1978; zu Lateinamerika vgl. auch Stüwe, Klaus/Rinke, Stefan, Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika. Eine Einführung, Wiesbaden 2008. Vgl. Dreher, in diesem Band, 489–513. 18 Koschorke, Klaus u. a. (Hrsg.). Außereuropäische Christentumsgeschichte. Asien, Afrika, Lateinamerika 1450–1990 (Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen 6), 3. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2010, 277. 19 Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 1263; 1265. 20 Kerr, David, Christian Mission and Islamic Studies. Beyond Antithesis, in: International Bulletin of Missionary Research 26, 8–15, 1.

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Abschaffung des Sklavenhandels oder nach notwendigen gesellschaftlichen Reformen in anderen Teilen der Welt – begründet. Missionsgesellschaften wie die 1799 gegründete Church Mission Society konnten diese Argumente mit ihrem Anliegen der Christianisierung verbinden. Mit der weiteren Ausdehnung und Konsolidierung der Herrschaft aber – spätestens nach der Eroberung Ägyptens und großer Teile des muslimisch geprägten subsaharischen Afrika herrschte kein Monarch der Erde über eine größere Zahl von Muslimen als Queen Victoria, die gleichzeitig als Kaiserin von Indien Herrscherin über die Mehrzahl der Hindus war21 – lag es in der Logik der Fremdherrschaft, mit führenden Vertretern anderer Religionsgemeinschaften zusammenzuarbeiten und religiöse Konflikte zu vermeiden. In Indien wurde im Anschluss an den Sepoyaufstand von 1857 das Prinzip der Nichteinmischung des Raj in die Angelegenheiten der indischen Religionsgemeinschaften bestätigt,22 und die von dem Briten Frederick Lugard entwickelte Strategie der „Indirect Rule“ basierte auf der Zusammenarbeit mit lokalen Verantwortungsträgern wie den Emiren in Nordnigeria. Im Senegal kamen die Franzosen nach anfänglichen Konflikten zu einer Wertschätzung der Sufi-Bruderschaft der Muriden; in Deutsch-Ostafrika kam den überwiegend muslimischen Askari im Militär eine wichtige Rolle zu. Dieser realpolitisch bedingte und pragmatisch ausgerichtete Ansatz der Kolonialverwaltungen konnte zu Konflikten mit Missionaren und Missionsgesellschaften führen; gleichermaßen aber gab es auch weiterhin Felder der Zusammenarbeit – etwa im Schul- oder Gesundheitswesen. Ist es schon schwierig, über die Missionen generalisierende Aussagen zu machen, trifft dies in noch stärkerem Maße auf die Positionierungen anderer (nichtchristlicher) Religionsgemeinschaften zu. Die Ausbreitung der europäischen Hegemonie führte zu Reformbestrebungen, die sich auf der einen Seite in einer „Rückbesinnung“ auf die eigenen Glaubenstraditionen und scharfer Abgrenzung von anderen Religionen – insbesondere dem europäischen Christentum – artikulierten, auf der anderen Seite jedoch zu einer Öffnung und zu Dialogansätzen führen konnte. So war etwa der Ägypter Muhammad Abduh (1849–1905) der Ansicht, dass fast alles, was Europa zur Macht gebracht habe, islamischen Quellen entlehnt sei und mit dem von ihm als irrational und anti-wissenschaftlich charakterisierten Christentum nichts zu tun habe. Der Ansatz des Inders Sayyid Ahmad Khan (1817–1898) dagegen ist charakterisiert von einer Offenheit gegenüber dem Christentum. So verfasste er einen Kommentar zur Bibel und lehnte die Anschauung ab, die dem Islam vorausgegangenen Religionen seien allesamt entstellt worden.23 Neben intellektuellen Auseinandersetzungen gab es zahlreiche andere Ebenen der Begegnung und des Austauschs. Die von Missionaren eingeführten Druckerpressen wurden ab 1820 von Muslimen übernommen, und es wurden muslimische Drucke-

21 Osterhammel, Erfindung, 1258. 22 Ebd., 1260. 23 Wrogemann, Henning, Missionarischer Islam und gesellschaftlicher Dialog, Frankfurt 2006, 72–76.

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reien in Cairo, Tabriz und Kalkutta eröffnet.24 Bestimmte christliche Organisationsformen wurden adaptiert, so kam es auf Sri Lanka zur Gründung von Young Men‘s Buddhist Associations. Auf der anderen Seite kam es durch das Aufeinandertreffen Begegnung von Christentum und afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Kulturen und Religionen zu neuen Dynamiken, die etwa in afrikanischen unabhängigen Kirchen oder der Taiping-Bewegung einen Ausdruck fanden. Im Folgenden sollen zwei Regionen und Kontaktzonen untersucht werden, in denen die Begegnungen besonders intensiv waren und die sich als grundlegend für die Konzeption interreligiöser Beziehungen erwiesen, Indien und Westafrika.

3. Konkretionen 3.1. Indien Christliche Mission und interreligiöse Fremdwahrnehmung Indien bietet für die eingangs skizzierten Fragestellungen ein besonders interessantes Forschungsfeld. Am Beispiel Indiens lässt sich zeigen, wie vielfältig und komplex sich die Aushandlungs- und Transformationsprozesse religiöser Identitäten im 19. Jahrhundert gestalteten und wie nachhaltig sich dadurch interreligiöse Verhältnisbestimmungen zwischen Religionsgemeinschaften wandelten. Die gesamte südasiatische Region war im 19. Jahrhundert vielfältigen gesellschaftlichen und religiösen Transformationsprozessen unterworfen. Die Begegnung mit westlicher Kultur und das Gegenüber zur Kolonialmacht mobilisierte die indische Gesellschaft und erzwang die Herausbildung neuer Identitäten, die vornehmlich auf dem religiösen Feld ausgehandelt wurden. Das Aufkommen neohinduistischer Reformbewegungen, aber auch die Verbote einzelner hinduistischer Ritualpraktiken wie zum Beispiel das Verbot des Hakenschwingens, sowie die starken Konversionsbewegungen zum Christentum unter den Angehörigen der unteren Kasten sind nur drei ausgewählte Facetten dieses Transformationsprozesses, in dem das religiöse Feld in Indien verändert und zugleich neu definiert wurde.25 Als die christliche Erweckungsbewegung in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts Indien als Missionsfeld ins Visier nahm, war insbesondere Südindien, anders

24 Green, Terrains, 28. 25 Vgl. dazu Veer, Peter van der, Imperial Encounters. Religion and Modernity in India and Britain, Princeton 2006 und Schröder, Ulrike, Hook-Swinging in South India. Negotiating the Subaltern Space within a Colonial Society, in: Hüsken, Ute/Neubert, Frank, Negotiating Rites, New York 2012, 215–236.

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3. Konkretionen

als es die missionarische Rhetorik zumeist suggerierte, längst kein „unbeschriebenes Blatt“ mehr in der Geschichte des Christentums.26 Bereits vor der Ankunft der europäischen Missionare gab es einheimische Christen, die sogenannten Thomaschristen, die Verbindungen zur syrisch-orthodoxen Kirche hatten und ihre Anfänge auf den Apostel Thomas zurückführten.27 Die katholische Kirche und ihre Orden waren bereits im 17. und 18. Jahrhundert an den südlichen Küsten aktiv gewesen und hatten Konversionsbewegungen von sozial niedriggestellten Kastengruppen zum Christentum ausgelöst. Die wechselhafte und unstetige Präsenz katholischer Missionare aus Europa hatte allerdings zur Folge, dass sich unter katholischer Ägide inkulturierte Formen des Christentums entwickelten, die sich in ihrer religiösen Praxis stark an lokale hinduistische Kulte und Traditionen anlehnten. Infolgedessen existierten im 18. Jahrhundert in den Küstenregionen Südindiens bereits verschiedene Christentümer sowohl orthodoxer als auch katholischer Prägung, die fest in der südindischen Gesellschaft verwurzelt waren. Selbst im 19. Jahrhundert hatten die katholischen und orthodoxen Kirchen immer noch mehr Angehörige als die protestantischen Missionskirchen.28

Die Kastenpraxis als transreligiöses Identitätsmerkmal Auch die protestantische Dänisch-Hallesche Mission missionierte ab dem frühen 18. Jahrhundert in Südindien. Ihre regionalen Schwerpunkte waren vor allem in Tharangambadi (Tranquebar) und Thanjavur (Tanjore). Der Deutsche Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) war der wohl bekannteste Missionar der lutherisch-pietistischen Mission, die von den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale ausging. Ziegenbalgs Schriften wie das „Malabarische Heidenthum“ (1711) und die „Genealogie der malabarischen Götter“ (1713) gelten als wichtige Quellen über den südindischen Hinduismus im 18. Jahrhundert.29 Bereits Ziegenbalg versuchte, die lokale südindische

26 Zum Christentum allgemein in Indien siehe Bauman, Chad M./Young, Richard F. (Hrsg.), Constructing Indian Christianities. Culture, Conversion and Caste, London 2014 und Brown, Judith M./Frykenberg, Robert E. (Hrsg.), Christians, Cultural Interactions and India's Religious Traditions, Grand Rapids 2002. Vgl. Koschorke, in diesem Band, 403–411. 27 Zur Geschichte des Christentums in Indien siehe die diversen Bände der Reihe: Singh, D. V./Mundadan, A. Mathias (Hrsg.), History of Christianity in India. Published for the Church History Association of India, Bangalore, 1984–2012 sowie Frykenberg, Robert E., Christianity in India. From Beginnings to the Present, Oxford 2008. 28 Siehe dazu Anand, Amaladass/Županov, Ines G. (Hrsg.), Intercultural Encounter and the Jesuit Mission in South Asia (16th-18th Centuries), Bangalore 2014 und Bayly, Susan, Saints, Goddesses and Kings. Muslims and Christians in South Indian Society 1700–1900, Cambridge 2003. 29 Zur lutherischen Mission vgl. Jeyaraj, P. Daniel, Bartholomäus Ziegenbalgs „Genealogie der malabarischen Götter“ (Neue Hallesche Berichte 3), Halle (Saale) 2003; Hudson, D. Dennis, Protestant Origins in India. Tamil Evangelical Christians, 1706–1835, Grand Rapids 2000.

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Gesellschaftsordnung und die damit verbundenen religiösen Traditionen sowie sozialen Distinktionen zwischen den verschiedenen Kasten in Tranquebar genauer zu erfassen und auch den europäisch-christlichen Lesern seiner Missionsberichte zugänglich zu machen.30 Für die Missionspraxis relevant waren vor allem die mit den Kasten assoziierten Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen, die den Umgang der verschiedenen Kasten untereinander bestimmten und häufig eng verwoben waren mit lokalen religiösen, v. a. hinduistischen Kulttraditionen. Ziegenbalgs Beschreibung der tamilischen Gesellschaft war allerdings noch nicht geprägt von der orientalistisch-kolonialen Sicht auf die indische Gesellschaft, wie sie für das 19. Jahrhundert typisch war. Im Gegensatz zu den protestantischen Missionaren ein Jahrhundert später war die Kasteneinteilung für ihn in kultureller und theologischer Hinsicht auch noch nicht das Symbol für die soziale und moralische Unterentwicklung der indischen Gesellschaft. Der Umgang mit der rituellen Trennung verschiedener Kasten lässt sich aus den Berichten der Halleschen Mission nicht mehr ganz eindeutig erschließen. Es spricht aber manches dafür, dass die Kastenunterschiede zwar symbolisch im Sinne einer Gleichheit aller Mitglieder der christlichen Gemeinde aufgehoben waren, bestimmte praktische Trennungen aber trotzdem beibehalten wurden. So wurden zum Beispiel in Thanjavur den einzelnen Gruppierungen (v. a. die Kastengruppen der Vellalar und Paraiyar) im Gottesdienst eine getrennte Sitzordnung und getrennte Abendmahlskelche zugestanden.31 Die Hallenser Missionare, die bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein in Südindien wirkten, schufen kleine autonome christliche Gemeinden. Diese bauten auf dem

30 Das Wort „Kaste“ (portugiesisch casta, d. h. etwas Vermischtes) ist eine Fremdbezeichnung kolonialen Ursprungs, die sich auf zwei indische Systeme sozialer Ordnung gleichermaßen bezieht: Varna (d. h. Stand, wörtl. „Farbe“) und jati (d. h. „Geburtsgruppe“). Während varna ein idealisiertes religiöses Gesellschaftsmodell ist, das brahmanisch geprägt ist und aus hinduistischen Texten abgeleitet wird, ist jati ein terminus technicus, der sozial durch gemeinsame Abstammung bzw. Tätigkeiten definierte Gruppen beschreibt. In kolonialen bzw. missionarischen Quellen wurden diese beiden Ordnungssysteme ab dem späten 18. Jahrhundert nicht mehr voneinander unterschieden und einfach im Begriff „Kaste“ zusammengefaßt. Im Gegensatz dazu war der Begriff „Kaste“ im frühen 18. Jahrhundert noch gar nicht überall im Kontext europäisch-indischer Interaktionsprozesse geläufig. So spricht Ziegenbalg zum Beispiel nur von „Geschlechtern“. Vgl. Hallesche Berichte 1 Cont. VII (1714), 342f. Zum Begriff „Kaste“ siehe auch Jodhaka, Surinder S. (Hrsg.), Caste, New Delhi 2013. 31 Bei den Vellalar und Paraiyar handelt es sich um zwei südindische Kasten (im Sinne von jati). Während die landbesitzenden Vellalar in der streng hierarisch strukturierten südindindischen Gesellschaftsordnung zumeist der lokalen Elite angehörten, waren die Paraiyar eine am unteren Ende der Kastenhierarchie stehende soziale Gruppe, die zumeist als abhängige landlose Lohnarbeiter in der Landwirtschaft tätig waren. Der Name Paraiyar leitet sich von dem tamilischen Wort parai, „Trommel“ ab; diese Trommeln werden traditionell aus Tierfell hergestellt. Vor allem wegen des Kontakts mit geschlachteten Tieren galten bzw. gelten die Paraiyar damals wie heute aus der Sicht höherer Kasten als unrein. Vgl. Robinson, Rowena, Christians of India, New Delhi 2003, S. 69ff.

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3. Konkretionen

von den deutschen Missionaren vermittelten lutherisch-pietistischen Christentum auf, organisierten sich aber weitgehend selbständig. Die zahlreichen Gruppenkonversionen aus den Reihen sozial niedrig gestellter Kasten führten häufig auch zu Konflikten in den lokalen Gemeinschaften. Die Konvertiten wurden oft verfolgt und mussten ihre Dörfer verlassen, da sie durch den Religionswechsel aus der etablierten sozialen und religiösen Ordnung herausfielen. Die verfolgten Christen gründeten daraufhin neue, christliche Dörfer, zum Beispiel Mudalur (1799), Nazareth (1804) und Sawyerpuram (1814). So entwickelten sich in Südindien zu Beginn des 19. Jahrhunderts neue Gemeinden mit protestantischem Charakter, die ebenfalls ein eigenes indisches Christentum pflegten und weitgehend autonom blieben, da zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Dänisch-Hallesche Mission faktisch zum Erliegen kam, als keine neuen Missionare mehr nach Indien entsandt wurden. Einige Jahre später kam dafür kam eine neue Generation von europäischen Missionaren nach Indien, die durch eine andere Form des Christentums in Europa geprägt worden waren. Die angelsächsische Erweckungsbewegung im Gefolge des Engländers John Wesleys (1703–1791) und das anglikanische bzw. reformierte Christentum bildeten den Hintergrund der neuen britischen Missionare, die gegenüber den lokalen religiösen Praktiken grundsätzlich anders eingestellt waren. Die anglikanischen Missionsgesellschaften Church Mission Society (CMS) und Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts (SPG) übernahmen ab 1814 formell die Gemeinden der Dänisch-Halleschen Mission im südindischen Distrikt Tirunelveli. Ab 1830/1840 bauten beide Missionsgesellschaften ihre Präsenz erheblich aus, indem sie den gesamten Distrikt mit Missionsstationen besetzten und die schon bestehenden Gemeinden unter ihre Kontrolle brachten. Die neuen Missionare bemühten sich sehr darum, das einheimische Christentum durch ein anderes, evangelikales Christentum europäischer Prägung, wie es ihrem Verständnis entsprach, zu ersetzen. Ein wesentlicher Konfliktpunkt zwischen den neuen Missionaren und den einheimischen Christen war zum Beispiel die Abschaffung bzw. Veränderung der bisherigen sozio-religiösen Praktiken in den Gemeinden. Dies betraf vor allem die Kastenpraxis, da die indischen Christen die sozialen und religiösen Distinktionen zwischen den verschiedenen Kasten (Vellalar, Paraiyar u. a.), wie sie in der hinduistisch geprägten Gesellschaft Südindiens üblich waren, weitestgehend beibehalten hatten. Die rituelle Trennung der verschiedenen Kastengruppen (jati) in den christlichen Gemeinden – vor allem während des Gottesdienstes – wurde zu einem Hauptkritikpunkt der neuen britischen Missionare. Deren Einstellung gegenüber indischer Christen war zu diesem Zeitpunkt schon wesentlich stärker geprägt von den negativen und stereotypen Bildern indischer Religion und Kultur, die der koloniale Diskurs fortlaufend erzeugte, als ein Jahrhundert zuvor. Darüber hinaus war die missionarische Rhetorik dominiert von einer Apologetik des (westlichen) Christentums als zivilisatorisch fortschrittlicher Macht und einer oft aggressiven Kritik am indischen

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Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen

Gesellschaftssystem, v. a. am Kastenwesen: „Kaste“ wurde primär als religiöse Institution des Hinduismus angesehen und als Bestandteil der hinduistischen „Idolatrie“ (Bilderverehrung) verdammt. So bezeichnete der anglikanische Bischof von Kalkutta, Daniel Wilson (1778–1858), das Kastensystem als „Kern“ der gesamten Idolatrie in Indien.32 Die Kastenpraxis galt daher als grundsätzlich unvereinbar mit dem Christentum, wobei varna (als ideelles religiöses Gesellschaftsmodell aus der brahmanischen Tradition) und jati (soziale Gruppen, die sich über gemeinsame Abstammung bzw. Tätigkeiten definierten) in der europäisch-kolonialen Wahrnehmung jener Zeit nicht voneinander unterschieden wurden. Die Missionare erzwangen daher die Abschaffung der Kastendistinktionen, vor allem die der rituellen Trennung der verschiedenen Kasten beim Abendmahl. Ihrer Auffassung nach verstieß die Kastentrennung gegen die symbolische Einheit der Gemeinde, die im Abendmahl zum Ausdruck kommen sollte. Sie sanktionierten daher alle indischen Christen, die nicht am gemeinsamen Abendmahl aller Kasten teilnahmen, oder schlossen diese ganz aus ihren Gemeinden aus.33 Einen anderen Weg schlug die lutherische Leipziger Mission ein, die weiterhin eine moderate Beibehaltung der Kastentrennung innerhalb der christlichen Gemeinde erlaubte. Der Leipziger Missionsdirektor Karl Graul (1814–1864) unternahm von 1849 bis 1853 eine Studienreise nach Indien, auf der er die tamilische Kultur und den südindischen Hinduismus ausführlich studierte. Graul vertrat ein Missionskonzept, das zur Gründung einer einheimischen Kirche führen sollte und die Selbständigkeit der indischen Christen zum Ziel hatte. Er wollte eine bodenständige Volkskirche in Indien gründen. Nach Graul konnte diese Volkskirche einerseits nicht durch die völlige Anpassung (Akkomodation) des Evangeliums an die einheimische Kultur entstehen, wie es die Praxis der katholischen Mission im 16. und 17. Jahrhundert war. Sie konnte aber andererseits auch nicht auf der Grundlage einer rigorosen Ablehnung einheimischer Religion und Kultur entstehen, so wie es von den englischen Missionsgesellschaften vertreten wurde. Nach Hoekendijk bestimmte die lutherische Missionstheologie im 19. Jahrhundert das Verhältnis von Evangelium und Kultur so, dass dazwischen Platz für ein „mittleres natürliches Gebiet“ lag, in dem sich die „nationale Eigenthümlichkeit“ eines Volkes manifestieren konnte.34 Deshalb konnte Graul die Ansicht vertreten, dass bei der Behandlung der Kastenfrage durch die christliche Kirche zwischen einem bür-

32 Vgl. Westcott, Arthur, Our Oldest Indian Mission. A Brief History of the Vepery (Madras) Mission, Madras 1897, 53. 33 Vgl. dazu Schröder, Ulrike, Religion, Kaste und Ritual. Christliche Mission und tamilischer Hinduismus in Südindien im 19. Jahrhundert, Halle (Saale), 118ff. 34 Hoekendijk, Johannes C., Kirche und Volk in der deutschen Missionswissenschaft (Theologische Bücherei 35), München 1967, 68f, zitiert nach Nehring, Andreas, Orientalismus und Mission. Die Repräsentation der tamilischen Gesellschaft und Religion durch Leipziger Missionare 1840–1940 (Studien zur außereuropäischen Christentumsgeschichte 7), Wiesbaden 2003, 252f.

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gerlichen und einem religiösen Aspekt zu unterscheiden sei. Innerhalb der Kirche sei eine Kaste lediglich eine bürgerliche, d. h. zivile Institution. Der religiöse Aspekt der Kasten sei bereits durch die gemeinsame Teilnahme am Abendmahl von den indischen Christen zurückgewiesen worden. Daher würden die Christen auch nicht die hinduistische Tradition fortsetzen, wenn sie Kastenunterschiede innerhalb der Kirche beachten würden.35 Mit Ausnahme der lutherischen Leipziger Missionsgesellschaft verabschiedeten die in Südindien tätigen Missionsgesellschaften im Jahre 1850 einen Beschluss, der von den Konvertiten explizit das Nichtbeachten bzw. Brechen mit der Kastentrennung beim Eintritt in die christliche Gemeinde forderte. Die Missionare veranstalteten zu diesem Zweck Gemeinschaftsspeisungen zwischen den Angehörigen verschiedener jati, die als Kastenbrechen oder (mit reichlich euphemistischem Unterton) als love feasts bezeichnet wurden. Vor allem die Katechisten und andere hochrangige indische Gemeindeglieder mussten diesen Beweis der Brechung ritueller und sozialer Distinktionen zwischen den Kasten antreten. Die indischen Christen ihrerseits protestierten vehement gegen die Politik der neuen Missionare, wie auch gegen die Vielzahl von anderen Veränderungen, die ihre religiöse Praxis betrafen.36 Stein des Anstoßes war neben den Neuerungen in der rituellen Praxis vor allem die rigorose evangelikale Ethik der neuen Missionare, die alles Sinnliche und Weltliche ablehnten. So argumentierte zum Beispiel der tamilisch-christliche Dichter Vedanayagam Sastriar (1774–1864) aus Thanjavur, selbst Angehöriger der Elitekaste der Vellalar, gegen die Abschaffung der Kastentrennung in der Kirche und argumentierte gegenüber den Missionaren damit, dass die Kastenunterschiede landestypische Kategorien sozialer – nicht religiöser – Ordnung seien, die daher weder als heidnisch zu bezeichnen seien noch im Widerspruch zum christlichen Ethos stünden. In einer Petition an die Missionsgesellschaften, „The foolishness of amending Caste“ (1828), nutzte Sastriar die paulinische Theologie (Röm 14,4ff. 15; 1 Kor 7,20; 10,32), um diese Interpretation biblisch zu untermauern, indem er auf die (paulinische) Forderung nach der Rücksicht auf die Schwachen in der Gemeinde und das Primat der Gewissensethik verwies, und dann die Gesetzlichkeit der neuen Missionare anprangerte. Sastriar forderte, dass die Gemeinden von den englischen Missionaren so behandelt wer-

35 Graul, Karl, Explanations Concerning the Principles of the Leipzig Missionary Society, With Regard to the Caste Question, Madras 1851, zitiert nach Nehring, Orientalismus, S. 110f. 36 Dazu gehörte z. B. die Ersetzung der alten tamilischen Bibelübersetzung von Ziegenbalg (1714/19) durch eine neue Übersetzung von Carl G. E. Rhenius (1790–1838), die Abschaffung des bisher gebräuchlichen Festkalenders, das Verbot, Blumen zu rituellen Zwecken zu gebrauchen und auch die Abschaffung tamilisch-christlicher Lyrik und Musik im Gottesdienst. Diese Aufzählung zeigt, wie tiefgreifend die neuen Missionare im 19. Jahrhundert die bisherige religiöse Praxis der indisch-protestantischen Gemeinden veränderten.

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den sollten, wie es die deutschen Missionare der Dänisch-Halleschen Mission früher getan hätten, denn diese hätten die „Gesetze des Landes“ respektiert. Weiterhin, so forderte Sastri, sollten alle indischen Gemeinden vor den „Grausamkeiten“ der neuen (englischen) Missionare in Schutz genommen werden, denn diese würden den indischen Christen derart zusetzen, dass die „Religion der Freiheit“, d. h. das Christentum, in eine Religion der Knechtschaft verwandelt würde.37 Hinter der Haltung der neuen Missionare stand auch ein anderes Verständnis von dem, was als Religion aufgefasst wurde. Eine der Auswirkungen der Erweckungsbewegung auf die Konstitution der Missionsgesellschaften war, dass der evangelikale Religionsbegriff zum zentralen Faktor des Selbstverständnisses christlicher Religionsgemeinschaften in Großbritannien wurde. So prägte er nicht nur das Selbstverständnis von Christinnen und Christen in den kolonialen Metropolen, sondern vor allem die Missionspraxis und interreligiösen Verhältnisbestimmungen vor Ort, d. h. in den kolonialen Gebieten wie zum Beispiel in Südindien, und hier vor allem aber die Praxis und Wahrnehmungen fremder Kultur und Religion durch europäische Missionare. Die Strategie der britischen Missionare war auf eine explizite Abgrenzung christlicher Identitätspositionierungen innerhalb des lokalen religiösen Feldes ausgerichtet. Sie versuchten, kontextuelle Überschneidungen sowie interreligiöse Assoziationen und Analogien in der religiösen Praxis wie auch in der Vermittlung theologischer Inhalte an die Konvertiten weitgehend auszuschliessen. So grenzte sich das missionarisch-europäische Christentum dezidiert vom lokalen religiösen Kontext in Südindien ab und versuchte, radikal alternative christliche Identitäten für die Konvertiten bereitzustellen. Diese Identitäten konstituierten sich zwar im Anschluss an ein globalisiertes christliches Selbstverständnis als „Religion“, die indischen Christen wurden aber gleichzeitig ihrer lokalen und interreligiösen Bezüge enthoben und klare Grenzziehungen zur nicht-christlichen Umgebung geschaffen.

Lokale interreligiöse Aushandlungsprozesse Die massive Ausbreitung der Mission in Südindien im 19. Jahrhundert führte aber nicht nur in den christlichen Gemeinden selbst zu Konflikten. Die offensive Evangelisationspraxis der europäischen Missionare führte auch zu Auseinandersetzungen zwischen den Missionen und anderen religiösen Gruppen, die den Einfluss des europäisch-kolonialen Christentums in Südindien und die dadurch hervorgerufenen Veränderungen des religiösen Feldes explizit ablehnten. Die Missionen waren besonders bei den sozial niedrigstehenden Kastengruppen, z. B. den Paraiyar und Shanar/Nadar, einer anderen sozial niedrig stehenden

37 Vedanayagam Sastriar, The Foolishness of Amending Caste (1828), zitiert nach Hudson, Protestant Origins, 151ff.

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Kastengruppe, erfolgreich. Diese einfache und zumeist verarmte Landbevölkerung galt in kolonialen Kreisen zwar als „unzivilisiert“, aber leicht für die christliche Mission zu gewinnen. Bei den höheren Kasten, vor allem den Brahmanen, stießen die Bekehrungsversuche dagegen auf entschiedenen Widerstand. Die sogenannten Kastenlosen wie Paraiyar und Shanar/Nadar galten nach den Maßstäben des brahmanischen Hinduismus als unrein und waren daher kein anerkannter Teil des brahmanischen varna-Systems. Der Übertritt solcher Kastengruppen ohne VarnaStatus zum Christentum erfolgte zumeist im Rahmen von kollektiven Konversionen: Ganze lokale Clans, Dörfer und Gruppen aus dem unteren Bereich der indischen Gesellschaft traten zum Christentum über, behielten aber ihre soziale Identität als jati-Gruppe weitgehend bei. Anders als die Missionare zu wissen glaubten, war die steigende Zahl der Konversionen zum Christentum jedoch nicht allein auf ihren eigenen missionarischen Eifer zurückzuführen. Die Konversionen waren vor allem Ausdruck einer gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung der unteren Kastengruppen, die außerhalb des brahmanischen varna-Systems standen und unter sozialer und ökonomischer Ausbeutung sowie religiöser Ausgrenzung aus den brahmanisch-hinduistischen Tempeln litten. Besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Konversionsbewegungen durch lokale Konflikte zwischen Landbesitzern und den von ihnen abhängigen Landarbeitern angeheizt. Die Konversion zum Christentum bot für viele subalterne Gruppen in der südindischen Gesellschaft deshalb die Möglichkeit, ihrer wirtschaftlichen Ausbeutung und den sozialen Abhängigkeitsverhältnissen zu entkommen. Sie profitierten von den neuen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen sowie den Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, die sich mit den Missionsstationen und -dörfer eröffneten.38 Die aggressive Vorgehensweise der Missionare und die Gruppenkonversionen von Angehörigen unterer Kasten zum Christentum führten jedoch zu heftigen Konflikten mit den sozialen und religiösen Eliten in Südindien, Hindus wie Muslimen gleichermaßen. Diese sahen die christliche Mission als Bedrohung der sozialen und religiösen Hierarchie der südindischen Gesellschaft an. In ihren Augen wurde durch die Konversionen die komplexe soziale und religiöse Gesellschaftsordnung unterminiert. Durch Petitionen und Gerichtsprozesse wurde versucht, die weitere Ausbreitung des protestantischen Christentums in Südindien zu verhindern. So erhielt Bischof Georg John Trevor Spencer auf seiner nächsten Missionsreise nach Südindien im Jahre 1845 eine Petition aus dem Dorf „Streeveigoondum“, die sich gegen die anglikanischen Missionare richtete. Die Verfasser der Petition kritisierten heftig die Konversionsbewegungen unter den niederen Kas-

38 Vgl. dazu auch Nehring, Andreas, „Reischristen“. Lutherische Missionare und die Dalits in Südindien um 1900, in: Heyden, Ulrich van der/Stöcker, Holger (Hrsg.), Holger, Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen, Wiesbaden 2005, 271–283.

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ten, die schon immer den höheren Kasten bzw. den Dorfgemeinschaften mit ihren Diensten zur Verfügung gestanden hätten und nun von den Missionaren abspenstig gemacht würden: „Die Missionare (…), die Geld dafür erhalten in dieses Land zu kommen und die Menschen hier das Christentum zu lehren, befürchten, dass sie ihre Gehälter aus Mangel an Bekehrten verlieren könnten. [Deshalb] bauen sie Gemeinden aus boshaften Shanars, räuberischen Maravars, den Pullers und den Pariahs, die schon immer unsere Sklaven und Schumacher, Korbflechter waren, und aus anderen niedrig-kastigen Personen, und lehren sie das Evangelium, die Zehn Gebote und die anderen Dinge.“39

Ein weiterer direkter Effekt der christlichen Mission war die Verdrängung lokaler religiöser Kulte, die zum Spektrum des nicht-brahmanischen Hinduismus in Südindien gehörten und die mit den sozial niedrigstehenden Kasten verbunden waren. Dies betraf vor allem die Verehrung von Geistern bzw. dämonischen Wesen (pey) und der verschiedenen Formen der Göttin Amman: Wenn ein Dorf zum Christentum konvertierte, wurden die Kultplätze und Tempel zerstört und die „idols“ konfisziert. Die Missionare versuchten, die Fortführung fremdreligiöser Praktiken (vor allem Besessenheitsrituale und Tieropfer) unter den Konvertiten zu unterbinden. Es war vor allem diese Vorgehensweise, die den Widerstand der hinduistischen Bevölkerung provozierte und zur Gründung von hinduistischen Organisationen und Vereinigungen führte, die ihrerseits gewaltsam gegen die Missionare vorgingen. Sie verfolgten Konvertiten und zerstörten die anstelle der Tempel errichteten christlichen Gebetshäuser. Diese Auseinandersetzungen zwischen hinduistischen Gruppierungen und christlichen Missionsgemeinden verliefen während des ganzen 19. Jahrhunderts phasenweise sehr konfliktreich und teilweise auch gewaltsam. Der Konflikt mit den brahmanisch geprägten Eliten und die Eliminierung lokaler „volksreligiöser“ Kulte durch die Missionare verschärfte zudem die Unterscheidung zwischen brahmanischen und nicht-brahmanischen Formen des Hinduismus in Südindien.

Missionarisch-orientalistische Religionstheorien in Südindien Ein weiterer Aspekt, der die interreligiösen Dynamiken im 19. Jahrhundert in Indien wesentlich mitbestimmte, war die Verschränkung von missionarischer Praxis und orientalistischen Religionstheorien, die im Kontext der kolonialen Durchdringung Afrikas und Asiens entstanden und in sich selbst bereits Produkte kolonialer Begegnungsprozesse sind. Wie bereits skizziert, zeigt sich der Zusammenhang zwischen Mission, Kolonialismus und Religionstheorien im 19. Jahrhundert vor allem darin, dass die Ge-

39 Spencer, George J. T., Journal of a Visitation Tour in January and February 1845, Through the Missionary Stations of the S.P.G. in the South-eastern Portion of his Diocese, London 1848, 51. (Übersetzung U.S.)

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nese eines globalen Religionsbegriffs eingebettet war in die konkrete Praxis religiöser Gemeinschaften in kolonialen Kontexten – in diesem Fall die christlichen Missionen und die lokalen Formen des südindischen Hinduismus. Selbst orientalistische Religionstheorien waren wiederum Auslöser für religiöse Transformationsprozesse in Südindien, wie das folgende Beispiel zeigt. Im Jahr 1849 veröffentlichte Robert Caldwell (1814–1891), ein britischer Missionar der Society for the Propagation of the Gospel, eine ethnographische Beschreibung der Kastengruppe der Shanar/Nadar. Das Buch „The Tinnevelly Shanars: A Sketch of Their Religion, and Their Moral Condition and Characteristics, as a Caste“ war dazu gedacht, den außergewöhnlichen Erfolg der Mission unter den Shanar/Nadar aus der Perspektive der Missionare zu erklären.40 In dem Buch entwickelte Caldwell eine Theorie des südindischen Hinduismus, dem implizit ein hierarchisches Modell südindischer Kultur und Religion zugrunde lag. Caldwells Hinduismus-Konzeption wurzelte in der Verbindung von evangelikalem Religionsbegriff und gängigen orientalistischen Mustern. Sein Analyseraster umfasste dabei die folgenden Punkte: Glaube an einen höheren Gott, Analyse der „spiritual condition“ der Shanars anhand ihrer rituellen Praxis, sowie die Analyse der „moral condition“ und Überlegungen zur Erneuerung der moralischen Verfassung durch die Mission. Jedoch ging seine Darstellung südindischer Religion auch über das dominante orientalistische Hinduismus-Modell weit hinaus, das sich vor allem am brahmanischen Hinduismus orientierte und die vielfältigen lokalen Formen des (süd-)indischen Hinduismus entweder überhaupt nicht zur Kenntnis nahm oder diesen als volksreligiösen Praktiken nur einen niederen Stellenwert für den Hinduismus einräumte. Caldwell leitete seine Religionstheorie dem gegenüber vor allem aus der Beschreibung der lokalen hinduistischen Ritualpraxis im südindischen Distrikt Tirunelveli ab. Er erkannte, dass die lokalen religiösen Kulte, an denen vor allem die sozial niedrigstehenden Kasten partizipierten, nichts mit den brahmanischen Formen des Hinduismus zu tun hatten. Bei diesen Kulten handelte es sich vor allem um die Verehrung dämonischer Wesen (pey) und Amman-Göttinnen, die traditionell als Krankheit und Unheil bringende Göttinnen angesehen wurden, zugleich aber auch die Dorfgemeinschaften beschützten. Caldwell folgerte aus der offensichtlichen Unverbundenheit von lokalen südindischen Kulten und dem brahmanischen Hinduismus, dass es sich bei der Verehrung der pey und der Amman-Göttinnen um eine vom brahmanischen Hinduismus unterschiedene „Religion“ handeln müsse. Diese bezeichnete er als „Teufelsglaube“ oder „Dämonolatrie“: Pey wurde meist mit „Teufel“ oder „Dämon“ ins Englische bzw. Deutsche übersetzt. Diese Dämonolatrie (Teufelsanbetung) stellte für ihn die Religion der tamilischen UrBevölkerung in Südindien dar, die vom brahmanischen Hinduismus unabhängig und religionsgeschichtlich älter war. Interessanterweise leitete er diese These aus einer typologisierten Beschreibung zweier Rituale ab, die für ihn den konstitutiven Kern der

40 Caldwell, Robert, The Tinnevelly Shanars. A Sketch of Their Religion and Their Moral Condition, and Characteristics as a Caste, Madras 1849.

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ursprünglichen tamilischen Religion bildeten: Der rituelle Besessenheitstanz (camiyattam) für die pey und die Tieropfer für die Göttin Mariyamman. Man darf allerdings nicht übersehen, dass Caldwells Religionstheorie primär dazu diente, Shanars für die christliche Mission verfügbar zu machen: Indem Caldwell sie argumentativ vom (brahmanischen) Hinduismus loslöste und auf der Folie eines evangelikalen Religionsbegriffes als eigene Religionsform beschrieb, interpretierte er ihre Religion als eine Art „Praeparatio evangelica“, die mit dem als notorisch bekehrungsresistent angesehenen brahmanischen Hinduismus nichts zu tun hatte.41 Die Opferpraxis befähigte seiner Auffassung nach die unteren Kasten besonders dazu, das Christentum besser anzunehmen als die oberen, brahmanisch geprägten Kasten, weil sie ihnen die christliche (und v. a. zentrale evangelikale) Idee vom Tod Jesu als Opfer (substitutiv) indirekt näher brachte. Die Shanars/Nadars wiederum nutzten die Konversion zum Christentum vor allem aktiv als Möglichkeit, um der sozialen und religiösen Unterdrückung durch die höheren Kasten zu entkommen. Sie verstanden das Christentum daher vor allem als alternative soziale und religiöse Identität, die in der südindischen Gesellschaft verortet werden musste, und weniger im Kontext des westlich-europäischen Christentums. Die Adaption christlicher Rituale durch die Konvertiten war allerdings gleichzeitig auch ein Akt, der Raum für die Entwicklung eigener indischer Interpretationen bot, dessen subversives Potential gelegentlich von den Missionaren durchaus wahrgenommen und aufgezeichnet wurde, wie eine – in missionarischen Quellen des 19. Jahrhunderts durchaus selten anzutreffende – Reflexion des Missionars A. Leitch zeigt. Leitch war der Ansicht, dass sich die Hindus vor allem für die „äußerlichen“ Riten des Christentums interessieren würden, weil sie in diesen die meisten Ähnlichkeiten zu ihrer eigenen „Religion“ (sic) erkennen würden. Er kritisierte, dass Hindus das Christentum daher „nur“ aus ihren eigenen religiösen Binnenperspektive heraus verstehen und kritisch beurteilen würden – was für Leitch immer schon einer Fehldeutung gleichkam. Folglich war nach Leitch auch die Durchführung und Deutung der Sakramente im Gottesdienst ständig der Gefahr einer Kontextualisierung durch die indischen Christen – denen der hinduistische Deutungshorizont wohlvertraut war – ausgesetzt. Die Notwendigkeit solcher kontextuell interpretierenden bzw. adaptierenden diskursiven Deutungsprozesse entging ihm dabei völlig bzw. wurde implizit ausgeschlossen. Vielmehr kam die fremdreligiöse bzw. lokale indische Perspektive für Leitch selbstredend einer völligen Entstellung des (evangelikalen) Christentums gleich, das doch gerade keinen gesteigerten theologischen Wert auf die formelle religiöse Praxis, sondern

41 Die in Südindien weit verbreiteten Tieropfer für nicht-brahmanische Gottheiten wurden im Kontext christlicher Opfervorstellungen deshalb zu einem besonderen Kristallisationspunkt interreligiöser Fremdwahrnehmung. Für Caldwell waren die Opfer konstitutiver Bestandteil der vom brahmanischen Hinduismus unabhängigen südindischen Religion, und machten die unteren Kasten besonders empfänglich für die christliche Mission. Wie alle Missionare übte er zwar starke Kritik an dieser „primitiven“ Ritualpraxis, andererseits sah er gerade in den Opfern die beste Vorbereitung auf das Christentum („praeparatio evangelica“). Vgl. Caldwell, Tinnevelly Shanars, 22f.

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3. Konkretionen

individuelle Heilsgewißheit legte. Auch hier zeigt sich noch einmal beispielhaft, dass es ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen dem missionarischen Interesse an der Formung christlicher „Subjekte“ in den Kolonien nach westlich-christlichen Standards und dem gleichzeitig präsenten Dynamiken kontextueller Diskurse gab, die indische Christen wie Hindus anwandten, um sich westliches Christentum anzueignen, auch wenn sich diese Dynamiken den Missionaren wohl größtenteils entzogen.42 Auch Karl Graul betrieb gleichzeitig mit Caldwell und anderen Missionaren Studien zur südindischen Religions- und Kulturgeschichte. Mit ihren Schriften partizipierten sie an einer sich durch das ganze 19. Jahrhundert hinziehenden Debatte, in der interreligiöse Wahrnehmungsmuster vermischt mit Ideen arischer Superiorität, rassischer Differenzen, evolutionistischer Theorien und kultureller Entwicklungen verhandelt wurden.43 Besonders bei den Missionaren verbanden sich dabei Theorien zur sprachlichen Entwicklung der Menschheit mit Religionstheorien. Mitte des 19. Jahrhunderts interessierte sich die orientalistische Wissenschaft in Südindien vor allem für die Frage einer möglichen linguistischen und kulturgeschichtlichen Eigenständigkeit der südindischen Sprach- und Völkerfamilie. Bereits Francis Whyte Ellis (1777–1819), der im Dienst der Kolonialregierung in Madras stand, hatte 1816 die sogenannte dravidische Sprachfamilie durch Sprachvergleiche zwischen den Sprachen Telugu, Kannada und Tamil entdeckt. Caldwell gilt neben Ellis als eigentlicher Begründer der Theorie der dravidischen Sprachen, weil er 1856 eine Grammatik der dravidischen Sprachen veröffentlichte, die große Verbreitung fand.44 In diesem Zusammenhang wird deutlich, wie eng Missionspraxis, interreligiöse Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie akademische Religions- und Kulturtheorien in Südindien im 19. Jahrhundert miteinander verwoben waren: Die Frage nach dem kulturgeschichtlichen Alter der südindisch-dravidischen Kultur war auch für den Streit um das Thema Kaste in der Kirche von Belang. In dem sogenannten Kastenstreit wurde vor allem die Rolle der Brahmanen in der religiösen Fundierung der Kasten unterschiedlich beurteilt und damit auch die Rolle der Arier (gleichgesetzt mit den Brahmanen) für die kulturelle Entwicklung Südindiens. So waren die Missionare vor die im 19. Jahrhundert kontrovers diskutierte Frage nach den Anfängen des Kulturkontaktes zwischen Ariern und Draviden gestellt, die zur Schlüsselfrage für die (theologische) Beurteilung der südindischen Gesellschaftsordnung wurde. Unter den

42 Leitch, A. (1844). „The Sacraments in the Hand of a Missionary.“ Madras Christian Instructor and Missionary Record 1 (10), 513–524, 514. 43 Vgl. zum folgenden Nehring, Andreas, „Wo Wahn und Weisheit um die Wette brüten.“ Die Studienreise des Leipziger Missionsdirektors Karl Graul 1849–1853, in: Mann, Michael (Hrsg.), Europäische Aufklärung und protestantische Mission in Indien, Heidelberg 2006, 183–202 und Trautmann, Thomas R., Aryans and British India, New Delhi 2006. 44 Caldwell, Robert, A Comparative Grammar of the Dravidian or South-Indian Family of Languages. 1. Aufl. London 1856.

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deutschen und britischen Missionaren existierten hierzu zwei unterschiedliche Auffassungen: Die englischen Missionare waren der Ansicht, dass die Arier als Eroberer in dravidische Gebiete vorgedrungen seien und der Bevölkerung eine religiös legitimierte Kastenordnung aufgezwungen hätten. Diese war daher auch für die christlichen Gemeinden entbehrlich bzw. ein brahmanisch-hinduistisches Element, das nicht geduldet werden durfte. Die Leipziger Missionare vertraten dagegen eine Einwanderungstheorie, nach der die Arier die Draviden als Ureinwohner Südindiens im Zuge der arischen Ausbreitung in Indien „sanskritisiert“ hätten. Die sanskritischbrahmanische Kultur hatte nach ihrer Auffassung daher auch für die Draviden in Südindien eine gewisse fortschrittliche Bedeutung, und das Kastenwesen war deshalb nicht nur von religiöser, sondern auch von kultureller Bedeutung.

Die Rezeption missionarisch-orientalistischer Religionstheorien im kolonialen und postkolonialen Diskurs Missionarisch-orientalistische Religions- und Kulturtheorien über Südindien wurden nicht nur in missionarischen und kolonialen Kreisen, sondern auch in der entstehenden akademischen Religionswissenschaft breit rezipiert. Die Bedeutung dieser Theorien liegt also zum einen darin, dass sie einen Beitrag darstellen zu dem, was man im Anschluss an David Chidesters Buch über koloniale Religionswissenschaft in Südafrika als „frontier comparative religion“, also als in den kolonialen Kontaktzonen selbst entstehenden interreligiösen Wahrnehmungsmuster, bezeichnen könnte.45 Zum anderen blieben derartige Theorien nicht ohne direkte Wirkung in ihren jeweiligen Kontexten, so beispielsweise in Südindien. Durch ihre Rezeption wurden diese Theorien bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Kristallisationspunkt für indische Reformbewegungen, was ihnen einen nachhaltigen Einfluss auf die Konstruktion indischer Kultur und Religion bis in die Gegenwart hinein gesichert hat. Caldwells Beschreibung der Shanars/Nadars als Vertreter einer nicht-brahmanischen Religion blieb zum Beispiel nicht ohne Widerspruch, als sich die Emanzipationsbewegung unter den Shanars in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkte. Sie lehnten Caldwells These von einer unabhängigen, nicht-brahmanischen Religion dezidiert ab und behaupteten stattdessen, einen Status innerhalb des brahmanischen Varna-Systems zu besitzen (als sogenannte Kshatriyas, d. h. Stand der Krieger) und zum brahmanischen Hinduismus zu gehören. Daher versuchten sie auch, ihre religiöse Praxis in Anlehnung an brahmanische Standards zu erneuern und Zutritt zu brahmanischen Tempeln zu erlangen. In diesem Kontext ist vor allem die Gründung von Kastengesellschaften zu nennen, die für die Shanars eine andere, weniger pejorativ konnotierte Kastenbezeichnung durchzusetzen versuchten: Shanars sollten fortan als

45 Siehe Chidester, Savage Systems, 1ff.

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3. Konkretionen

Nadar („lords of the soil“, d. h. ursprüngliche Besitzer des Landes) bezeichnet werden. Der Konflikt um den religiösen bzw. rituellen Status dieser Kastengruppe, der mehrere Jahrzehnte andauerte, war wesentlich mitbestimmt von der Kritik an Caldwell und der Auseinandersetzung um den Einfluss der christlichen Mission unter den Shanars.46 Christliche Shanars wiederum spalteten sich vom Missionschristentum ab und gründeten mit der „Hindu Christian Church“ eine eigene Kirche, die große Teile der brahmanischen Ritual-Praxis kopierte und mit einer christlichen Interpretation, v. a. orientiert am Alten Testament, versah. Schließlich tauchte die These einer unabhängigen südindischen Religion im Zusammenhang mit der dravidischen Bewegung Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts wieder auf. Die dravidische Bewegung, die eine gemeinsame Identität aller Süd-Inder postulierte, war besonders unter den Tamilen (verschiedener religiöser Zugehörigkeit) politisch erfolgreich. Anhänger der dravidischen Bewegung, die zugleich der stark von christlichen Missionaren beeinflussten shivaitischen Reformbewegung angehörten, interpretierten die shivaitische Form des Hinduismus als genuin dravidische, nicht-brahmanische Religion neu.47 Spätestens bei der Betrachtung dieser vielfältigen Rezeptionsgeschichte zeigt sich also, wie komplex religiöse Transformationsprozesse im kolonialen Indien des 19. Jahrhunderts verliefen und wie vielfältig die Einflüsse der christlichen Mission in Südindien waren. Daher sollte nicht vergessen werden, dass die Geschichte der christlichen Missionen im 19. Jahrhundert eine (interreligiöse) Geschichte globaler Verknüpfung und Vernetzung von religiösen Identitäten und wissenschaftlichen Ideen war, die heutige Verhältnisbestimmungen zwischen Kulturen und Religionen nach wie vor tiefgreifend prägen.

3.2. Westafrika Im 19. Jahrhundert war den Missionsgesellschaften in der Regel der Zugang zu den Zentren der islamischen Welt verwehrt: Das Osmanische Reich erlaubte keine Missionstätigkeit; in der Mitte des Jahrhunderts kamen nur wenige Missionare in direkten Kontakt mit der islamischen Welt. Die Situation in Westafrika war eine andere. Mit Beginn der Missionstätigkeit der anglikanischen Church Mission Society fand sowohl in Sierra Leone als auch im heutigen Nigeria ab 1804 bzw. 184148 ein Austausch zwischen Christen und

46 Zur Geschichte der Shanars/Nadars siehe Hardgrave, Robert L., The Nadars of Tamilnad. The Political Culture of a Community in Change, Berkeley 1969. 47 Siehe dazu ausführlicher Vaitheespara, Ravindiran, Christianity, Missionary Orientalism and the Origins of Tamil Modernity, in: Gross, Andreas, Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, Halle 2006, 973–1017. 48 http://www.ampltd.co.uk/digital_guides/church_missionary_society_archive_general/ editorial%20introduction%20by%20rosemary%20keen.aspx

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Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen

Muslimen statt – in weiter Distanz vom Osmanischen Reich. Das kann durch eine Episode der Reisebeschreibung des deutschen Afrikaforschers Gerhard Rohlfs illustriert werden, der dem Emir von Bauchi im heutigen Nigeria im Jahr 1867 ein Schreiben des Sultans von Bornu und einen türkischen Firman (Erlass eines Souveräns in islamischen Ländern) mitbrachte. Während das erste Dokument seine Wirkung nicht verfehlte, wurde das zweite mit einer Mischung aus Überraschung und Spott begutachtet. Als Rohlfs erklärte, dass das Dokument vom Herrscher aller Gläubigen ausgestellt worden sei und überall respektiert werde, wo Muslime lebten und somit seinen Schutz garantiere, erwiderte der Emir, dass dies vielleicht für das Türkische Reich zutreffe, aber „wir verstehen kein Türkisch, und unser Herrscher ist nicht der Sultan der Türkei, sondern der Sultan in Sokoto“.49 Der Austausch zwischen Christen und Muslimen in Westafrika vollzog sich auch deshalb unter speziellen Bedingungen, weil Afrikaner ebenso als Missionare zum Einsatz kamen. Deren Lebensgeschichte war eine besondere: Sie waren überwiegend ehemalige Sklaven (oder stammten aus deren Familien), die nach der Abschaffung des Sklavenhandels durch das britische Parlament im Jahr 1807 durch britische Flottillen von den Sklavenschiffen befreit und in der britischen Kronkolonie Sierra Leone angesiedelt worden waren – deren Hauptstadt trug den bezeichnenden Namen Freetown. Von Anfang an war die britische Anti-Sklaverei-Bewegung mit der Missionsbewegung eng verbunden, und die befreiten Sklaven wurden von der 1799 gegründeten Church Mission Society christlich instruiert. Mit der Taufe nahmen sie englische Namen – häufig die Namen britischer Anti-SklavereiAktivisten – an, und die „afrikanischen“ Taylors, Johnsons, Macaulays, Perrys und Crowthers leisteten einen zentralen Beitrag bei der Verkündigung des Evangeliums in Westafrika. Sie waren in internationale Netzwerke eingebunden und verfügten über Kontakte zu afroamerikanischen Christen in den USA50, in Jamaika51 und in Brasilien.52

49 Rohlfs, Gerhard, Quer durch Afrika: Die Erstdurchquerung der Sahara vom Mittelmeer zum Golf von Guinea, Neuauflage 1984, S. 302,3. 50 Vgl. T. Collins, The Baptist Mission of Nigeria, 1850–1993, Ibadan 1993, S. 1–12; W. L. Yates, The History of the African Methodist Episcopal Zion Church in West Africa, Liberia, Gold Coast (Now Ghana) and Nigeria, 1900–1939, PH.D.-Thesis, Hartford Seminary 1967. 51 Johnston, Geoffrey, Of God and Maxim Guns. Presbyterianism in Nigeria, 1846–1966, Waterloo (Ontario) 1988, 8; E.V. Aye, Presbyterianism in Nigeria, Calabar, 1987; E.V. Aye, The Foundations of Presbyterianism among the Calabar Clans: Qua, Efik, Elut, in: Kalu, Ogbu U. (Hrsg.), A Century and Half of Presbyterian Witness in Nigeria, 1946–1996, Enugu 1996, S. 1–27. 52 Vgl. hierzu: Bane, Martin J, Catholic Pioneers in West Africa, Dublin 1956, 146 ff. insb. 148, 149; M.P. Macloughlin, Highlights of the History of the Catholic Church in the Lagos Ecclesiastical Province, in: A.O. Makozi & G. J. A. Ojo (Hg.), The History of the Catholic Church in Nigeria, Lagos & Ibadan 1982, S. 15ff, insb. S. 16. Elizabeth Isichei bezweifelt die Authenzität dieser schönen Geschichte. Vgl. E. Isichei, An Obscure Man: Pa Antonio in Lagos (s. 1800–1880) in: E. Isichei (Hg.), Varieties of Christian Experience in Nigeria, London und Basingstoke, 1982, S. 28–33.

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3. Konkretionen

Die prominentesten kirchlichen Vertreter waren Samuel Ajayi Crowther, von 1864 bis 1891 Bischof von Western Equatorial Africa, und James Johnson, von 1900 bis 1917 stellvertretender Bischof im Niger Delta. Aber auch in Politik und Pressewesen war diese Gruppe einflußreich. Ein prägnantes Beispiel für die internationale Vernetzung dieser afrikanischen Elite war der aus Sierra Leone stammende anglikanische Journalist John Augustus Otunba Payne. Payne unternahm im Jahr 1886 eine Reise nach Brasilien; im Jahr 1890 heiratete er Maria de Rosario Joaquim, eine Katholikin brasilianischer Herkunft.53 Wie andere Vertreter der afrikanischen Elite in Lagos auch, orientierte sich Payne in seinem gesellschaftlichen Leben an den britischen Vorgaben – seinen Mitbürgern blieb er in dankbarer Erinnerung für seinen Beitrag „in organizing those Concerts, Musical Shows, Banquets, At Homes, Debates, Grand Balls, Picnics, Regattas, Athletics etc., which have since remained a powerful element in the social life of Lagos“. In dem Leitungsgremium der Pferderennbahn war er ebenso vertreten wie in den nigerianischen Hilfsorganisationen der British and Foreign Bible Society und der Anti-Slavery Society. Über Brasilien und Indien informierte er sich weiterhin: Unter den 15 Zeitschriften, die er 1888 abonniert hatte, finden sich unter anderem die in London veröffentlichten The Colonies and India, The European Mail and the Colonies and India sowie die in Rio de Janeiro erscheinende englischsprachige The Rio News.54 Die westafrikanische christliche Elite war somit in ein internationales Netzwerk eingebunden, die Literatur über den Islam in anderen Teilen der Welt war ihnen bekannt.55 Eine weitere Voraussetzung für den christlich-muslimischen Dialog in Westafrika lag in der Tatsache begründet, dass der Islam hier auf eine sehr viel längere Geschichte als das protestantische Christentum zurückblicken konnte. Der Islam hatte sich in Nigeria seit dem 11. Jahrhundert vom Norden her in Nigeria ausgebreitet. In den folgenden Jahrhunderten wurde die herrschende Schicht der nordnigerianischen Hausa, einer bevölkerungsstarken Volksgruppe, muslimisch – Handelszentren wie Kano oder Katsina entwickelten sich zu Stätten islamischer Bildung. Der größere Teil der Bevölkerung aber wurde erst mit dem Dschihad des Usman dan Fodio zu Anfang des 19. Jahrhunderts islamisiert. Das von dan Fodio gegründete Kalifat mit der Hauptstadt Sokoto war das größte westafrikanische

53 Kopytoff, Jean H., A Preface to Modern Nigeria. The „Sierra Leonians“ in Yoruba, 1830– 1890, Madison 1965, 295, 296. 54 Periodicals for the Year 1888 in the Library of John Augustus Otonba Payne, in: J.H. Kopytoff, (wie Anm. 16), S. 304 (Appendix D). Zu Payne vgl. auch Kopytoff, S. 295, 296 sowie Davidson, Basil, Africa in Modern History, Harmondsworth 1978, 19872, S. 170, 171. 55 F. Ludwig, Die internationalen Kontaktnetzwerke westafrikanischer Eliten und europäischer Missionsleitungen im Kontrast am Beispiel der Krise der Niger-Mission (1890–92), in: A. Bogner, B. Holtwick, H. Tyrell (eds.), Weltmission und religioese Organisationen. Protestantische Missionsgesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Würzburg 2004, 615– 638.

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Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen

Reich des 19. Jahrhunderts, und der Islam gewann auch außerhalb der Sokoto unterstehenden Emirate Einfluss. Dieser erstreckte sich bis in die Yoruba-Region, wo Ilorin zum Zentrum wurde. Anders als im Norden Nigerias konnte sich der Islam hier aber nicht flächendeckend durchsetzen. Mit der Stadt Ibadan etablierte sich ein anderer Pol, und bis heute ist die Yoruba-Region multireligiös und eine Stätte der Begegnung verschiedener Religionen – nicht nur des Christentums und des Islam, sondern auch der afrikanischen traditionalen Religion. Diese Dreieckskonstellation stellt die vielleicht größte Besonderheit der interreligiösen Beziehungen in Westafrika dar. Die Missionare trafen auf Formen der traditionalen Religion, die bereits durch die Begegnung mit dem Islam geprägt waren. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Beziehungen eng, so teilte ein Orakelpriester des Ifa-Kultes der Yoruba, Babalawo genannt, einem afrikanischen Pfarrer mit, dass „each of us babalawos has a Mohammedan friend and each Mohammedan priest, so much as I know of those at Abeokuta, makes friends with babalawos in order to have their help in difficult matters of divination.“56 Der Ifa-Kult war zentral im religösen System der Yoruba – hier wurden die grundlegenden Entscheidungen in der Vermittlung zwischen Gott und Welt getroffen. Durch die Wahrsagungen konnten Menschen dahingehend beeinflusstwerden, eine bestimmte Gottheit zu verehren. Damit ergaben sich Verbindungsmöglichkeiten zu anderen Religionen, und so konnte das Ifa-Orakel erklären, dass ein Kind ein Muslim werden solle.57 Die Missionare hoben den Mischcharakter von Islam und traditionaler Religion hervor. So bemerkte der afrikanische anglikanische Missionar Samuel Johnson (nicht verwandt mit James Johnson) über eine Feierlichkeit, die 1880 in Ibadan stattfand, dass sich hier der Mohammedanismus mit dem Heidentum vermische. Während eines muslimischen Festivals sei die ganze Stadt muslimisch, während eines heidnischen Festivals heidnisch. Zusammenfassend stellte er fest: „It amounts to no religion at all. [...] Such is the nature of the people we have to deal with.“58 Eine etwas andere Haltung vertrat der in Deutschland geborene Missionar Charles Gollmer, der von Muslimen gefragt wurde, ob er sie denn mit Heiden vergleiche. Nicht direkt, erwiderte Gollmer, denn ihr wisst mehr als diese vom Willen Gottes – aber, so fügte er unter Anspielung auf Lukas 12, 47 hinzu: „Der Knecht aber, der seines Herrn Willen weiß, und hat sich nicht bereitet, auch nicht

56 S.W. Doherty, Journal, 16 Sept. 1877, zitiert in: Peel, John D.Y., Religious Encounter and the Making of the Yoruba, Bloomington 2003, 115. Peels Werk ist grundlegend für diesen Abschnitt. 57 J G.O. Gbadamosi, ‚Odu Imale‘: Isalm in Ifa Divination and the Case of Predestined Muslims, in: Journal of the Historical Society of Nigeria 8 (1977), 77–93, zusammengefasst in Peel, 115. 58 Samuel Johnson; Journal, 17 June 1880, zitiert in Peel, 203.

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3. Konkretionen

nach seinem Willen getan, der wird viel Streiche leiden müssen.“59 Aus diesen Äußerungen spricht ein bestimmtes missionarisches Selbstverständnis in Westafrika: Der Islam wurde als Vorgängerreligion und ggf. Wegbereiter des Christentums angesehen; diese Perspektive der religiösen Entwicklung konnte auch mit den wirtschaftlichen und militärischen Erfolgen Europas verbunden werden.60 Andererseits konnten traditional-religiöse Afrikaner eine Verbindung zwischen Islam und Christentum ausmachen. Als der Missionar Thomas King 1852 nach Ota kam, schenkten ihm die Oberhäupter einen Schafsbock und bemerkten „Is not your way of worship and the Mahomedans quite alike?“.61 In Ibadan wurde dem afrikanischen Pfarrer Daniel Olubi mitgeteilt, dass zuerst die Muslime über den Tag des Gerichts gepredigt hätten und dies nun von den Oibos, also den Europäern, bestätigt werde. Eine andere Feststellung lautete: „You oibos are like the Mohammedans of Ilorin who count our orishas as nothing.“ Eine Perspektive, welche die gemeinsamen Elemente von Christentum und Islam betonte, erfuhr durch die Bibel-Übersetzung ins Yoruba eine weitere Akzentuierung. Bei der Übersetzung spezifischer religiöser Konzepte stellte sich die grundlegende Frage, ob man traditional-religiöse, muslimische oder neutrale Termini verwenden solle. In einer seiner weitreichendsten Entscheidungen entschloss sich Crowther, die Bezeichnung „Alufa“ (muslimischer Kleriker) nicht nur für die Übersetzung von „Priester“ in der Bibel (zum Beispiel für Christi Priesterschaft in Hebräer 7), sondern ebenso für christliche Pfarrer zu verwenden. Alufa erhielt somit den Vorrang vor Aworo (Priester eines Orisa), auch die Baalspropheten in 1 Könige 18 wurden nicht so bezeichnet. Prophet wurde stattdessen mit Woli (Heiliger) übersetzt. „Gebet“ übersetzte Crowther mit Irong (irun), dem islamischen Ausdruck für ein kommunales Gebet. Als er im Jahr 1850 seine Übersetzung des Book of Common Prayer vorlegte, entschied er sich für Adura, einen anderen muslimischen Begriff, mit dem das individuelle Gebet bezeichnet wird. Das Wort für Predigen, Iwasu, lässt sich ebenfalls auf das Arabische zurückführen. Der muslimische Terminus Keferi für Heiden wurde verwendet, und das Böse in der siebten Bitte des Vaterunser wurde mit Bilisi (Hausa für Satan, arabisch Iblis, griechisch Diábolos) übersetzt.62 Crowther bemühte sich auch in der direkten Begegnung um Common Ground, also einen gemeinsamen Wissensraum, und bevorzugte zum Einstieg Themen wie „Jesus als großer Prophet“, „das Wunder der Geburt Christi“ und „Gabriel als Botschafter Gottes“, wobei er freilich auch vor Differenzen nicht zurückschreckte. Beide Aspekte zeigen sich bei einem Treffen im Palast des Emirs von Ilorin im Jahr 1872, das er in seinem Büchlein Experiences with Heathens and Mohammedans

59 60 61 62

C.A. Gollmer, Journal, 14 Dec. 1847, zitiert in Peel, 209. Peel, 188. T. King, Account of Journey to Ota, 8 Jan. 1852, zitiert in Peel, 206. Peel, 194,5.

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Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen

in West Africa beschrieb. Crowther eröffnete die Debatte, indem er die Frage stellte, ob Jibrila (Gabriel) Fehler machen könne. Alle Anwesenden antworteten, dass dies nicht der Fall sei. Crowther zeigte Bibeln in Englisch und in Yoruba und las dann aus dem ersten Kapitel des Lukas-Evangeliums vor, das vom Besuch des Erzengels Gabriel bei Maria berichtet: Gabriel verkündigt die Geburt von Jesus, dem Messias. Er verlas dann zwei weitere Texte aus dem Neuen Testament, Johannes 14 („Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“) und Matthäus 28 („Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker, taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“). Der Emir stellte daraufhin die Frage, ob Anabi (der Prophet Jesus) nicht der Richter der Welt sei, worauf Crowther – und das ist bezeichnend – keine selbstformulierte Antwort gab, sondern Matthäus 25, die Parabel von den Ziegen und Schafen, verlas, wo „alle Nationen“ vor dem Menschensohn versammelt sind. Der Emir fragte, wann dies der Fall sein werde, und Crowther antwortete wiederum mit Verweisen auf die Bibel, auf Apostelgeschichte 1,7 („Es gebührt euch nicht zu wissen Zeit oder Stunde, welche der Vater in seiner Macht bestimmt hat“) Lukas 12,40 („Des Menschen Sohn kommt zu einer Stunde, da ihrs nicht meinet“) und Offenbarung 22,10 („Die Zeit ist nahe“). Nach längeren Schweigen wurde Crowther folgende Frage gestellt: Was sagt dein Buch über Mohammed? Er antwortete, dass, da der Prophet 622 Jahre nach Christus geboren sei (bzw. gewirkt habe), das Neue Testament dazu notwendigerweise schweige. Daraufhin wurde die Frage gestellt, was reichhaltiger („fuller“) sei, das christliche „Litafi“ oder der Koran, und Crowther erwiderte, dass im Koran einige wichtige biblische Themen zur Sprache kämen. Die Muslime baten Crowther dann um ein Gebet. Crowther, der sein anglikanisches Prayer Book selbstverständlich immer mit sich führte, sprach das Gebet für ihre Majestät, die Königin und erklärte danach, dass üblicherweise außerhalb des britischen Königreichs der Name von Königin Victoria durch den Namen des jeweiligen Herrschers ersetzt werde. Der Hof des Emirs stimmte zu, dass das Gebet sehr angemessen sei. Zusammenfassend stellte Crowther fest, dass es keinen Streit, keinen Disput, keinen Widerspruch gegeben habe – alle Fragen seien direkt mit dem Wort Gottes beantwortet worden. Darauf zu bestehen, direkt aus der Schrift zu antworten, war Crowthers zentrales Anliegen. Crowther, der als Afrikaner eine afrikanische Mission leitete, hatte einen afrikanischen christlichen, also biblizistischen Ansatz im Umgang mit dem Islam entwickelt. Im Unterschied zu europäischen pietistischen Missionaren ging es ihm nicht darum, eine Wahl zwischen Bibel und Koran zu erzwingen.63

63 Crowther, Samuel Ajayi, Experiences with Heathens and Mohammedans in West Africa, Landon 1892, 28, zusammengefasst zitiert in Walls, Andrew F., African Christian Engagement with Islam, in: Lawrie, Ingrid/Maxwell, David (Hrsg.), Christianity and the African Imagination: Essays in Honour of Adrian Hastings, Leiden 2002, 41–62, hier: 50–52.

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3. Konkretionen

Allerdings konnte die Frage der Beziehungen zum Islam auch unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet werden. In den 1880er Jahren wurde deutlich, dass das Christentum sich nicht so schnell ausbreitete wie der Islam und meist nur unter sozialen Aussenseitern wie ehemaligen Sklaven erfolgreich war. Bei Muslimen konnte die christliche Mission kaum Erfolge erzielen – so wurde von Kritikern der Islam-Mission errechnet, dass „eine bekehrte Mohammedanerseele“ 11 500 £ koste. Darauf erwiderten die Verteidiger der Gesellschaft, dass ein Rennpferd vor kurzem für 12 000 £ den Besitzer gewechselt habe und eine „bekehrte Mohammedanerseele“ vielleicht noch mehr wert sei als ein Galopper. Freilich wurde auch der Nutzen solcher Berechnungen in Frage gestellt.64 Afrikanische christliche Pfarrer wie James Johnson in Lagos verglichen nun die Missionsmethoden. Johnson schrieb den Erfolg der Muslime dem Umstand zu, dass diese sich problemlos in die afrikanischen Gesellschaften integrierten, während Christen „are regarded as a people separate from them, as identifying with a foreign people, and the dress they usually assume has become a badge of distinction.“ Er forderte mehr Übersetzungen von Literatur in die Yoruba-Sprache und ein verstärktes missionarisches Engagement aller Christen nach dem muslimischen Vorbild: „Every Mohammedan regards himself as a missionary“, schrieb er.65 Diese Gedanken wurden von dem aus der Karibik stammenden und in Westafrika wirkenden Edward Wilmot Blyden aufgegriffen und zugespitzt. Blyden forderte dazu auf, die Missionsarbeit vom westlichen Kulturimport zu trennen und ähnlich wie die Muslime vorzugehen. Die Verkündigung des Islam sei in Afrika erfolgreich, weil die Prediger auf die Gastfreundschaft der Menschen vertrauten und dadurch – anders als die europäischen christlichen Missionare – einen direkten Kontakt zu den afrikanischen Gesellschaften aufbauten.66 Während der Islam den Afrikanern ein Gefühl ihrer Würde gebe, sei die populäre Literatur zumindest der letzten zweihundert Jahre anti-afrikanisch67, und der christliche Afrikaner oder Afro-Amerikaner könne sich Gott nur mit den physischen Charakteristika der Europäer vorstellen. Im Islam gebe es keine Rassenschranken.68 Den Islam betrachtete er als großen Fortschritt gegenüber den traditionalen Religionen. Er berichtete über eine im Jahr 1873 unternommene Reise in der Grenzregion zwischen Sierra Leone und Futa Jallon, bei der er traditional-religiöse wie auch muslimische Distrikte besuchte. Der Unterschied sei augenfällig gewesen: „When we left a Pagan and entered a Mohammedan community, we at once noti-

64 Vgl. dazu Stock, Eugene: History of the Church Missionary Society, Bd. III, London 1899, 345–347. 65 Peel, 205. 66 Blyden, Edward Wilmot: Christianity, Islam and the Negro Race, 1887, Neuauflage Edinburgh 1967. 67 Blyden, 15. 68 Blyden, 175.

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ced that we had entered a moral atmosphere widely separated from, and loftier than, the one we had left. We discovered that the character, feelings and conditions of the people were profoundly altered and improved.“69 Afrikanische zum Islam Bekehrte erfreuten sich in ihren Staaten einer schriftlich fixierten Verfassung, eines Gesetzeskodexes und einer rechtmäßigen Regierung.70 Eine Polemik, wie sie etwa von dem württembergischen Pietisten Karl Gottlieb Pfander (1803–1865) vorgelegt worden war, lehnte er deshalb entschieden ab. Pfander hatte sich 40 Jahre als Missionar im persisch-russischen Kaukasusgebiet, in Indien und in Konstantinopel aufgehalten. Sein Ziel war von Anfang an zwar auch das Gespräch mit seinen muslimischen Lesern, aber er ging dabei von der Voraussetzung aus, dass der Islam eine falsche Offenbarung sei. Er beschäftigte sich ausschließlich deswegen so gründlich mit dem Islam, um ihn besser widerlegen zu können. In seinem Traktat Remarks on the nature of Muhammedanism – Traditions (Kalkutta 1840) ging es ihm darum, die moralische und geistig-intellektuelle Überlegenheit des Christentums nachzuweisen. Polemisch sprach Pfander bezüglich der Hadith-Erzählungen von „the foolish and childish nature of many of the traditions“, über „absurdities“, „lies“, „the bondage of superstition“ und „unbelief“.71 Blyden verwies darauf, dass Pfanders Beitrag in der islamischen Welt Widerspruch erfahren habe. Er hob hervor, dass die Erwiderung des indischen muslimischen Gelehrten Rahmat Allâh Kairânawî (1818–1891) nie widerlegt worden sei und auch in Westafrika studiert werde.72 Blyden stimmte vielmehr mit Boswell Smith und mit anderen Orientalisten überein, die den Islam als vitale Kraft betrachteten.73 Zudem betonte Blyden den afrikanischen Charakter des Islam. Eine afrikanische Sklavin sei die Mutter Ismaels, des Vorfahren Mohammeds gewesen.74 Mohammed selbst habe einen afrikanischen Sklaven, Bilal, beauftragt, die Gläubigen zur gegebenen Zeit zum Gebet zu rufen. Der Ausruf „Gebet ist besser als Schlaf, Gebet ist besser als Schlaf“, der jeden Tag in der muslimischen Welt wiederholt werde, gehe auf Bilal zurück, dem Mohammed im Paradies sogar Vorrang vor sich selbst eingeräumt habe.75 Bereits im Jahr 1866 hatte Blyden Ägypten besucht, um dessen Geschichte kennenzulernen. Dabei besuchte er auch Ausbildungsstätten, und die Selbstlosigkeit und Hingabe der Studenten aus Kairo beeindruckte ihn. Diese scheuten sich nicht davor, in die afrikanischen Dschungel und Steppenländer zu gehen, um die Lebensbedingungen der Einheimischen zu verbessern. Das mache es doppelt schwer für

69 Blyden, 6. 70 Blyden, 307. 71 Christine Schirrmacher: Mit den Waffen des Gegners. Christlich-muslimische Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1992, 5–7, 68, 87. 72 Blyden, 3. 73 Blyden, 173. 74 Blyden, 311. 75 Blyden, 327.

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3. Konkretionen

die Europäer, mit Bibel und Schwert die Zuneigung der Menschen zu gewinnen. Die muslimische Ausbreitungsstrategie hielt Blyden für wesentlich erfolgversprechender als die westlich-christliche. Den europäischen Missionen gelänge es nicht, afrikanische Gesellschaften als Ganzes zu erreichen.76 Für Blyden wurde Ägypten zu einem Referenzmodell. Er vertrat die These, dass die frühe Hochzivilisation des Niltals durch afrikanischen Einfluss entstanden sei.77 Auch Äthiopien kam in Blydens Konzept eine zentrale Bedeutung zu: Hier würdigte er die historischen Leistungen der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche. Blydens Dialogansatz zeichnete sich durch eine hohe Wertschätzung der afrikanischen Geschichte und Kultur aus – in dieser positiven Würdigung unterschied er sich von führenden afro-amerikanischen Menschenrechtlern wie etwa dem ehemaligen Sklaven Frederick Douglass, dessen Ziel die gleichberechtigte Teilhabe der Afroamerikaner an der westlichen Zivilisation war. Deutlich zeigte sich das bei der Weltausstellung in Chicago im Jahr 1893, wo auch die Amazonen aus Dahomey auftraten oder, kritisch formuliert, vorgeführt wurden. Douglass wandte sich nun nicht gegen diese Form der Zur-Schau-Stellung kolonialer „Objekte“, sondern er sah in dem Auftreten der indigenen Afrikanerinnen eine Gefahr für das Image der Afroamerikaner: „We ought to celebrate it in a way that would reflect the highest credit upon the Negro in the eyes of assembled nations. We ought to do something to counteract the baneful influence of these West African savages who have been brought here to act the monkey. We ought to do something to show the progress, achievements, culture, musical genius and real position of the American Negro.“78

Diese Äußerungen wurden in den von Blyden beeinflussten Kreisen der Bildunsgelite in Westafrika kritisch gesehen. In dem am 30. September 1893 im Lagos Weekly Record erschienen Artikel „The American Negro“ wurde Douglass und die „amerikanischen Neger im allgemeinen“ darüber informiert, dass die Frauen aus Dahomey mit ihrer einfachen Kleidung und den unglücklichen Umständen ihres Auftritts zwar die Sticheleien ihrer „kultivierten Brüder im Exil“ hevorgerufen hätten – in Westafrika aber hätten sie eine Reputation als unangefochtene Vertreterinnen der Tapferkeit erworben, die sich durch Disziplin, Tapferkeit und unbeugsamen Mut auszeichneten. Sie könnten sich eines reichen und mächtigen Königreiches rühmen.79

76 Vgl. etwa Blyden, Edward Wilmot Mohammedanism in Western Africa, in: ders., Christianity, Islam and the Negro Race, 173–188. 77 Gilroy, Paul The Black Atlantic: modernity and double consciousness, Harvard 1993, 208. 78 Zitiert in: The American Negro, Lagos Weekly Record, 30.09. 1893. 79 The American Negro, Lagos Weekly Record, September 30.9.1893. Vgl. dazu auch Ludwig, Frieder, Religion und Geschichte in der afrikanischen und afro-amerikanischen Historiographie: Skizzierung einflussreicher Positionierungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Meyer-Blanck, Michael (Hrsg.), Geschichte und Gott (XV. Europäischer Kongress für Theologie), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2016, 980–995.

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3.3. Das Weltparlament der Religionen im Jahr 1893 Die bereits erwähnte Weltausstellung in Chicago im Jahr 1893, mit der die „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus vor 400 Jahren gefeiert werden sollte, bot den Rahmen für das Weltparlament der Religionen. Die Weltausstellung war bereits im Jahre 1890 vom US-Kongress beschlossen worden. Der Organisator der Weltausstellung, Charles Carroll Bonney, hatte die Idee eines Zusammentreffens von Vertretern verschiedener Religionsgemeinschaften und war in der Lage, dieses zu realiseren: Vom 11. bis zum 27. September 1893 trafen Repräsentantinnen und Repräsentanten der großen Weltreligionen zusammen – ein bis dato einmaliges Ereignis. Allerdings waren afrikanische Dialogansätze wie etwa derjenige Blydens dort nicht repräsentiert, und auch die Afro-Amerikaner waren nur mit zwei Rednern – Benjamin W. Arnett (1838–1906) und Frances „Fannie“ Barrier Williams (1855– 1944) – vertreten, wobei allerdings zahlreiche Mitglieder des Beirats der African Methodist Episcopal Church am Parlament teilnahmen.80 Die Ansprache von Fannie Williams wies Anklänge an Frederick Douglass Reden gegen den auch von Christen praktizierten Rassismus auf. In scharfer Weise griff sie die evangelikale Bewegung an: „It is a monstruous thing that nearly one-half of the so-called Evangelical churches of this country, those situated in the South, repudiate fellowship to every Christian man and woman who happens to be of African descent. The golden rule taught in the Christian Bible becomes in practice the iron rule of race hatred. Can religion help the American people to be consistent and to live up to all they profess and believe in their government and religion?“81 Auch muslimische Perspektiven waren beim Weltparlament marginal, denn der türkische Sultan Abdülhamid II. hatte diesen interreligiösen Gesprächsansatz nicht gutgeheißen und aus diesem Grund keinen Repräsentanten gesandt. So nahm als einziger Muslim Mohammed Webb (Alexander Russel Webb), ein ehemaliger Presbyterianer, an dem Kongress teil. Zudem wurde ein Brief des Muslim J. Sanua Abdou Nadarra über „The Koran and other Scriptures“ veröffentlicht.82 Indigenamerikanische („Indianische“) Religionen fanden ebenfalls kaum Berücksichti-

80 The African Methodist Episcopal Church Congress, in Barrows, John Henry, The World’s Parliament of Religions, Vol. II, Chicago 1893, 1394–1396, hier 1394: „In the Parliament of Religions this church was represented by a long list of members of the Advisory Council, and its representatives, Bishop Payne and Arnett, presided over two session of the Parliament. Preceding the regular sessions of the congress of the church, given under the auspices of the World’s Congress Auxiliary, a Missionary Congress was held on Tuesday, September 19th, continuing till Thursday the 21st. 81 Fannie Barrier Williams, What can religion further do to advance the condition of the American negro?, in: Barrows II, 1114–1115 82 Lüddeckens, Dorothea, Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2002, 195.

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gung – der einzige Beitrag, der sich mit ihnen befasste, wies religionsevolutionistische Züge auf.83 Es hat deshalb durchaus eine gewisse Berechtigung, das „Parlament der Religionen“ als eine in erster Linie christlich-protestantische Veranstaltung zu charakterisieren. Dies lässt sich auch daran illustrieren, dass die Versammlung zur Eröffnung den 100. Psalm intonierte und das (trinitarische) Glaubensbekenntnis sowie das Vaterunser sprach. 78 % aller Vorträge wurden von (überwiegend aus der anglo-amerikanischen Welt stammenden) Christen gehalten.84 Zielsetzung der Veranstalter war es, ein Bollwerk gegen den „Unglauben“ zu bilden. „Die ‚Goldene Regel‘ sollte die ethische Grundlage für ein gemeinsames, dem Wohl und Frieden der Menschheit dienendes globales Handeln sein.“85 Um den friedlichen Umgang zu wahren, gab es nach den Vorträgen keine offenen Diskussionsrunden. Nach Abschluss des Weltparlaments zogen die Veranstalter das Resümee, dass insgesamt doch dem Christentum der Fortschritt der Menschheit zuzuschreiben sei: „The Parliament has shown that Christianity is still the great quickener of humanity, that it is now educating those who do not accept its doctrines, that there is no teacher to be compared with Christ, and no Saviour excepting Christ. [...] The non-Christian world may give us valuable criticism and confirm scriptural truths and make excellent suggestion as to Christian improvement, but it has nothing to add to the Christian creed“86. Damit erfuhren andere Religionen zwar Wertschätzung, wurden letztlich aber der Endgültigkeit des christlichen Glaubens untergeordnet und inkludiert. Sie konnten als praeparatio evangelica dienen und im Christentum ihre Erfüllung finden, während sie – in dieser Perspektive jedenfalls – nichts zum christlichen Glauben beitragen konnten.87 Dieser inklusivistische Ansatz kam auch in den Beiträgen einiger asiatischer Teilnehmer zum Ausdruck. So begann Reverend Y. K. Yen seine Ausführungen mit

83 Fletcher, Alice C., The Religion of the North American Indians, in Barrows, 1078, 1079, hier 1079: „we discern the dawn of the nobler and gentler virtues, of mercy and its kindred graces.“ 84 Tworuschka, Udo, 1893–1993: Weltparlament der Religionen in Chicago, 11.–28. September 1893 Zuerst erschienen in: Kirste, Reinhard/Schwarzenau, Paul/Tworuschka, Udo (Hrsg.): Interreligiöser Dialog zwischen Tradition und Moderne. Religionen im Gespräch, Bd. 3 (RIG 3). Balve: Zimmermann 1994, 425–428. 85 Ebenfalls Tworuschka, zitiert in https://wendepunkte.wordpress.com/2012/06/09/ird3-weltparlament-der-religionen/ Mit der goldenen Regel ist der Grundsatz „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“ gemeint. 86 Barrows, Vol. II, 1893, 1581. 87 Goodpasture, H. Mc. 1993. „The World's Parliament of Religions Revisited: The Missionaries and Early Steps in Public Dialogue.“ Missiology: An International Review Vol. XXI, No. 4, October, 403–11, zitiert in http://people.bu.edu/wwildman/bce/worldparliamentofreligions1893.htm

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Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen

der Feststellung, dass die drei Religionen Chinas – Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus –, die unter dem Begriff „National Religion“ zusammengefasst werden könnten, eine sehr wichtige Funktion bei der Zivilisierung des Landes gespielt hätten: „Like the law of the Jews, though in a less degree, it has been a schoolmaster leading our people to Christ. The relation of Christianity to our National religion is the same as its relation to natural religion in general. It comes not to destroy but to fulfil.“88 Yen verwies auf Ausbildungsinitiativen wie etwa die der Morrison Education Society, die 1839 ihre erste Anglo-Chinesische Schule gegründet hatte, ebenso wie auf die Arbeit des „School and Text Books Committee“ der Missionary Conference von 1877, aus der mittlerweile über 193 Bände zu Physik und Metaphysik hervorgegangen seien. Der intellektuelle Benefit sei unschätzbar, die Graduierten der Missionsschulen hätten ihren Einfluss in allen Lebesbereichen geltend gemacht.89 Mit anderen Formen der interreligiösen Begegnung setzte sich der Beitrag Yens ebensowenig auseinander wie mit Kritik und Widerstand gegen das Christentum, dessen Ausbreitung ja auch durch die Niederlage Chinas im Ersten Opiumkrieg und den Vertrag von Nanking im Jahr 1842 bedingt war. Auch die Taiping-Bewegung, eine politische und religiöse Gruppierung, die die regierende Mandschu-Dynastie gegen Mitte des 19. Jahrhunderts (1850–1864) an den Rand des Zusammenbruchs brachte, fand keine Erwähnung. Die Führungskräfte der Taiping verstanden sich als christlich, und Ausgangspunkt war eine Vision des Gründers Hong Xiuqan im Jahr 1837. Der Aufstand wurde schließlich niedergeschlagen. Mit wahrscheinlich 20 bis 30 Millionen Toten war er wohl der opferreichste Bürgerkrieg der Geschichte.90 Auch dem Japaner Kozaki Hiromichi war der Beitrag des Christentums im Bildungswesen wichtig – In seiner Autobiographie schilderte er später, dass er aufgrund einer westlichen Ausbildung „for the sake of the nation“ Christ geworden sei.91 In seiner Rede vor dem Weltparlament führte er aus, dass das Christentum in Japan einen nicht-konfessionellen und liberalen Charakter habe und dass die Verhältnisbestimmung zum Nationalismus eine zentrale Frage sei. Dann setzte er einen deutlich gegen westliche Missionare gerichteten Akzent: „Japanese Christians will never be contented to work under missionary auspices. To be useful to

88 Rev. Y.K. Yen, What has Christianity done for the Chinese?, in Barrows, Vol. II, 1310– 1312, hier: 1311. 89 Rev. Y.K. Yen, What has Christianity done for the Chinese?, in Barrows, Vol. II, 1310– 1312. 90 Wagner, Rudolf G., Reenacting the Heavenly Vision: The Role of Religion in the Taiping Rebellion, (Berkeley, 1982); ders., Understanding Taiping Christian China, in: Koschorke, Klaus (Hrsg.), „Christen und Gewürze“, Göttingen, 1998, 132–157; Spence, Jonathan, God’s Chinese Son, London, 1996. 91 Hiromichi, Kozaki, Reminiscences of seventy years; the autobiography of a Japanese pastor, 1933, zitiert in: Judith Snodgrass, Presenting Japanese Buddhism to the West: Orientalism, Occidentalism and the Colombian Exposition, Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 2003.

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our country the missionaries must either cooperate with us or join native churches, and take their place side by side with native workers.“92 Die Kritik an westlichen Missionsunternehmungen war auch für die buddhistischen japanischen Teilnehmer des Weltparlaments, die Mönche Soyen Shaku (Zen), Ashitsu Jitsuzen (Tendai), Tori Horyu (Shingon) und Yatsubuchi Banryu (Jodo Shinshu) sowie die Laien Hirai Kinzo und Noguchi Zenshiro ein zentrales Thema. Dabei wurde gerade die Nichtbeachtung der Goldenen Regel durch westliche Missionare zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung. So schilderte Hirai Kinzo in drastischen Worten das unchristliche Verhalten der Christen in Japan. Seine Ausführungen verfehlten ihre Wirkung unter den Zuhörern nicht. Der Chicago Herald schrieb am 14. September 1893: „Loud applause followed many of his declarations, and a thousand cries of ‚Shame‘ were heard when he pointed to the wrongs which his countrymen had suffered through the practices of false Christianity. When he had finished, Dr. Barrows grasped his hand, and the Rev. Jenkin Lloyd-Jones threw his arm around his neck, while the audience cheered vociferously and waved hats and handkerchiefs in the excess of enthusiasm.“93 Zum wichtigsten Repräsentanten der japanischen Buddhisten in den USA wurde Soyen Shaku. Er hatte 1887 Ceylon, das heutige Sri Lanka, besucht, um Pali Sanskrit zu lernen und ein Buch über den Buddhismus zu schreiben. Er teilte die Lebensweise der ceylonesischen Buddhisten, lief barfuß mit seiner Almosenschale durch die Lande und aß mit den Fingern. Auch er erlebte die westlichen Missionare als arrogant.94 Für das Weltparlament der Religionen bereitete Soyen Shaku zwei Reden vor: „The Law of Cause and Effect, as Taught by Buddha“ und „Arbitration Instead of War.“ Diese wurden ins Englische übersetzt und in seiner Anwesen-

92 President Kozaki, Christianity in Japan: Its Present Condition and Future Prospects,, in: Barrows, John Henry, The World’s Parliament of Religions, Vol. II, Chicago 1893, 1012– 1o14; 1012. „Japanese Christians are essentially undenominational. You may see that the church which adopts Presbyterian forms of government refuses to b calles ‚Presbyterian‘ or „Reformed, and adopts the broad name „Itschi“, „the United“, but not content even with that broad name it has recently changed it to a still broader name „The Church of Christ in Japan“. „(…) While missionaries are both preaching and teaching the so-called orthodox doctrines, Japanese Christians are eagerly studying the most liberal theology … I believe that wit a small exception most of the Japanese pastors and evangelists are quite liberal in their theology …“ (S. 2014) „The first problem that comes under our notice is that of the relation between Christianity and our nationality, that is or national habit and spirit. And this cry against Christianity has become so popular among Buddhists, Shintoists and Reactionalists that thex make it one weapon of their attack against Christianity.“ 93 Payer, Aloys, Materialien zum Neobuddhismus. -- 2. International. -- 2. Das Weltparlament der Religionen in Chicago 1893. -- Fassung vom 2005–05–30. -- URL: http://www. payer.de/neobuddhismus/neobud0202.htm 94 Snodgrass, Judith, Presenting Japanese Buddhism to the West: Orientalism, Occidentalism and the Colombian Exposition, Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 2003

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heit von John Henry Barrows verlesen. Noch wichtiger als seine Reden war freilich die Begegnung mit Paul Carus, dem Eigentümer der Open Court Publishing Company. Carus entwickelte ein Interesse am Buddhismus. Er verfasste und veröffentlichte 1894 das Buch The Gospel of Buddha, das nach Vorbild des Neuen Testaments Buddhas Leben und Lehren mit Hilfe von Parabeln erläuterte. Soyen kehrte nach Japan zurück, wurde aber 1905 nach San Francisco eingeladen, wo er Vorlesungen über den Zen-Buddhismus hielt. Auch seine Schüler Nyogen Senzaki, Sokatsu Shaku und Suzuki Daisetsu Teitaro trugen zur Kenntnis des Zen in den USA bei.95 Vorausgegangen war der erfolgreichen Ausbreitung des Buddhismus seine Entdeckung durch die westliche Wissenschaft, die Angarika Dharmapala (1864–1933/ ursprünglich David Hewavitarana) aus Ceylon (Sri Lanka) auf dem Parlament vorstellte. Dharmapala war insbesondere nach einer Japan-Reise 1889 von der Idee der Verbindung der Buddhisten aller Nationen überzeugt und hatte im Jahr 1891 die Maha Bodhi Society, die erste buddhistische internationale Gesellschaft mit Mitgliedern in Siam, Japan, Ceylon und Burma ins Leben gerufen. 1892 gründete er die Zeitschrift The Maha Bodhi, in deren erster Ausgabe der Artikel „An United Buddhist World“ abgedruckt war. Die Einladung, beim Weltparlament der Religionen vorzutragen, erfolgte vor diesem Hintergrund.96 In seiner Eröffnungsrede stellte Dharmapala das Weltparlament der Religionen in den Zusammenhang der buddhistischen Geschichte. Das Weltparlament sei nur das Echo des Konzils, das Aśoka (253 oder 250 vor Christus in Pataliputra, der Hauptstadt des Maurya-Reiches), einberufen hatte, und dessen Ergebnis war, dass buddhistische Missionare in die Welt gesandt wurden. In der Tat gilt Aśoka (304–232 v. Chr.), der das Maurya-Reich von 268 bis 232 v. Chr. regierte, als erster indischer Herrscher, der unbestritten ethische Anliegen in die Politik einbrachte. Gleichzeitig förderte er den Buddhismus, freilich unter gleichzeitiger Respektierung auch anderer Lehren. Unter seiner Herrschaft fasste die Lehre auch in Sri Lanka Fuß. Die Buddhisten, die in die Welt geschickt worden waren, so fuhr Soyen Shaku fort, hätten Asien die edelsten Lehren der Toleranz und Milde gelehrt, und nun hätten sie begonnen, dieselbe Botschaft in den Westen zu bringen.97 Dharmapala wies besonders darauf hin, dass der Buddhismus kein Kastensystem kenne, die Gleichheit aller Menschen anerkenne und sich für den Frieden und auch für die Rechte der kleineren Nationen einsetze. In einer späteren Ansprache stellte er diese Haltung der Eigennützigkeit und Intoleranz der christlichen Missionare gegenüber:

95 Payer, a. a. O. 96 Lüddeckens, Dorothea, Das Weltparlament der Religionen von 1893. Strukturen interreligiöser Begegnung im 19. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2002, 71–77. 97 Payer, a. a. O.

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3. Konkretionen „Seeing the selfishness and intolerance of the missionary not an intelligent man will accept Christianity. Buddhism had its missionaries before Christianity was preached. It conquered all Asia and made the Mongolians mild. But the influence of Western civilization is undoing their work. It is left for you, this younger family of European nations, to change this. I warn you that if you want to establish Christianity in the East it can only be done on the principles of Christ’s love and meekness. Let the missionary study all religions; let them be a type of meekness and lowliness and they will find a welcome in all lands.“98

Auch andere Redner wie etwa der Jain Virchand Gandhi und der Hindu Swami Vivekananda teilten die negative Sicht auf die christliche Missionstätigkeit in Asien. Gandhi hatte den Eindruck gewonnen, dass fast alle orthodoxen Christen (gemeint sind die protestantischen und katholischen Missionare) die Hindus als Lügner betrachteten und sich die Menschen in ganz Indien vom Himalaya bis nach Ceylon alle möglichen Beleidigungen gefallen lassen müssten.99 Und Vivekananda stellte die Frage, weshalb Christen, denen die Entsendung der Missionare nach Indien so wichtig sei, um die Seelen der Heiden zu retten, nicht auch versuchen könnten, deren Körper vor dem Hungertod zu bewahren.100 Vivekananda ist bis heute als eine, wenn nicht die zentrale Figur des Weltparlaments der Religionen in Erinnerung geblieben – auch, weil mit ihm der Beginn einer hinduistischen Missionstätigkeit im Westen verbunden wird. In der Tat unternahm er im Anschluss an das Treffen von Chicago regelrechte Missionsreisen, die auch erfolgreich waren. Anders aber als Dharmapala, der in seiner Ansprache im Parlament durchaus für den Buddhismus werben wollte, lassen sich in Vivevkanandas Ausführungen in Chicago im September 1893 keine Anzeichen für das Ziel einer Misison im Sinne einer Konversion finden. Vielmehr wandte er sich ausdrücklich gegen das Konvertieren von der einen zur anderen Religion und setzte sich für Toleranz und religiösen Pluralismus ein.101 Zur Illustration zog er die folgende, sehr einprägsame Geschichte heran: Ein Frosch lebte in einem Brunnen, in dem er geboren und aufgewachsen war. Es war ein kleiner und unbedeutender Frosch. Nun kam eines Tages ein anderer Frosch, der im Meer gelebt hatte, und fiel in den Brunnen. „Woher kommst du?“ fragte der Frosch im Brunnen. „Ich komme aus dem Meer“, sagte der andere Frosch.

98 Address of Mr. H. Dharmapala, of Ceylon, Buddhist, in Barrows, Vol. II, 1093 99 Virchand Gandhi, a Gandhi before Gandhi, in http://www.herenow4u.net/index.php?id= 80894 100 Religion not the crying need of India, 20th September, 1893: „You Christians, who are so fond of sending out missionaries to save the soul of the heathen – why do you not try to save their bodies from starvation?“ 101 Judith Snodgrass, Presenting Japanese Buddhism to the West: Orientalism, Occidentalism and the Colombian Exposition, Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 2003.

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Das Christentum im Kontext anderer Weltreligionen

„Das Meer, wie groß ist das? Ist es so groß wie mein Brunnen?“ fragte der Frosch im Brunnen, und er machte einen Satz von der einen Seite des Brunnens auf die andere. „Mein Freund“, sagte der Frosch aus dem Meer, „wie kannst du das Meer mit deinem kleinen Brunnen vergleichen?“ Da machte der Frosch im Brunnen einen zweiten Sprung und fragte: „Ist dein Meer so groß?“ – „Was sagst du da für einen Unsinn und vergleichst das Meer mit deinem Brunnen!“ sagte der Frosch aus dem Meer. „Nun denn“, sagte der Brunnenfrosch, „nichts kann größer sein als mein Brunnen. Es kann nichts Größeres geben als dies. Dieser Kerl ist ein Lügner. Werft ihn hinaus!“102 „Ich bin ein Hindu“, so die Folgerung Vivekanandas. „Ich sitze in meinem eigenen kleinen Brunnen und denke, dass die ganze Welt mein kleiner Brunnen ist. Der Christ sitzt in seinem kleinen Brunnen und denkt, die ganze Welt sei in diesem Brunnen. Der Muslim („Mohammedan“) sitzt in seinem kleinen Brunnen und denkt, das sei die ganze Welt.“ Er schloss mit einem Dank an Amerika für den Versuch, die Grenzen unserer kleinen Welt einzureißen und gab der Hoffnung Ausdruck, dass Gott helfen werde, dieses Ziel zu erreichen.103 Damit waren durch das Weltparlament der Religionen in Chicago 1893 die klassischen Verhältnisbestimmungen der Religionsgemeinschaften artikuliert worden, die bis heute grundlegend sind: Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus. Der Exklusivismus, also die Vorstellung, dass die eigene Religion die einzig wahre, richtige oder heilbringende sei und andere Religionen oder Glaubensrichtungen keinen Anteil an der Wahrheit oder zumindest an heilsentscheidenden Wahrheiten haben, wurde auf dem Parlament weitgehend negativ konturiert. Der christliche Absolutheitsanspruch mit westlichen Hegemoniebestrebungen und westlicher Arroganz in Verbindung gebracht und von den meisten Teilnehmern abgelehnt. Im Unterschied dazu schien, wie oben ausgeführt, der Inklusivismus ein Lösungsansatz zu sein, mit dem sich die Existenz anderer Religionen mit dem Missionsanliegen des Christentums mehr oder weniger harmonisch verbinden ließ: Die Überzeugung, dass auch andere Religionen Heilsbedeutsamkeit besitzen können, dass aber diese Heilsbedeutsamkeit erst in der eigenen Religion zu ihrer vollen Entfaltung und Bedeutung gelangt, prägte die Veranstalter bei ihrer Konzeption des Parlaments. Der Pluralismus, der verschiedene Religionen als prinzipiell gleichwertige Wege anerkennt, war demgegenüber auf dem Parlament eher eine Minderheitenposition, fand aber auch aufgrund der eingängigen Darstellung Vivekanandas später zahlreiche Anhänger.104

102 Vivekananda, Swami, Why We Disagree, 15. Sep. 1893 Übersetzung nach: http://www. cobetras.com/allgemein/der-frosch-im-brunnen/ 103 Ebd., Übersetzung FL. 104 Vgl. dazu auch Seager, Richard Hughes, The Dawn of Religious Pluralism. Voices from the World’s Parliament of Religions, 1893, La Salle 1993.

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Literatur

Die Klassifikation der interreligiösen Beziehungen in diese drei Kategorien hat eine unmittelbar einleuchtende Systematisierungskraft. Daher wird diese Einteilung auch heute noch weitgehend zugrunde gelegt, auch wenn weitergehende Differenzierungen vorgeschlagen werden.105 Diese sind freilich auch deshalb notwendig, weil seit dem Jahr 1893 in Chicago der Missionsanspruch verschiedener Religionen zueinander in Beziehung zu setzen ist.

Literatur Brown, Judith M. (Hrsg.), Christians, Cultural Interactions and India’s Religious Traditions, Grand Rapids 2002. Burlacioiu, Ciprian D. und Hermann, Adrian (Hrsg.), Veränderte Landkarten. Auf dem Weg zu einer polyzentrischen Geschichte des Weltchristentums. FS Klaus Koschorke, Wiesbaden 2013. Castro Varela, María do Mar und Dhawan, Nikita, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung (Cultural Studies 36), Bielefeld 2015. Chidester, David, Savage Systems. Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville 1996. Conrad, Sebastian und Randeria, Shalini (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, 2. erw. Aufl., Frankfurt am Main 2013. Conrad, Sebastian/Eckert, Andreas/Freitag, Ulrike (Hrsg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen (Globalgeschichte 1), Frankfurt a. M. 2007. Frykenberg, Robert E., Christianity in India. From Beginnings to the Present, Oxford 2008. Green, Nile, Terrains of Exchange. Religious Economies of Global Islam, Oxford 2015. Halbfass, Wilhelm, Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel 1981. Koschorke, Klaus (Hrsg.), „Christen und Gewürze“. Konfrontation und Interaktion kolonialer und indigener Christentumsvarianten (Studien zur außereuropäischen Christentumsgeschichte 1), Göttingen 1998. Ludwig, Frieder u. a., European Traditions in the Study of Religion in Africa, Wiesbaden 2004. Masuzawa, Tomoko, The Invention of World Religions, or, how European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism, Chicago 2005. Peel, John D. Y., Religious Encounter and the Making of the Yoruba, Bloomington 2003. Schröder, Ulrike, Religion, Kaste und Ritual. Christliche Mission und tamilischer Hinduismus in Südindien im 19. Jahrhundert (Neue Hallesche Berichte 8), Halle (Saale) 2009.

105 Grünschloß, Andreas, Der eigene und der fremde Glaube, Tübingen 1999, 17.

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REFLEXION

UND

AUSBLICK

Hugh McLeod

Im Jahr 1789, am Vorabend der Französischen Revolution, war die „Christenheit“ noch die Realität, in der die meisten Christen wie selbstverständlich lebten. 1914, an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg, war bereits klar, dass im 20. Jahrhundert der Pluralismus der Religionen das Normale sein würde. Die konfessionelle Vielfalt machte es in immer mehr traditionell christlichen Ländern schwierig zu sagen, dass ein einzelner Zweig des Christentums die Oberhand über die anderen hatte. In fast allen diesen Ländern gab es mittlerweile auch einen erheblichen Anteil von Säkularisten oder Skeptikern, und in einigen wenigen Ländern wie Frankreich oder Mexiko hatten sie bereits dominanten Einfluss auf die Politik gewonnen. In Afrika verbreitete sich das Christentum, aber ebenso der Islam, und beide standen in Konkurrenz zu traditionellen afrikanischen Religionen. Auch in einigen Teilen Asiens etablierte sich das Christentum zusehends, aber es war ein relativer Neuling in einem Umfeld, in dem andere Religionen lange schon tief verwurzelt waren. Die Christen standen also vor neuen Problemen, während zugleich die Lösung der älteren immer dringlicher wurde. Da stellte sich die Frage nach der Beziehung des Christentums zu den anderen Religionen, vor allem zu den anderen Weltreligionen. Es kam die Frage auf, wie die vielen Zweige des Christentums miteinander umgehen sollten. Es stellte sich die Frage, was die Christen angesichts der antichristlichen politischen Bewegungen und Regierungen unternehmen sollten – sie wurde zu einer der bedrängendsten Fragen für die Kirchen im 20. Jahrhundert. Und immer noch war die Frage ungelöst, wie sich das Christentum als universalistische Religion, deren Mitglieder „nicht Jude noch Grieche“ sein sollten, gegenüber den Ansprüchen der verschiedenen Formen des Nationalismus zu verhalten hätte. Diese spielten in der Geschichte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle, die im 20. Jahrhundert noch gewichtiger wurde. In den eineinviertel Jahrhunderten zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg war das Aufbegehren gegen die völlig durchstrukturierte hierarchische Gesellschaft des Ancien Régime das beherrschende Thema der europäischen Politik – ebenso wie die Forderung nach vollen politischen und sozialen Rechten. Zuerst wurde die Forderung vom Bürgertum erhoben, dann von den ethnischen und religiösen Minderheiten, schließlich von den Bauern, den Arbeitern und den Frauen. Wie in den vorangegangenen Beiträgen deutlich wurde, richtete sich dieses Aufbegehren oft gegen die Staatskirchen als Hüter der alten Ordnung und fand sei-

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Reflexion und Ausblick

nen Ausdruck in neuen Gemeinschaften religiös Andersdenkender, manchmal auch in neuen Religionen oder eben im Säkularismus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Antiklerikalismus sowohl in Europa als auch in Lateinamerika eine wachsende politische Kraft, und noch wichtiger war seit den 1890er Jahren die immer stärker werdende sozialistische Bewegung, die häufig antiklerikal und gelegentlich auch antichristlich in Erscheinung trat. Die Bewegungen für die Emanzipation der Frauen stellten potenziell ebenfalls eine grundlegende Herausforderung an die Staatskirchen dar, weil die katholischen, orthodoxen, lutherischen, reformierten und anglikanischen Staatskirchen – unabhängig von ihren Ansichten über die Bildung und politischen Rechte von Frauen – sich im Blick auf eine Sache einig waren: den Ausschluss der Frauen vom geistlichen Amt.

I Unter all diesen Problemen war 1914 keines bedrängender als die Frage des Nationalismus und die Ansprüche einer Nation an ihr Volk. Am 28. Juni 1914 ermordete Gavrilo Princip (1894–1918), ein bosnischer Serbe, den österreichisch-ungarischen Thronfolger und seine Frau und löste damit die schreckliche Folge von Ereignissen aus, die ungefähr acht Millionen Menschen im „Großen Krieg“ den Tod brachte. Princips Familie gehörte der serbisch-orthodoxen Kirche an; seine Opfer waren Katholiken. Aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass Princips Nationalismus besonders von der Religion befeuert wurde. Er träumte von einem Jugoslawien unter serbischer Führung, das Orthodoxe, Katholiken und Muslime zusammenbrachte und sie kraft ihrer südslawischen Nationalität einigte. Als im Jahr 1918 dieser Traum zur politischen Realität wurde, sahen viele in Princip, der im Gefängnis gestorben war, einen Helden und einen Märtyrer für die Sache. Princip und seine Mitverschwörer, von denen einer ein Muslim war, gaben einen ersten Fingerzeig auf die Nationalismen des 20. Jahrhunderts, die die religiösen Unterschiede beiseitezuschieben versuchten und das Volk als eine Einheit proklamierten (das sie in manchen Fällen als „Rasse“ definierten). Der Erste Weltkrieg wurde zwischen zwei rivalisierenden Allianzen ausgefochten, die beide jeweils Länder mit sehr unterschiedlichen religiösen Traditionen zusammenbrachten. Trotzdem hatte der Krieg, wie Michael Snape anhand lokaler Untersuchungen zeigt, eine religiöse Dimension – vor allem im Osmanischen Reich, wo die Alliierten als Befreier der christlichen Minderheiten auftraten.1 Au-

1 Snape, Michael, The Great War, in: McLeod, Hugh (Hrsg.), Cambridge History of Christianity, Bd. IX: World Christianities c.1914–c.2000, Cambridge 2006, 143f.

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ßerdem spielte die Religion oft eine wesentliche Rolle bei der Motivation Einzelner und in der Rhetorik zur Unterstützung der nationalen Sache. Beide Seiten glaubten im Ersten Weltkrieg, dass es sich um einen gerechten Krieg handle und Gott auf ihrer Seite stehe; Politiker und Presse verkündeten diese Botschaft ebenso wie die Vertreter der Religionen. Viele von denen, die im Krieg starben, waren davon überzeugt, dass der Kampf und nötigenfalls der Tod für das „Vaterland“ eine christliche Pflicht sei. Es gab aber auch Christen aller Konfessionen, die ihr Ideal im Frieden sahen und bereit waren, dafür zu arbeiten – trotz des alles durchdringenden Militarismus und Imperialismus in der europäischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts. Seit 1908 trafen sich britische und deutsche Kirchenmänner regelmäßig zum Austausch, woraus eine Reihe von Konferenzen zur „internationalen Freundschaftsarbeit der Kirchen“ hervorging. Eine dieser Konferenzen fand im August 1914 in Konstanz statt, als der Krieg gerade ausbrach. Doch als die Delegierten nach Hause kamen, waren viele von ihnen, wahrscheinlich sogar die meisten, überzeugt, dass ihre eigene Nation im Recht war, wenn sie in den Krieg zog. Selbst jene Geistlichen, die sich als Männer des Friedens betrachteten und die militanteren Formen des Nationalismus ablehnten, kamen in der Mehrheit der Fälle zu dem Schluss, dass dieser Krieg gerechtfertigt war. Zunehmend beteiligten sich jedoch Christen an Antikriegsbewegungen – was zu einem wichtigen Thema der weiteren christlichen Geschichte des 20. Jahrhunderts wurde. Manche vertraten dabei einen strikt pazifistischen Standpunkt, andere hatten spezifischere Einwände gegen bestimmte Kriege. Doch die christlichen Friedensbewegungen wuchsen nur langsam und ungleichmäßig. In Großbritannien wurde im Jahr 1916 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, aber im Anschluss daran auch die Möglichkeit einer „Verweigerung aus Gewissensgründen“ eingeräumt – nach einigem Bedenken, wie man mit denen umgehen sollte, die sich weigerten zu kämpfen. Einen großen Anteil an den Verweigerern hatten die Sozialisten und die Mitglieder einer der Freikirchen. Es existiert keine genaue Statistik, aber zumeist wird von 16 000 gesprochen.2 Natürlich war die Anzahl der Verweigerer gering im Vergleich zu den Millionen, die – bereitwillig oder widerwillig – zu den Streitkräften gingen. In den Jahren zwischen 1914 und 1918 war die eindringlichste Stimme für den Frieden diejenige von Papst Benedikt XV. (Amtszeit 1914–1922). Er war kurz nach Kriegsbeginn gewählt worden und wurde zu einem unermüdlichen Werber für den Frieden, auch wenn seine Initiativen in den folgenden Jahren allesamt fehlschlugen. Er gab große Summen für die Hungerhilfe und für eine bessere Unterbringung der Kriegsgefangenen aus – und brachte damit laut John F. Pollard „den Vatikan an den Rand des Bankrotts“.3 Doch seine erklärte Neutralität traf auf die Skepsis beider Seiten, und seine

2 Rae, John, Conscience and Politics. The British Government and the Conscientious Objector to Military Service 1916–1919, Oxford 1970, 71. 3 Pollard, John F., The Unknown Pope. Benedict XV (1914–1922) and the Pursuit of Peace, London 1999, 116.

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Appelle zur Beendigung des Krieges auf dem Verhandlungsweg, die ihren Höhepunkt in der „Friedensnote“ vom August 1917 hatten, wurden zurückgewiesen. Trotz der Vorbehalte des Papstes und vieler orthodoxer Patriarchen wurden die katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen mittlerweile eng mit der Nation identifiziert, auch wenn in Ländern wie Frankreich oder Deutschland der Nationalismus oft eher säkulare Formen annahm. Doch niemand identifizierte sich im Ersten Weltkrieg rückhaltloser mit der nationalen Sache als die evangelischen Landeskirchen in Deutschland. In ihrer Erbitterung über die Niederlage, die hinfort als „Trauma von 1918/19“4 bezeichnet wurde, glaubten viele deutsche Protestanten, dass sie einen „Dolchstoß von hinten“ seitens unpatriotischer Landsleute erlitten hätten. Viele von ihnen übernahmen in den 1920er Jahren die damals in Mode gekommene Theologie der „Schöpfungsordnung“, der zufolge jeder Mensch zu einem bestimmten „Volk“, einem „Vaterland“ und einer „Rasse“ gehöre, welche allesamt als Gaben Gottes anzusehen seien. So war das Feld gut bestellt für den Empfang, den viele deutsche Protestanten in der Krise der 1930er Jahre Adolf Hitler bereiteten. Der Antisemitismus war nur einer der Gründe dafür, dass Hitler willkommen geheißen wurde, und er stand weniger im Vordergrund als der militante Nationalismus und die Angst vor dem Kommunismus. Doch ließ sich der Antisemitismus ohne Weiteres mit diesen grundlegenderen Regungen verbinden. Wie der erste Beitrag in diesem Band zeigt, war Antisemitismus bereits im 19. Jahrhundert ein wesentliches Element der nationalistischen und antisozialistischen Politik in manchen Teilen Europas. Am erfolgreichsten bei den Wählern war die Christlichsoziale Partei in Österreich. Und auch wenn der Antisemitismus ihres Gründers Karl Lueger im Vergleich zu den Verhältnissen in den 1920er und 1930er Jahren noch sehr zurückhaltend in Erscheinung trat, sollte man sich daran erinnern, dass der Bürgermeister von Wien – neben Georg von Schönerer, dem Ideologen der Alldeutschen Vereinigung – Hitlers erster politischer Held war. Unterdessen hatte in Frankreich in den 1890er Jahren die Dreyfus-Affäre zu einer Flut von Beschimpfungen von Juden durch Politiker und Presse geführt. Wie in Österreich verband sich auch hier eine explizit katholische Spielart des Antisemitismus mit einem Nationalismus, der überhaupt nicht religiös oder sogar antireligiös war. Direkte Gewalt gegen Juden war zu dieser Zeit ein Phänomen, das hauptsächlich im Russischen Reich zu beobachten war. Die erste große Welle von Pogromen in den Jahren 1881/ 1882 im Gefolge der Ermordung von Zar Alexander II. löste eine Massenauswanderung russischer und polnischer Juden in die Vereinigten Staaten aus. Eine weitere Welle von Angriffen während der Revolutionen von 1905/1906 forderte um die 3 000 Menschenleben, die meisten davon in Odessa. Sie wurde zum Teil ins Rollen

4 Gailus, Manfred, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001, 424, 450.

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gebracht vom ultranationalistischen Bund des russischen Volkes, der einige orthodoxe Bischöfe und Gemeindepriester als Mitglieder hatte und der die Juden beschuldigte, die Anführer der revolutionären Bewegung zu sein. Die Entwicklung des Christentums im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verlief in zwei Richtungen: Einerseits gewannen die Kirchen neue Anhänger in Gegenden der Welt, in denen zuvor andere Religionen das Feld beherrscht hatten, andererseits verlor das Christentum dort an Boden, wo es über Jahrhunderte seine Hochburgen hatte. In Europa und auf dem amerikanischen Doppelkontinent waren die Probleme, denen das Christentum im 20. Jahrhundert nicht mehr ausweichen konnte, spätestens seit der Französischen Revolution offenkundig. Es waren, wie man zusammenfassend sagen könnte, Probleme intellektueller, politischer und sozialer Art. Die Folgen der intellektuellen Entwicklungen (vor allem des Darwinismus und der Bibelkritik) sowie die des sozialen Wandels (besonders jene, die sich im Städtewachstum niederschlugen) waren für jeden denkenden Christen gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur allzu offensichtlich und sind schon umfassend beschrieben worden. Mindestens ebenso bedeutsam waren dann die politischen Probleme im 20. Jahrhundert, auch wenn diese im Jahr 1914 noch niemandem so klar vor Augen standen. Die Pariser Kommune von 1871 bot einen kurzen Vorgeschmack auf die antichristliche Gewalt, die im 20. Jahrhundert zur Normalität wurde. Im frühen 20. Jahrhundert gab es schon diverse Hinweise auf das, was in den 1920er und 1930er Jahren schließlich brutale Wirklichkeit wurde. Die wachsende Stärke des europäischen Antiklerikalismus kündigte sich an mit der Trennung von Kirche und Staat: in Frankreich im Jahr 1905 und in Portugal im Jahr 1911. Viele andere Länder schlossen sich in den folgenden Jahren an, beispielsweise Russland 1918 und Spanien 1931. Auf die Revolution im Jahr 1910 in Mexiko folgten Angriffe auf die Kirchen und 1917 die Inkraftsetzung einer streng säkularen Verfassung. Ein weiteres Vorzeichen der 1920er und 1930er Jahre war der militante Atheismus vieler Sozialisten. Vor 1917 waren die Sozialisten überall in der Minderheit und übten bestenfalls auf lokaler Ebene politische Macht aus. Doch die bolschewistische Revolution, das ausschlaggebende Ereignis des 20. Jahrhunderts, markierte gleichzeitig den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte des Christentums. Zu ihr gehörten die Tötungen tausender katholischer Priester im Spanischen Bürgerkrieg, aber auch einer kleineren Zahl lutherischer Geistlicher im Finnischen Bürgerkrieg sowie ein ausgedehntes, systematisches und oft gewalttätiges Programm der Verfolgung der Religionen in der Sowjetunion, das sich gegen Juden und Muslime ebenso richtete wie gegen die christliche Mehrheit. Die sozialistischen und später kommunistischen Anfeindungen gegen die christlichen Kirchen oder auch gegen die Religion im Allgemeinen waren ganz offensichtlich eine Reaktion auf deren Ablehnung des Sozialismus und häufig auch auf den allgemeinen politischen Konservatismus vieler Kirchen. Dieser zeigte sich vor allem bei jenen Kirchen, die historische Verbindungen mit dem Staat eingegangen waren. Zwar gab es in den meisten dieser Kirchen auch Geistliche, die aufgrund

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ihrer pastoralen Erfahrungen in verarmten Arbeitergemeinden zum Sozialismus tendierten, aber die kirchlichen Vorgesetzten taten normalerweise ihr Bestes, um ihnen den Weg zu versperren. In Russland formierte sich im Revolutionsjahr 1905 unter den Geistlichen von St. Petersburg eine Gruppe von Erneuerern, die forderte, dass die Geistlichkeit sich mit der Sache der Arbeiter identifizierte; sie trat aber auch für Kirchenreformen ein, etwa für den Gebrauch des modernen Russisch anstelle des Altkirchenslawisch in der Liturgie. Wie Christian Gottlieb in seinem Beitrag festhält, wurden einige Priester als Abgeordnete der Linken in die Duma gewählt, obwohl die Regierung der Geistlichkeit im Jahr 1907 verboten hatte, linken Parteien beizutreten. Manche von ihnen wurden auch von ihren Bischöfen gemaßregelt.5 Einige dieser Priester tauchten in den 1920er Jahren wieder als Unterstützer der Lebendigen Kirche auf. In den englischsprachigen Ländern war das Verhältnis von Politik und Religion im Allgemeinen kompliziert – aufgrund des hohen Maßes an religiösem Pluralismus, aufgrund der Tatsache, dass die meisten Katholiken der Arbeiterklasse angehörten und aufgrund des starken Einflusses der Social-Gospel-Bewegung auf manche protestantischen Kirchen. Natürlich gab es atheistische Sozialisten in diesen Ländern, aber die religiöse Zusammensetzung des Sozialismus war viel uneinheitlicher als in vielen Teilen Kontinentaleuropas. Die Katholiken tendierten in Großbritannien und Australien in Richtung der Labour Party, und in Kanada gewann der christliche Sozialismus beträchtlichen Rückhalt unter den Methodisten. Aber die sozialistischen Angriffe auf Christentum und Judentum hatten noch eine andere Dimension. In Europa und Amerika waren im 19. Jahrhundert viele neue Religionen aufgekommen, beispielsweise Positivismus, Spiritismus und Theosophie, ganz zu schweigen von der religiösen Verehrung von Kunst und Musik, die besonders in Deutschland verbreitet war, wo etwa der Kult um Goethe, Beethoven und Wagner blühte. Dagegen war das 20. Jahrhundert die Ära der „politischen Religionen“, unter denen der Sozialismus die größte war. Seit den 1880er Jahren hatte der Sozialismus massenhaft Anhänger in der Arbeiterklasse gewonnen. Vielen Bekehrten bot er eine völlig neue Weltsicht, und zwar eine, die bewusst jeder Religion und Philosophie entgegengesetzt war. Das war besonders dort der Fall, wo, wie in Deutschland, der Einfluss von Karl Marx vorherrschend war. Viele der deutschen Sozialdemokraten verschmolzen Darwin und Marx – Naturwissenschaft und Gesellschaftswissenschaft – zu einer Synthese, und daraus entstand eine dominante Orthodoxie, die zuerst den Menschen in der Sowjetunion und später in anderen kommunistischen Staaten aufgezwungen wurde.6

5 Vgl. auch Herrlinger, Page, Working Souls. Russian Orthodoxy and Factory Labor in St Petersburg 1881–1917, Bloomington, IN 2007, 184f, 196. 6 Schmidt-Lux, Thomas, Wissenschaft als Religion. Szientismus im ostdeutschen Säkularisierungsprozess, Würzburg 2008, analysiert den außergewöhnlichen Erfolg dieses Programms in Ostdeutschland.

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Um 1900 war den meisten Geistlichen klar, dass die Vertreter der Arbeiterklasse berechtigte Klagen vorbrachten, auf die nicht angemessen reagiert wurde (auch wenn die meisten Geistlichen darauf beharrten, dass der Sozialismus nicht die richtige Antwort sei). Aber die Forderungen der Frauen nach sozialer, politischer und religiöser Gleichheit stellten die großen Kirchen vor weitere grundsätzliche Probleme, denn viele Geistliche erkannten keineswegs, dass es sich um ein echtes Problem handelte: Die Rollen von Frauen und Männern seien komplementär und gleichermaßen wertvoll, aber ihrem Wesen nach verschieden. Die meisten Geistlichen glaubten außerdem, dass es in der Schrift oder Tradition keine Grundlage dafür gebe, Frauen zu Priesterinnen zu weihen oder ihnen die seelsorgliche Verantwortung für eine Pfarrei oder Gemeinde zu übertragen. Im frühen 20. Jahrhundert wurden solche Annahmen auf breiter Front in Frage gestellt – die Vereinigten Staaten übernahmen hier eine Vorreiterrolle. Seit den 1830er und 1840er Jahren erhielten Frauen dort Zugang zu höherer Bildung, wobei das erste gemischtgeschlechtliche College das evangelikale Oberlin-College war, das sich auch militant gegen die Sklaverei einsetzte. Die ersten, die Frauen zur Wahl zuließen, waren einige der westlichen amerikanischen Staaten und die britischen Siedlerkolonien. Das erste Land, das dies auf nationaler Ebene tat, war Neuseeland im Jahr 1893. In den meisten Ländern Europas und in den Vereinigten Staaten wurde Frauen im Ersten Weltkrieg oder direkt danach das Wahlrecht zugestanden. Wie im ersten Beitrag in diesem Buch erwähnt wurde, gab es im 19. Jahrhundert Frauen in Führungspositionen bei den Quäkern, Offizierinnen bei der Heilsarmee und lokale Predigerinnen bei den Primitive Methodists oder bei der Bible Christian Church, hauptsächlich in Großbritannien und den Vereinigten Staaten; und seit den 1860er Jahren wuchs die Zahl der Protestantinnen, die Missionarinnen wurden, stetig. Zugleich durften sie weiterhin in den meisten größeren Konfessionen keine Geistlichen werden. Auch in diesem Fall kamen die Pionierinnen aus Amerika: 1853 wurde Antoinette Brown (1825–1921) zur Pfarrerin einer kongregationalistischen Gemeinde in South Butler im Staat New York ordiniert. Im protestantischen Europa wurden Frauenpredigt und Frauenordination erst im frühen 20. Jahrhundert ein Thema für die größeren Konfessionen. In England waren die Vorreiter in Sachen Frauenordination die Unitarier (1904) und die Kongregationalisten (1917), in den Niederlanden die Mennoniten (1911) und die Remonstranten (1915). Die erste Staatskirche, die Frauen ordinierte, war die Reformierte Kirche in Zürich (1918).7 Das Recht, als Wählerinnen und Kandidatinnen an Synodalwahlen protestantischer Kirchen teilzunehmen, erhielten Frauen zumeist ungefähr zur selben Zeit –

7 Allerdings erhielten die beiden damals ordinierten Frauen lediglich eingeschränkte Positionen als Gemeindehelferinnen. Vgl. Aerne, Peter, „Die dagegensprechenden Argumente sind nur gefühlsmässiger Art und aus der Tradition erwachsen“. Der lange Marsch der Frauen ins Pfarramt, in: Argovia – Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau 116 (2004), 35–74. Ich bedanke mich bei Christina Caprez für diesen Hinweis.

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nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – wie das Recht, nationale Parlamente zu wählen und in diese Parlamente gewählt zu werden. Aber auf ihre Ordination zu Geistlichen mussten die Frauen in den meisten Nationalkirchen bis nach dem Zweiten Weltkrieg warten, und in den katholischen und orthodoxen Kirchen blieb es bei der klaren Unterscheidung zwischen einer den Männern vorbehaltenen Priesterschaft und den „gleich wichtigen“, aber weniger glanzvollen und mit weniger Macht ausgestatteten Rollen, die für Frauen offen sind.

II 1910 lag die ökumenische Revolution der 1960er Jahre noch weit in der Zukunft. Zwar hatten sich manche Anglikaner schon auf eine eventuelle Wiedervereinigung mit Rom gefreut, doch wurde ihr Ansinnen im Jahr 1896 vom Vatikan entschieden zurückgewiesen mit der Erklärung, dass die anglikanischen Weihen „null und nichtig“ seien. Zur selben Zeit erlebten die Katholiken, wie Margaret Bendroth mit Blick auf die Vereinigten Staaten gezeigt hat, in protestantisch dominierten Ländern immer wieder Anfeindungen und Diskriminierung. Sicher zielten die missionarischen Unternehmungen von Katholiken, Protestanten und Orthodoxen auf die Bekehrung von Nichtchristen oder auf die Wiedererweckung des Glaubens der religiös Gleichgültigen, nicht aber auf die Missionierung von Mitgliedern anderer christlicher Konfessionen. Doch es gab Ausnahmen wie etwa die missionarischen Aktivitäten von Baptisten im Russischen Reich nach der Erklärung der Religionsfreiheit im Jahr 1905. Das wichtigste Beispiel einer solchen erfolgreichen Missionierung im 20. Jahrhundert aber war die Bekehrung von Millionen ehemals katholischer Lateinamerikaner zum Protestantismus; die aber hatte am Vorabend des Ersten Weltkriegs noch kaum begonnen. Die erfolgreichsten unter den protestantischen Missionaren wurden die Pfingstkirchler, deren erste Prediger sich in Chile und Brasilien 1909 und 1910 niederließen. Seit dem späten 19. Jahrhundert verstärkten sich die Bemühungen unter Protestanten, über nationale und konfessionelle Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Wegbereiterin dafür war die Young Men’s Christian Association (YMCA), die 1844 in London gegründet wurde; ihr folgte die Young Women’s Christian Association (YWCA). Beide wurden bald in die Vereinigten Staaten importiert, wo sie ihre größte Wirkung erzielten, und von dort aus verbreiteten sie sich über die ganze Welt und vermittelten einen überkonfessionellen Protestantismus, der ursprünglich stark evangelikal, dann aber zunehmend vom Liberalismus und vom Social Gospel beeinflusst war, verbunden mit einem beständigen Einsatz für das „Muskulöse Christentum“. Die World Student Christian Federation (in deutschsprachigen Ländern unter dem Namen „Christlicher Studenten-Weltbund“ bekannt), gegründet

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im Jahr 1895, wurde zum Übungsgelände für eine internationale Elite zukünftiger protestantischer Führungspersönlichkeiten. Zu ihnen gehörten der amerikanische Methodist John R. Mott (1865–1955), der spätere anglikanische Bischof George Bell (1883–1958) und der schwedische Lutheraner Nathan Söderblom (1866–1931). Die Missionsarbeit bot häufig Gelegenheit für Entwicklungsfortschritte, die im Heimatland schwerer durchzusetzen waren, sei es in der interkonfessionellen Zusammenarbeit oder bei der Schaffung von markanteren Arbeitsfeldern für Frauen. 1910 legte dann die Erste Weltmissionskonferenz in Edinburgh den Grundstein für die ökumenische Bewegung des 20. Jahrhunderts. Ihre Anfänge waren rein protestantisch, aber zunehmend beteiligten sich auch orthodoxe Vertreter, und seit den 1960er Jahren kam es zu vermehrten Kontakten mit der Römisch-Katholischen Kirche. Die größten Schlachten aber fanden zunehmend innerhalb der Konfessionen statt, nicht zwischen ihnen. Die Katholische Kirche erlebte in der Amtszeit von Pius X., wie Andreas Holzem detailliert beschrieben hat, eine massive Kampagne des Vatikans gegen die modernistische Bewegung – bis hin zur Verpflichtung des Klerus im Jahr 1910, einen Antimodernisten-Eid abzulegen. Doch die Anfragen der Modernisten, vor allem hinsichtlich der kritischen Bibelwissenschaft, waren damit nicht erledigt. Zudem führten die extremen Maßnahmen, die Pius X. und seine Funktionäre verhängten, sogar bei jenen zu negativen Reaktionen, die sich selbst gar nicht als Modernisten sahen, die aber die Methoden ablehnten, die ergriffen wurden, um diese angebliche Häresie auszurotten. Häufig aber haben Päpste die Neigung, das zu korrigieren, was sie als Exzesse ihrer Vorgänger ansehen, und so fand Benedikt XV. zu einem versöhnlicheren Umgang sowohl mit den angeblichen Feinden im Inneren als auch mit den äußeren Feinden des Vatikans wie etwa der republikanischen Regierung Frankreichs. In der Russisch-Orthodoxen Kirche kam es in den 1920er Jahren zu den schwersten Auseinandersetzungen, als die unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem Sowjetregime die älteren Differenzen zwischen Befürwortern und Gegnern einer Modernisierung der kirchlichen Strukturen und ihrer Liturgie in verschärfter Form wieder wachriefen. Es gab viele protestantische Kirchen, die gegenüber der entstehenden ökumenischen Bewegung reserviert blieben, entweder weil sie befürchteten, dass die christliche Rechtgläubigkeit durch Kompromisse in der Lehre ausgehöhlt würde, oder weil sie glaubten, dass das Social Gospel, das bei „Liberalen“ und „Modernisten“ so beliebt war, mit Blick auf das unmittelbar bevorstehende „Zweite Kommen Christi“ bedeutungslos sei. Die konsequentesten Befürworter einer streng definierten Rechtgläubigkeit waren in diesem Punkt die Fundamentalisten, die 1919 die World’s Christian Fundamentals Association gründeten. Unterdessen waren mehrere amerikanische Kirchen, insbesondere die Baptisten und Presbyterianer, in theologischen Fragen in den 1920er Jahren tief zerstritten. Theologisch weniger konsequent als der Fundamentalismus, aber bedeutsamer im Sinne langfristiger Wirksamkeit waren die Pfingstkirchen – eine Kollektivbezeichnung für eine große Zahl

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Reflexion und Ausblick

von lehrmäßig und strukturell unterschiedlichen Bewegungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Die amerikanische Pfingstbewegung erwuchs aus der Heiligungsbewegung, die wiederum aus dem amerikanischen Methodismus entstanden war. Als auslösendes Ereignis gilt gemeinhin die Erweckung, die in der Azusa Street Holiness Church in Los Angeles 1906 stattgefunden hatte. Sie zog Pilger aus allen Gegenden der Vereinigten Staaten und sogar aus anderen Ländern an, als die Nachricht von einem „zweiten Pfingsten“ sich verbreitete. Die Pfingstler teilten die meisten dogmatischen Überzeugungen der Fundamentalisten (sowie deren puritanische Ethik), aber sie waren offener für Frauen in Führungspositionen. Am bekanntesten unter ihnen war Aimee Semple McPherson (1890–1944), die Leiterin der Church of the Foursquare Gospel in den 1920er Jahren. Das besondere pfingstliche Erlebnis aber (und ein Anlass für große Kontroversen unter ihren konservativen Mitprotestanten) war die „Taufe durch den Heiligen Geist“, die sich im Zungenreden manifestierte. Einige von denen, die zur Azusa Street gepilgert waren, wurden schließlich Pioniere der Pfingstkirchen in Chile, England und Norwegen. Allerdings fanden Erweckungen und Zungenreden zur selben Zeit auch in anderen Teilen der Welt statt, zum Beispiel in Wales (wo jedoch das Zungenreden bei der großen Erweckung 1904/05 nur eine untergeordnete Rolle spielte), in Pune in Indien und in Pjöngjang in Korea. Einige Historiker betrachten darum die Azusa Street lediglich als Teil einer spontanen weltweiten Bewegung und nicht – wie die meisten annehmen – als Quelle, aus der alle pfingstlichen Ströme hervorsprudelten.8 Für viele Missionare und Leiter von Missionsgesellschaften, die sich 1910 in Edinburgh trafen, gehörte die Frage nach dem Verhältnis des Christentums zu den alteingesessenen Religionen, auf die sie im Missionsfeld trafen, zu den dringendsten des Tages. Sie war Thema einer Reihe von Berichten, die in Edinburgh diskutiert wurden. Fundamentalisten und Pfingstkirchler sahen darin kein Problem, denn andere Religionen waren für sie natürlich falsch und wahrscheinlich sogar das Werk des Teufels. Viele Missionare aber waren an den Punkt gekommen, dass sie Respekt und Wertschätzung für diese Religionen empfanden, obwohl sie auch dem schottischen presbyterianischen Theologen D. S. Cairns (1862–1948) zustimmten, wenn er von der „Einzigartigkeit und Endgültigkeit Christi“9 sprach. Es gab jedoch einen grundsätzlichen Unterschied zwischen jenen, für die das Christentum die „Erfüllung“ dessen war, was in anderen Religionen mit ihren unvollständigen Offenbarungen nur prozesshaft begonnen hatte, und jenen, die die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Christentum und beispielsweise dem Islam oder dem Hinduismus hervorhoben. Die erste Position wurde, wie Klaus Koschorke zeigt,

8 Anderson, Allan, Spreading Fires. The Missionary Nature of Early Pentecostalism, London 2007, 27–31. 9 Yates, Timothy, Christian Mission in the Twentieth Century, Cambridge 1994, 26.

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seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von einigen zum Christentum konvertierten Hindus vertreten; dagegen erhielten im Jahr 1893, wie Frieder Ludwig und Ulrike Schröder zeigen, inklusivistische Sichtweisen der Beziehungen zwischen den Religionen starke Aufmerksamkeit beim „Ersten Parlament der Weltreligionen“. Die Tendenz, die nicht christlichen Religionen weniger missgünstig zu betrachten, führte jedoch nicht nur zu einer Schwächung der theologischen, sondern auch der humanitären Motivationen, die für die Mission im 19. Jahrhundert eine wesentliche Rolle gespielt hatten. Je exklusivistischer die Theologie war, desto stärker war die Motivation, das Evangelium zu predigen. Und so kam es im 20. Jahrhundert zu einer allmählichen Zunahme des Anteils christlicher Missionare, die aus einer stark konservativen Position heraus mit ihrer Arbeit begannen.

III Wo das Christentum in Europa sich von Fragen des Nationalen fernzuhalten schien, führte dies zu einem starken Zuwachs an antichristlichen Gefühlen, ob nun in religiöser oder säkularer Form. Das war auch in Asien so. Zur Zeit der Edinburgher Konferenz konzentrierten sich die christlichen Strategen hauptsächlich auf Asien und die „großen Zivilisationen“, von denen die Optimisten glaubten, dass diese sich dem Christentum zuwenden würden. Dafür gab es verschiedene hoffnungsvolle Anzeichen. Zu ihnen gehörten einerseits die Massenbewegungen der Armen und der ethnischen Minderheiten vor allem in Indien und andererseits das Ansehen, das das Christentum als „moderne Religion“ unter den gut Ausgebildeten genoss, sowie der Einfluss, den christliche Schulen und Universitäten ausübten. Außerdem schien die chinesische Revolution von 1911/12, die die Qing-Dynastie zu Fall brachte, für viele Christen einen Wendepunkt zu markieren, insbesondere weil der Gründer der neuen Republik, Sun Yat-Sen (1866–1925), christlich getauft war. Doch unterschätzte diese optimistische Sicht, wie Klaus Koschorke feststellt, die Widerstandskraft und Erneuerungsfähigkeit der historischen Religionen in diesen Gegenden. (Und wie Mitri Raheb mit Blick auf die Koptische Kirche in Ägypten zeigt, könnte das ebenso für die altorientalischen christlichen Kirchen gelten, die einem Zustrom protestantischer Missionare aus den Vereinigten Staaten und Europa ausgesetzt waren.) Überdies – und das war dann in den 1920er und 1930er Jahren von entscheidender Bedeutung – waren Hinduismus, Buddhismus und Islam besonders respekteinflößend, wenn sie sich mit den wachsenden Mächten des Nationalismus verbündeten. Der Boxeraufstand von 1900, bei dem an die 30 000 chinesische Christen sowie ungefähr 250 Missionare und ihre Familien getötet wurden, hatte schon gezeigt, dass der Widerstand gegen den europäischen und amerikanischen Imperialismus leicht eine antichrist-

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liche Form annehmen konnte. Ferner ebnete das Christentum, indem es einen Weg zur „westlichen“ Wissenschaft und Philosophie wies, auch die Wege zu den antichristlichen Dimensionen der westlichen Kultur, wie etwa zum Marxismus. Und das erwies sich für China als besonders bedeutsam. Dass gerade Korea dasjenige Land Asiens war, in dem das Christentum am schnellsten wuchs, ist kein Zufall; denn die Kolonialherren waren dort die Japaner, und deshalb konnte die koreanische Nationalbewegung sich ohne Weiteres mit dem Christentum verbünden. Die Allianzen von Christentum und Nationalismus konnten jedoch christliche Minderheiten auch ausgesprochen verwundbar machen. Wie Mitri Raheb zeigt, wurden die Massaker an den Armeniern, die im Osmanischen Reich in den 1890er Jahren verübt wurden, teilweise dadurch ausgelöst, dass sich die muslimischen Herrscher vom wachsenden Nationalbewusstsein unter armenischen Christen bedroht fühlten. Kevin Ward hält fest, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr als neun Prozent der Afrikaner Christen waren und dass ein erheblicher Teil davon den historischen Kirchen Ägyptens und Äthiopiens angehörte oder zu den Nachkommen der niederländischen, hugenottischen und britischen Siedler in Südafrika zählte. Aber im südlichen Afrika und in bestimmten anderen Regionen, vor allem in Uganda und entlang der Küsten Westafrikas, gewannen christliche Prediger eine große Anhängerschaft. Nationalbewegungen kamen in den meisten Teilen Afrikas in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf, zu einer Zeit, als das Christentum schon gut etabliert war. Die Anführer dieser Bewegungen waren häufig Christen, die an Missionsschulen erzogen worden waren. Doch der Wegbereiter war Südafrika, wo – nach der Gründung der Südafrikanischen Union im Jahr 1910 – im Jahr 1912 auch der African National Congress entstand. Hier hatte die Allianz von Religion und Nationalbewusstsein einen eigenen Charakter, denn der ANC hatte anfänglich enge Verbindungen zu den unabhängigen Kirchen, die seit dem späten 19. Jahrhundert von Afrikanern aufgebaut wurden, die ein Christentum wollten, das frei von missionarischer Kontrolle war. Die „unabhängigen“ Kirchen wurden im westlichen und südlichen Afrika seit den 1880er Jahren von Christen gegründet, die sich von den Missionskirchen getrennt hatten. Beginnend mit dem Jahr 1858 entstanden auch einige in Indien. Die meisten hatten protestantische Ursprünge, aber es gab auch die Philippines Independent Church (gegründet 1902), die eine Abspaltung von der Katholischen Kirche war. Fragen nach der Macht und der „Authentizität“ bedeuteten hier potenzielle Bedrohungen. Viele der frühen unabhängigen Kirchen im südlichen Afrika standen unter afrikanischer Leitung, unterschieden sich aber in ihren Lehren und Gottesdiensten nur wenig von den Missionskirchen. Einige waren im Wesentlichen Schöpfungen einer charismatischen Führungspersönlichkeit oder ihrer Anhänger, wie es bei den „harristischen“ Kirchen in Westafrika der Fall war, die im Zuge der Missionsreisen von William Wadé Harris (1860–1929) entstanden. Andere unabhängige Kirchen brachen entschiedener mit manchen Aspekten der „orthodo-

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xen“ Lehre und führten Gebräuche ein, die die Missionskirchen ablehnten. Ihr Ziel war es, ein Christentum zu praktizieren, das „authentischer“ afrikanisch, chinesisch oder philippinisch war und die örtlichen Kulturen und Werte widerspiegelte. Laut Edmond Tang gehörte dazu insbesondere „ein Gespür für die Geisterwelt mit ihren destruktiven, bösen und machtvollen Kräften“ sowie die Vorstellung, dass wahres Christentum Macht verleiht – aber wohltätige Macht, die vor allem „von bösen Geistern heilt und befreit“.10 Das Auftreten von Gestalten wie Harris oder, in den 1920er Jahren, Simon Kimbangu (1887–1951) in Belgisch-Kongo zeigte an, wie weit in vielen Teilen Afrikas das Christentum bereits indigenisiert war und sich europäischer oder amerikanischer Kontrolle entzogen hatte. Einer Schätzung zufolge lebten um 1900 etwa 80 Prozent der Christen der Welt in Europa, im Russischen Reich und Nordamerika, lediglich fünf Prozent aber in Afrika oder Asien. Am Ende des 20. Jahrhunderts, so schätzt man, sind die 80 auf 40 Prozent gefallen und die fünf auf 32 Prozent angestiegen. Die Globalisierung des Christentums fing im 20. Jahrhundert erst an, aber ihre Fundamente sind im 19. Jahrhundert gelegt worden.

10 Anderson, Allan/Tang, Edmond, Independency in Africa and Asia, in: McLeod (Hrsg.), World Christianities, 107–127, 126.

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KURZBIOGRAPHIEN

DER BETEILIGTEN

ALPHABETISCHER

PERSONEN

IN

REIHENFOLGE

Margaret Bendroth ist Executive Director der Congrgational Library in Boston, Massachusetts. Sie forscht als Historikerin besonders zur Geschichte der Konfessionen in Nordamerika und war Vorsitzende der American Society of Church History. Martin N. Dreher lehrt an der Universidade do Vale do Rio dos Sinos. Seine Forschung befasst sich insbesondere mit der Geschichte der Kolonisation und Einwanderung in Lateinamerika. Christian Gottlieb ist Affiliate Professor für Kirchengeschichte an der Universität Kopenhagen. Der Fokus seiner Forschung liegt auf der Geschichte des Christentums in Russland. Norman Hjelm ist lutherischer Pastor und senior theological editor in Wynnewood/PA. Andreas Holzem ist Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Den Schwerpunkt seiner Forschung bildet die Konfessionalisierung in Deutschland und Europa ab dem 16. Jahrhundert. Klaus Koschorke ist Prof. Emeritus für ältere und weltweite Kirchengeschichte an der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Er forscht zu Themen der Außereuropäischen Christentumsgeschichte des weltweiten Christentums. Frieder Ludwig ist Rektor der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie Hermannsburg. Er leitet den Fachbereich Geschichte der Weltchristenheit und Missionswissenschaft. Hugh McLeod ist Prof. Emeritus für Kirchengeschichte an der University of Birmingham. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Geschichte der Religiosität in 19. und 20. Jahrhundert. Mitri Raheb ist Lutherischer Pastor und Präsident des Dar al-Kalima University College of Arts and Culture in Bethlehem. Jens Holger Schjørring ist Prof. Emeritus der Universität Aarhus. Er forscht schwerpunktmäßig zur Kirchengeschichte Europas der Neuzeit und Gegenwart. Ulrike Schröder ist Professorin für Religionswissenschaft und interreligiöse Begegnung an der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie Hermannsburg. Anke Silomon ist habilitierte Historikerin in Berlin. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist Kirchliche Zeitgeschichte. Sie arbeitet freiberuflich als Autorin und Lektorin.

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Kurzbiographien der beteiligten Personen in alphabetischer Reihenfolge

Kevin Ward ist Senior Lecturer in African Religious Studies an der University of Leeds. Er forscht schwerpunktmäßig zu Geschichte und Spiritualität des Christentums in Ostafrika.

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ORTSREGISTER

Abeokuta 461 f., 483, 538 Acadia 379 Adua 482 Afrika 21, 25, 28, 42, 47, 518, 520 Agra 445 Ägypten 23, 330–332, 339, 345, 350, 455, 474, 476, 521 Alabama 369 Alaska 42 Aleppo 332, 335 Alexandria 331 f., 334, 339, 346 Algerien 47, 350 Andra Pradesh 409 Annam 421, 434 Antillen 489 Antiochia 331 Argentinien 507, 520 Arizona 379 Armenien 331 Asien 25, 28, 47 Assam 409 Athen 29 Äthiopien 23, 451, 455, 476, 478, 481, 486, 543 Australien 34, 47 Baden 168 Bagamoyo 473 Bagdad 332, 334 Bahrain 340 Bangladesch 434 Batavia (Jakarta) 400, 423 Bates 368 Bayern 28, 166, 168, 174 Beijing (Peking) 254, 400, 413, 434, 446 Beirut 332, 334, 338, 346 Belgien 28, 31, 33, 35, 56, 138, 185, 189

Belize 489 Bengalen 402, 404, 435 Berlin 36, 63, 102, 121 Bethelsdorp 465 Bethlehem 332, 337 Birmingham 61 Blantyre 472 Bogotá 495 Bolivien 520 Bombay (Mumbai) 407, 445 Bonn 176 Boston 382 Brasilien 29 f., 34, 45, 489, 497, 509, 520 Breslau 176 Brest 310 Budapest 31 Buenos Aires 36, 495 Buganda (Uganda) 46, 48, 250, 474 f., 480, 487 Bulgarien 30, 302 Burma (Myanmar) 402, 410, 420, 433 f., 441, 443, 446 Calabar 246 Cambridge 260 Caracas 495 Cavite 425 Celebes (Sulawesi) 423 Ceylon (Sri Lanka) 258, 400, 403, 432, 434, 436, 438, 441, 443, 446, 522 Charleston 371 Chennai (Madras) 404 f., 409, 441, 443, 445, 533 Chicago 45, 378, 518, 549 Chile 496, 520 China 21, 47 f., 249, 251, 261, 400, 409– 411, 420, 431, 435, 441, 443–445, 520

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Ortsregister Chota Nagpur 409 Cleveland 378 Cochinchina 421, 434 Coimbra 499 Colgate 368 Congo 261 Connecticut 368 Damaskus 332, 334 Dänemark 28 f., 33 Daressalam 474 Deutschland 22, 28, 31, 35, 43 f., 49 f., 56, 60, 69, 161, 207, 221 Deutsch-Südwestafrika (Namibia) 465, 479 Diamper 427 Dresden 64 Dschidda 335 Dublin 193 Edinburgh 45, 264, 413, 416, 426, 444 Eichstätt 175 El Salvador 34 Elfenbeinküste 48 England 21, 23, 53, 56, 59, 83, 100, 115, 207, 221 Estland 42 Europa 22, 25 f., 28, 46, 51, 56 Faifo 421 Finnland 32 Frankfurt 102 Frankreich 21, 26, 28, 33, 35, 44, 49, 58, 65, 76, 83, 87, 89, 102, 131, 138, 147, 149, 153, 161 f., 178, 217, 221, 494 Freetown 42, 459, 461, 483, 487, 536 Frere Town 473 f. Genadendal 452, 464 Georgia 369 Glasgow 61 Goa 400, 428, 443 Goldküste 48 Gosport 241 Grahamstown 467 Griechenland 23, 29 Großbritannien 26, 35, 40 f., 60, 98, 101, 120 Guadalupe 379 Guangzhou 251, 254

Guatemala 34, 508 Guyana 489 Haiti 27, 489, 494, 496 Hakodate 445 Hankow 446 Hannover 166 Hawaii 369 Hokkaido 252, 255, 415 Hongkong 446 Ibadan 242, 538 Ilorin 538 Indien 21, 29, 48, 239, 249, 399–401, 403, 419 f., 434, 437, 444–446, 520, 522, 535 Indochina 47, 419, 434 Indonesien 258, 400, 411, 423, 434, 520 Irak 330, 332, 340 Irland 23, 41, 58, 60, 82, 98 f., 102 Isandhlwana 470 Islington 243 Istanbul 331, 333 Italien 28, 31 f., 118, 161, 186 Jaffa 332 Jaffna 400, 443 Jakarta (Batavia) 400, 423 Jamaika 42, 247 Japan 21, 47, 252, 255, 400, 411, 414, 417, 433, 438, 442, 444 f. Java 400 Jerusalem 331 f., 334, 336 f., 342, 344 f. Johannesburg 485 Kairo 265, 339, 522 Kalifornien 379 Kalkutta (Kolkata) 241, 254, 402, 407, 445, 522 Kambodscha 434 Kanada 29, 34, 489 Kandy 439, 446 Kap der Guten Hoffnung 29, 47, 466, 520 Karibik 29, 42, 48 Karolinen 434 Kasan 271, 305, 313 Kenia 473 Kerala 428 Kiautschou 434 Kiew 281

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Ortsregister Kinshasa 485 Kirtland 383 Knock 103 Koblenz 170 Kolkata (Kalkutta) 241, 254, 402, 407, 445, 522 Kolumbien 496, 508 f., 520 Kongo 479, 485 Kopenhagen 102 Korea 48, 257, 400, 411, 417, 433, 445 Kottayam 428 Kuba 29, 496, 507 f. Kuruman 244 Kyushu 429 La Salette 103, 170 Lagos 461, 483, 485, 487, 537, 541 Lahore 249 Lane 373 Lateinamerika 33–35, 44, 50 Latium 186 Leeds 61 Leiden 114 Lettland 42 Libanon 331 f., 335, 350 Liberia 48, 462, 486 Lingnam 254 Lissabon 497 Litauen 32, 58 London 36, 122, 193 Lourdes 103, 170, 510 Lovedale 467 Madagaskar 46, 245 Madras (Chennai) 404 f., 409, 441, 443, 445, 533 Mailand 31 Mainz 170 Malakka 400, 411 Malawi (Njassaland) 468, 472 Malaysia 47, 258, 411 Malta 345 Manchester 61 Mandalay 410 Mandschurei 417 Manila 425 Maranhão 492

Marianen 434 Marokko 350 Marpingen 103 Melbourne 36 Mexiko 34, 489, 495, 508 f., 520 Minahasa 424 Minneapolis 378 Mombasa 472–474 Montenegro 302 Montpellier 147, 499 Montreal 381 Morija (Lesotho) 247 Moskau 290, 298 Mossul 332, 335 Mukden 265 Mumbai (Bombay) 407, 445 München 170, 175 Myanmar (Burma) 402, 410, 420, 433 f., 441, 443, 446 Nablus 335 Naga Hills 409 Nagasaki 414, 429, 445 Nairobi 485 Nanjing 431 Nauvoo 383 Nazareth 332 Neuseeland 47, 252 New Mexico 379 New York 36, 378 Nicaragua 508 Niederlande 23, 28, 31, 47, 59, 80, 126, 132, 207 Nigeria 47, 242, 468, 480 f., 483, 487, 521, 535, 537 Njassaland (Malawi) 468, 472 Nîmes 82 Norwegen 28, 141, 246 Oberlin 368, 373 Ontario 375 Oranje-Freistaat 465 Osaka 445 Osmanisches Reich 22, 29 f., 48, 329 f., 346 f., 351 Österreich 58, 168, 185, 190 Österreich-Ungarn 31, 49

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Ortsregister Oxford 191 Pakistan 434 Palästina 330–332, 338, 351, 355, 357 Palau 434 Panadura 410 Panama 508 Paraguay 491, 496, 520 Paray-le-Monial 216 Paris 36, 66 f., 102, 170 Pataliputra 548 Peking (Beijing) 254, 400, 413, 434, 446 Pennsylvania 29, 36 Pentrich 73 Pernambuco 497 Peru 520 Philadelphia 371, 382 Philippinen 21, 47, 424, 434 f. Philippolis 465 Polen 31 f., 58, 102 Polynesien 48 Pommern 75 Pondicherry (Puducherry) 445 Pontmain 103 Portugal 21, 23, 28, 32, 491 f., 494, 497 Preußen 21, 28, 75, 80, 82, 102, 108, 166, 168, 171, 190, 210 Princeton 393 Pskow 282 Puducherry (Pondicherry) 445 Puerto Rico 496, 507 f. Punjab 409 Quebec 362, 375, 379, 381 Rheinland 189 Rhodesien (Sambia) 472 Robben Island 467 Rom 31, 186, 510 Ruhrgebiet 36, 150 Rumänien 30, 302 Russland 21, 28, 31, 33, 35, 41, 47, 49, 168 Saigon 422 Sambia (Rhodesien) 472 San Francisco 378 Sankt Petersburg 276, 287, 292, 304, 321 Sansibar 472–474 Santiago de Chile 495

Sapporo 255 Savoyen 186 Schottland 23 f., 26, 35, 60, 98 f., 236 Schweden 28, 33, 35, 97, 236 Schweiz 23, 35, 57, 60, 128, 207 Senegal 521 Serampore 29, 61, 248, 401, 403, 443 Serbien 30, 302 Shanghai 413, 445 Siam (Thailand) 411, 419, 433 f. Sibirien 42, 273, 305 Sierra Leone 42, 48, 454, 459 f., 462, 473, 484, 535 f. Singapur 443 Skandinavien 23, 50, 56 São Leopoldo 497 São Paulo 36 Spanien 21, 23, 28, 32–35, 72, 76, 89, 94, 149, 491 f., 494 f. Sri Lanka (Ceylon) 258, 400, 403, 432, 434, 436, 438, 441, 443, 446, 522 Südafrika 261, 453 Sudan 333, 350, 480 Südkalimantan 423 Sulawesi (Celebes) 423 Syrien 23, 330, 332, 338 Szechuan 446 Tabriz 522 Tamilnadu 246 Tanjore 523, 527 Tennessee 369 Texas 379 Thailand (Siam) 411, 419, 433 f. Tibet 438 Tirunelveli 525 Tokio 415, 435 Tonking 421, 434 Tordesillas 492 Toronto 36 Torres 497 Tranquebar 237, 401, 403, 523 Transjordanien 330, 351 Trier 171 Trpoli 332 Tübingen 44, 86, 173

572

Ortsregister Tunesien 350 Uganda (Buganda) 46, 48, 250, 474 f., 480, 487 Ukraine 276 Uruguay 34, 496, 520 Utah 383 Venedig 31 Venetien 186 Venezuela 496, 520 Verapoly 445 Vereinigte Staaten von Amerika 22 f., 25 f., 29, 33–35, 40, 42, 44–46, 48, 50 f., 59, 90, 489, 496

Vietnam 21, 47, 421 f., 443 Virginia 362, 371 Wales 23, 26, 60, 100, 123, 236 Wien 27, 36 f., 102, 136, 164, 166, 170 Williams 368 Wladiwostok 272 Württtemberg 166 Yale 50 Yenching 254 Yokohama 415 Zentralafrika 472

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PERSONENREGISTER

Abduh, Muhammad 521 Abdülhamid II. (Sultan) 354, 544 Abdülmecid I. (Sultan) 334 Adams, Jane 389 Adrian (Patriarch v. Moskau) 279 f. Agbebi, Mojola 481 Aglipaym, Gregorio 426 Aksakov, Ivan 317 Aksakov, Konstantin 317 Aksakov, Nikolai 324 Alacoque, Margareta Maria 215 Alexander, Michael Solomon (Bischof v. Jerusalem) 337 Alexander I. (Kaiser v. Russland) 39, 275, 295–299, 301 Alexander II. (Kaiser v. Russland) 275, 301 f., 309, 311 Alexander III. (Kaiser v. Russland) 299, 302 f., 309 Allen, Grant 158 Allen, Horace 418 Allen, Richard 371 Allen, Roland 257 Allenby, Sir Edmund Allenby, 1st Viscount 357 Alline, Henry 376 Amvrosij (Starec) 316 Anderson, Rufus 256, 259, 442 Andrada e Silva, José Bonifacio 497 Andrews, Charles Freer 437, 440 Anna (Kaiserin v. Russland) 290 f. Antonij (Metropolit v. St. Petersburg) 322 Appenzeller, Henry Gerhard 418 Arida, Nasib 347 Arnett, Benjamin W. 544 Arsenij (Metropolit v. Rostow) 292 f.

Ashitsu Jitsuzen 547 Azariah, Vedanayagam Samuel (Bischof v. Dornakal) 267, 406, 409, 439, 445 Azuri, Najib 353 Baikie, William Balfour 142 Baines, Edward 115 Balfour, Arthur James Balfour, 1st Earl of 355 f. Banerjee, Krishna Mohan 407 Barrett, David 251 Barrows, John Henry 547 f. Barry, Leonora 388 Batchelor, John 252 Bebbington, David 238 Beck, Luise 173 f. Beecher, Lyman 368 Belinskij, Vissarion 317 Bellarmin, Robert 172, 199 Benedikt XV. (Papst) 218 Benigni, Umberto 232 Bentham, Jeremy 79, 502 Berdjaev, Nikolaj 50, 318 Bird, Isaac 338 Biron, Ernst Johann von 291 Bismarck, Otto von 31, 75, 139, 205, 207 f., 211, 479 Blavatsky, Helena 142 Blücher, Gebhard Leberecht von 139 Blyden, Edward Wilmot 462, 481, 541 f. Bogue, David 241 Bolivar, Simon 496 Bonald, Louis de 182 Bonney, Charles Carroll 544 Booth, Catherine 111 Booth, William 111, 113, 388 Bourget, Ignace 380

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Personenregister Bremond, Henri 224 Brent, Charles 426 Brésillac, Melchior de Marion- (Bischof v. Coimbatore) 458 Brigetower, George 456 Brown, Callum 54 Buchanan, Claudius 239 Büchner, Ludwig 105, 109 Bulgakov, Sergij 318, 324 Bunsen, Christian Karl Josias von 337 Bunyan, John 250 Burgos, José 425 Bustani, Butrus al 338, 346, 349, 352 Čaadaev, Peter 316 Caldwell, Robert 531, 533, 535 Callahan, William J. 77 Calvin, Johannes 23, 380 Campbell, Reginald John 153 Cappellari, Mauro 185 Carey, Lott 462 Carey, William 41, 60, 238 f., 241, 248, 252, 401, 403 Carmichael, Amy 246 Carnegie, Andrew 386 Cartier, George Etienne 381 Cartwright, Peter 364 Carus, Paul 548 Carvalho e Mello, Sebastião José de, Marques de Pombal 500 Casement, Sir Roger 117 Cavour, Camillo Benso di 118 Charcot, Jean-Martin 147 Chateaubriand, François-Auguste Vicomte de 70 Cheng Ching Yi 413, 441, 445 Child, Lydia Maria 372 Chomjakov, Alexej Stepanovich 300, 317 Chulalongkorn (Rama V., König v. Siam) 420 Clarkson, Thomas 456 Claudel, Paul 152 Colenso, Harriette 471 Colenso, John (Bischof v. Natal) 469 f. Combes, Émile 125, 219

Comboni, Daniel (Bischof v. Khartoum) 458 Comte, Auguste 43, 105, 182 Consalvi, Ercole (Kardinal) 184 Conwell, Russell 387 Corrie, Daniel (Bischof v. Madras) 239 Crowther, Samuel Ajayi (Bischof in den westafrikanischen Ländern mit Sitz in Nigeria) 243, 260, 263, 410, 438, 442, 461, 482 f., 487, 537, 539 f. Crummell, Alexander 462 Cugoano, Ottobah 456 Cullen, Paul (Erzbischof v. Dublin) 193 Dahl, Roald 127 Dalberg-Acton, John Emerich Edward 191 f. D'Alembert, Jean-Baptiste le Rond 292 Darboy, Georges (Erzbischof v. Paris) 215 Darwin, Charles 43, 134, 144, 393, 502 Datta, Surendra Kumar 440 Dau Quang Linh 421 Daudet, Léon 219 Daudi Chwa II. (Kabaka v. Buganda) 475 Delamarre, Louis-Charles 412 Demetrius II. (Papst d. koptischen Kirche) 342 Denifle, Heinrich Suso 227 Derby, Elias 386 Descartes, René 501 Dharampala, Anagarika 438, 548 D’Hulst, Maurice Le Sage d'Hauteroche 224 Dickens, Charles 142 Diderot, Denis 292 Dionysius IV. (Metropolit d. Mar-ThomaKirche) 428 Dodds, Eric Robertson 152 Döllinger, Ignaz Heinrich 176 f., 192 Dostojevskij, Fëdor Mihajlovič 49, 86, 316, 318 Douglass, Frederick 543 f. Drey, Johann Sebastian 173 Dreyfus, Alfred 219 Du Bois, William Edward Burghardt 389 Dubois, Jean-Antoine 399

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Personenregister Duff, Alexander 254, 259 Dupanloup, Felix (Bischof v. Orléans) 188 Duta, Henry Wright 484 Dyck, Cornelius 339 Ehrhard, Albert 226 Eliot, George 86 Elisabeth (Kaiserin v. Russland) 291, 293 Elliot, John 236 Ellis, Francis Whyte 533 Emmerick, Anna Katharina 173 Equiano, Olaudah 456, 459 Fawkes, Guy 190 Feijo, Diogo Antonio 497 Ferdinand VII. (König v. Spanien) 496 Feuerbach, Ludwig 86, 105 Filofej (Metropolit v. Tobol'sk) 313 Finney, Charles 40, 365, 369 Fisher, Geoffrey 127 Fisk, Pliny 335, 338 Flaubert, Gustave 183, 223 Fodio, Usman dan 537 Fogazarro, Antonio 228 Foote, George William 44 Frere, Sir Henry Bartle 473 Friedrich Wilhelm IV. (König v. Preußen) 75, 82, 107 f., 112, 336 Gairdner, William Henry Temple 265 f., 477 Gandhi, Mahatma (Mohandas) 429 Gandhi, Virchand 549 Gapon, Georgij 321 Gard, Jean Martin du 148 Garibaldi, Giuseppe 31, 118 Garnet, Henry Highland 371 Garrison, William Lloyd 372 Gavazzi, Alessandro 381 Gentz, Friedrich von 183 Gercen, Aleksander 317 Gerhardt, Paul 251 Gia Long (Kaiser v. Vietnam) 421 Gibbons, James 388, 390 Gibran, Gibran Khalil 347 Gladden, Washington 389 Gladstone, William Ewart 80, 82, 192

Gobat, Samuel (Bischof v. Jerusalem) 337, 343 Goethe, Johann Wolfgang von 143 f., 228 Göhre, Paul 134 Golizyn, Alexander Nikolajevich 295, 297 Gollmer, Charles 538 Goncalves de Oliveira, Vital Maria (Bischof v. Olinda) 506 Goodell, William 338 Görres, Joseph 171, 174 Grant, George Monro 385 Graul, Karl 526, 533 Gray, Robert (Bischof v. Kapstadt) 469 Green, William Henry 394 Greene, Graham 85 Grégoire, Henri 69 Gregor XVI. (Papst) 41, 60, 185, 189, 404, 458 Grimké, Angelina 372 Grimké, Sarah 372 Grotius, Hugo 282 Guidi, Filippo Maria (Erzbischof v. Florenz) 199 Gützlaff, August Friedrich 420 Gützlaff, Karl 243, 411 Haddad, Abdul Massih 347 Haeckel, Ernst 44, 143 f. Haller, Carl Ludwig von 182 Hannington, James (Bischof v. Ostäquatorialafrika) 474 Hardie, Keir 133 Hardy, Thomas 86 Harris, William Wadé 48, 484 Hartmann, Eduard 225 Hastings, Warren 239 Hauge, Hans Nielsen 72 Haweis, Thomas 241 Headlam, Stewart 135 Heber, Reginald 141 Hefele, Karl Joseph von (Bischof v. Rottenburg) 176, 198 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 225 Hermes, Georg 166 Hidalgo, Miguel 495 Hinderer, Anna 244

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Personenregister Hinderer, David 242 Hirai Kinzo 547 Hobaisch, Jusuf 341 Hobbes, Thomas 282 Hodge, Charles 392, 394 Hong Rengan 253 Hong Xiuquan 251, 431, 546 Hopkins, Gerard Manley 85 Hügel, Friedrich von 224 Hughes, Hugh Price 153 Hughes, Thomas 91 Hume, David 366 Huxley, Thomas Henry 134 Ibrahim Ali Pascha (Wali v. Ägypten) 333, 336 Ibsen, Henrik 157 Il'minskij, Nikolaj 313 Inglehart, Ronald 150 Ireland, John 388, 390 Ivan III. (Großfürst v. Moskau) 276 Ivan IV., der Schreckliche (Großfürst v. Moskau u. Zar v. Russland) 276, 282 Ivan VI. (Kaiser v. Russland) 290 Jabavu, John Tengu 467 Jacobis, Justinus de 478 Jacottet, Edouard 247 James, John Angell 87 James, William 143 f. Janssen, Johannes 227 Javorskij, Stefan (Metropolit v. Rjasan u. Murom) 279–281, 285, 288, 291 Jefferson, Thomas 362 Jiaqing (Kaiser v. China) 411 Joaquim, Maria de Rosario 537 Johnson, James 483, 537, 541 Johnson, Samuel 463 Joseph II. (Kaiser HRR) 24, 66 Judson, Adoniram 402, 410 Kaggwa, Apollo 475 Kairanawi, Rahmat Allah 542 Kant, Immanuel 144, 222, 228 Kanzo, Uchimura 415, 442 Kardec, Allan 45 Karl X. (König v. Frankreich) 76, 81 Katharina I. (Kaiserin v. Russland) 290

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Katharina II., die Große (Kaiserin v. Russland) 24, 275, 292, 294, 301, 305, 308 Keane, John 388, 390 Keble, John 79 Kelvin, William Thomson, Lord 265 Kemp, Johannes Theodorus van der 465 f., 471 Keppler, Paul Wilhelm von (Bischof v. Rottenburg) 229 Keynes, John Maynard 146 Khan, Sayid Ahmad 521 Khoury, Kalil al 345 Kimbangu, Simon 484 King, Jonas 338, 341 King, Thomas 539 Kingsley, Charles 91, 135 Kireevskij, Ivan 317 Kireevskij, Peter 317 Kleutgen, Josef 172 Koi, David 473 Kozaki Hiromichi 546 Krapf, Johann Ludwig 244, 472, 477 Kraus, Franz Xaver 226 Krishnapillai, Henry Alfred 408 Kuhn, Johann Evangelist von 173, 176 Kuyper, Abraham 126 Kyrill IV. (Papst d. koptischen Kirche) 343, 476 Lacordaire, Henri 153 Lamennais, Félicité de 183, 188–190, 222 Laurier, Wilfred 381 Lavigerie, Charles (Kardinal) 458 Lazzeri, Maria Domenica 173 Lee (Yi) Seung-Hun 417 Legge, James 253 f. Leo XII. (Papst) 185, 496 Leo XIII. (Papst) 49, 135, 211, 218, 230, 388, 445, 511 f. Leopold II. (König der Belgier) 479 Leopoldine von Österreich (Kaiserin v. Brasilien u. Königin v. Portugal) 497 Liberman, Francis 457 Liguori, Alfons Maria von 88 Livingstone, David 142, 243 f., 471, 479 Lloyd-Jones, Jenkin 547

Personenregister Locke, John 501 Loisy, Alfred 223 f. Long, James 262 Louis Philippe (König der Franzosen) 76, 102 Lourdel, Siméon 474 Ludwig XIV. (König v. Frankreich) 216 Ludwig XVI. (König v. Frankreich) 65, 218 Ludwig XVIII. (König v. Frankreich) 76 Lueger, Karl 136 Lugard, Frederick 521 Luther, Martin 92, 116, 139, 205, 380 Macedo Costa, Antônio de (Erzischof v. San Salvador da Bahia) 506 Mackay, Alexander 474 Madi, Elia Abu 347 Maistre, Joseph Marie de 181, 189 Makarij (Starec) 316 Manalo, Felix 426 Manning, Henry Edward (Erzbischof v. Westminster) 191, 193 Martyn, Henry 239 Marx, Karl 86, 134 Marx, Wilhelm 155 Masahisa Uemara 415 Masaryk, Thomáš 156 Massaia, Guglielmo (Kardinal) 478 Maubant, Pierre 417 Maurice, Frederick Denison 135 Maurras, Charles 219 Maxwell, James Clerk 265 Mazzella, Camillo (Kardinal) 224 Mazzini, Giuseppe 102, 118 McGilvary, Daniel 420 McGlynn, Edward 388 McGreevy, John 382 Mendizábal, Juan Alvárez 78 Menelik II. (Kaiser v. Äthiopien) 477 f. Merkle, Sebastian 226 Merry del Val, Rafael (Kardinal) 230 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 168, 183, 185, 189 Miall, Edward 80 Michelet, Jules 87 Mill, John Stuart 502

Miller, William 382, 394 Mindon (König v. Burma) 410 Minh Mang (Kaiser v. Vietnam) 421 f. Moffatt, Mary 244 Moffatt, Robert 471 Möhler, Johann Adam 173, 176 Moltke, Helmuth von 139 Mongkut (Rama IV., König v. Siam) 420 Monroe, James 496, 507 Montesquieu, Charles-Louis de 292, 501 Montferrand, Auguste de 299 Moody, Dwight Lyman 251, 260, 387, 393 Morelos, José Maria 495 Morgan, John Pierpont 386 Mörl, Maria von 173 Morrison, Robert 411 Motoda, Joseph Sakunoshin 445 Mott, John Raleigh 25, 264 Mott, Lucretia 372 Mugema, Yoswa Kate 484 Muhammad Ali Pascha (Wali v. Ägypten) 333 f., 340, 345, 352, 476 Mulgrave-Zimmermann, Catherine 247 Müller, Adam 182 Müller, Josef 226 Muteesa (Kabaka v. Buganda) 474 Muth, Carl 228 Mwanga (Kabaka v. Buganda) 474 f. Nadarra, J. Sanua Abdou 544 Naimy, Mickail 347 Napoleon I. (Kaiser der Franzosen) 26 f., 29, 33, 38, 68–70, 72, 74, 81, 117, 125, 162, 179, 217, 295, 330, 333, 345, 491, 495 f. Napoleon III. (Kaiser der Franzosen) 102, 106, 108, 118, 183, 422 Neesima, Joseph 415 Nehru, Jawaharlal 429 Nevius, John Livingstone 257, 442 Newman, John Henry (Kardinal) 85, 191 f. Newton, Isaac 501 Ngidi, William 469 Nguyen Van Tuong 421 Nicolajsen, Hans 336 Nietzsche, Friedrich 146, 158, 228

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Personenregister Nikolaus I. (Kaiser v. Russland) 299, 309, 311 Nikolaus II. (Kaiser v. Russland) 275, 303, 309, 318, 321 Nikon (Patriarch v. Moskau) 280, 284, 308 Noguchi Zenshiro 547 Nommensen, Ludwig-Ingwer 424 Nongqawuse 467, 484 Norris, Pippa 150 Noyes John Humphrey 383 Ntsikana 466 Nxele, Makhanda 466 Nyogen Senzaki 548 Oldham, Joseph Houldsworth 264 Olubi, Daniel 539 Ostermann, Johann Friedrich 291 Overbeck, Friedrich 85 Owen, Robert 101 Paine, Thomas 61 Palacky, Frantisek 119 Pallegoix, Jean-Baptiste (Bischof, Apostolischer Vikar v. Siam) 420 Palmer, Phoebe 367, 388 Palmerston, Henry John Temple, Lord 478 Pamla, Charles 484 Parker, Theodore 372 Parnell, Charles Stuart 153 Parsons, Levi 335, 338 Paul I. (Kaiser v. Russland) 289, 292, 295 Payne, John Augustus Otunba 537 Pedro I. (Kaiser v. Brasilien u. König v. Portugal) 497, 502 Péguy, Charles 148, 152 Pennington, Brian 517 Pennington, James William Charles 371 Peter I., der Große (Kaiser v. Russland) 274, 276, 279 f., 284 f., 289, 292, 295, 307–309, 325 Peter II. (Kaiser v. Russland) 290 Peter III. (Kaiser v. Russland) 291–293 Petitjean, Bernard 414 f., 429 f. Petre, Maude 224 Pfander, Karl Gottlieb 542 Philaret (Patriarch v. Moskau) 299, 302

Philip, John 465, 471 Picot, François Georges- 351 Pilkington, George 484 Pillsbury, Parker 372 Pius VI. (Papst) 27, 66 Pius VII. (Papst) 27, 38, 69 f., 162, 179 f., 184 f., 496 Pius VIII. (Papst) 185 Pius IX. (Papst) 31, 36, 49, 102 f., 117 f., 135, 175, 185–188, 196, 199 f., 202, 211, 218, 504, 510 Pius X. (Papst) 218, 220, 225, 230 f. Pius XI. (Papst) 38, 118, 220 Pius XII. (Papst) 202 Plaatje, Sol 468 Plessis, Joseph Octave (Erzbischof v. Québec) 375 f. Plütschau, Heinrich 237 Pobedonoscev, Konstantin 303, 309 f., 320, 323 Pobee, John 258 Prokopovicˇ , Theophan 281–285, 287, 291 Protasov, Nikolaj Aleksandrovich 301 Pufendorf, Samuel von 282 Railton, George 388 Rainivelo, Sigrid 246 Rama IV. (Mongkut, König v. Siam) 420 Rama V. (Chulalongkorn, König v. Siam) 420 Ramabai, (Pandita) Dongre Medhavi 406 Ranavalona I. (Königin v. Madargaskar) 46 Raspútin, Grigórij 310 Rauschenbusch, Walter 389 Read, James 465, 471 Reid, James 244 Reid, Thomas 366 Reinhard, Marcel 65 Reinkens, Joseph Hubert (Bischof d. altkatholischen Kirche) 204 Reisach, Karl August Graf von (Erzbischof v. München u. Freising) 175 Renan, Ernest 143 Reyes, Isabelo de los 426 Rhodes, Alexandre de 421

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Personenregister Ribeiro, Joao 497 Ricci, Matteo 401 Riel, Louis 381 Rihani, Amin 347 Rizal, José 425 Robespierre, Maximilen 67 f. Rockefeller, John Davison 386 f. Rogers, Elizabeth Flynn 388 Rohlfs, Gerhard 536 Ross, Kenneth 264 Rouault, Georges 152 Rousseau, Jean-Jacques 67, 71, 501 Roy, Ram Mohan 249, 406 f. Rush, Benjamin 372 Samarin, Iurij 317 Sancho, Ignatius 456 Sangle, Krishnarao 408 Sankey, Ira David 251 Sarruf, Yakub 346 Sastriar, Vedanayagam 527 Schell, Herman 225 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 225 Schereschewsky, Samuel (Bischof v. Shanghai) 255 Schidyaq, Assad 341 Schiller, Friedrich von 223, 228 Schlegel, Friedrich von 183 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 71 f. Schneller, Johann Ludwig 338, 348 Scholten, Joannes Henricus 114 Schopenhauer, Arthur 225 Scott, Thomas 381 Scroggie, Graham 395 Seixas Barroso, Romualdo Antônio (Erzbischof v. San Salvador da Bahia) 498, 506 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, Lord 355 f. Sharp, Granville 456 Shaw, George Bernard 157 Shembe, Isaiah 484 Sheppard, William Henry 485

Sibour, Marie Dominique Auguste (Erzbischof v. Paris) 106 Silva, David de 410 Slater, Thomas 140 Slessor, Mary 246 Smith, Eli 338, 349 Smith, Frank 113 Smith, Hyrum 383 Smith, Joseph 383 Smith, Stanley 260 Smith, Sydney 47 Soga, John Henderson 467 Soga, Tiyo 467 Sokatsu Shaku 548 Solov'ëv, Vladimir 316, 318 Soyen Shaku 547 Spencer, George John Trevor (Bischof v. Madras) 529 Spencer, Herbert 502 Spurgeon, Charles Haddon 153, 393 Stein, Harald 112 Stendhal 74 Stewart, Dugald 366 Stoecker, Adolf 113, 136, 153 Stokes, Charles 243 Strauss, Davd Friedrich 86 Strindberg, August 158 Studd, Charles Thomas 91, 142, 260 f. Suh Sang-Yun 417 Summer, William Graham 502 Sun Yat Sen 266, 413 Suzuiki Daisetsu Teitaro 548 Swami Vivekananda 142, 407, 437, 549 f. Sykes, Mark 351 Taschereau, Elzéar-Alexandre (Erzbischof v. Québec) 388 Tawfiq, Muhammad (Khedive v. Ägypten) 353 Taylor, James Hudson 259, 412 Taylor, William 484 Temple, Frederick 115 Tewodros II. (Kaiser v. Äthiopien) 477 Thieu Tri (Kaiser v. Vietnam) 421 Thomas, William Henry Griffith 395 Thomas (Apostel) 427, 523

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Personenregister Thomasius, Christian 282 Tile, Nehemiah 481 Tocqueville, Alexis de 179, 361, 374 Tolstoj, Dmitry Andreyevich 302 Tolstoj, Lew 316 Tomlin, Jacob 420 Tori Horyu 547 Townsend, Henry 462 Tret'jakov, Pavel 310 Tu Duc (Kaiser v. Vietnam) 421 f. Tucker, Alfred (Bischof v. Ostäquatorialafrika) 261 Tucker, Josephine 244 Turgenew, Iwan Sergejewitsch 44 Turner, Nat 371 f. Tyrrell, George 224 Uchimura Kanzo 255 Uspenskij, Porphyrius 344, 353 Uvarov, Sergej 300 Valerga, Giuseppe (Patriarch v. Jerusalem) 343 Van der Kemp, Johannes 244 Van Die, Marguerite 391 Vanderbilt, William Henry 386 Venn, Henry 256, 259, 442, 461 Venn, John 457 Vesey, Denmark 371 Vey, Jean-Louis (Bischof, Apostolischer Vikar v. Siam) 420 Vianney, Jean-Baptiste Marie 75 Vicoso, Antônio (Bischof v. Mariana) 506 Victoria (Königin v. Großbritannien u. Irland, Kaiserin v. Indien) 405, 521, 540 Vinet, Alexandre 80 Vischering, Clemens August Droste zu (Erzbischof v. Köln) 82 Vitte, Sergej 319 Vittorio Emanuele II. (König v. Italien) 31, 186 Voltaire 67, 71, 292, 304, 501 Walker, David 371 Walls, Andrew 139 Wanamaker, John 387

Wang Tao 253 Ward, Humphry 86, 157 Warfield, Benjamin Breckinridge 394 Warneck, Gustav 258 f., 267 Watson, Andrew 340 Watts, Isaac 251 Waugh, Evelyn 85 Webb, Mohammed 544 Weber, Max 213 Wedgewood, Josiah 456 Weiss, Albert Maria 229, 231 Weld, Theodore Dwight 373 Weličkowskij, Paisij 315 Wellesley, Arthur, Duke of Wellington 79 Wesley, Charles 251 Wesley, John 236, 238, 364, 525 Wessenberg, Ignaz Heinreich von 166 Wheatley, John 135 White, Andrew Dickson 44 White, Ellen Harmon 383 Whittier, John Greenleaf 372 Wichern, Johannes Hinrich 112 Wilberforce, William 71, 239, 456 Wilhelm I. (Deutscher Kaiser) 205 Wilhelm I. (König d. Niederlande) 423 Willard, Frances 390 Williams, Frances Barrier 544 Wilson, Daniel (Bischof v. Kalkutta) 526 Windthorst, Ludwig 210 f. Wiseman, Nicholas (Erzbischof v. Westminster) 190, 193 Yatsubuchi Banryu 547 Yazaji, Nasif af- 339 Yen Yung-king 545 Yi (Lee) Seung-Hun 417 Yongzheng (Kaiser v. China) 400 Young, Brigham 384 Yoyo, Hermann 252 Zaidan, Dschurdschi 346 Zarudnyi, Ivan 286 Zeng Guofang 432 Ziegenbalg, Bartholomäus 237, 523 Zola, Émile 86

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Seite 52 Seite 160 Seite 270 Seite 328 Seite 398 Seite 450

Europa nach der Französischen Revolution 1789 (Peter Palm, Berlin) Europa nach dem Wiener Kongress (Peter Palm, Berlin) Das Russische Kaiserreich von Peter I., d. Großen bis 1914 (Peter Palm, Berlin) Das Osmanische Reich 1881 bis 1915 (Peter Palm, Berlin) Kolonien in Asien 1914 (Peter Palm, Berlin) Kolonien in Afrika 1914 (Peter Palm, Berlin)

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