Gesellschaftliche Orientierung: Geschichte der „Aufklärung“ in der globalen Neuzeit (19. bis 21. Jahrhundert) 351513168X, 9783515131681

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist auch im 21. Jahrhundert noch immer relevant. Sie fungiert als humane gesellschaf

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German Pages 384 [386] Year 2021

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
REDAKTIONELLE HINWEISE
ZUM BUCH
EINLEITUNG
NAMENSGEBUNG
PRAKTIKEN
INTELLEKTUELLE
KRITIK
ORIENTIERUNG
ACHSENZEIT – SCHLUSS
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS
REGISTER
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Gesellschaftliche Orientierung: Geschichte der „Aufklärung“ in der globalen Neuzeit (19. bis 21. Jahrhundert)
 351513168X, 9783515131681

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Geschichte Franz Steiner Verlag

h i s to r i s ch e m it te i lu ng en – b e i h e f t 1 0 3

Wolfgang Schmale

Gesellschaftliche Orientierung Geschichte der „Aufklärung“ in der globalen Neuzeit (19. bis 21. Jahrhundert)

H I S T O R I S C H E M I T T E I LU N G E N – B E I H E F T E Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. herausgegeben von Markus A. Denzel ( federführend), Matthias Asche, Birgit Aschmann, Jürgen Elvert, Jan Kusber, Sönke Neitzel, Joachim Scholtyseck und Thomas Stamm-Kuhlmann.

Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale und Reinhard Zöllner.

Band 103

Gesellschaftliche Orientierung Geschichte der „Aufklärung“ in der globalen Neuzeit (19. bis 21. Jahrhundert) Wolfgang Schmale

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021 Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13168-1 (Print) ISBN 978-3-515-13177-3 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS REDAKTIONELLE HINWEISE ................................................................... 7 ZUM BUCH ................................................................................................... 9 EINLEITUNG .............................................................................................. 15 NAMENSGEBUNG ..................................................................................... 39 PRAKTIKEN ................................................................................................ 61 INTELLEKTUELLE .................................................................................. 139 KRITIK ....................................................................................................... 263 ORIENTIERUNG ....................................................................................... 285 ACHSENZEIT – SCHLUSS ...................................................................... 335 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ...................................... 347 AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS ....................................... 371 REGISTER ................................................................................................. 375

REDAKTIONELLE HINWEISE Bibliografische Angaben werden in den Fußnoten in Kurzform mitgeteilt. Die vollständigen Angaben stehen im Quellen- und Literaturverzeichnis zur Verfügung. Wenn die Kurzform bereits im Text erwähnt wird, wurde gegebenenfalls auf eine Fußnote verzichtet, die vollständigen Angaben stehen im Quellen- und Literaturverzeichnis zur Verfügung. Gendersternchen: Gendersternchen werden dann verwendet, wenn aus dem (historischen) Kontext nicht hervorgeht, dass es sich konkret nur um Männer bzw. Frauen bzw. Menschen, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen, handelt. Internetadressen mit einer Länge von mehr als einer Zeile wurden mithilfe von https://tinyurl.com gekürzt. Da die Seitenurheber*innen daraus nicht mehr erkennbar sind, sind diese, wenn sie nicht aus dem Text ersichtlich sind, zusätzlich in der Fußnote genannt. Alle Internetseiten wurden am 30. August 2021 kontrolliert. Dieses Datum gilt daher im gesamten Buch als Datum des Besuchs einer Seite, wenn nichts anderes vermerkt ist. Zitate aus dem Englischen wurden nicht übersetzt, Zitate aus dem Französischen oder anderen Sprachen wurden übersetzt. Die Originalzitate stehen dabei jeweils in einer Fußnote zur Verfügung. In Bezug auf Primärquellen gilt: Wo es gängige deutschsprachige Ausgaben gibt (Beispiel: Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes), wurden diese Übersetzungen benutzt. Manche Werke von deutschsprachigen Autor*innen, auf die in diesem Buch eingegangen wird, sind zuerst auf Englisch erschienen (Beispiel: Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism) und wurden später, teilweise von den Autor*innen selber, ins Deutsche übersetzt. Prinzipiell verwende ich in diesem Buch jeweils die Originalausgaben und zitiere daher, wie im Beispiel von H. Arendt, nach der englischen Originalausgabe. Spezielle Formulierungen und Schreibweisen: – In der Geschichtswissenschaft hat sich die Formulierung „die Amerikas“ etabliert, wenn Nord-, Mittel- und Südamerika gemeinsam gemeint sind, da „Amerika“ allein meistens mit den USA identifiziert wird. – Die Anführungsstriche und die kursive Hervorhebung des bestimmten Artikels in dem Ausdruck „die Aufklärung“ zeigen an, dass von einem diskursiven Konstrukt die Rede ist, das im Zuge der Auseinandersetzung mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts seit dem 19. Jahrhundert entstanden ist.

ZUM BUCH Die Arbeit an dem Buch hat mich lange begleitet. Erste Gedanken habe ich im Schlusskapitel meines Buches „Das 18. Jahrhundert“, das 2012 erschien, niedergelegt, dieses erhielt den Titel „Unbehagen an der Aufklärung“. Mit „Unbehagen“ war unterschiedliche Kritik zu unterschiedlichen Zeiten an der Aufklärung gemeint, dem setzte ich aber schon damals den praktischen Gebrauch der Aufklärung in Krisenzeiten zur Identitätsvergewisserung, etwa am Beispiel des von den Nationalsozialisten verfolgten Romanisten Viktor Klemperer, entgegen. In den darauffolgenden Jahren rückte zunächst ein anderes bereits begonnenes Forschungsprojekt wieder in den Vordergrund, die Geschichte der Menschenrechtsligen, die seit dem späten 19. Jahrhundert eng mit der Geschichte der Freimaurerei verbunden war. In dieser zivilgesellschaftlichen Sphäre erhielt die Aufklärung im Zusammenhang der Dreyfus-Affäre (1894–1906) als Referenzsphäre einige Aufmerksamkeit, die zum Teil aus der Bedeutung der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 für die Menschenrechtsligen herrührte, aber insgesamt weiter reichte. Für die Freimaurer*innen versteht sich ein vertiefter Bezug zum 18. Jahrhundert und zur Aufklärung im Grunde von selbst. Einige Beobachtungen aus dieser Sphäre habe ich 2019 in „History. The Journal of the Historical Association“ mitgeteilt.1 Dies war der endgültige Anstoß, die 2012 begonnene Skizze auszuweiten, doch insgesamt ist das Thema einer Geschichte der „Aufklärung als gesellschaftliche Orientierung“ seit dem 19. Jahrhundert unter Berücksichtigung globalgeschichtlicher Aspekte sehr viel umfassender, als es sich beim derzeitigen Stand der Forschung darstellen lässt. Im Hinblick auf die globalgeschichtliche Dimension der Aufklärung seit dem 19. Jahrhundert greife ich auf eine im Grunde vielfältige, aber wenig untereinander verbundene Forschung zurück. Ermutigend und inspirierend war in dieser Beziehung der ausführliche Artikel von Sebastian Conrad 2012 in der American Historical Review: „Enlightenment in Global History: A Historiographical Critique“. Seitdem sind neue Studien erschienen, weitere erscheinen fortlaufend. Inhaltlich war außerdem die heutige Allgegenwart der Aufklärung der Auslöser für dieses Buch. In „Das 18. Jahrhundert“ beschrieb ich einleitend die starke visuelle Präsenz der Architektur des 18. Jahrhunderts im heutigen Stadt- und Landschaftsbild. Diese Architektur ist oftmals gebaute Aufklärung. Die Allgegenwart der Aufklärung reicht freilich viel weiter. Als regelmäßiger Leser von „Le Monde“ war ich daran gewöhnt, dass häufig von „les Lumières“ oder konkreten Aufklärern wie Voltaire die Rede war. Nicht ganz so häufig, aber doch, wiederholte sich die Beobachtung in Bezug auf beispielsweise die Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich begann darüber hinaus Zeitungen im 1

Schmale (2019): Legacy of the Enlightenment.

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Internet zu recherchieren, spannte Google News ein, holte mir für Artikel auf Ungarisch, Türkisch oder in anderen Sprachen Unterstützung bei Übersetzungsmaschinen. Die Globalität der Aufklärung wird über ihre Präsenz in Zeitungen und Magazinen weltweit eindrucksvoll vor Augen geführt. Einige der Ergebnisse stelle ich im Kapitel „Orientierung“ vor. Daraus resultierten Fragen: Wieso findet man in Zeitungen aus Ländern, die früher europäische Kolonien waren, allenthalben positiv-affirmative Bezugnahmen auf Aufklärer*innen? Wie verhält sich das zur Aufklärungskritik im Zuge der Entkolonialisierung des Denkens? Warum häufen sich offenbar Streitschriften und Sachbücher zu „zweiter Aufklärung“ oder zu „Aufklärung jetzt“? Warum erscheint „die Aufklärung“ als Weltanschauung ohne Alternative? Das Interessante an „der Aufklärung“, so zeigte es sich Schritt für Schritt, ist neben ihrer Geschichte selbst im 18. Jahrhundert ihre Geschichte danach. Schon im frühen 19. Jahrhundert wird die Aufklärung historisiert, sie wird Gegenstand der Literaturgeschichte, sie wird Teil von Erinnerungskulturen. Kurzum: Sie wird zum Erbe, um das man sich im Übrigen kräftig streitet. Die einen wollen das Erbe nicht antreten, weil es so etwas vermeintlich Schreckliches wie die Revolution hervorgebracht habe, die anderen sehen nicht recht, was eigentlich Gutes an dem Erbe zu finden sein solle, wieder andere sehen die Aufklärung als abgeschlossene historische Epoche, die ihren Sinn gehabt habe. Die nächsten sehen in dem Erbe ein Kapital, mit dem sich gut arbeiten lässt. Endgültig gefestigt ist nichts, bis heute nicht. Unter „der Aufklärung“ wird Verschiedenes verstanden. Das hängt nicht nur davon ab, ob es um philosophische, historische, literaturgeschichtliche oder andere Aspekte geht. Was darunter verstanden wird, hat oft einen nationalen Einschlag. Es dauert zum Teil bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass sich der uns vertraute Begriff – „die Aufklärung“, „the Enlightenment“, „les Lumières“ usw. in vielen Sprachen – etabliert. Faktisch beziehen sich diese Namen nicht mehr nur auf die historische Aufklärung, sondern auf die Substrate, die in nationalen oder geistesgeschichtlichen sowie politischen Zusammenhängen aus jener gebildet worden sind. Das ist freilich die europäische und amerikanische Perspektive und Begriffsgeschichte. Der Begriff begann im 19. Jahrhundert auch in anderen Zusammenhängen – Osmanisches Reich, Indien, China, Japan etc. – eine Rolle zu spielen, besonders und regelmäßig ab dem späten 19. Jahrhundert und um 1900. Es stellt sich die Frage, ob das eigentliche Zeitalter der Aufklärung nicht viel mehr das 19. Jahrhundert sowie die „Moderne um 1900“ und weniger das 18. Jahrhundert gewesen ist. Stellt man diese Frage und sucht nach einer Antwort, wird man auf die anhaltende Forschungsdiskussion über den globalen Charakter der Aufklärung im 18. Jahrhundert verwiesen. Wie viel oder wenig europäisch-amerikanisch war die Aufklärung, wie viel oder wenig war sie global? Diese Diskussion ist alles andere als abgeschlossen, die Vernetzung mit der traditionellen Aufklärungsforschung ist gering. Endgültig verwirrend wird die Geschichte, wenn auf die vielfältigen Bedeutungszusammenhänge geschaut wird, in denen „Aufklärung“ in vielen verschie-

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denen Sprachen ein Schlüsselwort darstellt. In den meisten Religionen gibt es „Aufklärung“ im Sinne von „Erleuchtung“ bzw. „zum innersten Kern, zur Wahrheit gelangen“. Die Philosophiegeschichte kennt eine philosophische Aufklärung im 5. Jahrhundert v. Chr., das Wort „Aufklärung“ meint im Arabischen, Japanischen und Chinesischen des späteren 19. Jahrhunderts nicht dasselbe wie der europäisch-amerikanische Begriff. Gibt es trotzdem einen gemeinsamen Bedeutungskern wie etwa in Anlehnung an Max Webers „Entzauberung der Welt“? Die lange Zeit vorherrschende Fokussierung auf das Begriffspaar „Aufklärung“ und „Vernunft“ hat den Blick auf eine große Vielfalt verstellt, zumal oft „Vernunft“ und „Rationalität“ miteinander verwechselt oder jedenfalls nicht hinreichend genau voneinander unterschieden werden. Unvermeidlich ist die Erkenntnis, dass es nicht „die“ Geschichte im Singular „der“ Aufklärung, sei es im 18. Jahrhundert, sei es seit 1800 bis heute, gegeben hat und gibt. Manchmal handelt es sich um ein Nebeneinander, manchmal um lockere Verflechtungen, manchmal um dichte Verflechtungen. Was die Geschichte der Aufklärung angeht, so herrscht ein Pluralismus der Ansichten. Bezüglich der Anfänge hat sich ein gewisser Konsens etabliert, der aber nur für Europa und die Amerikas gilt: Am Anfang stand die Frühaufklärung, die mit Baruch de Spinoza, John Locke, der Glorious Revolution, Newton und Leibniz und anderen im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts einsetzte, wenn auch nicht plötzlich. Ein chronologisches Ende wird selten diagnostiziert: Während die Hauptautoren der französischen Aufklärung schon gestorben waren, publizierte Immanuel Kant später weltweit rezipierte und einflussreiche Schriften wie jene „Zum ewigen Frieden“ (1795). Wozu rechnet man die Humboldt-Brüder oder den späteren Goethe? Den Abbé Grégoire? Die Aufklärung endet nicht, sondern franzt in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aus, als bereits ihre Historisierung beginnt. Inhaltlich herrscht noch weniger Klarheit. Neben einer radikalen materialistischen und atheistischen Aufklärung treffen wir – gesehen mit den Augen der jeweiligen Forschungsrichtungen – auf die katholische, die protestantische und die jüdische Aufklärung, während es um eine islamische Aufklärung Streit gibt. Streit gibt es um die Frage, ob die Aufklärung eine europäische Sache war, die gleichwohl entsprechend der schon im späteren 18. Jahrhundert etablierten Globalisierung globale Charakterzüge besaß, oder ob sie grundsätzlich, Europa hin oder her, eine globale Erscheinung war, an der viele weitere Regionen und Kulturräume außer Europa beteiligt gewesen sind. War die Idee der Menschenrechte das entscheidende Merkmal der Aufklärung oder hat sie nicht vielmehr die Idee europäischer und nordamerikanischer „zivilisatorischer Suprematie“ grundgelegt? Diese Hypothese funktioniert aber nur, wenn man ausschließt, dass die Aufklärung gleichzeitig ein europäischamerikanisches und nichteuropäisches Phänomen gewesen ist. Folglich: zurück in den Raum des intellektuellen Streits! Das Thema wird nicht einfacher, wenn man die immer noch bevorzugte geistesgeschichtliche Untersuchung der Aufklärung mit einer praxeologisch orientier-

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ten Perspektive verbindet bzw. konfrontiert, wie es in diesem Buch unternommen wird. Ich versuche in diesem Buch, mehrere im Allgemeinen getrennte Diskursund Praxiswelten ein Stück näher zusammenzubringen. Diskussionen über sehr bekannte Texte wie „The Heavenly City“ von Carl L. Becker (1932), „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno (1942–1944, gedruckt 1947) oder „Kritik und Krise“ von Koselleck (1954, gedruckt 1959), um nur drei Titel zu nennen, scheinen mir längst in Echokammern gelandet zu sein. Rund drei Dutzend solcher Texte von Hegel bis Foucault und Israel habe ich deshalb neu gelesen und bespreche sie in diesem Buch im historischen Umfeld diverser praktischer Verfahrensweisen mit der Aufklärung, wo sie zur Konstruktion von „der Aufklärung“ beitragen und bestimmte Praktiken verstärken. Zu den Praktiken zählt die Aufklärung als Referenz bei zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, die sich mit Demokratie und Menschenrechten auseinandersetzen. Die Denkmäler einer Aufklärungs-Erinnerungskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind eine Praxis, die gegenwärtig starker Kritik und gelegentlicher Rückabwicklung ausgesetzt ist. Die Aufklärungsforschung kümmert sich selten und wenig um diese und andere politischen und gesellschaftlichen Praktiken, obwohl es dort ist, wo über die tatsächliche Relevanz eines Rousseau oder Kant oder Beccaria entschieden wird. Im Lauf der Forschungen für dieses Buch bestätigte sich die Vermutung, dass „die Aufklärung“ in Krisenzeiten Aufmerksamkeitsschübe erfuhr. Grundsätzlich fällt die Geschichte der Aufklärung nach der Aufklärung zunächst einmal mit der sogenannten Modernisierungsepoche zusammen, die von der Industrialisierung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reichte. Bis zu einem gewissen Grad war die historische Aufklärung Teil der Modernisierung und bedeutete selber eine Krise: die des absolutistischen Ancien Régime und der Feudal- und Ständegesellschaft. Diese Krise mündete in die Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts, ohne dadurch aufgelöst zu werden. Die vielfältigen heftigen Gegenreaktionen verhinderten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einen positiven allgemeinen öffentlichen Konsens über die Aufklärung. Den hat es auch seitdem nie gegeben, aber „die Aufklärung“ entwickelte sich seit der Dreyfus-Affäre in Frankreich (1894–1906) zu einem positiven Referenzrahmen, wenn es um die Bekämpfung von Antisemitismus und Antirepublikanismus bzw. wenn es proaktiv um die Implementierung von Demokratie ging, wie nach den beiden Weltkriegen, oder wenn es um die Aufrechterhaltung der Demokratie geht wie in der Gegenwart. Der Modernisierungsdruck außerhalb Europas und der USA, in einem oder ohne einen Zusammenhang mit Kolonialismus, beförderte diverse Aufklärungen im 19. Jahrhundert. Reform und Modernisierung im sich auftrennenden Osmanischen Reich, in China, in Japan lässt sich nicht auf Krise reduzieren, da vor allem Chancen gesehen und ergriffen wurden. Dies geschah im Kontext einer eigenen Aufklärung, bei der die Auseinandersetzung mit Autoren der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts dazu gehörte, aber nicht mehr. Diese Auseinandersetzung spielte im 20. Jahrhundert bei der Entkolonialisierung und in jüngerer Zeit im Arabischen Frühling eine wichtige Rolle.

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Doch warum soll man sich damit beschäftigen? Hier fällt die Antwort leicht: „Die Aufklärung“ zeitigt im 21. Jahrhundert eine globale Präsenz wie wohl nie in der Geschichte zuvor. Nicht zuletzt wird immer wieder um sie gestritten, als würde unsere Zukunft davon abhängen. Die Aufklärung nimmt den Platz einer einzigen globalen Weltanschauung ein. Warum ist das so? Und wie kam es dazu? Die vielen über den Globus verteilten Aufklärungs-Geschichten mit ihren manchmal lockeren, manchmal fehlenden, manchmal dichten Verflochtenheiten bilden, so lautet meine These, eine „Achsenzeit“, die sich in „die Achsenzeit“ einordnet. Das Achsenzeit-Theorem geht auf das 18. Jahrhundert zurück, der Begriff „Achsenzeit“ stammt von Karl Jaspers (1949). Das Theorem wurde in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere von Shmuel N. Eisenstadt diskutiert und ausgebaut, jüngst hat sich Jan Assmann im Anschluss an Hans Joas damit auseinandergesetzt. Schon Jaspers „provinzialisierte“ Europa, ohne seine gedankliche Operation bereits so zu benennen – das sollte Dipesh Chakrabarty (2000) vorbehalten bleiben. Das Theorem scheint mir geeignet zu sein weiter gedacht zu werden, um einen Rahmen für eine Globalgeschichte der Aufklärung als gesellschaftliche Orientierung seit dem 19. Jahrhundert zu gewinnen (vgl. Schlusskapitel „Achsenzeit“). Soweit ich sehe, wurde bisher kein solcher Überblick geschrieben, wie ich ihn hier vorlege. Es gab und gibt folglich keine etablierte Gliederung des Themas, an der ich mich hätte orientieren und die ich da, wo es mir geboten erschienen wäre, hätte abändern können. Schon die Gliederung der Stofffülle war kein Selbstläufer. Ob die gefundene Gliederung überzeugen mag, entscheiden die Leser*innen. Es galt Schwerpunkte zu bilden – die andere Autor*innen vielleicht anders gesetzt hätten. Der größere Teil der Arbeit an diesem Buch fiel in die Zeit der Covid-19Pandemie 2020/2021, die auch die Universitäten vor neue Aufgaben und etliche Erschwernisse stellte. Es galt Zuversicht und Motivation zu bewahren. Ich bin voller Dankbarkeit gegenüber der Universitätsbibliothek Wien und ihren Mitarbeiter*innen, die in dieser Zeit alles taten, um Wissenschaftler*innen und Studierenden den Zugang zu den Büchern trotz der erforderlichen Einschränkungen im Betrieb ohne nennenswerte Unterbrechungen zu ermöglichen. Mein Dank richtet sich sowohl an die Hauptbibliothek wie etliche Fachbibliotheken, darunter besonders an die Fachbibliothek Geschichte und ihren Leiter Dr. Harald Tersch. Ich danke dem Franz Steiner Verlag für die gute Zusammenarbeit und Prof. Markus A. Denzel für die Aufnahme des Titels in die „Beihefte“. Mag. Thomas Tretzmüller hat den Satz gemacht und alle formalen Aspekte überprüft und vereinheitlicht. Es war für mich eine große Freude, wieder mit ihm zusammenarbeiten zu können. Dem Forschungsschwerpunkt „Historisch-Kulturwissenschaftliche Europawissenschaften“ an meiner Fakultät danke ich für einen Zuschuss zu den Satzkosten. Wien, im September 2021

Wolfgang Schmale

EINLEITUNG AUFKLÄRUNG DER AUFKLÄRUNG Habermas und Derrida stimmen darin überein: Das rechtlich-politische System, welches das internationale Recht und die existierenden multilateralen Institutionen strukturiert, hat seine Wurzeln im philosophischen Erbe des Okzidents, das in der Aufklärung gründet; letztere wird dabei verstanden als intellektuelle Orientierung, die sich ausgehend von einer gewissen Zahl von Schlüsseltexten gebildet hat.

So schreibt Giovanna Borradori in ihrer Einleitung zu „Philosophie in Zeiten des Terrors“ – zwei Gespräche mit Jürgen Habermas und Jacques Derrida, die sie in New York einige Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 geführt hatte.1 Die Situation verlangte nach Orientierung, gerade auch in Bezug auf die im Zitat angesprochenen internationalen Beziehungen. Die Geschichte der Neuzeit, seit der Revolutionsepoche gegen Ende des 18. Jahrhunderts, ist voll von Krisen, in denen es einer allgemeinen Orientierung bedurfte. Der im Folgenden verwendete Begriff „Orientierungsangebot“ versteht sich zunächst als neutraler Begriff, der auf eine Funktion verweist – was den einen als Orientierung dient, verurteilen die anderen, und umgekehrt. Orientierungsangebote gab es seit den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts viele, darunter etliche, die global verfügbar gemacht wurden: Republikanismus, Liberalismus, Konservativismus, Sozialismus, Kommunismus, Nihilismus, Rassismus, Antisemitismus, Anarchismus; verschiedene Religionen wurden zur Grundlage weiterer politischer Orientierungsangebote. Im 20. Jahrhundert kamen Totalitarismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, Maoismus, linker und rechter Extremismus, Terrorismus hinzu. Viele dieser Orientierungsangebote mag man aus ethischer und demokratischer Sicht gar nicht als „Orientierungsangebot“ bezeichnen, aber sie wurden so begriffen und gebraucht. Selbst die todbringendsten konnten sich zu ihren hohen Zeiten auf Millionen von Anhänger*innen stützen. In den letzten Jahren etwa musste die Erfahrung gemacht werden, dass sich auch im Westen tausende oft sehr junger Menschen vom Islamischen Staat angezogen fühlten und sich in den Dienst des Terrors stellten, was zuvor kaum jemand für denkbar gehalten hätte. Demokratie, vor allem im Verbund mit Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, trat in der Neuzeit als Orientierungsangebot erst allmählich in den Vordergrund. Ebenso setzte sich die heute so fix erscheinende Ansicht, dass dieser Verbund ein genuines Produkt der Aufklärung sei, erst allmählich durch. Im Schatten der genannten Orientierungen wurde und wird die Aufklärung unentwegt kontrovers diskutiert. Das erklärt sich teilweise aus dem Entstehungszusammenhang diverser Orientierungsangebote mit der Aufklärung, wie dem 1

Borradori (2006): Einleitung. Terrorismus und das Erbe der Aufklärung, Zitat S. 19.

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Einleitung

Liberalismus, Republikanismus und Sozialismus, teilweise aus der Konstruktion eines historischen grand récit, teilweise aus der Suche nach einer historisch positiv konnotierbaren und dadurch legitimierten Alternative. Kennzeichnend war und ist, dass es nie zu einem Konsens kam, was „die Aufklärung“ gewesen sei. Bis heute wird versucht, diese Frage zu klären. Anders ausgedrückt, es wird versucht, „die Aufklärung“ aufzuklären. Das Phänomen, um das es geht, lässt sich folglich am besten als „Aufklärung der Aufklärung“ beschreiben, die aber nicht um ihrer selbst willen geschieht, sondern eine Funktion besitzt: Zur gesellschaftlichen Orientierung beitragen. Bis zu einem gewissen Grad erscheint die „Aufklärung der Aufklärung“ als jener nicht mehr hintergehbare Maßstab, der es uns erlaubt, gesellschaftliche Orientierungen zu bewerten und danach eine Praxis auszurichten. Im Zuge dessen wird „die Aufklärung“ selbst zur gesellschaftlichen Orientierung. Die „Aufklärung der Aufklärung“ stellt zunächst eine Art Subtext der neuzeitlichen Geschichte dar. Der Subtext entsteht aus der historischen Aufklärung selbst, er ist nie unpolitisch, er bleibt bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Subtext, sogar ein globaler, um schließlich in den letzten Jahrzehnten ein Haupttext zu werden, der ein umfassendes Orientierungsangebot enthält. Die meisten anderen Orientierungsangebote haben sich selbst widerlegt oder soweit überlebt, dass sie nur noch eine Nischenexistenz verteidigen können. Enge Verwandte wie Republikanismus und Liberalismus wurden integriert. Dasselbe gilt für den demokratischen Sozialismus. Je mehr aus „Demokratie“, „Rechtsstaatlichkeit“ und „Menschenrechte“ in den Subtext der Aufklärung der Aufklärung aufgenommen wurde, desto mehr wurde dieser in einen Haupttext transformiert. Von den vielen anderen mehr oder weniger rezenten Büchern über „die Aufklärung“, über das „Projekt Aufklärung“, über die „zweite Aufklärung“, über „das Erbe der Aufklärung“, über die „Zukunft der Aufklärung“ und so weiter und so fort, unterscheidet es sich dadurch, dass es um den Vorgang der „Aufklärung der Aufklärung“ als Praxis und deren Sinn (gesellschaftliche Orientierung) geht. Diese Form der Praxis geht über das hinaus, was Ralf Dahrendorf 1963 als „Die angewandte Aufklärung: Gesellschaft und Soziologie in Amerika“ bezeichnete. Die von Dahrendorf gemeinte Praxis wird in diesem Buch freilich auch eine Rolle zu spielen haben: Bei welchem politischen oder anderen Tun folgen die Akteur*innen Mustern, die in der und durch die Aufklärung entstanden? Ich werde weder Montesquieu noch Kant noch Mary Wollstonecraft noch andere Autor*innen der Aufklärung erklären, jedenfalls nicht als Selbstzweck. Ich werde nicht zum x-ten Mal die Klassiker von Baruch de Spinoza bis zum Abbé Sieyès daraufhin analysieren, was sie uns zum Thema Demokratie zu sagen haben. Das ist zuletzt in erschöpfender Weise 2016 durch James T. Kloppenberg in „Toward Democracy“ geschehen. Die „Aufklärung der Aufklärung“ ist im Kern ein Tun, eine Praxis. Ich werde folglich eine Praxis, genauer gesagt: viele Praktiken, untersuchen (Kapitel „Praktiken“), die sich zudem von intellektuellen Kontroversen deutlich unterscheiden können: Während im Zuge der Entkolonialisierung des Denkens noch darüber diskutiert wird, wie toxisch die aufklärerischen Begriffe von Universalismus und

Gesellschaftliche Orientierung

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Kosmopolitismus gewesen seien, hat sich längst ein globales Referenzsystem der Aufklärung etabliert, das über verschiedene Medien und z. B. auch Wikipedia fassbar wird. Ich werde das im Kapitel „Orientierung“ aufgreifen. Es wäre zu einfach, das globale Referenzsystem schlicht als Folge des „westlichen“ Kulturimperialismus anzusehen, der mit „der Aufklärung“ als seinem Ursprung verbunden wird. Der Praxis-Begriff ist freilich weit zu fassen. So ist die Vergabe des Namens „die Aufklärung“ (Kapitel „Namensgebung“) und die Auseinandersetzung vieler Intellektueller vom 19. bis ins 21. Jahrhundert mit der Frage, was „die Aufklärung“ sei (Kapitel „Intellektuelle“) eine typische intellektuelle, gleichwohl Praxis, eine kommunikative sowie oftmals performative, kurz: eine öffentliche Praxis. GESELLSCHAFTLICHE ORIENTIERUNG Auf den ersten Blick handelt es sich beim Eingangszitat von G. Borradori um eine sehr eingängige Charakterisierung, wenn nicht Definition, von „Aufklärung“, die zudem durch eine global verbreitete praktische Handhabung der Aufklärung bestätigt zu werden scheint. Auf bestimmte Aufklärer und – seltener – Aufklärerinnen und bestimmte Texte von diesen beziehen sich weltweit viele Menschen unermüdlich positiv-affirmativ. Nolens volens resultiert daraus „intellektuelle Orientierung“. Und dasselbe wird unermüdlich auch negativ-kritisch bedacht, gleichfalls mit dem Ziel, Orientierung zu geben. So sehr diese Charakterisierung „als intellektuelle Orientierung, die sich ausgehend von einer gewissen Zahl von Schlüsseltexten gebildet hat“, eine gängige Anschauung und infolgedessen Praxis trifft, so sehr verhüllt sie anderes, das ebenfalls praxiswirksam ist und der intellektuellen Orientierung dient: – Die Schlüsseltexte von Spinoza, Locke, Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Hume, Beccaria, Kant, Wollstonecraft und etlichen anderen entstanden in einem bestimmten Kommunikationskontext, in dem Wissen aus der gesamten Welt zusammengetragen wurde. Das „philosophische Erbe des Okzidents“ ist als solches nur zum Teil okzidental und wäre ohne den nicht-okzidentalen Anteil nicht das, was es ist. – Die Aufklärung wurde seit jeher unterschiedlich beurteilt, seit jeher gehörte scharfe Kritik an der Aufklärung dazu. Die Stoßrichtungen der Kritik haben sich mit den Zeitläuften gewandelt. Speziell die behauptete Kausalverbindung zwischen Okzident und Aufklärung ist Gegenstand der Kritik. Sei es, weil sie den nichtwestlichen Ursprung vielen Wissens übergeht, sei es, dass wenig Anstrengungen unternommen werden, dem globalen Charakter der Aufklärung im Lauf ihrer Geschichte nachzugehen, sei es, weil die negativen Konsequenzen der Aufklärung im Sinne von „Moderne“ und ihrer kolonialen Praxis ausgeblendet werden, sei es, weil andere intellektuelle Traditionen als die europäisch-nordamerikanische übergangen wurden, als seien sie inexistent. Kurzum: Der Blick auf die und das Verständnis von der Aufklärung sollte entokzidentalisiert werden; die übliche Identifizierung von „Aufklärung“ und „Okzi-

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Einleitung

dent“ sollte nicht als bewiesen angesehen werden, sondern als etwas, das erforderlichenfalls nachzuweisen wäre. Etwas sehr Richtiges enthält die nach Habermas und Derrida gewonnene Charakterisierung jedoch, insoweit die Betonung auf „sich bilden“, also auf die Eigenschaft eines prozesshaften Geschehens gelegt wird. Die „intellektuelle Orientierung“ entsteht erst im Lauf der Zeit und darf daher als solche nicht mit der historischen Aufklärung selber verwechselt werden. Die Formulierung „eine gewisse Zahl von Schlüsseltexten“ suggeriert einen Kanon an Texten. Aber gab und gibt es den tatsächlich? Spontan würde man an Montesquieus „Vom Geist der Gesetze“ (1748) oder an Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) denken, die wie etliche andere Texte auch bereits in ihrer eigenen Zeit zu so etwas wie „Schlüsseltexten“ geworden und es bis heute geblieben sind. Aber wer lässt sich auf diese Texte genauer ein? Das ist nur eine Minderheit. Die Bekanntheit der wörtlichen Titel dieser Texte verhält sich umgekehrt reziprok zu ihrer tatsächlichen Kenntnis. Würde man auch spontan an Texte von nichteuropäischen Autor*innen denken? Manche Schlüsseltexte werden von vielen Menschen gekannt, weil man beispielsweise Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ (1762) oder Kants „Zum ewigen Frieden“ (1795) sehr gut in der Schule lesen und diskutieren kann, was mit der „Kritik der reinen Vernunft“ allerhöchstens im freiwilligen PhilosophieLeistungskurs der gymnasialen Oberstufe denkbar wäre, wenn überhaupt. Die Sache mit den Schlüsseltexten und eventuell einem Kanon an solchen besitzt folglich eine gesellschaftliche Dimension und erfordert genauere Unterscheidungen aufgrund von sozialhistorischen bzw. soziologischen Kategorien. Was ist für wen verbindlich, wer hat die Macht, gesellschaftlich eine bestimmte „intellektuelle Orientierung“ durchzusetzen? Wer wollte bzw. versuchte das überhaupt, und wann? Wie sah diese wann aus? Alle Aspekte besitzen darüber hinaus kulturräumliche Hintergründe. Letztlich greift die Formulierung „intellektuelle Orientierung“ zu kurz. Sie erscheint für das philosophische Denken, in dessen Zusammenhang diese Formulierung entstand, naheliegend, doch verdeckt sie etwas den gesellschaftlichen Kontext, um den es geht: „Die Aufklärung“ dient der gesellschaftlichen Orientierung; so wird sie in der Praxis benutzt, gelehrt, erläutert, manchmal verherrlicht, oft vereinfacht, teilweise kritisiert, manchmal als völlig falsche Orientierung abgelehnt. Dass man das Geschehen, das „Orientierung“ genannt wird, im Kern als ein „intellektuelles“ Geschehen ansieht, mag so sein. Das evoziert jedoch vorrangig die gesellschaftliche Gruppe der „Intellektuellen“, die sich im späten 19. Jahrhundert herauszubilden begann – und in der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts womöglich ihre hohe Zeit schon hinter sich hat. Die Aufklärung als Orientierung war und ist facettenreicher als es das Adjektiv „intellektuell“ suggeriert. Der Autor des vorliegenden Buches ist kein Philosoph, sondern Historiker und bevorzugt daher als Arbeitsbegriff einen Breitbandbegriff, wie ihn „gesellschaftliche Orientierung“ darstellt. Schließlich geht es um mehr als zweihundert Jahre Geschichte, der außerdem eine globale Dimension eignet.

Gesellschaftliche Orientierung

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Die gesellschaftliche Orientierung entstand und entsteht aber nicht nur und womöglich sogar weniger aus der unmittelbaren Lektüre und Diskussion eines Kanons von Texten, sondern aus der permanenten Auseinandersetzung mit einem historischen Phänomen, das, suggestiv mit bestimmtem Artikel, „die Aufklärung“ genannt wird. „Die Aufklärung“ wird permanent aufgeklärt – unter, selbstverständlich, der Zuhilfenahme von vermeintlichen Schlüsseltexten der Aufklärung. Die Beharrlichkeit, mit der die Frage danach, was die Aufklärung ist bzw. nicht ist, seit Mendelssohn, Kant und Hegel bis in die Gegenwart verhandelt wird, muss nachdenklich stimmen. Diese „Aufklärung der Aufklärung“ geschieht teils positiv-affirmativ, teils negativ-kritisch, teils analytisch-kritisch, bisher hat weder der eine noch der andere noch der dritte Ansatz den Sieg davongetragen. Die drei Ansätze tragen zur gesellschaftlichen Orientierung bei, geradezu brauchen sie sich gegenseitig. Die „Aufklärung der Aufklärung“, die gesellschaftliche Orientierung produziert, war und ist ein vielschichtiger, verwobener und globaler – also nicht nur „westlicher“ – Prozess. Ich habe mich bemüht, neben anderen praxeologischen Perspektiven, globalhistorischen Aspekten einen möglichst zentralen Platz einzuräumen, musste aber erfahren, dass ein solcher Versuch seine Grenzen besitzt, da die Forschung zur Aufklärung darauf noch viel zu wenig eingestellt ist. „Die Aufklärung“ zu entokzidentalisieren stellt trotz vieler guter Argumente nach wie vor einen Versuch und keinen Durchbruch dar. Als Versuch ist dies selber Teil der fortlaufenden „Aufklärung der Aufklärung“. Die Formulierung „Aufklärung der Aufklärung“ schließt kritische Sichtweisen auf „die Aufklärung“ mit ein, da diese ebenso wie affirmativ-positive Haltungen nichts weniger als gesellschaftliche Orientierung geben wollen. Bei den kritischen Sichtweisen ist gleichwohl weniger an sogenannte „Gegenaufklärer“ oder an „Antiaufklärung“ zu denken. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die beiden Verfasser der wohl berühmtesten aufklärungskritischen Schrift, die noch während des Zweiten Weltkriegs entstand – „Dialektik der Aufklärung“ – waren keine „Gegenaufklärer“ und betrieben keine „Antiaufklärung“, sie verstanden sich selber als Aufklärer, als Philosophen, die ihrer Pflicht, intellektuelle Orientierung zu erarbeiten, nachkommen wollten, indem sie intellektuelle Fehlleistungen und damit, ihrer Anschauung nach, kausal verbundene katastrophale praktische Fehlentwicklungen freizulegen versuchten.2 Nicht näher eingehen werde ich in diesem Buch auf den Missbrauch von Namen und Werten der Aufklärung im Faschismus bzw. Nationalsozialismus und allgemein in den rechtsextremen Milieus der Gegenwart, weil es dort um propagandistischen Missbrauch und nicht gesellschaftliche Orientierung durch die Aufklärung ging und geht. Wo es nottut, wird jedoch darauf hingewiesen werden. Alles in allem lässt sich in dieser dritten Dekade des 21. Jahrhunderts der Eindruck gewinnen, dass von den früheren Konflikten um möglichst die führende globale gesellschaftliche Orientierung nur die „Aufklärung der Aufklärung“ übrig 2

„Aufklärung“ und „Gegenaufklärung“ werden epochenübergreifend diskutiert in: Schmidt, Hg. (1989): Aufklärung und Gegenaufklärung.

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geblieben ist. Mangels substanzieller Konkurrenz wird „die Aufklärung“ immer mehr zu einer Weltanschauung. All das, was sich noch als Alternative anbietet – von der „illiberalen Demokratie“ bis hin zum „chinesischen Modell“ – stellt wenig mehr als ein Mäntelchen dar, das die Gier nach konkurrenz- und oppositionsloser Machtausübung notdürftig bekleidet. Die Vertreter dieser Scheinalternativen unterdrücken jede Kritik, sie stellen sich nicht der Kritik. Diese hat ihr Zuhause, ihr mittlerweile vielleicht alleiniges Zuhause, in der „Aufklärung der Aufklärung“. Substanzielle Inhalte, Werte, Zukunftsperspektiven werden (und können) nur noch aus der „Aufklärung der Aufklärung“ gezogen (werden), weil sich diese in den letzten rund 250 Jahren als unerschöpfliche Quelle für den weltanschaulichen Streit, aus dem Orientierung erwächst, erwiesen hat. DAS BUCH UND SEINE KAPITEL Die „Aufklärung“ ist im 21. Jahrhundert allgegenwärtig. Sie spricht aus etlichen Verfassungen und Rechteerklärungen, Zeitungen braucht man nur aufzuschlagen, um schnell fündig zu werden, im Kulturbetrieb nehmen Theaterstücke und Opern der Aufklärung unverändert einen der vorderen Plätze ein, die Namen der „wichtigsten“ Aufklärer*innen lernt man in der Schule kennen, auf Wikipedia stechen, jedenfalls in der Abrufstatistik, Voltaire, Kant & Co. die zeitgenössischen Intellektuellen des 21. Jahrhunderts um Längen aus, die Zahl der Straßen, Plätze und Schulen, die den Namen von Aufklärer*innen tragen, ist unüberschaubar, Denkmäler bevölkern die Städte – und so weiter! All das bezieht sich nicht nur auf Europa und Nordamerika, vieles davon hat längst globalen Charakter. Weltweit gibt es mehr als Zehntausend Wissenschaftler*innen, die über die Aufklärung oder bestimmte Aspekte bzw. Autor*innen arbeiten, die Zahl der Autor*innen, die sich an den Wikipedia-Artikeln über Aufklärer*innen beteiligen, ist beeindruckend, Texte der Aufklärung werden immer wieder neu und wohlfeil gedruckt, der Kanon an neu zugänglich gemachten Texten wird stetig erweitert. Noch mehr erschließt sich die Bedeutung der Aufklärung aber aus der Kritik, der sie schon immer – das heißt seit ihrer eigenen Zeit, dem 18. Jahrhundert – ausgesetzt war: Sie soll materialistisch, atheistisch, demokratisch (damals eher ein Schimpfwort) und vieles mehr gewesen sein, verantwortlich für alle revolutionären Übel, für Entchristianisierung, für Säkularisierung, für alles, was die Alte Ordnung aus kirchlichem und politischem Absolutismus umstürzte. Später wurde die Aufklärung dann für den Totalitarismus im 20. Jahrhundert verantwortlich gemacht, für die Brachialgewalt der Moderne, heute wird sie als zentrales Instrument kolonialer Herrschaft und eines verheerenden Europazentrismus angesehen, sie soll sich mit der Sklaverei arrangiert, die Grundlagen des Rassismus geschaffen und Frauenrechte ausgeschlossen haben. Mildere Kritiken sehen die Aufklärung als eine Funktion der sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch-

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setzenden Bürgerlichen Gesellschaft, die die Herrschaft des Kapitals sicherte und die Welt nach den Bedürfnissen des Kapitalismus einrichtete. Demgegenüber ist das öffentliche und populäre Image der Aufklärung überaus positiv. Die meisten Menschen sehen in ihr die Grundlegung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit sowie von Freiheit und Freiheiten. Die Aufklärer*innen wendeten sich gegen viele Formen der Unterdrückung und gingen dabei oftmals persönliche Risiken ein. Sie kamen ins Gefängnis, wurden verbannt oder gingen selber ins Exil, ihre Texte wurden verboten und auf den Index gesetzt, manche Bücher wurden aufgrund von Gerichtsurteilen verbrannt, die Aufklärer*innen wurden publizistisch angegriffen und sogar, wie Olympe de Gouges, hingerichtet. Niemandem war der spätere Ruhm in die Wiege gelegt, die wenigsten kamen aus wohlhabenden Verhältnissen, sondern arbeiteten sich hoch, und zwar als Geistesarbeiter*innen. Manche scheiterten an Lebensaufgaben wie Kinder haben und aufziehen, andere lebten ein sexuell freizügiges Leben oder ein Doppelleben, wieder andere schätzten gutes und reichliches Essen und Trinken und ruinierten sich gesundheitlich. Nichts, was dem 21. Jahrhundert fremd wäre. Und zwischen all dem, radikaler Kritik und emotionaler sowie inhaltlicher Identifikation, steht die Wissenschaft, die dem Gebot der Objektivität folgen muss. Die Aufklärungskritik findet in der Wissenschaft Nahrung, aber ebenso die populäre Version der Aufklärung. Beide arbeiten allerdings mit einem späteren Konstrukt namens „Aufklärung“, während sich die historische Aufklärung im Zuge der ausdifferenzierten Forschung immer weniger als Grundlage eines grand récit, sei es des kritisch-negativen, sei es des affirmativ-positiven, zu eignen scheint. Nach der Aufklärung wurde aus „Aufklärung“ in einem sehr langen Konstruktionsprozess „die Aufklärung“, die für unterschiedliche gesellschaftliche Milieus weltanschauliche Orientierung bereitstellte. Das vorliegende Buch nähert sich diesen komplexen Verhältnissen aus fünf Überblicksperspektiven an. „Gesellschaftliche Orientierung“ entsteht nicht nur aus der von Erkenntnisinteressen geleiteten Lektüre von „Schlüsseltexten der Aufklärung“, sondern auch im Zusammenhang des Vollzugs von verschiedenen anderen Praktiken. Lesen ist freilich eine Praxis, es gibt verschiedene Praktiken des Lesens, aber nicht immer ist es diese Praxis, die im Vordergrund steht. Wird Aufklärer*innen ein Denkmal errichtet, geht dem ohne jeden Zweifel eine Praxis des Lesens voraus, aber der Weg bis zur tatsächlichen Errichtung des Denkmals schließt weitere Praktiken und Handlungsabläufe mit ein. Letztlich spricht ein Denkmal auch andere Sinne an und ermöglicht viele individuelle Assoziationen. Dasselbe stimmt, wenn der umgekehrte Weg des Denkmalsturzes begangen wird. Das erste Kapitel behandelt die Namensgebung: Der Name „Aufklärung“ sowie Äquivalente im Deutschen wie in anderen Sprachen entstanden schon im 18. Jahrhundert, die Eigennamenqualität, die „die Aufklärung“ heutzutage besitzt, entstand aber erst nach und nach. Es handelt sich um einen kollektiven performativen Sprechakt, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg in seine intensivste Phase eintrat. Das Kapitel „Namensgebung“ setzt mit einer neuerlichen Lektüre der zwei wohl berühmtesten Versuche zu sagen, was Aufklärung sei, ein, nämlich mit

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Moses Mendelssohns und Immanuel Kants Antworten aus dem Jahr 1784 auf die in der Berlinischen Monatsschrift gestellte Frage, was Aufklärung sei. Danach wird der Namensgebung nachgegangen, die, das sei betont, erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreichte. Das nachfolgende Kapitel „Praktiken“ befasst sich praxeologisch mit der Geschichte der Aufklärung in Europa sowie in anderen Weltregionen (in den Amerikas, in Indien, in Afrika, im Osmanischen Reich) im „langen 18. Jahrhundert“ (ca. 1680–1820), nach allgemeiner Auffassung der eigentlichen Aufklärungsepoche, sowie im 19. und 20. Jahrhundert. An das „Jahrhundert der Aufklärung“ schloss sich ein praktischer Umgang mit dem Erbe der Aufklärung an. Es entstand eine Denkmalskultur, in Frankreich wurde im Zuge der Dreyfus-Affäre (1894–1906) die Aufklärung zur Referenz im Kampf gegen die Aushebelung des Rechtsstaats, gegen Antisemitismus und gegen Rechtsextremismus. Im arabisch-islamischen Raum werden wir uns mit der Nahḍa-Epoche befassen, außerdem nach China, Japan und in andere Regionen schauen. Dem praktischen Umgang mit dem Erbe der Aufklärung wird in diesem Kapitel zunächst bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und den Debatten zur Vorbereitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948) und z. B. der indischen Verfassung von 1950 nachgegangen. Zum praktischen Umgang gehört auch die „Aufklärung als Identitätsvergewisserung“ während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit, es gab Zusammenhänge zwischen der Europäischen Integration und dem Umgang mit dem Erbe der Aufklärung. Der praktische Umgang mit dem Erbe endete da natürlich nicht, aber das aufkommende digitale Zeitalter brachte eine neue Globalität, die im Kapitel „Orientierung“ analysiert wird. Das Kapitel „Praktiken“ soll ein Bewusstsein von der Vielfalt der Akteur*innen vermitteln, die, praxeologisch betrachtet, dazu beitrugen, dass „die Aufklärung“ die Funktion gesellschaftlicher Orientierung in Europa, in den Amerikas, im arabischen bzw. im islamischen Raum, der Teile Afrikas einschließt, und in Teilen Asiens übernahm. Das daran anschließende Kapitel wurde mit „Intellektuelle“ betitelt. Die Erarbeitung des uns so vertrauten Begriffs „die Aufklärung“ in verschiedenen Sprachen geschah überwiegend in der wissenschaftlichen Sphäre, die freilich Teil der Namensgebung und der Praktiken ist, wie auch die Wissenschaftler*innen zu den Akteur*innen gehören, die gesellschaftliche Orientierung aus der Aufklärung ableiteten. Aber nicht alle taten das, an der wissenschaftlichen Sphäre kann die Geteiltheit der Meinungen, ihre Vielfalt, ihre Kontroversialität studiert werden. Diese Sphäre deckt ein breites Publikationsspektrum ab, sie beschränkt sich weder auf die universitäre oder sonstig institutionalisierte Wissenschaft und Forschung und sie richtet sich keineswegs ausschließlich an die Wissenschaft als Publikum. Als trans- bzw. international vernetzte soziale Gruppe öffnet diese sich hin zu den „Intellektuellen“, die als Schlüsselwort für das Kapitel fungieren. Wissenschaftliche bzw. allgemein Sachbücher und erst recht populärwissenschaftliche Publikationen, die oft sehr einflussreich sind und auf die Wissenschaft zurückwirken können, zählen dazu. In gewissem Sinn konstruiert Wissenschaft erst „die“ Aufklärung, indem sie nicht nur den Begriff, der die Qualität eines Eigennamens

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besitzt, erarbeitet, sondern auch sagt, gewissermaßen zwischen zwei Buchdeckeln, was „die Aufklärung“ inhaltlich ausmacht. Diese Grundlagenforschung gehört zu all dem dazu, das die Aufklärung als gesellschaftliche Orientierung konditioniert. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Aufklärung verfolge ich im 19. Jahrhundert beginnend mit Hegel und Germaine de Staël und deren Positionierungen in Bezug auf „Aufklärung“. Vor allem französische und deutsche Gelehrte trieben die Konstruktion von „der Aufklärung“ voran – die „Erbfeindschaft“ zwischen den beiden Ländern bzw. Nationen spielte dabei eine Rolle als antreibende Kraft. Vorgestellt werden in chronologischer Reihenfolge nach Hegel und Germaine de Staël: Guizot, Cousin, Villemain, de Tocqueville, Hettner, Taine, Rocquain, Windelband, Troeltsch, Dilthey, Vorländer sowie Høffding, letzterer ein damals viel gelesener dänischer Philosoph. Im 20. Jahrhundert gehe ich ein auf Hibben, Cassirer, Joël, von Brockdorff, Horkheimer (1930), Groethuysen, Hazard, C. L. Becker, Koselleck, Palmer, Cobban, Habermas, Gay, Foucault und Israel. Die Auswahl der Autor*innen wurde nach Rezeption und Wirkung vorgenommen. Wie die Liste, die im Text um weitere Autor*innen und deren Schriften ergänzt wird, zeigt, handelt es sich um einflussreiche, manchmal epochemachende und breit rezipierte Texte zur Aufklärung, die auf je eigene Weise die alte Frage, was Aufklärung sei, zu beantworten versuchten. Die getroffene Auswahl beinhaltet keine Geringschätzung vieler anderer wichtiger Forschungsbeiträge, sie soll lediglich helfen, die großen Linien der wissenschaftlichen Konstruktion „der Aufklärung“ nachzuvollziehen. Dieser Buchteil dürfte, obwohl er auf einer strikten Auswahl beruht, der bisher umfassendste Versuch dieser Art sein.3 Das Kapitel „Kritik“ befasst sich mit fundamentaler Kritik an der Aufklärung im 20. Jahrhundert. Kritik wurde auch schon im 19. Jahrhundert geübt, sie wird im Kapitel „Intellektuelle“ zusammen mit der Analyse wissenschaftlicher Positionen behandelt. Im Kritik-Kapitel geht es vorrangig um die unterstellten ursächlichen Zusammenhänge zwischen dem Phänomen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert und der Aufklärung. Zentral war und ist in dieser Beziehung „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, aber es ist auch noch auf andere Texte einzugehen. Kritik äußerte und äußert sich zudem in Gestalt von Denkmalstürzen. Das geschah etwa in Paris unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg, es geschah im Jahr 2020. In der Gegenwart ist es vor allem eine neue kritische Sicht auf die Aufklärung im Zuge der Aufforderung, das Denken zu entkolonialisieren, mit der man sich befassen muss. Autoren wie Emmanuel Chukwudi Eze und Dipesh Chakrabarty haben neue und kritische Blicke auf die Aufklärung in die Diskussion gebracht. Die Kritiker*innen zählen natürlich ebenfalls zu den Akteur*innen der Aufklärung als gesellschaftliche Orientierung, wobei ihre Methode nicht die affirmativ-positive, sondern die negativ-kritische ist.

3

S. diverse Skizzen: Roche/Ferrone (1999): Historiographie des Lumières. Hunt/Jacob (2003): Enlightenment Studies. Ferrone (2015): The Enlightenment.

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Das Kapitel „Orientierung“ setzt sich mit der gegenwärtigen (vorwiegend 21. Jahrhundert) Globalität der Aufklärung und den diese tragenden Kommunikationskanälen bzw. allgemein Medien auseinander. Hier wird unter anderem auf Wikipedia mit ihrer großen Zahl an Artikeln zu Aufklärer*innen, auf den Niederschlag der Aufklärung in Zeitungen weltweit sowie auf aktuelle Literatur eingegangen, die teils zum Typus der Streitschrift, teils zum Typus des Sachbuchs zählt. Beliebte Überschriften sind hierbei „zweite Aufklärung“, „Aufklärung jetzt!“, und ähnliche, hier hat die Verschmelzung von Aufklärung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ihren Ort gefunden. Die Aufklärung durchweg unter – wenn auch aus Gründen des Umfangs ausgewählten – globalhistorischen Aspekten zu betrachten, ist nach wie vor nicht die Regel. Ich versuche das durch das Buch durchzuziehen und stelle in der Folge bilanzierend im Kapitel „Achsenzeit“ die Frage, inwieweit es beim Verständnis der Aufklärung weiterführen könnte, diese als „Achsenzeit“ zu betrachten. Das knüpft an den Begriff von Karl Jaspers, vor allem aber an die Auseinandersetzung damit seit Shmuel N. Eisenstadt an bis hin zu den rezenteren Texten von Hans Joas und Jan Assmann. Lässt sich das in Bezug auf die Aufklärung fruchtbar machen? Lässt sich diese aus der immer noch vorherrschenden europäischnordamerikanischen Betrachtungsweise herausholen und in eine globale Perspektive einbetten? AUFKLÄRUNGSFORSCHUNG IM WANDEL Wer immer ein Buch über die Aufklärung schreibt, sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, die Aufklärung zu definieren, weil dies der Gegenstand ist, um den es gehen soll. Entsprechend zahlreich sind die Angebote an Definitionen. Jede Definition von der Aufklärung, so sehr man sich um wissenschaftliche Objektivität bemühen mag, ist Teil eines Konstruktionsprozesses, in dessen Verlauf erst das die Aufklärung genannte Phänomen entstanden ist. Die wissenschaftliche Forschung kann davon nicht ausgenommen werden. Forschung zur Aufklärung gibt es seit dem 19. Jahrhundert, doch die in die Aufklärungsforschung einbezogenen Thematiken erweiterten sich ständig. Die Forschung trat vor allem nach dem Ersten Weltkrieg immer mehr als international vernetztes Feld auf. Auf dem Internationalen Historikerkongress 1928 in Oslo wurde, um ein Beispiel für Ansätze zu einer internationalen institutionellen Unterfütterung zu geben, eine internationale Arbeitsgruppe zur Erforschung des „despotisme éclairé“, des „aufgeklärten Absolutismus“, ins Leben gerufen, die zunächst bis 1937 Forschungs- und Arbeitsberichte herausgab. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde daran noch einmal angeknüpft.4 Ähnlich entsprang das Theorem von der „atlantischen Revolution“ der internationalen Zusammenarbeit. Die Geschichte der Menschenrechte, die natürlich 4

L’Héritier (1928): Le rôle historique du despotisme éclairé; L’Héritier (1933): Rapport. Hartung/Mousnier (1955): Quelques problèmes concernant la monarchie absolue.

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weiter zurückreicht als die Aufklärung, aber für die die Aufklärung unbestritten eine entscheidende Entwicklungsphase bedeutete, war um 1900 Gegenstand heftiger deutsch-französischer Kontroversen wie zwischen Georg Jellinek und Émile Boutmy gewesen, aber diese Kontroverse war in eine international betriebene Forschung eingebettet gewesen.5 Trotz der weit zurückreichenden Wurzeln der wissenschaftlichen Forschung zum 18. Jahrhundert und zur Aufklärung bzw. heute zu den Aufklärungen stammt die institutionelle Unterfütterung vorwiegend aus der Zeit nach 1945, großenteils sogar erst aus den letzten Jahrzehnten. Die Zahl der Forschungszentren der Aufklärung wächst. Die Zahl der Aufklärungsforscher*innen steigt bis heute global an, populäre wissenschaftliche Sachbücher bestimmen öffentliche Diskussionen. Aufklärungsforschung ist heutzutage kein geisteswissenschaftliches Spezialgebiet, sondern ein interdisziplinäres Massenphänomen, das, wie wir im vierten Teil zur Globalität der Aufklärung sehen werden, mittels Zeitungen und Wikipedia weit in die Gesellschaften hineinreicht. Aufklärungsforschung und ihre Vermittlung ist zu einer sozialen Praxis geworden. Als ebenso weitsichtig wie wirkungsvoll erwies sich das Wirken des Gelehrten Theodor Bestermann, der 1904 im polnischen Łódź geboren wurde, jedoch überwiegend in England und der Schweiz lebte. 1953 startete er mit der Edition der vollständigen Korrespondenz Voltaires und versuchte, das Editionsunternehmen institutionell abzustützen. Ein Ergebnis war die Gründung der bis heute existierenden Voltaire Foundation in Oxford. Im Zusammenhang eines Aufklärungskongresses in der Schweiz 1963 erfolgte der Anstoß zur 1967 gegründeten ISECS – International Society for Eighteenth-Century Studies. Jochen Schlobach beschrieb einmal die Gründungsintentionen: Die Gründung der Internationalen Gesellschaft ist ganz offensichtlich auf dem historischen Hintergrund einer Wiederentdeckung der aufklärerischen Ideen in den sechziger Jahren zu sehen. Die Berufung auf die gemeinsame Tradition der Menschenrechte, der Forderung nach Freiheit, aber auch nach Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit war für die Forscher, die sich in dieser Zeit international organisierten, erklärtermaßen eine grundlegende Motivation für ihre Arbeit und den wissenschaftlichen Austausch mit anderen. Die chronologische Parallelität der Gründung mit der Politisierung der Universitäten in der 68iger-Bewegung ist sicherlich nicht zufällig.6

Heute gibt praktisch jede der über dreißig Mitgliedsgesellschaften, die sich über alle Kontinente verteilen, eine Zeitschrift zum 18. Jahrhundert heraus, zunehmend auch digital und open access. Dazu kommen einschlägige Buchreihen und z. B. Dissertationspreise.7 Und nicht alle Zeitschriften und Buchreihen zum 18. Jahrhundert bzw. zur Aufklärung hängen mit dem weltweiten Verbund der ISECS

5 6 7

Zu dieser Forschungsgeschichte s. Schmale (1997): Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit, Kap. 1. Schlobach (1995): Zur Geschichte und den Aufgaben der Internationalen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Zitat S. 206 f. Vgl. die verschiedenen Informationsrubriken der Website der ISECS: https://tinyurl.com/ 33924vev.

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zusammen; sie sind davon unabhängig und bereichern das wissenschaftliche Feld ebenso. Eine ISECS-Mitgliedschaft war auch Wissenschaftler*innen aus den sozialistischen Ländern Osteuropas möglich, eine Mitgliedsgesellschaft konnte vor 1989 jedoch nur in Ungarn (1971) geschaffen werden. Die ISECS förderte den wissenschaftlichen Austausch untereinander über den Eisernen Vorhang hinweg. Ähnliches leistete die ISCHE – International Standing Conference for the History of Education, die 1986 auf dem Kongress in Parma eine Arbeitsgruppe zu „Aufklärung und Erziehung“ (International Standing Working Group on Education and Enlightenment) einrichtete, in der ebenfalls osteuropäische Länder gut vertreten waren und die sich im Jahr darauf, 1987, in Pécs (Ungarn) zum zweiten Mal traf. 8 Die mit der Einrichtung dieser Arbeitsgruppe erleichterte Vernetzung von Wissenschaftler*innen aus Ost und West ermöglichte es Nan L. Dodde und mir in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte in der Aufklärung herauszugeben, das die östliche Hälfte Europas in derselben Ausführlichkeit berücksichtigte wie die westliche Hälfte inklusive der skandinavischen und südeuropäischen Länder.9 Für alle Länderkapitel galt dieselbe Gliederung. Erstmals wurde für ganz Europa unter anderem die Geschichte der schulischen Mädchenbildung und die Geschichte der Lehrerinnen dargestellt. Das Handbuch entstand im Wesentlichen vor der Öffnung der Grenzen 1989. Aufklärungsforschung und Sozialismus vertrugen sich recht gut aufgrund dessen Wurzeln in der Aufklärung. „Materialismus“ und „Atheismus“ boten sehr gute Anknüpfungsthemen für eine reichhaltige Aufklärungsforschung wie beispielsweise in der DDR. Diese wurde hinsichtlich ihres Aufbaus durch Werner Krauss und zahlreiche weitere Wissenschaftler*innen wie auch hinsichtlich des Umbruchs 1989/1990 im Rahmen eines „Studientages“ (15. April 2019) am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, dessen Gründungsvorgeschichte in die allerletzten Jahre der DDR zurückreicht, diskutiert. Der Studientag wurde in einem kleinen, von Daniel Fulda herausgegebenen, Sammelband dokumentiert.10 Die Möglichkeit, Nationalbewusstsein historisch mit den „progressiven“ Ideen der jeweiligen Aufklärung in Verbindung bringen zu können, wurde in den Ostblockländern genutzt. Da sich im Westen ein Teil der Aufklärungsforschung in 8

Website der ISCHE: https://www.ische.org/. Die Arbeitsgruppe besteht offenbar nicht mehr. Veröffentlichung der Papers der ersten drei Arbeitsgruppentreffen 1986 (Parma), 1987 (Pécs) und 1989 (Oslo) als „Graue Literatur“: Hager/Jedan, Hg. (1986): The Notion of Enlightenment. Jedan/Hager, Hg. (1987): Educational Thinkers of the Enlightenment. Kach/Jedan/ Hager, Hg. (1989): Enlightenment & Education. Folgebände erschienen dann im Verlag Dr. Dieter Winkler, Bochum. 9 Schmale/Dodde, Hg. (1991): Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung. 10 Fulda, Hg. (2021): Revolution trifft Aufklärungsforschung. S. darin vor allem: Goldenbaum (2021): Die Aufklärungsforschung der DDR aus heutiger Sicht; Fulda (2021): Aufklärung(sforschung) im Sozialismus; Thoma (2021): Wende im Osten – Wende im Westen? Ich danke Daniel Fulda für die druckfrische Überlassung des Bandes!

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der Folge von Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ (1942–44/ 1947) mit kritisch-sozialgeschichtlichen Ansätzen verband, die wiederum eine begehbare Brücke selbst zu ausgesprochen marxistischen Ansätzen darstellen konnten, gab es für die internationale Forschungsdiskussion weniger Hindernisse aufgrund der Blockgrenzen als in anderen Wissenschaftsfeldern. Im Lauf der Jahrzehnte hat die Erforschung von Aufklärung und 18. Jahrhundert innerhalb des globalen Wissenschaftssystems immer mehr Raum erhalten. Das Gewicht des Themenfeldes ist sehr groß geworden. Die Institutionalisierung und Strukturierung der Forschung scheint den weiter unten noch zu erläuternden Befund zu stützen, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg einen gesellschaftlichen Zuwachs des Interesses an der Aufklärung gegeben hat. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überwog die europazentrierte Interpretation der Aufklärung. Innerhalb dieses Europazentrismus lag der Schwerpunkt zunächst auf der englisch-schottisch-irischen, französischen und deutschen Aufklärung, dann in einer bezeichnenden Verengung auf der westeuropäischen Aufklärung, das heißt auf der französischen und englischen bzw. schottischen. Schon die italienische und die deutsche Aufklärung erhielten weniger Aufmerksamkeit, Immanuel Kant ausgenommen. Radikale Aufklärer wie die französischen Materialisten (Baron d’Holbach; Helvétius etc.) oder der Frühaufklärer Spinoza wurden weniger beachtet als Montesquieu, Voltaire oder Rousseau. Schrittweise erweiterte sich der Fokus (wieder).11 Das Interesse an der Aufklärung auf der iberischen Halbinsel und in den Kolonien Spaniens und Portugals12 wuchs seit den 1970er Jahren. Die Aufklärung in Italien hob Franco Venturi (1914–1994), der Mitglied des italienischen Widerstands, der Resistenza, gewesen war, von 1969 bis 1990 mit fünfbändiger Wucht ins Bewusstsein.13 Es dauerte relativ lange, bis die nordamerikanische (eigentlich USamerikanische) Aufklärung nachhaltig ein gegenüber der europäischen Aufklärung eigenständiges Profil erhielt. Früher scheint es dazu keinen sachlichen Anlass gegeben haben. Als Beispiel kann auf die an der Universität Chicago zu Beginn der 1950er Jahre entstandene Studie des österreichischen Historikers Gerald Stourzh über Benjamin Franklin hingewiesen werden. Im ersten Kapitel findet sich ein Abschnitt über „Franklin as the Embodiment of the Age of Enlightenment“, das die ganz engen Verflechtungen mit der Aufklärung in Europa ausweist.14

11 Statt vieler sei als Überblick genannt: Kontler (2006): What is the (Historians’) Enlightenment Today? Withers (2007): Placing the Enlightenment. S. auch: Lilti (2019): L’héritage des Lumières, Einleitung. 12 Krauss (1973): Die Aufklärung in Spanien, Portugal und Lateinamerika. Paquette, Hg. (2009): Enlightened Reform in Southern Europe and its Atlantic Colonies. Ein konzises Kapitel bei: Reinhard (2016): Die Unterwerfung der Welt, Kap. XI.1: „Aufklärung und Reform im iberischen Amerika“, S. 553–565. Thomas Fröschl (Wien) danke ich für den Hinweis auf das ältere Werk: Whitaker (1942): Latin America and the Enlightenment. 13 Venturi (1969–1990): Settecento riformatore. 14 Stourzh (1954): Benjamin Franklin, hier S. 3–5.

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Später fand ein Perspektivwechsel statt, der sich an einigen Publikationen nachvollziehen lässt. Die Namensgebung „American Enlightenment“ verdankt einiges der Spezialistin des US-amerikanischen 18. Jahrhunderts Adrienne Koch (1913–1971), die 1961 „Power Morals and the Founding Fathers: Essays in the Interpretation of the American Enlightenment“ veröffentlichte.15 Es folgte die von ihr 1965 herausgegebene Anthologie mit Texten von Franklin, Adams, Jefferson, Madison und Hamilton, die im Haupttitel „The American Enlightenment“ hieß.16 Deutlich trat die Sache mit Henry F. Mays „The Enlightenment in America“ 1976 hervor.17 Frank Kelleter folgte 2002 mit einer monumentalen Habilitationsschrift, in der er „Vernunft“ und „Rationalität“ als Maßstab an die (nord-)amerikanische Aufklärung anlegte.18 2004 ‚adelte‘ Gertrude Himmelfarb die amerikanische Aufklärung als Gleiche unter Gleichen mit der britischen und der französischen Aufklärung. Andere Aufklärungen mit nachhaltiger Bedeutung scheinen für sie nicht existiert zu haben – Cesare Beccaria kommt einmal in einer Fußnote vor, Immanuel Kant wird je einmal am Anfang und Ende des Buches erwähnt, dafür wird Edmund Burke, gemeinhin als scharfer Aufklärungskritiker gesehen, zu einer aufklärerischen Leitfigur.19 In den sozialistischen Staaten Europas blühte die Erforschung der regionalen ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Aufklärungen auf.20 Die marxistische Forschung lieferte auch wichtige Beiträge zur Erforschung der lateinamerikanischen Aufklärung und der Aufklärung im Osmanischen Reich bzw. der Türkei – und natürlich zur Aufklärung in Russland.21 Rezenter ist das Kapitel „österreichische“ oder „habsburgische“ Aufklärung.22 Diese schien sich lange Zeit im aufgeklärten Absolutismus eines Josefs II. zu erschöpfen – dem „Josefinismus“.23 Was natürlich unzutreffend ist. Es gab einen Sonnenfels, einen van Swieten und viele andere mehr, die ganz und gar Aufklärer waren, aber trotz mancher Schriften eher als Praktiker denn als Autoren epochemachender Werke wirkten. Doch sei in Erinnerung gerufen, dass der berühmte Cesare Beccaria habsburgischer Untertan war und von Maria Theresia (nach Kaunitz’ Fürsprache) 3.000 Lire jährlich erhielt. Tatsächlich macht es wenig Sinn, nach einer „österreichischen“ Aufklärung suchen zu wollen, vielmehr hatte die Aufklärung in der Habsburgermonarchie, die im 18. Jahrhundert, mit gebietswei15 16 17 18 19

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Koch (1961): Power Morals and the Founding Fathers. Koch (1965): The American Enlightenment. May (1976): The Enlightenment in America. Kelleter (2002): Amerikanische Aufklärung. Himmelfarb (2004): The Roads to Modernity. Edmund Burke erhält als einziger der besprochenen Autoren ein eigenes Kapitel. Ich komme auf Himmelfarbs Buch im Kapitel „Orientierungen“ zurück. Vgl. den forschungsgeschichtlich orientierten Themenband: Zelle, Hg. (1995): Aufklärung(en) im Osten. Kossok/Seiffert/Grasshoff/Werner (1974): Aspekte der Aufklärungsbewegung in Lateinamerika, Deutschland, Rußland und der Türkei. Fillafer (2020): Aufklärung habsburgisch. Kritische Aufarbeitung der Historiografie: Fillafer/Wallnig, Hg. (2016): Josephinismus zwischen den Regimen.

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sen Unterbrechungen im Bereich des Heiligen Römischen Reiches, vom Atlantik (Österreichische Niederlande, das spätere Belgien) bis auf den Balkan reichte, ihren Platz wie anderswo auch. Dies würde einen nicht geringen Teil der Aufklärung in Ostmittel- und Südosteuropa mit abdecken – deren intensive Erforschung aber erst in die Zeit des Ostblocks fiel und dabei durchaus der nationalen Selbstbehauptung diente. Da hätte Habsburg gestört und wäre politisch wenig opportun gewesen. Letztlich geht es freilich nicht um eine nationale Zuordnung von Aufklärung, denn die Adjektive baltisch, deutsch, französisch, polnisch, schottisch usw. bezeichnen zunächst sprachliche Ausprägungen von Aufklärung – gewiss: in konkreten regionalen Kontexten, die keineswegs irrelevant sind. Diese Ausprägungen wurden durch die Korrespondenznetzwerke der Aufklärer und Aufklärerinnen überlagert, außerdem waren diese auch recht mobil. Inhaltlich sahen sich wohl alle in einem menschheitlichen Zusammenhang, wobei das Menschheitliche am Schluss immer in konkreten Verhältnissen vor Ort, also lokal und regional, stattfindet. Die polnischen Aufklärer, die sich in der Situation der drei Teilungen Polens besonders um die polnische Sprache, Kultur und Bildung kümmerten, waren daher nicht weniger Aufklärer als andere in Westeuropa. Wenn früher die Aufklärung eher als Gegenentwurf zum Katholizismus und der katholischen Kirche gesehen wurde, hat sich längst die Rede von der „katholischen Aufklärung“ etabliert. Hier können einerseits die globalgeschichtliche Studie von Ulrich L. Lehner (2016) wie, andererseits, die das Theorem von der „katholischen Aufklärung“ ausdifferenzierende Arbeit von Thomas Wallnig (2019) als Marksteine genannt werden.24 Es ist richtig, dass sich viele Geistliche aller christlichen Konfessionen und Kirchen einschließlich der orthodoxen im gesamten Europa wie in Lateinamerika stark für Positionen der Aufklärung interessiert und dabei geholfen haben, diese im Sinne kultureller Mittler weiter zu verbreiten, oder selber zu aktiven Aufklärern und manchmal Revolutionären wurden. Etabliert hat sich ebenfalls seit längerem die Erforschung der jüdischen Aufklärung, der Haskala, mit Moses Mendelssohn als zentralem Philosophen.25 Vor allem Jonathan Irvine Israel hat die räumliche und thematische Vielfalt der Aufklärung in einer Synthese zusammengeführt. Seine Synthese bietet sich in Gestalt von drei selbständigen Bänden dar, zeigt sich aber besonders prägnant in „Democratic Enlightenment“, dem letzten der drei Bände.26 Darin geht er z. B. ausführlich auf die Aufklärung in den Amerikas und auf die Zusammenhänge mit den diversen Revolutionen 1780–1809 ein. Weitere Kapitel widmen sich dem kulturellen Austausch mit Indien, China und Japan.

24 Lehner (2016): The Catholic Enlightenment (dt. 2017). Wallnig (2019): Critical Monks. Zur Entwicklung von Theorem und Forschung „katholische Aufklärung“ vgl. Printy/Lehner, Hg. (2010): A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe. 25 Vgl. bspw. Bourel (2004): Moses Mendelssohn. Steer (2019): Moses Mendelssohn und seine Nachwelt. Mehrere Beiträge zur jüdischen Aufklärung in: Hinneburg/Jurewicz, Hg. (2014): Das Prinzip Aufklärung. 26 Israel (2011): Democratic Enlightenment.

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Die Postkolonialismus-Debatte beförderte schließlich eine Ausweitung des Blicks in wirklich globale Dimensionen hinein. Doch interessanterweise spielt der Beitrag nichteuropäischer Weltregionen zur Aufklärung in der global in Gestalt der ISECS organisierten Aufklärungsforschung kaum eine Rolle. Dieser Beitrag wird anderswo und außerhalb „der“ Aufklärungsforschung untersucht. Man begann, sich mit dem Osmanischen Reich und der Frage einer Aufklärung im 18. Jahrhundert dort zu befassen. Die Perspektive wurde allgemeiner auf den ausgedehnten islamischen Raum erweitert. Um 1990 konnte Reinhard Schulze eine Diskussion über die Frage nach einer „islamischen Aufklärung“ anstoßen.27 Die Erträge dieser Diskussion sind eher in einer reichen Spezialforschung zu finden, die sich kaum an die allgemeine Aufklärungsforschung richtet, während manches Sachbuch bzw. wissenschaftliche Sachbuch wenig Probleme hat, den Begriff der „islamischen Aufklärung“ zu covern, ohne das implizite Versprechen, diese Aufklärung aufzuklären, auch einlösen zu können.28 Das heißt nicht, dass solche Bücher nicht einen sinnvollen Zweck erfüllen können und ich werde mich im weiteren Verlauf der Ausführungen durchaus auch auf diese beziehen. Es wurde die Frage gestellt, ob es in Indien, China und Japan eine Aufklärung gab. Von Afrika trat der äthiopische sowie nördliche arabisch-islamische Teil ins Blickfeld. Die Forschung erweiterte folglich ihren geografischen Horizont erheblich (Details s. im Kapitel „Praktiken“). Sebastian Conrad zog 2012 eine Zwischenbilanz29, die trotz ihrer Fülle noch nicht die Augen der Aufklärungsforschung öffnete. Es bleibt daher kritisch anzumerken, dass der Hauptstrom der Aufklärungsforschung nicht globalgeschichtlich ausgerichtet ist und die längst gebauten Brücken kaum betreten werden. Die globalgeschichtliche Dimension der Aufklärung darf nicht mit „Verwestlichung“ oder „Modernisierung nach westlichem Muster“ gleichgesetzt werden. In den letzten Jahren wurde außerdem mehr Augenmerk auf Themen wie Rassismus, Antisemitismus und Sklaverei gerichtet – wie positionierten sich Aufklärer*innen zu diesen Fragen? Waren Hume, Kant und andere Rassisten? Hier kommt es immer wieder zu unmittelbaren Transfers zwischen Forschung und öffentlicher Debatte. Praxis der Aufklärung ist in unserer Zeit vielleicht enger mit Forschung zur Aufklärung verbunden als früher. Das gilt umso mehr, wenn mit dem digitalen Zeitalter zusammenhängende Phänomene wie Wikipedia in Betracht gezogen werden (s. Kapitel „Orientierungen“).

27 Schulze (1990): Das islamische achtzehnte Jahrhundert. 28 Bellaigue (2018): Die islamische Aufklärung. Cavallar (2017): Islam, Aufklärung und Moderne. 29 Conrad (2012): Enlightenment in Global History.

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ERZÄHLKONSTRUKTE Der Rückbezug auf die Aufklärung und ihre Epoche stellt zunächst einen Diskurs dar, der global – also nicht nur in Europa – geführt wird und dessen Sprecher*innen aus der Wissenschaft, der Politik, aus dem Kulturbetrieb, aus dem Journalismus und aus der Zivilgesellschaft kommen. Die historischen Protagonist*innen des Diskurses sind meistens die bekanntesten europäischen Aufklärer*innen des 18. Jahrhunderts.30 Es scheint, als habe sich dieser Diskurs gegenüber der Annahme, wir befänden uns in der Postmoderne und damit in einer Zeit jenseits der Aufklärungsepoche, durchgesetzt. Die Kritik von einigen Intellektuellen an der Aufklärung – Heinz Thoma spricht bezüglich solcher Kritik von „Grablegungen der Aufklärung“31 – ist im öffentlichen Diskurs präsent, aber alles andere als beherrschend. Sie stellt, im Gegensatz zum rein akademischen und geisteswissenschaftlichen Diskurs, eher eine marginale Erscheinung dar. In der öffentlichen Rede, in welchem Medium auch immer, spielt aus sehr gut nachvollziehbaren Gründen der Bezug auf emblematische Namen wie Voltaire und emblematische Texte wie Kants Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ von 1784 eine große Rolle. Die Epochen-Namen der Aufklärung werden ebenso emblematisch eingesetzt wie die Namen konkreter Aufklärer. So ist im Deutschen „die Aufklärung“, im Französischen „les Lumières“, im Englischen „the Enlightenment“ jeweils ein emblematischer Name, mit dem allein vermeintlich alles gesagt werden kann, weil sich die entsprechenden Äußerungen auf ein (in Wirklichkeit lediglich unterstelltes) gesellschaftliches Wissen um die Aufklärung stützen können. Dass das so ist, ist eine rezentere Tatsache und reicht nur wenige Jahrzehnte zurück. „Die Aufklärung“ hat in einer keineswegs nur europäischen und nordamerikanischen Identitätskonstruktion eine wichtige Rolle gespielt und spielt sie immer noch. Generell überwiegt eine affirmative Haltung, die auf eine jederzeit abrufbare Gewissheit hindeutet, in der sich jemand selber unproblematisch wiederfindet und dabei davon ausgeht, dass das anderen ebenso ergeht. Identitäten funktionieren unter anderem nach diesem Prinzip. Selbst die kritische Auseinandersetzung mit „der Aufklärung“ hat mit Identität zu tun, weil es um die Grundlagen der Moderne, der modernen Zivilisation geht, um all das, was wir verinnerlicht haben. Daran hängt die große Frage, ob bestimmte Erscheinungen dieser Moderne, insbesondere Totalitarismus und der Holocaust, ihre Wurzeln ebenfalls in der Aufklärung, vor allem ihrem Konzept der Vernunft, haben. Speziell geht es um die Folgen von Rationalität, Rationalismus und Rationalisierung. Nichts von diesen Dreien kann allerdings als Entdeckung oder genuine Entwicklung der Aufklärung apostrophiert werden, alle drei reichen in die Antike zurück. 30 Vgl. unten Tabelle 5 im Kapitel „Orientierungen“. 31 Thoma (2019): Ende einer Epoche?, Kap. 4: „Die Grablegungen der Aufklärung: zur Geschichte der Vernunftkritik“.

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Ein Diskurs ist noch keine Große Erzählung, aber diese zeichnet sich immer deutlicher als solche ab. Was uns heute als Aufklärung präsentiert wird, hat nur bedingt etwas mit der historischen Epoche der Aufklärung zu tun. Vielmehr handelt es sich um ein Erzählkonstrukt, das allmählich, hauptsächlich aber nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Dies lässt sich an Begriffskonstruktionen wie „Projekt Aufklärung“ oder häufiger „Projekt der Aufklärung“ ablesen, die ab den 1980er Jahren vermehrt auftreten (vgl. Kapitel „Orientierung“). Im Vergleich dazu ging das 19. Jahrhundert mit der Aufklärung sehr viel unentschiedener um, noch war die Aufklärung meistens nicht die Aufklärung. Das jetzige Erzählkonstrukt entstand einerseits durch Affirmation (= affirmatives Erzählkonstrukt); „die Aufklärung“ wurde zur ideellen Grundlage der besseren Welt nach 1945, sie wurde unter dem Label „Zeitalter der demokratischen Revolutionen“ (Robert R. Palmer; vgl. Kapitel „Intellektuelle“) im ausgehenden 18. Jahrhundert zum kulturellen Erbe des Westens, aber – zunächst – auch vieler europäischer Kolonien, die in dieser Zeit unabhängig wurden, sich in dem Moment aber nicht oder noch nicht vom westlichen Erbe, das die Schulcurricula bestimmte, trennten. Ein Erzählkonstrukt entstand andererseits durch Kritik, für die die Aufklärung zu den Grundlegungen schrecklicher Verwerfungen in Gestalt von gewaltgesättigten Kolonialismen, Totalitarismen und Völkermorden gehört. Diese Kritik wurde während des Zweiten Weltkriegs entwickelt und fand den Weg in die Öffentlichkeit zumeist in den ersten Nachkriegsjahren (= kritisch-negatives Erzählkonstrukt; vgl. Kapitel „Kritik“). Dazwischen schob sich vor allem nach 1945 eine weitere zwar kritische, aber nicht verurteilende Interpretation der Aufklärung, wie sie von Reinhart Koselleck und Jürgen Habermas entscheidend geprägt wurde. Dieser Interpretation zufolge war die Aufklärung aufs engste mit der Bürgerlichen Gesellschaft verbunden, also jener gesellschaftlichen Formation, die das moderne kapitalistische Wirtschaftssystem perfektionierte und durchsetzte. Gleichwohl führte dies zum „Bürgerlichen Rechtsstaat“ (Habermas; vgl. Kapitel „Intellektuelle“). Dieses kritisch-analytische Narrativ verflocht sich mit der Interpretation der Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts als Vehikel der Bürgerlichen Gesellschaft, wobei es sich nicht zwingend um eine marxistische Geschichtsinterpretation handelt. Habermas’ „Bürgerlicher Rechtsstaat“ fasst dies alles im Grunde sehr gut zusammen. In allen drei Varianten wird der Aufklärung eine wesentliche historische Wirkmacht zugesprochen. Das affirmative Erzählkonstrukt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg besonders in den USA ausgebaut und unterfüttert. Einflussreiche Anstöße dazu kamen von Carl L. Becker (vor und während des Kriegs), Robert R. Palmer und Peter Gay, um nur drei zu nennen (vgl. zu allen Genannten Kapitel „Intellektuelle“). Der 1959 von Gerald Stourzh und Ralph Lerner herausgegebene Reader „Readings in American Democracy“ vereinigt Texte vom 18. bis 20. Jahrhundert und stellt auf diese Weise die Perspektive einer „langen Dauer“ her, an der sich die Fundierung der US-amerikanischen Demokratie im 18. Jahrhundert zeigt. Die Texte wurden ursprünglich in einem 1947 von der American Foundation for Polit-

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ical Education aufgelegten Erwachsenenweiterbildungsprogramm (bis 1958) eingesetzt.32 Das kritisch-analytische Erzählkonstrukt hatte seinen Schwerpunkt im Nachkriegseuropa, ebenso wie das kritisch-negative. Aktuell scheint aber der geschichtstheoretische Ansatz des kritisch-analytischen Erzählkonstrukts seinen Reiz verloren zu haben, während die beiden anderen global verbreitet sind und aufeinandertreffen. Das kritisch-negative Erzählkonstrukt wurde im Rahmen der Kolonialismuskritik und der Aufforderung, das Denken zu Entkolonialisieren, erneuert und aktualisiert. Die Erzählkonstrukte reichen durchaus weiter, nämlich in das 19. Jahrhundert, zurück, aber ihre Bedeutung für öffentliche und besonders politische Diskurse erhielten sie erst nach 1945. Das affirmative Erzählkonstrukt ist erfolgreicher als das kritisch-negative und das kritisch-analytische. Die historische Aufklärung und die heutigen Erzählkonstrukte der Aufklärung besitzen nur eine beschränkte Schnittmenge, obwohl sie sich beide auf das „lange“ 18. Jahrhundert beziehen, das von der „Frühaufklärung“ im späteren 17. Jahrhundert bis in die Zeit um 1800 reicht. Wir kommen nicht umhin zu fragen, was die Aufklärung wirklich gewesen war und was aus ihr gemacht wurde. Das mit dem Ranke’schen „wie es wirklich gewesen“ ist natürlich so eine Sache, aber es wäre unsinnig bestreiten zu wollen, dass die erwähnte multidisziplinäre Fachforschung unser Wissen über die Aufklärungsepoche nicht erheblich erweitert hätte. Speziell der geschichtswissenschaftliche Zugang schärft den Blick für die Vielfalt des historischen Phänomens namens Aufklärung, er schärft den Blick für Verflechtungen, aber auch für das, was sich nicht verflochten hat. Geschichte besteht immer aus vielen Widersprüchen, die nicht durch eine Definition von Aufklärung als Phänomen im Singular aufgehoben werden können. Ebenso wenig darf sich das Interesse auf die Schriften der Aufklärung beschränken. Vielmehr muss gefragt werden, wie Inhalte unter die Leute kamen und was dabei aus den Inhalten wurde. Welche Inhalte zirkulierten, wo kamen diese her, was waren deren Produktionsbedingungen, welche Praktiken generierten sie? Eine alte und zugleich immer aktuelle Kontroverse bildet das Verhältnis von Aufklärung und Revolution. Wie eng hingen beide zusammen, oder müsste man sie nicht doch als getrennte Phänomene begreifen? In der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung gehören beide zusammen, und zwar bis zum Scheitern des jakobinisch-demokratischen Experiments 1793/1794. Zugleich setzte sich der Aufklärungsdiskurs aus der Zeit vor der Revolution fort, wenn auch klarerweise nicht unbeeinflusst von der Revolution. Als eine solche Fortsetzung lässt sich Kants „Zum ewigen Frieden“ (1795) ansehen, die bald einen eigenen und breiten Diskurs über Frieden zeitigte. Der Naturforscher Alexander von Humboldt führte einen Hauptstrang der Aufklärung fort, nämlich die Natur der Natur zu ergründen. Die Debatte über Volksaufklärung wurde im deutschen Sprachgebiet und im östlichen Einflussgebiet der deutschen Aufklärung auch nach 1800 weitergeführt. Ohnehin wäre es unsinnig, von einem abrupten Ende der Aufklärung auszugehen, 32 Stourzh/Lerner, Hg. (1960 [1959]); Readings in American Democracy.

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aber ihr gingen zweifellos die treibenden Kräfte aus, während immer mehr Gegenaufklärer, Konservative und Romantiker die Bühne bevölkerten. Die Aufklärung wirkte fort, aber wenn beispielsweise Hegel und Marx ohne die Aufklärung nicht denkbar gewesen wären, waren sie dennoch keine Aufklärer mehr. Die Frage, was die Aufklärung „wirklich“ gewesen ist, ist mit der schon angedeuteten Doppelheit der Begriffe Aufklärung und Moderne zu verbinden. Diese Doppelheit betrifft zwei weit auseinanderliegende Zeiträume (Antike; Neuzeit). Meistens wird auf Erklärungen, wie das zusammenpasst, nicht allzu viel Mühe aufgewendet, es ist halt die abendländische oder europäische Kultur, die in der griechisch-römisch-jüdisch-christlichen Antike grundgelegt worden sei, um die es insgesamt gehen soll. Wenn das aber so einfach ist mit der Zusammengehörigkeit der historischen Zeiten, warum wird dann so viel Aufhebens um „die Aufklärung“ (des 18. Jahrhunderts) gemacht? Globalhistorische Aspekte bleiben in einer solchen europazentrierten Erzählkonstruktion ebenso außer Acht wie geschichtswissenschaftliche Konzepte. Bis heute wird häufig eine rein geistesgeschichtliche oder noch enger philosophiegeschichtliche Erzählhaltung eingenommen. Zweifellos lässt sich die Geschichte der Vernunftidee von der Antike an aufrollen – und dann werden Beispiele geliefert, die zeigen sollen, wie die Vernunft realhistorisch, darunter: totalitär in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gewirkt hat. So einfach funktioniert Geschichte aber nicht. In der Geschichte gibt es immer sehr viele Akteur*innen, nicht nur die ökonomisch, politisch und sozial Mächtigen, an deren Handeln die Wirkungsweise der Vernunftidee sei es nach Kant, sei es nach de Sade, sei es nach Hume oder Locke, sei es nach Spinoza, sei es nach Machiavelli, gerne illustriert wird. Es gibt die Widerständigen, also die, die z. B. im 20. Jahrhundert im Widerstand gegen die Totalitarismen ihr Leben gelassen haben, die aber in der Ideengeschichte der Vernunft und ihrer praktischen Wirkung, wie sie uns bei Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ vorgeführt wird, keinen Platz bekommen, als hätten sie nicht existiert und als wären sie nicht auch praktischer Ausdruck der Vernunftidee. Da ist der Eigensinn der Menschen, der den Mächtigen so oft ein Schnippchen schlägt. Er ist genauso Vernunftpraxis wie die Kreativität der Vielen, die sich bis heute der nicht nur bereits von Horkheimer und Adorno kritisierten Kulturindustrie widersetzt hat. Wenn es um die Aufklärung als Große Erzählung, sei es des Guten, sei es des Bösen, geht, werden die beigefügten geschichtlichen Betrachtungen eindimensional bis hin zur Karikatur. Manches trägt darüber hinaus zur Trübung des Blicks auf das 18. Jahrhundert bei. So wichtig Bücher wie Edward Saids „Orientalism“ gewesen waren und sind, sie haben die Tendenz, europazentrische Haltungen im großen Rahmen der kolonialen Zielsetzungen des 19. Jahrhunderts bereits in die Aufklärung selber vorzuverlegen. Den sprichwörtlichen Orientalismus finden wir nicht im 18. Jahrhundert, vielleicht Ansätze dazu. Und einzelne Autor*innen bilden nicht die gesamte historische Wirklichkeit ab. Ein guter Ansatzpunkt für einen weniger getrübten Blick auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts besteht in der globalgeschichtlichen Perspektive. Diese dient der Untersuchung, ob die Aufklärung ein europäisches-nordamerikanisches oder

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ein breiteres, ggf. globales Phänomen gewesen ist. Gab es im 18. Jahrhundert eine chinesische, eine „islamische“ Aufklärung? Und so fort! Der Ansatz bezieht sich zunächst explizit auf das 18. Jahrhundert, noch nicht auf das spätere 19. und frühe 20. Jahrhundert, als im Osmanischen Reich, in China, in Japan und anderswo jeweils eine Aufklärung unter westlichem Einfluss selber thematisiert, formuliert und ins Werk gesetzt wurde. Es gilt, sich mit einem doppelten Europazentrismus auseinanderzusetzen, der im Übrigen auch einen US-Amerika-Zentrismus darstellt. Zum einen geht es um das eingeschränkte Verständnis der Aufklärung als europäisches bzw. nordamerikanisch-europäisches Phänomen, zum anderen geht es darum, dass die Kolonialismuskritik die Aufklärung dem europäischen Kulturimperialismus zuordnet. Wenn sie aber mehr gewesen ist als nur ein europäisch-nordamerikanisches Phänomen, dann wird es mit der These vom europäischen Kulturimperialismus als Speerspitze der aktuellen Aufklärungskritik schwierig. Ist es möglich, richtig und sinnvoll, die Aufklärung aus diesen beiden europazentrischen Perspektiven herauszunehmen? Oder wird der europäische Kolonialismus des 18. Jahrhunderts dadurch nur verharmlost? Wenn man es genau nimmt, folgt am ehesten die Fachforschung dem Theorem der Postmoderne, denn sie hat Schritt für Schritt immer neue Felder erschlossen, die es am Ende unmöglich machen, von der Aufklärung im Singular zu sprechen. Die Fachforschung hat praktisch den postmodernen Plural Aufklärungen etabliert, während die öffentliche intellektuelle Auseinandersetzung im Positivem wie im Negativen jeweils einer Großen Erzählung, einem grand récit in der Diktion von Lyotard33, folgt. Beides bedingt sich gegenseitig. Sowohl das affirmative Erzählkonstrukt wie das kritisch-negative würden einen Teil ihres Reizes verlieren, wenn es das andere nicht gäbe. Eine neue Große Erzählung der Aufklärung wurde mit Ende der 1990er Jahre bereits greifbar. Sie ist nicht alt, sondern jung. Sie stellte eine Reaktion auf das Ende des Blocksystems dar, das ja den „Vorteil“ gehabt hatte, die Große Erzählung des jeweiligen Blocks lebendig, da vermeintlich notwendig, zu halten. Füllt die neue Große Erzählung in dieser Konstellation eine wichtige Lücke? Aber es waren auch die Terrorattentate vom 11. September 2001, die den Bedarf nach einer tragfähigen Großen Erzählung nährten. Zunächst vielleicht besonders in den USA. Die Terrorattacken waren Ergebnis einer mehrjährigen Vorbereitung, in der sich der wachsende Konflikt zwischen radikalem Islamismus und westlichen Werten schon abzeichnete. In diesem weit vor 9/11 zurückreichenden Kontext entstand nicht nur Samuel Huntingtons „Clash of Civilizations“ (1996), sondern auch Bassam Tibis „Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft“ (1998) (s. Kapitel „Orientierung“). Tibi sieht die Aufklärung als essentiellen Bestandteil europäischer Identität, die die Europäer*innen jedoch zunehmend verrieten.

33 Lyotard (1979): La condition postmoderne.

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Ist, so muss kritisch nachgefragt werden, der Rückbezug auf die Aufklärung unausweichlich oder geschieht er in erster Linie, weil es im Lauf der Jahrzehnte eine Gewohnheit geworden ist? Gibt es denn für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte keine einleuchtende philosophische oder weltanschauliche Begründung, die aus sich heraus überzeugt? Hilft nur die historische Begründung der Aufklärung? Überall auf der Welt ist es Usus geworden, sich auf Gründer*innenfiguren zu beziehen, deren Denkmäler im öffentlichen Raum verteilt sind. Meistens sind es männliche Figuren, aber nicht nur. Für alles, was erfolgreich erscheint oder bewertet wird, werden Gründerväter und in geringerem Ausmaß Gründermütter gesucht. Nach der erforderlichen Konstruktionsphase, die mit einer Art säkularer Heiligsprechung endet, beginnt irgendwann, unvermeidlich, die Dekonstruktion. Die Identifizierungsfiguren, die Idole, erhalten Kratzer, Schattenstellen, werden vielleicht vom Sockel geholt oder gestürzt. Erfahrungsgemäß passiert das mit allen historischen Persönlichkeiten irgendwann, von denen die Auffassung herrscht, dass sie für ein Gemeinwesen Großes auf einem bestimmten Gebiet oder generell als politische oder intellektuelle Leitpersönlichkeit geleistet hätten. Die große Leistung selber muss dabei gar nicht strittig werden, es sind vielmehr andere Eigenschaften, die vorher keine Rolle spielten, nun aber aus aktuellen Geschehnissen heraus stärker beachtet und neu oder anders beurteilt werden. So verständlich solche sozialen und durchaus eigendynamischen Praktiken sind, die historische Persönlichkeiten auf den Denkmalsockel bringen, sie tragen auf Dauer nicht, weil der Platz da oben nicht sicher ist. Das gilt auch im übertragenen Sinn – zum Beispiel für „die Aufklärung“. Doch langsam! „Die Aufklärung“ entspricht längst einem global eingesetzten Codesystem (Voltaire = Toleranz und Meinungsfreiheit; Montesquieu = Gewaltenteilung; Rousseau = Volksherrschaft; Kant = Rechtsstaatlichkeit; usw.). Prinzipiell abstrakte Begriffe und komplexe Sachverhalte werden durch die Verbindung mit realen Aufklärer*innen aus Fleisch und Blut, aus deren Leben so einiges Unterhaltsames bekannt ist, leibhaftig. Das vereinfacht und verflüssigt die Verständigung über solche Inhalte ungemein. In der Aufklärung wurden zahlreiche Kulturmuster entwickelt, die noch heute aktiv sind. Sie haben zwar Konkurrenz bekommen, halten sich aber oder setzen sogar nach wie vor die Standards. So wirkt in der Konstruktion von Identifizierungsfiguren das Konzept der in erster Linie „Großen Männer“, aber auch „Großen Frauen“ fort, das in der Aufklärung entwickelt wurde. Das „Große“ bezog sich ja gerade nicht vornehmlich auf Herrscher*innen, die über Soldaten verfügten und große Siege oder heroische Niederlagen einfuhren – das wäre nicht neu gewesen –, sondern auf eine Vielzahl anderer menschlicher, kultureller und intellektueller Qualitäten. Die teilweise gewiss unbewusste Perpetuierung dieses Musters führt dazu, dass die Bedeutung anderer Akteur*innen leicht übersehen wird. Als Beispiel sei das im EU-Vertrag an entscheidender Stelle verankerte Prinzip der Nichtdiskriminierung – Art. 2 – genommen: Dieses hat unzählige Autor*innen, keine „Mutter“, keinen „Vater“, sondern Menschen in zivilgesellschaftlichen Organisationen und

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Vereinen, in Bewegungen, Abgeordnete im EU- und anderen Parlamenten. Die Aufklärung hat zwar Gleichheit vor dem Gesetz gedacht – womöglich aber nur der volljährigen Männer –, nicht aber Nichtdiskriminierung als gesellschaftliches Leitprinzip im umfassenden Sinn der Gegenwart. Ich will nicht auf die These hinaus, dass es Zeit sei, die Aufklärung hinter sich zu lassen. Viele Inhalte sind unverändert richtig, viele Inhalte konnten weitergedacht, erweitert werden, viele Inhalte vertragen sich bestens mit neuen Inhalten wie umfassender Nichtdiskriminierung. Aber sind all diese Inhalte nur deshalb richtig, weil sie sich auf die Aufklärung beziehen lassen? Sicher nicht – und trotzdem müsste man sagen: Wir haben nichts Besseres, was alle unsere Bedürfnisse erfasst. Bisher ist es nicht geschehen, dass unsere Welt so umfassend wie im 18. Jahrhundert und dazu noch neu gedacht worden wäre. Aber reicht das noch? Die Herausforderungen heute sind, wie der Klimawandel und seine Folgen oder beispielsweise die Digitalisierungen unserer Lebenswelten, andere als im 18. Jahrhundert. Wir müssen das tun, was Kant als die dem aufgeklärten Menschen angemessene Handlungsweise bezeichnete, nämlich nicht freiwillig, aus Bequemlichkeit, unaufgeklärt zu bleiben. Aufforderungen wie „Aufklärung jetzt!“ sind keineswegs unangebracht, mindestens aber muss das eine Bein im 21. Jahrhundert stehen, wenn das andere im 18. Jahrhundert steht. Der in der Gegenwart vielfach praktizierte Bezug auf die Aufklärung ähnelt dem Bezug der Aufklärer auf antike und manche spätere Texte. Bernhard von Chartres, Zeitgenosse des frühen 12. Jahrhunderts, paraphrasierend lässt sich formulieren: Die Aufklärung ist unsere Antike, auf deren Schultern wir stehen und weiterblicken (sollten).

NAMENSGEBUNG 1784: „WAS IST AUFKLÄRUNG?“ Rund um den Globus wird sehr gern an Immanuel Kant und seine Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ angeknüpft, die in der Berlinischen Monatsschrift im Dezember 1784 veröffentlicht wurde. In der Septemberausgabe war die Antwort des jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn auf diese berühmt gewordene Frage abgedruckt worden – die meines Erachtens eigentlich die interessantere Antwort ist! Die 1783 in derselben Zeitschrift aufgeworfene Frage, was eigentlich „Aufklärung“ sei, bezieht sich auf ein Tun, das Tun des Aufklärens, nicht aber auf das komplexe historische Phänomen, das wir „die Aufklärung“ nennen. Wenn das gemeint war, wurde zeitgenössisch von „aufgeklärtem Jahrhundert“, von „siècle éclairé“ oder „age of reason“ gesprochen. Entscheidend ist jedoch, dass sich ein Tun zeitgenössisch und nachfolgend in der geschichtlichen Rückschau erzählen lässt. Die mit der Mittwochsgesellschaft verbundene Berlinische Monatsschrift erschien erstmals im Januar 1783. In der zweiten Jahreshälfte wurde die Frage debattiert, ob die Eheschließung nach bürgerlichem Recht ausreiche und die kirchliche Eheschließung entbehrlich sei. Im Dezemberheft schrieb Johann Friedrich Zöllner, einerseits Theologe und Prediger in Berlin, andererseits auch Freimaurer – ein aufgeklärter Geist also – den Beitrag „Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?“ Zöllner machte auf die fundamentale Bedeutung von Ehe und Familie für den Staat aufmerksam und plädierte für die kirchliche Eheschließung zusätzlich zur bürgerlich-rechtlichen. Er deutete aber eine Unterscheidung an: Aufgeklärte Menschen würden die fundamentale Bedeutung der Ehe kennen und diese aus Einsicht respektieren und einhalten; die Mehrheit der Bevölkerung hielt er aber für unaufgeklärt und verlangte deshalb die kirchliche Trauung, um den für Staat und Gesellschaft unentbehrlichen Charakter der Ehe verständlich zu machen. Das Wort „Aufklärung“ verwendete Zöllner mehrere Male in dem kurzen Text, machte dazu aber erst kurz vor Schluss des Artikels eine Anmerkung mit Sternchen unten auf der Seite: „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“1 Bei Zöllner meint man den in Deutschland heftigen Streit über die Ratsamkeit von Volksaufklärung zwischen den Zeilen erkennen zu können.

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Zöllner (1783): Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?, Zitat S. 516 unten.

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Namensgebung

Zuerst publizierte Moses Mendelssohn eine Antwort in der Zeitschrift, im September 1784.2 Er schrieb „über die Frage“, was Aufklärung sei, während Kant die Frage „beantwortete“. Dieser in den jeweiligen Überschriften ausgedrückte Unterschied war keineswegs nebensächlich. „Aufklärung“, „Kultur“ und „Bildung“ bezeichnete Mendelssohn als neue Begriffe, die vorerst nur in der „Büchersprache“ zuhause seien, aber nicht im allgemeinen Sprachgebrauch. Dass ein Wort neu sei, bedeute jedoch nicht, dass es die Sache nicht schon vorher gegeben habe. Er führt ein Beispiel an: „Man sagt von einem gewissen Volke, daß es kein bestimmtes Wort für Tugend, keines für Aberglauben habe; ob man ihm gleich ein nicht geringes Maaß von beiden mit Recht zuschreiben darf.“3 Das ist ein wichtiger Satz, weil es die Sensibilität vieler Aufklärer für den folgenden Umstand erhellt: Eine Sache mit der passenden Begrifflichkeit formulieren zu können, bedeutet nicht, dass man sie geschaffen oder gar erfunden hat. Sie kann genauso gut bei anderen Völkern – „Volk“ oder „Völker“ stellt eine basale Betrachtungskategorie im universalen Denken der Aufklärung dar – vorhanden sein, ohne dass diese ein „bestimmtes Wort“ dafür hätten. Mendelssohns Schlüsselbegriff lautet Bildung: „Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung“. Kultur bringt Mendelssohn mehr mit „dem Praktischen“ in Zusammenhang, Aufklärung mehr mit „dem Theoretischen“: „Auf vernünftige Erkenntniß (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken, über Dinge des menschlichen Lebens, nach Maaßgebung ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen.“4 Der daran anschließende Satz lautet: „Ich sehe allezeit die Bestimmung des Menschen als Maaß und Ziel unserer Bestrebungen und Bemühungen, als einen Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen.“5 Mendelssohn unterscheidet zwischen Aufklärung, die dem Menschen als Menschen gelte, da gebe es keine Unterschiede, und jener, die dem Menschen als Bürger gelte, da gebe es Unterschiede nach Stand und Beruf. Hier spricht er direkt die Frage der Volksaufklärung an.6 Der Autor sieht ein Konfliktpotenzial zwischen dem, was dem Menschen als Menschen an Aufklärung gut tue, und dem, was dem Menschen als Bürger gut tue. Mendelssohns Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei, ist weniger geradlinig als die Kants, aber dennoch klar. Aufklärung ist Erkenntnis der Wahrheit in Bezug auf die Bedingungen des Menschseins. Da gibt es objektive Wahrheiten, die am Menschsein als solchem hängen, an seiner Natur – aber diesen Begriff verwendet Mendelssohn nicht –, und es gibt den Menschen in der Gesellschaft, wo Rücksichtnahmen auf die Stabilität der Verfassung von Staat und Gesellschaft nötig sind. Dieselbe Diskussion wurde in der französischen Nationalversammlung im Sommer 1789 geführt. 2 3 4 5 6

Mendelssohn (1784): Ueber die Frage: was heißt aufklären? Ebd., S. 193. Ebd., S. 194. Ebd., S. 194–195. Ebd., S. 196–197.

1784: „Was ist Aufklärung?“

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Kants Antwort wurde im Dezember 1784 abgedruckt, von ihm wurde sie auf den 30. September 1784 datiert.7 Als der systematischste Philosoph seiner Zeit, der er war, gab er die griffigste Definition, die je für „Aufklärung“ gegeben wurde, wobei er eben ein Tun definierte, während Mendelssohn zwar auch ein Tun beschrieb – die Wahrheit in Bezug auf die Konditionen des Menschseins erkennen –, sich aber zugleich im Dreieck der Begriffe Bildung, Kultur und Aufklärung mit dem Zustand einer glückseligen Nation befasste. Kants wohlgesetzte Definition von „Aufklärung“ ist heute weltweit verbreitet: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.8

Leider würden es die meisten Menschen als bequem empfinden, unmündig zu sein, weil andere für sie das Denken erledigten und Anweisungen gäben: der Seelsorger, der Arzt, Vormünder usw. In der Gemeinschaft, die Kant „Publikum“ nennt, sei Aufklärung leichter zu bewerkstelligen, weil sich immer einige dazu bereitfänden. Dazu bedürfe es lediglich der Freiheit, von der Vernunft in aller Öffentlichkeit Gebrauch zu machen.9 Kant will ebenso wenig wie Mendelssohn die stabile Verfasstheit von Staat und Gesellschaft infrage stellen oder durch Aufklärung gefährden. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft muss niemandem Angst einjagen, denn: „Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter10 von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht.“11 Ähnlich wie Mendelssohn sieht Kant für das bürgerliche Leben Einschränkungen vor, man müsse da ggf. gehorchen statt räsonieren. Aufklärung ist am wichtigsten in Bezug auf Religion: „Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Ausganges der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit vorzüglich in Religionssachen gesetzt […].“12 Kant preist Friedrich II., der die Frage der Religion dem Einzelnen überlasse. In dieser Beziehung lebe man in einem „Zeitalter der Aufklärung“, noch nicht aber in einem „aufgeklärten Zeitalter“.13 „In diesem Betracht [Religion; Anmerkung W.S.] ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs.“14 In der globalen Rezeption werden zumeist die ersten vier Sätze, die „Aufklärung“ zu definieren scheinen, vom Rest des Artikels getrennt und entkontextuali7 8 9 10 11 12 13 14

Kant (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (S. Decemb. 1783. S. 516.). Ebd., S. 480. Im Original sind „Aufklärung“, „Unmündigkeit“, „Selbstverschuldet“ und „Sapere aude!“ typografisch besonders hervorgehoben. Ebd., S. 484. Im Original typografisch hervorgehoben. Ebd., S. 485. Ebd., S. 492. Ebd., S. 491. „Friederich“ ist im Original typografisch hervorgehoben. Zitat S. 491.

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Namensgebung

siert verwendet. Nicht die zunächst abstrakte Definition, die jeglicher historischer Zeit entzogen werden kann und dennoch Sinn ergibt, beschreibt Aufklärung im späten 18. Jahrhundert, sondern die zwölf Seiten, die danach kommen. Man kann also nicht behaupten, wenn wir wissen wollen, was die historische Aufklärung war, dann müssten wir eigentlich nur diese Definition von Kant kennen. Nein; diese Sätze stehen sehr viel mehr für das, was in der weiteren Rezeption aus der Aufklärung gemacht wurde. Wir müssen uns also ein wenig mehr einfallen lassen, als Kant zu zitieren, wenn das historische Phänomen „Aufklärung“ beschrieben werden soll. In dieser Beziehung ist der Text von Moses Mendelssohn viel weiterführender, weil er „Bildung“ als Oberbegriff wählt. Er setzt „Aufklärung“ nicht absolut, vielmehr trägt diese mit der Kultur zur Bildung eines Volks, einer Nation (er verwendete beide Wörter) bei. Eine große Menge an Aufklärungsschriften und praktischen Unternehmungen widmete sich dem Thema der Bildung des Einzelnen und der Gemeinschaft. Das Schul- und Ausbildungswesen wurde revolutioniert.15 Gerade der Umstand, dass auch neue Lehrmethoden für Menschen mit Behinderungen (Blindheit, Taubheit, Stummheit) entwickelt und in eigenen Schulen angewandt wurden, zeigt, wie ernst es den Aufklärer*innen mit der Bildung gewesen war. Für alle, auch Mädchen, in ihren jeweiligen Kontexten von sozialem Stand und Beruf, wurden Curricula, Methoden und Unterrichtsanstalten entworfen und praktisch umgesetzt. Fragen wie Volksbildung oder Volksaufklärung im Sinne von Volksbildung wurden debattiert und beantwortet, Konzepte für die Bildung einer ganzen Nation (Sprache, Literatur usw.) wurden durchdacht und nach Möglichkeit praktisch umgesetzt. Das waren Felder für Denken und Handeln, wo sich viele als Aufklärer*innen verstehen konnten und sich engagierten, wo die Aufklärung zu einem breiten historischen Phänomen wurde. Darin besteht ein gemeinsamer Nenner quer durch Europa und alle regionalen Ausprägungen der europäischen Aufklärung, aber auch ein gemeinsamer Nenner mit entsprechenden Aktivitäten in anderen Weltregionen zur gleichen Zeit oder im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts. Kant stellte in seinem Text die freie Religionsausübung in den Mittelpunkt der Erörterungen zur Aufklärung. Religion solle Sache des Einzelnen sein. Kants Text markiert sehr gut Unterschiede zur radikalen Aufklärung16, die sich im deutschen Sprachraum weniger ausgeprägt fand als etwa in Frankreich, wo die Sinnhaftigkeit von Religion in prinzipieller Weise untersucht und in Frage gestellt wurde. Bei Diderot und dem Kreis um einen materialistischen Denker wie den Baron d’Holbach17 wurde die Wahrheitssuche bezüglich Gott sehr viel weiter getrieben als etwa bei Kant, der sich mit der Religionsfreiheit begnügte – verständlich für einen Philosophen, der ganz im Gegensatz zu den radikalen Denkern in Frankreich einen Gottesbeweis geführt hatte. 15 Ausführlich: Schmale/Dodde, Hg. (1991): Revolution des Wissens? 16 Israel (2001): Radical Enlightenment. 17 Blom (2011): Böse Philosophen.

Epochenübergreifender Begriff „Aufklärung“

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Das Verhältnis zwischen Aufklärung und Religion ist vielfältig und im Grunde kaum mit dem Wort von der Entzauberung, die die Aufklärung sei, einzufassen. Die Aufklärungsepoche war eine Zeit religiöser Bewegungen, die einen subjektiv-authentischen Glauben förderten und von der vordergründigen Erfüllung sozialer Pflichten trennten, als die oftmals die Religionspraxis auftrat. Was hatten die Shakers in Nordamerika, die Convulsionnaires von St. Médard in Paris, der osteuropäische Chassidismus und der Sufismus, wie er im 18. Jahrhundert praktiziert wurde, gemeinsam und waren sie in irgendeiner Weise antiaufklärerisch? Oder stellten sie nur den äußersten erreichbaren Punkt jener Praxis dar, die von etlichen Aufklärer*innen (Condillac ist hier der bekannteste) mit dem Konzept des „Sensualismus“ untersucht wurde? EPOCHENÜBERGREIFENDER BEGRIFF „AUFKLÄRUNG“ Der Begriff „Aufklärung“ war nie auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts beschränkt gewesen. Schon im 18. Jahrhundert findet man „Aufklärung“ als etwas, das sich auf die griechische Antike bezieht. Diese sehr weite Deutung von „Aufklärung“ benutzten auch Horkheimer und Adorno in ihrer Schrift „Dialektik der Aufklärung“ (1942–1944 entstanden), sie haben sie aber nicht erfunden, vielmehr bezeichnete Karl Joël in seiner „Geschichte der antiken Philosophie“ (1921) das griechische 5. vorchristliche Jahrhundert als „Jahrhundert der Aufklärung“ – und auch er hat diese Bezeichnung nicht als erster geprägt. Dasselbe findet man im weltweit verbreiteten „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“ von Wilhelm Windelband (erstmals 1891 erschienen). Die Annahme einer antik-griechischen Aufklärung wurzelt in der Aufklärung selber im 18. Jahrhundert, in der umfassend antike griechischen Autoren als Grundlage verwendet wurden. Jürgen Mittelstrass hat diese Verwendungen von „Aufklärung“ in seinem Buch „Neuzeit und Aufklärung“ (1970) in ihrem Verhältnis geklärt. Er beschreibt für die griechische Antike eine „erste Aufklärung“, deren Inhalt die „Erfindung der Vernunft“ gewesen sei. Als Synonym kann eigentlich auch „Wissenschaft“ bzw. „Wissenschaft und Methode“ gesagt werden, da die Anfänge in der Geometrie lagen. Nach Mittelstrass folgte im Hellenismus und in der Epoche des Christentums eine „hellenistische“ bzw. „christliche Desorientierung der Vernunft“, auf die die „zweite Aufklärung“, das heißt, die des 17./18. Jahrhunderts reagierte. „Die zweite Aufklärung hat sich selbst als eine Epoche verstanden, die mit dem Vergangenen ein schroffes Ende und der Zukunft einen neuen Anfang gemacht hat.“18 Wichtig ist das „sich selbst“, es seien nicht die (späteren) Historiker gewesen, die die (zweite) Aufklärung zur Epoche erklärt hätten. Zentrales Merkmal dieser Aufklärung sei, „selbst zu denken“: „Kant hat im Rahmen seiner begrifflichen Bestimmungen zugleich das historische Selbstverständnis der zweiten Aufklärung prägnant zum Ausdruck gebracht: ‚die Maxime,

18 Mittelstrass (1970): Neuzeit und Aufklärung, S. 87.

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jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung‘.“19 Mittelstrass nimmt Kant hier weniger für sich oder als Exponent der „deutschen“ Aufklärung denn als repräsentativen Sprecher der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Dieses „selbst denken“ setzte aber nicht erst im 18. Jahrhundert ein, sondern in der Renaissance, bei den Grundsteinlegern der neuzeitlichen Wissenschaften. Der engere Zusammenhang zwischen der Renaissance, Reformation und Aufklärung, der bei Mittelstrass erörtert wird, wurde und wird regelmäßig in vielen Texten hergestellt. Spätestens seit den 1970er Jahren wurden aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts im Singular Aufklärungen des 18. Jahrhunderts im Plural, um der regionalen und ideellen Vielfalt besser Rechnung zu tragen. Auf diese Weise wurde die osteuropäische Aufklärung stärker bekannt, nachdem sie im Schatten der westeuropäischen Aufklärung gestanden hatte. Und es stieg das Bewusstsein dafür, dass es die Aufklärung auch außerhalb Europas gegeben hatte oder gab, selbst wenn zunächst angenommen wurde, dass es sich dabei um einen von Europa ausgehenden Globalisierungsprozess handelte. Weitere Konzepte wie „katholische Aufklärung“ und „jüdische Aufklärung“ (Haskala) relativierten die angenommene enge Verbindung zwischen Aufklärung und Deismus bzw. Atheismus. 1990 dann stieß Reinhard Schulze die sehr kontroverse Debatte über „islamische Aufklärung“ an.20 „Aufklärungen“ finden sich zudem im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Osmanischen Reich, in Indien, in China und Japan und anderswo. Diese Aufklärungen sind jedoch getrennt von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und deren globalem Erscheinungsbild zu betrachten, da sie im Wesentlichen ident sind mit „Modernisierung“. Conrad suggeriert in seinem Aufsatz zu Aufklärung in der Globalgeschichte21, dass der Konzept-Begriff Aufklärung in den jeweiligen Sprachen um 1900 global verbreitet gewesen sei. Er klärt aber nicht, ob diese Begriffe und Konzepte von Aufklärung global rezipiert wurden. Eines scheint mir sicher zu sein – und das werden die folgenden Abschnitte zeigen –, dass allfällige Rück- oder Wechselwirkungen der Aufklärungskonzepte in China, in Japan und anderswo auf die für die Konstruktion des Substrats namens „Aufklärung“ entscheidende Literatur, die global rezipiert wurde, kaum festzustellen sind. Deshalb überwiegen dort, wo es um die Begriffsbildung geht, die globale Verbindlichkeit erreicht hat, europäische und ab dem 20. Jahrhundert auch amerikanische Texte und Autor*innen. Schließlich kann „Aufklärung“ als ein an gar keine bestimmte Epoche gebundener Begriff verwendet werden. In dem Fall heißt „Aufklärung“ so viel wie „Entzauberung der Welt“. Der Ausdruck lässt sich vor allem zu Max Weber zurückverfolgen, der ihn ab 1913 verwendete und ihm in den Folgejahren in seinen „Studien zur Religionssoziologie“ eine immer größere Bedeutung zumaß, wie 19 Ebd., S. 119. 20 Schulze (1990): Das islamische achtzehnte Jahrhundert. S. bereits im selben ZeitschriftenHeft die kritische Replik von Peters (1990): Reinhard Schulze’s Quest for an Islamic Enlightenment. 21 Conrad (2012): Enlightenment in Global History.

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Hans Joas bemerkt.22 Horkheimer und Adorno übernahmen den Begriff in „Dialektik der Aufklärung“. Immer wird eine soziale Welt entzaubert, ihre Bindung an Religion und Mythen, ihre Bindung an bis dahin unhinterfragte soziale und Herrschaftshierarchien. Gleichzeitig wird die Natur entzaubert, indem sie wissenschaftlich erforscht wird. Der Mensch wird entzaubert, indem er körperlich wie psychisch komplett seziert wird. Niklas Luhmann schlug in seiner Antrittsvorlesung vom 25. Januar 1967 an der Universität Münster eine Periodisierung von „Aufklärung“ vor: Von der „Vernunftaufklärung“ des 18. Jahrhunderts unterschied er die „soziologische Aufklärung“. Die erstere habe sich an das „frei diskutierende Publikum“ gebunden, damit sei aber die Aufgabe der Aufklärung, nämlich die „Reduktion der Komplexität“, nicht leistbar: Denn nur Systeme können als Medien der Aufklärung dienen, nicht das frei diskutierende Publikum. Diese Formulierung erlaubt nochmals einen Rückblick auf den Unterschied von Vernunftaufklärung und soziologischer Aufklärung. Weil man die Reduktion der Komplexität nicht als angeborene menschliche Fähigkeit, als Vernunft voraussetzen kann und schon gar nicht unterstellen kann, daß alle Menschen an dieser Fähigkeit in gleicher Weise teilhaben, genügt die Freigabe der öffentlichen Diskussion nicht, um Aufklärung zu verwirklichen. Nicht schon die Befreiung der Vernunft zu zwangloser Kommunikation klärt auf, sondern nur eine effektive Steigerung des menschlichen Potentials zur Erfassung und Reduktion von Komplexität.23

Im 19. Jahrhundert versuchte William Edward Hartpole Lecky (1838–1903) die Geschichte der Aufklärung vom Untergang des Römischen Reiches bis zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts darzustellen. Er machte also nicht die zwei üblichen Schnitte in der griechischen Antike und dann im 18. Jahrhundert, sondern sah Aufklärung als einen kontinuierlichen historischen Prozess. Der Autor war erst 27 Jahre alt, als er 1865 dazu ein umfängliches auf Englisch geschriebenes zweibändiges Werk vorlegte, dessen Originaltitel aber nicht „Enlightenment“, sondern „Rationalism“ besagt: „History of the Rise and Influence of the Spirit of Rationalism in Europe“.24 Die deutsche Übersetzung (1868) trägt den Titel „Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa“.25 Der Übersetzer H. Jolowicz begründet die Übersetzung von „Rationalism“ mit „Aufklärung“ damit, dass sich im Deutschen „Rationalismus“ zu sehr auf den Konflikt im deutschen Protestantismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts bezöge, während Leckys Thema die „unerschöpfliche Selbstthätigkeit des Geistes, die sich nur in unablässigem Schaffen erhält“ sei.26 Inhaltlich schrieb Lecky im Grunde eine Geschichte der

22 Vgl. Joas (2017): Die Macht des Heiligen, S. 214 („Max Weber und die Geschichte von der Entzauberung“, S. 201–240). Ebenfalls unter dem Gesichtspunkt einer „Alternative zur Entzauberung“ schreibt Saler (2006): Modernity and Enchantment. 23 Luhmann (1970): Soziologische Aufklärung, Zitat S. 77. 24 Lecky (1865): History of the Rise and Influence of the Spirit of Rationalism in Europe. Die englische Ausgabe erlebte bis zum Ersten Weltkrieg am laufenden Band Neuauflagen. 25 Lecky (1868): Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa. 26 Jolowicz: Vorrede des Übersetzers. In: ebd., S. III–IV.

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Entzauberung der Welt (in Europa). Insoweit hat der Übersetzer sinnvoll für das Deutsche den Begriff „Aufklärung“ gewählt. Aus dem jungen Lecky wurde im Übrigen ein äußerst produktiver und erfolgreicher Geschichtsschreiber.27 Jolowicz merkte in seiner Vorrede zur „Aufklärung“ anerkennend an, dass die englische Ausgabe in zwei Jahren drei Auflagen und 76 Rezensionen gezeitigt habe. Auch Guizot habe dem Buch eine ausführliche Rezension gewidmet.28 Die aus der Aufklärung selbst stammende Lichtmetapher, die in „Enlightenment“, „les Lumières“ oder in „Erleuchtung“ steckt, findet in religiösen Zusammenhängen Anwendungsmöglichkeiten. Englische Texte über den Buddhismus verwenden „Enlightenment“ für „Erleuchtung“. Im Deutschen ist die begriffliche Trennung dieser Sphären klar und eindeutig, nicht aber im Englischen. Dafür gab es im Deutschen schon im 19. Jahrhundert Ansätze wie bei Hermann Reuter, eine „religiöse Aufklärung des Mittelalters“ zu erkennen.29 Der jüdische Philosoph Maimonides (1135 oder 1138 bis 1204) gilt als Aufklärer, wie es der Philosoph Pierre Bouretz 2015 gleich im Titel seines Maimonides-Buches ausdrückte: „Lumières du Moyen Âge. Maïmonide philosophe“. Maimonides vermittelte verschiedene philosophische Traditionen, darunter besonders die jüdischen und islamischen. Bouretz bezieht sich auf das Buch von Leo Strauss (1899–1973) „Philosophie und Gesetz“ (1935) – ein Beitrag zur Aufklärungsforschung, der sich im Titel nicht als solcher Beitrag zu erkennen gibt.30 Strauss verwendete den Begriff „Aufklärung“ in Bezug auf die jüdische und islamische Philosophie im Mittelalter, unterschied diese aber deutlich von der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts: Man kann die Position Maimunis [= Maimonides; W.S.] mit einem gewissen Recht als „religiöse Aufklärung im Mittelalter“ bezeichnen. Mit einem gewissen Recht: nämlich dann, wenn man sich begnügt, daran zu denken, daß es sowohl der modernen Aufklärung – also dem eigentlichen Zeitalter der Aufklärung, von dem her man den Ausdruck „Aufklärung“ auf bestimmte Erscheinungen des Mittelalters (und auch der Antike) zu übertragen pflegt – als auch Maimuni und dessen Vorgängern und Nachfolgern im Mittelalter auf die Freiheit des menschlichen Denkens, auf die „Freiheit des Philosophierens“« ankam. Man darf aber keinen Augenblick lang einen Zweifel darüber bestehen lassen, daß diese mittelalterlichen Philosophen im ursprünglichen Verstande gerade nicht Aufklärer waren; ihnen kam es nicht darauf an, Licht zu verbreiten, die Menge zu vernünftiger Erkenntnis zu erziehen, aufzuklären; sie schärfen immer wieder den Philosophen die Pflicht ein, die vernünftig erkannte Wahrheit vor der unberufenen Menge geheimzuhalten; der esoterische Charakter der Philosophie stand für sie – im Gegensatz zur eigentlichen, d. h. zur modernen Aufklärung – unbedingt fest. […] Aber wenn man bedenkt, daß die moderne Aufklärung zum Unterschied von der mittelalterlichen im allgemeinen ihre Lehren propagiert, wird man nichts gegen die Behauptung einwen-

27 28 29 30

Stuchtey (1997): W. E. H. Lecky. Jolowicz: Vorrede des Übersetzers, S. X. Reuter (1875): Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter. Strauss (1935): Philosophie und Gesetz. Das Buch wurde 1995 neu ins Englische übersetzt: Strauss (1995): Philosophy and Law.

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den: die Aufklärung im Mittelalter sei grundsätzlich esoterisch gewesen, während die moderne Aufklärung grundsätzlich exoterisch war.31

In der Einleitung zu „Philosophie und Gesetz“ unterstellt Strauss der „modernen Aufklärung“, dass sie nur zum Atheismus habe führen können. Darin liegt der eigentliche Unterschied zur „mittelalterlichen Aufklärung“ nicht nur eines Maimonides, da diese die Erkenntnis Gottes als höchstes Ziel bewahrt habe. Der Begriff „Aufklärung“ in Bezug auf die mittelalterliche Religionsphilosophie rechtfertigt sich folglich nur dadurch, dass es in beiden Epochen – plus der Antike – um den Gebrauch der menschlichen Vernunft, um Rationalismus, ging. Daher ist kritisch einzuwenden, ob die Unterscheidung zwischen einer mittelalterlichen und einer modernen Aufklärung sinnvoll ist, da der Gebrauch der Vernunft als Instrument des Aufklärens, abstrakt ausgedrückt, ergebnisoffen ist bzw., anders ausgedrückt, sowohl mit der Erkenntnis Gottes wie mit Atheismus zu vereinbaren ist. Dies spricht dafür, „Aufklärung“ entweder an die Epoche der Aufklärung zu binden oder aber „Aufklärung“ als epochenübergreifenden philosophischen, wenn nicht kulturanthropologischen, Begriff zu verwenden. Wenn Horkheimer und Adorno sagen, schon der Mythos sei Aufklärung, sind wir mitten in der Kulturanthropologie. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die „moderne Aufklärung“ nicht mit Atheismus identifiziert werden darf. Dieser konnte ein Ergebnis sein, aber die meisten Aufklärer waren Deisten oder in einem traditionelleren Sinn gottesgläubige Menschen. Die von Strauss zugrunde gelegte Opposition ist nicht haltbar. Bouretz folgt den Grundannahmen von Strauss nicht. Er teilt auch nicht die Charakterisierung der mittelalterlichen Aufklärung als „esoterisch“, gerade Maimonides habe sich darum bemüht, breit verstanden zu werden und habe sich nicht einfach nur an eine Elite gerichtet. Er spricht Maimonides, Averroes und anderen Philosophen der Zeit eine „wahrhafte spekulative Kreativität“ zu, diese hätten sich selbst als „modernes“ gesehen. Maimonides habe sich nicht nur mit dem Denken begnügt, sondern habe das „Projekt“ verfolgt, den „Graben“ zwischen einer sehr kleinen „aufgeklärten“ „Elite“ und der Mehrheit der traditionell Glaubenden, das heißt einem religiösen Anthropomorphismus Erliegenden, zuzuschütten.32 Es wird sich kaum durchsetzen, vom Mittelalter als Epoche der oder einer Aufklärung zu sprechen, aber dass es „Aufklärung“ (Lumières) in der mittelalterlichen Philosophie gegeben hat, erscheint gut nachvollziehbar. WEGE ZU „DIE AUFKLÄRUNG“ Die heute so gewohnten Epochenbezeichnungen zur Aufklärung sind überwiegend nach 1800 entstanden und haben sich relativ spät konsolidiert. Sie knüpfen zwar an im 18., teilweise auch schon 17. Jahrhundert, gebräuchliche metaphorische Begriffe an, die mit Licht und beleuchten/ausleuchten zu tun haben, aber der 31 Strauss (1935): Philosophie und Gesetz, S. 88–89. 32 Bouretz (2015): Lumières du Moyen Âge, S. 451–459, besonders S. 459.

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Weg zur gesetzten Epochenbezeichnung, zum identitätsgebenden Eigennamen, war lang. Ähnlich wie der Begriff des „Absolutismus“, der heute so selbstverständlich erscheint, wenn es um eine Charakterisierung der politischen Systeme vor der Französischen Revolution geht, erst als Kampfbegriff der Liberalen in den 1820ern nachhaltig geprägt wurde33, verfestigte sich „Aufklärung“ (in verschiedenen Sprachen) als Epochenbezeichnung bzw. als Bezeichnung eines als einheitlich empfundenen historischen Phänomens ebenfalls erst nach 1800. Griffige Bezeichnungen für eine wegen ihrer spürbaren Nachwirkungen kaum vergangenen Zeit waren erst zu (er)finden, genauer gesagt, es musste erst das Bedürfnis entstehen, dieser knapp vergangenen Zeit eigene Namen zu geben. Ungeklärt ist bisher, inwieweit die im späten 19. Jahrhundert in China und Japan erfolgende Begriffsbildung und Begriffsbestimmung von „Aufklärung“ dazu beigetragen hat, dass auch im „Westen“ die Aufklärung zu „die Aufklärung“ wurde. Im Französischen lautet der Begriff heute „les Lumières“ (man beachte den Plural), im Englischen „the Enlightenment“, im Italienischen „l’Illuminismo“, im Spanischen „la Ilustración“, im Deutschen „die Aufklärung“ und im Russischen „prosveščenie“. Diese Bezeichnungen haben sich letztlich gegenüber anderen weniger gebräuchlichen Bezeichnungen durchgesetzt. Ein Grund dabei ist sicher, dass der allgemeine Sprachgebrauch dazu tendiert, möglichst einfache und klare, ja, formelhafte Wendungen einzusetzen. So auch im Fall von „Aufklärung“ und den Äquivalenten in anderen Sprachen. Die Grafiken 1 und 2 (Google Books Ngram Viewer)34 zeigen dies anschaulich am Beispiel von Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch sowie Russisch. Jede der sechs Häufigkeitskurven verläuft anders, aber bei fünf Kurven, mit Ausnahme des Deutschen, gibt es eine gewisse Parallelität in der Hinsicht, dass die kurze formelhafte Epochenbezeichnung erst nach dem Ersten Weltkrieg langsam häufiger wird. Deutliche Zugewinne an Häufigkeit zeigen sich überwiegend sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Grundsätzlich gilt das auch für Russisch, aber auf viel niedrigerem Niveau als in den westlichen Sprachen. Der Prozess intensiviert sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Kurve liegt insgesamt bis Mitte und Ende der 1980er Jahre höher als die anderen. Das englische „the Enlightenment“ hat gegen den Trend der anderen ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre angezogen. Die Häufigkeitsbefunde lassen sich mit dem konfrontieren, was wir über die Geschichte dieser Bezeichnungen wissen. Zu beachten ist freilich, dass in allen

33 Hierzu hat sich in den 1980er, 1990er Jahren eine spannende begriffsgeschichtliche Forschung entwickelt; zusammenfassend s. Schmale (2012): Das 18. Jahrhundert, Kap. 1: „Absolutismus“, Abschnitt 4: „Von der Anklage zum Begriff“, S. 44–56. 34 In der Suchbefehlszeile des Ngram Viewer von Google ist die Zeichenzahl auf 120 begrenzt, sodass zwei Grafiken erstellt werden mussten. Erläuterungen zum Ngram Viewer: https:// books.google.com/ngrams/info. Letztes erfassbares Jahr: 2019.

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Grafik 1: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „die Aufklärung“ im Deutschen, Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen, Zeitraum 1750 bis 2019. Es wurden die verbesserten Google-Corpora von 2019 verwendet. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 4. August 2021, https://tinyurl.com/2m3pvanx.

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Grafik 2: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von prosveščenie und obrazovaniye im Russischen, Zeitraum 1700 bis 2019 (letztes einstellbares Jahr). Korpus Russisch 2019. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 4. August 2021, https://tinyurl.com/376nnfub.

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europäischen Sprachen, von denen mehrere weltweit verwendet werden, das Wort mit der Bedeutung „Aufklärung“ in mehreren Zusammenhängen eingesetzt werden kann, nicht immer ist dann „die Aufklärung“ (des 18. Jahrhunderts) gemeint. Deshalb wird das Wort in den romanischen Sprachen, in denen Substantive regulär kleingeschrieben werden (sofern sie nicht am Satzanfang stehen) zumeist großgeschrieben, wenn die Epoche „die Aufklärung“ gemeint ist. Den meisten „Beifang“ muss man daher für das deutsche Wort „Aufklärung“ erwarten, speziell mit Blick auf den militärischen Sektor. Im Englischen wird in einem solchen Zusammenhang von „intelligence“ (oder auch „reconnaissance“) gesprochen, im Französischen von „renseignement(s)“ oder „reconnaissance (militaire)“. Ähnlich halten es das Italienische und Spanische. Hier sind folglich Beimischungen durch den Algorithmus, der im Ngram Viewer eingesetzt wird, weniger leicht möglich als im Deutschen. Die angezeigten Häufigkeitswerte dürfen ganz grundsätzlich nicht als absolut verstanden werden, da zwar sowohl Groß- wie Kleinschreibung erhoben wird, nicht aber Veränderungen durch z. B. Kasusflexion etc. Dies müsste zusätzlich erhoben werden. Erfahrungsgemäß ändert das aber nicht den prinzipiellen Kurvenverlauf. Die Aufklärung: Der Begriff wird schon im 18. Jahrhundert gängig. Gut erkennbar ist der erste Häufigkeitshöhepunkt um 1784, der sich unschwer mit der Initiative der Berlinischen Monatsschrift bezüglich der Frage, was „Aufklärung“ sei, verbinden lässt. Nach 1800 verliert der Begriff offenbar an Glanz, erlebt einen neuerlichen kleinen Höhepunkt Mitte der 1840er Jahre im unmittelbaren zeitlichen Vorfeld der 1848er Revolutionen. Ab 1890 wird der Gebrauch immer häufiger und steigt bis 1933 kontinuierlich an. Der neue Höhepunkt um 1933 kann mit Cassirers „Die Philosophie der Aufklärung“ (1932) in Verbindung gebracht werden, doch erschienen insgesamt zahlreiche Werke, die dieses oder jenes Thema „im Zeitalter der Aufklärung“ untersuchten.35 Dass die Kurve in den Jahren des Nationalsozialismus nur schwach abfällt, hat mit den anderen Bedeutungen des Wortes „Aufklärung“ zu tun, also militärische Aufklärung u. ä., die die Bedeutung „Aufklärung des 18. Jahrhunderts“ an den Rand drängen. Nach dem Zweiten Weltkrieg steigert sich die Häufigkeit trotz kleiner Auf und Ab kontinuierlich bis 1989. Anders als seit 1968 eigentlich erwartbar, spielt Aufklärung im Kontext der Bedeutung „sexuelle Aufklärung“ hier keine besonders gewichtige Rolle, was möglicherweise mit der Zusammensetzung des Korpus, das auf der Basis von Google Books gebildet wurde, zu tun hat. Seit 1989 fällt die Kurve bis 2019, dem letzten im Korpus enthaltenen Jahr, ab. Das entspricht dem allgemeinen Trend aller sechs Sprachen, wobei „the Enlightenment“ und „les Lumières“ nach 2010 wieder etwas angezogen haben. Im Deutschen tauchte das Wort schon Ende des 17. Jahrhunderts auf, das heißt im Zuge der Frühaufklärung. Im „Teutschen Sprachschatz“ von 1691 ist von

35 Beispielsweise: Koch (1933): Wandlungen der Wohlfahrtspflege im Zeitalter der Aufklärung. Ponfick (1940): Geschichte der Sozialversicherung im Zeitalter der Aufklärung.

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der „Aufklärung des Verstandes“ die Rede.36 Es geht offensichtlich um ein Tun, keinen Zustand, keine Epoche. Erst Ende des 18. Jahrhunderts finden sich Ausdrücke wie „Jahrhundert der Aufklärung“ und „aufgeklärtes Jahrhundert“. Nur letzteres kommt dem Epochenbegriff „Aufklärung“ schon nahe, doch hatte sich Kant ja so geäußert, dass man sicherlich in einem Jahrhundert der Aufklärung lebe, nicht aber in einem aufgeklärten Jahrhundert. Nun war die öffentlich gestellte Frage, was „Aufklärung“ sei, ebenso naheliegend wie in der damaligen Zeit dennoch ungewöhnlich. Die Frage konnte nur gestellt werden, weil eine Sache in der Welt war – unklar, umstritten, aber doch in der Welt. Die Sache hatte schon einen Namen, nämlich „Aufklärung“. Und dann wurden die virtuosen Antworten Mendelssohns und anschließend Kants veröffentlicht, wobei die Liebe des internationalen Publikums mehr bei Kant verharrte und dort bis heute blieb, da die Diktion seiner Antwort dem Bedürfnis nach Definition mehr zu entsprechen schien als das Schreiben „über“ die Sache von Moses Mendelssohn. Durch diese außergewöhnlichen Umstände entstand eine engere Verbindung der Sache „Aufklärung“ mit dem deutschsprachigen Wort „Aufklärung“, das bis ins 20. Jahrhundert hinein auch in anderen Sprachen unübersetzt verwendet werden konnte. Foucault etwa schrieb in seinen beiden Kommentaren zu Kants Text in der Berlinischen Monatsschrift durchweg deutsch „Aufklärung“ (in Kursive).37 Im 19. Jahrhundert ist die Häufigkeitskurve für das deutsche „Aufklärung“ deutlicher höher als in den anderen Sprachen. Die guten Gründe dafür werden sich im weiteren Verlauf der Erörterungen (Kapitel „Intellektuelle“) erschließen, in dem die Auseinandersetzung mit „der Aufklärung“ im deutschen Schrifttum, beginnend mit Hegel, untersucht wird. Am ehesten im Deutschen wurde „Aufklärung“ früh als Epochenbezeichnung eingeführt. Les Lumières: Die französische Kurve verläuft im Grunde bis zum Ende der 1950er Jahre ziemlich flach, steiler wird der Anstieg erst um 1969. Die Kurve bleibt im Vergleich zum Deutschen, Englischen, Italienischen und Spanischen immer die schwächste. Das hat einerseits damit zu tun, dass es zahlreiche Alternativbegriffe gab und gibt, andererseits damit, dass eine Wendung wie „siècle des l[L]umières“ von dem Suchbefehl „les L[l]umières“ nicht erfasst wird. Die direkte Entsprechung zu „die Aufklärung“ ist allerdings „les Lumières“. Den lexikografischen Erhebungen von Diego Venturino im Korpus französischer Texte in „Frantext“ (2001) zufolge wird jedoch auch „siècle des lumières“ erst Ende der 1930er Jahre gebräuchlicher.38 Sucht man mittels des Ngram Viewer nach „siècle“ bzw. „philosophie“ bzw. „littérature des lumières“ ergibt sich derselbe chronologische Befund. Die von Venturino durchgesehenen Wörterbücher seit dem späten 17. Jahrhundert bestätigen ebenfalls diese Beobachtungen. Richtig bleibt die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, andererseits ist die Etablierung eines griffigen Namens wie „les Lumières“ ein Signal für die Bedeu36 Schneiders (1995): Artikel „Aufklärung“, hier S. 47. 37 Zu den Kommentaren s. u. den Abschnitt über Foucault im Kapitel „Intellektuelle“. 38 Venturino (2002): L’historiographie révolutionnaire française et les Lumières, hier S. 60.

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tung, die ab den 1930er Jahren der Epoche der Aufklärung beigemessen wird. Sie wird über „les Lumières“ identifiziert. The Enlightenment: Zum englischen „Enlightenment“ schrieb Alfred Cobban noch 1960 (!): „The term ‚Enlightenment‘ is hardly naturalized in English.“39 Der Verlauf der Kurve (Grafik 1) bestätigt diese Feststellung.40 Bei Übersetzungen aus dem Deutschen ins Englische wurde oft das deutsche „Aufklärung“ belassen, während „enlightenment“ eher negativ gemeint war. James Schmidt hat das Tasten und Stolpern im Englischen nach einer adäquaten Übersetzung von „Aufklärung“ beschrieben.41 Man kann danach festhalten, dass erst um 1900/1910 „the Enlightenment“ mit der uns gewohnten Bedeutung üblich wurde, nicht zuletzt dank John Grier Hibbens Buch „The Philosophy of the Enlightenment“ (1910) (Besprechung s. Kapitel „Intellektuelle“).42 Dies nahm den emblematischen Titel von Ernst Cassirers „Die Philosophie der Aufklärung“ (1932) geradezu vorweg. Beide Autoren verwendeten für beide Schlüsselworte jeweils den bestimmten Artikel und den Singular. Bestimmter geht es nicht! Die Encyclopaedia Britannica nahm einen Artikel „Enlightenment“ erst in ihre 14. Ausgabe 1929 auf, das Wort übersetzte das deutsche „Aufklärung“ und bezog sich in erster Linie auf deutsche Philosophen, erst in zweiter Linie auf englische und französische.43 L’illuminismo: Das heute gebräuchlichste italienische Wort für „Aufklärung“ ist unter den westlichen Sprachen dasjenige, das zuletzt an Häufigkeit zulegte, nämlich erst seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. In der italienischen Übersetzung von Windelbands „Geschichte der Philosophie“ (1891) (Besprechung Kapitel „Intellektuelle“) aus dem Jahr 1912 hieß es noch „La filosofia della ‚Aufklaerung‘“, der Übersetzer Eugenio Zaniboni erläuterte jedoch in einer Fußnote, dass manche „Aufklärung“ mit „illuminismo“ übersetzten.44 In der Ausgabe von 1921 war dann das deutsche Wort durch „l’illuminismo“ ersetzt worden. Entscheidenden Anteil an der Identifizierung einer „italienischen Aufklärung“, die mehr als die bekannten Namen Beccaria, Filangieri und einige andere umfasste, hatte Franco Venturi mit seinen fünf Bänden „Settecento riformatore“, die ab 1969 erschienen. Dazu kamen weitere Bücher zur Aufklärung desselben Autors. Selten erzielte ein einzelner Autor so durchschlagenden Erfolg in Bezug auf die wissenschaftliche Identifizierung eines historischen Phänomens. La Ilustración: Die spanische Kurve reißt nach 1940 steilt nach oben aus, übertrifft die deutsche von „Aufklärung“ um 1980 und verbleibt bis heute auf einem deutlich höheren Niveau als die anderen fünf Kurven. Dies spiegelt in der Tat nicht zuletzt die Entwicklung der Diskussion in Spanien wider, die während der

39 Cobban (1960): In Search of Humanity, S. 7. 40 Ähnlicher Befund zur späten Etablierung: Rosso (2002): Inventing „illuminismo“ (and „enlightenment“). 41 Schmidt (2003): Inventing the Enlightenment. 42 Ebd., S. 441 f. 43 Vgl. Himmelfarb (2004): The Roads to Modernity, hier S. 12. 44 Rosso (2002): Inventing „illuminismo“ (and „enlightenment“), S. 126.

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Republik sehr lebendig gewesen war.45 Zu Beginn des Franco-Regimes war die Aufklärung dann sehr negativ beurteilt worden.46 Freilich sind negative Bewertungen oft die Ursache für auffällig hohe Häufigkeitswerte. Schon gegen Ende der Franco-Diktatur erlebte die eigentliche Aufklärungsforschung einen Aufschwung, deren Dynamik seit den 1980er Jahren anhält. Dazu kam das wachsende Interesse an der Aufklärung in Mittel- und Südamerika, ebenfalls seit den 1940er Jahren, das sich in der Spanisch-Kurve des Ngram Viewer niederschlägt. Im späteren 18. Jahrhundert im Spanischen (Spanien und Lateinamerika47) gängige Ausdrucksweisen waren u. a. „la ilustración de un siglo filosófico“, „el siglo de las luces“, manchmal auch „la Ilustración“ (also mit großem Anfangsbuchstaben) oder „la ilustración“ (mit kleinem Anfangsbuchstaben). Alles in allem war die Begrifflichkeit rund um „Aufklärung“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Spanien und den spanischsprachigen Amerikas sehr ausdifferenziert.48 In den Amerikas blieb der Begriff in der antikolonialen Phase am Beginn des 19. Jahrhunderts eine aktive Bezeichnung der eigenen Gegenwart.49 Prosveščenie: Im Russischen wird für „Aufklärung“ das Wort „prosveščenie“ verwendet. Das Wort ist abgeleitet aus dem Kirchenslawischen „prosveščat’“. „Prosveščenie“ verwies ursprünglich auf das Taufen. Die Aufklärung nach westlichem Vorbild wurde folglich als „zweite Taufe“ bezeichnet. Die Lichtmetaphorik gehört zum Bedeutungszusammenhang ebenfalls dazu.50 „Prosveščenie“ übernahm im 19. Jahrhundert im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Aufklärung auch die Bedeutung „Bildung“, für die es im Prinzip das Wort „obrazovaniye“ gab. Bildung war ein zentrales Anliegen der Aufklärung und stellte den Schlüssel dafür dar, den Menschen zum aufgeklärten Menschen zu machen. Jeder Mensch besaß das Potenzial dazu. Ilia Andronov zufolge wurde „prosveščenie“ zur Charakterisierung der Philosophie des 18. Jahrhunderts erstmals von einem Autor namens Mikhail Petrov 1861 in einem Werk über Historiografie verwendet. Der Vorteil des Begriffs sei sein religiöser Hintergrund gewesen, was Schwierigkeiten mit der Zensur vermeiden geholfen habe.51 Um 1900 hat sich der Begriff in der Bedeutung „Aufklärung“ bereits gut durchgesetzt, 1916 wird er zum Titelwort der „Očerk istorii francuzskoj literatury ėpochi ‚Prosvěščenija‘“ [Kurze Geschichte der französischen Literatur in der Epoche der Aufklärung] von Matvej Nikaronovič Rozanov.52 Für beide Begriffe erhöhen sich die Häufigkeitswerte ab der Oktoberrevolution von 1917, für „obrazovaniye“ aber ungleich stärker als für „prosveščenie“. Die kurze Umschau lässt sich ein wenig erweitern: Johan Huizinga sagte in einem Vortrag 1933 an der Uni Amsterdam, dass das niederländische „Verlich45 46 47 48 49 50 51 52

Krauss (1973): Die Aufklärung in Spanien, Portugal und Lateinamerika, S. 7. Zur Begriffsgeschichte im Spanischen s. Sebastián (2002): Du mépris à la louange. Rincón (1973): Die Aufklärung im spanischen Amerika, S. 213–235, hier Abschnitt I. Krauss (1973): Die Aufklärung in Spanien, Portugal und Lateinamerika, Kap. I.1. Rincón (1973): Die Aufklärung im spanischen Amerika, S. 213–214. Vgl. Lehmann-Carli (2015): Aufklärung in Russland, hier besonders S. 115. Andronov (2002): Qu’est-ce que le „prosvechtchenié“?, hier S. 175 und 177. Ebd., S. 179. Rozanov (1916): Očerk istorii francuzskoj literatury ėpochi ‚Prosvěščenija‘.

Begriffsbildung „Philosophie der Aufklärung“

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ting“ erst seit ca. 25 Jahren in Gebrauch sei – also erst seit rund 1900.53 Das polnische „oświecenie“ (heute in der Regel mit Großbuchstaben am Anfang: „Oświecenie“) nimmt ab den 1760er Jahren die Bedeutung von Erziehung und Bildung auf, erstreckt sich aber bald auch auf die philosophischen, sozialen und allgemein ideologischen Veränderungen der Zeit. Der Text über „Aufklärung“ von Moses Mendelssohn wurde 1785 ins Polnische übersetzt.54 Zu den sechs im Ngram Viewer aufgerufenen Sprachen gehören mehrere Weltsprachen, also Sprachen, die in vielen Regionen der Erde als Mutter- bzw. Vater- oder häufig gebrauchte Zweitsprache eingesetzt werden. Die in Grafik 1 und 2 abgebildeten Häufigkeitskurven repräsentieren deshalb nicht konkrete Länder, sondern beziehen sich auf Texte, die in der entsprechenden Sprache gedruckt wurden.55 Für Englisch wurde das allgemeine Korpus, keines der Spezialcorpora, die Ngram Viewer für Englisch anbietet, gewählt. Im Gegensatz zu Englisch, Französisch und Spanisch sind Deutsch, Italienisch und Russisch nicht das, was man üblicherweise Weltsprachen nennt. Deutsch und Russisch werden gleichwohl weltweit benutzt und gehören zu den zehn von den meisten Sprecher*innen (Primär- und Sekundärsprache) in mehr als einem einzigen Land benutzten Sprachen. Für Italienisch gilt das weniger, aber es gibt eine weltweite italienische Diaspora, in der das Italienische aktiv verwendet wird. Außerdem ist es die Sprache bedeutender Werke der Aufklärung. Seine Einbeziehung macht daher Sinn. Die Weltsprache Portugiesisch fehlt, es wird im Ngram Viewer nicht angeboten. Allerdings spielte das Portugiesische in der Aufklärung selber nicht die Rolle einer Hauptveröffentlichungssprache. Dennoch ist das Fehlen dieser Weltsprache im Ngram Viewer bedauerlich. BEGRIFFSBILDUNG „PHILOSOPHIE DER AUFKLÄRUNG“ Die Begriffskombination – Philosophie der Aufklärung, philosophie des L/lumières, philosophy of the E/enlightenment bzw. E/enlightenment philosophy (verschiedene Groß- und Kleinschreibungskombinationen sind jeweils gebräuchlich) – war vereinzelt vor 1850 in Gebrauch, entwickelte sich aber erst nach 1900 langsam zu einer Standardbezeichnung. Folgt man den Häufigkeitskurven in Grafik 3, geschah dies speziell im Deutschen und Französischen bereits in der Zwischenkriegszeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich die Französisch-Kurve auch von der Deutsch-Kurve weit nach oben ab, im Englischen bleibt die Häufigkeit beider Ausdrücke inklusiver aller möglichen Schreibweisen immer deutlich unterhalb der Kurven des Französischen und Deutschen.

53 Huizinga (1945 [1933]): Naturbild und Geschichtsbild im 18. Jahrhundert, hier S. 149. 54 Kostkiewicz (2002): L’historique et les usages des Lumières, hier S. 159. 55 Die aus Google Books gebildeten Corpora für den Ngram Viewer enthalten lt. Googles Erläuterungen keine „serials“, was allerdings insoweit irreführend ist, als z. B. in Buchform zusammengebundene Zeitungen des 19. Jahrhunderts enthalten sind.

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Namensgebung

Grafik 3: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „Philosophie der Aufklärung“ im Deutschen, Englischen und Französischen, Zeitraum 1750 bis 2012. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 4. August 2021, https://tinyurl.com/3hnfc857. Es wurde die Einstellung „2012“ beibehalten, statt „2019“, da in „2012“ noch mehr Zeichen für die Suchzeile zugelassen waren, sodass die beiden englischen Ausdrücke in derselben Grafik erhoben werden können.

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John Grier Hibben veröffentlichte 1910 „The Philosophy of the Enlightenment“ (Besprechung s. Kapitel „Intellektuelle“) – er scheint der erste gewesen zu sein, der ein Buch so betitelte, und zwar rund zwei Jahrzehnte vor Cassirers „Die Philosophie der Aufklärung“ (Besprechung s. Kapitel „Intellektuelle“). Allerdings suggeriert die Englisch-Kurve im Ngram Viewer eher einen geringen namensbildenden Erfolg für die englische Formel. Im Französischen scheint es die Übersetzung von Cassirers Buch gewesen zu sein, die eine solche Formulierung nachhaltig etablierte. In den 1920er Jahren erschienen in der von dem Philosophen Gustav Kafka (1883–1953) herausgegebenen Reihe „Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen“ (auswahlweise Besprechung s. Kapitel „Intellektuelle“) drei Bände, die getrennt „Die englische Aufklärungsphilosophie“ (Cay von Brockdorff, 1924), „Die französische Aufklärungsphilosophie“ (Oskar Ewald – d. i. Oskar Ewald Friedländer, 1924) sowie „Die deutsche Aufklärungsphilosophie“ (von Brockdorff, 1926) behandelten. Die Begrifflichkeit lag in der Luft, aber das meisterliche Finishing fiel Cassirer zu. Ähnlich können Überblickswerke zur Geschichte der Philosophie Kapitel oder Buchteile schon vor Cassirer unter dem Titel „Philosophie der Aufklärung“ enthalten. Schließlich tritt die Begriffskombination innerhalb von Texten immer wieder in Publikationen seit dem 19. Jahrhundert auf. Als Beispiel sei der Aufsatz von Jean-Marie Carré, „Le Piétisme de Halle et la philosophie des lumières, 1690–1750“ genannt, der 1913 in der „Revue de synthèse historique“ erschien. Soweit es die deutschsprachige Wissenschaft betrifft, kam Horst Stuke im Artikel „Aufklärung“ in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ 1972 zu dem Schluss, dass insbesondere Wilhelm Windelband (Besprechung s. Kapitel „Intellektuelle“) im ausgehenden 19. Jahrhundert durch seine Einteilung der Epochen der Philosophiegeschichte zur Etablierung von „Die Philosophie der Aufklärung“ beitrug. Er habe „1878 den Aufklärungsbegriff systematisch zum universalen Gliederungsprinzip der neueren europäischen Philosophie entwickelt“.56 Stuke verortete die Fixierung von „Aufklärung“ als Epochenbegriff im Deutschen folglich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, nachdem er bis dahin Gegenstand von Polemiken und sehr unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen gewesen war. Diese Entwicklung dürfte über den deutschen Sprachraum hinaus wesentlich gewesen sein, da deutschsprachige Autoren wie Windelband, Karl Joël (den Stuke nicht einbezog), Cassirer etc. mit oder sogar ohne Werkübersetzungen international breit rezipiert wurden, solange Deutsch eine angesehene internationale Wissenschaftssprache war bzw. solange, nach Verlust dieses Ansehens in Folge des Ersten Weltkriegs, international noch jene Generation aktiv publizierte, die mit Deutsch als Wissenschaftssprache, insbesondere als Sprache der Philosophie, vertraut war. Ausgehen kann man außerdem davon, dass „Aufklärung“ als Epochenbegriff und „Philosophie der Aufklärung“, das heißt die Wahrnehmung der Aufklärung in erster Linie als Thema der Philosophiegeschichte, eng zusammenhingen. Im Deutschen spielte ab dem 19. Jahrhundert der Ausdruck „Literatur der Aufklä56 Stuke (1972): Artikel „Aufklärung“, Zitat S. 341.

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Namensgebung

rung“ bei der Bildung des Epochenbegriffs ebenso eine Rolle, während im Französischen eher „littérature du dix-huitième siècle“ eingesetzt wurde. Vorläufig soll hier festgehalten werden, dass es in der langen Geschichte der Bedeutungsprägung von „Aufklärung“ eine einige Jahrzehnte anhaltende Phase gab, in der die Perspektive der Philosophie vorrangig war. Philosophie wurde generell Geschichtsmächtigkeit unterstellt. Das Feld „Philosophie der Aufklärung“ wurde nicht erst von Cassirer konstituiert, aber es wurde durch ihn in ein allgemeines Bewusstsein gehoben, und zwar nachhaltig weltweit bis heute. Man muss sich versuchen klarzumachen, dass die Bezeichnung „Philosophie der Aufklärung“ als Bezeichnung eines Untersuchungsfeldes offenbar erst im Zuge eines historischen Distanzierungsprozesses möglich wurde. Wer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über das 18. Jahrhundert schrieb, schrieb zumindest teilweise über Zeitgeschichte, und zwar mit geringer zeitlicher Distanz. Die Französische Revolution hatte auf dem europäischen Kontinent zu großen Umwälzungen geführt und, bei aller Vielfalt der Auswirkungen und Ergebnisse, ganz generell das Ancien Régime beseitigt. Und der Zusammenhang zwischen Revolution und Aufklärung war meistens unbestritten, auch bei den Gegnern der Aufklärung. Alles in allem geben uns die im Ngram Viewer ermittelten Häufigkeitsverläufe wichtige Hinweise auf den Erfolg der kurzen formelhaften Epochenbezeichnungen der Aufklärung. Dieser Erfolg setzt zwar schon nach dem Ersten Weltkrieg ein, erreicht aber deutlich größere Ausmaße (erst) nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Befund bezieht sich letztlich nicht nur auf Europa, sondern besitzt eine globale Dimension, da die ausgewerteten Sprachen nicht auf Europa beschränkt sind. Er wird auch durch die zitierten Fachautor*innen, die meistens noch keine lexikografischen bzw. lexikometrischen Ergebnisse zitieren konnten, sondern sich auf Wörterbücher und wissenschaftliche Texte stützten, bestätigt. Im Gegenzug kann die vor dem 20. Jahrhundert vorherrschende Vielfalt bei der Bezeichnung der Epoche als Hinweis gewertet werden, dass so etwas wie „die Aufklärung“ noch nicht so anerkannt oder etabliert war, wie später zunehmend im 20. Jahrhundert. Es handelt sich um eine performativ wirkende Namensgebung, die spätestens nach 1945 global akzeptiert ist. Große Erzählungen brauchen einen solchen Namen. Der Name trägt in sich die keinen Zweifel zulassende Behauptung, dass er eine Sache bezeichnet, die in der Welt ist. Ist sie, kann sie auch erzählt werden. Die äußere und quantitative Begriffsgeschichte verrät keine inhaltlichen Details, nur den scheinbar allgemeinen Drang, einer Sache mittels einheitlicher Namensgebung eine Identität zu geben – ein historischer kollektiver performativer Sprechakt.57 Der Streit seit Hegel um die Frage, was „Aufklärung“ ist, wird uns im Kapitel „Intellektuelle“ ausführlich beschäftigen. Im folgenden Kapitel „Praktiken“ wird auf die arabische, chinesische und japanische Bezeichnung für „Aufklärung“ eingegangen werden. Dass es nicht hier 57 Zum Begriff s. Schmale (2016): Gender and Eurocentrism, Kap. 1.

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bei „Namensgebung“ geschieht, hat damit zu tun, dass der international wirksame performative Akt im Wesentlichen im Deutschen, Französischen und Englischen sowie im Italienischen und Spanischen vollzogen wurde. Schon das Russische stand und steht hierbei am Rande. Das Kapitel „Intellektuelle“, das in vieler Hinsicht an dieses Kapitel „Namensgebung“ anschließt, folgt nicht direkt, weil es mit dem 19. Jahrhundert beginnt, während die „Praktiken“ wie auch hier die „Namensgebung“ aus dem 18. Jahrhundert heraus entwickelt werden.

PRAKTIKEN EINFÜHRUNG In den Geistes- und Kulturwissenschaften gab es zuletzt neue Uneinigkeit darüber, was als „Aufklärung“ bezeichnet werden solle1, mithin, was Gegenstand einer Geschichte der Aufklärung wäre. Robert Darnton2 und Dan Edelstein3 plädierten dafür, sich wieder mehr an den französischen philosophes zu orientieren und den Begriff „Aufklärung“ nicht zu überdehnen. Oft wird versucht, einen definierbaren philosophischen Kern der Aufklärung zu ermitteln und sich davon ausgehend mit der Geschichte der Aufklärung zu befassen. Alle diese Ansätze scheitern aber letztlich an der Vernetztheit des Phänomens namens Aufklärung. Schon im 18. Jahrhundert ist die Aufklärung eine globale Erscheinung – auch dann, wenn man nur auf europäische „Exporte“ in andere Weltregionen achtet und weitergehende Aspekte wie indigene zeitgleiche Aufklärungen noch gar nicht einbezieht. Aufklärung ist plural und vielschichtig und deshalb nur schwer auf wenige Kernsätze reduzierbar. Letzteres entspricht aber dem häufigsten Zugang. „Aufklärung“ wird mit Schlagworten wie Vernunftdenken, Rationalismus, Fortschrittsdenken, Bürgerlicher Gesellschaft, Kapitalismus, Moderne, Freiheit, Toleranz, Menschenrechte, Demokratie und anderen mehr verknüpft.4 Diese Schlagworte sind das Ergebnis von Konstruktionsprozessen. Inwieweit sie die Geschichte der Aufklärung gut beschreiben, ist eine ganz andere Frage, auch wenn sie keineswegs unzutreffend sind. Panajotis Kondylis versuchte zu Beginn der 1980er Jahre von der Verkürzung auf Schlagworte bzw. Schlüsselbegriffe wegzukommen. Er schlug vor, die Aufklärung als „eine Vielfalt von Versuchen, die Frage nach den Beziehungen von Geist und Sinnlichkeit zu beantworten.“5 „Vielfalt“ verstand er aber nicht als Gegenbegriff zu „Einheit“, es gehe darum, „die Einheit der damaligen Denkbemühung in der Vielfalt der Denkweisen verstehen zu können.“6 Die „Vielfalt der Denkweisen“ lässt in der Praxis auch „Widersprüchlichkeiten“ zu.7 Im 21. Jahrhundert ist unsere Sensibilität für Vielfalt vielleicht wieder höher als noch ein paar Jahrzehnte zuvor und erlaubt es uns, statt die Aufklärung auf ein Dutzend Schlagworte zu reduzieren, deren Vielfalt in den Blick zu nehmen – was im Übrigen im Lauf der langen Auseinandersetzung mit der Aufklärung seit dem 1 2 3 4 5 6 7

Vgl. z. B.: Fulda (2013): Gab es die Aufklärung? Darnton (1997): Washingtons falsche Zähne. Edelstein (2010): The Enlightenment. S. Mondot (2012): Aufklärung, hier besonders S. 160. Kondylēs (1981): Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, hier S. 19. Ebd., Zitat S. 20. Ebd.

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19. Jahrhundert immer wieder geschehen ist. Zweifellos macht es dann einen Unterschied, ob die Aufklärung aus der Geschichts- oder einer anderen Wissenschaft wie der Literaturwissenschaft bzw. aus Sicht der Philosophie und Geistesgeschichte analysiert wird. Im Gesamt der Aufklärungsforschung ist die Geschichtswissenschaft noch nie eine laute Stimme gewesen. Anders ausgedrückt: Die folgenden Überlegungen entsprechen keiner Mainstreaminterpretation der Aufklärung, sondern nehmen geschichtswissenschaftliche Kategorien zur Grundlage. Die Aufklärung unter praxeologischen Gesichtspunkten zu betrachten kann nur gelingen, wenn deren Vielfalt und deren pluraler Charakter nicht aus den Augen verloren wird. Wie das Kapitel „Namensgebung“ gezeigt hat, wird „Aufklärung“ seit dem 19. Jahrhundert zunehmend ein Konstrukt, das die historische Aufklärung abzubilden vorgibt. Darüber hinaus scheint eine gewisse Einigkeit zu herrschen, dass mindestens in Europa oder dem Westen mehr oder weniger überall „Aufklärung drinsteckt“. Lesen wir Helmut Dubiel: In den Strukturen der kapitalistischen Wirtschaft, in den Grundlagen des modernen Rechtsstaats, in den Verhaltenscodices der Amts- und Betriebsbürokratien, der Hochschulen und Akademien, in der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche, in den Lehrplänen der Schulen, in den Hausordnungen der Gefängnisse, in den Diagnoseprozeduren der Psychiatrie haben jene „idées directrices“ eine institutionelle Gestalt angenommen.8

Das ließe sich wahrscheinlich gut mit dem von Daniel Fulda und anderen aufgegriffenen Theorem der in der Aufklärung ausgeprägten Kulturmuster verbinden, die bis heute, oft sogar global wirken, wie das Kulturmuster „Konzert“, um ein Beispiel zu nehmen.9 Mit diesem Ansatz würde man konsequenterweise bei einer allgemeinen Geschichte der Neuzeit landen. In diesem Kapitel geht es entsprechend der Generalperspektive dieses Buches von der „Aufklärung der Aufklärung als gesellschaftliche Orientierung“ um entsprechende Praktiken. Das Kapitel reicht vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Um der globalen Perspektive gerecht werden zu können, wird selektiv-exemplarisch vorgegangen. GRUNDZÜGE DER AUFKLÄRUNG Am konkretesten tritt uns die Aufklärung in Gestalt der bekannten Aufklärer*innen wie Voltaire, Kant, Wollstonecraft etc. sowie ihrer Gegenspieler*innen und als europäisches Phänomen entgegen. Damit beginne ich. Aufklärung stellt sich als leibhaftiges Phänomen dar. Da könnte man die Salons nennen, über die auch die Frauen der Aufklärung stärker in den Blick geraten. In Paris stach der Kreis der philosophes hervor, der sich lange Jahre im Salon 8 9

Gemeint sind: Toleranz, Freiheit, Öffentlichkeit, freie Wirtschaft, autonome Wissenschaft, Meinungsfreiheit: Dubiel (1988): Politik und Aufklärung, Aufzählung und Zitat S. 21. Fulda, Hg. (2010): Kulturmuster der Aufklärung.

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des Baron d’Holbach und seiner (zweiten) Frau Charlotte Suzanne d’Aîne traf. Ihm gehörte u. a. Diderot an, die Verbindung mit der Encyclopédie als quasi institutionalisierter Aufklärung war zeitweise eng. Die bekanntesten Gegenspieler*innen waren die absolutistischen Monarch*innen, von denen sich einige wie Friedrich II. und Josef II. aber aufgeklärt gaben; außerdem die Zensurbehörden, die Kirchen, oder Persönlichkeiten, die teilweise schon in der Zeit selber als „Gegenaufklärer“ bezeichnet wurden. Jedenfalls gab es rhetorisch und argumentativ hochbegabte Gegner der Aufklärung, unter denen Edmund Burke (1729–1797) als der bekannteste gelten darf. Das, was wir epochenhaft als Aufklärung bezeichnen, begann, soweit es Europa betrifft, mit einem Abenteuer der Erkenntnis und mündete in eine Reihe von Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts. Es ist für uns heute gar nicht mehr so leicht nachvollziehbar, was es bedeutete, die Natur der Natur, den Menschen in seiner Natur, die Menschheit und die Welt verstehen zu wollen – mit allen Konsequenzen bezüglich Religion, Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Das war das Abenteuer, das vor der Zeit, die als Aufklärung bezeichnet wird, begann, das aber erst ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, mehr noch gegen dessen Ende, immer größer und intensiver wurde. Immer mehr Menschen waren vor allem im 18. Jahrhundert daran beteiligt. Dieser quantitative Aspekt ist wichtig und sollte einer Verkürzung der Betrachtungen auf die vermeintlichen Leitfiguren vorbauen. Wie groß das Abenteuer war, lässt sich nicht zuletzt an den Irrtümern erkennen, die begangen wurden. Die meisten Irrtümer geschahen in Bezug auf die vermeintliche Natur des Menschen. Ausgehend von einer vermeintlichen Normalität wurden Norm-Abweichungen festgestellt und infolgedessen Menschen als „Irre“ oder „Wahnsinnige“ oder allgemein zur Korrektion eingesperrt. Die Überzeugung, dass die Menschheit aus „Rassen“ bestehe, setzte sich weitgehend durch, und damit die Überzeugung, dass eine bestimmte „Rasse“, die weiße, entwicklungsmäßig vorangehe. Es setzte sich die Überzeugung durch, dass es zwei fixe Geschlechtsidentitäten gebe, die männliche und die weibliche, und sich die sozialen Rollen und Aufgaben daraus ableiten ließen. Diese Irrtümer sind im Kontext der Zeit zu sehen, die Menschen hatten diese im Übrigen auch Ende des 18. Jahrhunderts nicht umfassend interiorisiert, sodass deren praktische Wirkung vorerst begrenzt war. Das änderte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts. Nicht alle Aufklärer begingen alle diese Irrtümer auf einmal und manche vielleicht keine davon. Dazu kam eine gewisse Lust am Experiment mit Menschen. Im Mittelpunkt des Interesses stand dabei die Zivilisierung. Daher das Interesse an „Wilden“ und an der Frage, was an Erziehung und Zivilisierung an einem Kind, auch irgendwo in Europa, ausgerichtet werden könne, das nach der Geburt weggelegt worden wäre und im Wald, von einem säugenden Muttertier genährt, überlebt hätte. Es ging um die zivilisatorische tabula rasa oder nahezu tabula rasa. Geistesgeschichtlich lassen sich Positionen der Aufklärung teilweise weit in der Zeit zurückverfolgen, aber es waren anfangs nur einzelne Denker*innen, auf die man stößt. Am Anfang des Abenteuers der Erkenntnis stand eine überschauba-

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re Zahl von Humanist*innen. Kopernikus (1473–1543) entwickelte das Heliozentrische Weltbild. Wohlweislich veröffentlichte er seine Erkenntnis nicht zu Lebzeiten, das geschah nach seinem Tod. Galilei (1564–1642) wollte mutiger sein, nachdem er zum Schluss gekommen war, dass Kopernikus Recht gehabt hatte, doch die Inquisition hielt ihn auf. Er musste seine Überzeugungen verleugnen. Aufzuhalten waren all diese Forschungen nicht. Galilei starb, Isaac Newton wurde geboren (1643–1727), der bereits zur Frühaufklärung gerechnet wird und der zu den bis heute populärsten Wissenschaftlern zählt, die den Schlussstrich unter viele naturwissenschaftliche Irrtümer seit der Antike zogen. Am Ende, im späten 18. Jahrhundert, fühlte man sich befähigt und berechtigt, auf der Grundlage der durchschauten und verstandenen Natur der Natur und der Natur des Menschen, feste Aussagen darüber treffen zu können, wie die menschliche Gesellschaft, Wirtschaft und der Staat zu konzipieren und zu ordnen seien, um permanenten Fortschritt und Glück in eine vorausgedachte Zukunft hinein sicher zu stellen. Gleichwohl – das sei mit Blick auf die Kritiker nach der Aufklärung gesagt – wurden in den Revolutionen dann keine am Schreibtisch entworfenen Utopien in Verfassungen gegossen, sondern es wurde heftig debattiert und gestritten. Es wurde keine abstrakte Vernunft in politische Praxis transformiert. Die Vernunft musste durch das Kreuzfeuer der Debatte und der konträren Interessen hindurch. Die Annahme eines gewissermaßen autonomen Fortwirkens der Vernunft, nachdem sie nicht zuletzt durch Kant umfassend analysiert und definiert worden war, bis hin zur Selbstfalsifizierung in den Totalitarismen, erscheint in einer geschichtswissenschaftlichen Betrachtungsweise geradezu absurd. Für das Konzipieren neuer Ordnungen mussten in einer jahrzehntelangen enormen Kraftanstrengung die Autoritäten der alten Ordnung – Monarchie, Feudalsystem, Kirche, Hof, Adel und Klerus – entlarvt werden als Imaginationen und Institutionen, die im Widerspruch zur Natur der Natur und der Natur des Menschen standen und diesen kein „Glück“ – eine Schlüsselkategorie der Aufklärung – ermöglichten. Aus den Erkenntnissen der Aufklärung folgten Reformen, an denen sich etliche Herrscher*innen in selektiver Weise beteiligten, es folgten daraus Revolutionen, die sich gegen kirchliche und weltliche absolutistisch-monarchische Herrschafts- und Gesellschaftsordnungen richteten. Eine weitere bis heute anhaltende Folge war, dass die Kategorien und Denkmuster, mit denen die Welt begriffen und erklärt werden sollte, in der Aufklärung geprägt wurden und seitdem überall in der Welt verwendet werden, wie es Dipesh Chakrabarty in seinem grundlegenden Buch „Provincializing Europe“ (2000) in der Einleitung in kritischer Absicht darlegte. Zudem wurden viele Kulturmuster geprägt, die bis heute ausgeführt werden.10 Überall stoßen wir immer noch auf Strukturen, die in der Aufklärung grundgelegt bzw. grundlegend reformiert wurden (Schul- und Bildungswesen, Universitäten, Wissenschaften, Staat und Gesellschaft, Verwaltung), indem Theorie und Praxis kombiniert wurden.

10 Fulda, Hg. (2010): Kulturmuster der Aufklärung.

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Aus all dem folgt nicht zwingend, dass die Aufklärung sich von Europa in die Welt ausgebreitet und diese nach ihren Regeln der Modernisierung unterworfen habe, obwohl dies die gängige Darstellung ist. Hierzu gibt es anhaltende Kontroversen. In Europa war es mühsam und kraftraubend gewesen, sich vom imaginierten Gott und seiner Ordnung zu lösen und die erkenntnistheoretische Durchdringung aller Natur zur Grundlage der neuen Ordnungssysteme zu wählen. Vielleicht war man in anderen Weltregionen diesbezüglich weiter und musste keine Berge versetzen? Etliche Aufklärer sahen das so. In mehrerer Hinsicht „musste“ Europa etwas finden, was anderswo in der Welt schon gefunden worden war oder als Selbstverständlichkeit galt. Insbesondere der christliche Monotheismus zeitigte ein Kirchen- und Herrschaftssystem, das mehr Verwerfungen und Unterdrückung als Glück produzierte. Nicht ohne Grund war „Glück“ einer der Schlüsselbegriffe der Aufklärung. Die Bekämpfung des unterstellten Generalzustands, der Unterdrückung des Glücks, stellte eine europaspezifische Herausforderung dar, die sich in dieser Form anderswo in der Welt nicht stellte. Man kann es mit Voltaire sagen, dass die Europäer sehr viel später als die Chinesen zu den richtigen Grundeinsichten gelangten. Methodisch betrachtet war die Wahrheitssuche der Aufklärung wissenschaftlich angelegt. Insoweit ist es zutreffend, wenn nach den Wurzeln der Aufklärung gefragt wird, auf die Gelehrten seit der Renaissance zu schauen, vor allem auf die „Revolutionäre“ unter ihnen wie Kopernikus, Galilei, Newton, Leibniz und andere. Die Methodenlehren eines Francis Bacon (1561–1626) (Novum organum scientiarium, 1620) und eines René Descartes (1596–1650) (Discours de la méthode, 1637) gehören ebenfalls zu dieser Vorgeschichte oder Frühaufklärung. Ohne Methoden wäre Wissenschaft nichts, Methoden ohne zugleich deren wissenschaftliche Beschreibung – welche Bacon und Descartes versucht haben – sind nutzlos. Ohne solche Vorleistungen wäre Aufklärung nicht das geworden, was sie wurde. Wissenschaft und Methode sind zugleich – aus der europäischen Blickrichtung – Türöffnungen zu anderen Kulturräumen, aus denen Wissenschaft und Methoden nach Europa kamen. Die Natur der Natur und die Natur des Menschen zu erforschen und alles Weitere von da aus zu durchdenken, führte nicht zwingend zu atheistischen Positionen, konnte aber dazu führen. Die Natur zu kennen bedeutete, ihre Gesetze zu erkennen und die lebensweltliche Ordnung des Menschen damit in Einklang zu bringen. Die Natur des Menschen zu kennen, war vielleicht die größte Herausforderung, weil die Natur des Menschen die am wenigsten bekannte Natur war. Es ging um die Biologie des Körpers, um die Ausdifferenzierung des Körpers in weiblich und männlich, um die Rolle von Trieben, von Gefühlen im Verhältnis zur Vernunft, um Lebensweisen, die dem Körper guttaten bzw. schadeten, es ging um die Menschheit, um Fragen der Mono- oder Polygenesis. Psychiatrie und Psychologie entstanden aus der Erforschung des Menschen, die Lehre vom Breitensport, aber auch die Einteilung der Menschen in „Rassen“ entstand dabei – was nicht unbedingt bedeutete, die Vorstellung von der Einheit der Menschheit aufzugeben. Die Erforschung der Natur des Menschen zeitigte wichtige Erkenntnisse für den medizinischen Fortschritt, für Hygiene, für lebensrettende Maßnahmen.

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Sie wurde aber auch in der Musik ausgelotet und vermittelt. Aus heutiger Rückschau war das Ergebnis der Introspektion der Natur des Menschen folglich gemischt und ambivalent. Selbst wenn heute im Rückblick vieles im 18. Jahrhundert noch spekulativ argumentiert erscheint, war die Vorgehensweise grundsätzlich wissenschaftlichmethodisch. Das heißt, es wurde systematisiert. Systematisieren heißt, die untersuchten Körper, Pflanzen, materiellen Objekte, Sachverhalte und Gesetze in die jeweils kleinsten erkennbaren zusammenhängenden Teile zu zerlegen. Dieser Zerlegungsprozess führte zur Normbildung. So wuchs das Unverständnis für die vielfältigen Längen- und Hohlmaße, und es wurde, beispielsweise, in den 1790er Jahren vor allem durch französische Gelehrte der Urmeter als Universalnorm entwickelt. Statt von Zerlegung in Teile könnte man auch sagen, alles wurde in Daten übersetzt, mit denen dann beliebig weitergearbeitet werden konnte. So entstanden erste Beschreibungsdaten, die in Pässe für Reisende eingetragen wurden, anhand derer die Identität von Person und Dokument überprüft wurde.11 Damit wird eine heikle historische Schnittstelle berührt: Forschung, Systematisierung, Normierung, Datengenerierung und ähnliches diente einer höheren Effektivität in Wirtschaft, Verwaltung und beim Zeiteinsatz, der besseren Nutzung von Ressourcen, einer zunehmenden Arbeitsteiligkeit und so fort. Hierfür stehen beispielsweise die Physiokraten, die es nicht nur in Frankreich, sondern weit verbreitet in Europa gab. Adam Smiths „Wohlstand der Nationen“ (1776) steht ebenfalls hierfür und ist bis heute ein Referenzwerk erster Ordnung geblieben. In dieser Hinsicht stellt die Aufklärung einfach eine Phase in der langen Geschichte der Rationalität dar.12 All dies ermöglichte mehr Kontrolle, wie es Michel Foucault in seiner Studie „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ (1975) exemplarisch vor Augen geführt hat. All dies führte zu Rationalisierungsprozessen, die keineswegs nur Vorteile mit sich brachten, sondern auch neue Formen der Ausbeutung, mit denen sich unter anderem Karl Marx und Friedrich Engels auseinandersetzten. All dies konnte in Irrtümer mit gravierenden Folgen hineinführen, wie die vermeintlich objektive Unterteilung der Menschen in „Rassen“ und die Verbindung vermeintlicher biologisch-rassischer Merkmale mit moralischen und charakterlichen Merkmalen. Die Fixierung einer Geschlechterdichotomie aus männlich-weiblich führte zur Fixierung eines weiblichen bzw. eines männlichen kulturellen Geschlechts, zur Annahme von zwei Geschlechtsidentitäten, die die Handlungsspielräume vor allem von Frauen stark einschränkte. Die pädagogischen Konzepte – sehen wir einmal von Rousseaus berühmten „Émile“ (1762) ab und seinen Nachfolgern wie etwa Johann Bernhard Basedow (1724–1790) – waren an Disziplin orientiert und mündeten gegebenenfalls in eine Strafpädagogik ein. Einen eingängigen „Markennamen“ lieferte 1735 Carl von Linné mit einer großen Tabelle, die er „Systema Naturae“ nannte, das System der Natur. Diese 11 Komlosy (2004): Das Paßwesen (1750–1857). 12 Vietta (2012): Rationalität.

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Systematisierung, die im Kern bis heute verwendet wird, enthielt unter anderem die Dichotomie von männlich und weiblich als ein System der Natur, die erst rund 250 Jahre später zumindest in Bezug auf den Menschen infrage gestellt wurde. Gemeint sind heute die Kategorien Inter- und Transsexualität. Das systemische Denken kennzeichnet die Aufklärung ganz wesentlich. Alles wurde in Systeme eingeordnet, als Teil von Systemen gedacht. Auch Zivilisationen waren demnach Systeme. Der neue Typus einer Menschheits- und Universalgeschichte baute darauf auf und löste die ältere Weltgeschichte, die als göttliche Heilsgeschichte verstanden worden war, ab, die gleichwohl bis ins 19. Jahrhundert Anhänger besaß. In der Aufklärungszeit entstand eine neue Infrastruktur, über die Wissen zirkulierte und Kommunikation jeglicher Art und Intention erleichtert wurde. Diese Infrastruktur besaß institutionelle Komponenten (Verlage und Druckereien, Akademien, Universitäten, Kollegien, Schulen, Theater, etc.), sie war durch Soziabilität gekennzeichnet (Salons, Klubs, Freimaurerlogen, Caféhäuser etc.), sie wurde durch Medien getragen (Briefe, Gedrucktes, Kunst, Architektur), sie wurde technisch getragen von Straßenbau, Kanalbau, Schiffsbau, von der Postkutsche, dem Schiffsverkehr im Binnenland und überseeisch. Nicht unterschätzen sollte man die Bedeutung mündlicher Kommunikation und des Zufußgehens, sei es, um sich mit anderen zu treffen und auszutauschen, sei es, um in der Stille des Gehens zu Erkenntnis zu gelangen. Rousseau ist hierfür ein berühmter literarischer Zeuge. Die Aufklärung war nicht nur eine Sache des Kopfes und der Feder: Das naturwissenschaftliche Experiment, aber auch das Experiment mit Menschen schien unerlässlich, um Theorien zu verifizieren oder zu falsifizieren. Schulen, Bildungs- und Erziehungsstätten waren Stätten der Praxis und des Experiments. Zunehmend wurden zivilgesellschaftliche Vereine gebildet, die sich im weitesten Sinn humanitären Zielen der Aufklärung widmeten. 1767 entstand in Amsterdam eine Gesellschaft, die sich die Bergung Ertrunkener zur Aufgabe machte. Das Beispiel machte sehr schnell Schule in anderen Hafenstädten wie Hamburg oder Venedig.13 In den 1770er Jahren bildeten sich Gesellschaften zur Abschaffung der Sklaverei, deren große Zeit im 19. Jahrhundert kommen sollte. Insgesamt entstand ein breites Spektrum an solchen Vereinen, die sich oft „Gesellschaft“ nannten. Es gab eine starke Tendenz zur transatlantischen Vernetzung. Die Aufklärung war eine Sache der Sinne, der Künste und der Kultur im engeren Wortsinn. Händel, Haydn, mehr noch Mozart und erst recht Beethoven waren Aufklärer. Händel lotete z. B. in „Ariodante“ (komponiert 1734) die vielen Nuancierungen menschlicher Gefühle und Triebhandlungen aus und setzte diese in Musik um; er forschte damit genauso der Natur des Menschen nach wie es die meisten Philosophen auch taten. Mozart und Beethoven setzten aufklärerische und revolutionäre Inhalte kompositorisch innovativ in Musik um. Mozarts „Così fan tutte“ ist gleichsam Oper gewordene Aufklärung, die „Zauberflöte“ Oper gewor-

13 Davies (2013): NGOs, S. 25.

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denes Freimaurertum.14 Mozart und Aufklärung beinahe gleichzusetzen, ist üblich – weit über das diesbezüglich fast impertinente Mozartjahr 2006 hinaus.15 Adorno schrieb über Beethovens Werk, es sei ein „Klassizismus ohne Gips; in der rätselhaftesten Weise vorm Veralten behütet […]. Allerdings ist dies […] dem Unabgegriffenen des Mediums [zuzuschreiben], das es zur Darstellung des Humanen als Natur prädestiniert, und dem historischen Augenblick, in dem Musik und nicht Dichtung mit der Philosophie konvergierte […].“16 Adorno reflektierte in den „Fragmenten“ ebenso darüber, in welcher Weise sich Haydn, Mozart, Beethoven und andere beim Komponieren von geltenden Konventionen freimachten. Sie waren gelebte Aufklärung, könnte man formulieren. Adorno, sich selbst treu bleibend, brachte diese Musik mit der Bürgerlichen Gesellschaft zusammen17, während neuere Autoren den nicht allein durch eine Gesellschaftsformierung erklärbaren Zusammenhang zwischen dem Esprit der Aufklärung und Beethovens Art und Weise des Komponierens hervorheben.18 Sinngemäßes lässt sich über die bildenden Künste sagen, die nicht nur „die Embleme der Vernunft“19 schufen, sondern alle Anliegen und Themen der Aufklärung20 visualisierten. Zentral ist dabei die Fackel21, und in Bezug auf das große Thema „Menschheit“ die Erdteilallegorie.22 Es würde aber eine Verkürzung bedeuten, wollte man die Funktion der bildenden Künste nur auf die Inszenierung aufklärerischer Inhalte beschränken. In den Techniken selber (Malerei, Skulptur, Gravur etc.) steckte Aufklärung wie in den Kompositionstechniken der genannten Komponisten. Die Theater waren Orte der Aufklärung, Stücke und Opern wurden Skandale, wie Beaumarchais’ „Figaros Hochzeit“ (1784).23 Aufklärung war selber eine Abfolge dramatischer Stücke: Voltaire war nicht der Einzige, der ins Gefängnis kam, ins Exil ging – und nach seiner Rückkehr Frankreich veränderte. Aufklärung war ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Zensur und deren Agenten. Anonymes Publizieren an fingierten Druckorten war üblich. In den Niederlanden publizierte es sich frank und frei, wenn es in Paris verboten war. Aufklärung war Ränkespiel, Neid, Enttäuschung, Eifersucht, Eitelkeit – alles, was eine Rolle spielt, wenn es um den größeren Ruhm geht. Hinter der Fassade von Vernunft, Intelligenz und manchmal Genialität zeigten sich ggf. durchschnitt14 Vgl. statt vieler: Natošević (2003): „Così fan tutte“. Die Autorin geht auch auf das Freimaurertum ein. 15 Wangermann (2012): Aufgeklärte Religiosität im Unterricht und den späten Oratorien Haydns, hier S. 19. 16 Adorno (1994): Beethoven. Philosophie der Musik, Zitat S. 55. 17 Ebd., Fragmente im Abschnitt „III. Gesellschaft“. 18 Bspw. Ott (2019): Beethovens Sinfonien. Korff (2010): Ludwig van Beethoven. 19 Starobinski (1973): Les emblèmes de la raison. 20 Fulda (2020): Aufklärung fürs Auge. 21 Fulda (2017): „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor“. 22 Schmale/Romberg/Köstlbauer, Hg. (2016): The Language of Continent Allegories in Baroque Central Europe. Begleitband zur Datenbank: https://erdteilallegorien.univie.ac.at. Romberg (2017): Erdteilallegorien in Dorfkirchen. 23 Petitfrère (1989): Le scandale du mariage de Figaro.

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liche Charaktere. Der Bruch zwischen den früheren Freunden Diderot und Rousseau mag dies illustrieren. Während die Wissenschaften über manches aus der Aufklärungszeit inzwischen hinweggegangen sind, sind speziell die Staats- und Gesellschaftsphilosophien sowie die Bildungs- und Ausbildungsphilosophie gültig geblieben. Fortgeltung – das gilt ganz unmittelbar in Bezug auf das Schul- und Ausbildungswesen, das prinzipiell immer noch von den während der Aufklärung gelegten Fundamenten getragen wird. Das stimmt ganz unmittelbar, wenn man an die verfassungsmäßige Gültigkeit der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 im heutigen Frankreich, an die Gültigkeit der US-amerikanischen Verfassung von 1787/1789 oder an bestimmte Prinzipien wie die Gewaltenteilung denkt. Kant formulierte in seiner Rechtslehre („Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“), dem ersten Teil seiner „Metaphysik der Sitten“ (1797), Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips. Voltaire und sein Kampf für Meinungsfreiheit und Toleranz wirkten bis heute prägend. Die Grundsätze gelten noch, weil sie sich seit mehr als zweihundert Jahren bewährt haben. Die Gewaltenteilung ist ein seit Jahrzehnten weltweit praktisch angewandtes Verfassungsprinzip, dessen Relevanz sich nicht zuletzt daraus erhellt, mit welchem Aufwand immer wieder versucht wird, es außer Kraft zu setzen, um Korruption zu vertuschen und Kritik an einer unguten Herrschaftspraxis, die nur einer Partei oder einer Familie dient, zu unterbinden. Die konstruktiven Leistungen der Staats- und Gesellschaftsphilosophien der Aufklärung fassen wir seit längerem mit der Trias „Menschenrechte – Demokratie – Rechtsstaat“ zusammen. Dabei wird davon abstrahiert, dass das Verständnis von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Ende des 18. Jahrhunderts im Vergleich zu unserem heutigen Verständnis defizitär war. Die Mehrzahl der Rechte waren Männerrechte, in den USA galt keines dieser Rechte für die Sklav*innen, ebenso wenig für die indigene Bevölkerung, die „Indianer“, die bis ins 19. Jahrhundert nicht als Teil von Staat und Gesellschaft der USA, sondern als eigenes Völkerrechtssubjekt angesehen und bekämpft wurden. Historisch betrachtet wurden in der Revolutionszeit Ende des 18. Jahrhunderts nur Vorstadien realisiert, aber die Trias als solche wurde implementiert. Die drei Schlüsselwörter bezeichnen nicht nur den Staatstyp, sondern auch die Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die durch Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bestimmt wird, entwickelt sich anders und ist anders als eine Gesellschaft unter den Bedingungen der absoluten Monarchie oder des Kolonialismus. Die Aufklärung war mehr als eine Angelegenheit der Republik der Gelehrten. Diese und ihre Protagonist*innen stehen zwar nach wie vor im Mittelpunkt der meisten Studien über die Aufklärung, aber diese übersehen dann die vielen Menschen, die Inhalte und Positionen aus den Aufklärungsschriften aufgenommen hatten und ihre eigene berufliche und private Praxis darauf gründeten. Das reichte in die Dörfer hinein; während Aufklärer diskutierten, ob es opportun sei, das Volk aufzuklären, fand beim Volk die Aufklärung im Sinne einer gewissen Teilhabe an deren Inhalten und Positionen längst statt.24 24 Schmale (2012): Das 18. Jahrhundert, Kap. Grundrechtskulturen und Wissenskulturen.

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Die Beurteilung des systemischen Denkens fällt ambivalent aus, weil bei den europäischen und nordamerikanischen Aufklärern Europa/Nordamerika als Ort oder Raum der besten kulturellen bzw. zivilisatorischen Realisierung vorausgesetzt wurde. Sie dachten vielfach europazentrisch. Dadurch stand die Aufklärung, so die postkoloniale Kritik, weder Kolonialismus noch Sklavenhandel noch Sklavenhaltung entgegen, selbst wenn sich in der Aufklärung genug Kritiker*innen des Sklavenhandels und der Sklaverei finden lassen. Diese postkoloniale Kritik wird später noch genauer aufgegriffen werden. Möglicherweise steht sie außerdem der Betrachtung der Aufklärung als globalhistorischem Phänomen entgegen, weil sie nur dann ‚funktioniert‘, wenn die Aufklärung genuin und wesentlich nur europäisch-nordamerikanisch war.25 GLOBALGESCHICHTE DER AUFKLÄRUNG Und jenseits Europas? Wenn wir uns in der Globalgeschichte nicht mit der Feststellung lediglich von Parallelitäten zufriedengeben wollen, müssen wir den Blick auf Verflechtungsgeschichten richten. Wichtige Anstöße dazu gaben Felicity A. Nussbaum (2003)26, Sebastian Conrad (2012) und rezent Sascha R. Klement 27 mit dem Ansatz der auf einer histoire croisée beruhenden „global civility“. Die Verflechtungsgeschichten können verschieden aussehen: (1) Es kommt, gewissermaßen polygenetisch, in Amerika, Asien oder Afrika zu autochthonen Aufklärungen, die sich aufgrund der bestehenden Kontakte mit Europäer*innen mit irgendeiner Variante der europäischen Aufklärung verflechten. (2) Die Aufklärung kommt durch Europäer*innen irgendwo hin, fasst dort bei der örtlichen Bevölkerung Fuß und entwickelt eine eigene Ausprägung. (3) Verflechtung findet nicht nur vor Ort irgendwo außerhalb Europas statt, sondern im Zuge dynamischer Wechselwirkungen ebenso in Europa. Das war speziell im Bereich aufgeklärter Reformen der Fall. So kritisierte Gabriel Paquette an der Aufklärungsforschung: In particular, few historians have sought to show how European and ultramarine reforms were fundamentally, and inextricably, linked and how the rhythm, direction, and scope of metropolitan reform was influenced, often decisively, by colonial affairs. The unfortunate result of both the prevailing consensus concerning the enlightenment’s diffusion from ‚core‘ to ‚periphery‘ and the Europe-centered approach to reform has been to shroud, discard, or portray as anomalous many aspects of the Southern European and extra-European past.28

Eine weitere Konstellation (4) ist darin zu sehen, dass europäische und nordamerikanische Aufklärer*innen Informationen aus aller Welt sammelten, zu Bestand-

25 Conrad (2012): Enlightenment in Global History, S. 1006. 26 Nussbaum, Hg. (2003): The Global Eighteenth Century. Conrad (2012): Enlightenment in Global History. Zum Thema und speziell zu Nussbaum s. auch: d’Aprile (2018): Critical Global Studies and Planetary History. 27 Klement (2021): Representations of Global Civility. 28 Paquette (2009): Enlightened Reform, Introduction, S. 3.

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teilen des Aufklärungswissens machten und sich davon inspirieren ließen.29 Dieses Pendel der Rezeption schwang im 19. Jahrhundert zurück: Intellektuelle in allen Weltteilen eigneten sich zahlreiche Texte der europäischen Aufklärungen an (5). Welche Art von geschichtlicher Verflechtung auch immer zum Zuge kam, dazu brauchte es eine Infrastruktur. Die Infrastruktur stellten, nachdem China recht abrupt an der ostafrikanischen Küste im 15. Jahrhundert seine diesbezüglichen Initiativen beendet hatte, europäische Kaufleute und Handelskompanien sowie Kriegstruppen und Kolonist*innen bereit, aber der Akteur*innen waren viele, ebenso der Inhalte und der materiellen Objekte, für die die Infrastruktur benutzt wurde. Man muss sich Geschichte als eine unendliche und ununterbrochene Vernetzung von Menschen, Objekten und immaterieller Kultur vorstellen, in der ununterbrochen neue Bedeutungen, neue Zusammenhänge, neue kulturelle Verhältnisse geschaffen wurden, in der sich ununterbrochen Austausch, Transfer, Transformation, Modifikation etc. ereignete.30 Dies relativiert die lange Zeit vorherrschende Frage sozusagen nach den Copyrights der Aufklärung – und aller anderen historischen Phänomene. Das bedeutet freilich nicht, dass die Beziehungen symmetrisch, auf gleicher Augenhöhe gewesen wären. Erlangung und Ausübung von Macht korrumpierten schon immer kulturelle Prozesse. In der Geschichte der Menschheit gibt es immer Gruppen, die die Infrastruktur, über die die Vernetzung funktioniert, beherrschen. Durch die langphasige Expansion des Osmanischen Reichs in Mittelalter und früher Neuzeit verloren europäische Kaufleute die Kontrolle bzw. Mitkontrolle über die Handelswege nach Osten, in den arabischen Raum und nach Asien und mussten sich in einem längeren Prozess reorganisieren, der nach und nach zur weitgehenden Herrschaft über die Seewege führte – dem zentralen Stück in der neuzeitlichen Infrastruktur, bevor es Flugzeuge und später digitale Datennetze gab. Heute ist die digitale Infrastruktur entscheidend, und diese wird in den Bereichen Suchmaschinen, Dienste und Serverfarmen von Monopolisten vor allem in den USA beherrscht. Die Möglichkeiten der machtpolitischen Durchdringung von Räumen außerhalb Europas durch europäische Mächte blieben begrenzt. Auf jedem Kontinent, in jeder Weltregion, verlief die Geschichte anders als anderswo. Die ältere Meinung, Europa habe die Welt beherrscht, hält bezüglich der frühen Neuzeit, die mit dem Zeitalter der atlantischen Revolutionen zu Ende geht, einem Faktencheck nicht stand.31 Damit sollen weder Sklavenhandel und Sklaverei, noch Kriegszüge, noch das Sterben von zahllosen Menschen aufgrund der aus Europa eingeschleppten 29 Konzis zusammenfassend: Reinhard (2016): Die Unterwerfung der Welt, Kap. XII. Ausführlich bezüglich Asien: Osterhammel (1998): Die Entzauberung Asiens. Zu dem im 18. Jahrhundert sehr nachgesuchten China s. Lehner (2011): China in European Encyclopaedias. 30 Kritisch dazu: Lilti (2019): L’héritage des Lumières, S. 55. 31 Osterhammel (2006): Welten des Kolonialismus im Zeitalter der Aufklärung, führt dies prägnant aus.

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Krankheitserreger, noch Ausbeutung und die Unterlassung humaner Verhaltensweisen bezüglich der Auswirkungen und der Verantwortung verkleinert werden. Als die machtvolle Durchdringung auch ausgedehnter Räume wie in Süd- und Mittelamerika realistisch, sprich technisch machbar, geworden wäre, emanzipierten sich die Kolonien im Zuge der atlantischen Revolutionen und wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts unabhängig. Jedes mittel- und südamerikanische Land ist bis heute aus historischen Gründen anders als die anderen Länder desselben Kontinents. Ihre Europäisierung war begrenzt geblieben: Manche wirken bis heute „europäischer“ (Argentinien, Chile), wenn auch überlagert (noch) von Nordamerikanismen, manche wirken sehr viel weniger (Peru) oder kaum (Bolivien) „europäisch“. Zudem tritt das kulturelle Erbe der, europazentrisch, als „präkolumbianisch“ bezeichneten Kulturen Amerikas immer weiter in den Vordergrund, es wird umfassend ausgegraben und präsentiert. Es steigt das Bewusstsein für die Vielfalt der Kulturen im Westen Südamerikas vor den Inkas, für ihren hohen Entwicklungsstand. Nimmt man die Antike als Weltzeit, staunt man über die südamerikanische Antike nicht weniger als über die mittelmeerische Antike. Die „Europäisierung“ der Amerikas wird folglich durch eine differenziertere Betrachtung relativiert. Eine komplette Durchdringung Nordamerikas mit ursprünglich aus Europa stammender Herrschaft und Kultur erfolgte überwiegend erst im 19. Jahrhundert. Die 13 Staaten, die die USA gegründet hatten, befanden sich in der östlichen Hälfte, Zentrum und Westen lagen vor dem 19. Jahrhundert weitgehend außer Reichweite im Sinne einer gesellschaftlichen und staatlichen Durchdringung. Als „Neufrankreich“ (Kanada) 1763 Kolonie der englischen Krone geworden war, konnte die ehemalige französische Kolonie Québec ihren französischen Charakter weitestgehend – und bis heute – erhalten, und der riesige „Rest“, sprich das, was heute den Staat Kanada ausmacht, war von einer Durchdringung mit Herrschaft über den Raum, die Menschen und die natürlichen Ressourcen weit entfernt. Man könnte jetzt eine Tour um die Erde antreten und sich überall die Verhältnisse anschauen. Was wurde, beispielsweise in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, aus europäischer Sicht zunächst „entdeckt“ und erforscht, war also noch von Kolonialisierung und durchdringender Herrschaftsausübung entfernt? Welche Räume, über geografisch begrenzte Handelsplätze hinausgehend, wurden, abgesehen von den bereits angesprochenen Amerikas, mit Herrschaft und Kultur durchdrungen? Alles in allem kam da nicht viel zusammen. Man muss vermeiden, die Verhältnisse, die ab ca. dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auftraten, schon als 18. Jahrhundert zu deklarieren. Hans-Jürgen Lüsebrink charakterisiert das Aufklärungsjahrhundert bezüglich seiner Eigenart wie folgt: Der Wissenstransfer aus der kolonialen Welt nach Europa gewann im 18. Jahrhundert – auch dies ist zweifelsohne ein Spezifikum des Aufklärungszeitalters – eine neue intellektuelle Dimension. Weit mehr und dezidierter als in den ersten Jahrhunderten der Expansion Europas nach Übersee und mehr auch als im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ist im Aufklärungs-

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zeitalter das Bedürfnis erkennbar, die Sichtweisen der Anderen kennen zu lernen, sie zu Wort kommen und zum Partner eines interkulturellen Dialoges werden zu lassen.32

Denken wir also daran, dass das 18. Jahrhundert das 18. und nicht das 19. Jahrhundert war, selbst wenn man den Begriff des „langen 18. Jahrhunderts“ zugrunde legt, das von ca. 1680 bis ca. 1820 angesetzt wird und damit ins frühe 19. Jahrhundert reicht.33 „Die Europäer“ herrschten also nicht „über die Welt“, doch sie waren fast überall präsent und betrieben einen wichtigen Teil der interregionalen und interkontinentalen Infrastruktur, die das Zirkulieren von Menschen, materiellen Objekten und immaterieller Kultur ermöglichten. In einer solchen Konstellation ist Informations- und Wissenstransfer in alle Richtungen wichtig, da davon immer alle Parteien profitieren. Zu berücksichtigen sind zudem die Stimmen der Zeitgenoss*innen der Aufklärung: Wie sahen sie andere Kulturen? Empfanden sie diese als sehr fremd, rückständig oder gar als barbarisch? Der Comte Henri de Boulainvilliers (1658– 1722) schrieb ein Buch über den Propheten „La vie de Mahomed“, das postum 1730 in Amsterdam gedruckt wurde. Boulainvilliers brachte den Leser*innen nicht nur das Leben und die Intentionen Mohammeds, sondern auch den Islam als Religion in empathischer Weise näher.34 Humberto Garcias Buch „Islam and the English Enlightenment, 1670–1840“ überrascht die Leser*innen mit der teilweise sehr positiven englischen Sicht auf den Islam und die islamische Welt.35 Dem Empfinden der dort zitierten Zeitgenoss*innen zufolge war die islamische Welt keine Welt außerhalb der Aufklärung! Manche Reisende sahen im Wahhabismus, der im 18. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel entstand, eine deistische Ausprägung des Islam, die eigenen deistisch-rationalen Auffassungen von Religion zu entsprechen schien. Die intolerante grausame Kehrseite nahmen sie weniger wahr.36 Erst um 1800 wurde der europäische Blick, etwa auf Asien, allmählich asymmetrischer, ging man mehr und mehr von einer europäischen Überlegenheit aus.37 Auf dem Weg zur Unabhängigkeit und zu einer neuartigen Föderation in Nordamerika setzten sich Benjamin Franklin, Thomas Jefferson und andere mit dem Bund der Fünf bzw. Sechs Nationen der Irokesen auseinander, dessen Stärken und Leistungen speziell Franklin schon Mitte des 18. Jahrhunderts erkannt und mittels Publikationen der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. Auch bei anderen First Nations an der Ostküste gab es föderative Strukturen. Die US-amerikanische Verfassung wurde keine Kopie dieser vorgefundenen Vorbilder, aber die konstruktive Auseinandersetzung damit trug zur Orientierung bei.38 32 Lüsebrink (2006): Von der Faszination zur Wissenssystematisierung, Zitat S. 13. 33 Dies betont auch Osterhammel (1998): Die Entzauberung Asiens, passim. 34 Citton (2017): Boullainvilliers et l’islam. Einen knappen Überblick über Schriften der Aufklärung zum Islam s. bei: Thomson (2003): Artikel „Islam“. 35 Garcia (2012): Islam and the English Enlightenment. 36 Falaky (2020): Le wahhabisme au temps des Lumières. 37 Osterhammel (1998): Die Entzauberung Asiens, passim. 38 Johansen (2015): Native Americans.

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Das sind nur zwei thematische Beispiele unter vielen anderen. Schauen wir uns unter diesen Prämissen an, was die Forschung über die Aufklärung außerhalb Europas zu sagen hat. Sebastian Conrad hielt 2012 in einem langen Aufsatz in der American Historical Review ganz grundsätzlich fest, dass die Aufklärung in Europa gar nicht ohne Berücksichtigung des globalen Informationsflusses nach Europa hinein zu denken sei. Anders ausgedrückt: Der Informationsrohstoff oder teilbearbeitete Informationsstoff kam nach Europa und wurde dort weiterverarbeitet. Er kam aber nicht nur nach Europa, sondern auch in die anderen Weltregionen, wo er ebenfalls weiterverarbeitet wurde. Die Mehrzahl der Druckerpressen, ohne die Wissen nur langsam oder gar nicht zirkulierte, stand jedoch in Europa, dies bedeutete einen Vorteil bei der Vervielfältigung und Verbreitung von Wissen, Erkenntnis und Theorieentwürfen zu Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Religion und Kultur. Spannend wird es, wenn man versucht, Informations- oder Wissensbausteine und Theorieelemente auf ihren multidirektionalen Wegen zu verfolgen. Conrads Schlussfolgerungen sind aber eindeutig: Enlightenment was more than a self-contained moment in European history. As recent scholarship has demonstrated, it was produced in a regime of global synchronicity. But it did not stop there. Moving beyond that literature, it is possible to trace the trajectory of Enlightenment through the nineteenth century. A case can be made, then, for a long history of Enlightenment. Scholars have so far ignored this possibility, assuming that the development of the Enlightenment substantially came to an end around 1800, if not before, and that it resurfaced as an object of scholarly concern only in the 1930s and 1940s. But this chronology is Eurocentric, in that it erases the vibrant and heated contestations of „Enlightenment“ in the rest of the world, particularly in Asia. Crucially, these debates should not be seen as merely the aftereffects of a foundational moment. Instead, the various reformulations of Enlightenment standards were part of its continuous history.39

Dem kann ein Statement von Jürgen Osterhammel gegenübergestellt werden, der 2006 schrieb: „Wir müssen es eingestehen: Das ‚Zeitalter der Aufklärung‘ war eine Epoche in der Geschichte Europas, nicht der Geschichte der Welt.“40 Doch so einfach ist es nicht. Kaufleute, Kleriker, darunter oft Jesuiten, Amtsträger, Diplomaten, Gelehrte, Forscher, Familienangehörige, Plantagenbesitzer reisten von einem Teil Amerikas über den Nord- oder Südatlantik, oft mehrfach in ihrem Leben, nach Europa und zurück. Dasselbe galt für die Karibik. Für Indien. Nicht wenige lebten mal hier, mal da. In den Städten, auf welchem Kontinent auch immer, bildeten sich bürgerliche Gesellschaften. Ökonomische Ausbeutungsverhältnisse, die seit dem 16. Jahrhundert grundgelegt worden waren, schufen die Voraussetzungen für eine Revolution wie etwa auf Haiti. Die für die Aufklärung typischen Korrespondenznetzwerke und Formen der Soziabilität hatten sich in diesem Raum ebenso wie in Europa etabliert. Zu Haiti führt Conrad resümierend aus:

39 Conrad (2012): Enlightenment in Global History, Zitat S. 1014–1015. 40 Osterhammel (2006): Welten des Kolonialismus, Zitat S. 20. Dieser Satz wird auch zitiert von Conrad (2012): Enlightenment in Global History, S. 1005.

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As the example of Haiti shows, the various forms of appropriation were part of complex transcultural flows. Radical claims as formulated in Paris were received and mobilized in Haiti, for example by Toussaint L’Ouverture, the leader of the slave rebellion. Toussaint had read the strident critique of European colonialism in Raynal’s multivolume Histoire des deux Indes, and was particularly impressed by Raynal’s prediction of the coming of a „Black Spartacus“. But Europe was not the sole source of inspiration. Two thirds of the slaves had been born in Africa and came from diverse political, social, and religious backgrounds. This enabled them to draw on specific notions of kingdom and just government from Western and Central Africa, and to employ religious practices such as voodoo for the formation of revolutionary communities. The revolution in Haiti was the result of the triangular trade in the Atlantic world, not only in goods and laborers, but in practices and ideas as well. Events in Haiti, for their part, forced the French National Convention to abolish slavery in 1794. The ripples of this transnational event were again palpable in both Americas, and remained an influential reference globally. The processes of mixing and hybridization were characteristic – and indeed constitutive – of the career of Enlightenment ideas and practices. The negotiation of different intellectual and cultural resources was a normal and integral part of this history.41

Mit den asiatischen Reichen standen die europäischen seit der Antike in Verbindung. Die mehr als zweitausend Jahre, die es im 18. Jahrhundert solche Verbindungen schon gab, waren von vielen Auf und Nieder gekennzeichnet gewesen, aber nie völlig abgebrochen. Am bekanntesten sind die Technologietransfers aus China nach Europa (Kompass, Papier, Schießpulver, Drucktechnik, Seidenherstellung usw.) oder das starke europäische Interesse im 18. Jahrhundert an Indien, ohne das William Jones (1746–1794) das Theorem der indoeuropäischen Sprachen nicht hätte entwickeln können. Ohne Indien und seinen langen Aufenthalt dort (1754–1761) hätte Anquetil-Duperron (1731–1805) nicht die Grundlagen für das spätere Achsenzeit-Theorem legen und sein Interesse an Persien und Zarathustra nicht zufrieden stellen können. Anquetil-Duperron ging mit dem Bild vom orientalischen Despotismus, das in vielen europäischen Reiseberichten gezeichnet wurde, hart ins Gericht. Er unterstrich die Rolle von Recht und Rechten der Untertanen, er bestritt, dass die Religion des Islam Despotismus begründe. ‚Sein‘ Orient wird dem Okzident zum Vorbild.42 Deutschsprachige frühneuzeitliche (1500–1750) Darstellungen über den Subkontinent „konzedieren“, wie Dharampal-Frick analysiert, der zeitgenössischen Wirklichkeit Indiens ein Maß an relativer ‚Gleichzeitigkeit‘ (coevalness), wie es sich in späteren (und auch noch gegenwärtigen) europäischen Auseinandersetzungen mit Indien, die von der Diagnose eines Ungleichstandes der Entwicklungsniveaus geprägt und vom geschichtsphilosophischen Bewußtsein der überlegenen ‚Fortschrittlichkeit‘ der eigenen westlichen Zivilisation durchdrungen sind, kaum mehr findet. 43

41 Conrad (2012): Enlightenment in Global History, Zitat S. 1014. 42 Vgl. Jaouik (2020): Anquetil-Duperron, hier besonders S. 109. Zu Anquetil-Duperron vgl. auch Osterhammel (1998): Die Entzauberung Asiens, Kap. X.5: „Anquetil-Duperron und die Entdämonisierung des europäischen Asienbildes“, S. 293–296. 43 Dharampal-Frick (1994): Indien im Spiegel deutscher Quellen der Frühen Neuzeit (1500– 1750), Zitat S. 11.

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Sanjay Subrahmanyam argumentiert, unter anderem am Beispiel des südlichen Indiens im 18. Jahrhundert, dass die sogenannte Moderne ein „globales und konjunkturelles Phänomen gewesen sei, das sich nicht gleich einem Virus von einem einzigen Ausgangsort aus verbreitet habe“.44 Annemarie Schimmel bemerkt gleich zu Beginn des Prologs zu ihrem Buch „Im Reich der Großmoguln“: „Das Reich der Großmoguln (1526–1857) war im 17. und 18. Jahrhundert für Europa eine Art Märchenland mit ungeheuren Reichtümern, unschätzbaren Juwelen, goldenen Gerätschaften […].“45 Darin drückt sich das zeittypische Staunen aus, das vom späteren kolonialen Blick des 19. Jahrhunderts zu trennen ist. Zwar gab es in Europa Autoren, die das Bild vom orientalischen Despotismus schufen, in den Indien eingeschlossen wurde, aber die meisten wussten es eigentlich besser – und sagten dies auch wie beispielsweise Anquetil-Duperron. Im Mogulreich des 18. Jahrhunderts entwickelten sich literarische Salons, deren Soziabilität über jene in den europäischen Salons hinausreichte. Jamal Malik berichtet: Mušāʿira fand regelmäßig in privaten Räumen der Dichter statt, die allerdings ihre Türen offenhielten für Pluralität und Innovation. Aufgrund ihres gesellschaftlich pluralen Charakters waren diese Salons beliebt unter den „an persischer und Urdu-Poesie und -Literatur interessierten Mittelschicht, zu der die Repräsentanten des Militärs, der Administration sowie Notabeln und Händler etc. zählten“ – sowohl in Residenzstädten als auch in den zahlreichen Markt- und Garnisonsstädten, den qasbas. Solche Foren stellten den gesellig-kommunikativen Rahmen bereit, jedoch wies die stete Kooptation neuer Teilnehmer auch aus unteren sozialen Schichten, wie z. B. Barbiere, Soldaten, Parfümverkäufer, Maurer, Weber, Schneider etc., auf eine gesellschaftliche Öffnung hin, die selbst die Grenzen der sozialen Segregation – untermauert durch das dortige Kastenwesen – sprengen konnte. Gleichrangigkeit der im Salon Versammelten ermöglichte Dialog, eine neue Zwischenmenschlichkeit und vor allem eine Befreiung von knechtender Tradition. […] In einem solchen Klima konnten die Teilnehmer ihre vitalen Interessen als frei diskutierendes Publikum artikulieren, sodass die literarischen Zirkel einen potentiell herrschaftsfreien Kommunikationsraum bereitstellten. Ständische und intellektuelle Heterogenität ermöglichte Austausch, Aussprache und Konsens- und Gruppenbildung: eine geschmacksbildende und moralische Instanz, in der man sich nicht nur kritische und rezeptive Kompetenz erwerben und das soziale Kapital erweitern konnte.46

Zu diesen Feststellungen passen auch die Ergebnisse der Untersuchungen von C. A. Bayly (1996) über das Informations- und Kommunikationssystem im frühneuzeitlichen Mogulreich, vor allem im 18. Jahrhundert, bevor es die Briten für eigene Zwecke umformten. Demnach gab es ein hochentwickeltes System, das einerseits der regelmäßigen und geordneten Informationsgewinnung für den Kaiserhof diente, andererseits einen großen Teil der Bevölkerung in die Wissens- und Informationszirkulation involvierte.47

44 Subrahmanyam (1998): Vignettes of Early Modernity in South Asia, hier S. 100. Vgl. ebenso Conrad (2012): Enlightenment in Global History, S. 1008–1009. 45 Schimmel (2000): Im Reich der Großmoguln, Zitat S. 7. 46 Malik (2018): Literarische Salons im Indien des 18. Jahrhunderts, Zitat S. 310–311. 47 Bayly (1996): Intelligence gathering and social communication in India, hier besonders Kap. 1: „Prologue: surveillance and communication in early modern India“.

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Gut untersucht ist der Hof des Raja Serfoji II. (reg. 1798–1832) in Thanjavur (Tanjore) in Südostindien, der als ein Mittel- oder Knotenpunkt von Aufklärung in diesem Raum gelten kann.48 Einerseits bestanden stabile Personennetzwerke mit Briten, aber auch protestantischen Missionaren aus verschiedenen europäischen Ländern, die im benachbarten (dänischen) Tranquebar (Tharangambadi) ihren Standort hatten49, andererseits waren viele Einheimische beteiligt, die aus verschiedenen Religionen und Berufen kamen. Es gab eine Druckerpresse und eine gut mit europäischen Aufklärungsschriften bestückte Bibliothek – die umfassendste dieser Art in Indien –, die zugleich eine der größten Sammlungen an Sanskrit-, Tamil- und Marathi-Manuskripten beherbergte. Ein Schwerpunkt der Aufklärung am Hof des Raja lag bei der Medizin, der Gesundheitspolitik und allgemeiner bei den Naturwissenschaften. In Bezug auf Japan schreibt Jonathan Israel von einem „incipient DutchJapanese Enlightenment“, für das die niederländische Niederlassung in Nagasaki die Drehscheibe bildete. Das Erlernen des Niederländischen durch die künftigen japanischen Dolmetscher konnte trotz aller Kontaktrestriktionen und Untersagungen letztlich nicht ohne einen Austausch über Inhalte funktionieren, zudem gab es Öffnungsphasen von japanischer Seite. Naturwissenschaftliche Instrumente, Botanik- und Medizinlehrbücher etc. gelangten nach Japan und umgekehrt. Das wirkte sich nicht nur auf die Kenntnisse über Japan in Europa aus, sondern verursachte auch weltanschauliche Konflikte: Study of the West in eighteenth-century Japan was called Rangaku (short for Oranda-gaku, or Holland-knowledge) and during the time of Titsingh’s stay this was a branch of learning central to Japanese elite culture and actively encouraged by the authorities in Edo, albeit it remained confined to a tiny group of interpreters and Dutch-language experts constituting a close-knit college in Nagasaki, and a few other highly placed Rangakusha, or Holland-experts based mainly at court. Officially, the point of studying Rangaku was to learn about obviously useful aspects of Western culture, in particular medicine, astronomy, and botany, but very soon, interest reached beyond these to other topics. The result was a cultural clash between innovation and tradition in the form of a conflict between Rangaku and Neo-Confucianism. The incursion of Western scientific and cultural concepts in Japan, including Copernican heliocentrism and various other, for the Japanese, highly novel ideas, proved decidedly unsettling.50

Medizinisch-anatomische Fragen spielten im holländisch-(europäisch-)japanischen Austausch eine hervorragende Rolle. Mitte der 1780er Jahre gestaltete sich nach innerjapanischen Machtkonflikten der Austausch schwieriger, aber die bisherigen Akteure setzten ihren kulturellen Austausch privat fort.51 Europa am nächsten lag freilich das Osmanische Reich, mit dem die europäische Geschichte seit dem Spätmittelalter immer enger verflochten wurde. Die islamischen Kulturen erstreckten sich weiter als der an sich riesige Bereich des 48 Nair (2012): Raja Serfoji II. 49 Jensen (2015): The Tranquebarian Society. MacGregor (2018): European Enlightenment in India. 50 Israel (2011): Democratic Enlightenment, Zitat S. 578. 51 Ebd., S. 579.

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Osmanischen Reiches, aber im Folgenden kann das nicht annähernd abgedeckt werden. Aber so, wie wir es gewohnt sind, Europa in seiner Vielfalt differenziert zu betrachten, müssen wir es auch mit dem transkontinentalen islamischen Raum tun. Das Osmanische Reich war außerdem nicht nur islamisch, es gab viele andere Glaubensgemeinschaften, nicht zuletzt im europäischen Teil des Reiches. Für das Osmanische Reich wurde eine Revision früherer Ansichten vorgenommen. Die Kontakte zwischen diesem Reich und europäischen Reichen waren im 17. und 18. Jahrhundert vielfältig.52 Abgesehen von den Kriegen gab es ein durchaus reges gegenseitiges Interesse. Inzwischen wurde die OrientalismusThese von Edward Said auch vielfach infrage gestellt, jedenfalls für das 18. und frühe 19. Jahrhundert. Die Kritik kam nicht nur vom „Westen“. Der syrische Philosoph und Publizist Ṣādiq Jalāl al-ʿAẓm (1934–2016) analysierte Saids „Orientalism“ 1981 kritisch, dieser essentialisiere seinerseits den Westen. Al-ʿAẓm befasste sich in den 1960er und 1970er Jahren unter anderem auch ausführlich mit Immanuel Kant.53 Auf beiden Seiten gab es kulturelle Mittler, deren Zahl im 18. Jahrhundert anstieg, als sich die Beziehungen zwischen der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich zugunsten von Handel und Wirtschaft verbesserten.54 Die Einladung von Reinhard Schulze, sich mit der Möglichkeit einer „islamischen Aufklärung“ vertraut zu machen, hat trotz oder wegen des darauffolgenden wissenschaftlichen Streits sehr anregend gewirkt. Er war nicht der erste Autor, der die Überlegungen in die Richtung einer islamischen Aufklärung orientierte. Wirtschaftsgeschichtlich war Peter Gran 1979 vorangegangen.55 Schulze schlug als Grundlage einen auf „Universalien“ aufbauenden Begriff der Aufklärung vor: Die Lesbarkeit des islamischen 18. Jahrhunderts hängt auch entscheidend davon ab, ob und in welchem Umfang es gelingt, dem mystifizierten Aufklärungsbild seine europäische Perspektive zu nehmen, um zu Universalien zu gelangen, die sich mit den Spezifika der islamischen Traditionen in Verbindung bringen lassen. Ich möchte mich im folgenden auf vier zentrale Konzepte beschränken, ohne die kein Aufklärungsprozeß möglich erscheint (da sie diesen definieren) und die deshalb auch aus den Spezifika der islamischen Tradition abzuleiten sind. 56

Diese „vier zentralen Konzepte“ fasst Schulze zusammen: 1. Es gibt, vorrangig in der Aufklärungstheologie, aber auch der Aufklärungsphilosophie, eine deutliche Korrelation zwischen monistischer Mystik und Rationalität, die überhaupt erst die 52 Vgl.: Faroqhi (2003 [1995]): Kultur und Alltag im Osmanischen Reich, hier besonders Kap. 12: „Krisen und Neuanfänge 1770–1839“. Das Buch wurde 2000 ins Englische übersetzt (2. Aufl. 2005), weitere Übersetzungen z. B. ins Griechische und Türkische. Schmidt-Haberkamp, Hg. (2011): Europa und die Türkei im 18. Jahrhundert. Inwieweit Lewis (1957): The Muslim Discovery of Europe noch zutrifft, kann hier nicht diskutiert werden. 53 Vgl. Kassab (2019): Artikel „al-ʿAẓm, Ṣādiq Jalāl“. 54 S. zusammenfassend: Katsiardi-Hering (2019): The Habsburg Empire and the Ottoman Empire in the Long 18th Century. 55 Gran (1979): Islamic roots of capitalism. Zur Diskussion dieser und anderer Arbeiten vgl. Kassab (2019): Enlightenment on the Eve of Revolution. The Egyptian and Syrian Debates, hier „Introduction“ (z. T. wird die Literatur in den Anmerkungen diskutiert). 56 Schulze (1990): Das islamische achtzehnte Jahrhundert, Zitat S. 155.

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Selbstdefinition des Menschen und die Normierung der Moderne möglich machte. Diese Korrelation wird in der heutigen Rezeption der Aufklärungstradition gerne ausgeschaltet, um das kohärente Bild einer „westlichen Rationalität“ nicht zu stören und das Bild eines „mystischen (eben irrationalen) Orients“ zu bewahren. […] 2. […] Das Wissen verliert mehr und mehr seinen exogenen Charakter, der bis ins 18. Jahrhundert auch das Verhältnis der islamischen Gelehrten zur Wissenschaft bestimmte, und wird zu einem subjektiven, rationalen Prozeß […]. Das Wissen um die göttliche Ordnung wird durch das Erdenken einer neuen Ordnung ersetzt, in der radikale Aufklärer dem Menschen die drei göttlichen Funktionen des Schöpfers, des Herrschers und des Richters (Legislative, Exekutive, Judikative) zubilligen. Die Selbstaufklärung wird nun möglich. […] In der islamischen Gelehrtenkultur des 18. Jahrhunderts erscheint dieser Weltsichtswechsel fast durchweg als Ikone metaphorisch verkleidet, sicherlich auch vor dem Hintergrund der machtvollen Hüter der Tradition. Der prä-existente Muḥammad, der Himmelsbote al-Hiḍr, das muhammadanische Licht oder der Pol der Zeit könnten für das 18. Jahrhundert als Ikonen eines Aufklärungsprozesses verstanden werden, der die rationale Selbstvergewisserung in Form goß. Das mystische Verständnis der Erleuchtung (tanwīr) – auch hier ist die Lichtmetapher überdeutlich – konnte in diesem Kontext auch die Selbsterleuchtung bezeichnen, in der das „Licht des Glaubens“ (nūr al-īmān) zum Licht an sich wird. 3. […] Ist gerade der Entwurf eines zukünftigen Ideals einer selbstgesetzten Menschensatzung (sunna) das Spezifische der islamischen Aufklärung? Oder, auch das läßt die Theorie zu, handelt es sich bei der Sunnitisierung um eine klassizistische Reaktion auf eine Aufklärung? 4. Die Theorie einer islamischen Aufklärung und damit einer islamischen Moderne hängt im wesentlichen vom Nachweis solcher sozialen Prozesse ab, für die eine Aufklärung einen Sinn ergibt. Der Kernpunkt hierbei ist die Emanzipation des Bürgertums und die Herausbildung der sozialen Dichotomie citoyen und bourgeois. […] Und gerade hier liefern uns neuere Forschungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der islamischen Welt im 18. Jahrhundert wichtige Anhaltspunkte, die schon jetzt vermuten lassen, daß die Lostrennung der Ökonomie vom Staat auch hier sich durchsetzte und zur Gründung von Nationalstaaten führte.57

Als Hauptproblem dieser Hypothesen wurde deren empirische Unterfütterung angesehen. Der Text von R. Schulze erschien 1990 in der Zeitschrift „Die Welt des Islam“, die seitdem immer wieder Beiträge zu der von Schulze aufgeworfenen Frage publiziert hat. Die inspirierende Kraft seines Ansatzes lässt sich gut an den Beiträgen in der ihm zum 65. Geburtstag gewidmeten Festschrift ersehen, die 2018 erschien.58 In einem späteren Aufsatz (2004) definierte R. Schulze „Aufklärung“ wie folgt: Unter Aufklärung sollen jene Diskurse zusammengefasst werden, die funktional einen Prozess vertreten, der zu einer anthropozentrischen Neubestimmung des Menschen als Individuum im Rahmen einer „natürlichen Ordnung“ der Welt beiträgt und hierfür Kategorien der jeweiligen (meist religiösen) Tradition kritisch verwendet. […] Das Konzept „Aufklärung“ soll […] als „Aufklärung über die Religion aus der Sicht der Welt“ begriffen werden […]. 59

57 Ebd., S. 155–159. 58 Stephan/Zemmin/Corrado, Hg. (2018): Islam in der Moderne. Schulzes „Geschichte der islamischen Welt“ behandelt das 18. Jahrhundert nicht und geht einer „islamischen Aufklärung“ nicht nach: Schulze (2016): Geschichte der islamischen Welt. 59 Vgl. Schulze (2004): Weltbilder der Aufklärung. Zitat S. 168.

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Schulze verweist außerdem darauf, dass damit noch keine spezifischen Inhalte von Aufklärung festgelegt seien, diese variierten vielmehr, auch innerhalb Europas. 2010 zog Christoph Herzog in etwa folgende Bilanz60: Gelehrsamkeit war im 17. und 18. Jahrhundert in der islamischen Welt zuhause, wie es etwa Francis Robinson am südasiatischen Beispiel dargestellt hat.61 In der Geografie, Kartografie und Astronomie konnten europäische und osmanische Gelehrte (auf solche bezieht sich Herzog) voneinander lernen, und taten das auch. Europäische Reisende gewannen im 18. Jahrhundert den Eindruck, dass man sich im Osmanischen Reich (das nicht den gesamten islamischen Raum beherrschte) mit dem Atheismus befasse, ja, dass es Atheisten gebe. Jedenfalls gab es auch im Osmanischen Reich Menschen (der Oberschicht), die sich mit der Deismus- und Atheismusfrage befassten, also dem anhingen, was in Europa als Freidenkerei angesehen wurde. Christoph Herzog führt in diesem Zusammenhang weiter aus: Ein für die Verbreitung von freidenkerischem Gedankengut im Osmanischen Reich möglicherweise relevanter Parameter stellt die frühe Freimaurerei dar. Sie fand im Osmanischen Reich offenbar recht bald Anhänger. Noch vor der Bildung der englischen Großloge im Jahr 1717 gibt es – wenngleich vage – Hinweise auf Niederlassungen von Freimaurern im Osmanischen Reich.62

Logen gab es 1738 in Izmir und Aleppo, zuvor schon in Galata und Istanbul. Zwar wurden diese wie in den europäischen Reichen teilweise unterdrückt, aber die Freimaurerei verschwand deshalb nicht. Überschätzen darf man die Freimaurerei im 18. Jahrhundert im Osmanischen Reich nicht: Wenngleich die Beteiligung von Muslimen an freimaurerischen Aktivitäten im Osmanischen Reich damals als eher gering einzuschätzen ist, so muss doch davon ausgegangen werden, dass hier ein potentieller vertraulicher institutioneller Rahmen für einen Austausch von freigeistigem und möglicherweise aufklärerischem Ideengut zwischen im Osmanischen Reich ansässigen Europäern, indigenen Christen und Juden und osmanischen Muslimen bestand.63

Herzog bleibt bei sehr zurückhaltenden Thesen – auf dem Hintergrund der viel schärferen von Reinhard Schulze aus dem Jahr 1990 –, da die empirische Beweislage dünn sei: In Zuspitzung der oben vorgebrachten Argumente ließe sich die These formulieren, dass für eine echt autochthone osmanische Aufklärung Voraussetzungen wie etwa die Existenz traditions- und orthodoxiekritischer Intellektueller gegeben waren, sie sich aber deshalb nicht entfalten konnte, weil ihr die Möglichkeiten des Printkapitalismus nicht zur Verfügung standen. Daher kam sie über ephemere private Diskussionszirkel nicht hinaus und konnte kein stabiles Textkorpus bilden, das als Anknüpfungspunkt einer eigenen Gegentradition hätte dienen können. Auf der anderen Seite rezipierten die kleinen Zirkel kritischer osmanischer Intellektuel-

60 Herzog (2010): Aufklärung und Osmanisches Reich. 61 Robinson (2001): The ʿUlama of Farangi Mahall and Islamic Culture in South Asia, befasst sich mit dem muslimischen Ausbildungssystem, die Einblicke in die tatsächlich gelehrten Inhalte bleiben in seinem Buch allerdings begrenzt. 62 Herzog (2010): Aufklärung und Osmanisches Reich, Zitat S. 302. 63 Ebd., S. 303.

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ler gerne Teile des ihnen verfügbaren europäischen Aufklärungskorpus. Dieses erschien der herrschenden Tradition zunächst als unverdächtig, weil irrelevant.64

Unterschiedlich interpretiert wird die Regierungszeit des Sultans Aḥmed III. (1703–1730), die als „Tulpenzeit“ bekannt ist und mit dem Paṭrona-Ḫalīl-Aufstand inklusive Sturz des Sultans endete. War diese eine Zeit, die europäischen Einfluss zuließ? Und wenn ja, war es frühaufklärerischer Einfluss, der sich als nachhaltig erwies? Letzteres dürfte nicht der Fall gewesen sein. Die gerne als Beleg angeführte Einführung der Druckerpresse bringt Felix Konrad mit den Betreibern einer religiösen Erneuerung in Zusammenhang.65 Religiöse Erneuerung (tajdīd) hat im Islam eine jahrhundertelange Tradition.66 Albrecht Hofheinz hat den islamischen ‚Pietismus‘ im Sudan im 18. Jahrhundert untersucht. Vor allem Sufi-Prediger förderten die individuelle Glaubenskompetenz. Die Zahl religiöser Schriften stieg dort im späten 18. Jahrhundert signifikant an. Einige Aspekte sind sicherlich mit der katholischen bzw. protestantischen Aufklärung im fernen Europa vergleichbar, ohne dass hier ein Konnex bestanden hätte. Hofheinz resümiert: This increasingly significant role of the individual – of every individual – to me is one of the most striking aspects that emerge from the study of the Islamic ‚periphery‘ around 1800. It is the individual as object of the message, and as subject of a direct, emotional or rational experience of and access to truth – an access that is, in principle, immediate, i.e., no longer mediated by the scholastic guardians of the faith. This development is of course not to be confused with individualism. But it heralds a process of emancipation of the individual from ‚traditional‘ established authority, an attempt effectively to spread a generalised concept of true knowledge and normative practice throughout society and into every individual’s heart. 67

Der Wert von Schulzes Thesen lag und liegt darin, dass er weniger nach europäischen Einflüssen im Zeitalter der Aufklärung fragte, sondern nach eigenständigen Entwicklungen im Osmanischen Reich bzw. im Islam. Insgesamt hat sich mittlerweile das Forschungsfeld „islamische Aufklärung“ auf das 19. und 20. Jahrhundert verschoben (s. u.).68 China stellte für die europäische Aufklärung eine wichtige Referenzkultur dar. Die Jesuitenmissionen in China seit dem späten 16. Jahrhundert erwarben sich für den Wissenstransfer in beide Richtungen eine hohe Bedeutung. Außerdem vermischten sich die Wissenskulturen in China, die jesuitisch-europäische mit der chinesischen und umgekehrt. Leibniz, C. Wolff oder Voltaire wertschätzten China als Land aufgeklärter Herrscher, wo der Vernunft gefolgt wurde. All dies ist gut bekannt. Von größerem Interesse sind jedoch Prozesse in China selbst. Sabine Dabringhaus schreibt: 64 Ebd., S. 321. 65 Konrad (2014): Coping with „the Riff-Raff and Mob“, hier S. 368. Konrad sichtet in dem Aufsatz die neuere Forschung zur Tulpenzeit (bis ca. 2014). 66 Speziell zum 18. Jahrhundert: Voll (2002): ʿAbdallah ibn Salim al-Basri and 18th Century Hadith Scholarship. Vgl. auch die frühere Publikation: Levtzion/Voll, Hg. (1987): Eighteenth-Century Renewal and Reform in Islam. 67 Hofheinz (2018): The Islamic Eighteenth Century, Zitat S. 249. 68 Als Synthese s. Bellaigue (2018): Die islamische Aufklärung.

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Praktiken Das Interesse europäischer Aufklärer am chinesischen Denken kam nicht von ungefähr, da Chinas Philosophen schon sehr viel früher ähnliche Fragen über Vernunft und Wissen gestellt hatten. Auch sie beschäftigten sich mit dem Dualismus von Tugend und Vernunft, von Geist und Materie, von Mensch und Natur, Gefühl und Verstand, von Sein und Sollen. Einiges aus dieser reichen Gedankenwelt übermittelten die Jesuiten, die damals die einzigen sprachkundigen Sinologen waren, in ihren Briefen und Schriften nach Europa.69

Nach Dabringhaus gab es in China und Europa in etwa zur selben Zeit gute Gründe für vergleichbare intellektuelle Vorgehensweisen: Beide Wissenstraditionen befanden sich im 17. und 18. Jahrhundert in einer kritischen Phase, in der sie sich ihrer selbst nicht mehr gewiss waren und sich neu zu begründen suchten. In Europa bemühten sich die Gelehrten darum, angesichts von konfessioneller Spaltung und Religionskriegen das Wissen auf säkulare Grundlagen zu stellen. In China folgte auf die Ming-Dynastie (1368–1644) mit den mandschurischen Qing-Kaisern (1644–1911) eine Fremddynastie, die einerseits als winzige Minderheit im chinesischen Kernland unter Legitimierungsdruck stand, andererseits im Zuge ihrer erfolgreichen Reichsexpansion in Innerasien dem chinesischen Staat die Gestalt eines Vielvölkerimperiums gab. Han-chinesische literati der Übergangszeit waren zwischen Ming-Loyalismus und Anpassung an die neue Ordnung hin und her gerissen, während die neue Dynastie ihr mandschurisches Erbe, die Kultur des eroberten Han-China und die kulturellen Eigenarten der neu kolonisierten buddhistischlamaistisch und islamisch geprägten Reichsteile in eine tragfähige Beziehung zueinander zu setzen versuchte.70

Eine andere vergleichbare Entwicklung nahm die chinesische Textkritik: Textkritik als aufklärerische Revision chinesischen Wissens. Gleichzeitig verbreitete in China die textkritische Schule (kaozheng xue) ihre aufklärerische Wirkung. Die Ursprünge der Textkritik liegen bei der Gelehrtengeneration der Ming-Loyalisten im 17. Jahrhundert, die bereits die Methode der kritischen Beweisführung in den Mittelpunkt ihrer Arbeiten gestellt hatten. „Die Wahrheit in den Fakten suchen“ (shishi qiushi) wurde von den Textkritikern zum Grundsatz erhoben.71

Dies blieb nicht ohne Konsequenzen: Von dem textkritischen Bohren nach dem Kern des Konfuzianismus aus, einem Äquivalent europäischer Bibelkritik, war es nicht mehr allzu schwierig, diesen auch radikal zu verwerfen […]. In der chinesischen Welt des 18. Jahrhunderts entfaltete sich die Textkritik zu einer breiten aufklärerischen Strömung.72

Nach Dabringhaus reichte die Vergleichbarkeit noch weiter: Ihre Vertreter trafen in privaten Akademien (shuyuan) zusammen, die sich zu alternativen Tätigkeitsräumen abseits der stark reglementierten Staatsämter entwickelten und gleichzeitig – wie auch die Akademien in Europa (wo sie freilich stärker staatlich organisiert waren) – untereinander weit verzweigte Forschungsnetze bildeten. Ihre Untersuchungen erstreckten sich von den Klassikerschriften bis zu Studien über die vormodernen Wissenschaften Chinas,

69 Dabringhaus (2010): Aufklärung und Wissenschaft in China, Zitat S. 268. 70 Ebd., S. 269. 71 Ebd., S. 270. Ähnlich Schefer (2012): Aufklärung. Eine kritische Betrachtung aus sinologischer Perspektive. 72 Dabringhaus (2010): Aufklärung und Wissenschaft in China, S. 270–271.

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von Philologie über Mathematik bis zu Astronomie und Geographie. China besaß bereits im 18. Jahrhundert Elemente einer eigenen Aufklärung.73

Gleichwohl wurden diese Aktivitäten im Chinesischen noch nicht mit einem Wort wie „Aufklärung“ (qimeng) bezeichnet, das geschah erst im späteren 19. Jahrhundert mit Bezug auf die damalige Gegenwart, nicht aber das 18. Jahrhundert.74 Afrika steht in der Aufklärungsforschung nach wie vor am Rande – obwohl einige Aufklärer selbst den Weg gewiesen hatten. John Toland (1670–1722) interessierte sich 1720 für die ägyptische Philosophin Hypatia aus dem 5. Jahrhundert nach Christus, die 415 in Alexandria, wo sie lebte, ermordet worden war. Voltaire bewunderte sie als Rationalistin, sie passte ihm gut in seine Kirchenkritik. Edward Gibbon (1737–1794) schrieb über sie in seinem Werk über den Niedergang Roms.75 Seit gut siebzig Jahren wird vermehrt afrikanische Philosophie erforscht. Philosophie stellt sich immer als anschlussfähig heraus, wenn es darum geht, die Aufklärung globalhistorisch zu analysieren und unter „global“ mehr und anderes als „europäisiert“ zu verstehen. Oft beginnen historische Einführungen mit Hypatia. Im Zusammenhang der Aufklärung begegnen dann vor allem zwei Namen: Sera Jakob (Äthiopien) und Anton Wilhelm Amo (Ghana, u. a. Wittenberg, Ghana). Der äthiopische Philosoph Sera Jakob (auch: Zar’a Ya’aqob) (1599–1692) hat seinen Platz in allen Einführungen und Überblicken zur Afrikanischen Philosophie bzw. Philosophien in Afrika.76 Auf ihn trifft man auch sogleich im Rahmen einer eher unspezifischen Websuche nach „African Enlightenment“. Dag Herbjørnsrud, ursprünglich Zeitungsredakteur in Norwegen, schrieb 2016 über „African Enlightenment“ und stellte die übliche Erzählung über „die Aufklärung“ infrage: What if the Enlightenment can be found in places and thinkers that we often overlook? Such questions have haunted me since I stumbled upon the work of the 17 th-century Ethiopian philosopher Zera Yacob (1599–1692), also spelled Zära Yaqob.77

Das Manuskript der „Hatata“ genannten philosophischen Lehre Jakobs sowie weitere philosophische Manuskripte aus der frühen Neuzeit wurden in Addis Abeba von dem Jesuiten und Universitätsprofessor Claude Sumner erschlossen. Jakob

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Ebd., S. 271. Ebd., S. 277. Wahba (2006): Philosophy in North Africa, hier S. 161. „Afrikanische Philosophie“ umfasst mehr als geografisch Afrika, ich beziehe mich hier aber auf Afrika. 77 Dag Herbjørnsrud (2017): The African Enlightenment. The highest ideals of Locke, Hume and Kant were first proposed more than a century earlier by an Ethiopian in a cave. https:// tinyurl.com/rcuernf9. Der Autor war viele Jahre als (Chef-)Redakteur bekannter norwegischer Zeitungen tätig; zur Person und beruflichem CV: https://orcid.org/0000-0003-1356-0368.

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hatte mehrere Schüler, von Walda Heywat ist ebenfalls ein Manuskript überliefert.78 Jakob kann als Rationalist bezeichnet werden, er passt daher sehr gut in das Argumentationsschema, wenn im Zusammenhang der Aufklärung „Vernunft“ als Kern bezeichnet wird. Sein Denken hatte als Hintergrund das äthiopische Christentum, das Judentum, den Islam, das katholische Christentum, das Kaiser Susenyos 1626 als Staatsreligion bestimmte, sowie den Hinduismus und eventuell Buddhismus. Der 1572 geborene Susenyos starb bereits 1632. Jakob entzog sich einer drohenden Verfolgung in einer Höhle, in der er zwischen 1630 und 1632 lebte. Die Einsamkeit nutzte er zum Nachdenken – Sumner weist auf die situative und beinahe zeitgleiche Parallele zu Descartes hin, der 1619 in Neuburg an der Donau ‚hängengeblieben‘ war und die Zeit ebenfalls zum Nachdenken nutzte; später wurde dies der „Discours de la méthode“ (1637). Jakobs Manuskript, formal eine Autobiografie, stammt aus 1667.79 Barry Hallen schreibt: The most prominent Abyssinian philosopher of the seventeenth century was a man named Zar’a Ya’aqob (1599–1692). The remarkable text he produced during his lifetime has as its English language title The Treatise of Zar’a Ya’aqob. In the original Ge’ez language, it is known as the Hatata. This term, hatata, will deserve careful consideration because of its methodological implications. Zar’a Ya’aqob was a religious man who had been educated in the Coptic Christian faith but, as his manuscript indicates, was also familiar with other Christian sects (Catholicism), Islam, Judaism, and Indian religion (Hinduism, Buddhism?). Indeed, it was the dilemma of choosing between these conflicting faiths, all meant to worship God, that appears to have been one of the motivating factors in his decision to rely upon his own powers of reasoning or understanding to promote his own personal nonsectarian relationship with that God. 80

Jakob befasste sich aber nicht nur mit dem Versuch, Widersprüche zwischen den Religionen mittels Vernunftgebrauch aufzulösen, sondern dachte auch gesellschaftlich. Lesen wir noch einmal Hallen: In the course of his reflections upon the torturous process of critical reflection itself, Zar’a Ya’aqob also evaluates a number of more worldly issues: fasting, celibacy, scholarship, solitude, equality of husbands and wives, and justice, to name a few. But what is of greater philosophical interest is the critical methodology that underlies all of these reflections, the methodology that has come to be identified with the Ge’ez word „hatata“.81

Sumner erklärt die Bedeutung von „Hatata“ wie folgt:

78 Sumner (1986): The Source of African Philosophy, englischer Text der Schrift von Jakob S. 122–140, von Heywat S. 140–146. 79 Sumner (2006): The Light and the Shadow: Zera Yacob and Walda Heywat: Two Ethiopian Philosophers, hier S. 173. Sumner gibt in diesem Beitrag quasi eine Kurzfassung der entsprechenden Abschnitte seines Buches von 1986. 80 Hallen (2010): A Short History of African Philosophy, Zitat S. 7. 81 Ebd., S. 8.

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This word comes from a root which originally meant: ‚to question bit by bit, peace-meal; to search into or through, to investigate accurately; to examine; to inspect‘. The light of reason is for Zera Yacob the discriminating criterion between what is of God and what is of man […].82

Die Einordnung von Sera Jakob als Rationalist ist auf dem Hintergrund eines lange diskutierten Worts von Léopold Sédar Senghor von 1939 zu verstehen: „L’émotion est nègre, comme la raison hellène.“83 In Bezug auf Denktraditionen in Äthiopien könnte ohnehin eingewandt werden, dass in der frühen christlichen Zeit der hellenische Einfluss sehr stark gewesen war und nicht einfach verschwunden sein dürfte. Senghors Interpretation wird heute generell nicht mehr geteilt, nicht zuletzt aufgrund intensiver Forschungen zu den philosophischen Traditionen in verschiedenen Teilen Afrikas in den vergangenen siebzig Jahren. Die Trennung zwischen Vernunft und Emotion, die früher in der Aufklärungsforschung gegenwärtig war, musste unter dem Eindruck der genauen Lektüre vieler Aufklärungsschriften ohnehin aufgegeben werden. Zu Anton Wilhelm Amo (1703?–1758?) gibt es eine reichhaltige mehrsprachige Forschungsliteratur. Im 18. und teilweise 19. Jahrhundert wurde er irrtümlich als Äthiopier angesehen, seine Geburtsstadt Axim im heutigen Ghana wurde mit dem äthiopischen Axum, das mit Sera Jakob verbunden ist, verwechselt.84 Der Abbé Grégoire (1750–1831) würdigte ihn 1808 in seinem Buch zur afrikanischen Literatur in Europa und Nordamerika und hob die Anerkennungen und Ehrenbezeichnungen vor, die Amo im Reich entgegengebracht wurden.85 William E. Abraham, der ausgiebig über Amo geforscht hat, resümiert knapp das Curriculum Vitae: Anton Wilhelm Amo (c.1703–58), physician and philosopher, was born at Axim in western Ghana. Transported to the Netherlands at the age of 3, he was quickly offered to the Duke of Wolfenbüttel. He mastered German, Dutch, French, Latin, Greek, and Hebrew, and became adept at law, philosophy, and medicine. Best known as a professor of philosophy at the universities of Halle, Jena, and Wittenberg, he also taught courses in medicine, psychology, cryptology, etc. He was in the thick of struggles to rescue university education from political and clerical suffocation, and debates advancing the supremacy of mechanistic explanations of natural phenomena. Personal vicissitudes and a theatrical satire eventually induced him to return to Ghana to some members of his family in the Axim area. Eventually brought to the Dutch Fort San Sebastian at Chama, he probably died there.86

Amo bestritt 1734 eine Disputation über die Rechte der Afrikaner in Europa („De iure Maurorum in Europa“)87, das heißt über ihre rechtliche Diskriminierung. Er

82 Sumner (1986): The Source of African Philosophy, S. 38. 83 Zitiert nach Hoffmann (1993): Einleitung: Philosophieren in Afrika heute, Zitat S. 7. 84 Vgl. Hountondji (1993): Afrikanische Philosophie. Mythos und Realität, Kap. 5: „Ein afrikanischer Philosoph im Deutschland des 18. Jahrhunderts: Anton Wilhelm Amo“, S. 123–148, hier S. 127. 85 Grégoire (1808): De la littérature des Nègres, S. 198–202. Zu diesem Werk Grégoires siehe auch Hountondji (1993): Afrikanische Philosophie, S. 126 und Anm. 4. 86 Abraham (2006): Anton Wilhelm Amo, Zitat S. 191.

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verfasste eine ganze Reihe weiterer Werke. Amo gehört zu den wenigen Afrikanern, die im weiteren Verlauf ihres Lebens nach langen Jahren in Europa oder Amerika wieder in ihre Geburtsregion zurückkehrten. Er dürfte 1747 oder 1748 nach Ghana gereist sein, nachdem er Opfer eines Spottgedichts geworden war. Ob Amo zu Lebzeiten in Ghana als kultureller Mittler wirkte, ist mangels Quellen kaum festzustellen. Der Abbé Grégoire vermerkt für 1753 den Besuch des Forschungsreisenden und Arztes David-Henri Gallandat bei Amo in Axim.88 Dem ist u. a. Burchard Brentjes (1976) und jüngst Justin E. H. Smith in seiner Studie „Race in Early Modern Philosophy“ (2015) nachgegangen. Die Erinnerung an Amo ist in seiner Heimat vom 18. Jahrhundert bis heute lebendig geblieben. Er wird zudem in der afrikanischen philosophischen Debatte regelmäßig diskutiert.89 Besonderes Augenmerk wird in der internationalen Forschung auf Amos Auseinandersetzung mit Descartes geworfen.90 Jacob Emmanuel Mabe sieht in Amo einen Vorläufer der „Négritude“: „From the point of view of the history of ideas he can then be viewed as a mentor or a fore-runner both for Negritude and the already outlined Pan-Africanism.“91 So wurde Amo im Zuge der Rezeption seines Wirkens und seiner Texte kultureller Mittler. 1965 wurde in Halle ein Denkmal enthüllt, das der Bildhauer Gerhard Geyer (1907–1989) als „Freies Afrika“ geschaffen hatte, das aber unmittelbar mit Amo in Verbindung gebracht wurde. Dabei ist es geblieben.92 In Berlin wurde im August 2020 die ehemalige „Mohrenstraße“ in „Anton Wilhelm Amo-Straße“ umbenannt.93 In seinem Werk vermittelte er Europa und Afrika: From sacred history, Amo expounded the crucial contribution of Africa to the development of Christianity, its doctrines, practices, and roll of martyrs. From secular history, he directly applied provisions of the Constantinian settlement and the Justinian Code, particularly the Pandects, to Africa, since African Kings had been vassals of the Roman Emperor under renewed imperial patents granted up till Justinian. Arguing from law and history, he concluded that the servitude of Africans in Europe, who had been bought by Christians, was in conflict with commonly accepted laws.94

Die hier exemplarisch dargelegten Forschungsansätze zu Aufklärungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert außerhalb Europas erscheinen vielversprechend, müss-

87 Die Universität Halle-Wittenberg hat eine Rektoratskommission „Anton Wilhelm Amo“ eingerichtet: https://tinyurl.com/y5rswvm9. Inhaltliche Informationen: https://www.amo.unihalle.de/. 88 Grégoire (1808): De la littérature des Nègres, S. 201. 89 Smith (2015): Nature, Human Nature, and Human Difference. Race in Early Modern Philosophy, hier S. 215 und Kap. 8.2: „Amo’s Legacy“. Das Buch von Burchard Brentjes: „Anton Wilhelm Amo: der schwarze Philosoph in Halle“ (Leipzig: Koehler & Amelang, 1976) war mir leider nicht erreichbar. Vgl. weiters Ette (2014): Anton Wilhelm Amo. 90 Wiredu (2006): Amo’s Critique of Descartes’ Philosophy of Mind. 91 Mabe (2014): Anton Wilhelm Amo: The intercultural background of his philosophy, Zitat S. 87. 92 Zur Entstehungsgeschichte vgl. https://www.amo.uni-halle.de/#anchor3356003. 93 Mallinckrodt/Lentz/Köstlbauer (2021): Beyond Exceptionalism, S. 2, Anm. 4. 94 Abraham (2006): Anton Wilhelm Amo, Zitat S. 193.

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ten aber massiv ausgeweitet werden, um die Aufklärungsforschung stärker entokzidentalisieren zu können. BEETHOVENS NEUNTE Weder in Europa noch sonst wo „endete“ die Aufklärung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die Übergänge in Europa, dem wir uns zunächst wieder zuwenden, zwischen der Aufklärung und einer neuen Epoche wie Romantik und Restauration nach dem Wiener Kongress waren fließend – ebenso wie die Anfänge der Aufklärung bei genauer Betrachtung fließend waren. Globalgeschichtlich erscheint die Frage nach einem Ende der Aufklärung kaum sinnvoll, wie sich in den nächsten Kapiteln zeigen wird. Oft wird der Französischen Revolution die Bedeutung einer Zäsur gegenüber der Aufklärung zugewiesen. Im Allgemeinen orientiert man sich an den wichtigsten Autor*innen, die in der Regel bis ins Jahr ihres Todes sehr produktiv geblieben waren. So starben die zentralen Figuren der französischen Aufklärung vor der Revolution, nicht aber die der deutschen Aufklärung. Die durch den Tod endende bzw. zu Lebzeiten anhaltende Produktivität dieser zentralen Akteur*innen stellt auf jeden Fall ein Kriterium dar, das aber letztlich zu ‚nationalen‘ Chronologien der Endphase(n) der Aufklärung führt. Kants „Metaphysik der Sitten“, beispielsweise, die seine Rechts(staats)lehre enthielt, erschien 1797, als die Revolution im Wesentlichen vorbei war. In der Philosophie mag der „Stabwechsel“ von Kant, der 1804 starb, zu Hegel nicht nur in Deutschland das Ende der eigentlichen Aufklärung markieren, in der Musik traf das nicht zu, wie Beethoven beweist. Mehrere seiner Werke waren den Grundwerten der Aufklärung verpflichtet, insbesondere aber die Oper „Fidelio“, die zwischen 1804 und 1814 entstand, und die Neunte Symphonie mit der Schiller’schen „Ode an die Freude“, an der er zwischen 1818 und 1824 arbeitete. Andreas Eichhorn führt zu den Takten 1–16 des ersten Satzes der Neunten Symphonie, dem als ‚ungewöhnlich‘ empfundenen „Anfang“, aus, wie Beethoven das – im Grunde philosophische – Thema von Zeit und Zeitempfinden kompositorisch aufgriff: Der musikalische Prozeß wird nicht durch die Logik des motivisch-thematischen Diskurses vorangetrieben, sondern durch eine Manipulation des subjektiven Zeitempfindens. Dieses Gefühl einer zeitlichen Beschleunigung wird durch die sich verkürzenden Bläsereinsätze, die Antizipation (T. 15) und das zunächst ganztaktige, dann halbtaktige und sich metrisch verschiebende (T. 13) Quint-Quart-Motiv ausgelöst.95

Eichhorn treibt diese Interpretation dann noch weiter: Vieles spricht dafür, daß Beethoven mit dem Anfang der Neunten Symphonie das philosophische Problem des Anfangens selbst thematisiert: Der erste Takt setzte einen Anfang und negiert ihn zugleich. Dieses antinomische Nebeneinander von zeitlicher Begrenztheit und 95 Eichhorn (1996): Das „Hauptthema“ im ersten Satz von Beethovens Neunter Symphonie, hier S. 3.

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Praktiken Unendlichkeit – eine Idee, die im letzten Satz wiederaufgegriffen wird – findet übrigens ihre philosophische Problematisierung in der Thesis und der Antithesis der ersten Antinomie aus Kants Kritik der reinen Vernunft.96

Dies ist nur ein Beispiel für die Schwierigkeit, ein zeitliches Ende der Aufklärung zu bestimmen. Mit „Ende“ kann ohnehin nur gemeint sein, dass sich der Schwerpunkt von der originellen Produktion von Texten, Stücken, Kunstwerken und Kompositionen zur Auseinandersetzung mit dem Erbe der Aufklärung verlagert. Solange noch produziert wird, geht es höchstens zum Teil um die Arbeit mit und an dem Erbe der Aufklärung. Ab den 1820er Jahren überwiegt im Allgemeinen das aufgehäufte Erbe die originelle Produktion. Der Umgang mit dem Erbe bestimmte das Fortwirken der Aufklärung. Um 1815/20 hatte bereits eine Art Historisierung der Aufklärung eingesetzt. Es wurde versucht, einen zeitlich distanzierten Standpunkt einzunehmen, „Aufklärung“ zu definieren – als philosophisches Phänomen, als Epoche – und ein Narrativ zu entwickeln. Kurz, die Aufklärung, oder ab „irgendwann“ im 19. Jahrhundert „die Aufklärung“, nahm die Eigenschaften eines Erbes an, das die einen akzeptierten und die anderen ausschlugen, über das sich aber alle irgendwie stritten. Das ist im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer noch so. Die zweihundert Jahre seit dem Beginn der Historisierung der Aufklärung waren durch Kriegs- und Nachkriegsphasen geprägt. Am Ende des Zeitalters der napoleonischen Kriege stand der Wiener Kongress von 1814/1815, gefolgt von der „Heiligen Allianz“; es sollte eine stabile Nachkriegsordnung geschaffen werden. In diesen Kontext fallen die Anfänge der Konstruktion namens „die Aufklärung“. Nach dem Wiener Kongress konnte in Europa für ein Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg eine weitere gesamteuropäische Kriegszeit wie die napoleonische verhindert werden, aber irgendwo gab es in Europa immer Krieg. Oder Revolutionen mit teilweise kriegsähnlichen Phasen. Irgendwo war immer eine Nachkriegs- oder Zwischenkriegszeit. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 erwies sich in jeder Hinsicht als folgenreich, einschließlich unterschiedlicher Positionierungen gegenüber der Aufklärung. Es handelte sich nicht um einen gesamteuropäischen Krieg, aber einen mit gesamteuropäischen Auswirkungen. Die Aufklärung war, so wird es oft gesagt, eng mit der „Bürgerlichen Gesellschaft“ verbunden. Nehmen wir das einmal so an, denn dieser Gesellschaftstyp setzte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts in Europa durch.97 Wieviel Aufklärung steckte in der „bürgerlichen Vergesellschaftung“ des 19. Jahrhunderts? Die Aufklärung kann als eine Art orientierender Subtext innerhalb dieses Prozesses verstanden werden, der nicht unbedingt von den Zeitgenoss*innen ins Bewusstsein gehoben wurde, selbst wenn das Ins-Bewusstsein-heben genauso möglich war. Im 19. Jahrhundert wurde Letzteres meist mithilfe konkreter Aufklärer gemacht. 96 Ebd., Zitat S. 6. Ausführlich zur Neunten vgl. außerdem vom selben Autor: Eichhorn (1993): Beethovens Neunte Symphonie, besonders den 2. Teil: „Die Neunte als Paradigma des Musikalisch-Erhabenen“, darin das erste Kapitel zur „ästhetischen Rezeption“, S. 191–288. 97 Hellmuth (2020): Frankreich im 19. Jahrhundert, hat dies rezent noch einmal sehr gut für Frankreich analysiert.

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DENKMÄLER D’Alembert, zusammen mit Diderot Herausgeber der Encyclopédie, war ein Findelkind. Dies hinderte nicht, dass er berühmt wurde. D’Alembert, Diderot und Encyclopédie bilden längst ein Dreieck der Unsterblichkeit. Kant kam aus sehr ärmlichen Verhältnissen: „Er war als Sohn eines armen Handwerkers geboren worden und wurde wie ein König begraben.“98 Moses Mendelssohn kam aus noch ärmlicheren Verhältnissen als Kant, doch wurden und werden weltweit Mendelssohnjubiläen gefeiert.99 Anton Wilhelm Amo, Olympe de Gouges und Mary Wollstonecraft mögen erst nach dem Zweiten Weltkrieg im 20. bzw. 21. Jahrhundert in die Denkmalkultur aufgenommen worden sein, doch sie wurden es. Und so fort. Ihren Ruf erarbeiteten sich die Aufklärer*innen durch ihre Lebensleistungen. Bis heute werden ihnen Denkmäler errichtet, Straßen, Plätze, Schulen und andere Orte nach ihnen benannt. ‚Runde‘ Geburts- und Todestage geben Anlass für ausführliche Würdigungen von Mensch, Œuvre und Wirkung. Und parallel erleben wir Denkmalstürze derselben Persönlichkeiten der Geschichte. Schon im 18. Jahrhundert wurden zahlreiche Orte zur Erinnerung an Aufklärer geschaffen. Sie wurden dabei meistens nicht ausdrücklich als „Aufklärer“ inszeniert, sie wurden allgemein für ihre Leistungen geehrt. Aber alle Denkmäler für „Aufklärer“, die einmal errichtet wurden und erhalten geblieben sind, konnten später und können heute in der Perspektive der Zugehörigkeit der Geehrten und Erinnerten zur Aufklärung betrachtet werden. Wenn im 19. Jahrhundert ein Goethe-Denkmal errichtet wurde, dachte man eher an „Nationaldichter“, heute, seit der „Aufklärer“ in Goethe mehr Beachtung findet, denkt man eher an „Aufklärer“ oder „Aufklärung“. In englischen Landschaftsgärten konnte man bereits in den 1730er Jahren auf Erinnerungs-Orte treffen: Als ein Beispiel aus 1735 ist der „Temple of British Worthies“ in Stowe (Kent) zu erwähnen, in dem unter anderen Büsten von John Locke, Isaac Newton, John Milton und Alexander Pope aufgestellt worden waren.100 Der englische Landschaftsgarten inklusive seiner diversen Ingredienzien fand zahlreiche Nachahmer im 18. und 19. Jahrhundert. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand in Frankreich das Konzept des „grand homme“, des „Großen Mannes“. Es handelte sich um einen aufklärerisch-bürgerlichen Gegenentwurf zum Heroenkult, mit dem Fürsten und auf dem Schlachtfeld erfolgreiche Adelige erhöht wurden. Der Große Mann zeichnete sich durch Bildung und Esprit aus, er entdeckte Neues, er war ein vorbildlicher Vater – und vieles andere mehr. Aber er war kein Herrscher, kein Waffenheld hoch zu Ross. Im deutschen Sprachraum wurde mehr mit dem Konzept des Genies gear-

98 Geier (2012): Aufklärung, S. 291. Geier verbindet Lebensgeschichte und Werkentwicklung ausgesuchter Aufklärer. 99 Steer (2019): Moses Mendelssohn und seine Nachwelt. 100 Selbmann (1988): Dichterdenkmäler in Deutschland, S. 6.

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beitet, zudem entstand eine lebhafte Debatte über das Schreiben von Biografien bedeutender Männer101 im Sinne von Genie oder Großer Mann. Großen Männern wurden literarische, zunehmend aber auch materielle Denkmäler aus Marmor, Bronze oder ggf. aus Stein errichtet. Die Pantheonisierung von Voltaire (1791) und Rousseau (1794) erfüllte das Konzept der verehrungswürdigen Großen Männer in besonders beispielhafter Weise. Das Pariser Panthéon und die in der Gegenwart fortgesetzte Praxis der Pantheonisierung nunmehr Großer Frauen und Männer ist wie das Gebäude selber präsent gebliebene Aufklärung. Speziell Voltaire und Rousseau hatten aber nicht bis zur Revolution warten müssen. Voltaire erhielt 1778 in der Comédie Française eine Büste – er war selbst zugegen. Zuvor hatte der Bildhauer Jean-Baptiste Pigalle einen nackten Voltaire (1770–1776) geliefert, der heute im Louvre steht. Zur Erinnerung an Rousseau wurde 1779 die Rousseau-Insel von Ermenonville geschaffen. Dies blieb längst nicht die letzte Rousseau-Insel – im Park von Wörlitz wurde 1784, im Berliner Tiergarten 1790 eine solche geschaffen, in Genf liegt im Genfer See die Île Rousseau, am Schlossteich des niederösterreichischen Laxenburg unweit Wien liegt der „Rousseau-Hügel“, und so weiter und so fort. Leibniz erhielt in Hannover 1790 einen Tempel102, zeitlich parallel wurde Geld für ein Moses Mendelssohn Denkmal gesammelt, das aber zunächst nicht zustande kam. Welch umfängliche Aktivitäten hinter einer Denkmalerrichtung und darüber hinausgehend feierlichen Begängnissen von Jubiläen stehen konnten, hat Martina Steer für Moses Mendelssohn von seinem Tod 1786 bis zum Gedenken an seinen 150. Todestag 1936 gezeigt.103 Sie geht dabei dem Thema in Deutschland, Polen und den USA nach, und öffnet gewissermaßen eine Welt für sich – die der Denkmäler, Jubiläen und Streitdebatten. Der Alltag der Aufklärung nach der Aufklärung. Der bayerische König Ludwig I. ließ sich vom Pariser Panthéon für die Walhalla inspirieren, die schlussendlich 1842, also nach gut dreieinhalb Jahrzehnten, ab den ersten Ideen gerechnet, eingeweiht wurde.104 Aus den Reihen der Aufklärer, die jedoch noch nicht als solche tituliert wurden, erhielten Büsten: Goethe, von Haller, Herder, Kant, Leibniz, Lessing, Schelling, Schiller, Wieland, Winckelmann. Kant erhielt 1864 ‚sein‘ Denkmal in Königsberg. Auch in diesem Fall hatte es mehrere Jahrzehnte bis zur Realisierung gedauert.105 Lessings Denkmal in Braunschweig wurde 1859 enthüllt. Und natürlich hatten auch Schiller und Goethe – nach langem Streit – Denkmäler bekommen, schließlich das berühmt gewordene gemeinsame in Weimar 1857. Über Denkmäler konnte man trefflich streiten, jahrelang, aus ästhetischen und künstlerischen oder aus inhaltlichen Gründen, da ein Denkmal nur eine bestimm101 102 103 104 105

Heinrich (2016): Leben lesen. Selbmann (1988): Dichterdenkmäler in Deutschland, S. 30–32. Steer (2019): Moses Mendelssohn und seine Nachwelt. Ausführlich Selbmann (1988): Dichterdenkmäler in Deutschland, S. 48–59. Ebd., S. 65.

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te, eher kleine Menge an mit der Person verbundenen Inhalten bzw. Leistungen ausdrücken konnte. Allzu viele wollten Einfluss nehmen, bei den „Nationaldichtern“ ließ sich der Streit nicht lokal eindämmen. Der Streit war unvermeidbar, wann immer es um Denkmäler im öffentlichen Raum ging, da ein solches Denkmal diesen Raum für viele Jahrzehnte mitprägen würde und die Inhalte einer permanenten autoritativen Äußerung im öffentlichen Raum gleichkamen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhöhte sich die Anzahl von Denkmälern, auch für Aufklärer, die nach wie vor nicht unbedingt als Aufklärer tituliert wurden. Leibniz etwa erhielt in seiner Geburtsstadt Leipzig 1883 ein Denkmal, nachdem Stadtrat und Universität schon 1846 mit Spendenaufrufen für ein Denkmal gestartet waren.106 Selbmann betitelt sein Kapitel zu den Jahren 1870 bis 1890 mit „Denkmalswuth“, einem in jener Zeit verwendeten Wort.107 Zwar bezieht er sich auf den deutschen Sprachraum, aber die Tendenz gab es überall. In Frankreich bezog sich die 1870 ausgerufene Dritte Republik zunehmend in ihrem Selbstverständnis auf die Französische Revolution und inszenierte die Hundertjahrfeier 1889 höchst aufwendig. Die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 rückte in diesem Zusammenhang wieder stärker in den Mittelpunkt, nicht zuletzt in den Schulen.108 Doch kamen auch einige Aufklärer in dieser Phase zu Ehren, vor allem solche, die sich als radikale Denker bezeichnen lassen, etwa Diderot und Rousseau.109 Das Diderot-Denkmal wurde in Paris am 13. Juli 1886 enthüllt, es hatte seinen Platz auf der Place Saint-Germain-des-Prés gefunden: Bei der Einweihungsfeier wurde ein republikanisches und dezidiert national konnotiertes Festprogramm routiniert absolviert, indem renommiertes politisches Personal teilnahm, die Denkmalhülle zu den Klängen der Marseillaise fiel und wenigen Reden ein Defilee um die Statue und Kranzniederlegungen von mehreren Vertretungen der republikanischen Freidenker (Sociétés de Libre-Pensée) folgten. Man identifizierte Diderot als Kämpfer gegen Ignoranz und Vorurteil, der mit seiner Encyclopédie Schneisen für die Revolution geschlagen hatte […].110

Das Rousseau-Denkmal wurde im Februar 1889 auf der Place du Panthéon der Öffentlichkeit übergeben, die Feier fand im Panthéon statt: „Die von Freiheitshymne und der Marseillaise flankierten Reden verorteten Rousseau im Stil etablierter Deutungsmuster auf der Seite des ‚peuple‘, des freien Willensentscheids und der Rechte.“111 Eine Sonderstellung nahm Voltaire ein, der wie Rousseau schon im 18. Jahrhundert denkmalwürdig gewesen war.112 Vorschläge im 19. Jahrhundert für ein Voltaire-Denkmal in Paris reichten in das Second Empire zurück, in Paris findet 106 107 108 109 110 111 112

https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Leibnizdenkmal_(Leipzig)&oldid=213557929. Selbmann (1988): Dichterdenkmäler in Deutschland, S. 104. Schmale (2002): Die Dritte Republik, das Centenaire und die Menschenrechte. Zum Folgenden: Rausch (2006): Kultfigur und Nation, Zweiter Teil, Kap. 1.2 Ebd., S. 286. Ebd., S. 290. Zu Voltaire: Bird (2000): Reinventing Voltaire. S. ebenfalls: Goulemot/Walter (1997): Les centenaires de Voltaire et de Rousseau.

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man zudem den Boulevard Voltaire, die Place Voltaire, den Quai Voltaire – nicht zu reden von seiner Pantheonisierung. Seiner wurde ausgiebig zum 100. Todestag 1878 gedacht. Voltaire wurde zu den Wegbereitern der Demokratie und der Republik gezählt, oder vielleicht sollte man sagen: dazu gemacht. Auch Victor Hugo nahm sich rund um den 100. Todestag Voltaires an. Helke Rausch resümiert: So avancierte Voltaire zum republikanischen Messias, der Frankreich das Evangelium der Aufklärung und der Revolution zu bringen hatte. Zugleich versöhnte er die Dritte Republik mit dem Ancien Régime, indem er das 18. Jahrhundert als philosophisch ergiebiges „siècle de Voltaire“ in die Nationalgeschichte Frankreichs zu absorbieren erlaubte. Damit konnte über die Voltaire-Figur jene Kontinuitätsstiftung gelingen, aus der die Dritte Republik legitimatorische Kraft zu schöpfen suchte: von der Aufklärung über die Revolution bis zur neuen Republik der 1870er Jahre, die in der Vision Hugos diese Epochen in einer Phase des „progrès“ und der „paix“ zu ihrer glorreichen Synthese brachte.113

Das lange angestrebte Voltaire-Denkmal wurde am 14. Juli 1885 (Bastille-Tag) am Quai Malaquais eingeweiht. Es war aber nicht das letzte.114 Weitere Aufklärer kamen in Paris zu Denkmalsehren: Condorcet (14. Juli 1894), Lavoisier (27. Juli 1900) und Lamarck (13. Juni 1909), und natürlich wurden Führungsfiguren der Französischen Revolution geehrt. Eine Stadt wie Paris steckt insgesamt voller Visualisierungen „Großer Männer“, unter denen sich im 19. Jahrhundert regelmäßig Aufklärer finden.115 Für Germaine de Staël gab es ein Denkmalprojekt, das aber nicht realisiert wurde. Die Frauenrechtlerin der Französischen Revolution, Olympe de Gouges, kam erst 1989 in ihrer Geburtsstadt Montauban zu Ehren einer Statue.116 Am 19. Oktober 2016 wurde eine Büste in der Assemblée Nationale in Paris aufgestellt.117 In der Hauptstadt des „Erbfeindes“, Berlin, kam es in Bezug auf Aufklärer zu folgenden Denkmälern: Schiller (10. November 1871), Goethe (2. Juni 1880), Lessing (14. Oktober 1890). Außerdem wurden die Humboldt-Brüder und Hegel geehrt, die aber nicht exklusiv der Aufklärung zugerechnet werden können, am wenigsten Hegel. In London wurde bezeichnenderweise keine uneingeschränkt der Aufklärung zurechenbare Persönlichkeit geehrt; man könnte höchstens das Denkmal für James Cook anführen (7. Juli 1914).118 Am 10. November 2020 wurde im Norden Londons in Newington Green ein Denkmal für Mary Wollstonecraft, gefertigt von der Künstlerin Maggi Hambling, eingeweiht. Die Inschrift beinhaltet einen starken Satz Wollstonecrafts: „I do not wish women to have power over men but over themselves.“119 Die Denkmäler für Olympe de Gouges und Mary Wollstonecraft sind somit die neuesten. Damit wird nachgeholt, was lange Zeit nicht beachtet wurde und es 113 114 115 116 117 118 119

Rausch (2006): Kultfigur und Nation, S. 551–552. Ebd., S. 553. S. dazu Bumbaris (2016): Paris, die Stadt der Großen Männer. https://www.pop.culture.gouv.fr/notice/palissy/IM82100007. https://tinyurl.com/4ynczmdn. Alle Angaben nach der Liste bei Rausch (2006): Kultfigur und Nation, S. 699–710. https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=A_Sculpture_for_Mary_Wollstonecraft&oldid= 1014316414.

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spiegelt die veränderten Prioritätensetzungen bei der Betrachtung der Aufklärung wider: Das Bewusstsein dafür, dass es nicht nur Aufklärer, sondern auch Aufklärerinnen gab, schärft sich. Die anderen europäischen Städte oder Länder ehrten ebenfalls „ihre“ Aufklärer. Cesare Beccaria findet sich in Mailand zweimal: im Palazzo di Brera (Vollplastik in Marmor von Pompeo Marchesi, 1837), auf der Piazza Cesare Beccaria vor dem Justizpalast (Vollplastik in Marmor von Giuseppe Grandi, 1871; 1913 wurde die durch Umweltbelastungen angegriffene Marmorskulptur in den Justizpalast verbracht und draußen eine Bronzekopie aufgestellt).120 Eine weitere Beccaria-Statue stand in der Galleria Vittorio Emanuele II. (erbaut 1865–1877), diese und weitere Statuen wurden jedoch 1917 zerstört.121 Eine Piazza oder Via Cesare Beccaria gibt es in zahlreichen italienischen Städten. Carl von Linné erhielt 1866 ein Denkmal in Gestalt eines Obelisken, der bei seinem Geburtshaus im schwedischen Råshult errichtet wurde. An seinem universitären Wirkungsort Uppsala widmete man ihm 1930 eine Statue; in Lund hatte er 1727/28 studiert, dort wurde 1938 eine Statue aufgestellt. Weitere Denkmäler finden sich in Stockholm und London, Wien benannte 1907 den Linnéplatz, etc. Halle errichtete zu DDR-Zeiten, wie oben in Abschnitt 3 bereits aufgeführt, 1965 ein Denkmal mit dem Titel „Freies Afrika“, das eigentlich dem Staat Ghana geschenkt werden sollte. Dies kam nicht zustande, sodass dieses in Halle aufgestellt wurde. Bei der Enthüllung wurde erstmals ein Bezug zu Amo hergestellt, der sich bis heute gefestigt hat.122 Würde man noch die nach Aufklärern benannten Schulen einbeziehen, so würde sich eine dichte erinnerungsgeschichtliche europäische Karte ergeben. Die große Zeit der Errichtung solcher Denkmäler war das 19. Jahrhundert, sie reichte teilweise bis zum Ersten Weltkrieg, gelegentlich darüber hinaus, eher seltener bis in unsere Gegenwart. Eine Chronologie der Namensgebung von Schulen wäre höchst wahrscheinlich aufschlussreich und würde sich – das ist aber eine reine Vermutung – nicht mit der Chronologie der Denkmäler decken. Fokussiert auf Leitpersönlichkeiten der Aufklärung wurden die Grundlagen einer Erinnerungskultur der Aufklärung gelegt, schon bevor diese zu „der Aufklärung“ geworden war. In Frankreich war diese ‚parteiisch‘ auf Seiten des Republikanismus, der die Wurzeln seiner Identität in den vorangegangenen Revolutionen und in der Aufklärung sah. In Deutschland herrschte die Tendenz vor, aus den Persönlichkeiten Nationaldichter zu machen und sie, anders als in Frankreich, einer womöglich politisch-radikalen Interpretation zu entziehen. Frankreich wiederum hatte zeitgenössisch einen Nationaldichter, Victor Hugo, der 1885 starb und pantheonisiert wurde, ein Rückgriff auf das 18. Jahrhundert war für die „Insti120 Beschreibungen: https://it.wikipedia.org/w/index.php?title=Monumento_a_Cesare_Beccaria_ (1837)&oldid=120212228; https://it.wikipedia.org/w/index.php?title=Monumento_a_Cesare_ Beccaria_(1871)&oldid=117693416. 121 Bandmann (1966): Die Galleria Vittorio Emanuele II. zu Mailand, hier Anm. 4. 122 Vgl. die Ausführungen auf der Seite der Universität Halle-Wittenberg: https://www.amo.unihalle.de/#anchor3356003.

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tution“ Nationaldichter so gesehen nicht erforderlich. Das offizielle England ehrte vor allem Heroen und ein paar Grands Hommes, die Aufklärung war dabei kein Thema, das Italien des Risorgimento konnte „seine“ Aufklärer für die Identitätsbildung gut brauchen. Die Erinnerungs- und Gedenkkultur war keine rein europäische Sache. In den USA sorgten die jüdischen Immigrant*innen seit den 1840 er Jahren dafür, dass an Mendelssohn mindestens in jüdischen Zeitungen erinnert wurde. Es sei, so Martina Steer, „anzunehmen, dass die Mitglieder [von Mendelssohn-Vereinen; W.S.] den 150. Geburtstag [1879; W.S.] des Namensgebers auf irgendeine Art und Weise begingen, und wenn es nur ein geselliger Abend war.“123 In Ägypten wurde seit 1844 des runden Geburtstages von Voltaire in Schritten von 50 Jahren gedacht, dasselbe geschah mit Bezug auf seine runden Todestage ab 1878, ebenfalls in Schritten von 50 Jahren. Erstmals 1889 wurde in Ägypten ein Theaterstück von Voltaire aufgeführt.124 Die Geburts- und Todestage der Aufklärer*innen sind freilich ein weites Feld, allein schon, wenn man nur wissenschaftliche Symposien zusammenstellen würde, ganz zu schweigen von öffentlichen Veranstaltungen und Ausstellungen oder Zeitungsartikeln. Zur im 19. Jahrhundert entstehenden Erinnerungskultur der Aufklärung zählt zweifellos auch die editorische und publizistische Tätigkeit in Bezug auf die Autor*innen der Aufklärung. Nehmen wir zunächst als Beispiel Rousseau: WorldCat, der die bibliografischen Datensätze von mehr als 10.000 Bibliotheken weltweit enthält125, weist für diesen Autor für 1790–1820 295 postume Drucke aus, zwischen 1820 und 1850 200 Drucke, zwischen 1850 und 1900 440 Drucke. Die Zahlen werden von WorldCat statistisch immer für Päckchen von 5 Jahren ausgewiesen und sind auf Fünfer bzw. Zehner gerundet. Rechnet man, um Vergleichbarkeit zu erzielen, diese Zahlen auf Jahresdurchschnitte um, weil die dritte Periode 50 und nicht wie die beiden anderen 30 Jahre umfasst, ergibt sich ein relativ stabiler Schnitt. In der Reihenfolge der drei Phasen: 9,8, 9,7 und 8,8 postume Drucke pro Jahr. Die Zahlen für Voltaire sind geringfügig niedriger, weisen aber dieselbe stabile Tendenz aus: 8,7, 8,3 und 8,1 postume Drucke pro Jahr. Dieselbe Stabilität erweist sich im Fall von Montesquieu und Diderot, wobei der Jahresdurchschnitt gegenüber Rousseau um 2 bzw. 3 niedriger liegt. Eine probeweise Sondierung, die ich für heutzutage global nachgefragte Aufklärer (Kapitel „Orientierungen“), die für sehr verschiedene inhaltliche Profile und Herkunftsregionen stehen, durchgeführt habe, bestätigt generell diese Tendenz zu stabilen Verläufen, soweit es postume Drucke angeht. Freilich gibt es Ausreißer, z. B. Leibniz, dessen drei Jahresdurchschnittswerte wie folgt lauten: 123 Steer (2019): Moses Mendelssohn und seine Nachwelt, Zitat S. 240; zur Frage der USamerikanischen Erinnerungskultur bezüglich Mendelssohn im 19. Jahrhundert s. Kap. 4.2. 124 Maher (2006): Zur Voltaire-Rezeption im arabisch-islamischen Kulturraum am Beispiel Ägyptens, hier S. 390–391 und 402. 125 Startseite: https://www.worldcat.org/. Zu den Statistiken gelangt man über das Tool „WorldCat Identities“: https://worldcat.org/identities/.

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0,8, 1,2 und 5,7. Goethe erreicht von Anfang an (er starb 1832, es wird erst ab der Phase 1820–1850 gerechnet) den höchsten Wert von allen in dieser Sondierungsgruppe, nämlich 13,2; bis 2020 fällt er nie unter 13, er erreicht max. 14. Newton wurde im 18. Jahrhundert viel mehr postum gedruckt als im 19. Jahrhundert, was seine enorme Bedeutung und breite Rezeption in der Aufklärung selbst unterstreicht. Fast parallel liegt der Fall von Leibniz. Der Wert für Spinoza steigt erst in der Phase 1850–1900 deutlich an. Solche Zahlen geben natürlich nur ein selektives Bild ab, genauso gut könnte man versuchen, eine Statistik der Nennungen von Aufklärer*innen in Zeitungen zu erstellen. Vermutlich würde dies aber nur bestätigen, dass sich schon im 19. Jahrhundert eine Kerngruppe an Aufklärern (höchstwahrscheinlich tatsächlich nur männliche Autoren) herausgebildet hat, die in den Mittelpunkt des Interesses gestellt wurde und da bis heute steht. Das Publikum, auf das Einzel- und Werkausgaben der Aufklärer abzielten, war breit und gemischt. So wurde beispielsweise die traditionsreiche und populäre „Bibliothèque bleue“ 1860 um einige Erzählungen Voltaires erweitert, der auf diese Weise den Wettbewerb um die Gunst der Leser*innen mit Ritterromanen aufnehmen musste oder konnte.126 Der Aufnahme in die Bibliothèque bleue entspricht, dass 1867 frankreichweit Handwerker und Arbeiter fast 50 % aller Subskribenten für eine geplante Voltaire-Statue ausmachten.127 DIVERSE WIRKUNGSBEREICHE In Europa wirkte die Aufklärung in vieler Hinsicht nach 1800 weiter, ohne dass es nötig gewesen wäre, von morgens bis abends zu reflektieren, dass das, was man tat, dachte und schuf, die Aufklärung fortsetzte. Als Beispiel kann man den von Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ (1975; zum Buch Kapitel „Intellektuelle“) beschriebenen „Panoptismus“ nehmen, dessen Wurzeln im 18. und zum Teil schon 17. Jahrhundert liegen, dessen volle Entfaltung aber über Jahrzehnte ins 19. Jahrhundert reichte. Das heißt nicht, dass die fortgesetzte Praxis der Aufklärung im 19. Jahrhundert ohne intellektuelle Reflexionen ausgekommen wäre, aber es ist zu erkennen, dass vor allem erst nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ein bewusster ideologischer Rückgriff auf „die Aufklärung“ und eine theoretischphilosophische Reflexion der Aufklärung zusammenfanden. In Frankreich und Deutschland wurde dies eine Sache der politischen Linken, die hier als ein breites Spektrum von gemäßigt bis radikal zu verstehen ist. Die Chancen darauf, sich im öffentlichen Diskurs durchzusetzen, waren im wilhelminischen Deutschland gleichwohl wesentlich schlechter als in der französischen Dritten Republik. In den Ländern, die am stärksten in die Französische Revolution involviert gewesen waren – das waren in Europa außer Frankreich besonders die beiden 126 Bird (2000): Reinventing Voltaire, S. 131. 127 Ebd., S. 72.

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Niederlande, Deutschland und Italien –, gehörten Kontroversen um die Revolution selbst sowie um die ephemeren jakobinischen Republiken zum politischen Alltag. Und zwar noch hundert Jahre später: So ‚redet‘ im 1. Akt der im Jahr 1900 uraufgeführten und im Jahr 1800 spielenden Oper „Tosca“ von Puccini der Mesner zu sich selbst als Kommentar zum Madonnen malenden Cavaradossi: „Diesen beiden Frauen, die den Madonnen gleichen wollen, entströmt der Moderhauch der Hölle. Über alles macht er sich lustig, nichts ist ihm heilig … Gegen diese Voltairianerhunde, die Feinde der gottgegebenen Regierung, gibt es keine Widerrede!“128 Gemeint sind die Republikaner, die die kurzlebige römische Republik (1798–1800) von Napoleons Gnaden geführt hatten. Als Reaktion auf die Revolution schälte sich eine konservative politische Theorie heraus, die ihre Existenzberechtigung aus der Gegnerschaft zur Revolution zog. Edmund Burke, Friedrich Gentz, Joseph Bonald und so fort sind hier zu nennen. Die Romantik als Kulturepoche wird oft als Gegenreaktion auf die Aufklärung gewertet, da sie im Christentum, im Mittelalter und der mittelalterlichen Kirche, im nicht durch die Vernunft ‚versklavten‘ Gefühl Identität gesucht habe und fündig geworden sei. Gerade in dieser Epoche, zwischen 1817 und 1830, wurden jedoch in Frankreich Voltaires „Gesammelte Werke“, die je nach Format bis zu 100 Bände umfassen konnten, in 21 verschiedenen Editionen mit zusammen 1,5 Millionen Exemplaren verkauft. Der Markt, den ein antiklerikal und womöglich republikanisch eingestelltes Publikum ausmachte, war, Romantik hin oder her, erheblich.129 Der Liberalismus wurzelte in der Aufklärung und der Revolution, übernahm aber kaum die radikalen Tendenzen, war mit einer religiösen Lebenseinstellung gut kompatibel und arrangierte sich im Allgemeinen mit dem Verfassungstypus der Konstitutionellen Monarchie. Der „Konstitutionalismus“ prägte die Zeit nach Napoleon und repräsentierte eine Art juste milieu, in dem die Freiheitsphilosophie der Aufklärung und die durch eine Verfassung gemäßigte und begrenzte Monarchie als Staatstyp zusammenwirkten. Bezugspunkte waren dabei am häufigsten die Rechteerklärungen und Verfassungen, die aus dem Revolutionszeitalter hervorgegangen waren (USA 1787/1789, Frankreich 1789, Polen 1791, die spanische Verfassung von 1812, die französische Charte constitutionnelle von 1814, etc.).130 Sinngemäß gilt das für Mittel- und Südamerika im Prozess der Unabhängigkeit von der spanischen bzw. portugiesischen Kolonialmacht und für die liberale Phase danach.131 Die soziale und politische Teilhabe am Liberalismus war in Europa (Adel, höheres Bürgertum) wie in Mittel- und Südamerika (Kreolen) sehr begrenzt. 128 Libretto, italienisch, von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa, deutsche Fassung von Gudrun Meier: http://www.murashev.com/opera/Tosca_libretto_German_Italian. 129 Bird (2000): Reinventing Voltaire, S. 6. 130 Den besten Überblick bildet das dreibändige Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte, in dem der Konstitutionalismus-Begriff, soweit zutreffend, bis 1870 angewendet wird: Brandt et al., Hg. (2006–2020). 131 Quiroz (2019): Hybris, colonialité et modernité, hier S. 34–35.

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Radikale Demokraten, die sich ohnehin mehr auf die Revolution denn auf die Aufklärung beriefen, gab es nur in kleiner Zahl, fast überall wurden sie verfolgt und in den Untergrund gedrängt. Die im 19. Jahrhundert stärker und einflussreicher werdenden Freimaurer*innen mussten sich anfangs mit dem Vorwurf der Verschwörung zur Revolution auseinandersetzen, aber spätestens ab der 1848er Revolution erhöhte sich ihr Gewicht, da sie in Frankreich, Spanien und Italien treibende Kräfte für den republikanischen Staat wurden. Abgeschwächt traf das auch auf andere europäische Länder zu. Die Freimaurer*innen (die Zahl der Frauen bei den Freimaurern nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich zu) standen in einer eigenen Tradition, die aber kaum von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu trennen ist.132 Speziell im Schul- und Erziehungswesen reichte die Aufklärung deutlich in das 19. Jahrhundert hinein.133 Überall wurde die Debatte über die Tunlichkeit der „Volksaufklärung“ nach 1800 munter weiter betrieben – wobei das Deutsche „Volksaufklärung“ einen emblematischen Begriff für die Debatte bereitgestellt hatte. Der Grundgedanke der Aufklärung, dass alle Kinder zumindest die Elementarschule besuchen können sollten, wurde erst im späten 19. Jahrhundert annähernd realisiert. Das heißt allerdings nicht, dass den Schüler*innen in den Schulbüchern so etwas wie „die Aufklärung“ nähergebracht wurde. In Frankreich, als Beispiel, vermittelte der berühmte „Lavisse“, das Schulgeschichtsbuch von Ernest Lavisse (1842–1922)134, von dem es verschiedene altersstufengerechte Ausgaben gab, einen Eindruck von den Missständen, aber auch Reformen im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Die Ausgabe für das zweite Jahr Geschichte an Lyzeen und Kollegien führte in § 280 in aller Kürze unter der Überschrift „Philosophes et économistes“ Voltaire, Montesquieu und Rousseau als die berühmtesten unter den „grands écrivains“ an, die die politischen Missstände kritisiert hätten. Als „économistes“ werden Quesnay, Gournay und Adam Smith genannt, der in Frankreich seine zweite Heimat gefunden habe. § 281 erläutert, dass alle Welt, nachdem „les philosophes“ und „les économistes“ ihre Ideen verständlich gemacht hätten, der Überzeugung gewesen sei, dass Frankreich schlechte Institutionen habe. Es seien deshalb große Veränderungen erwartet worden.135 Trotz aller Kürze wird den philosophes und den économistes, also den Physiokraten, eine konstruktive und historische Rolle zugeschrieben. Dass der Despotismus der Freiheit, die Privilegien der Gleichheit und Missbräuche aller Art der Gerechtigkeit weichen mussten, sei dann das Werk der Generalstände 1789 gewesen.136 132 Einen guten Überblick bietet: Hivert-Messeca (2014/2016): Histoire des franc-maçonneries européennes du XVIIIe siècle à nos jours. Bd. 2 und Bd. 3 (19.–20. Jahrhundert). 133 Ausführlich: Schmale/Dodde (1991): Revolution des Wissens? Der Band reicht bis in die Mitte der 1820er Jahre. 134 Nora (1997): Lavisse, instituteur national. 135 Lavisse (1884): La deuxième année d’histoire de Franc, §§ 280–281 (S. 266). 136 Ebd., „Dissertation“ – „La Royauté Française depuis le XVIe siècle jusqu’en 1789“, Nr. 10: „La banqueroute. la Révolution“ (S. 275).

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Im Vergleich zu den akademischen Texten in derselben Zeit war das sehr minimalistisch, der Eindruck der Epochenwende blieb ganz bei der Revolution, die keine Konkurrenz durch „die Aufklärung“ erhielt, da deren Existenz in keiner Weise angedeutet wird. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten Aufklärer Zutrittsrecht in die Schulen, in den Französischunterricht. Das machte die konkreten Autoren bekannter, unter denen sich wiederum Voltaire befand137, führte aber nicht automatisch zu einem Begriff von „der Aufklärung“. Am klarsten entwickelte sich eine fortgesetzte Praxis der Aufklärung in Bezug auf die jüdische Bevölkerung. Auch wenn es im 19. Jahrhundert immer wieder Rückschritte und Rückschläge (Pogrome, zunehmender Antisemitismus) gab, setzten die meisten Regierungen eine Politik der rechtlichen Emanzipation der Juden um. Die Grundidee kam aus der Aufklärung, es gab erste Reformen wie unter Josef II., das Gesetzes-Modell lieferten die Französische Revolution und Napoleon. Abgesehen von Frankreich war um 1800 aber meistenteils in Europa das Wesentliche erst noch zu tun. Gerade im Zarenreich geschah dies in enger Verbindung mit der jüdischen Aufklärung, die dort, im östlichen Teil Europas, ihre Blüte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte, nachdem sie „von Berlin über Ostpreußen, Kurland, Polen, Galizien ins Russische Reich“ gelangt war.138 Dort kombinierte sich das unmittelbare Fortleben der jüdischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit der ebenfalls aus der Zeit Katharinas II. stammenden ersten Reformpolitik in Bezug auf die jüdische Bevölkerung und reichte bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts. Die jüdische Aufklärung wirkte besonders im Bereich des jüdischen Bildungswesens. Im 19. Jahrhundert häuften sich in ganz Europa die Vereinsbildungen für alle möglichen Zwecke.139 Am deutlichsten wurzelten die Antisklaverei- und Friedensgesellschaften sowie die Frauen(rechts)vereine und die Freimaurerlogen in der Aufklärung und Revolution, insgesamt wurde diese Form der organisierten Zivilgesellschaft durch stetiges Wachstum charakterisiert. Die Antisklavereivereine, vor allem im Vereinigten Königreich, erreichten eine starke Stellung und konnten durchaus wesentlich zur sukzessiven Abschaffung der Sklaverei beitragen. Dieser Prozess, inklusive des Wirkens der Antisklavereivereine, startete in der Aufklärung und zog sich über Jahrzehnte ins 19. Jahrhundert hinein. Die Menschenrechte waren dabei nicht unbedingt das vorrangige Motiv140, sondern die selbstgestellte Aufgabe der Zivilisierung der Menschheit, die ihrerseits in der Aufklärung wurzelte. Im 19. Jahrhundert wurde diese Idee der „Zivilisierungsmission“ zunehmend verchristlicht und dadurch zunehmend der Aufklärung entfremdet.141 Während der Menschenrechtsbegriff im 19. Jahrhundert in den Hintergrund trat und teilweise durch andere grundrechtliche Begrifflichkeiten ersetzt wurde, 137 138 139 140 141

Bird (2000): Reinventing Voltaire, Kap. 5: „Voltaire in the classroom“, S. 164–197. Dohrn (2008): Jüdische Eliten im Russischen Reich, Zitat S. 122. S. als Überblick: Davies (2013): NGOs. Hoffmann, Hg. (2010): Moralpolitik, hier Einleitung des Herausgebers, S. 14 f. Aufschlussreich: Perkins (2004): Christendom and European Identity.

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stand ein Teil der zivilgesellschaftlichen Vereine in der Tradition der Menschenrechte der Aufklärung und der Revolution. Von Fall zu Fall wurde direkt an die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und/oder 1793 angeknüpft wie bei der ephemeren „Société des Droits de l’Homme“, die von 1832 bis 1834 in Paris existierte und selber eine modifizierte Menschen- und Bürgerrechtserklärung publizierte.142 Anders als in den USA bestand diesbezüglich weder in Frankreich noch sonst wo in Europa Kontinuität. Umso interessanter war die Auseinandersetzung mit der Verfassung der USA, die zumindest im Europa des 19. Jahrhunderts, vielleicht weniger in den USA selbst143, das Rechts- und Verfassungsverständnis der USamerikanischen Aufklärung gegenwärtig hielt. Die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 war ein recht philosophisches Dokument, das sehr gut die in der französischen Aufklärung entstandenen Rechts- und Verfassungslehren aufgenommen und kombiniert hatte. Es stellt sowohl ein resümierendes Dokument der (französischen) Aufklärung wie auch ein Dokument der Revolution von 1789 dar. Als Referenzdokument wirkte die Erklärung weit über Frankreich hinaus. Die nachfolgenden Revolutionen im 19. Jahrhundert von 1830 und 1848 knüpften ihrerseits sowohl an Inhalte der Aufklärung wie an die Revolutionspraxis an. Während die Auswirkungen der 1830er Revolution bescheiden blieben, entfaltete die 1848er Revolution breiteste Wirkung in Europa bis weit in den Osten und Südosten. Zu diesen Auswirkungen gehörte beispielsweise auch das Aufblühen der Friedensbewegungen, die nun eine internationale Vereinsstruktur entwickelten.144 Selbst wenn alle diese Revolutionen weltanschaulich auf die Aufklärung zurückgriffen, stand in der einsetzenden Erinnerungskultur oft vor allem das Revolutionäre im Vordergrund. Doch wurden die Aufklärer*innen, am wenigsten die Männer unter diesen, nicht vergessen. Sie erhielten, wie schon berichtet wurde, zahllose Denkmäler, von denen sie zum Teil nun im 21. Jahrhundert wieder heruntergestürzt werden. Ihre Schriften wurden in immer mehr Weltregionen rezipiert. Auf bestimmte Weisen ist „die Aufklärung“ global präsent, aller Kritik zum Trotz. Der Faden der Auseinandersetzung mit den Schriften der Aufklärer*innen riss niemals ab, er wurde von Intellektuellen gesponnen, von der Forschung im engeren Wortsinn, aus den Schriften wurde ein Erbe gezogen, das in der Geschichte der Menschenrechte und der Demokratie ab dem späteren 19. Jahrhundert eine zentrale Position einnahm und diese bis heute behalten hat.

142 Quellensammlung: Sauriac (1974): Les révolutions du XIXe siècle. Vol. 3: La Société des droits de l’homme et du citoyen 1832–1834. 143 Hoffmann, Hg. (2010): Moralpolitik, Einleitung, S. 16 f. 144 Überblick: Cortright (2010): Peace.

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Praktiken

GLOBALGESCHICHTLICHE ASPEKTE Die europäische Aufklärung hatte bis um 1800 auf die eine oder andere Weise global Fuß gefasst. Dabei handelte es sich nicht um kulturellen und intellektuellen Kolonialismus, sondern um kulturelle Transfers, Austausch, Aneignungen, Ausbildung eigenständiger Formen der Aufklärung wie es das oben anskizzierte Beispiel des südostindischen Thanjavur (Tanjore) unter Raja Serfoji II. vor Augen führt. In den Amerikas konnten sich, nachdem Haiti 1804 vorangegangen war, die Bestrebungen nach Unabhängigkeit von Spanien (zuerst Paraguay/1811, zuletzt Bolivien/1825) und von Portugal (1822 Brasilien) auf die dortigen Ausprägungen der Aufklärung stützen. Wie in Europa und anderen Weltregionen wurden während des ganzen 19. Jahrhunderts diverse Aufklärungsschriften erstmals übersetzt, eingehender rezipiert oder überhaupt für den eigenen Kontext entdeckt. Über Alexander von Humboldt, der 1799 bis 1804 in den Amerikas forschungsreiste, gelangten Teile der deutschen Aufklärung dorthin und „trugen nach der Erlangung der Unabhängigkeit zur Herausbildung eines eigenen nationalen lateinamerikanischen Selbstbewusstseins bei.“145 In Ägypten gab Napoleons Feldzug 1798 den Anstoß zu einem fast das ganze 19. Jahrhundert über anhaltenden Austausch zwischen regionalen Reformern und Modernisierern hier und Frankreich dort. Die eigentliche französische Besetzung endete nach gut zwei Jahren, die folgende „islamische Aufklärung“ des ägyptischen 19. Jahrhunderts entsprang keinem Kolonialismus, sondern einer eigenen Dynamik, die sich an den Kontakten mit den französischen Gelehrten entzündet hatte. Das Osmanische Reich sah sich seit dem gegen die russische Zarin Katharina II. 1768 verlorenen Krieg einem Modernisierungsdruck ausgesetzt, der durch die Auflösungserscheinungen innerhalb des Reichs im arabischen und ägyptischen Raum verstärkt wurde. In diesen und anderen Kriegs- bzw. Krisensituationen entstanden Modernisierungsdynamiken, bei denen die Auseinandersetzung mit europäischen (Militär-) Techniken, Wissenschaften, Medizin, aber eben auch politischer und Rechtsphilosophie in Gestalt bekannter Aufklärungsschriften wichtig war. Vielfach war es möglich, auf die Vermittlung von Fachwissen durch arabische Gelehrte im Mittelalter nach Europa und auf deren langfristige konstruktive Folgen hinzuweisen, sodass der Eindruck entstehen konnte, im Grunde wieder an Eigenes anzuknüpfen, was wiederum für den Erfolg wichtig war. Schriften der bekannten Aufklärer wurden im 19. Jahrhundert weltweit verbreitet. Konkret handelt es sich um Kulturtransfer und -austausch, um Aneignungsvorgänge, um Übersetzungsvorgänge, nicht nur im wörtlichen Sinne der Übersetzung von einer Sprache in die andere, sondern auch im Sinne der Übersetzung kultureller Kontexte in andere kulturelle Kontexte. Die Rezeption von Ideen und Texten gilt ebenso wenig als passiver Vorgang, dabei passiert Einiges, was 145 Krumpel (2004): Aufklärung und Romantik in Lateinamerika, Zitat S. 19.

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nicht folgenlos bleibt. Jeder Text, jede Idee, besteht nicht absolut, sondern immer nur in einem Zusammenhang von Rezeption, die wo immer in der Welt stattfinden kann. Der Verbreitung von Texten und Ideen der Aufklärung im 19. Jahrhundert und später nachzugehen, bedeutet folglich nicht, die Linien einer „erfolgreichen Zivilisationsmission“ (durch die Europäer*innen) nachzuzeichnen, sondern einem aktiven, reziproken, oft multidirektionalen kulturellen Geschehen nachzugehen. Es wäre falsch anzunehmen, dass sich Modernisierung jeweils und nur in Abhängigkeit von Europa und den USA – oder kurz: des Westens – ereignet hätte. Die Moderneforschung aus den letzten beiden Jahrzehnten richtet mehr als früher das Augenmerk auf die Komplexität und Multikausalität der Vorgänge.146 In diesem Zusammenhang ist auch Jürgen Osterhammels Diktum von der „Selbstverwestlichung“ (der Städte) in Kolonien von Interesse.147 Die angesprochenen Modernisierungen sind aufgrund ihrer Komplexität, Multikausalität und Multidirektionalität zudem mehr als nur „Selbstverwestlichung“ – der Anteil des Nicht-Westlichen wird oft zu wenig beachtet. Ähnlich wie in Europa vermengen sich die Begriffe „Moderne“ und „Aufklärung“. „Aufklärung“ verweist dabei nicht unbedingt auf die europäische Aufklärung, sondern bezeichnet wie im Falle Chinas und des arabischen Raums eigene Modernisierungsepochen. Werfen wir zuerst einen Blick auf die arabische Welt. Die kulturellen Veränderungen im arabischen Raum des 19. Jahrhunderts werden häufig mit dem Begriff „Nahḍa“ bezeichnet, der Mitte des 19. Jahrhunderts wohl entstand, aber erst gegen Ende des Jahrhunderts gängiger wurde.148 Früher wurde als Übersetzung der Wortbedeutung von „Nahḍa“ im Deutschen und anderen Sprachen „Renaissance“ benutzt, aber „Erwachen“ (awakening) oder auch „Aufklärung“ (enlightenment) trifft den Sachverhalt besser.149 Teilweise werden „Tanwīr“ (Erleuchtung; Aufklärung) und „Nahḍa“ auch gleichgesetzt, aber im Allgemeinen meint „Tanwīr“ eher intellektuelle Strömungen und Debatten seit den 1980er und 1990er Jahren.150 Hanssen und Weiss charakterisieren die Nahḍa-Epoche wie folgt: The Arabic revival and reform period of the long nineteenth century which Albert Hourani famously conceived as the liberal age and periodized from 1798–1939, has indeed functioned

146 Zum Forschungsstand vgl. Jaeger/Knöbl/Schneider, Hg. (2015): Handbuch Moderneforschung. Zur arabischen Welt vgl. darin: Krämer (2015): Arabische Welt. 147 Osterhammel (2009): Die Verwandlung der Welt, hier S. 424. 148 Hill (2020): Utopia and Civilisation in the Arab Nahda, hier S. 2–3; Hanssen/Weiss, Hg. (2016): Towards an intellectual history of the Nahda, Introduction. 149 Zum Begriff und zu den Wesensmerkmalen von „Nahḍa“ s. Tomiche (2012): Artikel „Nahḍa“. Vgl. außerdem: Glaß (2004): Der Muqtaṭaf und seine Öffentlichkeit. Aufklärung, Räsonnement und Meinungsstreit in der frühen arabischen Zeitschriftenkommunikation, hier Bd. 1, S. 2. 150 Kassab (2019): Enlightenment on the Eve of Revolution, passim.

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Praktiken as the foundational process of Arab modernity as well as a bedrock of cultural selfreflection.151

In der Praxis fand im 19. Jahrhundert eine Ablösung des arabischen Raums vom Osmanischen Reich statt, die mit Modernisierungsdebatten und der Entwicklung nationaler Vorstellungen einherging. Eliten im syrisch-libanesischen Raum waren dabei treibende Kräfte. Beispielhaft hierfür ist die zweibändige Untersuchung von Dagmar Glaß über die arabisch-sprachige monatlich erscheinende Zeitschrift al-Muqtaṭaf („Das Ausgewählte“ oder „Die Auslese“), die im Beirut des Jahres 1876 von Yaʿqūb Ṣarrūf und Fāris Nimr begründet wurde. 1885 wechselte der Standort nach Kairo. Die beiden Herausgeber hatten das Syrian Protestant College besucht, dem Vorläufer der American University of Beirut. Die Zeitschrift erschien letztmalig im Dezember 1952.152 Verhandelt wurden Wissenschaft und Religion sowie die arabische Sprache und ihre Modernisierung, es kam zu einer Darwinismus-Debatte, ebenso zu einer Debatte um die gesellschaftliche Position von Frauen und um ihre Rechte, an der sich auch Leserinnen beteiligten. Sozialismus, Ökonomie und Islam waren weitere wiederkehrende Themen.153 Diese Themenliste belegt, dass die großen Zeitthemen im Mittelpunkt standen, die auch den Westen beherrschten. Natürlich gab es Spezifika wie die arabische Sprache als Debattenthema: Inwieweit waren „Fremdwörter“ opportun? Sollte die lateinische Umschrift eingeführt werden? Darwinismus, Frauenrechte, Sozialismus wurden überall auf der Welt von denselben gesellschaftlichen Gruppen (Eliten) diskutiert. Die Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft und mit einzelnen Theorien wie denen Darwins wurden im Kontext verschiedener Religionen diskutiert. Im späteren 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg kam die Opposition gegenüber den europäischen Kolonialmächten, besonders gegen England und Frankreich, hinzu. Die „Aufklärung“ setzte zweifellos bei der Modernisierung westlicher Prägung an, aber es ging nicht um Kopie oder Nachahmung, sondern um Umbau und Adaptierung und um die Entwicklung einer eigenen arabischen modernen Literatur und Presse. Die Modernisierung der Sprache gehörte immer mit dazu. Es entstanden Gelehrte Gesellschaften, die sich u. a. mit Wissenschaft(en) und Kunst befassten.154 Klarerweise gab es zugleich religiöse Debatten um den Islam, der religiöse Reformismus kann jedoch vom durchaus säkularen Prozess „Nahḍa“ unterschieden werden.

151 Hanssen/Weiss, Hg. (2016): Arabic thought beyond the liberal age. Towards an intellectual history of the Nahda, Introduction, S. 1. Der Band setzt sich intensiv mit dem seinerzeit ‚epochemachenden‘ Buch von Hourani auseinander: Hourani (1962): Arabic Thought in the Liberal Age. 152 Glaß (2004): Der Muqtaṭaf und seine Öffentlichkeit, Bd. 1, S. 11–12, deutsche Übersetzung des Namens S. 11. 153 Die Debatten in der Zeitschrift sind Gegenstand des 2. Bandes von Glaß (2004): Der Muqtaṭaf und seine Öffentlichkeit. 154 Hill (2020): Utopia and Civilisation in the Arab Nahda, Kap. 1 mit Beirut im 19. Jahrhundert als Fallstudie.

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Nicht davon zu trennen ist die Übersetzung von Schriften der bekanntesten europäischen Aufklärer in verschiedenste Sprachen. Das gehörte zur, allgemein gesprochen, Modernisierung dazu. Voltaire beispielsweise erfreute sich in Ägypten ab den 1840er Jahren zunehmender Beliebtheit. Für die Bildungseliten waren nicht unbedingt Übersetzungen aus dem Französischen nötig, aber Übersetzungen ins Arabische erleichterten die Auseinandersetzung mit dem historischen und philosophischen Œuvre Voltaires sowie mit seinen Dichtungen fürs Theater.155 Rifāʿa Rāfiʿ al-Tahtāwī (1801–1873), Direktor der unter Muhammad ʿAlī 1835 gegründeten Sprachenschule, übersetzte verschiedene Autoren der französischen Aufklärung wie Montesquieu und Fénelon in Auszügen. Er hatte eine Zeit lang in Paris gelebt (1826–1831) und war mit dieser Literatur und der Sprache vertraut geworden. Seine Erfahrungen veröffentlichte er in einem Reisebericht (1834), der (erst) 1988 ins Französische übersetzt wurde und unter dem Titel „L’Or de Paris“ bekannt ist.156 Wie die Aufenthaltsdaten zeigen, war der Autor Zeuge der Revolution von 1830 und der kolonialen Besetzung Algeriens durch Frankreich. Er übersetzte und kommentierte, wie Udo Steinbach schreibt, die französische Verfassung von 1830 ins Arabische, er wurde „einer der geistigen Väter der Verfassungsentwicklung“ (in Ägypten).157 Al-Tahtāwī übersetzte zudem die Abhandlung „Principes du droit naturel“ von Jean-Jacques Burlamaqui, der den göttlichen Ursprung des Naturrechts nicht infrage stellte. Muhammad ʿAlī, der aus dem albanischen Raum stammte, war ein durchaus radikaler Modernisierer158, der in Persönlichkeiten wie Rifāʿa Rāfiʿ alTahtāwī Mitstreiter fand. Modernisierung Ägyptens bedeutete, die Grundlagen für den späteren Staat Ägypten zu legen und sich vom Osmanischen Reich, wenn nicht de jure, so doch de facto zu lösen. Die Briten beendeten 1882 diese vom Austausch mit Europa, insbesondere Frankreich, geprägte Phase, als sie sich in Ägypten als koloniale Besetzer etablierten.159 Der genannte Reisebericht ermöglicht weitreichende Einblicke in die Lektüre französischer Aufklärer durch den ägyptischen Gast.160 So ging es anderen Reisenden aus dem libanesisch-syrischen Raum in der ersten und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die von ihren Frankreichaufenthalten eine teils umfangreiche Kenntnis der Schriften Rousseaus, Montesquieus, Voltaires und anderer Autoren mitbrachten und diese in eigene politisch-soziale, auch moralische, Konzepte einbauten. Zu einer umfassenden Übersetzungstätigkeit der Schriften Rousseaus im

155 Maher (2006): Zur Voltaire-Rezeption im arabisch-islamischen Kulturraum am Beispiel Ägyptens. 156 al-Ṭahṭāwī, Rifāʿaẗ Badawī Rāfiʿ (1988): L’Or de Paris: Relation de voyage, 1826–1831. 157 Steinbach (2017): Die arabische Welt im 20. Jahrhundert, S. 29. 158 Udo Steinbach charakterisiert die Modernisierung als „rigoros, ja gewaltsam“: ebd., S. 15. 159 Zu den Modernisierungen in Ägypten bis 1882 s. Bellaigue (2018): Die islamische Aufklärung, Kap. 1 (Kairo). Zu Burlamaqui ebd., S. 88–89. 160 Guezmir (2017): Rifâʿa At-Tahtaoui et les Lumières françaises. Zur Lektüre Tahtaouis s. auch: Hatzenberger (2017): Tahtaoui, Rousseau, Islam et politique.

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arabischsprachigen Raum kam es allerdings erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.161 Gegen die britische Kolonialmacht erhob sich nicht zuletzt intellektueller Widerstand. Einer der wichtigsten Intellektuellen und Politiker Ägyptens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Aḥmad Luṭfī al-Sayyid (1872–1963), der nicht nur Aristoteles ins moderne Arabisch übersetzte, sondern auch ein intensiver Leser von Locke, Montesquieu, Rousseau, Voltaire und Kant gewesen war. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Bentham, Mill, Tocqueville und Spencer. Er wurde zum Anhänger eines liberalen demokratischen Systems, zugleich diskutierte er die Frage der nationalen ägyptischen Identität.162 Neben diesem Austausch mit Europa und der Aufklärung ging es zugleich um die Akzeptanz und Anerkennung eines eigenen Erbes, etwa das des Averroes/Ibn Rušd und der „hellenistischen Philosophen“ wie Ibn Sīnā (Avicenna) und Ibn Ḫaldūn. Besonders Averroes (1126–1198), der in Córdoba gewirkt hatte, war in Europa rezipiert (und umstritten) gewesen, zugleich gilt er schon lange unbestritten als ein philosophischer Vorläufer und im Zuge der Rezeption als Wegbereiter der Aufklärung. An Averroes ließen und lassen sich Grundsatzfragen von Vernunft, Glaube und Freiheit diskutieren. Generell „orientierten sich christliche wie auch muslimische Intellektuelle in Ägypten und im Libanon direkt an Europa“163, was zu den Merkmalen der Renaissance der mittelalterlichen islamischen Philosophie in diesem Raum gehört. Ernest Renans „Averroès et l’averroïsme“ (1852) spielte für die Renaissance Ibn Rušds in der arabischen Welt eine wesentliche Rolle.164 Zugleich stellte er dezidiert einen Zusammenhang zwischen der Aufklärung in Europa und Averroes her.165 Albert Houranis Buch von 1962 über die Nahḍa-Epoche, die er freilich nicht mit diesem Wort benannte, sondern als „liberal age“ bezeichnete, stellte eine Initialzündung für die Befassung mit dieser Epoche auch in Ägypten und anderen Ländern dar, die früher zum Osmanischen Reich gehört hatten. Nahḍa und Tanwīr blieben bis zum Arabischen Frühling Debattenthemen. Das Erbe der eigenen Aufklärung, in die sich die Rezeption von Texten der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts mischte, geht weit über die Frage des Erbes von Averroes und anderen ‚aufgeklärten‘ Autoren des Mittelalters hinaus. Im Kernland des Osmanischen Reichs, in Anatolien und besonders in Istanbul, folgten im 19. Jahrhundert mehrere Reformphasen aufeinander, unter denen die Tanzimatzeit (ab 1839) die bekannteste ist. Wie meistens ging es um eine breite Modernisierung, ohne die eine Selbstbehauptung des Reiches kaum mehr möglich schien. Die größten Hemmnisse gingen von religiösem Konservatismus aus,

161 162 163 164 165

Cheddadi (2017): Réception et traduction de Rousseau dans le monde arabe. Gershoni (2019): Artikel „Luṭfī al-Sayyid, Aḥmad“. Kügelgen (1994): Averroes und die arabische Moderne, S. 59. Zu allen diesen Aspekten s. ebd., Einleitung. Zu Renans Averroes-Buch vgl. ebd., S. 13. Vgl. Tamer (2011): Artikel „Averroism“, hier S. 7.

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trotzdem las man Voltaires „Candide“ (1759) und sogar d’Holbachs „Système de la nature“ (1770).166 Es gab Raum für radikaleres und materialistisches Denken wie im Falle von Beşīr Fuʿād (ca. 1852–1887): Er stammte aus einer in Istanbul lebenden georgischen Familie, hielt sich eine Zeit lang in Syrien auf, besuchte die Kriegsakademie und arbeitete nach einigen Jahren Militärzeit als Lehrer und Publizist. Er lernte Deutsch, Englisch und Französisch und übersetzte mehrere europäische Werke. Besonders interessierten ihn die französischen Aufklärer, 1886 veröffentlichte er ein Buch über Voltaire („Volter“), in dem er diesen Autor gegen Kritiker verteidigte.167 Im Osmanischen Reich fand eine intensive Auseinandersetzung mit den Institutionen und Schlüsselbegriffen des Konstitutionalismus statt, für die adäquate osmanisch-türkische Wörter gesucht wurden. Für etliche Begriffe diente die Französische Revolution als Vorbild. In der Untersuchung über die „politische Terminologie des Osmanischen Reiches der Tanzimatzeit“ befassen sich die beiden Autorinnen Heidemarie Doganalp-Votzi und Claudia Römer genauer mit folgender Begriffsauswahl: „Abgeordneter; Eigentum, Vermögen, Besitz; Freiheit; Gerechtigkeit; Gleichheit; Konstitution, Verfassung, Konstitutionalismus; Minister; Parlament, Nationalversammlung; Regierung; Sicherheit; Staat; Untertanen, Bürger; Vaterland, Vaterlandsliebe, Patriotismus; Volk, Staatsvolk, Nation; Zivilisation.“168 Nimmt man „Freiheit“ als Beispiel, bestätigt sich erneut, dass bei aller Vorbildwirkung der Französischen Revolution keine einfache Übernahme stattfindet, sondern eine Anverwandlung: Solange Freiheit im politischen Sinne noch als ein eher in Europa zu verzeichnendes Phänomen beschrieben und von manchen Autoren auch als nachahmenswert begriffen wurde, verwendete man das persische serbestīyet. Sobald hingegen versucht wurde, das Prinzip der Freiheit im politischen Sinne im Osmanischen Reich zu implementieren, so griff man auf das vom Arabischen abgeleitete ḥürrīyet zurück – und stellte somit die neue Idee sozusagen in die islamische Tradition.169

Mit der Modernisierung des Türkischen war die 1850 gegründete türkische Akademie betraut, die auch wissenschaftliche Werke aus anderen Sprachen ins reformierte Türkische übersetzte. „Dem Encümen-i dāniš kommt das unbestreitbare Verdienst zu, eine neue türkische Literatursprache geschaffen und der Popularisierung westeuropäischen Denkens in breiteren Schichten gedient zu haben.“170 Fontenelle, Fénelon und Voltaire wurden mit großem Erfolg übersetzt.171

166 Vgl. Bellaigue (2018): Die islamische Aufklärung, S. 131. 167 Zarcone (2012): Artikel „Beşir Fuad“. 168 Doganalp-Votzi/Römer (2008): Herrschaft und Staat. Politische Terminologie des Osmanischen Reiches der Tanzimatzeit, hier S. 88. 169 Ebd., S. 107. 170 Werner (1974): Tanzimat – Staatsreform und Aufklärung (münevver), Zitat S. 54. 171 Ebd., S. 54.

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Im Iran schöpften die Akteure der Verfassungsbewegung 1905–1909 aus der Aufklärung und stützten sich für die Verbreitung der Ideen auf iranische Freimaurerlogen, die in der Regel zu einer französischen oder britischen Obödienz gehörten.172 Die Übersetzungen von Texten aus der europäischen Aufklärung gingen generell kaum von den europäischen Kolonialmächten aus: Zum einen, weil es keine Kolonialmacht gab wie im Falle des Osmanischen Reichs oder Japans, oder noch keine, wie im Fall Ägyptens zwischen 1800 und 1882; zum anderen, weil es vielmehr oft individuelle Persönlichkeiten waren, die die Texte im Rahmen z. B. eines Frankreich- oder Englandaufenthaltes kennenlernten und auf die Situation ihres Herkunftslandes bezogen. Die Übersetzung von Schriften einiger Aufklärer stand nie für sich. Es gab andere Übersetzungen anderer Texte von Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts oder aus älteren Perioden. Neben literarischen und philosophischen Texten handelte es sich auch um wissenschaftliche Schriften. Es wurden zudem historische Dokumente wie die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung oder die französische Revolutionsverfassung von 1793 übersetzt – wie in Japan durch Nakae Chōmin (1847–1901), der außerdem Rousseaus „Contrat social“ und weitere Texte übersetzte.173 In Japan spielte im späten 19. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit der europäischen Aufklärung eine wichtige Rolle. Shingo Shimada schreibt von der „Übernahme der aufklärerischen Ideen aus Europa.“174 Eine Autorengruppe rund um die ephemere (1874–75) Zeitschrift „Meiroku zasshi“ „[machte] die Ideen der Aufklärung in der japanischen Gesellschaft bekannt […]; zu diesem Zweck wurden viele abstrakte Begriffe wie z. B. Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit […] ins Japanische übersetzt.“175 Der japanische Begriff für „Aufklärung“ lautet „keimō“, von dem her sich die Bedeutung „Aufklärung“ für das (alte) chinesische Wort „qimeng“ ableitete.176 In China wurde Rousseaus „Contrat social“ nach dem Krieg zwischen Japan und China (1895–1898) im Jahr 1898 übersetzt, und zwar höchstwahrscheinlich aus dem Japanischen, aufgrund der Übersetzung von Chōmin.177 1903 veröffentlichte Liu Shipei eine Adaptierung des „Contrat social“ auf der Grundlage des Konfuzianismus.178 Dieses späte 19. und frühe 20. Jahrhundert stellte in China 172 Ansari (2016): Artikel „Constitutional Revolution in Iran“. Zu den iranischen Freimaurern s. Algar (1970): An Introduction to the History of Freemasonry in Iran. 173 Dufourmont (2017): Un cas d’étude de transfert culturel. La traduction du Contrat social et des deux discours par Nakae Chômin (1847–1901). 174 Shimada (2015): Artikel „Japan“, Zitat S. 111. 175 Ebd., S. 111. 176 Schwarcz (1986): The Chinese Enlightenment, hier S. 30; S. 29–34 Abschnitt zum japanischen Transfer von Aufklärung nach China. Zum chinesischen Wort „qimeng“ s. Schefer (2012): Aufklärung. Eine kritische Betrachtung aus sinologischer Perspektive, S. 161, der ausdrücklich klarstellt, dass das Wort kein japanisches Lehnwort sei. 177 Wang (2017): Traduction et réinvention à travers les premières versions chinoises du Contrat social de Jean-Jacques Rousseau, hier S. 81–82. 178 Conrad (2012): Enlightenment in Global History, S. 1023 mit der Belegliteratur.

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eine Epoche der Modernisierung dar, die als „qimeng“ (Aufklärung) bezeichnet wird bzw. werden kann.179 Sie ist mit der „Neuen Politik“ der Qing-Dynastie (diese endete 1911) verbunden. Das Wort „qimeng“ sei seit 1879 belegbar.180 Chinesen studierten zunehmend im Ausland (Japan, USA) und transferierten Wissen. Solches kam außerdem über die Vertragshäfen der Kolonialmächte nach China, nachdem zuvor vor allem protestantische Missionare Mittler gewesen waren, die die Jesuiten der Frühen Neuzeit teilweise abgelöst hatten. Kang Youwei (1858– 1927) und Liang Qichao (1873–1929) hätten die Grundlagen eines Kanons chinesischer Aufklärungsliteratur [gelegt]. Kang Youwei forderte in seinem 1902 im indischen Exil abgeschlossenen und 1935 erstmals veröffentlichten Hauptwerk, dem Buch der Großen Gemeinschaft (datong shu), eine völlige Gleichstellung der Geschlechter und die Befreiung der Frauen aus patriarchalischen Zwängen. 181

Die Übersetzung von Schriften der europäischen Aufklärer stand bei der Modernisierung in China nicht im Vordergrund, das Augenmerk galt aktuellem wissenschaftlichen Wissen. Aber neben der schon genannten Übersetzung des „Contrat social“ aus 1898 kam es kurz danach (1901) zur „zusammenfassenden Übersetzung“ von Adam Smiths „Wealth of Nations“ durch Yan Fu (1853–1921) im „klassischen chinesischen Schreibstil; erst 1931 […] erschien … eine vollständige Übersetzung in Umgangssprache, verfasst von zwei marxistischen Ökonomen.“182 Derselbe Yan Fu übersetzte 1909 Montesquieus „Esprit des Lois“.183 Vera Schwarcz verband in ihrem Standardwerk über „Chinese Enlightenment“ (1986) die „chinesische Aufklärung“ eng mit der Studentenbewegung des 4. Mai 1919.184 Sie betonte die Vergleichbarkeit der Ausgangssituationen für die europäische Aufklärung des 18. Jahrhunderts und die chinesische des frühen 20. Jahrhunderts: Es ging um die Kritik feudaler und patriarchaler Strukturen, die Modernisierung verhinderten, es ging um das Recht, vom kritischen Verstand Gebrauch zu machen, es ging um eine grundlegende kritische Analyse des Konfuzianismus, es ging um Bildung und Ausbildung. Westliche Besucher und Zeitzeugen wie John Dewey äußerten sich aber mitunter sehr von oben herab, indem sie die Unausgegorenheit der Ideen und Ansätze aufspießten, andererseits wurde die Bewegung ernst genommen. Dewey schrieb: „And yet, the new culture movement provides one of the firmest bases of hope for the future of China.“185 Zurück zu den Übersetzungen im Allgemeinen, die selten Übersetzungen im Format 1:1 darstellen. Sie sind Adaptionen, Auswahlen, adäquate chinesische, japanische, arabische oder türkische Begriffe mussten damals erarbeitet werden. 179 180 181 182 183 184 185

Dabringhaus (2010): Aufklärung und Wissenschaft in China. Ebd., S. 277. Dabringhaus (2015): Artikel „China“, Zitat S. 62. Dabringhaus (2010): Aufklärung und Wissenschaft in China, S. 273. Ebd., S. 274. Schwarcz (1986): The Chinese Enlightenment. Dewey, John (1921): New Culture in China, in: Asia 21:7, S. 584 – zitiert von Schwarcz (1986): The Chinese Enlightenment, S. 28.

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Sie fanden nicht zwingend direkt aus der Originalsprache in die Zielsprache statt, sondern wurden übers Japanische ins Chinesische, vom Chinesischen ins Vietnamesische186 vermittelt; usw. Die Tätigkeit ist kreativ und ordnet sich überall in den Kontext innenpolitischer Debatten ein. Übersetzungen von Rousseaus „Contrat social“ hatten naheliegender Weise eine Stoßrichtung gegen autokratische oder despotische Herrschaft (Osmanisches Reich/Türkei, Japan, China) bzw. gegen die Kolonialmächte. Was Eddy Dufourmont am Beispiel der internationalen Verbreitung einiger Schriften Rousseaus ausführt, kann als allgemein zutreffend angeführt werden: Die Beweggründe der einen wie der anderen werden nicht unbedingt explizit gemacht, aber es scheint oft der Fall zu sein, dass der Wunsch, die Demokratie bekannt zu machen, mit dem Wunsch nach der Schaffung einer Nation verbunden ist. Die Beziehung dieser Persönlichkeiten zur Regierung ihres jeweiligen Landes spielt oft in die Entscheidung hinein, Rousseau zu übersetzen. Dieser Wunsch ging in den behandelten Ländern meist mit dem Ziel einher, sich der europäischen Invasion zu widersetzen. Die Rezeption Rousseaus mag gegen den Willen Frankreichs selbst erfolgt sein wie in Vietnam, während in Japan die Übersetzungen im Einvernehmen mit den französischen Republikanern angefertigt wurden. Die Akteure der arabischen Renaissance, die Anhänger der kemalistischen Republik, die japanischen, chinesischen oder vietnamesischen nationalistischen Liberalen – sie alle ließen sich von den politischen Texten Rousseaus inspirieren.187

DREYFUS-AFFÄRE Wenn wir uns heute sicher sind, dass Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte auf die Aufklärung zurückzuführen sind, hat das damit zu tun, dass diese Trias als Selbstverständlichkeit angesehen wird. Im 19. Jahrhundert und bis zum Zweiten Weltkrieg war das anders. Demokratie wie in Gestalt der Dritten Republik in Frankreich war bis zum Ersten Weltkrieg immer noch etwas Radikales, was viele Menschen nicht akzeptierten. Die meisten europäischen Länder stellten konstitutionelle Monarchien dar, keine Demokratien. Deshalb herrschte, wenn es um historische Identifikationen ging, die Identifizierung der Demokratie (Republik) mit Revolution vor, vor allem der Französischen Revolution. Die Amerikanische Revolution sowie die Revolutionen von 1830 und 1848 boten sich gleichfalls für 186 Zu Vietnam vgl. L’Aminot (2017): Rousseau au Viêt Nam. Tố Tâm et La Nouvelle Héloïse, hier S. 119. 187 „Les motivations des uns et des autres ne sont pas nécessairement explicites mais il apparaît souvent qu’à la volonté de faire connaître la démocratie s’ajoute une volonté de construction nationale, et le rapport de ces individus avec le gouvernement de leur pays respectif constitue souvent un enjeu pour justifier le choix de traduire Rousseau. Cette volonté s’accompagnant le plus souvent dans les pays traités d’un désir de résistance à l’invasion européenne, la réception de Rousseau a pu se faire contre la volonté même de la France (Vietnam), alors même qu’au Japon les traductions se faisaient en accord avec les républicains français. Que ce soient les acteurs de la renaissance arabe, les tenants de la république kémaliste, les libéraux nationalistes japonais, chinois ou vietnamiens, tous ont trouvé matière à inspiration dans les textes politiques de Rousseau.“ Vgl. Dufourmont (2017): Un nouveau „Problème Jean-Jacques Rousseau“. La diffusion des textes du citoyen de Genève hors d’Europe, Zitat S. 8.

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solche Zwecke an. Der Beitrag der Aufklärung zur Grundlegung von Demokratie stand nicht im Vordergrund der Wahrnehmung. Das wird leicht vergessen, wenn vom heute „gültigen Lehrsatz“ über den Zusammenhang von Aufklärung und Demokratie ausgegangen wird. Dieser Lehrsatz wird allerdings im Kontext der Entkolonisierung des Denkens infrage gestellt. Entscheidend für eine Renaissance der Aufklärung war in Frankreich die Dreyfus-Affäre.188 Im Dezember 1894 wurde der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus auf der Grundlage gefälschter Beweismittel als Spion verurteilt, anschließend degradiert und verbannt. Der Prozess fand in einem stark antisemitischen Umfeld statt. Von Anfang an gab es Zweifel an den Beschuldigungen und am Prozessverfahren selber. Viele Intellektuelle empörten sich gegen den Prozess und das Urteil und mobilisierten Gleichgesinnte, die bald als „Dreyfusards“ bezeichnet wurden. Es gelang die Wiederaufnahme des Prozesses 1899, doch verurteilte das Gericht Alfred Dreyfus erneut. Noch im selben Jahr wurde Dreyfus begnadigt, allerdings wurde ein Freispruch angestrebt, der 1904 vor dem Kassationsgerichtshof erreicht werden konnte. 1906 erfolgte die Rehabilitierung von Dreyfus. Im Januar 1898 hatte Émile Zola sein berühmt gewordenes „J’accuse!“ veröffentlicht, auch ihm wurde ein Prozess – wegen Diffamierung – angehängt. Im Zuge dieses Prozesses kam es im Februar 1898 zur Gründung der „Ligue pour la défense des droits de l’homme et du citoyen“, die sich ideell auf die Menschenund Bürgerrechtserklärung von 1789 und generell auf die Aufklärung bezog. Die Liga vertrat ein Verständnis von Republik, in der Gerechtigkeit, Friede, Menschenrechte, Freiheit und Recht herrschen sollten. Eben dieses Republikverständnis wurde von der extremen und antisemitischen Rechten bedroht. War es ein Zufall, dass etliche Mitglieder der neuen Liga aus Familien kamen, die bereits in der Französischen Revolution eine aktive revolutionäre Rolle gespielt hatten?189 Jedenfalls war die Tradition nicht nur ideell begründet, sondern bei manchen hatte sie auch biografische Hintergründe. Nicht von ungefähr bezogen sich Mitglieder der Liga z. B. auf Voltaire und den Fall Calas: Voltaire hatte sich für Toleranz und Glaubensfreiheit eingesetzt, nachdem der Protestant Calas zum Tode verurteilt und 1762 hingerichtet worden war. Sein Prozess war eine Farce gewesen, eine Inszenierung, die ohnehin wie aus der Zeit gefallen wirkte. Angeblich hatte er seinen Sohn ermordet, weil dieser zum Katholizismus habe übertreten wollen. Voltaire erreichte ein europaweites Echo – wie dann auch der Prozess von Alfred Dreyfus. 1763 veröffentlichte Voltaire den „Traktat über die Toleranz“ (Traité sur la tolérance). WorldCat führt diesen auch in andere Sprachen übersetzten Traktat als einen der häufigsten weltweit in Bibliotheken vorhandenen Titel Voltaires. 1898 veröffentlichte Raoul Allier „Voltaire et Calas. Une erreur judiciaire au XVIIIe siècle“, zuerst am 15. Januar 1898 in „La Revue de Paris“, zwei Tage nach 188 Zur Chronologie vgl. Cahm (1994): L’Affaire Dreyfus, S. 11–15: Chronologie 1894–1906. 189 Zum Folgenden s. Perry (1999): Remembering Dreyfus: The Ligue des Droits de l’Homme and the Making of the Modern French Human Rights Movement, hier besonders Kap. 1, passim.

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Zolas „J’accuse!“. Der Text erschien im gleichen Jahr auch als Buch (Paris: Stock). Der Protestant Allier gehörte der Liga an.190 Voltaires Einsatz für den neunzehnjährigen Chevalier de La Barre (publizistisch tat er das praktisch bis zu seinem Lebensende!) spielte bei der Liga ebenfalls eine Rolle. Der Chevalier war 1765 wegen diverser vermeintlicher blasphemischer Akte angeklagt worden, außerdem war bei ihm eine Ausgabe des auf dem Index stehenden „Dictionnaire philosophique portatif“ (1764) von Voltaire gefunden worden. Er wurde hingerichtet. 1906 nun wurde in der Rue Lamarck (ParisMontmartre) ein Denkmal für den Hingerichteten aufgestellt. Die unmittelbare Nähe zu Sacré Cœur unterstrich die kirchenkritische und antiklerikale Haltung der Republikaner. Bei der Einweihung des Denkmals war die Menschenrechtsliga vertreten. Insgesamt sollen rund 2.000 Personen teilgenommen haben.191 Ein Jahr später, 1907, wurde auch in Abbeville ein Denkmal für den Chevalier aufgestellt.192 Angesichts der Bedeutung und Verehrung, die Voltaire durch die Dritte Republik erfuhr, die sich eine revolutionäre Identität schuf, für die eben Voltaire und auch Rousseau besonders wichtig waren, war der starke Bezug auf Voltaire bei den Dreyfusards ein wichtiges Signal an alle Anhänger*innen der Republik. 1912 beging die Republik den zweihundertsten Geburtstag Rousseaus und nutzte dies, um nationale Einheit und Versöhnung zu inszenieren. So war auch der rehabilitierte Alfred Dreyfus zu den Feierlichkeiten geladen.193 Anlässlich der Urteile (Dezember 2020) im Prozess gegen die Hintermänner der terroristischen Attentate gegen Charlie Hebdo (Januar 2015) führte „Le Monde“ ein Interview mit dem Herausgeber des Magazins Laurent Sourisseau. Dieser verwies auf den Fall des Chevalier de La Barre und meinte: „Die Opfer von Charlie vom 7. Januar [2015; W.S.] sind die ersten Blasphemie-Opfer seit dem Chevalier de La Barre – der letzten Person, die in Frankreich wegen Gotteslästerung getötet, ja, hingerichtet wurde. Das war im Jahr 1766!“194 Victor Basch, der die Ligasektion in Rennes, wo der Dreyfus-Prozess wieder aufgenommen wurde, gegründet hatte und der später Präsident der Liga wurde, bezog sich gerne auf Immanuel Kant, besonders auf seine Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795. Ganz konkrete Schriften der Aufklärung begannen, eine aktive Rolle in der politischen Auseinandersetzung der Dritten Republik zu spielen. Die französische Liga für Menschenrechte, die bis heute besteht und aktiv ist, blieb den Rückbezügen auf verschiedene, nicht nur französische, Aufklärer auch nach 1900 treu.

190 Zur Publikation s. ebd., S. 25. 191 Rausch (2006): Kultfigur und Nation. Öffentliche Denkmäler in Paris, Berlin und London 1848–1914, S. 557–558. 192 Ebd., S. 560. 193 Goulemot/Walter (1997): Les centenaires de Voltaire et de Rousseau, S. 377. 194 „Les victimes de Charlie, le 7 janvier [2015; W.S.] sont les premières victimes d’un blasphème depuis le chevalier de La Barre. La dernière personne à avoir été tuée, exécutée, en France pour blasphème, c’était en 1766!“ Vgl. Le Monde, 19. Dezember 2020, S. 11.

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Just in die Zeit der Dreyfus-Affäre fiel die Publikation von Georg Jellineks Abhandlung „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte“ (Leipzig 1895).195 Jellinek setzte mit der Schrift seine bisherigen Gedanken über die „subjektiven öffentlichen Rechte“ (Menschenrechte) fort. Wohl ungewollt löste er eine heftige Kontroverse aus, in der auf der französischen Seite Émile Boutmy die Führung übernahm. Jellinek verfolgte den Typus der Rechteerklärung in den Protestantismus der frühen Neuzeit zurück, untersuchte den Einfluss der amerikanischen Erklärungen, ohne dabei jemals die fundamentale verfassungsgeschichtliche Bedeutung der französischen Erklärung infrage zu stellen. Dass es dennoch zu einer lauten Polemik kam, lag weniger an den tatsächlichen Ergebnissen seiner Studie als an der hochkochenden erbfeindschaftlichen Stimmung in der für Frankreich ohnehin diffizilen Phase der Dreyfus-Affäre und des Antisemitismus. Jellinek entstammte einer jüdischen Familie, sein Vater war Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien gewesen. Seine Schrift wurde ein wichtiges Signal für die im Entstehen begriffene internationale wissenschaftliche Disziplin „Geschichte der Menschenrechte“196, in der immer mehr Schriften der Aufklärung analysiert wurden. Die Dreyfus-Affäre war für Viele das prägende Ereignis ihrer Jugendzeit bzw. junge Erwachsenenzeit. Léon Blum, Jacques Maritain und andere, die (immer noch) zu den führenden französischen Köpfen nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten, hatten ihre menschenrechtliche Sozialisation durch die Dreyfus-Affäre erfahren. Das Centenaire der Französischen Revolution fiel in die Anfangsjahre der Dritten Republik in Frankreich und wurde genutzt, um die Republik ideologisch ganz entschieden auf die Basis der Revolution von 1789 sowie der Ersten Republik zu stellen. Die Erklärung erhielt dabei neues Gewicht. 197 Nun war die Dritte Republik aus der Niederlage gegen Preußen-Deutschland 1870/1871 entstanden, sodass der dezidierte Rückbezug auf die Französische Revolution nach dem militärischen Krieg nun den ideologischen Krieg zwischen den beiden erklärten Erbfeinden befeuerte. Das Deutsche Reich beispielsweise nahm wegen der eindeutigen Revolutionsbezüge nicht an der Weltausstellung von 1889 in Paris teil. Das Zusammentreffen der Renaissance der Déclaration bzw. etwas allgemeiner der „Prinzipien von 1789“ mit der ideologischen Konfrontation zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich gab deren Rezeption außerhalb Frankreichs eine weitreichende Bedeutung. Wer sich zustimmend auf die Déclaration/die „Prinzipien von 1789“ bezog, wendete sich mindestens implizit gegen die Bismarck’schen bzw. Wilhelminischen Prinzipien, die dem Deutschen Reich zugrunde lagen. 195 S. dazu Schmale (1997): Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit, S. 52–57. 196 Ebd., S. 57. 197 Es handelte sich allerdings nicht um einen geradlinigen Prozess; s. Schmale (2002): Die Dritte Republik, S. 11–17.

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Entscheidende Impulse dürfte die Praxis der Aufklärung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts generell durch die Menschenrechtsligen erhalten haben. Die Gründung der ersten Menschenrechtsliga 1898 in Frankreich zog bald weitere nach sich. Die Ligen bezogen sich zentral auf die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789; auch darin folgten sie dem französischen Modell. Der Aufstieg dieser Erklärung zu einem internationalen Referenzdokument war relativ schnell und direkt. In der europäischen Zivilgesellschaft, die Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Frieden wollte, und sich in Organisationen und Vereinen Strukturen gab, war die Déclaration ein Leitdokument. Neben den Menschenrechtsligen sind viele Freimaurerlogen zu nennen, zumal die meisten Ligen mit Unterstützung von Freimaurern gegründet wurden. Ligen und Logen hatten zusammen im Europa der Zwischenkriegszeit mehr als 700.000 Mitglieder, die zwar nicht pauschal in die Waagschale zu werfen sind, aber wir erreichen hier schon eine andere soziale Dimension als die kleiner hochintellektueller Netzwerke. Als repräsentativ für die Rezeption der Déclaration im ZwischenkriegsEuropa lässt sich das Statement eines Redners auf der Generalversammlung der Belgischen Liga für Menschenrechte 1934 ansehen: „Die Proklamation der Rechte des Menschen und des Bürgers ist zweifellos der höchste Ausdruck der intensiven intellektuellen Bewegung, die das gesamte französische 18. Jahrhundert durchzog. Zweifellos findet in ihr das Denken der Enzyklopädisten und Physiokraten seinen Widerhall.“198 Die Déclaration besaß freilich gravierende Defizite, die bereits in der Revolution kontrovers debattiert wurden. Es sei nur an Olympe de Gouges’ Kritik an der Erklärung als „Erklärung der Rechte des Mannes“, aber nicht aller Menschen, also gerade nicht der Frauen, erinnert. Diese in der Revolution selbst entstandene Kontroverse gehört zur Rezeptionsgrundlage dazu. Dazu gehört ebenfalls, dass es im 20. Jahrhundert umstandslos möglich war, den zentralen Begriff „homme“ als die allgemeine Bezeichnung für Mensch zu verstehen, sodass aus der Männerrechtserklärung von 1789 ohne die geringste sprachliche Änderung in der späteren Rezeption tatsächlich eine Menschenrechtserklärung werden konnte. Ihre Anschlussfähigkeit an andere Sichtweisen auf das 18. Jahrhundert und auf die Aufklärung blieb so erhalten. Wo immer es im Kern um die Déclaration ging, lagen Wissenschaft und Politik eng beieinander, vermischten sich wissenschaftlicher und politischer Diskurs. Das war noch so 1989, als weltweit aus Anlass des Bicentenaire der Französischen Revolution nicht zuletzt über diese Erklärung kontrovers debattiert wurde. In der Zwischenkriegszeit existierten rund 30 gut untereinander vernetzte Menschenrechtsligen, denen um 1930 ca. 210.000 Mitglieder angehörten, die 198 „Sans doute la proclamation des droits de l’homme et du citoyen constitue-t-elle l’expression suprême de l’intense mouvement intellectuel qui traversa tout le XVIII e siècle français. Sans doute y trouve-t-on l’écho de la pensée des encyclopédistes et physiocrates.“ Vgl. La Contemporaine. Bibliothèque, Archives, Musée des Mondes Contemporaines: F delta res 0798/ 58, Portfolio Belgische Liga, Typoskript, Kopie auf Karbonpapier, 8 Seiten, ohne Autor.

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meisten davon zählten allerdings zur französischen Liga.199 Die Menschenrechtsligen wirkten wie ein Verstärkungsraum der Aufklärung, auch wenn das nicht zu den ausdrücklich formulierten Zielen gehörte.200 Victor Basch, Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Sorbonne und Präsident der französischen Liga für Menschenrechte ab 1926, bezog sich in seinen publizistischen Beiträgen gerne auf Kant. 1920 schrieb er: „Die Idee des Völkerbundes selbst ist sehr alt: Sie […] erhielt ihre endgültige Form in Kants Aufsatz über den Ewigen Frieden.“201 1935 schrieb er in einer Zeitschrift für Erzieher: Es gibt nur einen Weg für eine glückliche Lösung: den, den schon die Griechen vorsahen, als sie ihre Amphiktyonien einrichteten; den, den von allen Denkern der deutsche Philosoph Immanuel Kant am besten definiert hat. Es wäre schön, wenn die wichtigsten Seiten seines Textes über den Ewigen Frieden am 11. November202 in allen Schulen Frankreichs gelesen und kommentiert würden.203

An vielen Gründungen von Menschenrechtsligen waren Freimaurer maßgeblich beteiligt gewesen. Ligen und Freimaurerlogen orientierten sich an der Déclaration von 1789 und subsidiär jener von 1793. Für die Freimaurer besaßen außerdem die Statuten des James Anderson von 1723 eine hohe, nicht zuletzt moralisch verbindliche Bedeutung. Wir haben es im Fall der beiden Formationen mit einem ausgesprochenen Verstärkungsraum für eine gewiss auf bestimmte Inhalte reduzierte, aber eben doch Aufklärung zu tun. Für die Freimaurerlogen war der Bezug auf die Aufklärung in gewissem Sinn alltäglich, wie es das Beispiel der Wiener Großloge zeigt. Die „Wiener Freimaurerzeitung“ lieferte ihren Lesern in der Zwischenkriegszeit regelmäßig Artikel über Aufklärer, runde Geburts- und Todestage boten sich dafür an. Bevorzugt wurden Aufklärer, die auch selbst Freimaurer gewesen waren. In den ersten Nachkriegsjahren enthielt jede Ausgabe der Zeitung einen historischen Kalender zu einschlägigen Persönlichkeiten und Ereignissen u. a. des 18. Jahrhunderts, die einen Bezug zur Freimaurerei hatten. Inhaltlich war das weniger selbstreferentiell, als es klingen mag, die Artikel boten die Gelegenheit, wichtige Aspekte der Menschenrechte und der Demokratie aufzugreifen.204

199 Überblick: Schmale/Treiblmayr, Hg. (2017): Human Rights Leagues in Europe (1898–2016). 200 Ausführlicher: Schmale (2019): Legacy of the Enlightenment. 201 „L’idée même de la Société des Nations est très ancienne: elle […] a reçu sa forme définitive dans l’Essai sur la Paix perpétuelle de Kant.“ Vgl. Basch (1920): La Société des Nations, hier S. 11. 202 11.11.1918, Ende des Ersten Weltkriegs in Frankreich. 203 „Une seule voie de salut: celle qu’avaient entrevue déjà les Grecs, en instituant leurs amphictyonies, celle que, parmi tous les penseurs, a le mieux définie le philosophe allemand Emmanuel [sic!] Kant. Je voudrais que, le 11 Novembre, fussent lues et commentées, dans toutes les écoles de France, les pages maîtresses de son essai sur la Paix Perpétuelle.“ Vgl. Basch (1935): La Paix perpétuelle, règne de la raison et de la justice, S. 246. 204 Wiener Freimaurerzeitung, 1. Jahrgang 1919 bis 19. Jahrgang 1937, herausgegeben von der Großloge Wien.

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Die Aufklärung wirkte aber auch dort nach, wo die Debatte um die Entkolonialisierung des Denkens zu einer kritischeren Sicht der Aufklärung geführt hat. Das gilt z. B. für das aufklärerische Zivilisationskonzept, das zur Rechtfertigung von Kolonialismus herangezogen wurde. Die Grande Loge de France hatte für den Jahreskonvent 1927 als eines von mehreren Themen „Les colonies dans une démocratie“ gewählt. Für die Ausarbeitungen der lokalen Logen spielte die geschichtliche Betrachtung des Kolonialismus eine wichtige Rolle. Dabei folgte man vielfach der in der Aufklärung entwickelten Zivilisationserzählung. Die europäische Zivilisation sei die am weitesten fortgeschrittene und habe die Aufgabe, die anderen Zivilisationen an die Hand zu nehmen bzw. überhaupt erst zu zivilisieren. Die im Kolonialismus herrschende Gewalt wird von den Logenmitgliedern eigentlich immer deutlich verurteilt, manche sprechen sich auch grundsätzlich gegen Kolonialismus aus. Es ist weniger die Zivilisationserzählung des 19. Jahrhunderts denn die des 18. Jahrhunderts, auf die sie sich stützen.205 IDENTITÄTSVERGEWISSERUNG IM ZWEITEN WELTKRIEG Als Europa in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg im Totalitarismus unterzugehen drohte, stärkten sich Menschen mithilfe der Lektüre von Aufklärungsschriften. Ob dies ein breites gesellschaftliches Phänomen war, lässt sich mangels entsprechender Forschung nicht sagen. Leichter zu sagen ist es in Bezug auf die Intellektuellen: Wir werden später Paul Hazard kennen lernen, dem während des Zweiten Weltkriegs die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Aufklärung viel Hoffnung auf ein besseres Europa gab. Sein Landsmann Pierre Naville (1904–1993), der Trotzkist war und dem „Parti ouvrier internationaliste“ bis 1939 vorstand, schrieb während seiner Gefangenschaft in Ostfrankreich unter der deutschen Besatzung Tagebuch. Darin notierte er auch Gedanken über die Encyclopédie, Rousseau und andere Aufklärer. Die Artikel in der Encyclopédie müssten als die „wahre Offenbarung“ des 18. Jahrhunderts gelesen werden. 1943 veröffentlichte er bei Gallimard ein Buch über den Baron d’Holbach: „D’Holbach et la philosophie scientifique au XVIIIème siècle“.206 Er sah zwischen der Situation des Intellektuellen im besetzten Frankreich und der des Barons d’Holbach, der seine materialistische Philosophie überwiegend im Geheimen verfasste und anonym publizierte, Parallelen. Er bezeichnete ihn als „combattant de premier rang“.207 „Le Monde“ berichtete in der Ausgabe vom 14. Mai 2021 über einen Fund von 98 Fotografien, die die Razzia vom 14. Mai 1941 in Paris dokumentieren und 205 Ausführlich: Schmale (2019): For a Democratic „United States of Europe“ (1918–1951), Kap. II. 206 Erweiterte Neuausgabe 1967, ebenfalls bei Gallimard, Paris (Bibliothèque des Idées). 207 Zu Naville: Pellerin (2009): Les philosophes des Lumières dans la France des années noires, S. 153–154.

Identitätsvergewisserung im Zweiten Weltkrieg

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die an das Mémorial de la Shoah (Paris) übergeben wurden. Die Pariser Polizei nahm an diesem Tag im Auftrag der deutschen Besatzer über 3.700 jüdische Männer fest, die in Frankreich Zuflucht gefunden hatten. Sie kamen aus Österreich, Polen oder der Tschechoslowakei, sie wurden in der Sporthalle Japy im 11. Arrondissement zusammengetrieben. Beim Fotografen handelte es sich vermutlich um den Deutschen Harry Croner, der für die Propagandakompanie in Paris arbeitete. Die Männer wurden anschließend in Lager in Frankreich verbracht und von dort nach Auschwitz und in andere Konzentrationslager. „Le Monde“ sprach mit einigen überlebenden Angehörigen, darunter mit zwei Töchtern eines polnischen Juden. Ihr Vater habe Frankreich immerzu als „patrie de Voltaire, Diderot, Zola et Rousseau“ gelobt, so als seien diese seine lebenden Freunde, und so sei er der Vorladung auf den 14. Mai ohne Misstrauen gefolgt. Als im Juli 1942 auch Mutter und Töchter verhaftet wurden, habe die eine Tochter in ihrer Angst die Mutter am Rockzipfel gezogen und sie bekniet „Appelle Voltaire, Diderot, Zola!“208, da sie dachte, das seien reale lebende Freunde, die helfen könnten. Generell spielte der affirmative Bezug auf die Aufklärung in der Résistance im von Deutschland besetzten Frankreich eine spürbare Rolle, zugleich reklamierten aber auch Kollaborateure und Vichy-Anhänger Inhalte und Autoren der Aufklärung für sich. Dies erklärt sich zum Teil daraus, dass in allen Lagern die Mitglieder von ihrer politischen Herkunft her betrachtet sehr divers waren und dass die Nazis wenig Interesse daran zeigten, Editionen von Schriften der Aufklärer und intellektuelle innerfranzösische Debatten zu unterbinden, solange sie keine direkten Angriffe, wie Pascale Pellerin wiederholt feststellt, auf die deutschen Okkupanten darstellten.209 Schauen wir auf den Romanisten Victor Klemperer (1881–1960), der während seines ganzen Lebens Tagebuch schrieb, sodass wir über ihn gut informiert sind. Die Nationalsozialisten verfolgten ihn und seine (erste) Frau Eva, beide überlebten. Klemperer kam aus einer jüdischen Familie, sah sich selber aber nicht in einer Perspektive jüdischer Identität, war auch zum Protestantismus übergetreten, seine Frau war Protestantin. Klemperer, der an der TU Dresden lehrte, wurde einem Berufsverbot unterworfen, seine Arbeitsmöglichkeiten wurden nach und nach vollständig unterbunden, trotzdem arbeitete er an einer großen Geschichte der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts und an anderen Themen des 18. Jahrhunderts weiter, solange es irgendwie ging. Seine Tagebücher aus den 1930er Jahren und aus der Kriegszeit haben dies genau dokumentiert. Die Auseinandersetzung mit dem 18. Jahrhundert half ihm dabei, intellektuell und moralisch die Zeit der Verfolgung durchzustehen. Zugleich war diese Auseinandersetzung kritisch: Mit der Sprache Rousseaus ging er in „LTI“ (Lingua Tertii Imperii) zum Teil hart ins Gericht, weil er bei Rousseau Vorwegnahmen von Denkfiguren entdeckte, die seiner Einschätzung nach auch die Nationalsozialisten benutzten. Klemperer wurde nach dem Krieg wieder in seine Dresdener Professur eingesetzt, 208 La „rafle du billet vert“ ressort des limbes, in: Le Monde, 14. Mai 2021, S. 26–27. 209 Pellerin (2009): Années noires, passim.

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seine Literaturgeschichte und weitere Manuskripte konnten in der DDR gedruckt werden.210 Tagebücher von Inhaftierten in Dachau oder anderen Konzentrationslagern lassen erkennen, dass Autoren der Aufklärung als Orientierung dienen konnten. So schrieb Nico Rost, jüdischer Niederländer, über Goethe in seinem Dachauer Tagebuch.211 Repräsentanten der Aufklärung wie Newton, Hume, Kant und andere standen bei Karl Raimund Popper (1902–1994), dem Autor von „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, im Zentrum seiner Gedanken. Poppers Eltern waren vor seiner Geburt vom Judentum zum Protestantismus konvertiert. Popper wurde 1902 in Wien geboren, er emigrierte 1937 zunächst nach Neuseeland. 1946 erhielt er eine Professur an der London School of Economics. Popper stellte der Einleitung in sein Buch über die „Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ein Kant-Zitat voran. Das Buch erschien 1945, und zwar zuerst auf Englisch.212 Das Vorwort ist auf Christchurch (Neuseeland) 1943 datiert. Wenige Bücher der Nachkriegszeit haben eine ähnlich durchschlagende und weltweite Rezeption erfahren wie dieses. Popper, der mit seiner Frau Wien 1937 verlassen und am Canterbury University College in Christchurch einen Lehrauftrag angenommen hatte, gibt als auslösendes Motiv für die Schrift den „Anschluss“ Österreichs 1938 an. Er bezeichnete sich später, z. B. 1958 in einem Vortrag auf dem Europäischen Forum Alpbach (Österreich), selber als einen Nachzügler der Aufklärung, immer wieder kam er auf Immanuel Kant zurück.213 In „Offene Gesellschaft“ spielt Kant vor allem im zwölften Kapitel („Hegel and the New Tribalism“) eine Rolle, das Kapitel zählt noch zu den argumentativen Vorbereitungen der anschließenden Hegel- und Marxkritik. Die deutsche Erstausgabe von 1957 war „dem Andenken Immanuel Kants, des Philosophen der Freiheit, der Menschlichkeit und des Gewissens“ gewidmet. „Wer dieses Buch liest“, heißt es weiter, „wird sehen, wieviel der Verfasser Kant zu verdanken hat.“214 Schon 1954 (12. Februar) hatte sich Popper im britischen Rundfunk ganz Kant anlässlich seines 150 Todestages zugewandt: „Poppers Gedächtnisrede war sein erstes großes Bekenntnis zu Kants Aufklärungsphilosophie, die er ab jetzt ins Zentrum seines politischen Denkens stellte.“215 210 Klemperer (1995): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945; Klemperer (1954–1966): Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert; Klemperer (1947): LTI – Notizbuch eines Philologen. Inzwischen zahlreiche Neuauflagen, zuletzt Ditzingen: Reclam 2020. Zu Klemperers LTI gibt es eine reiche Forschungsliteratur, auf die hier aber nicht einzugehen ist. 211 Vgl. Sepp (2010): Humanität und Deutschtum, hier S. 119. Sepp bezieht sich auf: Rost (2001): Goethe in Dachau. 212 Popper (1945): The Open Society and Its Enemies. 213 S. z. B. Salamun (1997): Das Aufklärungs- und Vernunftverständnis im kritischen Rationalismus, bes. S. 83–84. 214 Hier zitiert nach Geier (2012): Aufklärung, S. 290. 215 Ebd., S. 290.

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Es fällt auf, dass im gesamten 20. Jahrhundert krisenhafte Situationen offenbar dem Rückbezug auf die Aufklärung förderlich gewesen sind. In Krisen versichert man sich, sei es individuell, sei es kollektiv-gesellschaftlich, der eigenen Identität. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich beim Rückbezug auf die Aufklärung um die Artikulation, wenn nicht Aneignung einer Identität bzw. der Elemente einer Identität handelt. Das war und ist nicht exklusiv europäisch. Das universalistische Selbstverständnis der Aufklärung und die kosmopolitische Grundeinstellung der République des Lettres als Sozialkörper der Aufklärung wurden zwar in Europa nicht zwingend wörtlich genommen, aber die Steuerung der in diesen Eigenschaften liegenden globalen Attraktivität der Aufklärung lag nicht in den Händen der Europäer. Der Rückbezug auf die Aufklärung war bereits in der Zwischenkriegszeit stark präsent, Aufklärung als Identität scheint mir jedoch überwiegend ein Nachkriegsphänomen zu sein. Die Kriegserfahrungen sind dafür entscheidend gewesen. Gewiss, man nutzte nicht schlicht „die Aufklärung“, sondern ein Substrat daraus, das als „die Aufklärung“ bezeichnet wurde. Es wurde aus Montesquieu und Kant für den Rechtsstaat, aus Voltaire und Lessing für die Toleranz, aus der Menschenund Bürgerrechtserklärung von 1789 für die Menschenrechte – und so weiter – gewonnen. EUROPÄISCHE INTEGRATION UND AUFKLÄRUNG Überspitzt könnte man die Frage stellen, ob die europäische Integration nicht (auch) ein Kind der Aufklärung sei. Grundlegende Konzepte, die dem Begreifen der Welt dienten, wie „Kultur“ bzw. „Zivilisation“, waren in der Aufklärung neu geprägt worden und standen weiterhin zur Verfügung. An der Überzeugung, dass die europäische Zivilisation besonders weit entwickelt sei, wurde auch nach 1945 in Europa festgehalten. Wenn trotz der beiden Weltkriege etwas übrig geblieben war, das Europa genannt werden konnte und das als Einheit interpretiert wurde, dann war es Europa als Kultur, als europäische Kultur, als jene europäische Kultur, die der Barbarei des Nationalsozialismus und des Faschismus widerstanden hatte. Europa als Kultur im Singular war und ist ein direktes Erbe der Konzeptbildung in der Aufklärung. Überlegungen zu gemeinsamen europäischen Institutionen, die der gemeinsamen Beratung, der Verhinderung von Krieg sowie der Wahrung des Friedens und der Streitschlichtung zwischen den europäischen Mächten dienen sollten, reichen weit zurück, bis in das Spätmittelalter. Im späten 18. Jahrhundert rückte jedoch die Idee einer Staatenvereinigung stärker in den Mittelpunkt. Konkretisiert wurde sie mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Natürlich hatte dies Rückwirkungen auf die Diskussionen in Europa, auch wenn es eine gewisse Zeit brauchte, bis in Europa ausdrücklich über die Idee Vereinigter Staaten von Europa diskutiert wurde. In der politischen Philosophie der Aufklärung fand ein Paradigmenwechsel statt – vom „pactum subiectionis“ zum „pactum unionis“, der bei Rousseau und

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Kant nachvollzogen werden kann.216 Das bezog sich nicht nur auf die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Herrschaft, sondern ebenso auf die Beziehungen zwischen Staaten. Kant arbeitete, nach Wolfram Försterling, mit der Denkfigur des „Foedus Amphictyonum“. Ähnlich hatte das auch der oben zitierte Victor Basch gesehen. Försterling griff auf diese Figur 2016 zurück, um die Rechtsnatur der EWG zu beschreiben.217 Von diesem Prinzip sei dann allerdings auf dem Weg zur EU und mit der EU selber abgewichen worden.218 Freilich gab es für den EWG-Vertrag keinen wörtlichen Rückgriff auf Kant. Der historische Zusammenhang besteht eher in Gestalt der Ausformung der Idee des „Völkerbunds“ bzw. „Staatenvereins“ im Lauf des späten 18. und vor allem des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zweifellos ist der angesprochene Paradigmenwechsel sowohl in Bezug auf die innere Verfassungsausgestaltung der Nationalstaaten als auch der rechtlichen Beziehungen zwischen Staaten unverändert wirksam gewesen. „Vereinigte Staaten von Europa“ konnte sich zudem nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Schlüsselbegriff für Konzepte der europäischen Einigung halten, hatte aber viel Konkurrenz: „Europäische Union“, „Europäische Gemeinschaft“ und mehr. In Texten der Föderalisten in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre stehen gelegentlich Verweise auf die Gründung der USA oder auf diesen oder jenen Aufklärer, aber Aufklärung und USA stehen hinter den praktischen Erwägungen und Vorschlägen für ein geeintes Europa zurück. Es wäre übertrieben zu behaupten, die gegründeten Institutionen – Europarat, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, wenig später die EWG – seien in vollem Bewusstsein eines Rückbezugs auf die Aufklärung entstanden. Was man gewiss unterstellen kann, ist eine gewisse Pfadabhängigkeit der Idee europäischer Einheit von der Aufklärung. Weitreichenden Einfluss erlangte, wie bekannt, Kants Entwurf zu einem „ewigen Frieden“, weil er sowohl für die Völkerbundidee wie die UN-Idee intensiv rezipiert wurde. Die Idee Vereinigter Staaten von Europa wurde frühzeitig mit dem Ideal eines Weltstaates oder wenigstens eines Welt-Staatenbundes verknüpft. Die Friedensidee selber, die in den Nachkriegsdebatten zur europäischen Einigung eine zentrale Rolle spielte, ist alt und konnte sich auf viele Vorbilder berufen, darunter die Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Friedensbewegung, hatte aber im 18. Jahrhundert mehr denn früher einen zentralen Stellenwert in der politischen Philosophie erhalten: Zuerst durch die Abhandlung des Abbé de Saint-Pierre von 1712/13, in der Mitte des Jahrhunderts mittels der konzisen Zusammenfassung der umfangreichen Schrift des Abbé durch Rousseau219 und schließlich prägend für die Zukunft durch Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, der Dutzende von kleineren und größeren Schriften um und nach 1800 folgten. 216 Vgl. Reinalter, Hg. (1997): Die neue Aufklärung, hier S. 67. 217 Försterling (2016): Aufklärung oder Unmündigkeit. Wie weit strahlt das Licht der Vernunft?, Teil B, Kap. III.3. 218 Ebd., Teil B, z. B. Kap. III.6. 219 Details bei Heater (2005): Europäische Einheit.

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Bestimmte Verfahrensweisen, die die Föderalisten nach 1945 für den Weg zu einem europäischen Bundesstaat erörterten, lehnten sich offenbar an das französische Modell von 1789 an. Der Mouvement européen, um ein Beispiel zu geben, setzte ein Comité de Juristes ein, das sich am 24. Mai 1952 in Comité d’Études pour la Constitution européenne umbenannte – übrigens auf Vorschlag von Henri Frenay, der zu den Führungspersönlichkeiten der Résistance gehört hatte. Am Beginn des Wegs zu einem europäischen Bundesstaat sollte eine Constituante ihre Arbeit aufnehmen und eine Verfassung verabschieden, in die die Menschenrechte hineingehörten.220 Freilich war das in den Nachkriegsstaaten, die dann die Europäische Gemeinschaft bildeten, durchaus ein Standardverfahren, aber dieser Standard war 1789 entwickelt worden. Ergänzend sei der europäische Verfassungskonvent von 2002/2003221 erwähnt, auf Französisch Convention européenne. Im Französischen ist der historische Rückverweis auf die Convention von 1792 geradezu selbstverständlich, und keineswegs zufällig kam für eine Gruppe von Konventsmitgliedern der Name „Jakobiner“ auf. Überhaupt fällt in den Zeitungen der vermehrte Bezug auf die Jakobiner, ob zustimmend oder kritisch, in diesen Jahren auf. Stellt man die Frage, was es möglich machte, dass sich ab 1945 Politiker mehrerer Staaten, die sich kurz zuvor im Krieg miteinander befunden hatten, auf den Prozess der europäischen Integration verständigen konnten, dann besteht ein Teil der Antwort in den politischen Zwängen und angezeigten Utilitarismen, ein anderer Teil besteht aber in dem gemeinsamen Begriff von Europa als Kultur bzw. Zivilisation im Singular. Der Zivilisations-, bzw. im Deutschen, Kulturbegriff ist in den Quellen sehr präsent, wird allerdings von der Integrationsforschung oft übersehen. Auch diesbezüglich führt der Pfad von der Aufklärung durch die Zwischen- in die Nachkriegszeit, weil das Konzept von Europa als Kultur im Singular erst in der Aufklärung entwickelt wurde. Jörg Fisch hat die Begriffsbildung im 18. Jahrhundert in seinem Artikel „Zivilisation, Kultur“ in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ sehr eindrücklich herausgearbeitet.222 Ohne die Überzeugung, dass das Beständige, das den Krieg Überdauernde an Europa die europäische Kultur (im Singular) sei, wäre die Verständigung miteinander sehr viel schwieriger gewesen. Zugleich dürfte diese geradezu unerschütterliche Überzeugung wohl dazu beigetragen haben, dass die Kritik an der Aufklärung wie bei Horkheimer und Adorno anfangs nur begrenzte Wirkung entfaltete. Auffällig ist die prominente Stellung, die dem sogenannten kulturellen Erbe zugewiesen wurde. In der Präambel des Brüsseler Pakts vom 17. März 1948 heißt es bei der Aufzählung der Gründe für den Pakt, die vertragschließenden Parteien wollten reaffirm their faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person and in the other ideals proclaimed in the Charter of the United Nations; To fortify and 220 Mouvement européen (1952): Projet de statut de la communauté politique européenne. 221 http://european-convention.europa.eu/DE/bienvenue/bienvenue390c.html?lang=DE. 222 Fisch (1992): Artikel „Zivilisation, Kultur“.

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Praktiken preserve the principles of democracy, personal freedom and political liberty, the constitutional traditions and the rule of law, which are their common heritage; […]. 223

Das schon zitierte Comité d’Études pour la Constitution européenne diskutierte in der Sitzung vom 5. Juli 1952 in Paris den Wortlaut einer Präambel der Verfassung. Auch da ging es um die Beweggründe für eine europäische Verfassung. U. a. wurde vorgeschlagen, darin den folgenden Satz aufzunehmen: „Nur durch die Union unserer Völker […] können wir das kulturelle Erbe, das wir von unseren Vorfahren erhalten haben und das den Zement dieser Union bildet, erhalten und Früchte tragen lassen.“224 Die führenden Europapolitiker der Zeit waren im bildungsbürgerlichen Sinn gebildet. Grundsatzreden vor Versammlungen boten gute Gelegenheiten, auf das Bildungskapital zurückzugreifen und neben historischen Ereignissen auch Namen aus der Geschichte und Zitate einzuflechten. Henri Brugmans, eine der zentralen Persönlichkeiten in der europäischen Integration, gehörte zu denen, die sich ausdrücklich auf das 18. Jahrhundert/die Aufklärung bezogen. Er veröffentlichte 1947 in der Zeitschrift „Synthèses“ einen Artikel, aus dem kurz zitiert sei. Er war zu dem Zeitpunkt Präsident der Union der europäischen Föderalisten: Einer meiner großen niederländischen Landsleute, der Historiker Jan Huizinga, der während des Krieges starb, hat uns ein großartiges Buch mit dem Titel Herbst des Mittelalters hinterlassen. Sein französischer Kollege Paul Hazard, der ihm in vielerlei Hinsicht ähnelt, studierte das achtzehnte Jahrhundert und fasste es in einem weiteren Meisterwerk zusammen: Die Krise des europäischen Geistes. Ich beginne zunächst damit, über diese beiden Titel zu meditieren.225

Brugmans sieht in seiner eigenen Zeit eine „crise de la conscience européenne“, das heißt, er zieht eine historische Parallele zwischen der eigenen Zeit und dem 18. Jahrhundert. Es ist anzunehmen, dass die Werke der breit rezipierten Autoren der Zwischenkriegszeit, die über die Aufklärung – meistens heißt das ja Aufklärungsphilosophie – bzw. allgemeiner das 18. Jahrhundert schrieben, bei der Ausbildung eines Verständnisses von europäischer Kultur im Singular bei der damaligen Politikergeneration ihre Rolle spielten, die altersmäßig spätestens in der Zwischenkriegszeit ihre gymnasiale bürgerliche Bildung erhalten hatte. Ein Zitat eines Autors der Aufklärung kann mitunter keinen anderen Zweck als Rhetorik oder 223 Vgl. Treaty of Economic, Social and Cultural Collaboration and Collective Self-Defence, Brüssel 17. März 1948: https://tinyurl.com/vkfffhxx (Dokumentenserver des CVCE – Centre Virtuel de la Connaissance sur l’Europe, Universität Luxembourg). 224 „C’est par l’union de nos Peuples […] que nous pourrons préserver et faire fructifier le patrimoine culturel hérité de nos ancêtres et ciment de cette union.“ Vgl. Mouvement européen (1952): Projet de statut de la communauté politique européenne, S. 44. 225 „Un de mes grands compatriotes hollandais, l’historien Jan Huizinga, mort pendant la guerre, nous a laissé un grand livre qui s’appelle Automne du Moyen Âge. Son collègue français Paul Hazard, qui lui ressemble par tant de côtés, étudia le dix-huitième siècle et se résume dans un autre chef-d’œuvre: La crise de la conscience européenne. Je me mets à méditer sur ces deux titres.“ Vgl. den Text unter: https://tinyurl.com/3b8t6wzn (Dokumentenserver des CVCE).

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Beweis von Bildung haben, aber im Allgemeinen sollen solche Zitate überzeitliche Wahrheiten ausdrücken. Der 1949 gegründete Europarat war im Prozess der beginnenden Europäischen Integration der erste große Hoffnungsträger für ein nunmehr friedliches Miteinander in Europa. 1950 verabschiedete er die Europäische Menschenrechtskonvention. Seit längerem schon steht er im Schatten der EU, aber die Menschenrechte sind seine Hauptagenda geblieben, neben einer wichtigen Kultur- und Jugendarbeit. Darin erschöpft sich nicht seine Tätigkeit, außerdem gehören ihm 47 Staaten an, darunter so gegensätzliche wie die Türkei und Armenien, Russische Föderation und Ukraine. So gehört der Aufbau von Kommunikation und deren Aufrechterhaltung auch unter schwierigen konfliktbeladenen Verhältnissen zu den stillen, aber bedeutenden Leistungen des Europarats. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats war von Anfang an, und ist es bis heute geblieben, ein angesehenes und ansehnliches Forum, vor dem führende Politiker*innen Ansprachen und Grundsatzreden hielten. Der Europarat als solcher ebenso wie sein Arbeitsauftrag boten genug Anknüpfungspunkte bezüglich des gemeinsamen kulturellen und geistigen Erbes Europas, zu dem die Aufklärung zählt. Namhafte Redner*innen bezogen sich darauf. Einige Beispiele illustrieren das.226 Am 10. August 1949 eröffnete Edouard Herriot (1872–1957) die erste Sitzung der Konsultativversammlung des Europarats als deren provisorischer Präsident.227 Er war außerdem Präsident der französischen Nationalversammlung. Herriot hatte sich bereits in der Zwischenkriegszeit intensiv für eine europäische Zusammenarbeit bis hin zum Konzept „Vereinigter Staaten von Europa“ eingesetzt. In der Anfangseuphorie wurde geglaubt, der Europarat könne der Start zu solchen europäischen Vereinigten Staaten sein. Ort und Zeitpunkt waren ideal für sehr grundsätzliche Gedanken. Herriot beschrieb gewissermaßen den Esprit der neu gegründeten Institution: Wir wollen uns einfach zusammenschließen, um die beiden größten Errungenschaften der menschlichen Zivilisation zu verteidigen: Freiheit und Recht. […] Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts durchzog unter dem Einfluss einiger Engländer, Italiener und Franzosen eine starke Strömung des Liberalismus alle Länder Europas. Voltaire verteidigt in seinen philosophischen Dialogen und Gesprächen … die Notwendigkeit dessen, was er gegenseitige Hilfe nennt. […] Die dem Despotismus am meisten zugeneigten Herrscher – eine Katharina II., ein Joseph II. – greifen die von dieser Erneuerung angeregten Reformen auf.228

226 Die Beispiele stützen sich auf die folgende Anthologie von Reden vor dem Europarat: Conseil de l’Europe, Hg. (1997): Les voix de l’Europe. 227 Vgl. ebd., S. 4–9. 228 „Nous voulons simplement nous associer pour défendre les deux plus grandes acquisitions de la civilisation humaine: la liberté et le droit. […] Déjà, vers la fin du XVIII e siècle, sous l’influence de plusieurs Anglais, Italiens et Français, un puissant courant de libéralisme traverse tous les pays de l’Europe. Voltaire, dans ses dialogues et entretiens philosophiques, défend … la nécessité de ce qu’il appelle l’entraide. […] Les souverains les plus inclinés au despotisme, une Catherine II, un Joseph II, accueillent les réformes qu’inspire ce renouveau.“

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Diese allgemeinen Hinweise dürften auf wenig Widerspruch gestoßen sein. Herriot wendete sich in der weiteren Rede auch der deutschen Frage zu und unterschied zwischen einem Deutschland aus der Zeit der Aufklärung und dem aus der Zeit Hitlers: Wir sind uns des immensen Beitrags bewusst, den Deutschland zu den Naturwissenschaften, zur Literatur, zu den Künsten, zum gesamten Fortschritt geleistet hat. Sie hat der Welt Immanuel Kant und sein Projekt für den Ewigen Frieden geschenkt, Kant, den Verteidiger der Menschenrechte, der den bewundernswerten Satz schrieb: „Die Politik muss vor der Moral das Knie beugen“.229

Außerdem genannt werden Goethe, Hegel und Beethoven, der die „fraternité humaine“ gefeiert habe. Die in der Rede ausgewählten Elemente aus der Aufklärung verweisen auf den Herriot, der als junger Mann in der Dreyfus-Affäre in Frankreich (1894–1906) zu den Dreyfusards, den zivilgesellschaftlichen Verteidigern des Kapitäns Dreyfus, gestoßen war und dann die Lyoner Sektion der französischen Liga für Menschenrechte gegründet hatte. Er beendet den Abschnitt zu Deutschland mit einer Exklamation: „Si l’Allemagne était fidèle à ces hauts exemples, avec quel empressement nous travaillerions avec elle à l’organisation d’une Europe libérale.“ [Wenn Deutschland diesen hohen Vorbildern treu wäre, wie gerne würden wir mit ihm zusammenarbeiten, um ein liberales Europa zu gestalten.] Ein Deutschland, das sich der eigenen Aufklärungstradition besinne, wäre ein willkommener Partner. Ein anderes Beispiel ist die Rede des britischen Premierministers (Labour Party) Harold Wilson (1916–1995) am 23. Januar 1967.230 Wilson strebte die Aufnahme des Vereinigten Königreichs in die EWG bzw. EG an, die sein konservativer Nachfolger im Amt, Edward Heath, 1972 bewerkstelligte. Wilson widmete sich in seiner Rede ausführlich dem britischen und europäischen Beitrag zur Verbreitung der Demokratie in der Welt und äußerte mit Blick auf die „amerikanischen Freunde“ die Ansicht, dass ihr Regierungssystem auf britischen Grundlagen beruht, wobei sie Ideen aus Frankreich und anderen Teilen Europas übernommen haben (ihre Verfassung selbst basiert auf einer dreigliedrigen Gewaltenteilung, die von Montesquieus „Gewaltenteilung“ abgeleitet ist …), aber auch, dass dieses System aus historischer Sicht auf der ungenauen Vorstellung eines Franzosen von der britischen Verfassungspraxis im 18. Jahrhundert beruht. 231

229 „Nous connaissons bien la contribution immense que l’Allemagne a fournie à la science, aux lettres, aux arts, à tous les progrès. Elle a donné au monde Emmanuel Kant et son Projet de Paix perpétuelle, Kant le défenseur des droits de l’homme qui a écrit cette admirable phrase: ‚La politique doit plier le genou devant la morale.‘“ 230 Conseil de l’Europe, Hg. (1997): Les voix de l’Europe, S. 56–60. 231 „[…] que leur système de gouvernement repose sur des fondations britanniques, reprenant des idées originaires de France et d’autres parties de l’Europe (leur Constitution elle-même est fondée sur une division tripartite de l’autorité, dérivée de la ‚Séparation des pouvoirs‘ de Montesquieu …), mais encore que, d’un point de vue historique, ce système doit être considéré comme reposant sur l’idée inexacte qu’un Français s’était faite de la pratique constitutionnelle britannique au XVIIIe siècle.“

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Auch wenn Wilson sachlich in Bezug auf Montesquieu und seine besondere Interpretation der britischen Verfassung Recht hatte, nimmt es sich etwas merkwürdig aus, in einer Rede vor dem Europarat, bei der es um eine stärkere institutionelle Einbindung des Königreichs in die europäische Integration ging, solche Details anzubringen. Die implizite Botschaft der Rede war, dass es ohne das Vereinigte Königreich und seine geschichtlichen Leistungen sehr viel weniger Demokratie in der Welt gebe und dass sein Land in die EWG aufgenommen werden müsse (was ja speziell Charles de Gaulle immer abgelehnt hatte). Gleichwohl kam Montesquieu wieder einmal im Zusammenhang des Prinzips der Gewaltenteilung zu Ehren. Ein weiteres Beispiel mag die Rede von Edgar Faure (1908–1988) am 1. Oktober 1969 abgeben.232 Faure hatte in Frankreich viele Ministerämter bekleidet, darunter das Amt des Premierministers. Im Zweiten Weltkrieg hatte er sich dem von Charles de Gaulle gebildeten Zweig der Résistance angeschlossen. Zum Zeitpunkt der Rede war er Präsident der Konferenz der europäischen Bildungs- und Erziehungsminister des Europarats. Faure sprach über die Demokratisierung des Bildungs- und Erziehungswesens auf dem Hintergrund der Jugend- und Studentenrevolten 1968/1969. Er plädiert unter anderem für mehr europäischen Austausch und erinnert an die mittelalterliche Universität, in der Professoren und Studenten aus verschiedenen „nationes“ auf selbstverständlichste Weise zusammengetroffen seien. Daran schließt er wie folgt an: Ohne bis ins Mittelalter zurückzugehen: Welchen Fortschritt hat der geistige Austausch in Europa seit der Zeit der Aufklärung gemacht, als sich jeder als Kulturbürger Europas fühlte?233

Interessant ist natürlich, dass Faure das deutsche Wort „Aufklärung“ verwendet. Diese erscheint als Zustand, wie er einmal war und der erst wieder erreicht werden muss. Der „citoyen culturel de l’Europe“, den gab es schon einmal, und den sollte es wieder geben. Eine ausführlich auf Aspekte der Aufklärung eingehende Rede hielt der englische Lord Chancellor Quintin Hogg, Lord Hailsham of Saint Marylebone (1907– 2001) am 5. Oktober 1979.234 Der Tory-Politiker Hogg hatte dieses Amt unter Edward Heath 1970–1974 und unter Margaret Thatcher 1979–1987 inne. Anlass der Rede war der 300. Jahrestag des Habeas Corpus Act von 1679. Es beginnt mit einem Rousseau-Zitat, das sogleich widerlegt wird: „L’homme, a dit Rousseau, est né libre, et partout il est dans les fers.“ [Der Mensch, sagte Rousseau, wird frei geboren und liegt doch überall in Ketten.] Hogg stellt dem entgegen, dass der Mensch nicht frei geboren werde, höchstens könne er frei werden. Mit den „Ketten“ habe Rousseau das Ungleichgewicht zwischen Herrschenden und Untertanen gemeint: 232 Conseil de l’Europe, Hg. (1997): Les voix de l’Europe, S. 66–69. 233 „Pour ne pas remonter au Moyen Age, quel progrès dans les échanges intellectuels européens avons-nous fait depuis l’époque de l’Aufklärung, où chacun se sentait un citoyen culturel de l’Europe?“ 234 Conseil de l’Europe, Hg. (1997): Les voix de l’Europe, S. 114–123.

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Praktiken Er war der Überzeugung, die von vielen französischen Intellektuellen geteilt wurde, die das politische Klima dieser Zeit nicht nur in ihrem Land, sondern in ganz Europa maßgeblich bestimmten, dass alles gut werden würde, wenn dieses Ungleichgewicht beendet würde und das Volk an die Stelle der Könige oder der Aristokratie träte. Voltaire, der sich einer weniger liberalen und weniger verführerischen Sprache bediente, hatte offensichtlich dieselbe Idee im Sinn, als er die Hoffnung äußerte, dass eines Tages der letzte König von den Eingeweiden des letzten Priesters erdrosselt werden würde.235

Hätte Rousseau Recht gehabt, würde man jetzt in einem Goldenen Zeitalter leben, nachdem das Recht zu wählen universell geworden sei. So sei es nicht – Hogg spricht als Negativbeispiele Kambodscha unter den Roten Khmer an. Voltaire hatte er offenbar erwähnt, um mit ihm hart ins Gericht zu gehen und in die Reihe der für Gewaltexzesse Verantwortlichen zu stellen: Die Gewalttätigkeit von Voltaires Sprache war ein Vorspiel für die schlimmsten Exzesse der Französischen Revolution und war wahrscheinlich eine ihrer Ursachen. Bis heute haben wir nicht wirklich verstanden, dass die Sprache der Gewalt, die von Intellektuellen verwendet wird, Gewalt bei Menschen provoziert, die nicht behaupten, Intellektuelle zu sein, und fast immer zur Ermordung von Unschuldigen führt […].236

Hogg scheint zu den apodiktischen Urteilen des 19. Jahrhunderts über die radikaler denkenden Aufklärer zurückgekehrt zu sein, bemüht sich aber sogleich um Fairness: Bevor ich jedoch die Intellektuellen des 18. Jahrhunderts verurteile, möchte ich einige ihrer Leistungen, einige ihrer Diagnosen und sogar wichtige Elemente der von ihnen vertretenen Lösungen würdigen.237

Weder das Volk als Souverän anstelle des Königs noch das Wahlrecht könne eine bessere und freiere Regierung garantieren, dennoch: „il convient de ne pas sousestimer les bienfaits réels apportés par l’âge de raison et son exigence de liberté politique.“ [Der tatsächliche Nutzen des Zeitalters der Vernunft und seiner Forderung nach politischer Freiheit darf nicht unterschätzt werden.] Die Fortschritte beim allgemeinen Wahlrecht und in der Sozialgesetzgebung hingen mindestens zeitlich zusammen.

235 „Il avait la conviction, partagé par nombre des intellectuels français qui déterminaient dans une large mesure le climat politique de l’époque non seulement dans leur propre pays mais dans toute l’Europe, que s’il était mis fin à ce déséquilibre et si le peuple prenait la place des rois ou de l’aristocratie, tout s’arrangerait. Usant d’un langage moins libéral et moins séduisant, Voltaire avait évidemment la même idée en tête lorsqu’il exprima l’espoir qu’un jour le dernier roi périrait étranglé par les entrailles du dernier prêtre.“ 236 „La violence du langage de Voltaire était un prélude aux pires excès de la Révolution française et en a probablement été l’une des causes. Aujourd’hui encore, nous n’avons pas vraiment compris que le langage de violence employé par les intellectuels suscite la violence chez des êtres qui ne prétendent pas à l’intellectualisme et conduit presque toujours à l’assassinat des innocents […].“ 237 „Toutefois, avant de condamner les intellectuels du XVIII e siècle, je tiens à rendre hommage à certaines des leurs réalisations, à une partie de leur diagnostic et même à des éléments importants des solutions préconisées par eux.“

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Der nächste Gedankengang gilt der Geschichte der Menschenrechte, beginnend mit der Magna Carta, bis zum Habeas Corpus Act von 1679, dessen Stellenwert laut Hogg kaum überschätzt werden kann: Dennoch stellt dieser Rückgriff auf das Habeas-Corpus-Verfahren eine originellere, konkretere und ältere Herangehensweise an das Problem der Menschenrechte dar als die allgemeinen, akademischen und philosophischen Theorien von Rousseau und den ersten Enzyklopädisten.238

Hogg legt den Akzent auf die Einklagbarkeit von Rechten, unterschlägt bei seinen historischen Ausflügen jedoch, dass beispielsweise die französischen Erklärungen von 1789 und 1793 Verfassungsrecht waren. Er nimmt wiederholt Stellung zur eigenen Gegenwart, betont, dass der demokratische Staat der Verbündete der Menschenrechte sei, dass die Freiheit des einen immer ihre Grenze in der Freiheit des anderen finde; etc. Gegen Ende der Rede kommt er auf die Aufklärer zurück: Letztendlich komme ich jedoch auf ein philosophisches Prinzip als Grundlage für das Recht eines zivilisierten Staates zurück. Die positivistischen und utilitaristischen Juristen des späten 18. Jahrhunderts in England, die Enzyklopädisten und die Intellektuellen des vorrevolutionären Frankreichs hatten sicherlich nicht unrecht, wenn sie versuchten, allgemeine Konzepte auf Recht und Gesetzgebung anzuwenden. Sie haben sich nur insofern geirrt, als diese Vorstellungen entweder unzureichend oder offenkundig unangemessen waren. Und ich habe nicht ohne Schwierigkeiten versucht, die Ursachen ihres Irrtums und den Punkt zu bestimmen, an dem sie von den authentischen Überlieferungen abgewichen sind und die Wahrheit durch Häresie ersetzt haben. Schließlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sie sich insofern entfernt haben, als sie sich geweigert haben, den alten Begriffen, die in unseren Werturteilen über Wahrheit und Irrtum, Schönheit und Hässlichkeit, Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit verankert sind, einen objektiven Wert zu geben.239

Es wird deutlich, dass Hogg die englische Rechtstradition vorzog, aber er muss geglaubt haben, dass es vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats angezeigt sei, sich mit französischen Aufklärern so kritisch auseinanderzusetzen, dass die Vorzüge des englischen Wegs zu Recht und Menschenrecht erkannt wür238 „Il n’en reste pas moins que ce recours de l’habeas corpus représente une façon plus originale, plus concrète et plus ancienne d’aborder le problème des droits de l’homme que les théories générales, académiques et philosophiques de Rousseau et des premiers encyclopédistes.“ 239 „En fin de compte, j’en reviens toutefois à un principe philosophique comme fondement du droit d’un Etat civilisé. Les juristes positivistes et utilitaristes de l’Angleterre de la fin du XVIIIe siècle, les encyclopédistes et les intellectuels de la France prérévolutionnaire n’avaient sûrement pas tort de chercher d’appliquer des conceptions d’ordre général au droit et à la législation. Ils n’ont eu tort que dans la mesure où ces conceptions étaient soit insuffisantes, soit manifestement inappropriées. Et c’est non sans mal que j’ai cherché à déterminer les causes de leur erreur et le point où ils se sont écartés des traditions authentiques, substituant l’hérésie à la vérité. Finalement, je suis arrivé à la conclusion qu’ils s’en sont écartés dans la mesure où ils se sont refusés à conférer une valeur objective aux vieilles notions consacrées par nos jugements de valeur de la vérité et de l’erreur, de la beauté et de la laideur, du bien et du mal, de la justice et de l’injustice.“

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den. Er ging offenbar von der Wirkmächtigkeit der Montesquieu, Voltaire, Rousseau und der Enzyklopädisten aus. Vergegenwärtigt man sich, dass gerade in Bezug auf Rechts- und Menschenrechtsthemen auch andere als französische Aufklärer hätten zitiert werden können, wie Beccaria oder Kant, kommt zum Vorschein, dass der Redner die ‚gute alte Rivalität‘ zwischen Frankreich und England zelebrierte. Das Bild ändert sich kaum, wenn man sich den Redner*innen im Kontext der anderen europäischen Institutionen von der EWG bis zur heutigen EU zuwendet. Exemplarisch sei der ehemalige Kommissionspräsident Manuel Barroso zitiert: Dieser hielt am 28. November 2006 aus Anlass der Verleihung eines Dr. h. c. die „Enlightenment Lecture“ an der Universität Edinburgh. Der Titel lautete: „The Scottish enlightenment and the challenges for Europe in the 21st century; climate change and energy“.240 Barroso wurde nicht müde, die anhaltende Relevanz der Aufklärung darzustellen. Seine Sprechhaltung drückt sich sehr gut im folgenden Zitat aus: „So Edinburgh and Paris, key centres of the Enlightenment, were closely linked. With contributions, of course, from the whole of Europe, they were hammering out the fundamentals about the basis on which, even over 200 years on, we conduct much of our political, social and economic life.“ Die Brücke zu seinem eigentlichen Thema (Klimawandel und Wirtschaft) bildet Adam Smiths „Vom Wohlstand der Nationen“. Auf einzelstaatlicher Ebene wurde nach 1945 ebenso an die Aufklärung angeknüpft. Dieser Frage ging Wolfram Försterling im zitierten Buch unter besonderer Berücksichtigung der USA, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland nach. Von Interesse sind die nach 1945 neu geschaffenen Verfassungen, während die US-Verfassung von 1787/1789 ja grundsätzlich fortgalt, wenn auch durch (mittlerweile 27) Amendments ergänzt. Im Vereinigten Königreich gibt es keinen Verfassungstext aus einem Guss, wie er ansonsten im Zeitalter der atlantischen Revolution üblich wurde, sondern zahlreiche Texte seit der Magna Carta. Die britische ‚Verfassung‘ ist die am meisten historisch aufgeladene. In Frankreich wurde in den Verfassungen der Vierten Republik von 1946 und der Fünften Republik von 1958 der Bezug zur Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 explizit gemacht. Im deutschen Grundgesetz von 1949 finden sich ebenfalls etliche inhaltliche Anlehnungen an die Déclaration, aber auch an Immanuel Kant.241 Försterling betont durchgehend die Berücksichtigung der Prinzipien der aufklärerischen Rechts- und Staatslehre, bei der es nicht auf wörtliche oder beinahe wörtliche Übernahmen ankommt, sondern auf den, so könnte man in Anlehnung an die übliche Wendung sagen, „Esprit des Lumières“.

240 https://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-06-756_en.htm?locale=en. 241 Försterling (2016): Aufklärung, Teil B, Kap. I.4.

Entkolonialisierung und Aufklärung

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Die Regelung der Gewaltenteilung wurde von John Locke und besonders Montesquieu inspiriert, auf den in den deutschen Verfassungsdebatten nach dem Krieg ausdrücklich und oft Bezug genommen wurde.242 ENTKOLONIALISIERUNG UND AUFKLÄRUNG Emmanuel Chukwudi Eze (1963–2007) beschrieb den Zusammenhang zwischen Aufklärungsphilosophie und Kolonialismus 1997 in „Postcolonial African Philosophy“ wie folgt: […] it is imperative that, when we study the nature and the dynamic of European modernity, we examine the intellectual and the philosophical productions of the time in order to understand how, in too many cases, they justified imperialism and colonialism. Significant aspects of the philosophies produced by Hume, Kant, Hegel, and Marx have been shown to originate in, and to be intelligible only when understood as an organic development within, larger sociohistorical contexts of European colonialism and the ethnocentric idea: Europe is the model of humanity, culture, and history in itself. It is precisely this critical (re)examination of the colonial intentions organic to Western modern philosophy that animates at least one wing of contemporary African/a philosophy.243

Seit den Anfängen der Entkolonialisierung in Asien und Afrika lieferten Autoren und Texte der Aufklärung sowie die Amerikanische Unabhängigkeit und die Französische Revolution konstruktive Bezüge für die konstitutionelle Gestaltung des werdenden unabhängigen Staats, mit denen zudem den Kolonialmächten der Spiegel vorgehalten wurde. Das war bereits so im Widerstand gegen die Kolonialherren gewesen. Das widerspricht durchaus den Thesen Ezes und anderer Autoren, was zunächst nur bedeutet, dass die Einordnung der Aufklärung unter die Vehikel des europäischen Kolonialismus nicht unwidersprochen dasteht. Die Ideen und Texte der Aufklärung waren geeignet, dort, wo es sich um eine koloniale Situation drehte, die Kolonialmächte in dem Unrecht erscheinen zu lassen, in dem sie standen, sie konnten eine intellektuelle und konzeptionelle Waffe gegen diese darstellen und zur Begründung der staatlichen Unabhängigkeit beitragen. Während der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Aufklärungsdiskurs daher in vielen Fällen nicht so sehr als Diskurs der Kolonialmächte verstanden – deren Praktiken widersprachen ja den Idealen und Werten der Aufklärung –, sondern als Teil des Widerstandes, der zur Unabhängigkeit führen sollte. Bekannt ist der Verweis von Mustafa Kemal Pascha (Kemal Atatürk) auf Rousseaus „Contrat social“ in einer Rede vor der Großen Nationalversammlung am 1. Dezember 1921. Diese und weitere Schriften Rousseaus wurden einige Jahre später in der jungen kemalistischen Republik ins Türkische übersetzt.244 Ayse 242 Weinacht (2010): Montesquieu und die Wiederherstellung des Rechtsstaates in Deutschland. Mass (2010): Montesquieu zwischen den Disziplinen. Eine Zusammenfassung der deutschen Rezeption. 243 Eze, Hg. (1997): Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader, S. 6. 244 Yuva (2017): Comment éclairer le peuple souverain? Zur Rede S. 159.

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Yuva hält in ihrer Untersuchung von Rousseau-Übersetzungen fest, dass diese nicht der „Verwestlichung“ dienten: Sie zielen mit großer Konsequenz darauf ab, einen Autor bekannt zu machen, der als „populär“ eingestuft wird und dessen Anprangerung der Ungleichheit in den Dienst verschiedener Völker gestellt werden kann, darunter auch das der Türkei. Der besondere Fall des Zweiten Diskurses, der durch die Wahl eines kommunistischen Verlags in eine marxistische Tradition eingeschrieben ist, verstärkt nur eine Tendenz, die bereits bei den vorangegangenen Übersetzern vorhanden war, trotz der diametral unterschiedlichen politischen Kontexte: Die Übersetzung von Rousseau findet zunächst in einem staatlichen Unternehmen statt und ist Teil einer vorsichtigen Geste der Subversion, wenn dieser Staat selbst emanzipatorische Gedanken der Zensur unterwirft.245

In der Literatur wird öfters Hô Chi Minh zitiert, der sich am 2. September 1945 in Hanoi im Zuge der Proklamation der Unabhängigkeit auf die Grund- und Menschenrechte im Wortlaut der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der französischen Déclaration von 1789 bezog.246 Er forderte jene Rechte und Werte eben der Zivilisation ein, als deren vornehmste Vertreterin sich Frankreich, die Kolonialmacht (1941–1945 zusammen mit Japan), selber sah.247 In allen französischen Kolonien hatten sich innerhalb der einheimischen Bevölkerung deutlich französisierte Bildungseliten etabliert, die nicht zuletzt mit der französischen Aufklärungsliteratur und der Französischen Revolution vertraut waren. Rousseaus Schriften verbanden Aufklärung und Revolution miteinander, Unabhängigkeitsbestrebungen konnten sich sehr gut beispielsweise auf den „Contrat social“ stützen, wie es unter anderem in Algerien geschah. Von Anfang an – Frankreich besetzte Algerien ab 1830 – gab es gegen den kolonialen Eindringling Widerstand, Texte und Positionen französischer Aufklärer eigneten sich immer als Argumente gegen die Kolonialmacht. Offensichtlicher denn je setzte sich die französische Kolonialmacht von der vermeintlich eigenen Zivilisation und ihren Werten ab, als sie die Massaker vom 8. Mai 1945 in Sétif, Guelma und Kherrata beging. Sie verriet diese Werte – die das spätere unabhängige Algerien hingegen ernst nahm: „Les références à Rousseau et à Montesquieu réapparaissent en 1963 au moment du débat parlementaire sur la constituante algérienne.“ [Der Bezug auf Rousseau und Montesquieu tauchte 1963 in der Parlamentsdebatte über die algerische verfassunggebende Ver-

245 „Elles visent, dans une grande cohérence, à promouvoir un auteur classé comme ‚populaire‘, et dont la dénonciation de l’inégalité peut être mise au service de différents peuples, parmi lesquels celui de Turquie. Le cas particulier du Second Discours, inscrit, par le choix d’un éditeur communiste, dans une tradition marxiste, ne fait qu’amplifier une tendance déjà présente chez les traducteurs précédents, malgré les contextes politiques diamétralement différents: prenant d’abord place dans une entreprise d’État, la traduction de Rousseau s’inscrit dans un geste prudent de subversion lorsque cet État lui-même soumet les pensées de l’émancipation à la censure.“ Vgl. Yuva (2017): Les traductions de Rousseau en Turquie, Zitat S. 40. 246 Vgl. Eckel (2015): Die Ambivalenz des Guten, hier S. 270. 247 Vgl. Roza (2020): La Gauche contre les Lumières?, S.112.

Entkolonialisierung und Aufklärung

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sammlung wieder auf.]248 Bis heute werde Rousseau in Algerien, so Pascale Pellerin, als politische Inspiration betrachtet und genutzt.249 Für den Maghreb lässt sich diese Feststellung sogar verallgemeinern, und der Arabische Frühling hat dies, nicht nur in Bezug auf Rousseau, wieder bestätigt. Rousseau und andere Aufklärer fanden ihren Weg auf Facebook.250 In Ägypten bestand seit dem 19. Jahrhundert eine Tradition der Rezeption von Aufklärungsschriften, die sich im 20. Jahrhundert fortsetzte. Rezeptionen stellen kreative Aneignungsprozesse dar. So schreibt Moustafa Maher über den ägyptischen Gelehrten Hussein Haikal und dessen Rousseau-Buch (3. Aufl. 1978): In dem Vorwort setzt sich der prominente ägyptische Autor entschieden dafür ein, die richtigen Gedanken Rousseaus in Ägypten anzuwenden (S. 5). Auf S. 15 lesen wir, daß Rousseau Haikals Aufmerksamkeit durch seine ‚fast orientalische Denkart‘ weckte. Wir formulieren es so: Haikal hat den Rezeptionsgegenstand orientalisiert, ägyptisiert und islamisiert und eine entsprechende Rezeptionsprozedur eingeleitet.251

Die indische Verfassung von 1950 setzt in der Präambel als Schlüsselworte in dieser Reihenfolge: Justice, Liberty, Equality, Fraternity, wobei zu jedem Schlüsselwort Bezugsfelder definiert werden.252 Dies erscheint wie ein wörtlicher Verweis auf die Schlüsselwörter der Französischen Revolution – nicht nur auf die US-amerikanische Verfassung von 1787/1789. In der Verfassunggebenden Versammlung gaben am Liberalismus geschulte Abgeordnete den Ton an und prägten die Urfassung, obwohl die zu dem Zeitpunkt noch kaum überwundenen kolonialen Umstände dem nicht förderlich gewesen sind, wie Bidyut Chakrabarty schreibt: India’s rise as a constitutional democracy is a wonder because it evolves in circumstances which do not seem to be exactly in its favour. Colonialism developed a system which is anything but democratic for obvious reasons. The nationalist struggle was led by those who were largely inclined towards Western liberal democracy presumably by being politically baptized in liberal dispensation during their formative years either as students in Britain or later. Nonetheless, the environment was not propitious for a democratic polity to strike roots, let alone flourish.253

Dennoch, und das analysiert B. Chakrabarty Schritt für Schritt, gab es seit 1773 eine Art Konstitutionalisierung in Indien, die im Ergebnis einen deutlichen Unterschied zu anderen Situationen kolonialer Herrschaft in anderen Ländern ausmachte. Es gab in Indien historisch einen gewissen Vorrat an konstitutioneller Erfahrung, der in die Unabhängigkeit eingebracht wurde, als es 1947 so weit war:

248 249 250 251

Pellerin (2017): Rousseau, Montesquieu et la constitution algérienne, hier S. 142. Ebd., S. 142. Khadhar (2017): Le peuple et la révolution tunisienne, hier S. 203. Maher (2006): Zur Voltaire-Rezeption im arabisch-islamischen Kulturraum am Beispiel Ägyptens, S. 388–389. 252 Text der indischen Verfassung von 1950: https://www.constitutionofindia.net/constitution_ of_india. 253 B. Chakrabarty (2019): India’s Constitutional Identity, Zitat S. 12.

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Praktiken An analytical scan of what led India to become a constitutional democracy in the aftermath of decolonization reveals that the nationalists favoured the Westminster form of liberal democracy, which they justified as an appropriate mode of governance because (a) it was meant to realize what they had imbibed by virtue of being part of the Empire that drew on the philosophy of Enlightenment and (b) it also had a natural appeal to them since they were nurtured in that tradition.254

Im Allgemeinen dürfte der Rückbezug auf „Enlightenment“ aber eher vage geblieben sein, vor allem dürfte darunter die „Westminster liberal democracy“ verstanden worden sein. B. Chakrabarty zitiert aus den Diskussionsbeiträgen der Moderaten im Indian National Congress (1885 gegründet), die in der britischen Form der Demokratie ein Vorbild erkannten – eine Position, die zu Konfrontationen mit anderen radikaleren Kongressmitgliedern führte.255 Einzelne Persönlichkeiten bezogen sich durchaus auf konkrete Autoren und Schriften, so argumentierte Jyotirao Phule (1827–90) mit Thomas Paine und dessen „Rights of Man“.256 Faktisch folgte die Verfassung von 1950 wohl eher dem US-amerikanischen Verfassungsvorbild, aber es geht an dieser Stelle nicht so sehr um Verfassungsvorbilder, sondern darum, dass und wie unter anderem auch mit ‚der Aufklärung im Kopf‘ der britische Kolonialismus überwunden und die Grundlagen für das postkoloniale Indien gelegt wurden. Den Befunden Bidyut Chakrabartys und anderer Autor*innen, auf die er sich stützt, eignet natürlich eine Ambivalenz, auf die Dipesh Chakrabarty bereits vor mehr als zwanzig Jahren hingewiesen hatte.257 Wenn ohne Zweifel in vielen kolonial beherrschten Ländern die Aufklärung gegen die Kolonialmacht aktiviert werden konnte, so änderte dies nichts an der weitreichenden globalen Durchdringung des politischen und wissenschaftlichen Denkens durch das europäische oder allgemeiner westliche Denken, das zunächst einmal in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts wurzelte und das andere Denkweisen und -traditionen in Indien und anderswo verdrängt hatte. Der Verdrängungsprozess war, wie Bidyut Chakrabarty in Bezug auf die Verfassungsdiskussion zeigt, nicht vollkommen, es gab andere Denktraditionen, die auch geäußert wurden – man denke an Mahatma Gandhi (1869–1948). Im arabisch-muslimischen Raum waren der Koran, die Scharia und andere Texte lebendiges Denken (und praktisch wirksam), das nicht durch europäisches oder westliches Denken verdrängt werden konnte. In Afrika behauptete sich eine Vielfalt des Denkens, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Stichwort „African Philosophy“ (eigentlich: philosophies) zugänglich gemacht wird. Die koloniale Durchdringung des Denkens besaß ihre Grenzen. Sie reichte bei den Bildungseliten, die oft in Europa und den USA studiert oder sich zu Bildungszwecken aufgehalten hatten, weiter als beim Großteil der Bevölkerung, 254 255 256 257

Ebd., S. 41. Ebd., Kap. 2. Ebd., S. 53. Chakrabarty (2000): Provincializing Europe. Zur Kontextualisierung dieses Buches s. unter anderem: Rothermund (2015): Der Widerstand gegen die geistige Hegemonie Europas.

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selbst wenn die in Schulbüchern mit der europäischen oder westlichen Meistererzählung der Geschichte befasst wurde. Eine Sozialgeschichte des Denkens, die über die Bildungseliten hinausgeht, erweist in der Regel die Vielfalt von Denktraditionen und deren anhaltende Relevanz im Alltagsleben. UNESCO 1948 Von dieser Vielfalt, ihrer Relevanz und Wirkmächtigkeit ging auch die UNESCO 1948 aus, als sie im Zuge der Vorbereitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10. Dezember 1948) damit beauftragt wurde, Gelehrte und Intellektuelle weltweit zur Begründung von Menschenrechten zu befragen. Dafür wurde das „UNESCO Committee on the Theoretical Bases of Human Rights“ eingerichtet, das der „Commission on Human Rights“ des „Economic and Social Council“ zuarbeiten sollte. Die Ergebnisse in Gestalt eingeholter Texte fanden 1948 keine unmittelbare Berücksichtigung, aber sie stellen eine interessante zeitgeschichtliche Quelle dar. Ende der 1990er Jahre wurde der Wert dieser Quelle durch Mary Ann Glendon deutlich vor Augen geführt.258 Glendon charakterisierte den Esprit der endgültigen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als Vereinigung zweier Denktraditionen und deren Erweiterung. Die eine Denktradition leitete sich von Rousseau ab, die andere aus der anglo-amerikanischen Tradition. Die Erweiterung folgte 1948: In 1948 the framers of the Universal Declaration achieved a distinctive synthesis of previous thinking about rights and duties. After canvassing sources from North and South, East and West, they believed they had found a core of principles so basic that no nation would wish openly to disavow them. They wove those principles into a unified document that quickly displaced all antecedents as the principal model for the rights instruments in force in the world today.259

Den Vorbereitungsprozess bis zum endgültigen Text hat Johannes Morsink 1999 in einer Monografie ausführlich aufbereitet.260 In diesem Kommunikationskontext spielten demnach der Wortlaut der Erklärungen von 1776 bis 1789 sowie die Aufklärung eine Rolle – nicht nur durch den Mund und die Feder des René Cassin, sondern zahlreicher Delegierter aus Ländern wie China, Bolivien, Ägypten, etc.261 Wie in den Beiträgen der hier anschließend zu besprechenden Textsammlung des UNESCO-Komitees auch, wurde aber ein naturrechtlicher sowie religiöser begründender Bezug im Wortlaut der Erklärung weggelassen. Morsink hält fest:

258 S. Goodale, Hg. (2018): Letters to the Contrary. A curated history of the UNESCO human rights survey, S. 28. Vgl. Glendon (2002 [2001]): A World Made New. Eleanor Roosevelt and the Universal Declaration of Human Rights. Kap. 5 befasst sich mit dem UNESCOKomitee. 259 Glendon (2002 [2001]): A World Made New, S. xviii. 260 Morsink (1999): The Universal Declaration of Human Rights. 261 Ebd., Kap. 8.

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Praktiken Critics who interpret the Declaration’s opening Enlightenment phrases in an essentialist, rationalist, or deist fashion take too narrow an approach to the document. 262

Das UNESCO-Komitee bezeichnete sich selbst nicht immer gleich, so heißt es etwa in einer Ausarbeitung „UNESCO Committee on the Philosophical Principles [statt Theoretical Bases; W.S.] of the Rights of Man“ bzw. „of Human Rights“.263 Dem Komitee gehörten Edward H. Carr (Vorsitzender; Historiker), Richard P. McKeon (Berichterstatter; Philosoph), Pierre Auger (Atomphysiker), Georges Friedmann (Soziologe), Harold J. Laski (Politikwissenschaftler), Chung-Shu Lo (Philosoph) und Luc Somerhausen (Beamter, Überlebender des Strafgefangenenlagers Esterwegen, dort Mitbegründer der Freimaurerloge Liberté Chérie264) an.265 Es erarbeitete vom 26. Juni bis 2. Juli 1947 in Paris eine Auswertung und Zusammenfassung der eingelangten Texte. Eine Auswahl der Texte wurde, zusammen mit einer „Einleitung“ von Jacques Maritain, mit Datum vom 25. Juli 1948 zusammengestellt und 1949 erstmals gedruckt.266 Die „Einleitung“ beruhte auf einer Rede, die Maritain im Dezember 1947 in Mexiko City vor der 2. Generalkonferenz der UNESCO gehalten hatte.267 Maritain (1882–1973, Philosoph, Dreyfusard, 1906 Übertritt zum Katholizismus) sprach die genannte Vielfalt an: How […] can we imagine an agreement of minds between men who are gathered together precisely in order to accomplish a common intellectual task, men who come from the four corners of the globe and who not only belong to different cultures and civilizations, but are of antagonistic spiritual associations and schools of thought?268

Maritain suchte nach einem praktikablen Weg, der es erlaubte, diese Vielfalt anzuerkennen und zugleich zu einem nicht-kontroversiellen Ergebnis zu gelangen: […] the goal of UNESCO is a practical goal, agreement between minds can be reached spontaneously, not on the basis of common speculative ideas, but on common practical ideas, not

262 Ebd., S. 283. 263 UNESCO, Hg. (1948): Human rights. Comments and interpretations. Typoskript, 283 Seiten, open access: https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000155042, hier Appendix II: „The Grounds of an International Declaration of Human Rights“ (Juli 1947), S. 2 bzw. S. 14. Ich verwende im Folgenden diese maschinenschriftlichen Dokumente, die als PDF zur Verfügung gestellt werden. Es gibt eine Neuausgabe, die weitere Texte enthält und die Ergebnisse von Archivrecherchen aufbereitet: Goodale, Hg. (2018): Letters to the Contrary. Zur Publikationsgeschichte s. ebd., Introduction. 264 Vgl. https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Libert%C3%A9_ch%C3%A9rie&oldid=207 378049. 265 Fachliche bzw. berufliche Zuordnungen nach Goodale, Hg. (2018): Letters to the Contrary, S. 22. 266 UNESCO, Hg. (1948): Human rights. Comments and interpretations. 267 Goodale, Hg. (2018): Letters to the Contrary, S. 25. 268 Maritain, Introduction, in: UNESCO, Hg. (1948): Human rights. Comments and interpretations, S. II. Die Einleitung ist datiert auf „New York, July – August 1948“.

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on the affirmation of one and the same conception of the world, of man and of knowledge, but upon the affirmation of a single body of beliefs for guidance in action. 269

Das heißt, dass Maritain eben den Mechanismus, den die Kritik an der Kolonisierung des Denkens anspricht, ausschließen wollte, zudem ging er nicht davon aus, dass eine solche Kolonisierung des Denkens stattgefunden habe, da er die Vielfalt des Denkens als gegeben annimmt und diese betont. Der praktische Sinn zielte darauf, dass man sich global auf eine Liste von Rechten einigen könne, ohne im Einzelnen bei den Begründungen und Ableitungen bestimmter Rechte – z. B. aus dem Naturrecht oder eben nicht – übereinstimmen zu müssen. Er gibt ein Beispiel: In consequence, it cannot be too strongly emphasized that admission of a particular category of rights is not the exclusive possession of any one school of thought: it is no more necessary to belong to the school of Rousseau to recognize the rights of the individual than it is to be a Marxist to recognize the „new rights“, as they are called, economic and social rights. The gains of the collective intelligence under the influence of its several cross-currents go far beyond the disputations of the schools.270

Es fällt auf, dass Maritain das Bild von „Denkschulen“ vor Augen hat, was nicht dasselbe ist wie unterschiedliche kulturell-spirituelle Traditionen konfuzianischer, hinduistischer, islamischer oder anderer Prägung. Im Vorwort des UNESCOSekretariats zur Textsammlung, das offenbar der französische Philosoph Jacques Havet, Leiter der Abteilung für Philosophie der UNESCO, verfasste271, heißt es dagegen „respect for diversity of cultures“.272 Die „diversity of cultures“ wurde in den Folgejahren ein großes UNESCO-Thema. Die versammelten 31 Texte (von insgesamt 59273) handeln unterschiedliche Perspektiven ab, darunter die großen politischen Ideologien (Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus) und unterschiedliche kulturell-spirituelle Räume wie „Chinese tradition“, „Islamic tradition“ und „Hindu thinking“. Letztere nehmen in der Sammlung jedoch keinen breiten Raum ein. Den Autor*innen274, die um ihre Meinung gebeten wurden, wurde ein Memorandum zu den „theoretischen Grundlagen der Menschenrechte“ zur Verfügung gestellt, das auf „Paris, March 1947“ datiert ist.275 Der erste Satz lautet: The classical formulation of Human Rights which have been influential in Western culture were first stated in the eighteenth century.276

269 270 271 272 273 274 275

Ebd., S. II. Ebd., S. VI. Goodale, Hg. (2018): Letters to the Contrary, S. 6, zur Person S. 15. UNESCO, Hg. (1948): Human Rights. Comments and interpretations, Foreword, S. 1. Lt. Goodale, Hg. (2018): Letters to the Contrary, S. 30 und öfter. In der Sammlung ist nur eine Autorin vertreten, Margery Fry. UNESCO, Hg. (1948): Human Rights. Comments and interpretations, Appendix I, Memorandum and Questionnaire Circulated by UNESCO on the Theoretical Bases of the Rights of Man (März 1947, 8 Seiten). 276 Ebd., Appendix I, S. 1.

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Das Wort „e/Enlightenment“ kommt in dem Text nicht vor, es werden auch keine konkreten Namen von Aufklärern genannt. Neben der westlichen Perspektive im Sinne des 18. Jahrhunderts wird vor allem auf das sowjetische Konzept von Menschenrechten eingegangen. Deutlich summarischer fällt der Hinweis auf alternative Menschenrechtskonzepte aus, die nicht vom Schema „westliches demokratisches Denken versus marxistisch-sowjetisches Denken“ erfasst werden: Then a quite new formulation of human rights would be required to embody the views of a man like Mahatma Gandhi277, or of those numerous Indian thinkers who believe in the social importance and individual value of meditation and mystical experience. And we can be reasonably sure that the ferment of thought now apparent in the peoples of black and brown and yellow skin-colour, from Africa to the Far East, is destined to result in still other formulations.278

Die Asymmetrie in der Betrachtung der möglichen Beiträge für eine globale Menschenrechtsdoktrin ist überaus deutlich, ebenso, wie nun plötzlich Hautfarben als Kategorie herangezogen werden. Die Zusammenfassung der eingegangenen Beiträge, die das Komitee rund um Edward H. Carr erstellte, bemühte sich um die Formulierung globaler Werte, von denen angenommen wurde, dass sie nicht von kulturellen Eigenheiten abhingen. Die UN seien gegen Tyrannei und Angriffskriege, für den Frieden gegründet worden. Sie werde vom Glauben an die „Männern und Frauen inhärente Würde“ geleitet. Daraus wird gefolgert: The United Nations cannot succeed in the great purposes to which it is committed unless it so acts that this dignity is given increasing recognition, and unless which this dignity may be achieved more fully and at constantly higher levels. Varied in cultures and built upon different institutions, the members of the United Nations have, nevertheless, certain great principles in common. They believe that men and women, all over the world, have the right to live a life that is free from the haunting fear of poverty and insecurity. They believe that they should have a more complete access to the heritage, in all its aspects and dimensions, of the civilization so painfully built by human effort. They believe that science and the arts should combine to serve alike peace and the well-being, spiritual as well as material, of all men and women without discrimination of any kind. 279

Der Begriff der Zivilisation fordert im Prinzip zur Problematisierung heraus, allerdings dürfte er hier auf dem Hintergrund des Begriffsgebrauchs im Zweiten Weltkrieg verstanden worden sein: Zivilisation gegen die Barbarei des Faschismus und Nationalsozialismus. Der philosophische Gehalt der Menschenrechtsidee wird mit dem Beginn überhaupt von Philosophie, sowohl im Osten wie im Westen, verbunden. Die Geschichte von Rechteerklärungen sei hingegen rezenter und habe im 17. und 18. Jahrhundert in England, den USA und Frankreich begonnen, allerdings sei

277 Von Gandhi wird in der Sammlung ein kurzer Brief abgedruckt, S. 3. 278 Ebd., Appendix I, S. 5. 279 Ebd., Appendix II, S. 2–3.

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etwa das Recht auf Widerstand schon „sehr früh“ in China anerkannt worden.280 Faktum sei aber, dass die „civil and political rights which were formulated in the eighteenth century have since that time been incorporated into the constitution or the laws of almost every nation in the world.“281 Dazu ist anzumerken, dass die Situation der Kolonien nicht angesprochen wird. Dennoch ist dem Komitee die intellektuelle und kulturelle Diversität auf der Welt präsent. Daraus wird die Notwendigkeit eines philosophischen Zugangs abgeleitet: […] the Committee is convinced that the philosophic problem involved in a declaration of human rights is not to achieve doctrinal consensus but rather to achieve agreement concerning rights, and also concerning action in the realization and defense of rights, which may be justified on highly divergent doctrinal grounds.282

Das Komitee versucht mithin, Menschenrechte so zu formulieren und zu begründen, dass diese mit unterschiedlichen materiellen und intellektuellen bzw. spirituellen Gegebenheiten kompatibel sind. Es ist sich der Problematik bewusst und formuliert diese nochmals am Ende der Ausarbeitung: The Committee reaffirms its conviction that a further study of the oppositions of philosophic doctrines which lead to diversities of interpretations of human rights, or which conceal fundamental principles on which agreement is possible despite these diversities, might facilitate the discussion of human rights today. It reaffirms also its further conviction that Unesco might properly take the study of these philosophic differences. 283

Die große Mehrzahl der Texte in der Sammlung kommen von europäischen und amerikanischen akademischen Autoren sowie von einer Autorin, Margery Fry. Verweise auf die Rechteerklärungen des späten 18. Jahrhunderts kommen regelmäßig vor, wobei es nicht an kritischen Bemerkungen zu den Lücken und Defiziten der historischen Rechteerklärungen fehlt. Teilweise wird in allgemeiner Form die Philosophie manchmal des 16., öfters des 17. und 18. Jahrhunderts angesprochen, aber es wird eher keine Verbindung zwischen einzelnen Rechten und einzelnen Philosophen hergestellt wie es häufig heute geschieht. Das hindert nicht gelegentliche konkrete Zitate, z. B. aus Adam Smith oder Bentham284, Montesquieu285 oder Beccaria286. Insgesamt fällt die Bereitschaft der Autoren zu einem kritischen Blick auf die Geschichte der Deklarationen und der Menschenrechte im Westen auf, eine Überhöhung der Deklarationen findet nicht statt.

280 Ebd., Appendix II, S. 3–4. Diese Bemerkung resultiert aus dem Text, den Lo für die Sammlung beisteuerte. 281 Ebd., Appendix II, S. 4. 282 Ebd., Appendix II, S. 6. 283 Ebd., Appendix II, S. 15. 284 Ebd., z. B. im Beitrag von Harold J. Laski, S. 66. 285 Ebd., im Beitrag Serge I. Hessen (russischer Philosoph), The Rights of Man in Liberalism, Socialism and Communism, hier S. 100. 286 Auf Beccaria nimmt Margery Fry in ihrem Beitrag zu „Human Rights and the Prisoner“ Bezug, ebd., S. 258.

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Benedetto Croce (1866–1952, Philosoph und Kulturwissenschaftler) spricht den Zusammenhang zwischen der französischen Rechteerklärung von 1789 und der Aufklärung in historisierender Weise an: As an historical fact the Declaration of 1789 had its importance, since it expresses a general agreement which had developed under European culture and civilization of the 18th century (the Age of Reason, of Enlightenment, etc.) concerning the certain urgent need of a political reform of European society (including European society in America). Today, however, it is no longer possible to realize the purpose of the Declaration, whether of rights or of historical needs, for it is precisely that agreement on the subject which is lacking and which Unesco desires to promote.287

Jean-Polydore Haesaert (1892–1976, Rechtsprofessor an der Universität Ghent) fällt in seinen „Reflections on some Declarations of the Rights of Man“ ein geradezu vernichtendes Urteil. Er schlägt zunächst einen Bogen von der Virginia Declaration of Rights 1776 bis zu den Grundrechten in der französischen Verfassung von 1946, um dann zu resümieren: These declarations seem therefore to have been mere intellectual excursions. They take no account of ways and means; for them, everything has been achieved once the formula has been drawn up in more or less clear-cut terms. No matter what trouble it causes; no matter what the state of society is, or what means are available for putting the principles into practice; all this, to these visionaries, is trifling detail.288

John Somerville (1905–1994, Philosoph am Hunter College der City University in New York) verweist darauf, dass der von der UNO angenommene Rahmen zwar weit gefasst sei, aber Faschismus und Nationalsozialismus ausschließe, da dieses „soziale System“ alle bisherigen Werte einschließlich des „democratic Enlightenment“ des 17. und 18. Jahrhunderts verneine.289 Was schreiben die drei nicht-westlichen Autoren zur Frage der Menschenrechte im Licht der Diversität von Kulturen? Chung-Shu Lo (1903–1985), chinesisches Mitglied des Komitees und Philosoph, verweist auf die eigene chinesische Tradition sowie auf die Schwierigkeit im 19. Jahrhundert, für den westlichen Begriff „Recht“ einen chinesischen zu finden. Dennoch: In fact, the idea of human rights developed very early in China, and the right of the people to revolt against oppressive rulers was very early established.290

Dieses Argument und die positive Bedeutung von „Revolution machen“ wird im Folgenden näher ausgeführt. Der Unterschied zu anderen Traditionen wird im Pflichtbegriff erkannt:

287 Benedetto Croce, The Future of Liberalism, ebd., hier S. 81–82. Der Beitrag ist auf Neapel, 15. April 1947, datiert. Übersetzung aus dem Italienischen. 288 Jean-Polydore Haesaert, Reflections on some Declarations of the Rights of Man, ebd., hier S. 89. Datiert auf Brüssel, 29. April 1947, Übersetzung aus dem Französischen. 289 John Somerville, Comparison of Soviet and Western Democratic Principles, with Special Reference to Human Rights, ebd., hier S. 142–143. 290 Chung-Su Lo, Human Rights in the Chinese Tradition, ebd., hier S. 185.

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The basic ethical concept of Chinese social political relations is the fulfilment of the duty to one’s neighbour, rather than the claiming of rights.291

Lo sieht keine Schwierigkeiten, chinesische Traditionen in eine allgemeine Menschenrechtserklärung einzubringen. Von Humayun Kabir, 1947 im indischen Bildungs- und Erziehungsministerium tätig, später selber Bildungsminister, kam ein Beitrag über „The Rights of Man and the Islamic Tradition“. In der Vergangenheit sei es möglich gewesen, dass zwei verschiedene Menschenrechtskonzeptionen nebeneinander existierten, ohne von einander Kenntnis zu haben, was in der globalisierten Gegenwart [keine wörtliche Formulierung von Kabir; W.S.] so nicht mehr denkbar und möglich sei. Der Autor verweist bezüglich der westlichen Idee der Menschenrechte und des Islam auf Verflechtungen: In fact, the western conception has to a large extent receded from the theory and practice of democracy set up by early Islam, which did succeed in overcoming the distinction of race and colour to an extent experienced neither before nor since.292

Der Artikel enthält keine Theorie über Islam und Menschenrechte, im Prinzip trägt er wenig zum Thema laut Beitragstitel bei. S. V. Puntambekar fiel die Aufgabe zu, über „Human Freedoms and Hindu Thinking“ zu schreiben. Er war einer der wichtigsten indischen Politikwissenschaftler seiner Zeit und HinduNationalist. Mark Goodale merkt an, dass Puntambekar um 1927 Zustimmung zu Mussolini ausgedrückt habe.293 Der Autor widmet sich in der Tradition des Hinduismus der Frage, was der Mensch sei und was ihn ausmache, er kritisiert die Tendenz der eigenen Zeit zu Zentralismus und Parteiendiktatur, was die Entfaltung der Menschen verhindere. Die Schwierigkeit, über Menschenrechte zu reden, sieht er darin, dass es kaum den Menschen gebe, vielmehr nur den religiösen Menschen, den, der einer Kaste angehöre, der einer Rasse angehöre, der einer Gruppe angehöre, usw. Zuerst müsse begonnen werden, über den Menschen zu sprechen. Er beklagt den fehlenden Humanitarismus in der Welt. Er insistiert auf den spirituellen Grundlagen des Lebens, die in der Betrachtung neben den materiellen viel zu kurz kämen. Dies führt ihn zu den Lehren Buddhas. Zum Schluss kommt er auf den Kolonialismus zu sprechen: We in India also want freedom from foreign rule and civil warfare. Foreign rule is a damnable thing. This land has suffered from it for hundreds of years. We must condemn it, whether old or new. We must have self-rule in our country under one representative, responsible and centralized system. Then alone we shall survive.294

Der Gesamteindruck der Textsammlung, die, wie erwähnt, kaum einen unmittelbaren Einfluss auf die Arbeit an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nehmen konnte, ist der, dass die Rechteerklärungen des ausgehenden 18. Jahrhun291 292 293 294

Ebd., S. 186. Kabir, ebd., S. 192. Goodale, Hg. (2018): Letters to the Contrary, S. 236. Puntambekar. In: UNESCO, Hg. (1948): Human Rights. Comments and interpretations, S. 201.

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derts, die nicht allzu zahlreich zitierten Autoren der Aufklärung und diese selber, soweit sie überhaupt erwähnt wird, in einer Perspektive der Historisierung vorkommen. Inhalte und Begründungen für Menschenrechte werden deutlich aus der eigenen Gegenwart und ihren Problemstellungen geschöpft. Von einem „Projekt Aufklärung“, das nun universal umzusetzen sei, kann keinerlei Rede sein. In der entscheidenden Phase Mitte des 20. Jahrhunderts, in der die Vereinten Nationen gegründet wurden und ihre Arbeit aufnahmen, eine universale Menschenrechtserklärung diskutiert und verabschiedet wurde, und die Entkolonialisierung begann, wurde die Aufklärung nicht als Instrument der kolonialen Macht verstanden, sondern eher als Instrument des Widerstands, wenn sie nicht schlicht historisiert wurde als ein Etwas von beschränkter Relevanz für die eigene Gegenwart, mit dem eine vertieft-kritische Auseinandersetzung nicht zwingend notwendig erschien. Die Zeit war nicht stehen geblieben. Davon heben sich affirmativpositive bzw. negativ-kritische Bezüge auf die Aufklärung im 21. Jahrhundert deutlich ab, sie funktionieren nach Art eines Zeitsprungs von der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert direkt hinein ins 21. Jahrhundert.

INTELLEKTUELLE EINFÜHRUNG Die Geschichte der Auseinandersetzung der jeweiligen Zeitgenoss*innen nach 1800 mit der Aufklärung, insoweit diese über den reinen Forschungsdiskurs bzw. die Philosophiegeschichte hinausgeht, hat auffällig wenig Interesse hervorgerufen. Es mangelt nicht an Hinweisen auf in ihrer Zeit und darüber hinaus einflussreiche Werke, aber Versuche, zumindest einen Aufriss dieser Geschichte über die enger gefasste Forschungsgeschichte hinaus zu geben, sind selten geblieben. Dieses Kapitel „Intellektuelle“ verfolgt daher das Ziel, die Perspektiven zu erweitern, ohne dabei jeden Brosamen aufzuheben. So habe ich entschieden, die m. E. nicht besonders systematischen Bemerkungen von Marx, Engels, Lenin und Stalin zur Aufklärung nicht aufzugreifen, auch wenn diese für die sozialistische Aufklärungsforschung, etwa in der DDR, Bedeutung besaßen. Das hinderte nicht, dass manche Fragestellung dadurch erst angeregt wurde, wie die Frage nach der Verbreitung und Bedeutung materialistisch-philosophischer Ansätze in der deutschen Aufklärung.1 Genannt sei aus der Literatur ein früher Aufsatz von Peter Gay: „The Enlightenment in the History of Political Theory“ (1954), der sich u. a. mit Fehlinterpretationen und Polemiken über die Aufklärung befasste.2 Heinz Thoma widmete seine Dissertation (1976) dem Thema der „Aufklärungsrezeption in der französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts (1794–1914)“.3 Der Reader „Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland“ von Franklin Kopitzsch (ebenfalls 1976) enthält einen Abschnitt zur „deutschen Aufklärung“ mit zunächst zwei Texten, nämlich von Ernst Troeltsch (1897) und Friedrich Paulsen (1903), sodann mit zwei weiteren aus 1966 (Klaus Scholder) und 1974 (Thomas P. Saine).4 Das 2001 von Keith M. Baker und Peter H. Reill herausgegebene Bändchen „What’s Left of Enlightenment?“ enthält Beiträge unter anderem zu Cassirer, Heidegger und Foucault sowie zur Historismus-Debatte mit Meinecke als zentraler Figur.5 Die Beiträge in Giuseppe Ricuperatis Sammelband „Historiographie et usage des Lumières“ (2002)6 gehen ins 19. Jahrhundert zurück und decken Osteuropa mit ab. Zu nennen ist der Artikel „Enlightenment Studies“ von Lynn Hunt und Margaret Jacob in der „Encyclopedia of the Enlightenment“ (2003), der eher 1 2 3 4 5 6

Goldenbaum (2021): Die Aufklärungsforschung der DDR aus heutiger Sicht. Gay (1954): The Enlightenment in the History of Political Theory. Thoma (1976): Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich. Kopitzsch, Hg. (1976): Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. Baker/Reill, Hg. (2001): What’s Left of Enlightenment? A Postmodern Question. Ricuperati, Hg. (2002): Historiographie et usages des lumières.

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unsystematisch durch diverse Texte und Autoren führt.7 Dan Edelstein streift in „The Enlightenment: A Genealogy“ (2010)8 immer wieder auf erhellende Weise die Modifizierung von Positionen und Paradigmen in der Nachkriegsforschung zur Aufklärung. Ähnliches kann über die Einleitung zu „Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?“ von Andreas Pečar und Damien Tricoire (2015)9 gesagt werden. Annelien de Dijn kritisierte 2012 die Konstruktion der Aufklärung als Autorin der liberalen Demokratie seit Peter Gay über Robert Darnton und Roy Porter bis zu Jonathan Israel, sprich: in der anglophonen Forschungssphäre.10 Vincenzo Ferrone setzt sich in „The Enlightenment. History of an Idea“ (2015)11 auf jeweils wenigen Seiten mit Kant, Hegel, Marx, Nietzsche, Horkheimer und Adorno sowie Derrida und Foucault in Hinblick auf deren Aufklärungsbegriff auseinander. Ältere „Protagonist*innen“ der Josefinismus-Forschung wie Eduard Winter, Fritz Valjavec oder Erna Lesky wurden in einem von Franz Fillafer und Thomas Wallnig herausgegebenen Band 2016 untersucht.12 In den Fachzeitschriften zum 18. Jahrhundert bzw. zur Aufklärung finden sich immer wieder Literaturberichte, die den Gang der Forschung erhellen.13 In diesem Buchteil gehe ich von der unmittelbaren Lektüre der Texte jener Autorinnen und Autoren aus, die den Gang der Interpretation der Aufklärung mitbestimmt haben. Nicht für alle im Folgenden behandelten Autor*innen ist das noch allgemein bewusst. So wird Germaine de Staëls „De l’Allemagne“, obwohl das Buch als solches bis heute sehr bekannt ist, fast nie im Zusammenhang der Ausbildung der Begriffsbildung von „Aufklärung“ herangezogen.14 Dennoch ist es – auch in dieser Beziehung! – sehr ergiebig. Ähnliches lässt sich über den Philosophen Karl Joël, Zeitgenosse Ernst Cassirers, sagen, der eine der interessantesten Interpretationen der Aufklärung geschrieben hat. Es wird zunächst einmal keine der vielen Interpretationsbrillen, die angeboten werden, aufgesetzt. Das Augenmerk ist streng auf die tatsächliche Begrifflichkeit ausgerichtet. Wie wird der Begriff „Aufklärung“ konkret eingesetzt, was sind seine Bedeutungen? Wie wird „die Aufklärung“, sofern eine solche thematisiert wird, interpretiert? Entstand ein „Narrativ“? Für ein Narrativ braucht es eine Reihe von Zutaten: einen emblematischen Namen, mit dem das Wichtigste ausgesagt wird – „die Aufklärung“; die Reduzierbarkeit dieses Wichtigsten auf einprägsame Schlagwörter, die für die eigene Gegenwart Relevanz besitzen – Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaat, Demokra7 8 9 10 11 12 13 14

Hunt/Jacob (2003): Enlightenment Studies. Edelstein (2010): The Enlightenment. Pečar/Tricoire (2015): Falsche Freunde. Dijn (2012): The Politics of Enlightenment. Ferrone (2015): The Enlightenment. History of an Idea. Fillafer/Wallnig, Hg. (2016): Josephinismus zwischen den Regimen. Vgl. bspw. Zelle, Hg. (1995): Aufklärung(en) im Osten. Ausnahme: Thoma (1976): Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich, geht in Kap. II: „Die politische Aufklärung“ auf de Staël ein.

Einführung

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tie; eine Metaphorik – „Wurzeln“, „Ursprünge“ u. ä.; ikonisierbare Persönlichkeiten, die der Orientierung dienen – die Aufklärer*innen; emblematische Texte, die jederzeit zitiert werden können, weil sie allgemein und in Bezug auf ihre wesentlichen Inhalte bekannt sind – z. B. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“; ‚heroische‘ Szenen, die Emotionen erzeugen – z. B. Voltaire als Häftling in der Bastille; alle Elemente müssen assoziativ miteinander verbunden werden können, sobald ein Element evoziert wird. Narrative sind kollektiv. Von Narrativ zu reden, macht erst Sinn, wenn eine gewisse gesellschaftliche Verbindlichkeit erreicht ist. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wird diese nirgendwo erreicht, aber es werden Voraussetzungen dafür geschaffen. Dahinter stand kein Mastermind, sondern verschiedene Akteur*innen, die sich aus verschiedenen Gründen intellektuell oder/und praktisch mit Themen und Personen der Aufklärung auseinandersetzten. Das erfolgte lange Zeit nicht als geordneter oder strukturierter historischer Prozess. Für das 19. Jahrhundert muss man viele Enden aufnehmen. In der Zwischenkriegszeit erschienen dann mehrere emblematisch gewordene Werke – stellvertretend sei Ernst Cassirers „Die Philosophie der Aufklärung“ (1932) genannt –, auf denen aufbauend nach dem Zweiten Weltkrieg das Narrativ von der Aufklärung entstand. Dieses verdankte sich aber nicht nur der akademisch-wissenschaftlichen bzw. philosophischen Analyse seit Hegel, sondern auch den verschiedenen Praktiken im 19. und 20. Jahrhundert, die im vorigen Kapitel thematisiert wurden. Ein Schlüsselmoment in dieser Hinsicht war, wie wir gesehen haben, die Gründung der Dritten Republik in Frankreich (1870) und die Dreyfus-Affäre (1894–1906). Die Entwicklung eines Aufklärungsnarrativs erfolgte in einigen Grundzügen in der Aufklärung selber. Seitdem dauern die Bemühungen an, Aufklärung zu definieren und die Geschichte des so oder anders definierten Phänomens namens Aufklärung zu erzählen. Grundbestandteile der daraus entstandenen Narrative sind außer der Geschichte der Aufklärung im 18. Jahrhundert deren Aus- und Nachwirkungen. Letztere werden meistens philosophisch oder geistesgeschichtlich sowie weltanschaulich betrachtet. Dort entstehen die Kontroversen. Von Anfang an bestehen sehr unterschiedliche Interpretationen der Aufklärung. Sie kann von Anfang an als die Grundlage des Guten in der Welt, aber auch als die Grundlage des Schlechten in der Welt verstanden werden. Die Gründe, warum die Aufklärung so oder anders gesehen wird, verschieben sich im Lauf der Zeit. In der Epoche der Französischen Revolution und im 19. Jahrhundert fällt vor allem der damals entstehende politische Konservativismus, der teilweise ein christlicher ist, negative Urteile, während die negative Kritik heute eher mit der „Entkolonialisierung des Denkens“ und der Sozialphilosophie der Nichtdiskriminierung zusammenhängt. Die Kritiker*innen der Aufklärung von heute stehen ideell nicht in der Tradition der Kritiker von damals, sie stehen ebenso wenig in der Tradition der Aufklärungskritik von Horkheimer/Adorno und anderen in der Mitte des 20. Jahrhunderts. International rezipierte Aufklärungsnarrative entstanden zunächst in Europa, ab dem 20. Jahrhundert auch zunehmend in den USA. Beiträge aus anderen Sprach- und Kulturräumen fanden noch keine Berücksichtigung. Es wurde kein

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globalgeschichtliches Narrativ entwickelt. Die Namensliste in diesem Kapitel gestaltet sich infolgedessen sehr europäisch-nordamerikanisch. DEUTSCH-FRANZÖSISCHE ZURICHTUNG VON „AUFKLÄRUNG“ Sprach- und bedeutungsgeschichtlich betrachtet (Kapitel „Namensgebung“), waren – und zwar international – vor allem Deutsch und Französisch seit dem 19. Jahrhundert treibende Kräfte bezüglich der Prägung des Epochenverständnisses von „Aufklärung“. Englisch konnte bis in die jüngste Zeit hinein nicht dieselbe prägende Wirkung entfalten. Die mit der Aufklärungsepoche besonders verbundenen Inhalte wurden vorwiegend mit philosophy, literature oder schlicht 18th century ausgedrückt. Andere Sprachen haben eher im nationalen Kontext gewirkt, weniger im internationalen. Um es ein wenig zuzuspitzen: Es waren im 19. und 20. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit hinein vorrangig Gelehrte aus Deutschland und Frankreich, die die Begriffs- und Bedeutungsprägung von Aufklärung vorantrieben, sprich: die beiden „Erbfeinde“. Das gesamte französische 19. Jahrhundert wurde nicht zuletzt durch einen innerfranzösischen Streit um die Französische Revolution und die Rolle der philosophes bei der intellektuellen Vorbereitung der Revolution geprägt. Sich mit dem 18. Jahrhundert zu befassen, war letztlich eine hoch politische und hoch gegenwartsrelevante Angelegenheit. Meistens wurde der Blick dabei auf die französischen philosophes verengt, aber oft scheint eine recht gute Kenntnis nicht nur der englischen bzw. schottischen, sondern auch der deutschen Aufklärung durch. In Frankreich stand die Historiografie zur Französischen Revolution wesentlich mehr im Licht der Öffentlichkeit als anderes. Die Frage, ob die philosophes die Revolution zu verantworten hatten bzw., neutraler ausgedrückt, welche Zusammenhänge zwischen diesen und der Revolution abseits obskurer Verschwörungstheorien, die es natürlich gab, bestanden, berührte aber auch andere Erkenntnisgebiete wie die allgemeine (Zivilisations-)Geschichte, die Philosophie- und die Literaturgeschichte. Zwischen den Fronten der Gegner und Befürworter der Französischen Revolution war für „die Aufklärung“ nicht allzu viel zu gewinnen. Letztlich interessierte sich die Revolutionshistoriografie auch nur am Rande für die Aufklärung.15 Das galt besonders, nachdem diese mit der Einrichtung der Professur an der Sorbonne, die als erster Alphonse Aulard ausfüllte, gewissermaßen professionalisiert worden war. Aulard war Mitglied der 1898 gegründeten französischen Liga für Menschenrechte, die sich auf die Menschenrechtserklärungen von 1789 und 1793 bezog. Die Déclaration von 1789 stand an der Schnittstelle von Aufklärung und Revolution. Hier wurde ein eigener Traditionsstrang ausgebildet, auf den bereits im Kapitel „Praktiken“ eingegangen wurde. Die deutschen Aufklärer waren weniger radikale Denker als die französischen philosophes gewesen, aber sie hatten sich dem französischen Einfluss noch mehr als dem englischen bzw. schottischen geöffnet. Der intellektuelle Lehrmeister war 15 Venturino (2002): L’historiographie révolutionnaire française et les Lumières, hier S. 21–58.

Deutsch-französische Zurichtung von „Aufklärung“

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Frankreich. Die Revolution war kein deutsches Produkt. Für die deutschen Jakobiner und alle irgendwie revolutionär Gesinnten war erneut Frankreich, das revolutionäre Frankreich, die Lehrmeisterin; die anderen „erlitten“ die Revolution, und zwar in einem Ausmaß, wie sonst kaum in Europa. Es war Napoleon, der dem baufälligen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation den Tritt gab, durch den es einstürzte, und der die deutsche politische Landkarte nachhaltig umwälzte. Thomas Nipperdey hatte das eleganter ausgedrückt: „Am Anfang war Napoleon“. In gewissem Sinne war auch dieser Napoleon Bonaparte ein Lehrmeister, nämlich der modernen Staatlichkeit und des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Das hinderte Volk und Fürsten im ehemaligen Reich nicht, sich zu „Befreiungskriegen“ gegen das napoleonische Frankreich zusammenzufinden. In dieser eher kurzen Phase kamen die bereits vorhandenen Ansätze zu einem deutschen Nationalbewusstsein an die Oberfläche. Was immer danach folgte, bis zum deutschfranzösischen Krieg 1870/1871, in dessen Zuge das Deutsche Reich und in Frankreich die Dritte Republik gegründet wurden, war eine deutsche Geschichte, die in vieler Hinsicht am französischen Tropf hing. Es bestand keineswegs nur Gegnerschaft. Die französischen philosophes wurden in Deutschland weiterhin gelesen und diskutiert, die Revolution bewundert, die deutsche Unfähigkeit zu revolutionärem Handeln bedauert. In der Revolution von 1848 gab es viel Gleichklang mit Frankreich und, wie wir bei manchen Autoren sehen werden, einen langen positiven Nachhall. Mit dem neuen deutschen Kaiserreich war aber der Kampf um die Hegemonie in Europa und dann auch darüber hinaus eröffnet. Es handelte sich zugleich um einen Kulturkampf zwischen Deutschland und Frankreich, bei dem die Befürwortung oder Ablehnung der „Prinzipien von 1789“ eine implizite und oft auch explizite Rolle spielte. Während das Deutsche Reich geschichtspolitisch revisionistisch vorging und sich Elsass-Lothringen vermeintlich „zurückholte“, bezog sich die französische Dritte Republik immer stärker auf die Französische Revolution. Es handelte sich um eine völlig andere Geschichtspolitik, die mit dem Centenaire der Revolution 1889 einen von einer Weltausstellung in Paris begleiteten Höhepunkt erreichte. Die Beschäftigung mit der Aufklärung fand folglich in beiden Ländern auf dem Hintergrund eines spannungsgeladenen Verhältnisses statt. Das deutschfranzösische Verhältnis war (und ist) aus weiter zurückreichenden historischen Gründen innerhalb Europas ein besonderes. Die Verflechtungen waren (und sind) im Guten wie im Schlechten enorm. Das heißt nicht, dass die Gelehrten als „Erbfeinde“ argumentierten, sie hielten sich im Allgemeinen an die wissenschaftlichen Regeln und drückten mitunter ihren Respekt für die wissenschaftlichen Leistungen im anderen Land aus, aber die nationalen Präferenzen sind oft spürbar. Gewollt oder nicht gewollt, waren die Gelehrten Teil des großen politischen Spiels um die Vorherrschaft auf dem Kontinent. Autoren aus der anglo-amerikanischen Welt waren dabei eher marginalisiert. Das hat sich grundlegend nach dem Zweiten Weltkrieg geändert.

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Das sind ein paar wenige Stichworte, die erklären mögen, warum einige Jahrzehnte lang die Zurichtung eines Untersuchungsfeldes „Aufklärung“ besonders durch französische und deutsche Beiträge vorangetrieben wurde. Gleichwohl entwickelte sich Streit um „die Aufklärung“ genauso gut in anderen Ländern. Er hing im 19. Jahrhundert meistens mit der Entwicklung zum Nationalstaat zusammen. Welche Ausrichtung sollte er haben? Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts war dabei immer gut für Kontroversen. So in Italien und Spanien. Die Problemlagen waren dabei sehr verschieden. Im Italien des Risorgimento stand die nationale Einigung im Vordergrund, die in Spanien grosso modo bereits gegeben war. Dort handelte es sich um ein konfliktreiches Für und Wider den Liberalismus. In Polen ging es um die Wahrung einer national-kulturellen Einheit unter den Bedingungen des weitgehenden Verlusts der Souveränität im Zuge der drei polnischen Teilungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts.16 Demgegenüber war der deutsch-französische Fall international aber weitreichender und zog eine entsprechend breite internationale Rezeption nach sich. Das 19. Jahrhundert, um das es in diesem Kapitel zuerst geht, war lang. Das bedeutet im Hinblick auf die sozialen und beruflichen Kontexte der Autorin (Germaine de Staël) und der Autoren, die zu Wort kommen werden, dass sich diese gründlich veränderten. Ende des 19. Jahrhunderts haben wir es mit einer neuen Sozialgruppe, den Intellektuellen, zu tun. Universitätsprofessoren sind darin repräsentativ vertreten. Keineswegs alle, aber viele der im Folgenden zu zitierenden Schriften stammen aus diesem Kreis. Sie verbinden Wissenschaft und zugleich die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse an das intellektuell interessierte Publikum. Da ist von einem Elfenbeinturm der Wissenschaft nichts zu spüren. Viele den Geisteswissenschaften zuzurechnende Texte haben eine hohe literarische Qualität. Noch heute macht das Lesen dieser wissenschaftlichen Texte Spaß! Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam war der Aufstieg der Philosophie zu einer Wissenschaft innerhalb des Fächersystems. Das Fach Philosophie bekam ein kräftiges historisches Standbein. Sie machte der Literaturgeschichte die Schriften der Aufklärer als Beute streitig. Das entpuppte sich als eine der Voraussetzungen dafür, dass um 1900 die Aufklärung vorrangig als Phänomen der Philosophie verstanden wurde. Die Aufklärer wurden dem Publikum verständlich gemacht – und tatsächlich ging es fast immer nur um Aufklärer, nicht jedoch Aufklärerinnen. Je weniger dies mit konkretem politischem Streit zu tun hatte, desto besser gelang dies. Je weniger die an den einzelnen Aufklärern geäußerte Kritik einen polemischen Hintergrund hatte und je mehr diese den wissenschaftlichen Regeln der kritischen Analyse folgte – was einen literarischen Schreibstil mitnichten ausschloss –, desto besser gelang es, die Aufklärer verständlich zu machen. Wissenschaftliche Betrachtungsweisen beruhen auf Distanz zum Untersuchungsgegenstand, die aus dem Gebot der Objektivität resultiert. Diese Distanz schafft den Leser*innen den Raum, den sie für die eigene Urteilsbildung benöti16 Siehe generell Ricuperati, Hg. (2002): Historiographie et usages des lumières.

Hegel

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gen. Verständlich machen können schließt ein, diesen Raum herzustellen. Der Weg von Hegels ätzenden Bemerkungen im frühen 19. Jahrhundert bis zur Behutsamkeit eines Høffding gegenüber den Menschen der Aufklärung, über deren Texte er schrieb, am Ende des Jahrhunderts war lang, doch wurde er durchmessen. HEGEL Wenn im 19. Jahrhundert oft ein negatives Urteil über die Autoren der Aufklärung gefällt wurde, wird dies gerne dem Einfluss Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) zugeschoben, der sich abschätzig über diese Epoche in der Geschichte der Philosophie geäußert habe. Außerdem soll er „Aufklärung“ als Epochenbegriff mitbegründet haben. Beides ist richtig – und falsch. Langfristig einflussreicher und produktiver war sicher Hegels Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“.17 Hegel gehört zu den einflussreichsten Philosophen überhaupt, seine weltweite Rezeption braucht hier nicht ausgeführt zu werden. In der Aufklärungsforschung stellt er freilich keine „erste Adresse“ dar, es wird eher beiläufig auf seine „Statements“ – so will einem die Beiläufigkeit erscheinen – zu „Aufklärung“ hingewiesen. Hegels intellektuelle Entwicklung begann jedoch in der Aufklärung, das wird allzu leicht vergessen. „Aufklärung“ kommt jeweils als ein untergeordneter Abschnitt mit dem Titel „Aufklärung“ sowohl in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ (1805–1831) wie auch im ersten Teil des „Systems der Wissenschaft“, das ist die „Phänomenologie des Geistes“, wie auch im letzten Kapitel der „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ vor. Hegel dürfte erstmals im Winter 1805/1806 an der Universität Jena eine Vorlesung über die „Geschichte der Philosophie“18 gehalten haben. Er tat dies auch an der Universität Heidelberg (1816/1817; 1817/1818), vor allem aber in Berlin, wo er eine solche Vorlesung regelmäßig vom Sommersemester 1819 bis zum Wintersemester 1831 hielt. Die allerletzte Vorlesung konnte er lediglich beginnen, dann starb er. Hegel selbst hat keine Druckfassung dieser Vorlesung hinterlassen, aber Schüler, Freunde und Familienmitglieder kümmerten sich ohne Zeit zu verlieren um die Herausgabe seiner gesammelten Werke, die von 1832 bis 1845 erschienen sind. Bezüglich der „Geschichte der Philosophie“ standen teilweise Manuskripte Hegels zur Verfügung, sowie einige Vorlesungsmitschriften verschiedener Hörer. Die „Phänomenologie des Geistes“ wurde von Hegel selber, erstmals 1807, publiziert, die Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie und die Phänomenologie stammen somit ursprünglich in etwa aus derselben Schaffensphase. Die „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, in denen ebenfalls über „Aufklärung“ gesprochen wurde, hielt Hegel ab 1822/1823. 17 Wolf (2018 [1980]): Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. 18 Hegel (1993 [1836]): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie.

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Im Folgenden wird für die „Geschichte der Philosophie“ der vor allem vom Hegelschüler Karl Ludwig Michelet etablierte Text verwendet, hier der dritte Band der „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, der die „Neuere Philosophie“ beinhaltet. Dieser Band erschien 1836 in Berlin bei Duncker und Humblot und liegt der Suhrkamp-Ausgabe der gesammelten Werke Hegels, Band 20, zugrunde. Zu den von Hegel deutlich beeinflussten Autoren gehörte auch Hermann Hettner, dessen umfassende und breit rezipierte Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts weiter unten zu diskutieren sein wird. Die „Phänomenologie des Geistes“ wird auf der Grundlage des Originaldrucks von 1807 verwendet.19 Die „Philosophie der Geschichte“ wurde postum zunächst von Eduard Gans herausgegeben, sodann von Hegels Sohn Karl auf einer erweiterten Grundlage von Vorlesungsmitschriften in zweiter und dritter (1848!) Auflage.20 Hegel sagte in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie über „Philosophie“: „Die Philosophie ist objektive Wissenschaft der Wahrheit, Wissenschaft ihrer Notwendigkeit, begreifendes Erkennen […].“21 Die Geschichte dieser objektiven Wissenschaft der Wahrheit wird gebildet von der „Reihe der edlen Geister, [der] Gallerie der Heroen der denkenden Vernunft, welche in Kraft dieser Vernunft in das Wesen der Dinge, der Natur und des Geistes, in das Wesen Gottes eingedrungen sind, und uns den höchsten Schatz, den Schatz der Vernunfterkenntnis, erarbeitet haben.“22 Um es vorwegzunehmen, zu diesen „Heroen“ oder „edlen Geistern“ zählen auch die Philosophen des 18. Jahrhunderts, selbst wenn dies Hegel nicht an ätzenden Kommentaren hinderte, mit denen er offenbar gerne seine Vorlesungen würzte. Da es nur „ein Wahres“ geben kann, geht es in der Geschichte der Philosophie seit der griechischen Philosophie des 7. Jahrhunderts vor Christus auch nur darum. Hegel beendete seine Darstellung der Geschichte der Philosophie mit der eigenen Zeit, für die er vor allem Fichte und Schelling ausführlich würdigte. Er zog das Fazit: „Die letzte Philosophie ist das Resultat aller früheren; nichts ist verloren, alle Prinzipien sind erhalten. Diese konkrete Idee ist das Resultat der Bemühungen des Geistes durch fast 2500 Jahre (Thales wurde 640 vor Christus geboren), – seiner ernsthaftesten Arbeit, sich selbst objektiv zu werden, sich zu erkennen […].“23 Dies schließt selbstverständlich die „neuere Philosophie“ mit ein, die Hegel im Anschluss an die Reformation ansetzt und die bis in seine Gegenwart reicht. Die Vorlesungen über die „neuere Philosophie“ sind in drei Abschnitte aufgeteilt: Der erste befasst sich mit Bacon und Jakob Böhme, der zweite ist betitelt mit 19 Hegel (1807): System der Wissenschaft. Erster Theil, die Phänomenologie des Geistes. 20 Hegel (1848): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. 21 Hegel (1993 [1836]): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Anhang: Berliner Niederschrift der Einleitung. Angefangen am 24.X.1820, S. 465–519, hier S. 471. 22 Ebd., S. 465. Alle Hervorhebungen hier und im Folgenden gemäß der Textvorlage. 23 Ebd., letzter Abschnitt: „E. Resultat“, S. 455.

Hegel

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„Periode des denkenden Verstandes“ und ist in zwei Kapitel binnengegliedert: „Periode der Metaphysik“ und „Übergangsperiode“. Der dritte Abschnitt befasst sich ausschließlich mit „Neueste deutsche Philosophie“ (Jacobi, Kant, Fichte, Schlegel, Schelling) und endet mit dem Abschnitt „E. Resultat“, der sich auf die komplette Geschichte der Philosophie bezieht. Hegel bespricht in der Regel immer einen bestimmten Philosophen und versucht zu zeigen, inwieweit dieser die objektive Wissenschaft der Wahrheit vorangebracht hat. Abhängigkeiten zwischen den Autoren zeigt er auf. „Aufklärung“ ist kein wesentlicher Gliederungsbegriff der Geschichte der Philosophie. „Aufklärung“ dient als Überschrift eines Unterkapitels im Abschnitt „Übergangsperiode“ in der Abteilung „Französische Philosophie“, bezieht sich aber nicht – man ist versucht zu sagen: kurioserweise nicht – auf die französische Philosophie, sondern nur auf die deutsche: 4. AUFKLÄRUNG. Deutsche Philosophie. Die Deutschen trieben sich in dieser Zeit in ihrer Leibniz-Wolffischen Philosophie ruhig herum, in ihren Definitionen, Axiomen, Beweisen, als sie, nach und nach vom Geiste des Auslandes angeweht, in alle Erscheinungen eingingen, die dort erzeugt worden waren, den Lockeschen Empirismus hegten und pflegten und auf der anderen Seite zugleich die metaphysischen Untersuchungen auf die Seite legten und sich um Wahrheiten, wie sie dem gesunden Menschenverstand begreiflich sind, bekümmerten, – in die Aufklärung und Betrachtung der Nützlichkeit aller Dinge warfen, eine Bestimmung, die sie von den Franzosen aufnahmen.24

Letzterer Schlenker mag erklären, warum die deutsche Aufklärung in der Abteilung „Französische Philosophie“ untergebracht wurde. Eindeutig erweist sich aber, dass Hegel hier nicht von einer Epoche namens „Aufklärung“ schreibt, sondern die Tätigkeit des Aufklärens meint, so wie es Mendelssohn und Kant und viele andere auch verstanden hatten. „Aufklären“ ist Teil der Philosophie, auch wenn in den Augen Hegels dem Aufklären in der objektiven Wissenschaft der Wahrheit nur eine Nebenrolle zukam. Da war aber viel rhetorische Effekthascherei von Seiten Hegels dabei, die es ihm ermöglichte, seinen hochgeschätzten Jacobi ins rechte Licht zu rücken – und über diesen Spinoza, den er an der entsprechenden chronologischen Stelle vorher behandelt hatte: Die deutsche Aufklärung, welche ohne Geist mit verständiger Ernsthaftigkeit und dem Prinzip der Nützlichkeit die Ideen bekämpfte, streifte zunächst die Methode der Wolffischen Philosophie ab, behielt aber das Flache ihres Inhalts und brachte auch die Metaphysik zur letzten Leerheit herunter, bis Jacobi unerwartet an einen ganz anderen Gehalt der Philosophie, zunächst an den Spinozismus wieder erinnerte […] – bis Kant der Philosophie, die im übrigen Europa nun ausgegangen war, in Deutschland einen neuen Lebensanstoß gab.25

„Aufklärung“ oder „aufklären“ scheint nach Hegel ein spezifisches Charakteristikum der deutschen Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewesen zu sein, wobei die Grundlegung auf Luther zurückgeführt wird. Dies zeigt sich deutlich in einem Abschnitt, in dem Hegel die französische Philosophie vor der Revolution und die deutsche vergleicht: 24 Ebd., S. 308. 25 Ebd., S. 310–311.

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Intellektuelle Die Franzosen vom Denken der Allgemeinheit aus, die deutsche Gewissensfreiheit vom Gewissen aus […] sind sich begegnet oder haben dieselbe Bahn; nur die Franzosen, gleichsam gewissenlos, haben alles geradezu abgemacht und systematisch einen bestimmten Gedanken festgehalten, das physiokratische System; die Deutschen wollen sich den Rücken freihalten, vom Gewissen her untersuchen, ob sie auch dürfen. Die Franzosen haben mit Geist, die Deutschen mit Verstand gegen den spekulativen Begriff gekämpft. 26

Ausdrucksweisen wie „ohne Geist“ oder „gleichsam gewissenlos“ lesen sich womöglich wie eine recht brutale Kritik, aber nur, wenn man den Fehler begeht, die umgangssprachliche Wendung hier bei Hegel zu vermuten. Das ist aber nicht der Fall. „Geist“ und „Gewissen“ hat er vorher ausführlich erklärt, es geht um sehr verschiedene Methoden je in der französischen und deutschen Philosophie. Späteren Lesern dürfte aber manchmal die Eigenart der Hegelschen Sprache verschlossen geblieben sein, die scheinbar durch die Umgangssprache vertraute Wendungen eben nicht in der umgangssprachlichen Bedeutung einsetzte. En passant sei erwähnt, dass Hegel für die französische Kritik an den Institutionen und Verhältnissen des Ancien Régime (in Frankreich) viel Verständnis aufbringt. Was die deutsche Seite angeht, spart er nicht mit Lob in Bezug auf Friedrich II., wegen seiner dichten Bezüge zu Frankreich und der französischen Philosophie.27 Während Hegel „Aufklärung“, das heißt der philosophischen Tätigkeit des Aufklärens, in diesen Vorlesungen einen Platz in Raum und Zeit gibt, tritt „Aufklärung“ in der „Phänomenologie des Geistes“ ausschließlich als philosophischer Begriff auf. In dem Teilkapitel findet sich im Gegensatz zu den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie keinerlei zeitliche und räumliche Zuordnung. Lediglich die beiläufigen Hinweise zur Kritik an religiösen Texten stellen indirekt einen Zusammenhang mit der Bibelkritik des 17. und 18. Jahrhunderts her, die aber keineswegs als solche konkret benannt wird. „Aufklärung“ ist ein Teilkapitel im großen Abschnitt über „Geist“, konkret im Unterabschnitt „Der sich entfremdete Geist. Die Bildung.“ und darin wiederum ein Unterabschnitt, in dem es vor allem um „Glauben“ bzw. in der Perspektive des Aufklärens um „Aberglaube“ geht.28 In den Vorlesungen über „Philosophie der Geschichte“, die Hegel ab 1822/1823 fünf Mal hielt, zuletzt 1830/1831, tritt „Aufklärung“ deutlicher als ein historisches Merkmal, nämlich des 18. Jahrhunderts auf. Der vierte und letzte Teil der Vorlesungen trägt die Gesamtüberschrift „Die germanische Welt“. Er ist in drei Abschnitte unterteilt, der letzte heißt „Die neue Zeit“ und beginnt wie in der „Geschichte der Philosophie“ mit der Reformation. Das dritte und abschließende Kapitel zur „neuen Zeit“ ist betitelt mit „Die Aufklärung und Revolution“. Inhalt und innere Gliederung folgen der Thematisierung von „Aufklärung“ in der „Geschichte der Philosophie“ – inklusive des besonderen Lobs für Friedrich II. –, aber es ist klar, dass im Rahmen der chronologischen Systematik der „Philosophie der 26 Ebd., S. 292. 27 Ebd., S. 298. 28 Hegel (1807): Phänomenologie des Geistes, S. 486–532. „Aberglaube“ kommt in der Überschrift eines Abschnitts vor, aber nicht im Text, da ist von „Glaube“ die Rede.

Germaine de Staël

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Geschichte“ das allerletzte Kapitel eine Epoche, die in die eigene Gegenwart Hegels hineinreicht, bezeichnet. Präziser als in der „Geschichte der Philosophie“ gibt Hegel an, dass „Aufklärung“ aus Frankreich nach Deutschland gekommen sei.29 Es handelt sich unverändert um ein „Prinzip des Denkens“, das jedoch in der Zeit und im Raum zunächst im französischen, dann deutschen 18. Jahrhundert verortet wird. Hegel befasst sich besonders mit den Missständen in Frankreich und der Notwendigkeit der Revolution, die er ja selber als Zwanzigjähriger miterlebt und im Grundsatz gutgeheißen hatte. „[D]ie Weltgeschichte ist nichts als die Entwickelung des Begriffes der Freiheit“.30 Dabei spielt die Aufklärung eine Rolle, was Hegel aber nicht so dezidiert sagt, es erschließt sich vielmehr aus dem Zusammenhang. Er personalisiert diesen Zusammenhang aber nicht, er nennt keine konkreten Namen, denen hier ein Verdienst zugekommen wäre. In der „Philosophie der Geschichte“ jedenfalls haftet „Aufklärung“ nichts Negatives an, die Positionierung am Ende des Vorlesungsstoffes an der Schnittstelle des weltgeschichtlichen Fazits, das er zieht, mag allen jenen, die später an einem Epochenbegriff namens „Aufklärung“ werkelten, zugearbeitet haben. Hegel setzte einen französisch-deutschen Fokus und dürfte damit für die allmählich entstehende Aufklärungsforschung eine wichtige Weichenstellung getätigt haben. Denn tatsächlich bestimmten, wie oben einleitend bemerkt, jahrzehntelang französische und deutsche Publikationen die Aufklärungsforschung bzw. Darstellung der Aufklärung, bevor insbesondere die US-amerikanische Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg schnell in eine Leitrolle hineinwuchs. GERMAINE DE STAËL Andere Akzente setzte die Zeitgenossin Hegels, Anne-Louise-Germaine Necker, Baronne de Staël-Holstein (1766–1817). Sie war die Tochter des berühmten französischen Finanzministers Necker und der nicht weniger berühmten Salonnière Madame de Necker. Germaine de Staël gehörte zu den einflussreichsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit, man kann sie als eine zentrale Persönlichkeit der europäischen Öffentlichkeit damals bezeichnen. Politisch war sie eine Gegnerin Napoleons, der sie alles andere als schätzte. Fürchtete er sie? Jedenfalls verbannte er sie aus Frankreich. Doch wie dumm! Frei nach Diderot: Schon in der Aufklärung ‚schlüpften die Worte durch die Beine der Zensoren‘! So auch die Worte der Germaine de Staël. Schon lange sind die Reisetagebücher „Über Deutschland“ de Staëls bekannteste Veröffentlichung. Der Druck wurde 1810 verboten, die Baronin aus Frankreich verbannt. Der Begriff „Deutschland“ umfasste damals auch Österreich in Gestalt der deutschsprachigen Erblande. Die Autorin war Expertin in der zwar literarischen, aber durch konkrete Beobachtungen und Fakten gesättigten Darstellung von nati29 Hegel (1848): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 529. 30 Ebd., S. 546.

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onalen Identitäten.31 Diesbezüglich war sie eine Pionierin und das trug zu ihrem Ruhm bei. Im Zusammenhang dieses Kapitels interessiert vor allem ihr Begriff von Aufklärung, der in dem dreibändigen Werk „De l’Allemagne“ eine Rolle spielt.32 Ein erstes Zitat aus dem Kapitel „Des mœurs allemands“: Politische Institutionen können allein den Charakter einer Nation begründen. Nun stand die Natur der Regierung in Deutschland zur philosophischen Aufklärung der Deutschen beinahe im Gegensatz; daher kommt es, daß sie die größte Kühnheit im Denken mit dem folgsamsten Charakter verbinden.33

Am Ende dieses Kapitel findet sich eine Fußnote, die die französische Zensur kritisiert: […] die Polizei: sie besitzt eine wirklich auffallende Art von feindlichem Instinkt gegen alle liberalen Ideen, unter welcher Form sie ihr begegnen mögen; in diesem Felde stöbert sie, wie abgerichtete Spürhunde, alles auf, was in dem Gemüt der Franzosen ihre alte Liebe zur Aufklärung und zur Freiheit wieder rege machen könnte. [Anm. v. 1813]34

In beiden Fällen handelt es sich nicht unmittelbar um den Eigennamen der Aufklärung, aber der Sinnzusammenhang ist ebenso eindeutig wie die politische Positionierung gegen den „pouvoir absolu“, den die Autorin im Vorwort beim Namen zu nennen keinesfalls vergessen hatte. Weiter geht’s mit dem sechsten Kapitel „De l’Autriche“: Der Geist des Katholizismus, der, obschon mit vieler Mäßigung, in Wien vorherrschte, hatte unter der Regierung der Kaiserin Maria Theresia die Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, oder was man so nannte, entfernt gehalten. Ihr Nachfolger Joseph II. überströmte mit diesem Licht ein Land, welches weder auf das Gute noch auf das Böse, was daraus entstehen kann, vorbereitet war.35

Hier wird, eher subtil, der Gegensatz zwischen Katholizismus und Aufklärung angesprochen, Josef II. sinngemäß als aufgeklärter Herrscher apostrophiert. Sehr 31 De Staël (1871 [1796]): De l’influence des passions sur le bonheur des individus et des nations. 32 Benutzte Ausgabe: de Staël (1813): De l’Allemagne. Die deutschen Übersetzungen stammen aus: de Staël (1985 [1814]): Über Deutschland. Thoma (1976): Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich, geht zwar auf de Staël, aber nicht auf dieses Werk ein. 33 „Les institutions politiques peuvent seules former le caractère d’une nation; la nature du gouvernement de l’Allemagne étoit presque en opposition avec les lumières philosophiques des Allemands. De là vient qu’ils réunissent la plus grande audace de pensée au caractère le plus obéissant.“ De Staël (1813): De l’Allemagne, Bd. 1, Kap. 2, S. 32; deutsche Ausgabe S. 36– 37. 34 „[la police] a une sorte d’instinct vraiment remarquable contre les idées libérales sous quelque forme qu’elles se présentent, et dans ce genre elle dépiste comme un habile chien de chasse tout ce qui pourroit réveiller dans l’esprit des François leur ancien amour pour les lumières et la liberté.“ Ebd., Bd. 1, Kap. 2, S. 34; deutsche Ausgabe S. 37–38. 35 „L’esprit du catholicisme qui dominoit à Vienne, quoique toujours avec sagesse, avoit pourtant écarté sous le règne de Marie-Thérèse ce qu’on appeloit les lumières du dix-huitième siècle. Joseph II vint ensuite, et prodigua toutes ces lumières à un Etat qui n’étoit préparé ni au bien ni au mal qu’elles peuvent faire.“ Ebd., Bd. 1, Kap. 6, S. 58; deutsche Ausgabe S. 51.

Germaine de Staël

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schön kommt auch durch die zweifache Verwendung von „lumières“ die Eignung des Worts sowohl für eine Epochenbezeichnung wie auch für die Bezeichnung der Ergebnisse von Aufklärung zur Geltung. Nur wenige Absätze weiter bricht die Autorin eine Lanze für die Notwendigkeit von Aufklärung sowie für deren eigentliche Unabwendbarkeit. Ein bisschen sehr spitz ist die Charakterisierung Österreichs freilich schon, aber der enge Zusammenhang zwischen Aufklärung und dem Medium Buch wird sehr treffend dargelegt: Zu tadeln ist, wie mich dünkt, der Grundsatz, welcher in Österreich die Einfuhr fremder Bücher verbietet. Freilich, ließe sich in einem Lande die Urkraft des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts dadurch beibehalten, daß man es vor den Schriften des achtzehnten bewahrte, so möchte es vielleicht ein großes Glück sein; da aber das Eindringen der Meinungen und der Aufklärung von Europa in einer Monarchie unvermeidlich ist, die gerade im Mittelpunkt von Europa liegt, so ist es ein doppelter Nachteil, ihnen nur halb den Eingang zu verstatten; denn jederzeit sind es die schlimmsten Schriften, die sich durchschleichen. Werke, in welchen die Unmoralität in lachenden Formen und egoistische Grundsätze zur Schau getragen werden, gelangen immer in das Publikum, weil es Vergnügen daran findet. Die Bücherverbote treffen nur, in ihrer ganzen Strenge, die philosophischen Schriften, die den Geist erheben und die Ideen erweitern. Der Zwang solcher Verbote ist zwar vorzüglich geeignet, die Seelenträgheit zu unterhalten, keineswegs aber, die Unschuld des Herzens zu bewahren.36

Die inkriminierte „paresse d’esprit“ lässt offenbar ein sinngemäßes Wort aus Kants zitierter Schrift von 1784 zur Definition von „Aufklärung“ anklingen. Die längere Passage zur Nützlichkeit aufgeklärter Bücher führt zu verschiedenen Schlussfolgerungen: Folglich muß man darauf bedacht sein, die Aufklärung nicht von sich zu stoßen, sondern sie zu sammeln, sie ganz aufzufangen, damit ihre gebrochenen Strahlen kein falsches Licht verbreiten. Eine Regierung darf sich’s nicht anmaßen, eine Nation dem Zeitgeiste ihres Jahrhunderts zu entziehen; dieser Geist enthält Elemente von Kraft und Größe, deren man sich mit Erfolg bedienen kann, sobald man kein Bedenken trägt, alle von ihm aufgestellten Fragen zu erörtern; alsdann findet man in ewigen Wahrheiten Hilfsmittel gegen vorübergehende Irrtümer und in der Freiheit selbst die Begründung der Ordnung und den Zuwachs der Macht. 37 36 „C’étoit aussi, ce me semble, un mauvais système que d’interdire l’entrée des livres étrangers. Si l’on pouvoit conserver dans un pays l’énergie du treizième et du quatorzième siècle, en le garantissant des écrits du dix-huitième, ce seroit peut-être un grand bien; mais comme il faut nécessairement que les opinions et les lumières de l’Europe pénètrent au milieu d’une monarchie qui est au centre même de cette Europe, c’est un inconvénient de ne les y laisser arriver qu’à demi; car ce sont les plus mauvais écrits qui se font jour. Les livres remplis de plaisanteries immorales et de principes égoïstes amusent le vulgaire, et sont toujours connus de lui: et les lois prohibitives n’ont tout leur effet que contre les ouvrages philosophiques, qui élèvent l’ame et étendent les idées. La contrainte que ces lois imposent est précisément ce qu’il faut pour favoriser la paresse de l’esprit, mais non pour conserver l’innocence du cœur.“ Ebd., Bd. 1, Kap. 6, S. 59–60; deutsche Ausgabe S. 52–53. 37 „On doit donc songer, non à repousser les lumières, mais à les rendre complètes, pour que leurs rayons brisés ne présentent point de fausses lueurs. Un gouvernement ne sauroit prétendre à dérober à une grande nation la connoissance de l’esprit qui règne dans son siècle; cet esprit renferme des éléments de force et de grandeur, dont on peut user avec succès quand on ne craint pas d’aborder hardiment toutes les questions: on trouve alors dans les vérités éter-

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Germaine de Staël verbindet hier mehrere Schlüsselwörter der Aufklärung selbst: lumières, esprit, grandeur, vérités éternelles, liberté. Freiheit wird mit Ordnung und Vermehrung der Macht eines Staates – angesprochen als gouvernement und als grande nation – verbunden. Es wird gewissermaßen das Staatstragende, Staatsstabilisierende in der Aufklärung hervorgehoben, damit auch ihre Zeitgemäßheit und Zweckmäßigkeit für Mensch, Gesellschaft und Staat. Ein Staat, der sich auf die Aufklärung stützt, ist wohlberaten. Der Zusammenhang zwischen Buch und Aufklärung wird so schnell nicht beiseitegelegt. Im 14. Kapitel über Sachsen kommt die Autorin zu dem schönen Thema zurück und bemerkt: Aus der Zahl der Bücher, die in Leipzig verkauft werden, kann man leicht auf die Zahl ihrer Leser schließen: Arbeitsleute aller Klassen, Steinhauer sogar, ruhen sich von der Arbeit mit einem Buche in der Hand aus. In Frankreich kann man sich schwerlich eine Vorstellung davon machen, bis zu welchem Grade die Aufklärung in Deutschland verbreitet ist. Ich habe Wirtsleute und Torschreiber kennengelernt, welche die französische Literatur kannten.38

Die entschiedenen Gegner einer Volksaufklärung dürften sich bei der Lektüre solcher Zeilen sehr geärgert haben. Für die Verbreitung von Aufklärung in Weimar und Jena findet die Autorin lobende Worte – und natürlich auch für Preußen: Diese Bemerkungen über Preußen gehen alle von den Mitteln aus, die dieses Reich hatte, sich zu erhalten und sich zu verteidigen; denn in der inneren Staatsverwaltung und Regierung wurden die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Bürgers in nichts gefährdet. Preußen gehörte zu den Ländern Europas, wo man die Aufklärung am meisten in Ehren hielt, wo die Freiheit, wenn nicht im Recht, doch in der Tat, am sorgsamsten geachtet wurde. 39

Erneut wird die Aufklärung als Fundament des Staates am vorbildlichen Beispiel Preußens charakterisiert und auf die Zentralität von Freiheit hingewiesen. Es ist nicht nötig, weitere Fundstellen aufzuführen, da die Prinzipien, für die die Aufklärung in der Sicht von Germaine de Staël steht, deutlich geworden sind. Das im Text häufig vorkommende „lumières“ heißt teils Erkenntnis, Aufklärung im Sinne des Ergebnisses des Tuns aufzuklären, oft aber übersetzt man es am besten mit „Aufklärung“, als Eigenname einer großen historischen Sache, die sich als ein Gesamt charakterisieren lässt. nelles des ressources contre les erreurs passagères, et dans la liberté même le maintien de l’ordre et l’accroissement de la puissance.“ Ebd., Bd. 1, Kap. 6, S. 63–64; deutsche Ausgabe S. 55. 38 „On peut juger par la quantité d’ouvrages qui se vendent à Leipsick, combien les livres allemands ont de lecteurs; les ouvriers de toutes les classes, les tailleurs de pierre même, se reposent de leurs travaux un livre à la main. On ne sauroit s’imaginer en France à quel point les lumières sont répandues en Allemagne. J’ai vu des aubergistes, des commis de barrière, qui connoissoient la littérature française.“ Ebd., Bd. 1, Kap. 14, S. 130; deutsche Ausgabe S. 94. 39 „Ces observations sur la Prusse portent toutes sur les moyens qu’elle avoit de se maintenir et de se défendre: car rien dans le gouvernement intérieur n’y nuisoit à l’indépendance et à la sécurité; c’étoit l’un des pays de l’Europe où l’on honoroit le plus les lumières; où la liberté de fait, si ce n’est de droit, étoit le plus scrupuleusement respectée.“ Ebd., Bd. 1, Kap. 16, S. 148; deutsche Ausgabe S. 104.

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Die Autorin setzt sich ausführlich mit den wichtigsten deutschen Aufklärern auseinander: Leibniz, Lessing, Kant, Herder, Schiller, Goethe etc. Sie schafft dadurch ein Korpus deutscher Aufklärungsliteratur. Exemplarisch sei nur ihr Urteil über Schiller exzerpiert: Schiller steht an der Spitze der philosophischen Geschichtsschreiber, d. h. derjenigen, welche die Fakta wie Räsonnements zur Unterstützung ihrer Meinungen betrachten. Seine Geschichte des Abfalls der Niederlande liest sich wie ein Plädoyer voll Interesse und Wärme. Der Dreißigjährige Krieg ist eine von den Epochen, wo die deutsche Nation die meiste Energie bewiesen hat. Schiller hat die Geschichte desselben mit einem Gefühl von Patriotismus und von Liebe für Aufklärung und Freiheit geschrieben, welche seinem Herzen ebensoviel Ehre bringen wie seinem Genie. Die Züge, wodurch er die Hauptpersonen charakterisiert, verraten eine erstaunliche Überlegenheit, und alle seine Reflexionen gehen aus der Andacht eines großen Gemüts hervor.40

Der dritte Band behandelt die deutsche Philosophie. Je ein kürzeres Kapitel zur englischen und französischen Philosophie ist davor geschaltet. Der letzte Teil von „De l’Allemagne“ setzt sich mit der Religion und dem „Enthusiasmus“ auseinander. Zur generellen Einschätzung der deutschen Philosophie schreibt de Staël: Es ist demnach unmöglich, Deutschland kennen zu lehren, ohne den Gang der Philosophie zu zeichnen, der von den Zeiten Leibnizens bis auf die unsrigen nicht aufgehört hat, eine bedeutende Herrschaft über die Republik der Wissenschaften auszuüben.41

Über die französische Aufklärung wird ein interessantes Urteil gefällt: Man kann, dünkt mich, in Frankreich für das achtzehnte Jahrhundert zwei durchaus verschiedene Epochen feststellen, nämlich die, wo der Einfluß Englands zuerst fühlbar wird, und die, wo die Geister sich ins Zerstören stürzten. Erst dann verwandelte sich die Aufklärung in eine Feuersbrunst, und die Philosophie wurde zu einer rasenden Zauberin, welche den Palast in Brand steckte, wo sie bis dahin ihre Zaubereien getrieben hatte. In der Politik gehört Montesquieu der ersten, Raynal der zweiten Epoche an.42

40 „Schiller est à la tête des historiens philosophiques, c’est-à-dire de ceux qui considèrent les faits comme des raisonnements à l’appui de leurs opinions. La révolution des Pays-Bas se lit comme un plaidoyer plein d’intérêt et de chaleur. La guerre de trente ans est l’une des époques dans laquelle la nation allemande a montré le plus d’énergie. Schiller en a fait l’histoire avec un sentiment de patriotisme et d’amour pour les lumières et la liberté qui honore tout à la fois son ame et son génie; les traits avec lesquels il caractérise les principaux personnages sont d’une étonnante supériorité, et toutes ses réflexions naissent du recueillement d’une ame élevée […].“ Ebd., Bd. 2, Kap. 29, S. 344–345; deutsche Ausgabe S. 460. 41 „[…] il est donc impossible de faire connoître l’Allemagne, sans indiquer la marche de la philosophie, qui depuis Leibnitz jusqu’à nos jours, n’a cessé d’exercer un si grand empire sur la république des lettres.“ Ebd., Bd. 3, Kap. 1, S. 4; deutsche Ausgabe S. 497. 42 „Il me semble qu’on pourroit marquer dans le dix-huitième siècle, en France, deux époques parfaitement distinctes, celle dans laquelle l’influence de l’Angleterre s’est fait sentir, et celle où les esprits se sont précipités dans la destruction: alors les lumières se sont changées en incendie, et la philosophie, magicienne irritée, a consumé le palais où elle avoit étalé ses prodiges. En politique, Montesquieu appartient à la première époque, Raynal à la seconde […].“ Ebd., Bd. 3, Kap. 3, S. 37; deutsche Ausgabe S. 517–518.

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Eine generelle Kritik der französischen Aufklärungsphilosophie greift nicht, aber es gibt die konstruktiven und die destruktiven Philosophen. Dies differenziert die Debatte um die Aufklärung aus. Das neunte Kapitel zur „Nouvelle philosophie allemande“ schließt mit einer knappen Epochenrevue, für die der Ausdruck „l’âge des lumières“ Verwendung findet.43 Germaine de Staëls „De l’Allemagne“ wird heute immer noch gelesen und lässt sich unverändert gut lesen, sie besaß eine scharfsichtige Urteilskraft. Ihr thematisch umfassender Zugriff findet sich methodisch ähnlich eigentlich nur bei de Tocqueville in seinem Werk über die Demokratie in Amerika (s. u.). Tocqueville wird ebenfalls immer noch gelesen und lässt sich sehr gut lesen, während manch einer der im weiteren Verlauf dieses Teils zu Frankreich zu zitierenden Autoren überwiegend nur noch in historiografiegeschichtlichen Untersuchungen eine Rolle spielt. GUIZOT – VILLEMAIN – COUSIN Französische Intellektuelle, darunter etliche bekannte Liberale, die neben einer universitären Karriere immer wieder hohe politische Ämter bekleideten, schmiedeten während des gesamten 19. Jahrhunderts das Narrativ von der überlegenen französischen Zivilisation, das schon bei François Guizot zu einer Gleichsetzung des Zivilisationsbegriffs mit der französischen Zivilisation führte. Der Blick auf das „liberale Triumvirat“ Guizot – Villemain – Cousin ist ebenso lehrreich wie unterhaltsam. Guizot wurde 1787 geboren, Villemain 179144, Cousin 1792. Alle drei waren während der Französischen Revolution (1789–1799) noch Kinder, jedenfalls noch nicht einmal ‚Teenies‘, sie wurden in der napoleonischen Zeit erwachsen, sprich intellektuell sozialisiert. Der Protestant François Guizot (1787–1874) war politisch ein konservativer königstreuer Liberaler, bis 1848 füllte er mehrfach Ministerfunktionen aus, darunter die des Bildungsministers. Er wurde 1836 in die Académie française aufgenommen. Er ging ins englische Exil, als 1848 die Revolution ausbrach. Guizot hielt von 1820–1822 Vorlesungen zur Geschichte der Ursprünge des „gouvernement représentatif“, die zunächst im „Journal des Cours publics“ publiziert wurden, allerdings ohne Mitwirkung von Guizot selber. Drei Jahrzehnte später, 1851, wurden diese Vorlesungen erneut gedruckt, dieses Mal nach eingehender Überarbeitung durch Guizot, in die Erkenntnisse aus seinen späteren Vorlesungen einflossen. So Guizot im Vorwort.45 Allerdings hielt sich Guizot recht 43 Ebd., Bd. 3, Kap. 9, S. 142. 44 1791 lt. biografischer Information der Bibliothèque Nationale de France (= BNF), sonst findet man auch 1790. 45 Guizot (1851): Cours d’histoire moderne (1820–1822). Histoire des origines du gouvernement représentatif en Europe, Bd. 1, Préface, S. II.

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streng an die Ursprünge, er lieferte keine Darstellung des 18. Jahrhunderts als modernen Ursprung der Demokratie, wie man vielleicht aufgrund des Vorlesungstitels erwarten würde. Mehr Ertrag lässt sich aus seiner Vorlesung über die Geschichte der Zivilisation in Europa gewinnen.46 Guizot zufolge stand Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert an der Spitze der europäischen Zivilisation. Im 18. Jahrhundert habe diese mit dem „développement intellectuel“ Frankreichs zu tun gehabt.47 Es sei die Gesellschaft („société“) gewesen, die getrennt von der Regierung und oft in Opposition zu dieser, die europäische Welt beim Fortschritt angeführt habe. 48 Der menschliche Geist („esprit humain“) sei beinahe der einzige Akteur im Frankreich des 18. Jahrhunderts gewesen, und zwar in Verbindung mit der „universalité du libre examen“.49 Das heißt, alles habe Gegenstand der Analyse, des Zweifels und des Systems werden können: Religion, Politik, Philosophie, Mensch, Gesellschaft, Natur. Die Einzigartigkeit dieses Prozesses habe in seinem rein spekulativen Charakter bestanden, das heißt Spekulation und Aktion seien nicht, wie sonst in der Geschichte, ineinandergeflossen.50 Nie habe die Philosophie mehr danach gestrebt, die Welt zu lenken, und nie sei sie weiter davon entfernt gewesen.51 Guizot weist dem 18. Jahrhundert Epochencharakter zu, es ist gar nicht einmal nötig, Namen und mit diesen verbundene Inhalte zu nennen. Er sieht es als die philosophischste Epoche der Geschichte an. Abel-François Villemain (1791–1870) machte eine ansehnliche akademische und politische Karriere und gehörte mit Cousin und Guizot zu den intellektuell breitenwirksamsten Persönlichkeiten. Er wurde 1814 an der Sorbonne zum Assistenzprofessor ernannt, eine Funktion, in der er Guizot vertrat, 1816 erfolgte die Ernennung zum Professor der „éloquence française“, 1821 wurde er in die Académie française aufgenommen. Er war 1839 bis 1845 Bildungsminister – und vieles mehr. Seine Literaturvorlesungen brachten ihm eine gewisse Berühmtheit ein.52 Villemain gibt im Vorwort des ersten Bandes der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, die er als Vorlesung an der Sorbonne 1827–1828 hielt53, eine Art Problempanorama: Zwanzig Jahre zuvor, am Ende der Revolution, zu Beginn des Kaiserreichs, war die kontradiktorische Debatte über die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts eine letzte Arena gewesen, die von der Hand, die alle anderen geschlossen hatte, halb offen gelassen worden war. 46 Guizot (1828): Cours d’histoire moderne [année 1828]. Histoire de la civilisation en Europe. Jede der 14 Vorlesungen hat eine eigene Seitenzählung. 47 Ebd., 14. Vorlesung, 18. Juli 1828, S. 14. 48 Ebd., S. 31. 49 Ebd., S. 35. 50 Ebd., S. 36. 51 Ebd. 52 Thoma (1976): Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich, S. 118–119. 53 Villemain (1838): Cours de littérature française. Bd. 1, 1. Teil (Vorlesung von 1827); Villemain (1828): Cours de littérature française. Bd. 2, 1. Teil (Vorlesung von 1828); Villemain (1829): Cours de littérature française. Bd. 3–4.

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Intellektuelle Dort hatten alle Meinungskämpfe stattgefunden, die auf einen großen gesellschaftlichen Wandel folgen; und da es anderswo keine Politik mehr gab, hatte es in der Literaturkritik viel Politik gegeben. Bemerkenswerte Schriften über das achtzehnte Jahrhundert waren nichts als Plädoyers dafür oder dagegen. So kam es, dass es noch keine Nachwelt für dieses denkwürdige Jahrhundert gab, und dass ihm gegenüber sowohl Tadel als auch Lob mit einer ganz eigenen Parteilichkeit geäußert wurden.54

„Literatur“ ist wie später bei Hermann Hettner ein sehr weit gefasster Begriff, unter den philosophische Werke ebenso zählen wie im engeren Wortsinn literarische. Als Erklärung für den Streit bietet der Autor Folgendes an: Der indirekte Protest eines Teils der Gesellschaft gegen den oft irregulären und mit Gewalt errungenen Sieg der Vielen, der eher zaghafte Kampf des Freiheitsgeistes gegen das Übermaß an Macht, flüchteten sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch in die Kontroverse über die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts.55

Zwar wird ein Peter J. Gay in den 1960er Jahren immer noch schreiben (müssen), dass die Aufklärung jetzt endlich einmal aus der Gegenwartspolemik herausgenommen werden müsse, aber Villemain war 1828 ebenfalls schon zu diesem Schluss gekommen: Indessen kann sich die Wahrheit nicht danach richten, unter welchem Aspekt sie gerade betrachtet wird; unmerklich sollte sich daher ein unparteiliches Urteil über den Charakter des vergangenen Jahrhunderts herausbilden.56

Darüber hinaus kündigt Villemain an, die weltweite Wirkung der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts mit einbeziehen zu wollen. Völlig klar sieht er die Bedeutung dieser Literatur für die eigene Gegenwart: Das 18. Jahrhundert hat nämlich, obwohl es mehr zerstört als aufgebaut hat, überall dauerhafte Spuren hinterlassen. Seine Ideen, seine Meinungen, seine Hoffnungen, alles teils korrigiert, teils realisiert, bilden die hauptsächliche Grundlage der gegenwärtigen Gesellschaft. […] Indem, selbst um den Preis des Irrens, die freie Diskussion überall eingeführt wurde, wurde das Gesetz unserer Zeit vorbereitet, demzufolge das religiöse Empfinden aufgrund der vollständi-

54 „Vingt ans auparavant, à l’issue de la révolution, au commencement de l’empire, le débat contradictoire sur la littérature du dix-huitième siècle avait été une dernière arène laissée à demi ouverte par la main qui fermait toutes les autres. Là, s’étaient donné rendez-vous tous les procès d’opinion que traîne à sa suite un grand changement social; et, comme il n’y avait plus de politique ailleurs, il y en avait eu beaucoup dans la critique littéraire. De remarquables écrits sur le dix-huitième siècle n’étaient que des plaidoyers pour ou contre. De là il était arrivé qu’il n’y avait pas encore de postérité pour ce siècle mémorable, et qu’à son égard le blâme et l’éloge s’exprimaient avec une partialité toute contemporaine.“ Villemain (1838): Cours de littérature française. Bd. 1, 1. Teil, S. VIII–IX. 55 „A l’entrée du dix-neuvième siècle, la protestation indirecte d’une partie de la société contre la victoire souvent irrégulière et violente du grand nombre, la lutte plus timide de l’esprit de liberté contre l’excès du pouvoir se réfugiaient également dans la controverse sur les écrivains du dix-huitième siècle.“ Ebd., S. IX. 56 „La vérité ne peut changer cependant, au gré de ces aspects divers; et un jugement impartial sur le caractère du dernier siècle devait insensiblement se former.“ Ebd., S. XI.

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gen Gewissensfreiheit und die gesellschaftliche Stabilität aufgrund des höchsten Grads an bürgerlicher Freiheit zurückkehren werden.57

Zu den allgemeinen Charakteristika (erste Vorlesung) der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts zählt der Autor u. a.: Das französische Genie habe Europa beherrscht und die Veränderung der Welt vorbereitet; man kann hier die später publikumswirksam von Réau (1938) vertretene These der „Europe française“ bereits voll ausgebildet erkennen. Das 18. Jahrhundert werde durch den „esprit d’innovation“ und die „liberté sceptique“ ausgezeichnet. Englische Einflüsse konzediert der Autor, Deutschland habe zu Beginn des 18. Jahrhunderts ja aber noch auf Latein geschrieben und sei um ein Jahrhundert zurückgelegen. Voltaire ist der Held, auf den er immer wieder zurückkommt; das wird über hundert Jahre später auch Victor Klemperer wieder so halten. Die Encyclopédie gibt der Aufklärung, die nicht so genannt wird, Struktur, sie ist ein organisatorischer Knoten – etliches wird bis heute den Kanon ausmachen, der mit der Aufklärung verbunden wird. Nicht als hätte Villemain das alles neu herausgefunden, aber er hat eine vorzügliche Begabung zur wortgewaltigen Synthese. Die These vom französischen Europa wird in der ersten Vorlesung auch genauer detailliert; Villemain hält Umschau in alle Himmelsrichtungen und sieht überall das Wirken des französischen Geistes. Zudem habe die Literatur im 19. Jahrhundert nicht mehr dieselbe Kraft wie im 18. Jahrhundert, die Gesellschaft zu verändern. Ohne ihren Namen zu nennen, erweist Villemain Germaine de Staël seine Ehrerbietung, wenn er schreibt: „[…] une femme bannie par le vainqueur de l’Europe, […], ce sont [Villemin bezieht sich auf mehrere Personen; W.S.] là, dans des degrés fort inégaux, les esprits qui garderont le plus de vigueur et de nouveauté.“58 In der 12. Vorlesung vom 1. Juli 1828 erweist er Frau de Staël dann auch namentlich seine Reverenz; es geht um den Einfluss der französischen Literatur in Deutschland, den er mangels ausreichender Deutschkenntnisse aber nicht selbst erarbeiten könne. Doch wozu hätte er sich diese Mühe machen sollen? Denn: […] die Ernte ist eingebracht, die Aufgabe wurde mit brillanter Überlegenheit von einer Person erledigt, die ihre schöne Einbildungskraft den Mühen der Kritik unterwarf, um die Kritik selber auf das Niveau ihres originellen und freien Denkens zu erheben. Diese Person, diese femme grand homme, das ist Madame de Staël.59 57 „C’est que le dix-huitième siècle, quoiqu’il ait malheureusement plus détruit que fondé, a laissé partout des traces durables. Ses idées, ses opinions, ses espérances, en partie corrigées, en partie réalisées, forment le fonds principal de la société présente. […] En introduisant, même au prix de l’erreur, la libre discussion, en la portant partout, ils préparaient la loi de notre temps, cette loi qui doit ramener le sentiment religieux par la plus complète liberté de conscience, et la stabilité sociale par le plus haut degré de liberté civile.“ Ebd., S. XIV. 58 Ebd., 1. Vorlesung, S. 32–33. 59 „[…] c’est que la moisson est faite, c’est que la tâche a été remplie avec une éclatante supériorité par une personne qui a plié sa belle imagination au travail de la critique, pour élever la critique même au niveau de sa pensée originale et libre; cette personne, cette femme grand homme, c’est madame de Staël.“ Villemain (1828): Cours de littérature française. Bd. 2, 1. Teil, 12. Vorlesung, 1. Juli 1828, S. 4.

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Zu vermerken ist der Ausdruck „femme grand homme“ – wohl das größte mögliche Lob für eine Autorin aus der Feder eines männlichen Akademikers damals. In der 22. und 23. Vorlesung des Jahres 1829 schließlich wird er sich ausführlich dem Œuvre von Germaine de Staël widmen.60 Villemain setzt in den ersten dreizehn Vorlesungen Begriffe wie „lumières“ und „éclairé“ eher sparsam ein, gelegentlich kommt eine „aufgeklärte Verwaltung“ („administration éclairée“) oder ein „peuple éclairé“ (die Engländer) vor. „Philosophie“ ist ein recht oft benutztes Wort, meistens bezieht es sich auf die Philosophie eines konkreten Autors, gelegentlich finden sich allgemeinere Formulierungen wie „philosophie du dix-huitième siècle“. „Raison“ (inkl. raisonnable, raisonnement) wird regelmäßig verwendet, wenn auch meistens unspezifisch. Formulierungen im Zusammenhang Englands im Zeitalter Karls II. wie die folgende sind selten: „[…] l’Angleterre nourrissait dans son sein une haute école de philosophie, qui devait bientôt puissamment servir aux progrès de la raison générale et de la liberté.“61 Häufiger als „philosophie“ oder „raison“ liest sich „esprit“, doch allgemeine Wendungen wie „l’esprit du siècle“ oder „l’esprit de liberté“ oder „esprit philosophique“, die sich nicht auf eine bestimmte Person beziehen, sind selten. Die im zweiten Band vereinigten Vorlesungen aus dem Jahr 1828 befassen sich mit dem Einfluss der französischen Literatur in England und Schottland, in Italien und Deutschland, in Spanien und Portugal, im „Norden“, sprich Russland, Dänemark und Schweden. Man vermerke, dass Villemain nach wie vor Russland als Norden bezeichnet und nicht als Osten, sozusagen Larry Wolff zum Trotz.62 Der französische literarische Einfluss auf Deutschland sei insgesamt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gering gewesen im Vergleich zum englischen (12. Vorlesung, 1. Juli 1828), aber: Gesellschaftlich konnten die deutschen der Autorität des französischen Geistes nicht entrinnen, den ihre Literatur zum Teil ablehnte. Die menschliche und großzügige Politik Josefs II. und Leopolds war ganz offensichtlich von französischen Büchern inspiriert worden. Diese in ganz Europa verbreiteten Bücher, die in Frankreich durch die Vorsichtsmaßnahmen der Behörden verleugnet und gleichzeitig von der Öffentlichkeit begeistert aufgenommen wurden, hatten im Ausland Auswirkungen auf das Verhalten der Fürsten selbst. 63

Diese Vorlesungen detaillieren die These vom französischen Europa, doch kommt Villemain nicht auf den Gedanken, die Sache beim Namen zu nennen, also „Europe française“. Stattdessen formuliert er z. B. „l’histoire des lettres françaises, dans le développement de la civilisation de l’Europe au dix-huitième siècle“ und 60 61 62 63

Villemain (1829): Cours de littérature française. Bd. 3–4, Bd. 4, 22.–23. Vorlesung. Villemain (1838): Cours de littérature française. Bd. 1, 1. Teil, S. 138. Wolff (1994): Inventing Eastern Europe. „Mais l’état social des Allemands n’échappait point à cette autorité de l’esprit français, que repoussait en partie leur littérature. La politique humaine et généreuse de Joseph II et de Léopold était évidemment inspirée par les livres français. Répandus dans toute l’Europe, ces livres, désavoués en France par les précautions du pouvoir, en même temps qu’ils étaient adoptés par l’engouement public, agissaient dans les pays étrangers sur la conduite même des princes.“ Villemain (1828): Cours de littérature française. Bd. 2, 1. Teil, 12. Vorlesung, S. 9.

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ähnlich „l’ame commune de la civilisation de l’Europe à cette époque“.64 Den größten Anteil dabei schreibt er Voltaire, Montesquieu und Rousseau zu. In der 13. Vorlesung beschreibt Villemain den Zustand der französischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Diese habe mehr Esprit gehabt als diejenigen, die sie regierten, es habe daher einer neuen Begründung der Macht und einer neuen Form des Gehorsams bedurft.65 Villemain setzte die Vorlesung im darauffolgenden Studienjahr fort (1828/1829) und legte den Schwerpunkt auf das Thema der Eloquenz und der großen Redner, die in Frankreich ab der zweiten Hälfte der 1780er Jahre (Vorrevolution), in England schon etwas eher aufgetreten seien. Bevor Villemain das Wort ergreifen konnte, wurde er mit lang anhaltendem Applaus begrüßt.66 Das Generalthema erlaubte es ihm, ausführlich auf antike Autoren und Redner einzugehen, Eloquenz und Rede stellte er in den Zusammenhang von „Kritik“ als Habitus. Über die Redner in der französischen Konstituante gelangten Inhalte der Literatur und Philosophie der Aufklärung in den revolutionären Prozess und wurden praktisch relevant. Dieser Perspektivwechsel vom Schreiber zum Redner erweist sich als fruchtbar, weil er die Frage nach dem Verhältnis zwischen Aufklärung und Revolution ins Praktische zieht. Mirabeau widmete er sich ausführlich, auf der englischen Seite Pitt, Burke und anderen. Um die Aufklärung, die er ja nie so nennt, geht es dabei freilich nicht mehr. Die Vorlesung erlebte im 19. Jahrhundert in jedem Jahrzehnt mindestens eine Neuauflage, diese erschienen in verschiedenen Verlagen sowie in Belgien. Die Ausgabe von 1868 wurde 1974 nachgedruckt (Genf: Slatkine). WorldCat besitzt nur Datensätze über die Ausgaben 1884, 1890 und 1891, die offenbar eifrig von US-amerikanischen Bibliotheken erworben wurden. Übersetzungen der Literaturgeschichte ließen sich nicht eruieren. Insgesamt wurde Villemain wenig übersetzt, aber von einzelnen Schriften können Übersetzungen ins Deutsche, Englische, Griechische, Italienische und Ungarische erhoben werden. Summa summarum stecken die europäischen und US-amerikanischen Bibliotheken voll mit Werken von Villemain, darunter beinahe immer die Literaturgeschichte.67 Victor Cousin (1792–1867) gehörte zu den einflussreichsten akademischen Persönlichkeiten Frankreichs im 19. Jahrhundert vor der Gründung der Dritten Republik. Abgesehen von einem Karriereknick zwischendurch, als er politisch missliebig geworden war, stieg er noch vor Erreichen des vierzigsten Lebensjahrs zu höchsten Ehren auf (Pair de France, Mitglied der Académie française, etc.). 1840 war er für ein gutes halbes Jahr Bildungs- und Unterrichtsminister. Insgesamt konnte er großen Einfluss auf das Bildungswesen ausüben; er nutzte seine Möglichkeiten, um der Philosophie den ihr nach seiner Meinung gebührenden

64 65 66 67

Ebd., 12. Vorlesung, S. 31, S. 32. Ebd., 13. Vorlesung, 8. Juli 1828, S. 26. Villemain (1829): Cours de littérature française. Bd. 3–4, Bd. 3, S. 1. Alle Angaben mittels Karlsruher Virtueller Katalog (= KVK).

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Platz in der Bildung zu verschaffen. Außerdem war er Professor u. a. an der Sorbonne und Direktor der École normale.68 Hegel traf er 1817 in Heidelberg, nochmals 1825 in Berlin, wo er Mitschriften der Vorlesungen Hegels z. B. über die „Geschichte der Philosophie“ erhielt. Cousin interessierte sich immer intensiver für deutsche Philosophie, für Leibniz, Kant, Hegel, Schelling (den er ebenfalls persönlich kennenlernte) und weitere Philosophen. Die Kenntnis deutscher Philosophie in Frankreich, vor allem des Idealismus, verdankte sich wesentlich Cousin. 1829 veröffentlichte Victor Cousin seine Vorlesung über die Philosophie des 18. Jahrhunderts in zwei Bänden. Erstmals hielt er eine solche Vorlesung 1819/1820, dieser erste Durchgang wurde aber erst rund 20 Jahre später, jedoch nicht von ihm selber, publiziert.69 Die Grundaussagen sind über die Jahrzehnte dieselben geblieben, die verschiedenen Publikationen zur Philosophiegeschichte unterscheiden sich durch die konkreten Schwerpunktsetzungen. Auffällig ist, dass der Autor immer nur von „philosophie du XVIIIe siècle“ spricht, „Aufklärung“ („lumières“) ist keine Kategorie zur Klassifizierung. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts ist für ihn wie jede andere Philosophie seit der altorientalischen durch vier Denksysteme geprägt: Sensualismus, Idealismus, Skeptizismus und Mystizismus. So gesehen ist die Philosophie des 18. Jahrhunderts nichts Besonderes. In anderer Hinsicht schon, wie gleich zu sehen sein wird. Ein großer Teil des ersten Bandes der Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts ist der Geschichte der Philosophie im Laufe der Jahrtausende gewidmet, was der Buchtitel so zunächst nicht erkennen lässt, aber bereits dem „Avis des éditeurs“ am Anfang von Band 1 zu entnehmen ist. Dieser Ansatz lag auch dem 1863 publizierten Abriss der Geschichte der Philosophie von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts70 zugrunde, sodass wir es bei Cousin mit einem schon früh fixierten System zur Geschichte der Philosophie zu tun haben. Victor Cousin knüpft, in seine Vorlesung einleitend, an den fortdauernden Streit um das 18. Jahrhundert an: Jedes Jahrhundert, das von der Weltbühne abtritt – und allen voran das Achtzehnte, das so viele große Ereignisse gekannt hat – hinterlässt ein umfangreiches Erbe an gegensätzlichen Interessen. Das achtzehnte Jahrhundert hat also notwendigerweise unter uns Bewunderer ebenso wie hartnäckige und versteckte Gegner: In diesem Streit entgegengesetzter Leiden-

68 Thoma (1976): Aufklärung und nachrevolutionäres Bürgertum in Frankreich, behandelt Cousin im Unterkapitel „Philosophischer Eklektizismus und Philosophie der Aufklärung“, S. 94–118, seine Untersuchungsperspektive unterscheidet sich aber zu sehr von meiner, um hier Detaildiskussionen zu führen. 69 Cousin (1829): Cours de l’histoire de la philosophie. Histoire de la philosophie du XVIII e siècle, hier Bd. 1, Avis des éditeurs, S. V. Die Vorlesungen von 1819/1820 wurden von Vacherot bzw. Danton und Vacherot in zwei Bänden 1839–1840, Paris, herausgegeben. 70 Cousin (1863): Histoire générale de la philosophie.

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schaften würde sich die philosophische Unabhängigkeit unwohl fühlen, wenn sie sich nicht als Belohnung auf die ihr innewohnende Kraft stützen könnte. 71

Cousin behandelt Epochen und Jahrhunderte wie Akteursubjekte. So habe das 18. Jahrhundert die Aufgabe gehabt, das Mittelalter, welches das 16. und 17. Jahrhundert erschüttert hätten, umzustürzen und endgültig zu beenden. „De là les caractères du dix-huitième siècle.“72 Das Prinzip des 18. Jahrhunderts sei die Freiheit gewesen, das Jahrhundert sei durch die Verallgemeinerung und allgemeine Verbreitung der Ideen charakterisiert gewesen.73 Weiter schreibt Cousin: Untersuchen Sie das [18. Jahrhundert; W.S.] genau; es machte dies selbst mit allem, es legte sich über alles Rechenschaft ab, in allen Dingen wollte es zu den einfachsten Elementen vordringen, das heißt zum Allgemeinsten; gleichzeitig sehen Sie, wie es die Prinzipien, sind sie einmal generalisiert, unaufhörlich auf alles und überall anwendet. Daher kommt die Verschmelzung aller Klassen in ein und demselben Land, das verborgene Prinzip der künftigen Gleichheit; und die Verschmelzung aller Länder Europas, das verborgene Prinzip der künftigen europäischen Einheit. Die Annäherung der Klassen und der Länder Europas zeigt sich bereits im 18. Jahrhundert; es bildet sich bereits eine Einheit, in der sich das zivilisierte Europa begegnet und sich wiedererkennt.74

Die Französische Revolution bezeichnet Cousin als „das letzte Wort“ des 18. Jahrhunderts, als „seine Krise“, als „das Ereignis par excellence“ des Jahrhunderts.75 Gelegentlich benutzt Cousin die Wendung „toute l’Europe éclairée“: „Comme le chef de l’école historique du dix-huitième siècle est Voltaire, le chef de l’école politique de ce siècle est Montesquieu: toute l’Europe éclairée s’est rangée sous sa bannière.“76 Als Quintessenz des Jahrhunderts weist Cousin gegenüber seinen Zuhörern aus, dass man alles bis ins Kleinste zerlegt, auseinandergenommen habe („dissoudre“), um es zu verstehen: 71 „Tout siècle en se retirant de la scène du monde, et plusqu’aucun autre le dix-huitième, rempli de si grands événements, laisse après lui un long héritage d’intérêts contraires. Le dixhuitième siècle a donc nécessairement parmi nous des admirateurs et des adversaires ardens et ombrageux: dans ce débat des passions opposées, l’indépendance philosophique serait mal à l’aise, si elle ne trouvait en elle-même sa force comme sa récompense.“ Cousin (1829): Cours de l’histoire de la philosophie. Histoire de la philosophie du XVIII e siècle, Bd. 1, 1. Vorlesung, S. 5. 72 Ebd., Bd. 1, 1. Vorlesung, S. 9. 73 Ebd., Bd. 1, 1. Vorlesung, S. 10–11. 74 „Examinez-le [= das 18. Jahrhundert; W.S.] bien; vous le voyez rappeler tout à l’examen, se rendre compte de tout, aspirer sans cesse en toutes choses aux élémens les plus simples, c’està-dire à la plus haute généralisation; et en même temps vous le voyez appliquer sans cesse à tout et partout les principes qu’il a une fois généralisés. De là dans un seul et même pays la fusion de toutes les classes, principe caché de la future égalité; et la fusion de tous les pays de l’Europe, principe caché de la future unité européenne. Déjà ce rapprochement des classes et des pays paraît au dix-huitième siécle; il s’y forme déjà une unité dans laquelle se rencontre et se reconnaît toute l’Europe civilisée.“ Ebd., Bd. 1, 1. Vorlesung, S. 11. 75 Ebd., Bd. 1, 1. Vorlesung, S. 14. 76 Ebd., Bd. 1, 1. Vorlesung, S. 27.

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Intellektuelle Nun, auf diese Weise zu experimentieren, auseinanderzunehmen, zu analysieren, das heißt nichts anderes als aufzulösen. Das ist keine Wortähnlichkeit, meine Herren; die Sache ist ident. Diese Identität kommt überall hervor, wenn man für das ganze Jahrhundert vergleichend die Wissenschaften, die Künste, die Literatur, die Moral, die Religion und die Politik untersucht.77

Die Verwendung eines starken Begriffs wie „Identität“ ist auffällig, und ebenso auffällig ist es, dass „Aufklärung“ offenbar nicht als Synonym des Identitätsbegriffs infrage kommt. Sie hat aber selber eine erkennbare Identität. Weitere charakterisierende Begriffe bezüglich des 18. Jahrhunderts sind „esprit nouveau“ und „civilisation moderne“. Und dann folgt noch eine interessante Interpretation, die sich auf die Charte Constitutionnelle von 1814 bezieht, insoweit sie das ‚Beste der Revolutionen des 16., des 17. und des 18. Jahrhunderts‘ aufgenommen habe. Cousin liegt der Verfassungsstaat (er gibt sich als Anhänger der Monarchie), der den Menschen die essentiellen Freiheitsrechte garantiert, sehr am Herzen, das ist offensichtlich. Er baut aber, anders, als es später meistens der Fall sein sollte, keine Brücke zur Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789, sondern stellt die Charte in den Mittelpunkt, die wie das wichtigste Ergebnis des 18. Jahrhunderts, ja, insgesamt der frühen Neuzeit erscheint. Das Resultat aus der Geschichte ist eindeutig, es ist ein verfassungs- und grundrechtsgeschichtliches, die Materialisierung in Gestalt der Charte ist bemerkenswert.78 77 „Or expérimenter ainsi, décomposer, analyser, c’est dissoudre. Ce n’est pas une ressemblance de mot, Messieurs; l’identité est dans la chose; et cette identité ressort de toutes parts de l’examen comparé des sciences, des arts, de la littérature, de la morale, de la religion et de la politique dans le siècle entier.“ Ebd., Bd. 1, 1. Vorlesung, S. 29. 78 Interessehalber hier die von mir gemeinte Stelle (ohne Übersetzung): „[…] celui qui a fait la Charte a porté un jugement péremptoire sur le dix-huitième siècle: il a fait la part du bien et celle du mal; il a condamné ce qui était condamnable, il a légitimé ce qui était légitime. Toute Charte, toute Constitution n’est qu’un résumé historique; c’est la reconnaissance de tous les éléments essentiels d’une époque; or, la Charte, parmi les élémens réels de notre époque, a reconnu et replacé au premier rang le christianisme et la royauté, qui aujourd’hui, grâce à Dieu, prennent chaque jour de nouvelles forces, de nouveaux accroissemens; et par là la Charte a confondu plus d’une vaine théorie, plus d’une entreprise criminelle. Mais en même temps, Messieurs, la Charte a absout les principes et les résultats généraux de la révolution française et du dix-huitième siècle. Non seulement elle a absout le dix-huitième siècle, mais en absolvant celui-là, elle a absout les deux siècles qui l’avaient précédé et préparé. La révolution du seixième siècle est reconnue et agrandie dans la Charte par l’article qui consacre la liberté des cultes; la révolution politique du dix-septième est reconnue également par l’introduction des Chambres dans le gouvernement du Roi, et la participation du pays aux affaires du pays. Les formes et la langue même du gouvernement représentatif de l’Angleterre de 1688 ont passé dans la Charte française de 1814. Voilà pour les seixième et dix-septième siècles: quant au dix-huitième, l’égalité qu’y avait engendrée la diffusion du principe général de la liberté a été consacrée par l’article qui reconnaît l’accessibilité de tous les Français à tous les emplois, et qui établit la vraie égalité, la seule égalité possible et légitime, l’égalité devant la loi; enfin le principe général de la liberté est consacré par la liberté de la presse. […] Ainsi la Charte elle-même a adopté les réformes religieuses et politiques du seixième et du dix-septième siècle, et la grande révolution du dix-huitième. Dernier résultat des conquêtes

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Die 2. Vorlesung soll die Philosophie allgemein beschreiben: „Or, tout siècle est un, et la philosophie du dix-huitième siècle ne peut que réfléchir l’esprit du siècle auquel elle appartient.“79 Was die allgemeinen Erkenntnisse angeht, behauptet Cousin: „Le christianisme est la racine de la philosophie moderne. […] la philosophie moderne est essentiellement la fille d’une société chrétienne.“80 Dennoch sei Philosophie unabhängig („indépendante“) von der Religion. Der grundlegende Charakter der modernen Philosophie sei die Freiheit („liberté“). Darin liege die Einheit („unité“) der Philosophie im Europa des 18. Jahrhunderts, bei aller Vielfalt, die die Philosophie im Einzelnen dann ausmache. Die Philosophie sei zu einer „puissance d’action“ geworden. So wie es die „mission générale“ des 18. Jahrhunderts gewesen sei, das Mittelalter zu beenden, sei es die „mission philosophique“ des 18. Jahrhunderts gewesen, „d’en finir avec le moyen âge en philosophie.“81 Was habe das aber genau bedeutet? „C’était détruire, en matière philosophique, le principe de l’autorité et resserrer la théologie dans son domaine propre.“82 Die Quintessenz zum 18. Jahrhundert und der Philosophie lautet folglich bei unserem Autor, dass sich die philosophische Unabhängigkeit im 18. Jahrhundert vollständig durchsetzen konnte: „Ce siècle s’est appelé le siècle de la philosophie, et après tout la postérité ratifiera ce titre […].“83 Victor Cousin spricht hier und im Weiteren pro domo des Fachs „Philosophie“, für das er sich sein Leben lang stark machte, zugleich definiert er „le siècle de la philosophie“ im Sinne einer Epoche, im Sinne jener später „siècle des Lumières“ genannten Epoche. Diese zweite Vorlesung endet wie die erste mit einem Lob auf die eigene Zeit, in der sich die Geschichte der drei frühneuzeitlichen („frühneuzeitlich“ ist kein Wort, das Cousin benutzt, er zählt immer die drei Jahrhunderte auf) Jahrhunderte erfüllt hat. Die Betonung der Abgeschlossenheit des 18. Jahrhunderts unterstreicht den Epochencharakter des „Jahrhunderts der Philosophie“. Die dritte Vorlesung ist der Frage der Methode mit und seit Descartes gewidmet, von der vierten bis zur zwölften Vorlesung führt Cousin durch die Geschichte der Philosophie vom Alten Orient und Indien bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Der zweite Band mit den Vorlesungen 12–22 gilt dann dem 18. Jahrhundert, allerdings steht fast ausschließlich Locke im Mittelpunkt. Weiteres und weitere Philosophen kann der Leser mittels der anderen Vorlesungspublikationen ergänzen. Cousin definiert sowohl für das 18. Jahrhundert wie für die Philosophie des 18. Jahrhunderts eine Identität. Der Kern der Identität letzterer besteht in der „liberté“, der Kern der Identität des Jahrhunderts besteht in der Beendigung des

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progressives de l’humanité, elle les représente et les protège.“ Ebd., Bd. 1, 1. Vorlesung, S. 36–38. Ebd., Bd. 1, 2. Vorlesung, S. 42. Ebd., Bd. 1, 2. Vorlesung, S. 56. Alle Zitate ebd., Bd. 1, 2. Vorlesung, S. 74. Ebd., Bd. 1, 2. Vorlesung, S. 75. Ebd., Bd. 1, 2. Vorlesung, S. 77.

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Mittelalters, eine Leistung, die die Charte von 1814 als Symbiose aus den frühneuzeitlichen Revolutionen inklusive der Französischen Revolution ermöglichte. Die Charte setzt Cousin inhaltlich mehr oder weniger mit dem Rechtsstaat gleich, ohne diesen Begriff wörtlich zu benutzen. Das wird später ein deutscher Kollege, Hermann Hettner, tun. ALEXIS DE TOCQUEVILLE Bis heute bleibt die Lektüre von Alexis de Tocquevilles (1805–1859) beiden Hauptwerken „De la démocratie en Amérique“ (1835–1840) und „L’ancien régime et la révolution“ (1856) anregend und erhellend. Zugleich handelt es sich um zwei bis heute global bekannte Werke. „L’ancien régime et la révolution“ wurde bereits im Jahr des Erscheinens, 1856, ins britische sowie, davon unabhängig, ins amerikanische Englisch übersetzt, ebenso ins Deutsche. In Frankreich folgten bis 1934 sechzehn Auflagen aufeinander mit einer Gesamtauflage von 25.000 Exemplaren. Um 1900 machte die Universität Oxford das Buch zur Regellektüre in den Fächern Geschichte und Sozialwissenschaften. J.-P. Mayer, von dem diese Angaben stammen, verweist auf den großen Einfluss, den Tocquevilles Bücher über die USA und den Zusammenhang zwischen Ancien Régime und Revolution auf die Politiker hatten, die die Verfassung der Dritten Republik von 1875 erstellten. Speziell Hippolyte Taine, auf den weiter unten einzugehen ist, inspirierte sich an Tocqueville. Alle bekannten Historiker und Kulturwissenschaftler, viele Soziologen, sei es als Zeitgenossen Tocquevilles, sei es des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts, setzten sich mit diesen Werken auseinander: Jacob Burckhardt, Vilfredo Pareto, Wilhelm Dilthey … Alle Verfasser von Überblicken über die Französische Revolution wie etwa auch Sybel lasen Tocqueville.84 Lange Zeit dachte niemand über so etwas wie eine (nord-)amerikanische Aufklärung (geschweige denn eine mittel- und südamerikanische Aufklärung) nach. In der Einleitung zum ersten Band des Amerikabuches gibt de Tocqueville fast wie nebenbei einen Fingerzeig, warum das so war: Die Auswanderer, die sich zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts in Amerika niederließen, lösten das Prinzip der Demokratie von all jenen, gegen die sie in den alten Gesellschaften Europas ankämpften, und verpflanzten es allein an die Küsten der Neuen Welt. Dort konnte es in Freiheit wachsen und sich im Einklang mit den Sitten und Gesetzen friedlich entwickeln. 85

84 Vgl. Mayer (1981): Introduction. Matériaux pour une histoire de l’influence de L’ancien régime, S. 13–42. 85 „Les émigrants qui vinrent se fixer en Amérique au commencement du XVII e siècle dégagèrent en quelque façon le principe de la démocratie de tous ceux contre lesquels ils luttaient dans le sein des vieilles sociétés de l’Europe, et ils le transplantèrent seul sur les rivages du Nouveau-Monde. Là, il a pu grandir en liberté, et, marchant avec les mœurs, se développer paisiblement dans les lois.“ Tocqueville (1850 [1835]): De la démocratie en Amérique, S. 15.

Alexis de Tocqueville

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Hier brauchte es keine antreibenden Aufklärer. Tocquevilles Darstellung der Geschichte der europäischen Auswanderer in Nordamerika folgt exakt dieser Leitlinie. Auch die amerikanische Bundesverfassung sieht er nicht als Werk von Aufklärern: Die kleine Versammlung, die mit der Ausarbeitung der zweiten Verfassung beauftragt war, bestand aus den besten Köpfen und edelsten Charakteren, die je in der Neuen Welt aufgetaucht waren. George Washington hatte den Vorsitz inne.86

Tocqueville nennt in den Fußnoten weitere Namen wie Hamilton und Madison, er benutzte den Federalist, der in der aktuellen Interpretation der US-amerikanischen Aufklärung eine wichtige Rolle spielt. Gleichwohl kam er nicht auf die Idee, von amerikanischer Aufklärung zu sprechen. Für ihn waren die Protagonisten „législateurs“. Hier dürften die historischen Figuren weiser Gesetzgeber als Modelle wegweisend gewesen sein. Anders in Frankreich. Im Werk über das Ancien Régime und die Revolution schrieb de Tocqueville über die Aufklärer: Die Philosophie des 18. Jahrhunderts wird zu Recht als eine der Hauptursachen für die Revolution angesehen, und es ist richtig, dass diese Philosophie zutiefst irreligiös ist. Aber es ist notwendig, zwei Teile darin sorgfältig zu beachten, die gleichzeitig verschieden und separierbar sind.87

Was die religiöse Seite angehe, habe die Aufklärungsphilosophie vor allem die Institution attackiert, da die Kirche zu den größten feudalen Grundbesitzern gezählt und viele Privilegien besessen habe. Er interpretiert die Philosophie nicht als durch und durch atheistisch. Interessant ist das andere, von ihm zuerst angeführte Argument, weil de Tocqueville den uns heute geläufigen Zusammenhang zwischen Aufklärung und demokratischem Staat sinngemäß herstellt: In dem einen [Bezug: Teil; W.S.] finden sich alle neuen oder aufgefrischten Meinungen, die sich auf den Zustand der Gesellschaften und auf die Prinzipien der bürgerlichen und politischen Gesetze beziehen, wie z. B. die natürliche Gleichheit der Menschen, die Abschaffung aller Privilegien der Kasten, Klassen und Berufsstände […], die Souveränität des Volkes, die Allmacht der gesellschaftlichen Macht, die Einheitlichkeit der Regeln […]. Alle diese Lehren sind nicht nur die Ursachen der Französischen Revolution, sie bilden sozusagen ihre Substanz; sie sind das Grundlegendste, Dauerhafteste, Wahrhaftigste in ihren Werken, was die Zeit betrifft.88

86 „L’assemblée peu nombreuse, qui se chargea de rédiger la seconde constitution, renfermait les plus beaux esprits et les plus nobles caractères qui eussent jamais paru dans le NouveauMonde. Georges Washington la présidait.“ Ebd., S. 135–136. 87 „On considère avec raison la philosophie du dix-huitième siècle comme une des causes principales de la Révolution, et il est bien vrai que cette philosophie est profondément irréligieuse. Mais il faut remarquer en elle avec soin deux parts, qui sont tout à la fois distinctes et séparables.“ Tocqueville (1856): L’ancien régime et la révolution, hier S. 32. 88 „Dans l’une [Bezug: part; W.S.] se trouvent toutes les opinions nouvelles ou rajeunies qui se rapportent à la condition des sociétés et aux principes des lois civiles et politiques, tels, par exemple, que l’égalité naturelle des hommes, l’abolition de tous les priviléges [sic!] de castes, de classes, de professions, qui en est une conséquence, la souveraineté du peuple,

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Die irreligiöse Komponente der Revolution spiele mittlerweile keine Rolle mehr, das politische Werk habe sich stabilisiert. Es gebe keinen Widerspruch zwischen demokratischer Gesellschaft und Religion89 – eine Erkenntnis, die er im Werk über die amerikanische Demokratie bereits dargelegt hatte. Zu Frankreich in seiner Zeit schreibt er an späterer Stelle, im zweiten Kapitel des dritten Buches, wo er den Gedanken aus der Einleitung wieder aufnimmt: Welcher Franzose käme heutzutage noch auf die Idee, Bücher wie die von Diderot oder Helvétius zu schreiben? Wer würde sie noch lesen wollen? Ich würde zu fragen wagen: Wer wüsste noch die Buchtitel zu benennen? Die Teilerfahrungen, die wir in den letzten sechzig Jahren im öffentlichen Leben gesammelt haben, reichten aus, um uns von dieser gefährlichen Literatur abzuwenden.90

Das erste Kapitel des dritten Buchs von „L’ancien régime et la révolution“ befasst sich mit den Aufklärern, die nicht so genannt werden, sondern als „gens de lettres“, „ces écrivains“, „auteurs“ und zwischendurch auch einmal als „philosophes“ auftreten. Tocqueville betont die Vielfalt der Schriften und Konzepte, die sich kaum auf eine bestimmte politische und Gesellschaftslehre reduzieren ließen, doch habe es gemeinsame Prinzipien gegeben: […]; alle denken, dass die komplizierten und traditionellen Gewohnheiten, die die Gesellschaft ihrer Zeit beherrschen, durch einfache, elementare Regeln ersetzt werden müssen, die aus der Vernunft und dem Naturgesetz geschöpft werden.91

Genau das beschriebe präzise die Substanz der politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts. Dies sei jedoch überhaupt nichts Neues gewesen, vielmehr habe es sich um Ideen gehandelt, die seit 3000 Jahren existierten. Wie hatte es dann dazu kommen können, dass die „hommes de lettres“ in Frankreich im 18. Jahrhundert so einflussreich werden konnten? Tocqueville führt dies auf die unzweifelhaften Missstände und Unzufriedenheiten zurück, die die Bevölkerung bis hin zu Frauen und Tagelöhnern für die Reformideen empfänglich gemacht hätten, obwohl diese meistens praxisfern gewesen seien. Aus Ideen seien politische Leidenschaften und dann Taten geworden. Die Philosophen hätten, bis zum König einschließlich, die politische Rhetorik geprägt. l’omnipotence du pouvoir social, l’uniformité des règles … Toutes ces doctrines ne sont pas seulement les causes de la révolution française, elles forment pour ainsi dire sa substance; elles sont ce qu’il y a dans ses œuvres de plus fondamental, de plus durable, de plus vrai, quant au temps.“ Ebd., S. 32. 89 Ebd., S. 34. 90 „Quel Français s’aviserait aujourd’hui d’écrire les livres de Diderot ou d’Helvétius? Qui voudrait les lire? Je dirais presque, qui en sait les titres? L’expérience incomplète que nous avons acquise depuis soixante ans dans la vie publique a suffi pour nous dégoûter de cette littérature dangereuse.“ Ebd., S. 257. 91 „[…]; tous pensent qu’il convient de substituer des règles simples et élémentaires, puisées dans la raison et dans la loi naturelle, aux coutumes compliquées et traditionnelles qui régissent la société de leur temps. En y regardant bien, l’on verra que ce qu’on pourrait appeler la philosophie politique du dix-huitième siècle consiste à proprement parler dans cette seule notion-là.“ Ebd., S. 235.

Hermann Hettner

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Tocqueville beschreibt gut die Wirkungsweise der französischen Aufklärungsphilosophie, ohne detailliert auf einzelne Autoren einzugehen, aber im Grunde verachtet er sie. Er sieht, nüchtern, den Zusammenhang zwischen Aufklärung, Menschenrechten und Demokratie, aber er verweist dies in das Feld der praxisfernen Theorie, die gleichwohl die politische Rede beherrscht und in politischen Leidenschaften zum Tragen kommt. Tocqueville machte einen Unterschied zwischen den „philosophes“ und den „économistes“ oder „physiocrates“, die im Schatten der Philosophen gestanden hätten, aber sehr viel praxisnäher gewesen seien.92 Das führt trotzdem nicht zu einem positiveren Urteil. Er vergleicht die Staatsauffassung der Physiokraten mit der Tyrannei und nennt sie „despotisme démocratique“.93 Er verurteilt die unterstellte Chinabegeisterung. Er sieht den Ursprung des Sozialismus bei den Physiokraten.94 Wie die im weiteren Verlauf dieses Kapitels zu besprechenden französischen Werke belegen, wurde de Tocquevilles Interpretation der Aufklärungsphilosophie kaum übernommen, sondern die älteren Polemiken, durchaus abgemildert im Ton, wurden weitergeführt. HERMANN HETTNER Und dann trat Hermann Hettner rechtsrheinisch auf die Bühne! Hermann Hettner (1821–1882) veröffentlichte von 1856 bis 1870 eine mehrbändige Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts in drei Teilen (Teil I: englische; Teil II: französische; Teil III: deutsche Literatur in 3 Teilbänden). Insgesamt kommt die Literaturgeschichte auf rund 3.250 Druckseiten! Zwei Drittel entfallen dabei auf die deutsche Literatur, was wohl auch, Michael Schlott zufolge, mit den Karrierebestrebungen Hettners zu tun hatte.95 Diese Literaturgeschichte wurde und wird breit und international rezipiert und über Jahrzehnte hinweg zitiert.96 Alles in allem handelt es sich um ein gewaltiges Œuvre. Man versteht die breite Rezeption, die zahlreichen Neuauflagen und postumen, teilweise bearbeiteten, Nachdrucke – zuletzt 2016/2017.97 Übersetzt wurde es kaum, es ließen sich eine russische Übersetzung des Englandbandes (1863) sowie eine russische (1866) und schwedische (1872) Übersetzung des Frankreichbandes feststellen. Hettners „Griechische Reiseskizzen“ (1853) waren 1854 ins Englische übersetzt worden und können seit 2015 als eng-

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Ebd., 3. Buch, 3. Kap. Ebd., S. 270. Ebd., S. 272. Schlott (1993): Hermann Hettner, S. 261 u. ö. Ergebnis gemäß Suche nach „Hermann Hettner“ [= genaue Wortgruppe] in Google Books. Eine Übersicht über alle deutschen Ausgaben/Auflagen der Bände und Teilbände bis 1979 bei Schlott (1993): Hermann Hettner, S. 342. Zur Verbreitung weltweit in Bibliotheken vgl. die Bestandsnachweise in WorldCat.

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lisches Book on Demand erworben werden.98 Die wenigen Übersetzungen hinderten die Rezeption nicht, da Deutsch vor dem Ersten Weltkrieg eine angesehene und viel benutzte Wissenschafts- und Literatursprache war. Dies war noch in der Zwischenkriegszeit der Fall, ließ aber rapide nach. „Literatur“ ist bei Hettner ein weit gefasster Begriff, er schreibt auch über die bildenden Künste und bezieht Wissenschaft mit ein. Denn: „Die Literaturgeschichte ist nicht Geschichte der Bücher, sondern die Geschichte der Ideen und ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Formen.“99 Hettner war nicht der Erfinder eines solchen Ansatzes, aber es geht hier nicht um Originalität oder nicht eines Autors, sondern um die tatsächlichen Darlegungen, so, wie sie veröffentlicht wurden. Michael Schlott hat in seiner Biografie Hettners akribisch nachvollzogen, was dieser bereits im Studium bzw. später an Konzepten und Ideen aufnehmen konnte und seinen eigenen Arbeiten zugrunde legte.100 Hettner behandelt seine Autoren (selten werden Autorinnen erwähnt) wie Menschen aus Fleisch und Blut, er erzählt in behendem Tempo, scheut sich nicht vor harten Urteilen, die das Lesen kurzweilig machen, er hat seine Heroen wie Friedrich II., vor allem nimmt er aber das kulturelle Leben in seiner Breite in den Blick. Er versammelt Betrachtungskategorien wie kein anderer im 19. Jahrhundert, wie wir gleich sehen werden. Im Vorwort zum 2. Band, der die französische Literatur behandelt, schreibt Hettner: Es ist keine glänzende Literaturepoche, welche ich hier schildere; aber eine höchst merkwürdige und wichtige. Weder die Charaktere noch die Ideen gestatten volle Hingebung und Bewunderung: aber ihr Einfluß ist so breit und mächtig, daß er bis auf den heutigen Tag fortwirkt.101

Die Darstellung der französischen Literatur ist in zwei „Bücher“ unterteilt, das erste ist dem „Ursprung der französischen Aufklärungsliteratur“, das zweite deren „Blüthe“ gewidmet. Hier dient der Begriff „Aufklärung“ der sichtbaren Gliederung, ist also hervorgehoben positioniert. Im Vergleich dazu wurde der Band zur englischen Literatur (1660–1770), der das Gesamtwerk der Literaturgeschichte 1856 eröffnete, nach den „Zeitaltern“ der „letzten Stuarts“, der „Königin Anna“ (1665–1714) sowie Georgs I. (1660–1727) und Georgs II. (1683–1760) einschließlich der Anfänge Georgs III. (1738–1820) gegliedert. Jedes Buch enthält wiederum zwei Abschnitte, zunächst zu „Wissenschaft“, dann zu „Dichtung“. Die Einleitung, gedacht als Einleitung in das Gesamtwerk, trägt die Überschrift „Die Kämpfe der Aufklärung“, sonst kommt der Begriff nicht in der Gliederung vor.

98 Alle Angaben auf der Grundlage von WorldCat. 99 Hettner (1856): Geschichte der englischen Literatur von der Wiederherstellung des Königthums bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts. 1660–1770, Vorwort. Dieser Band zur englischen Literatur wird als Band 1 des Gesamtwerks der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts gezählt und eröffnet dieses. 100 Schlott (1993): Hermann Hettner. 101 Hettner (1860): Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, S. V.

Hermann Hettner

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Die als Abschluss des Werks veröffentlichte „Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert“ umfasst zunächst zwei Teilbände und reicht vom „Westfälischen Frieden bis zur Thronbesteigung Friedrichs des Großen, 1648–1740“ (1862 publiziert) bis zum „Zeitalter Friedrichs des Großen“ (1864 erschienen). Der Begriff „Aufklärung“ kommt in der Gliederung überhaupt nicht vor, lediglich liest man „aufgeklärter Despotismus“. Stattdessen gibt es Begriffe wie „volksthümlich“ und „Nationalismus“. Es folgte dann noch ein dritter Teil zum „klassischen Zeitalter der deutschen Literatur“ mit wiederum zwei Abschnitten (Sturm und Drang; „Das Ideal der Humanität“). Hettner geht darin besonders auf Goethe und Schiller sowie Herder, Kant, Jung-Stilling und andere Autoren ein. Die Feingliederung folgt im Gesamtwerk den besprochenen Autoren, also den Namen. Dem äußeren Eindruck aufgrund der drei Gliederungen folgend, scheint „Aufklärung“ von Hettner in erster Linie mit Frankreich verbunden worden zu sein. So ist im Vorwort zum Englandband von der „welterobernde[n] Macht dieser französischen Aufklärungsliteratur“ die Rede. Hettner stellt an den Beginn der Einleitung in das Gesamtwerk, die sich mit den „Kämpfen der Aufklärung“ befasst, den Satz von Kant, dass man nicht in einem aufgeklärten Zeitalter, wohl aber in einem der Aufklärung lebe. Die ersten zwei Absätze seien wörtlich zitiert: Goethe vergleicht die Geschichte der Wissenschaft mit einer großen Fuge; die Stimmen der Völker kommen erst nach und nach zum Vorschein. Namentlich für die Literatur der letzten Jahrhunderte ist dies Gleichniß äußerst bezeichnend. Die drei großen Culturvölker, die Engländer, Franzosen und Deutschen, setzen der Reihe nach ihre Stimmen ein; das eine Volk führt das Thema fort, wo es das andere abbricht; und durch alle drei geht ein so durchaus in sich einiger, gemeinsamer Grundton, daß nirgends ein wahrhaft lebenskräftiger Gedanke auftaucht, der nicht sofort das allgemeine Eigenthum der ganzen gebildeten Welt wird.102

Den Anfang habe die englische Literatur gemacht, Frankreich aber sei der „Dolmetscher zwischen England und der Menschheit gewesen.“103 Der Einfluss der Voltaire, Diderot, Rousseau usw. auf das Leben in Frankreich sei „gewaltig“ gewesen. „[D]iese Schriftsteller decken schonungslos die Wunden der Zeit auf; die ganze Welt lauscht ihnen theilnehmend und sucht ihre Worte zu Thaten zu machen.“104 Es folgt ein Lob des später im Band zur deutschen Literatur als solchen benannten „aufgeklärten Despotismus“ (Friedrich der Große, Josef II., der portugiesische Reformer Marquis Pombal, etc.). Zu Deutschland weiß Hettner zu berichten: Inzwischen war auch Deutschland nach langer Erschlaffung wieder erstanden. Bald sogar wird es anführend und tonangebend. Mit wahrhaft wunderbarer Raschheit überflügelt es,

102 Hettner (1856): Geschichte der englischen Literatur, Einleitung (in das Gesamtwerk), S. 3. 103 Ebd., S. 4. 104 Ebd., S. 5.

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Intellektuelle wenn auch nicht durch äußere Macht und Freiheit, so doch durch innere Bildung, durch Kunst und Wissenschaft, England und Frankreich. Aus dem Schüler wird es zum Lehrer. 105

Und weiter: „Die Höhe der deutschen Bildung und die große französische Revolution sind gleichzeitig.“106 Fast wird es romantisch: Schon die unmittelbar Betheiligten fühlten es, daß beide Bewegungen im letzten Grunde nur von einer und derselben Triebfeder geleitet wurden, von dem Verlangen nach Erkenntniß und Verwirklichung reiner und freier Menschlichkeit.107

Während der Radikalisierung der Revolution trennen sich die Wege der drei Völker wieder. Als Ergebnis stellt Hettner fest: So weit gehen die Kämpfe des achtzehnten Jahrhunderts. Noch heut stehen wir mitten in ihnen. Die Einen suchen die leitenden Gedanken dieser Kämpfe selbständig fortzubilden, die erkannten Schwächen und Einseitigkeiten aufzuheben und das Zeitalter der Aufklärung zu einem Zeitalter der allgemeinen, alle Schichten durchdringenden, vollen und ganzen Bildung zu machen; die Anderen hegen lebhafter als jemals die Lust, die Berechtigung dieser Kämpfe von Grund aus in Frage zu stellen und die strömende Geschichte um Jahrhunderte zurückzutreiben.108

Hettner kanonisiert die ‚großen drei‘ (England, Frankreich, Deutschland), und so sollte es jahrzehntelang bleiben. Er ist aber nicht ganz blind für den Beitrag anderer (Italien, Spanien), gleichwohl steckt in seinem Kopf ein festes hierarchisches Schema: An diese drei Hauptgruppen schließen sich die Literaturen der übrigen Völker. Sie treten überall nur empfangend und nachahmend auf, nirgends bestimmend und anführend. Die Geschichtsschreibung vollzieht daher lediglich das Gericht der Geschichte, wenn sie sie nicht als selbständige Epopöen, sondern nur als Episoden behandelt. 109

Dixit Hettner … Die „geschichtliche Betrachtung“ der „Kämpfe der Aufklärung“ solle dazu beitragen, „sich vom Wesen und Verlauf derselben ein möglichst anschauliches Bild zu gewinnen.“ Hettner meint damit eine „Geschichte der Aufklärung“: Der Weg, den eine solche geschichtliche Betrachtung einschlagen muß, ist sehr bestimmt vorgezeichnet. Weil die Literatur der Aufklärung nicht ausschließlich diesem oder jenem Volk zufällt, sondern, nach einer bekannten Bezeichnung Goethe’s, durchaus Weltliteratur ist, so kann eine Geschichte der Aufklärung [Hervorhebung W.S.] nur eine allgemeine, d. h. eine die Wirkungen und Gegenwirkungen aller abendländischen Völker in gleicher Weise umfassende Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts sein. Und umgekehrt ist eine solche allgemeine Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts in ihrem innersten Wesen durchaus Geschichte der Aufklärung.110

105 106 107 108 109 110

Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 10. Ebd., S. 8.

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Der Autor gibt sich erstaunt, dass es vor ihm nur zwei Autoren gegeben habe, die einen ähnlichen Versuch wie er selber gewagt hätten, wenn auch in bestimmten Grenzen und unter Zugrundelegung deutlicher Einseitigkeiten. Er nennt Villemain; gemeint sein dürfte dessen Vorlesung „Cours de littérature française“, die er zwischen 1816 und 1832 an der Sorbonne hielt und die oben besprochen wurde. Der Band zur französischen Literatur des 18. Jahrhunderts erschien erstmals 1829. Villemain hält er vor, sich wegen „Unkenntnis der deutschen Sprache“ nicht mit der deutschen Literatur beschäftigt zu haben. Als zweiten Autor nennt er Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861) und dessen Geschichte des 18. Jahrhunderts, die in einer kürzeren Variante 1823 und in einer ausführlicheren dann 1836 erschienen war.111 Schlosser habe sich, so Hettner, aber auf die politische Geschichte konzentriert, die Literatur finde nur am Rande Platz. Tatsächlich benutzt Schlosser den Begriff „Aufklärung“ auch nur am Rande, und zwar im Zusammenhang der spanischen Reformen in den 1770er Jahren. Schlosser war ein Zeitgenosse Hegels, zwar ein paar Jahre jünger, aber zur Zeit der Französischen Revolution doch alt genug, um einiges von dieser bewusst mitzubekommen. Mit einigen französischen Revolutionären stand er später, laut Vorrede, persönlich in Verbindung. Der zweite Teil der Geschichte des 18. Jahrhunderts ist gänzlich Frankreich und der Revolution gewidmet, der erste Teil bietet sowohl politische Geschichte wie Geschichte der Literatur. Er widmete die Geschichte des 18. Jahrhunderts u. a. François Guizot. Die Literatur in Frankreich, England und Deutschland wird eher oberflächlich, teils etwas spöttisch, behandelt, aber die insgesamt auf vielen Feldern revolutionäre Denkweise Rousseaus herausgestellt. Er bringt die Amerikanische Revolution ins Spiel, im Grunde deutet sich bei ihm so etwas wie das sehr viel spätere Konzept einer „atlantischen Revolution“ an. Schlosser ist ein nicht uninteressanter Autor, wenn es um die Interpretation des 18. Jahrhunderts geht, aber er hat nicht wirklich etwas zur Klärung und Schärfung der Bezeichnung „Aufklärung“ beigetragen. Zurück zu Hettner und seiner Literaturgeschichte. Das zweite Buch im Englandband beginnt mit einem Kapitel über den „Sieg des Konstitutionalismus“. Gemeint ist die Glorious Revolution von 1688/1689. Ein Zusammenhang mit der Geschichte der englischen Literatur ergibt sich am ehesten in Bezug auf die Pressefreiheit und die anschwellende Zahl von Zeitungsgründungen, aber es ist bezeichnend, dass Hettner ein solches Kapitel schrieb. Kaum ein anderer Autor seiner Zeit, der sich mit dem (langen) 18. Jahrhundert befasste, betonte in derselben gründlichen Weise die Themen von Verfassung, Recht usw. – bis hin zu den Menschenrechten wie im Frankreich-Band. Das anschließende lange Kapitel zu Locke befasst sich naturgemäß mit Freiheit, Eigentum, Staat, Gesellschaft, Volkssouveränität, etc. Hettner sieht bei Locke die „Keime“ der späteren Autoren Montesquieu und Rousseau. Dann setzt er noch eins drauf: „Stahl stellt in seiner Geschichte der Rechtsphilosophie Locke 111 Schlosser (1823): Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts […]. Erste Abtheilung; Schlosser (1823): Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts […]. Zweite Abtheilung.

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mit Fug und Grund an die Spitze der revolutionären Staatsrechtslehrer. Es kommt nur darauf an, ob diese wirklich unter allen Umständen so ganz unbedingt zu verdammen sind.“112 Hettners Subtext besagt, dass diese nicht zu verdammen sind. Sein Gesamturteil über Locke lautet: „Sicher gehört er […] zu den einflußreichsten Menschen aller Zeiten. Für die religiöse und politische Befreiung des achtzehnten Jahrhunderts ist und bleibt er der Grund- und Eckstein.“113 Immer wieder machen kleine Bemerkungen deutlich, dass nach Hettners Auffassung die frühe englische Aufklärung im Grunde die Blaupause für die nachfolgende französische und teilweise die deutsche geliefert hat. Eine Besonderheit der Literaturgeschichte Hettners ist das ausführliche Kapitel über die Freimaurer im Englandband, wo es aufgrund der Geschichte der Freimaurer seit 1717 freilich gut hinpasst. Das Kapitel war der „Wiener Freimaurerzeitung“ 1926 einen kommentierten Wiederabdruck wert.114 Er sieht die Freimaurer besonders im Zusammenhang des Deismus, der ihn durch das gesamte Werk hindurch beschäftigt: „Der Deismus macht im Freimaurerthum den Versuch, sich zur sinnlich-anschaulichen Religion zu gestalten und als solche sich über die ganze Erde zu verbreiten. Wie kühn war dieses Unternehmen und wie wunderbar gelang es.“115 Der Begriff „Aufklärung“ wurde im Englandband zwar nicht auf die Gliederungsebene gehoben, im Text ist „englische Aufklärung“ aber geläufig. Im zweiten, der französischen Aufklärungsliteratur gewidmeten Band wird im „zweiten Buch“ die „Blüthe der französischen Aufklärungsliteratur“ behandelt. Unser Autor zeichnet einen scharfen Gegensatz zwischen der Art der Literatur unter Ludwig XIV. und jener seit dessen Tod: Die Literatur hört auf, still in sich geschlossener Selbstzweck zu sein; sie ist kriegerisch, wendet sich an die Massen und begründet die bisher unbekannte Macht einer maßgebenden öffentlichen Meinung. […] Sie ruft eine Umwälzung der Geister hervor, so tief und allgemein, daß unsere heutige Weltlage zum größten Theil deren Ergebniß ist. 116

Hettner zeigt Verständnis für die Radikalität der Literatur in Frankreich, denn die „Kirche raubte dem Menschen die unabweislichen Forderungen der denkenden Erkenntniß, der Staat die der Menschennatur innewohnenden unveräußerliche Rechte und Freiheiten des Daseins und Handelns.“117 Von seiner eigenen Haltung her betrachtet, die hier durchscheint, gehört er selber zu den Epigonen der Aufklärung, die das Werk im 19. Jahrhundert fortführten. Das macht ihn deshalb nicht unkritisch und er schreibt: „Die Aufklärungsphilosophie strebte mit allen Kräften, auch [wie die katholische Kirche; W.S.] ihrerseits allgemeine Weltreligion zu werden […].“118 112 113 114 115 116 117 118

Hettner (1856): Geschichte der englischen Literatur, S. 155. Ebd., S. 159. Br(uder) Dr. Adolf Kapralik (1926): Hermann Hettner über die Entstehung der Freimaurerei. Hettner (1856): Geschichte der englischen Literatur, S. 228. Hettner (1860): Geschichte der französischen Literatur, S. 113–114. Ebd., S. 114. Ebd., S. 116.

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Er unterteilt die „französische Aufklärungsphilosophie“ in drei Epochen, die des Deismus mit Voltaire als Leitfigur, die des Materialismus mit Diderot und den Enzyklopädisten als Leitfiguren, und schließlich die des „Idealismus des Herzens“ mit Rousseau als zentraler Figur. Gelegentlich schreibt er auch von den „Aufklärern“ oder „Aufklärungsschriftstellern“.119 Deutlicher als andere Autoren hebt Hettner den Aspekt des Rechts hervor und verteidigt diesen gegen alle Kritik, auch gerechtfertigte, an der Aufklärung: Aber man ist schuldig zu sagen, daß ihren Irrthümern nichtsdestoweniger ein unverwüstlicher Kern von Wahrheit, ihrem Denken und Wirken hochherzige Begeisterung und Thatkraft innewohnt. In einer Zeit, da religiöse Verfolgung, Folter, willkürliche Haft, Ungerechtigkeit des Richterspruchs, Erpressung jeder Art die täglichsten und völlig zu Recht bestehenden Dinge waren, da waren sie es, die mit dem überzeugenden Gefühl tiefster Empörung gegen Alles, was sie für Mißbrauch hielten, mannhaften Krieg führten, unermüdlich auf Aufklärung und religiöse Duldung, auf Befreiung und Erleichterung der gedrückten Volksklassen drangen und die verlorenen, aber unverbrüchlichen Rechte der denkenden Erkenntniß und der angeborenen Menschenwürde wiedereroberten. Dies ist bei allen ihren Schwächen ihre Größe, ihre unvergängliche geschichtliche Bedeutung.120

Hettner stützt sich hier auch auf Heinrich von Sybels „Geschichte der Revolutionszeit“.121 Er zitiert ein längeres Stück (ohne konkrete Band- und Seitenangabe) und lässt das Zitat mit dem folgenden Satz von Sybel enden: „Der Gedanke, daß das Leben jedes einzelnen Menschen für die anderen etwas bedeute, ist erst durch das vorige Jahrhundert eine thätige Kraft geworden.“122 Mit diesem Zitat endet die Einleitung in das „zweite Buch“, es folgen dann die Kapitel über Voltaire und Montesquieu. Die historische Kontextualisierung seiner Ausführungen in dieser Einleitung verdankt Hettner ausdrücklich123 nicht zuletzt Alexis de Tocquevilles „L’ancien régime et la révolution“. Er zitiert des weiteren Louis Blancs „Histoire de la Révolution française“, Rankes „Französische Geschichte“, die das 18. Jahrhundert aber nur im Umfang eines Anhängsels enthält. Für das Urteil über die Aufklärung zieht er Hegels Philosophie des Rechts und den schon genannten Sybel heran. In Voltaire sieht Hettner nicht zuletzt den Streiter für Menschenrechte: Wie er in der Religion auf die Anerkennung und Durchführung der Naturreligion dringt, so dringt er in der Politik auf die Anerkennung und Durchführung des Naturrechts, der unverbrüchlichen Menschenrechte.124

Ausführlich geht Hettner auf Freiheit und Gleichheit bei Voltaire ein und kommt zu dem Schluss, dass der revolutionäre „Wahlspruch“ „Liberté et Égalité“ von Voltaire herkomme.125 119 Ebd., z. B. S. 126 und z. B. S. 129. 120 Ebd., S. 130. 121 Hettner gibt keine bibliografische Angabe, gemeint sein dürfte die letztlich vielbändige Revolutionsgeschichte, deren erster Band 1853 erschien: Sybel, Heinrich von (1853): Geschichte der Revolutionszeit von 1798 bis 1795. Erster Band. 122 Hettner (1860): Geschichte der französischen Literatur, S. 131. 123 Ebd., S. 117. 124 Ebd., S. 201–202.

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Zu Montesquieu schreibt unser Autor im Zuge der Besprechung der „Lettres persanes“: „Man hebt nicht immer genügend hervor, daß diese persischen Briefe die entschiedenste Vorliebe für die Demokratie bekunden.“126 Vor allem aber sei Montesquieu der „Begründer der konstitutionellen Staatslehre.“127 Die Physiokraten („Oekonomisten“) werden Voltaire und Montesquieu an die Seite gestellt, während Diderot bescheinigt wird, dass er „Rechts- und Staatslehre […] niemals eingehend behandelt“ habe.128 Kürzer schildert Hettner das Wirken eines d’Alembert, d’Holbach, Helvétius, Grimm, Buffon, Condillac und etlicher weiterer Aufklärer, um dann für Rousseau, den „Erben und Gegner der Aufklärung“129, noch einmal weit auszuholen. Rousseaus „Contrat social“ wird dieselbe Bedeutung wie Montesquieus „Esprit des lois“ zugewiesen.130 Hettner hebt den „demokratischen Grundcharakter“ Rousseaus hervor, gestützt auf das Prinzip der Volkssouveränität.131 Es folgen die „sozialistischen Anfänge“ (Morelly, Mably, Raynal, Galiani) und ein Kapitel u. a. zu Beaumarchais. Der Band über die französische Aufklärungsliteratur wird mit dem „dritten Buch“ abgeschlossen, dem Hettner den Titel gab: „Die Macht der französischen Aufklärungsliteratur“. Das erste Kapitel behandelt „de[n] Grundgedanke[n] der französischen Aufklärung“ – man bemerke den Singular bei „Grundgedanke“, dessen Ankündigung nach Lektüre der beiden ersten Bücher überrascht. Hettner bezeichnet die französischen Aufklärer als „Popularphilosophen“132, was ihnen einen für die Menschheit bedeutenden Erfolg ermöglicht habe. Er sieht die Aufklärung – es ist unklar, ob er mehr als die französische meint – als philosophische Fortsetzung der theologischen Reformation.133 Aber was ist „der Grundgedanke“? Die „siegende Selbstgewißheit des menschlichen Geistes“.134 Hettner wendet das sogleich in ein bekanntes Stereotyp der Aufklärungskritik seiner Zeit, dass „sie keinen Sinn und keine Achtung für die Vergangenheit und die geschichtliche Entwicklung“ gehabt hätten.135 Aber das ist nur ein Aspekt, Hettner bricht eine Lanze für die Leistungen der französischen Aufklärer und verurteilt deren gängige negative Bewertung.136 Das zweite Kapitel des dritten Buches hat, etwas unvermittelt, Italien, Spanien und England inkl. Schottland zum Thema, wobei der Zusammenhang mit der „Macht der französischen Aufklärungsliteratur“ nicht wirklich als roter Faden deutlich wird. Hettner schließt den Band mit einem Kapitel über „Reform und 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136

Ebd., S. 205. Ebd., S. 239. Ebd., S. 241. Ebd., S. 319. Ebd., S. 405. Ebd., S. 439. Ebd., S. 439–440. Ebd., S. 512. Ebd., S. 513. Ebd., S. 514. Ebd. Ebd., S. 515.

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Revolution“ ab, in dem er sich im Grunde erneut der Interpretation Tocquevilles anschließt, wenn er meint, dass „dieselben Zustände und Stimmungen, welche schließlich zur Revolution führten, auch die französische Aufklärungsphilosophie hervorgebracht hatten.“137 Die Schlussgedanken des Autors schlagen noch einmal eine Brücke zwischen Aufklärung, Revolution, Recht, Menschenrecht und Verfassung: Treffend hat Fichte in seinen Beiträgen zur Beurtheilung der französischen Revolution die Revolution ein großes Gemälde über den Text „Menschenrecht und Menschenwerth“ genannt. Und unvergleichlich schön sagt Hegel in der Philosophie der Geschichte: „Der Gedanke, der Begriff des Rechtes machte sich mit einem Male geltend, und gegen diesen konnte das alte Gerüst des Unrechts keinen Widerstand leisten. Im Gedanken des Rechts ist also jetzt eine Verfassung errichtet worden und auf diesem Grunde sollte nunmehr Alles basirt sein. So lange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.“138

Das schließliche Entgleisen der französischen Revolution bringt Hettner erneut mit dem für geschichtliche Entwicklungen angeblich unempfänglichen Denkansatz der französischen Aufklärung zusammen. Dennoch habe die Revolution Aufgaben gestellt, an deren Lösung noch heute und in Zukunft zu arbeiten sei. Der dritte Teil der Literaturgeschichte gilt der deutschen Literatur und startet mit dem Zeitraum 1648 bis 1740, das heißt vom Westfälischen Frieden bis zur Thronbesteigung Friedrichs des Großen.139 In der Einleitung zu diesem „Ersten Buch“ gibt Hettner eine Gesamteinschätzung des deutschen 18. Jahrhunderts: Wissenschaftlich ist das achtzehnte Jahrhundert das Zeitalter der deutschen Aufklärung, die Befreiung vom Buchstaben oder, um mit Kant zu reden, der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit; künstlerisch ist es die Erstrebung einer eigenen selbständigen Kunst und Dichtung, die Eroberung eines idealen und doch volksthümlichen Stils, dessen Verwirklichung sich zuerst in Lessing und sodann in seiner höchsten Vollendung in der schönen und freien Dichtung Goethe’s und Schiller’s darstellt. Es ist daher, wenigstens für Deutschland, ein durchaus richtiger Ausdruck, wenn man das achtzehnte Jahrhundert die bewußte Wiederaufnahme und Fortbildung der in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts gewaltthätig und vorzeitig abgebrochenen großen Reformationsideen genannt hat.140

Hettner beginnt mit einer Rückschau auf die „deutsche Bildung des 16. und 17. Jahrhunderts“, es handelt sich um ein ausgesprochen patriotisch gesinntes Kapitel. Der Begriff „Aufklärung“ kommt zwar in der Gliederung des Bandes nicht vor, im Text wird er aber oft gebraucht und ist positiv konnotiert. Hettner beginnt mit den Einflüssen aus Frankreich (Descartes, Bayle), aus den Niederlanden (Spinoza) und England (Hobbes) in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Er befasst sich über einige Seiten mit den deutschen Spinozisten und Anti-Spinozisten, um dann zu den Pietisten zu gelangen. Es schließen sich 137 138 139 140

Ebd., S. 543. Ebd. S. 551–552. Hettner (1862): Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Erstes Buch. Ebd., S. 2.

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„Samuel Pufendorf und das Naturrecht“ und „Christian Thomasius“ an. Das Leibniz-Kapitel stellt den ersten Höhepunkt dieses ersten Teils der deutschen Literaturgeschichte dar: Das Große an Leibniz ist, daß er den Begriff und die Aufgabe der Wissenschaft und Bildung im weitesten Sinn erfaßte und damit dem emporstrebenden deutschen Geist Ziele vor Augen stellte, welche seitdem nie wieder verloren wurden.141

Bevor es mit der deutschen Aufklärung weitergeht, greift Hettner noch einmal weit zurück ins 17. Jahrhundert und geht zu dessen Dichtungen, Romanen sowie dessen Musik und Oper (Heinrich Schütz u. a.), schließlich zu dessen bildenden Künsten. Mit Christian Wolff kehrt der Autor zurück zur (Früh-)Aufklärung. Wolff bezeichne sich „im eigentlichen Sinn des Worts als Aufklärer, wenn er für einige seiner Hauptwerke Titelkupfer wählte, welche die Sonne darstellen, mit ihren Lichtstrahlen düstere Nebelwolken durchbrechend.“142 Wenig später wird die Bedeutung Wolffs folgendermaßen beschrieben: „In Wolff erwacht zum ersten Mal in Deutschland der Begriff der Philosophie in jener tiefsten Bedeutung, daß über und außer ihr keine andere Erkenntniß sei.“143 Und noch einmal schreibt Hettner zu Wolffs Bedeutung: Christian Wolff war der erste deutsche Philosoph, welcher Schule machte. Ludovici hat seine Historie der Wolffschen Philosophie nur bis zum Jahre 1737 fortgeführt, und nennt doch bereits nicht weniger als einhundertundsieben schriftstellernde Wolffianer. Nach kurzer Frist waren alle bedeutenden philosophischen Katheder mit Anhängern Wolffs besetzt. 144

Ebendiese Schule ist Gegenstand des nächsten Abschnitts, die sich durch die Rezeption englischen Schrifttums auszeichnete. Erwähnung finden die ersten Logengründungen in Deutschland. Resultat: „Der Einfluß des englischen Deismus ist für Richtung und Gestaltung der deutschen Aufklärung fast noch wichtiger geworden wie die Wolff’sche Philosophie.“145 Der Rest dieses ersten Teils zur deutschen Literatur verteilt sich auf alle möglichen Literaturgenres inklusive Geschichtsschreibung, moralische Wochenschriften, Robinsonaden, Dichtung etc. Gottsched ist dann wieder eines längeren Kapitels würdig, ebenso Gellert, zu beiden treten viele Nebenfiguren auf. Noch einmal kommt die Musik zu Ehren – Hasse, Bach und Händel. In diesem Abschnitt deutschtümelt es bei Hettner ziemlich. Seinen in der Einleitung in das Gesamtwerk aufgestellten Prinzipien folgt er nicht, er verwendet keine Mühe darauf zu zeigen, inwieweit sich in der Musik die Aufklärung, und sei es die deutsche, erweist. Hier wird der gesetzte Rahmen „Aufklärung“ unscharf oder gesprengt, „Aufklärung“ wird zur Chiffre von Neuerung, für die Hasse, Bach und Händel zweifelsfrei stehen. Aber war jede Neuerung ein Beitrag zur Aufklärung?

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Ebd., S. 134. Ebd., S. 213. Ebd., S. 218. Ebd., S. 248. Ebd., S. 257.

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Das „Zweite Buch“ behandelt die Epoche Friedrichs des Großen und setzt mit einem Kapitel zu diesem Herrscher ein. Bezüglich seiner Bedeutung lässt Hettner keine Missverständnisse aufkommen: Deshalb ist es nicht blos biographisch, sondern auch geschichtlich von der höchsten Wichtigkeit, in den Bildungsgang und die innere Denkweise des großen Königs einen klaren Einblick zu gewinnen. Die Regierungsgrundsätze, welche er sich aus den Anregungen der ihm überkommenen Aufklärungsphilosophie gezogen hatte, wurden die Triebkräfte und Bedingungen jener gewaltigen Thaten und Ereignisse, welche ganz Deutschland umgestalteten und verjüngten, und die deutsche Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts zu einer der glänzendsten Epochen in der Geschichte der Menschheit machten. 146

Hettner lässt auf Friedrich nichts kommen, streckenweise wird aus dem Wissenschaftler ein Bewunderer, der alles durch die rosa-rote Brille sieht. Er nutzt aber die Schriften und Taten Friedrichs, um erneut Themen wie Republik, Verfassung, Demokratie anzusprechen. Dabei bezeichnet er Friedrich Karl von Moser als einen „der thatkräftigsten Vorkämpfer für die Idee des modernen Rechtsstaats“!147 Das ist eine in seiner Zeit durchaus seltene Formulierung, der wir uns kurz statistisch in Grafik 4 zuwenden. „Rechtsstaat“ ist seit den 1820er Jahren messbar gebräuchlich, bis 1868 wird ein erster quantitativer Höhepunkt erreicht. Danach – nach der deutschen Reichsgründung – fällt die Kurve wieder auf das Niveau der 1840er und 1850er Jahre, steigt von 1914 bis 1934 kontinuierlich – nach 1920 stärker – an, fällt auf 1940 zu steil ab, steigt bis 1968 kontinuierlich, fällt bis 1984 mäßig, um dann bis 1992 noch einmal steil anzusteigen. Danach geht die Kurve wieder nach unten. Da im Deutschen die Kasusflexionen zu beachten sind, muss der Genitiv ebenfalls erhoben werden; diese Kurve ähnelt der von „Rechtsstaat“, verläuft aber wegen der geringen Quantität flach. Sucht man mit dem Ngram Viewer die Kombination „Rechtsstaat“ und beliebiges Adjektiv (_ADJ_ * Rechtsstaat), werden die zehn häufigsten Kombinationen aufgezeigt, unter denen sich aber nicht der gegenwärtig viel zitierte „moderne Rechtsstaat“ findet (Grafik 5). Gebräuchlich sind „demokratischer“, „liberaler“, „sozialer“ und „bürgerlicher“ Rechtsstaat. Die jeweilige Häufigkeit nimmt nach dem Zweiten Weltkrieg zu, wobei „demokratischer Rechtsstaat“ (inkl. Kasusflexionen) die weitaus häufigste Kombination darstellt. Hettners Formulierung ist also tatsächlich bemerkenswert und entspricht vermutlich seinem Anliegen. Deshalb biegt er sich seinen Friedrich II. auch zurecht und gelangt zu einer erstaunlichen Ausdeutung des „aufgeklärten Despotismus“, die auf einer Rückprojizierung liberaler Staatsgrundsätze des 19. Jahrhunderts ins 18. Jahrhundert zu beruhen scheint:

146 Hettner (1872): Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Zweites Buch, S. 4. 147 Ebd., S. 23.

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Grafik 4: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „Rechtsstaat“ bzw. „Rechtsstaats“ im Deutschen, Zeitraum 1800 bis 2019. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https://tinyurl.com/ykdnke5h.

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Grafik 5: Google Books Ngram Viewer, Die zehn häufigsten Kombinationen von „Rechtsstaat“ mit einem Adjektiv (_ADJ_ * Rechtsstaat) im Deutschen, Zeitraum 1800 bis 2019. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https://tinyurl.com/3hwzvffx.

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Intellektuelle Und aus Friedrich’s Rechts- und Staatsgrundsätzen folgte jene Regierungsform, welche man treffend den aufgeklärten Despotismus genannt hat. Der philosophische König verwirklicht den Geist des rationalistischen Naturrechts, welches die Entstehung des Staats aus einem Vertrag der Bürger mit dem Staatsoberhaupt ableitet und daher die Berechtigung und Bestimmung der Regierung einzig und allein in die Beschirmung des Rechts und der Freiheit Aller setzt.148

Es nimmt dann nicht weiter wunder, wenn Hettner Parallelen zwischen dem Allgemeinen Preußischen Landrecht, das Friedrich angestoßen hatte, aber nicht mehr erlebte, und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sieht: Obgleich erst nach dem Tod des großen Königs vollendet, ist es doch ganz und gar von dem freisinnigen Geist seines Urhebers getragen. Die staatsrechtlichen Bestimmungen dieses Gesetzbuches sind in ihrer ursprünglichen, unter dem Druck späterer Einwirkungen freilich unendlich abgeschwächten, Fassung mit der französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789 oft überraschend gleichlautend.149

Im weiteren Verlauf der Ausführungen, die sich auch auf die staatsrechtliche Literatur erstrecken, wird Johann Jakob Moser, Vater des schon genannten Friedrich Karl von Moser als „unablässiger Streiter für die Idee des Rechtsstaats“ vorgestellt.150 Unser Autor geht, seinen bisherigen Grundsätzen treu, auf Dichtung, Ästhetik, Kunst und, nur sehr kurz, Musik ein, bevor er sich die Epoche des Siebenjährigen Kriegs vornimmt. Dies ist erneut Anlass, eine Hohe Messe auf Friedrich den Großen zu lesen: „Es bleibt ihm der unvergängliche Ruhm, der Schöpfer des modernen Rechtsstaats zu sein, insoweit ein solcher Rechtsstaat überhaupt ohne verfassungsmäßige Gliederung und Bürgschaft denkbar und durchführbar ist.“151 Dennoch ist Hettner nicht blind gegenüber dem Despotischen im „aufgeklärten Despotismus“, über den er sehr wohl Gericht hält. Ganz widerspruchsfrei ist die Argumentation folglich nicht, aber es hängt eindeutig an der Bewunderung für Friedrich, den er auch einmal als „Kulturheroen“ bezeichnet. 152 Friedrich war in Hettners Imagination völlig anders als alle anderen Herrscher. Immer wieder geht der Autor Transfers aus der englischen und aus der französischen Aufklärung in die deutsche nach, er vergleicht die drei Aufklärungen: „In England und Frankreich waren diese Aufklärungskämpfe religiös und politisch zugleich; in Deutschland waren sie blos religiös.“153 Allerdings bescheinigt er der „Popularphilosophie“ eine weitreichende und bildende Wirkung in die Masse hinein, die er so weder bei der französischen noch der englischen Aufklärung erkennen kann. Was war das Ergebnis in Deutschland? Wer noch selbst das Glück gehabt hat, Menschen zu kennen und zu lieben, die unter den Eindrücken dieser mächtigen Zeit geboren und erzogen waren, der weiß aus unvergeßlicher Er-

148 149 150 151 152 153

Ebd., S. 29. Ebd., S. 32. Ebd., S. 70. Ebd., S. 163. Ebd., S. 32, S. 33. Ebd., S. 173.

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fahrung, wie dieser Geist heller Verständigkeit, schlichter und selbstloser Tüchtigkeit, dieser wohltuende Geist stillwaltender Liebe und Menschenfreundlichkeit immer weiter und weiter alle Kreise durchdrungen und eine Einfachheit und Milde der Gesinnung erweckt und verbreitet hatte, welche wir Nachgeborenen unter dem Drang und Trubel künstlicherer Lebensverhältnisse uns nicht in gleicher Weise erhalten haben.154

Außer Friedrich Nicolai rechnete Hettner Moses Mendelssohn zu den Popularphilosophen und nennt ihn den bedeutendsten unter diesen.155 Er gibt ihm ein eigenes Kapitel mit immerhin 40 Seiten, soviel wie dem nächstfolgend besprochenen frühen Kant – dem älteren Kant ist dann später erneut ein Kapitel vorbehalten. In einem weiteren Kapitel wird, neben der protestantischen Theologie, der „aufgeklärte Katholizismus“ dargelegt. Dieser heute selbstverständliche Begriff ist dem 19. Jahrhundert ebenfalls bekannt, aber er wird nicht gerade häufig verwendet, zumal dies teilweise kritisch bzw. ironisch geschieht. Viele Treffer156 entfallen dabei ohnehin auf Hettner. Dieser lässt zu dem Thema wissen: Der deutsche katholische Aufklärer brach nicht mit den wesenhaften Grundlagen der katholischen Kirche, wie der französische; er suchte nur den Katholicismus innerlich fortzubilden. Und zwar bewegten sich diese Umbildungsversuche in zwei verschiedenen Richtungen. Die eine Richtung ging ausschließlich nur auf die Umgestaltung der katholischen Kirchenverfassung; die andere dagegen auf die innere Läuterung, wenn nicht der Glaubenslehre, so doch der allgemeinen religiösen Empfindung und Denkweise.157

Hettner kommt dann abermals auf die Staatsrechtslehre zu sprechen, die er mit der Geschichtsschreibung kombiniert. Isaak Iselin bescheinigt er, dass er in seinem Werk die „Grundzüge der modernen Repräsentativ-Demokratie entworfen“ habe.158 Der Rest dieses zweiten Buchs zur deutschen Literaturgeschichte geht ausführlich auf Winckelmann und Wieland sowie weitere Literaten ein. Lessing wird mit einem Buch im Buche gewürdigt, der mittlere Teil über Lessings Laokoon allein erreicht das Ausmaß eines monografischen Essays. Die Fortsetzung der deutschen Literaturgeschichte erfolgt in einem dritten Buch („Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur“) mit zwei Abteilungen („Die Sturm- und Drangperiode“; „Das Ideal der Humanität“).159 Hier werden, noch ausführlicher als Lessing, nochmals Kant, Goethe und Schiller sowie viele ihrer Zeitgenossen wie Herder, Jean Paul, Georg Forster, Hölderlin gewürdigt. Zusammen handelt es sich noch einmal um rund 1.000 Druckseiten, von denen die meisten auf Goethe und Schiller entfallen. Während in Frankreich die radikale Phase der Revolution (ab 1792) zu einer Zäsur gegenüber der Aufklärung führt, 154 155 156 157

Ebd., S. 183. Ebd., S. 208. Suche per Ngram Viewer, hier ohne Grafik. Hettner (1872): Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Zweites Buch, S. 306. 158 Ebd., S. 371. 159 Hettner (1879a): Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Drittes Buch. Erste Abtheilung; Hettner (1879b): Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. Drittes Buch. Zweite Abtheilung.

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erscheinen in Deutschland viele Hauptwerke der deutschen Aufklärung erst jetzt. Dies überschneidet sich mit der Romantik und dem Idealismus. Hettners moderner Biograf Michael Schlott geht der Rezeptionsgeschichte nicht nur der Literaturgeschichte im 20. Jahrhundert nach, dabei auch jener in der DDR, wo auf die demokratische Gesinnung des jungen Hettner abgehoben wurde. Diese hatte der ältere Hettner aber keineswegs verloren oder aufgegeben, als er sich an die Literaturgeschichte machte, wie die obigen Zitate belegen. Ewald August Boucke verwies in der von ihm besorgten Ausgabe von Hettners Deutscher Literaturgeschichte 1925 mit Blick auf den Ausgang des Ersten Weltkriegs und auf die Haltung der Siegermächte, dass diesen zufolge die westlichen Demokratien, gestützt auf „das große Erbe aus dem Zeitalter der Aufklärung“ klarerweise über „Unfreiheit und erzwungene Disziplin [triumphiert]“ hätten.160 Gerade die drei Teilbände zur deutschen Literatur zeigen, dass Hettner den Zusammenhang zwischen Aufklärung, Rechtsstaat, Volkssouveränität und Menschenrechten hervorhob und insoweit überhaupt nicht für die Wende hin zu den Prinzipien des wilhelminischen Deutschlands, die den „Prinzipien von 1789“ entgegengestellt wurden, vereinnahmt werden kann. Wer die Geduld aufbrachte, Hettner ausführlich zu lesen, erhielt einen profilierten Begriff von „Aufklärung“. Hettners Einfluss auf die Begriffsbildung steht in der Rezeption bis heute im Schatten anderer Autoren, in Wirklichkeit dürfte aber Hettner diesbezüglich sehr einflussreich gewesen sein. HIPPOLYTE TAINE – FÉLIX ROCQUAIN Während Hettner eifrig die Publikationen seiner französischen Kollegen studierte, ging die Diskussion in Frankreich weiter. Hier sind besonders Hippolyte Taine und Félix Rocquain einer Lektüre wert. Hippolyte Taine (1828–1893) ist bis heute vor allem aufgrund seiner sechs Bände „Les origines de la France contemporaine“ (1875–1893) bekannt. Diese wurden bereits ab 1877 ins Deutsche übersetzt. Bis in die jüngste Zeit wird das Werk nachgedruckt. Der erste Band behandelt das Ancien Régime, danach folgt die Französische Revolution (3 Bände), die beiden letzten behandeln das 19. Jahrhundert und die seinerzeitige Gegenwart. Sternhell reiht diesen Autor unter die Gegenaufklärer und sieht ihn vor allem in einer Herderschen Tradition. Zusammen mit Burke gehörte Herder nach Sternhell zu den wichtigsten Gegenaufklärern im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert.161 Diese Einstufung durch Sternhell muss man sicherlich nicht uneingeschränkt teilen. Im Vorwort des ersten Bandes schreibt Taine über seine Motive zu diesem umfassenden Werk. Er sei der Meinung, dass man sich die französische Staatsverfassung nicht einfach nach diesen oder jenen politischen Prinzipien ausdenken könne, diese Methode sei angesichts der Vielzahl von Verfassungen seit der Re160 Zitat von Schlott (1993): Hermann Hettner, S. 11. 161 Sternhell (2010): The Anti-Enlightenment Tradition [frz. Orig.-Ausg. 2006].

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volution gescheitert. Vielmehr müsse man wissen, was Frankreich und das französische Volk seien, gewissermaßen was deren Identität sei, erst dann könne man eine Verfassung entsprechend einrichten. Das Werk, das in die jeweiligen Aufstiegsphasen der Dritten Republik und des deutschen Kaiserreichs fiel, wurde gerade in Deutschland breit rezipiert. Beachtung fanden auch die Kapitel zur Philosophie des 18. Jahrhunderts. Der Charakter des Werks bedingte klarerweise einen französischen Schwerpunkt, aber Taine war in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts sehr belesen und bettete die französische in diesen großen Kontext ein. Begriffe wie „Lumières“ oder auch nur „siècle éclairé“ finden sich nicht im ersten Band, es sei denn als der Belustigung dienendes Quellenzitat! Der Zusammenhang zwischen der nicht so benannten „Aufklärung“ und der Revolution steht für Taine nicht in Zweifel. Sein Urteil über die philosophische und weitere Literatur ist dabei nicht nur positiv. Er kritisiert: Im Menschen sieht man nur eine nachdenkende Vernunft, sie ist immer und überall dieselbe; […] das Prinzip lautet, dass jeder menschliche Geist natürlicherweise wie ein Buch spreche und lese.162

Das Grundübel sei der „esprit classique“, der Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert beherrscht habe (im Gegensatz zu England, in dessen Schrifttum sich Taine bestens auskannte). Was habe diesen „esprit classique“ ausgemacht? Man sei bei der Lösung von Fragen ohne jegliche Einschränkung der „Methode der Mathematiker“ gefolgt und habe „künstliche“ Ergebnisse produziert, aus denen dann mittels „reinen Nachdenkens“ („pure raisonnement“) Schlussfolgerungen gezogen worden seien.163 Zu diesen Schlussfolgerungen hätten Voraussagen über die Art und Weise, wie die Angelegenheiten der Menschen zu regeln seien, gehört. Um 1789 sei dann behauptet worden, dass man nun in einem siècle des lumières, im Zeitalter der Vernunft (l’âge de la raison) lebe, während die Menschheit vorher im Stadium der Kindheit verharrt habe. Nun sei sie volljährig geworden, werde gesagt.164 Hierin klingen Polemiken gegen die Aufklärung aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich nach. Die kritischen Töne halten noch lange Seiten mehr an, die Enzyklopädisten, Rousseau und ‚seine Sozialisten‘ bekommen ihr Fett weg, und so fort. Im Grunde ausführlicher als viele Autoren nach ihm setzt sich Taine mit Recht, Rechten und Verfassung auseinander. Allerdings ironisiert er Rousseaus 162 „On ne voit dans l’homme qu’une raison raisonnante, la même en tout temps, la même en tout lieu; […] Il est de principe que naturellement tout esprit humain parle et pense comme un livre.“ Taine (1876): L’Ancien Régime, S. 259. 163 „Suivre en toute recherche, avec toute confiance, sans réserve ni précaution, la méthode des mathématiciens; extraire, circonscrire, isoler quelques notions très-simples et très-générales; puis, abandonnant l’expérience, les comparer, les combiner, et, du composé artificiel ainsi obtenu, déduire par le pure raisonnement toutes les conséquences qu’il enferme: tel est le procédé naturel de l’esprit classique.“ Ebd., S. 262. 164 Ebd., S. 266–267.

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„Contrat social“ und bezweifelt, dass jeder Mensch über dieselbe Vernunft verfügt. Taine hat wenig für den Gedanken der Gleichheit der Menschen übrig. Er kann sich nicht vorstellen, im Gegensatz zu Buffon, Diderot, Rousseau und etlichen anderen, die er stark ironisierend paraphrasiert, dass „Halbwilde“ oder „nackte Wilde“ dieselbe moralische und vernünftige Rede halten könnten wie ein Europäer. Er sieht das nicht einmal innerhalb der französischen Gesellschaft als möglich an.165 Liest man diese ironischen Passagen gegen den Strich, erhellt sich, dass der Menschheitsbegriff vieler Aufklärer offensichtlich umfassend und nicht rassistisch gewesen ist. Über den umfassenden, nicht-rassistischen Menschenbegriff vieler Aufklärer macht sich Taine lustig. Taine unterstellt den Aufklärern, ihre Modelle einer idealen Realität mit der Wirklichkeit verwechselt zu haben, vor allem unterstellt er ihnen, historischkulturelle Entwicklungen, die eine Gesellschaft zu dem machen, was sie ist, zu ignorieren. Sein im Vorwort skizzierter Ansatz besteht genau aus der gegenteiligen Vorgangsweise. Dazu muss er aber die (französische) Aufklärung, die er nicht so nennt, erst zum Popanz machen, den er „doctrine“ nennt. Darauf drischt er dann verbal ein, um die Fehlerhaftigkeit der „doctrine“ zu beweisen. Ebenso energisch bekämpft er das Vertrauen der Aufklärer in die menschliche Vernunft. Deren Einfluss auf den Menschen sei gering.166 Die „droits de l’homme“ werden von Taine ausschließlich ironisiert. Anders als die rein philosophiegeschichtlichen Studien beschreibt Taine die Verbreitung der Aufklärung in der Bevölkerung. Er kann nicht anders, als immer wieder zu ironisieren, gleichwohl trägt er viel empirisches Material zusammen, das die Kommunikationsinfrastrukturen der Aufklärung gut erkennen lässt. Er kann nicht anders als mit großem Bedauern festzustellen, dass die Wirkung der Aufklärung in die breite Bevölkerung hinein zum Ausbruch der Feuer und der Explosion des Pulvers geführt habe, sprich, zur Revolution. Kurzum, verglichen mit anderen positiveren Interpretationen der Aufklärung, hatte diese Taine zufolge mit vielem, nur nicht mit „Aufklärung“ zu tun. Insofern war der Autor nur konsequent, wenn er nicht von „philosophie des Lumières“ oder kurz „les Lumières“ schrieb. Félix Rocquains (1833–1925) Buch über den „Esprit révolutionnaire“167 im französischen 18. Jahrhundert stellte bis zu einem gewissen Grad einen Vorläufer zu Daniel Mornets (1878–1954) „Les origines intellectuelles de la Révolution française“ (1933) dar. Rocquain befasste sich vor allem mit der Kirchenpolitik des späten Ludwigs XIV. und seiner Nachfolger, mit dem Streit zwischen Ultramontanisten/Jesuiten und Jansenisten. Innerhalb dieses Streits situierte er das Auftreten des „esprit philosophique“, aus dem später der „parti philosophique“ hervorgegangen sei.

165 Ebd., bes. S. 304–308. 166 Ebd., S. 314. 167 Rocquain (1878): L’Esprit révolutionnaire avant la Révolution, 1715–1789.

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Rocquain nimmt die Verurteilung von Voltaires „Lettres philosophiques“168 1734 durch das Parlement de Paris wie ein Ereignis, in dem sich erstmals das „siècle irréligieux“ und seine Protagonisten – die „Philosophes“ – deutlich sichtbar zeigten.169 Bald darauf erregten Montesquieus „Lettres persanes“ (1721) den Unwillen des Kardinals Fleury (Premierminister). Der Autor erzählt beredt – übrigens ganz und gar nach dem von ihm beschworenen Prinzip „wie es gewesen war“ – die Verflechtungen zwischen allgemeiner Unzufriedenheit mit Ludwig XV. und seiner Regierung, einerseits, und oppositionellen Pamphleten, andererseits, bis hin zu den Werken der Aufklärung. Eine wichtige Rolle spielten die Parlamente, die immer mehr zu einer Oppositionskraft wurden, zugleich immer wieder Bücherverbrennungen anordneten. Der Autor richtet seine Aufmerksamkeit zudem auf das Auftreten des Wortes „révolution“ in den Jahrzehnten vor der eigentlichen Revolution – und entlastet dabei zunächst die „philosophes“: Das Wort sei schon in vieler Leute Munde gewesen, bevor die „philosophes“ die Meinungsführerschaft übernommen hätten.170 Rocquain erzählt den mit Feder, Buchdruck, Zensur, Diffamierung und Gefängnis bzw. Exilierung ausgetragenen Kampf der Dogmen und Lehren, der immer auch ein Kampf um Macht und Einfluss war. Man vergisst heute schnell, da man gewohnt ist, die Wurzeln unseres Rechtsstaatswesen in der Aufklärung zu sehen, dass es in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als in Frankreich der erste Band der Encyclopédie erschien, mitnichten ausgemacht war, wer sich durchsetzen und was einmal konsensfähig werden würde. Dennoch folgert Rocquain, nachdem er den Widerstand der Parlamente gegen Ludwig XV. vor allem 1753, beinahe genüsslich, detailliert hat: „Accomplie dans les idées à la fin de 1751, la Révolution était donc sur le point de se réaliser vers le milieu de l’année 1754.“171 Das alles im Grunde ohne eine besondere Rolle für die „philosophes“! Wenn man 1751 schon so weit gewesen war, ohne die Aufklärung, wie ging es dann weiter? Die Antwort mag überraschen: Schenkt man Rousseau Glauben, hätte der Aufruhr im Dezember 1753, den seine Lettre sur la musique française verursachte – diese Schrift brachte das Orchester der Oper gegen ihn auf, Rousseau sah sich in Lebensgefahr – die Revolution am Ausbruch gehindert.172

Jedenfalls gerieten die „philosophes“ immer mehr ins Visier der Amtskirche, radikalisierten dadurch, so Rocquain, ihre antireligiösen Positionen – und wurden dadurch immer wichtigere Akteure im innerfranzösischen Gärungsprozess.173 In 168 169 170 171 172

Zuerst 1733 unter dem Titel „Letters concerning the English nation“ veröffentlicht. Rocquain (1878): L’Esprit révolutionnaire avant la Révolution, 1715–1789, S. 81. Ebd., S. 148. Ebd., S. 180. „A en croire Jean-Jacques Rousseau, l’émotion produite au mois de décembre 1753 par sa Lettre sur la musique française, – brochure qui ameuta contre lui l’orchestre de l’Opéra au point de mettre ses jours en danger, – aurait été la cause qui empêcha la Révolution d’éclater.“ Ebd., S. 183; der Autor bezieht sich auf eine Äußerung Rousseaus in den „Confessions“, Teil II, Buch VIII. 173 Ebd., S. 216.

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den 1760ern schob sich die Verurteilung religionskritischer Schriften Voltaires und anderer Aufklärer in den Vordergrund. Frankreichs monarchisches System war längst verrottet, Widerstand und Rebellion gegen ständig steigende Steuerlasten und doktrinär-absolutistische Entscheidungen, wachsende Unduldsamkeit gegenüber der Verlogenheit des Hofes und der Kirche, ließen seit den 1760er Jahren die Erwartungen einer Revolution im politischen System steigen. Mehr als in früheren Jahrzehnten waren Aufklärungsschriften in die tägliche politische und religiöse Auseinandersetzung involviert und wurden Teil der öffentlichen Meinung. Da sich das Parlement de Paris zunehmend gegen die Reformer wie Turgot stellte, verlor es seinen Heldenstatus, den es während des Widerstands gegen Ludwig XV., die Jesuiten und die Amtskirche errungen hatte. Das machte Platz für andere, z. B. die Aufklärer, gegen die wiederum das Parlement nun ankämpfte wie seinerzeit gegen den katholischen Despotismus. Rocquain resümiert das Jahrhundert zwischen dem Widerruf des Edikts von Nantes 1685 und dem Zusammentritt der Generalstände 1789 wie folgt: Diese Revolution, die Ludwig XIV. durch seine Schwäche herbeigeführt hatte, diese Revolution, die auf dem Feld der Religion geboren und dann auf das der Politik verlegt worden war, war die geheime Inspiration der Philosophie gewesen; diese Revolution, die bei mehreren Gelegenheiten, 1754, 1757 und 1771, beinahe ausgebrochen wäre, trat schließlich dominant und unwiderstehlich durch die Tür, die eine entehrte Macht ihr gezwungenermaßen öffnen musste.174

Die Aufklärungsphilosophie war also, Rocquain zufolge, nicht verantwortlich für die Französische Revolution, sondern selber Produkt der Revolution, die schon unter Ludwig XIV. begann. Das Resultat dieser ein Jahrhundert langen Geschichte sei die „Nation“ gewesen. WINDELBAND – TROELTSCH – DILTHEY – VORLÄNDER In etwa gleichzeitig traten nun in Deutschland, dem neuen Nationalstaat und Kaiserreich, Schwergewichte auf, die das Aufklärungsnarrativ prägten: Wilhelm Windelband, Ernst Troeltsch, Wilhelm Dilthey, Karl Vorländer und andere. Wilhelm Windelband (1848–1915) ist einem allgemeineren Publikum vor allem durch sein „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“ bekannt, das erstmals 1891 bei Mohr-Siebeck erschien.175 1993 druckte der Verlag eine 18. Auflage (Nachdruck der 6. Auflage). Das Werk wurde in verschiedene Sprachen übersetzt, 174 „Cette Révolution que Louis XIV avait consommée par sa faiblesse, cette Révolution qui, née sur le terrain de la religion et transportée ensuite sur celui de la politique, avait été la secrète inspiratrice de la Philosophie, et qui, à plusieurs reprises, en 1754, en 1757 et en 1771, avait failli éclater, elle se présentait enfin dominante, irrésistible, par la porte qu’était contraint de lui ouvrir un pouvoir déshonoré.“ Ebd., S. 483–484. 175 Windelband (1921): Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 9. und 10. von Erich Rothacker durchgesehene Auflage.

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ins Englische (1901), Griechische, Italienische, Japanische (1930), Chinesische (1997), Portugiesische, Russische176, Serbische (Belgrad) und Serbokroatische (Zagreb), ins Spanische. Exemplare finden sich weltweit in Ägypten, Australien, China, Deutschland, Frankreich, Ghana, Griechenland, Irland, Israel, Italien, Japan, Kanada, Libanon, Liechtenstein, Marokko, Neuseeland, in den Niederlanden, Pakistan, Polen, Rumänien, Schweiz, Spanien, Südafrika, in der Ukraine, Ungarn, in der Türkei, USA, im Vereinigten Königreich, Zimbabwe.177 Windelband trug einerseits zur Fixierung von „Aufklärung“ als Epochenbegriff bei, andererseits hielt er an „Aufklärung“ als einem allgemeinen philosophischen Begriff fest und setzte ihn in Bezug auf die antike griechische Philosophie ein. Überhaupt maß er der griechischen Philosophie die allergrößte und bis in die eigene Zeit anhaltende Bedeutung bei: [W]as ich biete, ist ein ernsthaftes Lehrbuch, welches die Entwicklung der Ideen der europäischen Philosophie in übersichtlicher und gedrängter Darstellung schildern soll, um zu zeigen, durch welche Denkantriebe im Laufe der geschichtlichen Bewegung die Prinzipien zum Bewußtsein gebracht und herangebildet worden sind, nach denen wir heute Welt und Menschenleben wissenschaftlich begreifen und beurteilen. Dieser Zweck hat die gesamte Gestaltung meines Buches bestimmt. […] Wenn aber dabei […] dem Altertum ein verhältnismäßig großer Teil des Ganzen gewidmet erscheint, so beruht das auf der Überzeugung, daß für ein historisches Verständnis unseres intellektuellen Daseins die Ausschmiedung der Begriffe, welche der griechische Geist dem Wirklichen in Natur und Menschenleben abgerungen hat, wichtiger ist als alles, was seitdem – die kantische Philosophie ausgenommen – gedacht worden ist.178

In der „Einleitung“ formulierte Windelband eine sehr direkte Verbindungslinie zwischen der griechischen und der Aufklärungsphilosophie: Die Philosophie trat mit immer deutlicher werdendem Bewußtsein in einen methodischen Gegensatz zur Theologie, indem sie dasselbe, was diese auf Grund göttlicher Offenbarung lehrte, ihrerseits aus den Mitteln menschlicher Erkenntnis gewinnen und darstellen wollte. Die unausbleibliche Folge dieses Verhältnisses aber war, daß die Philosophie, je freier das individuelle Denken der Kirche gegenüber wurde, um so selbständiger auch die ihr mit der Religion gemeinsame Aufgabe zu lösen begann, – daß sie von der Darstellung und Verteidigung zur Kritik des Dogmas überging und schließlich ihre Lehre völlig unabhängig von den religiösen Interessen lediglich aus den Quellen herzuleiten suchte, die sie dafür in dem „natürlichen Licht“ der menschlichen Vernunft und Erfahrung zu besitzen meinte. Der methodische Gegensatz zur Theologie wuchs auf diese Weise zu einem sachlichen aus, und die moderne Philosophie stellte sich als „Weltweisheit“ dem Dogma gegenüber. Dies Verhältnis nahm die mannigfachsten Abstufungen an, es wechselte von anschmiegender Zustimmung bis zu scharfer Bekämpfung; aber stets blieb dabei die Aufgabe der „Philosophie“ diejenige, welche ihr das Altertum gegeben hatte: aus wissenschaftlicher Einsicht eine Welterkenntnis und eine Lebensansicht da zu begründen, wo die Religion dies Bedürfnis nicht mehr oder wenigstens 176 Lt. Vorwort des Autors zur 2. Auflage, datiert auf September 1900, wurden die englische und russische Übersetzung bereits von der 1. Auflage angefertigt. 177 Angaben kumuliert aus Deutsche Nationalbibliothek (= DNB) und WorldCat. 178 Windelband (1921): Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Wiederabdruck des Vorworts zur 1. Ausgabe, datiert auf Straßburg November 1891. Abgesehen von Fehlerberichtigungen, dem Nachtrag neuerer Literatur u. ä. wurde in der benutzten Ausgabe gegenüber der 1. Auflage vor allem das Kapitel zur Philosophie des 19. Jahrhunderts stark erweitert.

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Intellektuelle nicht mehr allein zu erfüllen vermochte. In der Überzeugung, dieser Aufgabe gewachsen zu sein, sah es die Philosophie des 18. Jahrhunderts, wie einst die der Griechen, für Recht und Pflicht an, die Menschen über den Zusammenhang der Dinge aufzuklären und von dieser Einsicht aus das Leben des Individuums wie der Gesellschaft zu regeln.179

Im langen Buchteil über die „Philosophie der Griechen“ verwendete Windelband wie selbstverständlich den Begriff „griechische Aufklärung“. Er bezog ihn vor allem auf die in seiner Diktion zweite, die „anthropologische“ Periode (ca. 450– 400 vor Christus). Der fünfte Buchteil ist mit „Die Philosophie der Aufklärung“ überschrieben und umfasst rund 80 Seiten. Kant wird in diesem Teil nicht zentral behandelt, sondern im nachfolgenden sechsten Teil „Die deutsche Philosophie“. Windelband knüpfte an seinen Vergleich mit der griechischen Philosophie sogleich als erstes im Aufklärungskapitel an: Der natürliche Rhythmus des intellektuellen Geschehens brachte es mit sich, daß in der modernen wie in der griechischen Philosophie auf eine erste kosmologisch-metaphysische Periode ein Zeitraum wesentlich anthropologischen Charakters folgte, und daß damit das neu erwachte rein theoretische Streben wiederum einer praktischen Auffassung der Philosophie als Weltweisheit weichen mußte. In der Tat finden sich alle Züge der griechischen Sophistik mit gereifter Gedankenfülle, mit ausgebreiteter Mannigfaltigkeit, mit vertieftem Inhalt, aber deshalb auch mit verschärfter Energie der Gegensätze in der Philosophie der Aufklärung wieder, deren zeitliche Ausdehnung ungefähr mit dem 18. Jahrhundert zusammenfällt. An die Stelle Athens tritt die ganze Breite der geistigen Bewegung in den europäischen Kulturvölkern, und die wissenschaftliche Tradition zählt nun ebensoviel Jahrtausende, wie damals Jahrhunderte: aber die gesamte Richtung und die Gegenstände, die Gesichtspunkte und die Ergebnisse des Philosophierens zeigen in diesen beiden zeitlich so weit geschiedenen und ihrem Kulturhintergrunde nach so sehr verschiedenen Perioden eine lehrreiche Ähnlichkeit und Verwandtschaft. Es waltet in beiden dieselbe Einkehr in das Subjekt, dieselbe zweifelvoll überdrüssige Abwendung von metaphysischer Grübelei, dieselbe Vorliebe für eine empirischgenetische Betrachtung des menschlichen Seelenlebens, dieselbe Forschung nach der Möglichkeit und den Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis und dieselbe Leidenschaftlichkeit in der Diskussion der Probleme des gesellschaftlichen Lebens: nicht minder charakteristisch endlich ist für beide Zeitalter das Eindringen der Philosophie in die breiten Kreise der allgemeinen Bildung und die Verschmelzung der wissenschaftlichen mit der literarischen Bewegung.180

Windelband unterteilte die Epoche der Aufklärungsphilosophie in drei Teile, die chronologisch und inhaltlich miteinander zusammenhängend gedacht wurden: Beginn der Aufklärung in England, „Verpflanzung“ nach Frankreich, und weiter: Von hier aus zunächst, dann aber auch von direkter Einwirkung aus England übernahm Deutschland die aufklärerischen Ideen, für die es in mehr theoretischer Weise schon vorbereitet war: und hier fanden diese ihre letzte Vertiefung und eine Reinigung und Veredlung durch ihr Aufgehen in die deutsche Dichtung, mit welcher sich die Renaissance des klassischen Humanismus vollendete.181

179 Ebd., Einleitung, § 1, S. 2–3. 180 Ebd., S. 368. 181 Ebd., S. 369.

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Die Darstellung gliedert sich in zwei große Kapitel zu den „theoretischen“ und den „praktischen Fragen“, innerhalb derer die drei Aufklärungen (England/Schottland, Frankreich, Deutschland) gemeinsam analysiert werden. Einleitend zum Buchteil über die „deutsche Philosophie“ schreibt Windelband: Eine glückliche Vereinigung mehrfacher geistiger Bewegungen hat zu Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland eine Blüte der Philosophie hervorgebracht, welche in der Geschichte des europäischen Denkens nur mit der großen Entfaltung der griechischen Philosophie von Sokrates bis Aristoteles zu vergleichen ist. In einer intensiv und extensiv gleich mächtigen Entwicklung hat der deutsche Geist während der kurzen Spanne von vier Jahrzehnten (1780–1820) eine Fülle großartig entworfener und allseitig ausgebildeter Systeme der philosophischen Weltanschauung erzeugt, wie sie auf so engem Raume nirgends wieder zusammengedrängt sind: und in allen diesen schürzen sich die gesamten Gedanken der vorhergehenden Philosophie zu eigenartigen und eindrucksvollen Gebilden zusammen. Sie erscheinen in ihrer Gesamtheit als die reife Frucht eines langen Wachstums, aus der, noch bis heute kaum erkennbar, die Keimungen einer neuen Entwicklung sprießen sollen.182

Da scheint viel nationaler Stolz durchzudringen. Das erste Kapitel dieses Teils ist Kant gewidmet, das zweite dann dem Idealismus. Im Kontext der Zeit überrascht die Gewissheit, mit der Windelband nationale Kategorien ohne jegliche Begründung einsetzt – dies gilt genauso für „Franzosen“ wie „Engländer“ und „Schotten“ –, natürlich nicht, gleichwohl irritiert die unreflektierte Selbstverständlichkeit der Kategorie Nation bei einem so versierten Philosophen und Philosophiehistoriker wie Windelband. Mehr als ein Jahrzehnt vor dem Lehrbuch, nämlich 1878, war jedoch der erste Band von Windelbands „Geschichte der neueren Philosophie“ erschienen, die bereits wesentliche Inhalte nicht zuletzt zu Windelbands Interpretation der Aufklärung enthielt. Eine zweite Auflage wurde 1899 und eine dritte dann bereits 1904 gedruckt.183 Weitere Auflagen folgten bis 1922, zuletzt gab es 2017 einen Nachdruck der Ausgabe von 1878. Dieses Buch wurde, soweit feststellbar, nicht übersetzt, findet sich gleichwohl in Bibliotheken in vielen Ländern: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Irland, Israel, Italien, Japan, Kanada, Lettland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Schweden, Schweiz, Slowenien, Spanien, Südafrika, Ungarn, USA, Venezuela, Vereinigtes Königreich.184 Für den Autor galt die Philosophie des 18. Jahrhunderts zusammen mit der des 16. und 17. Jahrhunderts im Wesentlichen als „vorkantische Philosophie“.185 Dem Buchtitel entsprechend flocht Windelband immer wieder Passagen ein, um die Einbettung der untersuchten philosophischen Werke in die Kultur nicht schuldig zu bleiben. Ihm schien die Aufklärung kulturgeschichtlich betrachtet durchaus ambivalent gewesen zu sein: Das Jahrhundert der Aufklärung übernahm von der Renaissance den sozialen Gegensatz der Bildung und der Unbildung, und die gesamte geistige Bewegung des XVIII. Jahrhunderts hat 182 183 184 185

Ebd., S. 446. Windelband (1904): Die Geschichte der Neueren Philosophie. 3. Aufl. Angaben kumuliert nach DNB, KVK und WorldCat. Windelband (1904): Die Geschichte der Neueren Philosophie, S. 59.

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Intellektuelle sich im wesentlichen in den höheren Gesellschaftskreisen abgespielt. Von den großen Fragen, welche dies Jahrhundert bewegten, war die große Masse mehr oder minder ausgeschlossen, und erst die französische Revolution hat mit ihren Konsequenzen einen sozialen Zustand geschaffen, in welchem eine gleiche Exklusivität des geistigen Lebens nicht mehr möglich erscheint. Die kulturgeschichtliche Betrachtung wird in dieser eigentümlichen Abgeschiedenheit des Bodens, auf welchem sich die Ideen des XVIII. Jahrhunderts entwickelten, die Wurzeln ihrer Kraft ebenso erblicken wie diejenigen ihrer Schwäche. […] sie wird […] niemals verkennen dürfen, daß aus eben dieser Abgeschlossenheit sich eine gefährliche Verständnislosigkeit für die schwersten Probleme der menschlichen Gesellschaft entwickeln konnte. Es war eine natürliche Folge, daß gerade über diese engen Kreise das soziale Wetter, die französische Revolution, hereinbrach; denn in eben dieser Exklusivität bestand der innere Widerspruch des Aufklärungszeitalters. Die Lehren der Aufklärung selbst, die trotz aller Absperrung leise und allmählich den ganzen Körper der Gesellschaft durchsickerten, erzogen jene sozialen Naturmächte, deren Sturm sich gegen nichts anderes richtete, als gegen die gebildete Gesellschaft selbst. Unter diesen Widersprüchen war einer der gefährlichsten eben der religiöse, in den sich der Deismus verwickelte; denn vor der Macht der Aufklärung mußte jene künstliche Scheidewand der esoterischen und der exoterischen Lehre in Staub zerfallen, und je mehr sich diese Gesellschaft den religiösen Bedürfnissen der Masse entfremdet hat, um so ratloser steht sie einmal ihren elementaren Wirkungen gegenüber.186

Mit dem heutigen Wissen muss das als fragwürdige Interpretation gelten, da sich die Französische Revolution nicht gegen die Aufklärer wendete, sondern mit deren Lehren arbeitete und diese weiterentwickelte. Windelband fehlte im Grunde jene wissenschaftliche Kulturgeschichte, die er für sein Ansinnen eigentlich gebraucht hätte. Ein Autor wie Windelband steht der Aufklärungsepoche offenbar viel ferner als Jahrzehnte später ein Cassirer oder nur wenige Jahre vor ihm ein Hettner. Seine Position mag sich aber aus dem jahrzehntelangen Streit über das Verhältnis von Revolution und Aufklärung erschließen, denn die Revolution wurde seit der Revolutionsepoche selber sehr kontrovers beurteilt. Wer die Revolution verurteilte, tat sich auch mit einer positiven Bewertung der Aufklärung schwer, soweit diese für die Revolution verantwortlich gemacht wurde. Windelband vertritt hier allerdings keine politisch-polemischen Standpunkte mehr, sondern bemüht sich um wissenschaftlich-sachliche Beobachtung der Zeit. Gleichwohl zieht Windelband in den Abschnitten über die „Französische Aufklärung“, die ihm insgesamt radikal, ja, wie er einmal schreibt, agitatorisch erscheint, eine lange Linie von Montesquieus „Esprit des Lois“ (1748) zur Revolution. Implizit schwingt in seinen Ausführungen der ‚Vorwurf‘ einer gewissen Unempfänglichkeit für die Legitimität des geschichtlich Gewordenen mit. Das hatten auch Hettner und Taine so gesehen. Dieser Vorwurf stammte bereits aus der Revolutionsepoche selber und tritt bei Windelband nurmehr ‚weichgespült‘ auf – jedenfalls auch im Vergleich zu Hippolyte Taine, dessen erster Band der „Origines de la France contemporaine“ kurz vor Windelbands Werk erschienen war. Rousseau bescheinigt er einen gewissen „Demokratismus“187, seinem Entwurf einer „demokratischen Republik“ eigne „unvermeidlich“ ein „despotischer Charakter“. Und: „Rousseaus Schriften bezeichnen in der geistigen Bewegung 186 Ebd., S. 286–287. 187 Ebd., § 46, S. 434.

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den Bruch mit der Geschichte, welcher sich im öffentlichen Leben durch die Revolution vollzog.“188 Dieser Vorwurf des Bruchs mit der Geschichte kommt im Text öfters vor, er wird am Ende des Rousseau-Abschnitts – auf den unmittelbar die hochgelobte „Deutsche Aufklärung“ folgt – nochmals kritisiert: In dieser Richtung, welche die Wirkung der Rousseauschen Ideen einschlug, und in ihrem Ziele, in der Revolution, gipfelte die unhistorische Denkart, welche den wesentlichen Mangel der Philosophie des Aufklärungszeitalters bildete.189

Dieser Satz hätte auch von H. Taine geschrieben worden sein können. Auffällig ist die Abwesenheit einer genaueren Auseinandersetzung mit dem Thema der Menschenrechte. Nun endet Windelband mit Rousseau und behandelt die Revolution selber nicht, jedenfalls nicht philosophiegeschichtlich, aber die Präsenz des Themas der Menschenrechte in der französischen Aufklärungsphilosophie hätte mehr Aufmerksamkeit gerechtfertigt. Bei Windelband ist „die“ Aufklärung, ebenso wenig wie bei Taine, nicht die Geburtsstunde – im Sinne einer positiven Bezugsgröße, wie sie uns heute geläufig ist – von Demokratie und Menschenrechten. Was in der „Geschichte der neueren Philosophie“ im Abschnitt über Rousseau formuliert wird, findet sich im „Lehrbuch“ ganz allgemein auf die französische Aufklärung bezogen: Die französische Aufklärung war, wie das Verhältnis Voltaires zu Bolingbroke zeigt, von Anfang an entschieden demokratischer: ja, sie hatte die agitatorische Tendenz, die Aufklärung der Massen gegen die exklusive Selbstsucht der oberen Zehntausend auszuspielen. Damit aber vollzog sich ein Umschwung, vermöge dessen die Aufklärung sich notwendig gegen sich selber kehrte.190

Das sehr ausführliche Sachregister des Lehrbuchs enthält weder ein Schlagwort „Demokratie“ noch „Menschenrechte“, das Namensregister weder der „Geschichte der neueren Philosophie“ noch des „Lehrbuchs“ führt den deutschen Physiokraten Johann August Schlettwein (1731–1802) auf, der auch das Werk „Die Rechte der Menschheit oder der einzige wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen“ (1784) publiziert hatte. Die Physiokratie wird von Windelband behandelt. Das ist nur eine Stichprobe; Schlettwein wurde von der Forschung in den Jahrzehnten, in denen Windelband schrieb, nur marginal behandelt, andererseits war Windelband in beeindruckender Weise belesen und zitierte viele Autoren, die in anderen Werken zur Aufklärung nicht vorkamen. Gegenüber Hettner lassen sich bei Windelband in der Interpretation der Aufklärung einige Defizite, wenn nicht Rückschritte bemerken. Ernst Troeltsch (1865–1923) gehörte zu den führenden GelehrtenIntellektuellen des Kaiserreichs und der ersten Jahre der Weimarer Republik. An sich protestantischer Theologe, arbeitete er umfassend kulturwissenschaftlich, philosophisch und historisch. Neben der Universitätskarriere machte er auch poli-

188 Dieses und das vorherige Zitat ebd., S. 435. 189 Ebd., S. 436. 190 Windelband (1921): Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, § 37, S. 440.

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tisch Karriere und schien sogar qualifiziert für das Amt des Reichspräsidenten.191 Er war ein international bekannter Gelehrter, seine Arbeiten erlebten nach dem Zweiten Weltkrieg gerade im anglo-amerikanischen Raum eine Renaissance. Übersetzungen seiner Werke gibt es z. B. ins Französische, Italienische und Spanische. Der Grund für die internationale Rezeption ist seine Auseinandersetzung mit der Rolle des Christentums in der modernen Welt, insbesondere mit dem Protestantismus – diesbezüglich kreuzten sich auch die Forschungsinteressen zwischen Troeltsch und seinem Kollegen und Freund Max Weber. Die Auseinandersetzung mit der Moderne gehört zu den zentralen Themen seines Schaffens, und so finden sich im Gesamtwerk Texte, die mit der Aufklärung zu tun haben. Hans Baron gab 1925 den vierten Band der gesammelten Schriften von Troeltsch heraus und ordnete dort im Abschnitt IV unter dem Titel „Die moderne Welt“ mehrere Texte ein, die sich besonders um Themen der Aufklärung drehen: Eröffnet wird dieser Buchabschnitt mit „Das Wesen des modernen Geistes“ (1907), es folgt „Die Aufklärung“ (1897), ein äußerst konziser Text. Weitere Aufsätze in diesem Buchteil zu den „englischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts“, zu „Deismus“, zu Leibniz und Pietismus sowie zum „deutschen Idealismus“ vertiefen und erweitern das Feld „Aufklärung“. In „Das Wesen des modernen Geistes“ arbeitet er den Zusammenhang zwischen Aufklärungsepoche und Demokratie heraus, nicht ohne verschiedene historische Optionen in der frühen Neuzeit einzubeziehen: Aus diesen bunten, sich verschiedentlich verschmelzenden Einflüssen erwächst die moderne Demokratie, bald mehr von dieser, bald mehr von jener Seite stärker bestimmt. Sie wird neben der aus dem Souveränitätsbegriff folgenden Staatsraison die eigentlich beherrschende Macht des modernen Staates und damit eine Grundmacht der modernen Welt überhaupt. Sie hat ihr großes Musterbeispiel in den amerikanischen Kolonialstaaten, das Beispiel ihrer Versöhnung mit der Monarchie in der englischen Verfassung, ihre theoretisch-radikale Durchbildung in den Theorien der französischen Revolution und ihrer zahlreichen Tochterrevolutionen, ihren Kompromiß mit dem Absolutismus in den parlamentarischen militärischen Monarchien. Sie ist im Prinzip heute durchgesetzt und besiegt eben den letzten Widerstand, den geistlich-weltlichen Absolutismus des Zarenreiches.192

Troeltsch unterscheidet zwei inhaltliche Typen der Demokratie, die „Rousseausche“ und die „angelsächsische Demokratie“: Das erste ist die Rousseausche Demokratie, die eben daher auch kein Recht der Minderheiten kennt und die von der Sozialdemokratie auf die Spitze getrieben ist; das zweite ist die angelsächsische Demokratie und das Prinzip des Altliberalismus. Beides ist schlechthin unvereinbar, und darin liegt der Grund, weshalb die Sozialdemokratie auf angelsächsischem Boden so wenig Fuß fassen kann.193

191 Graf (2015): Ernst Troeltsch. Eine biographische Skizze. 192 Troeltsch (1925 [1907]): Das Wesen des modernen Geistes, S. 306. 193 Ebd., S. 307.

Windelband – Troeltsch – Dilthey – Vorländer

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Troeltsch hat sich (nach Friedrich Wilhelm Graf194) wohl erst nach dem Ersten Weltkrieg zum Demokraten entwickelt, das heißt, er sieht und analysiert als Wissenschaftler den geschichtlichen Zusammenhang zwischen Aufklärung, Revolution und Demokratie, aber er tut das offenkundig nicht aus der Position eines Menschen heraus, der diese Grundlagen für sich interiorisiert. Der Begriff „Menschenrechte“ fällt in diesem Text im Zusammenhang von Religions- und Gewissensfreiheit. Troeltsch beruft sich in der Fußnote auf Georg Jellinek und seine berühmte Schrift über die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1895)195, wenn er schlussfolgert: Den Abschluß brachten die allgemeinen Menschenrechte der Religions- und Gewissensfreiheit. Wie verschlungen aber auch hier die Entwickelungen sind und wie wenig diese Menschenrechte lediglich das Erzeugnis eines subjektiven Rationalismus sind, zeigt der Umstand, daß die für die europäischen Verfassungen maßgebende Erklärung dieser Menschenrechte am 26. August 1789 nicht aus dem contrat social Rousseaus, sondern aus den amerikanischen Verfassungen herstammt und somit auf den reformatorischen religiösen, sowie auf den germanischen rechtlichen Individualismus zurückgeht.196

In „Die Aufklärung“ (1897)197 folgt Troeltsch einem zu diesem Zeitpunkt bereits etablierten Kanon an Autoren, zu dem die Vorreiter des 17. Jahrhunderts wie Descartes und die Frühaufklärer Leibniz, Locke, Newton u. a. gehören sowie die bis heute am meisten zitierten englischen/schottischen, französischen und deutschen Aufklärer. Die Französische Revolution interpretiert Troeltsch nicht als notwendig aus der Aufklärung resultierend: Erst diese Reformen [der aufgeklärten Herrscher; W.S.] aber ermöglichten eine allgemeine Herrschaft der Aufklärungsideen. Daß das französische Königtum zu solchen Reformen zu schwach und unentschlossen war, wurde in Frankreich die Ursache der Revolution, die man durchaus nicht als das notwendige Ergebnis der Aufklärung überhaupt betrachten darf. Auch nach und neben der Revolution wirkten die Aufklärungsideen fort, und der Neubau auf dem durch die Revolutionskriege freigemachten Boden ist überall mit starker Beihilfe ihrer Gedanken geschehen.198

Diese Überlegung wird rund zehn Seiten später weiter bis in die eigene Gegenwart geführt. Zunächst zählt der Autor einige Faktoren auf, die im 19. Jahrhundert der Aufklärung entgegenwirkten: Die englische, schweizerische, deutsche Erweckungsperiode schuf in den protestantischen Kirchen eine mächtige Gegenströmung, die mit der völligen Verdrängung der Aufklärungstheologie endete. Die durch die Säkularisationen auf eine ganz neue Grundlage gestellte Politik der Kurie bereitete einen neuen Siegeszug des Katholizismus vor. Die Wissenschaft vollends ergab sich einem dem abstrakten Subjektivismus und reformierenden Optimismus der 194 Graf (2015): Ernst Troeltsch. Eine biographische Skizze. 195 Vgl. hierzu Schmale (1997): Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit, Kap. 1.5. 196 Troeltsch (1925 [1907]): Das Wesen des modernen Geistes, S. 344. 197 Es handelt sich um denselben Text, der auch von Kopitzsch, Hg. (1976): Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, abgedruckt wurde, ich zitiere hier aber nach den „Gesammelten Schriften“, Bd. 4, wie oben angegeben. 198 Troeltsch (1925 [1897]): Die Aufklärung, S. 368.

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Intellektuelle Aufklärung direkt entgegengesetzten Historismus, der seine Aufgabe nur mehr im Begreifen und nicht in der Neuschaffung der Wirklichkeit sah. Zu allerletzt ist schließlich auch noch die wirtschaftliche Reaktion hinzugetreten, die Individualismus und Optimismus der Aufklärung auch auf diesem Gebiete vernichtete.

Das „aber“ folgt unmittelbar darauf: Trotzdem ist aber die Aufklärung noch bis heute eine bedeutende Macht, weniger in Deutschland, wo Kant, Goethe, Hegel, die historische Schule und die wissenschaftliche Theologie einen völlig neuen Grund gelegt haben, als in Frankreich und der angelsächsischen Welt, wo der Gegensatz von Aufklärung und Supranaturalismus heute noch fast derselbe ist wie vor hundert Jahren, und wo zur Aufklärungswissenschaft als wirklich neues Ferment nur der biologische Evolutionismus ⟨und die, freilich sofort naturalistisch gefärbte, Entdeckung der Gemeinschaft: die Soziologie⟩ hinzugetreten sind. Aber auch bei uns ist wenigstens die antisupranaturalistische Tendenz das die Wissenschaft durchweg beherrschende Erbe der Aufklärung.199

Wie viele andere Gelehrte seiner Zeit trennte Troeltsch die deutsche bzw. vermeintlich „deutsche“ Entwicklung von der des atlantischen Europas und trug so natürlich auch dazu bei, die Aufklärung sehr stark zu einem westeuropäischen, aber nicht wirklich deutschen Weg zu stilisieren. Wilhelm Dilthey (1833–1911) gehört ebenfalls zu den weltweit bekannt gewordenen deutschen Geisteswissenschaftlern vor dem Ersten Weltkrieg. Wichtige Teile seines Werks liegen in englischen Übersetzungen vor und stehen in über den Globus verteilten Bibliotheken. Er trug entscheidend zur theoretischen Grundlegung der Geistes-, insbesondere auch der Geschichtswissenschaften, bei. Sein Einfluss ist ungebrochen. Er schrieb 1900 und 1901 mehrere Aufsätze zum 18. Jahrhundert und zur Aufklärung. Sie erschienen zunächst in der „Deutschen Rundschau“, die 1874 gegründet worden war (1964 eingestellt) und für das intellektuelle Leben im Kaiserreich einige Bedeutung besaß. Dilthey begann dann, an einer Geschichte des deutschen Geistes zu arbeiten, in die diese sowie ältere und neue Texte einflossen. Es gelang ihm nicht, das sehr umfangreiche und ihn sehr beanspruchende Werk abzuschließen. Paul Ritter fasste im Rahmen der Gesammelten Schriften von Wilhelm Dilthey die besonders das 18. Jahrhundert betreffenden Texte im 3. Band unter dem Titel „Studien zur deutschen Geistesgeschichte“ zusammen, wobei er die Texte, Diltheys Auftrag gemäß, bearbeitete. Das Ergebnis bezeichnet er im Vorwort (datiert auf August 1926) als „schmalen Band, der sich auf das Zeitalter der Aufklärung“ beschränke. Da haben wir es, das Zeitalter der Aufklärung. Das Schlagwort „deutsche Geistesgeschichte“ führt ein wenig in die Irre, da sich Dilthey der Bedeutung französischer und englischer bzw. schottischer Aufklärer vollkommen bewusst ist und diesen die erforderliche Beachtung schenkt. Dieser dritte Band der Gesammelten Schriften findet sich in Bibliotheken in etlichen europäischen Ländern, aber seine internationale Reichweite steht hinter den 199 Ebd., beide aufeinanderfolgenden Zitate S. 374. Die kurze Passage in spitzen Klammern im zweiten Zitat ist eine nach 1897 erfolgte Ergänzung Troeltschs im Hinblick auf eine Überarbeitung, die Hans Baron in den 1925 abgedruckten Text aufgenommen hat.

Windelband – Troeltsch – Dilthey – Vorländer

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anderen Grundlagenwerken deutlich zurück. Gleichwohl ermöglichten die Gesammelten Schriften den Autoren der Zwischenkriegszeit unschwer die DiltheyRezeption. In „Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt“200 legte Dilthey einen eindeutigen Epochenbegriff dar: So entstanden jetzt nebeneinander die leitenden Ideen des neuen Weltalters: Autonomie der Vernunft, Herrschaft des menschlichen Geistes über die Erde vermittelst der Erkenntnis, Solidarität der Nationen mitten in ihren Machtkämpfen, und die Zuversicht stetigen Fortschreitens, wie sie aus der Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Wahrheiten folgt, welche gestattet, eine auf die andere zu gründen. Diese Ideen haben die Menschheit mit neuem Lebensgefühl erfüllt. In der Geschichte des menschlichen Geschlechtes finde ich kein größeres Ereignis als die Entstehung dieses Zusammenhanges, welcher von der Erkenntnis der Naturgesetze hinüberreicht zur Beherrschung des Wirklichen durch die Macht des Denkens und von ihr zu den höchsten Ideen, die uns alle bestimmen. Aus ihm erwächst die Überlegenheit in dem Lebensgefühl eines jeden von uns, verglichen mit dem der größten Denker und Helden, der erhabensten religiösen Geister der alten Welt. Denn nur erst steht das Menschengeschlecht auf festem Boden, ein in der Wirklichkeit gelegenes Ziel vor sich und einen deutlichen Weg, es zu erreichen. Die Sicherheit des Fortschreitens in der Gesittung wurde gesteigert durch die Entwicklung der großen Monarchien Europas.201

Anders als Guizot verband Dilthey Geist und Politik, er entwarf ein harmonisches Gemälde des 18. Jahrhunderts, in dem am Ende sogar mehr Frieden als jemals zuvor geherrscht habe. „Bis dann die Katastrophe der französischen Revolution über diese ganze Ordnung der Dinge hereinbrach.“202 Entscheidend war nach Dilthey die Wissenschaft, die mittels der Akademien und vor allem der Universitätsneugründungen wie Halle und Göttingen in die Gesellschaft getragen wurde: Man muss sich vorstellen, wie […] gerade diese Organisation des wissenschaftlichen Betriebes die Zuversicht auf die zunehmende Gesittung durch den Einfluß der Vernunft vermehrte. Wie diese Grundidee der Aufklärung sich von den Gelehrten aus über die Beamten, die Juristen und die Schriftsteller verbreitete.203

Auf dieser Grundlage sei der Begriff der „großen Kultur“, wie Dilthey es formulierte, entstanden. Gemeint ist der Kultur- bzw. Zivilisationsbegriff der Aufklärung, der alles letztlich in der wissenschaftlichen Erkenntnis begründe. Für Dilthey ist dies der Maßstab der Geschichtsschreibung der Aufklärung, das eigentliche Thema des Textes. Den Historiker Voltaire verbindet er mit Schlagworten wie „Aufklärung, Toleranz und Humanität“.204 200 Dilthey (1927 [ca. 1900]): Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt. Derselbe Band 3 von Diltheys Gesammelten Schriften enthält außerdem: „Leibniz und sein Zeitalter“ sowie „Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung“. 201 Dilthey (1927 [ca. 1900]): Das achtzehnte Jahrhundert und die geschichtliche Welt, S. 223– 224. Hervorhebungen im Zitat W.S. 202 Ebd., S. 224. 203 Ebd., S. 225. Hervorhebungen im Zitat W.S. 204 Ebd., S. 228.

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Intellektuelle

Nach Dilthey entfaltet sich in der Historiografie der Aufklärung ein kulturgeschichtliches Konzept, das die politische, die Machtgeschichte einbindet. Die Idee der Freiheit hätten die Aufklärer in diesem Zusammenhang entwickelt. Dilthey zeichnet ein positives Bild der damaligen europäischen Monarchien und Republiken, er sieht sie als stabilen Rahmen für die Aufklärung. Frankreich und Preußen charakterisiert er als „gesetzliche Monarchien“, das heißt als Monarchien, in denen Recht und Gesetz herrschen. Er schreibt von der „freien Staatsordnung Englands“.205 Diese Einschätzung der historischen Situation wiederholt sich in dem Text. Eine Stelle, die von Kant ausgeht, sei noch zitiert: Wenige Jahre vor dem Ausbruch der Revolution sprach Kant es aus: das schwerste aller Probleme unseres Geschlechtes sei die Begründung gesetzlicher, freier Staaten und ihrer Friedensgemeinschaft. Er gab dem Worte, was ganz Europa dachte. 206

Dilthey, der keine Zitatbelege gibt, bezieht sich auf Kants kleine Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, die 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschienen war. Gemeint ist der „Fünfte Satz“, der bei Kant wie folgt beginnt: „Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft.“ Kant priorisiert im „Fünften Satz“ die Perspektive der Gesellschaft, während Dilthey geradezu fixiert ist auf die Rolle der Staaten. Ein Guizot dürfte an Kants Priorisierung der Gesellschaft seine Freude gehabt haben. Diltheys Thema, die Geschichtsschreibung, bedingt die Auswahl der Autoren der Aufklärung, über die er schreibt. Dennoch trägt er dazu bei, immer dieselben zu kanonisieren – was das Interesse seiner Darstellung nicht schmälert. Es sind Voltaire, Montesquieu, Turgot und Hume, die ausführlicher als andere wie Gibbon oder Robertson gewürdigt werden. Spinoza, Lessing, Leibniz, Locke, Kant und Friedrich II. treten wiederholt auf, wobei Dilthey Friedrich wie auch Leibniz jeweils einen eigenen langen Text widmete. Beide sind in den „Studien zur deutschen Geistesgeschichte“ abgedruckt. Bei Montesquieu steht die Gewaltenteilung als Bedingung der politischen Freiheit im Vordergrund der Betrachtung.207 D’Alembert wird namentlich erwähnt, daneben allgemein die „Enzyklopädisten“. Adam Smith wird gestreift, ebenso Herder, Justus Möser kommt seitenlang zu Ehren, ebenso Winckelmann. Dilthey sieht in der Aufklärung „die Nationen […] vom Despotismus fort zu freien, gerechten Regierungssystemen [gehen]“.208 Fortschritt“ interpretiert der Autor als ein grundsätzliches geschichtliches Movens, in der Aufklärung wurde Fortschritt wissenschaftlich reflektiert und bewusst vorangetrieben. Dilthey trug zweifellos zur Kanonbildung in Sachen Aufklärung bei, aber anders als beispielsweise Guizot (einige Jahrzehnte vor ihm) sah er die Monarchie des 18. Jahrhunderts und die Aufklärung nicht als Gegensatz, sondern als Paar. 205 206 207 208

Ebd., S. 232. Ebd., S. 242. Ebd., S. 234–235. Ebd., S. 237.

Windelband – Troeltsch – Dilthey – Vorländer

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Karl Vorländer (1860–1928) positionierte sich selber bei der Sozialdemokratie. Er war ein bekannter Kant-Forscher, Publizist und er verfasste eine beim Publikum recht erfolgreiche „Geschichte der Philosophie“, deren zweiter Band (1903) die „Philosophie der Neuzeit“ behandelt.209 Noch zu Vorländers Lebzeiten wurden sieben Auflagen erreicht, die Gesamtzahl der Exemplare dürfte sechsstellig gewesen sein. 1922 erschien in Moskau eine russische Übersetzung. Nach seinem Tod wurde die „Geschichte der Philosophie“ in jedem Jahrzehnt nachgedruckt (zuletzt 2015) und sie fand u. a. Eingang in „Rowohlts deutsche Enzyklopädie“, Abteilung „Philosophie“ (1960er Jahre). Bibliotheken in aller Welt weisen das Werk aus: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Israel, Italien, Kanada, Liechtenstein, Mexiko, Neuseeland, Niederlande, Rumänien, Schweden, Schweiz, Slowenien, Spanien, Südafrika, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn, USA, Venezuela, Vereinigtes Königreich, etc.210 Der zweite Band zur Philosophie der Neuzeit beginnt mit der Renaissance im 15. Jahrhundert und führt bis in Vorländers eigene Zeit. Der dritte Abschnitt gilt der „Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts“. Kant ist, wie in anderen Philosophiegeschichten auch üblich, ein eigener Abschnitt gewidmet. Darauf folgen zwei Abschnitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Nach Darlegung der ersten beiden Abschnitte – der zweite endet mit Leibniz – folgt als Überschrift für den dritten Abschnitt wörtlich „Die Philosophie der Aufklärung“.211 Diese habe in England mit der Glorreichen Revolution begonnen, habe sich von da nach Frankreich verpflanzt, wo sie unter dem politischen kirchlichen und sozialen Drucke des ancien régime eine vorwiegend negativ-oppositionelle Färbung erhält. Sie ergreift dann zuletzt auch das dritte der drei großen Kulturländer, Deutschland, wo sie sich mit den Tendenzen des Leibniz und seiner Schule verschmilzt.212

Vorländer bemerkt, dass es noch keine „erschöpfende Spezial-Darstellung der Aufklärungsphilosophie im ganzen“ gebe213, verweist jedoch auf Hettners Literaturgeschichte. Der Autor geht dann die genannte Länderfolge der Reihe nach durch, wobei er sich an den Leitfiguren, mit Locke beginnend, orientiert. Dies braucht hier nicht im Detail nachvollzogen zu werden, es seien nur einige wenige Aspekte betrachtet. Locke bezeichnet er als „Vater des modernen Konstitutionalismus“214, Montesquieu erscheint, wenig überraschend, als Lockes würdiger Fortsetzer.215 Rousseau sei ein „Gegner der Aufklärung“ gewesen.216 Zu seiner Staatslehre bemerkt er: 209 210 211 212 213 214 215 216

Vorländer (1903): Geschichte der Philosophie. Bd. 2: Philosophie der Neuzeit. Angaben nach WorldCat. Vorländer (1903): Geschichte der Philosophie. Bd. 2: Philosophie der Neuzeit, S. 132. Ebd., S. 133. Ebd. Ebd., S. 135. Ebd., S. 175. Ebd., S. 192.

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Intellektuelle Rousseau verficht nicht mehr den Konstitutionalismus eines Locke und Montesquieu, sondern die demokratische Republik, nicht mehr die Trennung der Gewalten, sondern die Volkssouveränität.217

Vorländer lehnt es ab, Rousseau als „Vorläufer des modernen Sozialismus“ einzustufen. Sein „Freiheitsstaat“ sei „im letzten Grunde doch despotisch“.218 Das hindert den Autor nicht, Rousseau eine sehr viel breitere und nachhaltigere Wirkung zuzuschreiben als allen anderen französischen Philosophen der Zeit, er sieht ihn als Philosophen der Französischen Revolution, die Verfassung von 1793 habe Robespierre „nach dem Muster des Contrat social entworfen“.219 Das Teilkapitel über die deutsche Aufklärungsphilosophie ist eher kurz, Wolff wird ausführlich behandelt, Mendelssohn sehr positiv, Friedrich II. wird zurechtgestutzt. Kant wird dann ein eigener Abschnitt zugewiesen, er ist nicht mehr wirklich Teil dessen, was der Autor unter „Aufklärung“ abhandelt. Kants „Staatsideal“ sei der „Rechtsstaat“ gewesen, Vorländer sieht ihn durchaus in der Tradition von Locke und Montesquieu (Lehre der drei Gewalten, Repräsentativsystem).220 Die Aufklärung bzw. Philosophie der Aufklärung stellt für Vorländer ein festgefügtes historisches Phänomen dar, aber dies nur im Fluss der langen Geschichte der Philosophie. Es gibt keine Quintessenz, keine besonders hervorgehobene Bedeutung für die Gegenwart. Eine gewisse Konstante bildet die Beachtung der Sozial- und Staatslehren, es lässt sich etwas versteckt eine Vorliebe für die Traditionslinie des Konstitutionalismus herauslesen, die dem Autor zufolge von Locke bis Kant reicht. HARALD HØFFDING Der dänische Philosoph Harald Høffding (1843–1931), Professor an der Universität Kopenhagen seit 1883, nimmt aufgrund seiner unmittelbaren internationalen Rezeption eine Sonderstellung ein. Høffding betrieb allgemeine Philosophiegeschichte, befasste sich intensiv mit dem Verhältnis von Religion und Philosophie, er arbeitete über Fragen der Psychologie und der Ethik. Er schrieb auch über einzelne Philosophen wie Spinoza und Rousseau. 1894/1895 publizierte er auf Dänisch eine zweibändige Geschichte der Philosophie der Neuzeit, die von der Spätrenaissance bis an die Schwelle der 1880er Jahre reicht und die bereits 1895/1896 auf Deutsch221 und wenige Jahre später (1900) in einer englischen Übersetzung bei Macmillan vorlag. Die Geschichte der Philosophie der Neuzeit erschien 1906 außerdem auf Italienisch sowie auf Französisch, 1907 auf Spanisch. 1906–1910 erschien eine polnische Übersetzung. Meistens erfolgten die Überset217 218 219 220 221

Ebd., S. 195. Ebd., S. 196. Ebd., S. 197. Ebd., S. 285. Höffding [sic! in der deutschen Ausgabe] (1895): Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 1; Höffding (1896): Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 2.

Harald Høffding

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zungen aufgrund der deutschen Ausgabe und in enger Zusammenarbeit mit dem Autor selber. Vor dem Erscheinen von Ernst Cassirers „Philosophie der Aufklärung“ dürfte dieses Werk von Høffding die international verbreitetste Darstellung der neuzeitlichen Philosophie gewesen sein, die freilich mehr als die Aufklärungsepoche umfasste. Rund ein Drittel des Gesamtumfangs entfiel jedoch auf die Aufklärung, wenn man die Abschnitte von Spinoza bis Kant rechnet. Høffding erstellte zudem eine einbändige Kurzfassung der Geschichte der Philosophie der Neuzeit, die umfangmäßig einem Viertel der zweibändigen Ausgabe entsprach und ebenfalls in verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Kurzund Langausgabe erlebten jeweils in jeder Sprachausgabe mehrere Auflagen. Speziell die englische Übersetzung wurde während des gesamten 20. Jahrhunderts immer wieder nachgedruckt. Nachdrucke gibt es ebenfalls aus jüngster Zeit. Die Geschichte der Philosophie der Neuzeit wurde zeitgenössisch vielfach rezensiert.222 Bis heute wird sie zitiert und in Bibliografien aufgenommen. Nicht jedes Mal, aber oft ist der Zusammenhang der Zitation die Aufklärung, nicht selten wird das Werk zusammen mit Ernst Cassirers „Philosophie der Aufklärung“ angeführt. Høffding stellt in der Geschichte der Philosophie der Neuzeit überwiegend einzelne Autoren in den Mittelpunkt der Betrachtungen und begründet dies so: „Die Geschichte der Philosophie behandelt die von einzelnen Denkern angestellten Versuche, die letzten Probleme der Erkenntnis und des Lebens zu erörtern.“223 Er gibt allerdings auch jeweils Einleitungen in die Teilepochen. In der Buchgliederung tritt der Begriff Aufklärung nur im Zusammenhang der französischen und deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts auf: „Fünftes Buch. Die französische Aufklärungsphilosophie und Rousseau“ (in Band 1) sowie „Sechstes Buch. Die deutsche Aufklärungsphilosophie und Lessing“ (in Band 2). Man fühlt sich an die Gliederung erinnert, die Hegel sowohl in der „Geschichte der Philosophie“ wie in der „Philosophie der Geschichte“ eingesetzt hatte. Die Abschnitte ausdrücklich zu „Aufklärung“ umfassen bei Høffding aber nur wenige Seiten, rund 50 bzw. rund 30. Die englische Philosophie wird nicht mit „Aufklärung“, sondern mit „Erfahrungsphilosophie“ gelabelt. Kant ist ein eigenes, das „Siebte Buch“ gewidmet, das zugleich „Die Gegner der kritischen Philosophie“ (Hamann, Herder, Jacobi) wie auch die Fortsetzer der kritischen Philosophie (Reinhold, Maimon, Schiller) abhandelt. Daran schließt sich die „Romantik“ mit Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher als Repräsentanten einer „idealistischen Entwicklungslehre“ an – und so fort. Die Aufklärung als epochales philosophisches Phänomen, das mittels des Namens „Aufklärung“ bezeichnet wird, kommt außer in den beiden zitierten Ab222 Für eine bibliografische Übersicht zu Høffding müssen mehrere Kataloge kombiniert werden. Da die Originalausgaben, Übersetzungen und weitere Auflagen bis Mitte der 1920er Jahre inzwischen umfassend digitalisiert wurden, hat sich EROMM (European Register of Microform and Digital Masters) mit seinen 287 Einträgen zu Høffding als die vollständigste Dokumentation erwiesen. 223 Høffding (1895): Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 1, Einleitung, S. VII.

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schnitten kaum vor. Im Abschnitt über Hobbes treten plötzlich „Heroen der Aufklärung“ hervor, namentlich Voltaire und Diderot, im Zusammenhang der Frage der Volksaufklärung, die beide im Gegensatz zu Hobbes abgelehnt hätten.224 Høffding setzt den Begriff „Aufklärung“ mehrfach im Sinne der Tätigkeit des Aufklärens sein, das funktioniert dann auch schon für das 16. Jahrhundert. In der Besprechung der Leibniz’schen Philosophie heißt es: „Wir merken hier, dass wir in das Jahrhundert der Aufklärung eintreten.“225 Høffding bescheinigt Leibniz jedoch in einer Beziehung mehr Tiefgang als der Aufklärung selber: „In rein psychologischer Beziehung muss indes bemerkt werden, dass Leibniz eine tiefer gehende Betrachtung des Seelenlebens andeutet, als diejenige, von welcher der Rationalismus und das Zeitalter der Aufklärung ausgehen.“226 Verschiedentlich operiert der Autor mit „Zeitalter der Aufklärung“ oder „Zeitalter der Kritik und der Aufklärung“227 wie selbstverständlich und scheint damit die in der Buchgliederung bewerkstelligte Eng- und umfangmäßige Kurzführung (französische bzw. deutsche Aufklärungsphilosophie) zu konterkarieren. Eine genauere Begründung, wieso nur die französische und deutsche Philosophie als Aufklärungsphilosophie bezeichnet werden, sucht man vergebens. Man kann sie nur erschließen, insoweit bezüglich Frankreich betont wird, dass die Philosophie mit der Französischen Revolution zur Praxis wurde, in England hingegen nicht. Der Autor definiert nicht, was philosophisch als „Aufklärung“ zu verstehen ist, warum es überhaupt Sinn ergibt, von „Zeitalter der Aufklärung“ zu sprechen. Høffdings Werk trägt paradoxerweise kaum zur direkten Begriffsbildung von Aufklärung als „die Aufklärung“ oder als „die Philosophie der Aufklärung“ bei, das taten vielmehr andere wie im nächsten Abschnitt darzulegen ist. Sein Verdienst liegt eher in der Analyse der Philosophen und der Philosophien, die im Zusammenhang der Aufklärung gesehen wurden – als Vorreiter, Wegbereiter oder schließlich „Heroen“. Dies führte er klar und systematisch aus und konnte dadurch Inhalte für die Leser*innen leichter nachvollziehbar machen als es andere Werke aus derselben Schaffenszeit bewirkten. Høffding scheint erst im Zuge der breiten Rezeption in den Kanon der Gelehrten gelangt zu sein, die als philosophische Historiografen der Philosophie der Aufklärung galten und gelten. Wenn Høffding im Grunde den Begriff „Aufklärung“ gar nicht benötigt, trägt er gleichwohl dazu bei, die inhaltliche Struktur dessen, was andere dann dezidiert und umfassend „Philosophie der Aufklärung“ nennen, zu verstetigen. Nehmen wir als Beispiel seine Darstellung John Lockes, den er als den „ersten kritischen Philosophen“ bezeichnet. Im Rahmen der heute gängigen Periodisierungen zählt Locke zur Frühaufklärung, zugleich ist seine fundamentale Bedeutung für die Aufklärung insgesamt unbestritten. Høffding schlussfolgert in Bezug auf Lockes Staats- und Rechtsauffassung:

224 225 226 227

Ebd., S. 319. Ebd., S. 404. Ebd., S. 404. Ebd., S. 457.

Harald Høffding

201

Lockes freier Forschersinn im Verein mit seiner warmen und praktischen Teilnahme an den großen Begebenheiten in der damaligen Geschichte seines Volkes bewog ihn, die großen Grundsätze der Volksfreiheit auf eine Weise zu formulieren, die nicht nur für die spätere Rechts- und Staatslehre, sondern auch für die Geschichte der Völker in den folgenden Jahrhunderten von entscheidender Bedeutung wurde. Montesquieu und Alexander Hamilton sind seine Schüler, Rousseaus Lehre von der Souveränität des Volkes hat an ihm eine Stütze, und die nordamerikanische und französische Revolution sind Illustrationen dessen, was Locke die Berufung an den Himmel nannte. Das konstitutionelle Leben der modernen Staaten ist wesentlich auf Lockes Grundsätze aufgebaut.228

Ein ähnliches Urteil, was die fundamentale und fortdauernde Leistung angeht, fällt Høffding über David Hume und Immanuel Kant: Humes Behandlung des religiösen Problems bezeichnet einen großen Fortschritt. Seine Dialoge stehen neben Kants Kritik der Theologie in der „Kritik der reinen Vernunft“ als dauerndes Monument da. Eine Entgegnung dieser beiden Werke ist bisher eigentlich nicht gegeben worden.229

In der „Einleitung“ betont Høffding, dass er das Augenmerk bei der Untersuchung der Philosophen mehr darauf richten wolle, welche philosophischen Probleme diese gestellt hätten, und weniger auf angebotene Problemlösungen. Die Relevanz der Aufklärungsphilosophie liegt folglich vorrangig dort, wo die aufgeworfene Problemstellung im ausgehenden 19. Jahrhundert, das heißt in der eigenen Gegenwart Høffdings, immer noch dieselbe ist. Der Wechsel von der „englischen Erfahrungsphilosophie“ zur „französischen Aufklärungsphilosophie“ erfolgt ohne Erläuterung, warum wir es jetzt plötzlich mit Aufklärungsphilosophie zu tun haben. Allerdings ändert sich der Ton, in dem Høffding schreibt, es wird kämpferisch als Folge der unterstellten Wende zur Praxis: Man war in der That nicht damit fertig, in den Kämmerlein zu philosophieren, als man, erst in den Salons und darauf in Gassen und Straßen zu philosophieren begann. Das philosophisch Unfertige der Gedankenwaffen, mit denen man ins Feld rückte, benahm jedoch der historischen Mission der den Kampf eröffnenden Männer nichts von ihrer Bedeutung. Wo es das Leben gilt, muß man die Waffen gebrauchen, die man hat. Und obgleich man nicht immer den Eindruck erhält, daß die französischen Philosophen um die Mitte des 18. Jahrhunderts intellektuelle Überlegenheit besaßen, und obgleich sie wegen ihres eifrigen Bestrebens, zu simplifizieren und zu popularisieren, oft das Große klein machten und das wirklich Erhabene entheiligten, lag doch eben hinter ihrem Dogmatismus, ihrer Kurzsichtigkeit und ihrer Kleinlichkeit ein glühender Glaube an das Licht, den Fortschritt, die Menschheit, um dessentwillen ihnen viele Sünden vergeben werden können.230

Rousseau erhält bis heute einen Sonderstatus, ein, menschlich wie philosophisch betrachtet, Einzelgänger, der nie wirklich zur Aufklärung nach Art der philosophes gehörte. Schon Høffding schlug in diese Kerbe und betonte dabei, dass

228 Ebd., S. 439. 229 Ebd., S. 496. 230 Ebd., S. 513.

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Rousseau derjenige gewesen sei, „der am entschiedensten in die Zukunft deutet und deren Keime in sich trägt.“231 Montesquieu ordnet der Autor als einen geistesgeschichtlich gesehen konservativen Denker ein, der wider Willen eine revolutionäre Wirkung entfaltet habe: Seine Gedanken gingen vielmehr in der Richtung einer Wiederbelebung der alten französischen Monarchie mit einem aufgeklärten Beamtenstande und namentlich mit einem unabhängigen Richterstande. Der Geist seines Zeitalters ließ aber Tendenzen in sein Werk einfließen, die seiner eignen geschichtlichen Methode widerstritten; und besonders über seine Leser hatte dieser Geist so große Gewalt, daß sein Werk eine revolutionäre Bedeutung erhielt, die gar nicht in seiner Absicht gelegen hatte.232

Die weitreichende Wirkung Montesquieus war für Høffding nicht zu leugnen, aber die Wirkung beruhte tatsächlich mehr darauf, was aus dem Werk anschließend gemacht wurde. Als spezielles Charakteristikum der deutschen Aufklärungsphilosophie nennt der Autor die „empirische Psychologie“, die „sich zuvörderst auf Leibniz’ Gedanken von dem Unterschiede zwischen Dunkelheit und Klarheit als dem fundamentalen Unterschiede im Seelenleben […]“ gründe.233 So gewinnt Høffding einen das ganze 18. Jahrhundert erfassenden Darstellungsbogen. Weitere Zeugen für dieses bestimmende Merkmal sind für ihn Sulzer, Mendelssohn, Baumgarten, Kant, Tetens, Jacobi. Freilich passt nicht alles unter dieses Dach, Lessing erhält eigene Seiten, und erst recht Kant. Kants Rechts- und Freiheitslehre widmet sich Høffding ausführlich, zum Teil auch in einem speziellen Kapitel unter der Überschrift „Spezielle Ethik“. Die „Rechtslehre“234 und die „Tugendlehre“ aus 1797 nennt er Schriften, „die an vielen Punkten das Gepräge der Altersschwäche tragen“.235 Das hindert ihn aber nicht festzustellen: „Über alle Anzeichen der Hinfälligkeit und der Einseitigkeit ragen jedoch eine Reihe edler und männlicher Gedanken, Kants große Hinterlassenschaft an die Menschheit, empor.“236 Høffding analysiert, wie Kant Recht und Moral (Schlagwort: Kategorischer Imperativ) miteinander verbindet. Kants Rechtslehre, die als erster Teil der „Metaphysik der Sitten“ fungierte, befasse sich mit der formalen Übereinstimmung des menschlichen Handelns mit den Gesetzen, die die Freiheit des einen wie des anderen wahrten. Recht müsse aber ein moralisches Fundament haben, das sich im Kategorischen Imperativ ausdrücke. Der Autor zitiert aus Kants „Rechtslehre“ § 49: „Die Vernunft macht uns durch einen kategorischen Imperativ verbindlich, nach einem Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung [des Staates] mit Rechtsprinzipien zu streben.“237 231 232 233 234

Ebd., S. 514. Ebd., S. 522. Høffding (1896): Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 2, S. 4. Kant (1797): Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. 235 Høffding (1896): Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 2, S. 97. 236 Ebd. 237 Ebd., S. 98.

Harald Høffding

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Høffding unterschlägt bei diesem Zitat allerdings den exakten Zusammenhang. Dieser ist bei Kant die Gewaltenteilung: Also sind es drey verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freyheitsgesetzen bildet und erhält. – In ihrer Vereinigung besteht das Heil des Staats (salus reipublicae suprema lex est); worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit verstehen muß; denn die kann vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustande oder unter einer despotischen Regierung viel behaglicher und erwünschter ausfallen: sondern den Zustand der größten Uebereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen categorischen Imperativ verbindlich macht.238

Doch Høffding stellt insgesamt Kant als Rechts- und Freiheitsphilosophen heraus: Eigentümlich ist der Rechtslehre Kants die strenge Durchführung des Menschenrechtes des Einzelnen, gestützt besonders auf eine scharfe Unterscheidung zwischen der Person (dem Wesen mit eigner Gesetzgebung und Zurechnungsfähigkeit) und der Sache. Eine Person darf nie bloß als Mittel behandelt werden! Aus diesem Satze leitet Kant nicht nur die persönliche Freiheit her, sondern auch die Diskussionsfreiheit und das Recht zur Teilnahme an der Gesetzgebung. Die Gesetzgebung darf nichts über das Volk bestimmen, was dieses nicht selbst über sich könnte bestimmen wollen, – darf z. B. kein unveränderliches Dogmensystem einführen, wodurch das Recht zu fortschreitender Aufklärung aufgehoben würde, und darf keinen Erbadel einsetzen. – Mit Begeisterung hatte Kant den nordamerikanischen Freiheitskrieg und die französische Revolution begrüßt, und noch in seiner Rechtslehre ist er dieser Begeisterung eingedenk. Die Republik betrachtete er als die Verfassung künftiger Zeiten; der republikanische Geist war ihm indes wichtiger als die äußere Verfassung, und eine Monarchie könnte seiner Meinung nach sehr wohl in republikanischem Geiste gelenkt werden.239

Im weiteren Verlauf der Besprechung von Kants Tugendlehre richtet Høffding das Augenmerk auch auf die Bedeutung von Menschenwürde als Grundlage der sozialen und kulturellen Existenz des Menschen. Die weiteren Abschnitte durchmessen dann Kants Religionsphilosophie und schließlich die „Kritik der Urteilskraft“. Danach folgt das „Achte Buch“ zur Romantik als Auftakt des rund 500 Seiten langen Teils zur Philosophie im 19. Jahrhundert. Es hat sich gezeigt, dass Høffding ein grundsätzliches Augenmerk auf die langfristige Bedeutung der von ihm analysierten Philosophen der Aufklärungsepoche gelegt hat. Ihm war, wie oben bereits angeführt wurde, das Aufwerfen von Problemen wichtiger als die angebotenen Problemlösungen. Probleme im Zusammenhang dessen, was wir heute mit dem Dachbegriff „Rechtsstaatlichkeit“ meinen, sparte er nicht aus. Sie besaßen für ihn offensichtlich Bedeutung, aber sie standen nicht im Vordergrund seiner Darlegungen. Høffding vermeidet jegliche Zuspitzung der Aufklärung auf besonders zu profilierende Inhalte.

238 Kant (1797): Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § 49, S. 172–173. 239 Høffding (1896): Geschichte der neueren Philosophie. Bd. 2, S. 99.

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Intellektuelle

JOHN GRIER HIBBEN „Die Philosophie der Aufklärung“ als Buchtitel, das lag eigentlich auf der Hand – und doch wurde ein solcher Buchtitel erst spät gewählt. Bevor „Aufklärung“ zu einem gängigen Epochenbegriff wurde, wurde sie, wie in den vorigen Abschnitten zur Genüge dargelegt, vor allem als literaturgeschichtliches bzw. philosophisches bzw. ideengeschichtliches Phänomen betrachtet. Kürzer und präziser als mit „Die Philosophie der Aufklärung“ kann das Untersuchungsfeld nicht auf den Begriff gebracht werden. Im Deutschen war es erstmals Ernst Cassirer, der ein ganzes Buch exakt so betitelte – 1932. Im Englischen (USA) stößt man bereits 1910 auf John Grier Hibbens „The Philosophy of the Enlightenment“, das aber von Anfang nicht annähernd eine Verbreitung ähnlich Cassirer erfuhr und später ohnehin im Schatten des prägenden Buches von Cassirer stand. John Grier Hibben (1861–1933) amtierte von 1912–1932 als 14. Präsident der Universität Princeton. Er hatte viele Begabungen, von Mathematik bis Theologie, zeitweise lehrte er Französisch und Deutsch (er studierte u. a. in Berlin). 1907 erhielt er in Princeton eine Professur für Logik. Er war ein guter Kenner der Hegelschen Philosophie. Sein Buch „The Philosophy of the Enlightenment“ von 1910240 scheint tatsächlich die erste Monografie gewesen zu sein, die exakt einen solchen Titel trug. Die Darstellung gehört zu einer Buchreihe zur Geschichte der Philosophie, die er herausgab, und die nach dem Schema von Epochenbänden arbeitete.241 Auch wenn Hibbens Darstellung nicht an den Verbreitungsgrad von Cassirers „Die Philosophie der Aufklärung“ herankommt, so findet sich das Buch keineswegs nur in den USA und Kanada, sondern auch in zahlreichen europäischen Bibliotheken, u. a. in Ungarn (Akademie der Wissenschaften), in Deutschland, in den Niederlanden, im Vereinigten Königreich, in Madrid. Weitere Exemplare sind in Australien, Israel, Neuseeland und Nigeria nachgewiesen. Ein Teil dieser Verbreitung ist den jüngeren Nachdrucken (2010, 2012, 2015) zu verdanken. Übersetzungen waren nicht ausfindig zu machen.242 Hibben konzentriert sich auf ausgewählte Denker, von Locke über Hume, Rousseau, Leibniz und andere bis Immanuel Kant, mit dem er den philosophischen Höhepunkt der Aufklärung verbindet. Dazwischengeschaltet sind aber auch Kapitel oder Teilkapitel, in denen Hibben mehr in die Breite der Autoren und der Texte geht. Zwischen Locke und Hume sind es Berkeley und Priestley, die vorgestellt werden, zudem Voltaire als effektiver Mittler der britischen Philosophie 240 Hibben (1910): The Philosophy of the Enlightenment. 241 Dazu heißt es im Buch: „The aim of the series on The Epochs of Philosophy is to present the significant features of philosophical thought in the chief periods of its development. There is no attempt to give a complete account in every case of the men or their works which these various periods have produced; but rather to estimate and interpret the characteristic contributions which each age may have made to the permanent store of philosophical knowledge.“ (Ohne Paginierung, vor dem Titelblatt.) 242 Verbreitungsangaben aufgrund der Einträge in WorldCat.

John Grier Hibben

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nach Frankreich, in Frankreich die Enzyklopädisten, Materialisten und Atheisten, also von d’Alembert und Diderot zu La Mettrie, Helvétius, d’Holbach etc. Condillac wird stärker als sonst üblich beachtet. Das 8. Kapitel befasst sich mit den „typischen“ philosophischen Tendenzen in Deutschland (C. Wolff, Francke/Pietismus, Lessing, Herder, Mendelssohn, etc. – oft nur kurz genannte Namen wie Tetens, Nicolai, Thomasius usw.). Das 9. Kapitel ist dann der kritischen Philosophie Kants gewidmet. Hibben zitiert einige Male Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Was sich zunächst wie eine durchaus übliche Gipfelwanderung ausnimmt, mündet in eine breitere Betrachtung: Das 10. Kapitel gilt den „Practical Influences of the Enlightenment“. Hibben stellt fest: In the theoretical discussions of the eighteenth century, however, there necessarily emerged certain problems which have an exceedingly practical interest, and which exerted an influence of wide extent upon the character and life, not only of the educated classes, but also of the masses. […] Indeed, it was the express purpose of many of the writers of this period, as we have already seen, to present their speculative inquiries in such a manner as to merit the characterisation of a „philosophy for the masses“. As regards these three practical influences of the Enlightenment, the moral, the religious and political, the main tendency of each may be comprehensively described as that of utilitarianism, of deism and of individualism respectively.243

Allerdings folgt hierauf keine breitere historische Einbettung der philosophischen Ideen, es bleibt bei einer im Vorwort schon eingebrachten Erwähnung der Französischen Revolution. Heute kennen wir die tatsächliche Breitenwirkung aufklärerischer Ideen einigermaßen gut, wir kennen die Mittler*innen, die Infrastrukturen, über die sich Ideen, Wissen und Meinungen verbreiteten. Hibben hat sehr richtig gesehen, ist aber den eigentlichen Beweis schuldig geblieben. Es folgen bei Hibben eine synoptische Tabelle mit (Haupt-)Schriften der Aufklärung von Locke bis Kant in drei Rubriken: England; Frankreich mit Italien, Holland und Schweiz; Deutschland sowie ein sehr ausführliches Sach- und Namensregister. Für Hibben haben das Zeitalter und die Philosophie der Aufklärung einen klaren Beginn und ein Klares Ende: The period in philosophy which is referred to in a general way as the eighteenth century begins virtually in the year 1690 with the publication of Locke’s famous Essay Concerning Human Understanding, and is brought to its close in the year 1781 with the appearance of Kant’s Critique of Pure Reason. They are the natural boundaries of this ‚philosophical century‘.244

Hibben betont das Streben der Aufklärung, überall Licht hineinzubringen, um zu verstehen, andererseits sieht er sie offenbar als recht limitiert an und scheint mit seiner Interpretation weit vom, geringfügig späteren, Weber’schen Schlagwort von der „Entzauberung der Welt“ entfernt zu sein: The spirit of the age might find characteristic expression in some such words as these: Let us not concern ourselves with idle speculation in reference to things which the mind of man can 243 Hibben (1910): The Philosophy of the Enlightenment, S. 253–254. 244 Ebd., S. 3.

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Intellektuelle never compass and understand. […] Nature which seems so near […] nevertheless lies so far beyond our ken. And the being and nature of God, who must be regarded as dwelling in a sphere far out and beyond the outermost bounds of nature, must remain still more incomprehensible. […] Let every man examine the phenomena of life as they unfold themselves within this inner world of his own consciousness. Here at least is the light in which he can see light. To every one who thus mines the treasures of his own nature there must come the quiet satisfaction of being able to insist, I know myself. Such is the spirit of this age.245

Fast erstaunlich klingt die nächste Schlussfolgerung: In this search after knowledge, while inquiry was introspective, it was not by any means reflective. It lacked penetration, and while moving freely and thoroughly in a careful surface investigation, it was never able to fathom and explore the lower depths of thought. It was a restricted area of inquiry, therefore, which the philosophy of the Enlightenment set for itself.246

Dennoch: With all of its obvious limitations and defects, this method of inquiry was nevertheless frank, openminded and ingenuous. The right of individual opinion was respected; a spirit of tolerance prevailed; and philosophy was afforded a free forum.247

Es ist interessant, dass Hibben keine Brücke zur amerikanischen Aufklärung baute, sondern sich auf die großen Drei – England/Schottland, Frankreich, Deutschland – konzentrierte und höchstens einige Denker wie Spinoza (Niederlande) dazu holte. Aber in der Tat, die Rede von einer „amerikanischen Aufklärung“ kam erst allmählich auf, wie Grafik 6 zeigt. ZWISCHENKRIEGSZEIT Die Zwischenkriegszeit bedeutete insgesamt einen ersten Höhepunkt der wissenschaftlichen Aufklärungsforschung, die zugleich gut in die Öffentlichkeit hineinwirkte. Die Aufklärung erschien als historischer Prozess mit Folgen. Die Forschung blieb nicht im sprichwörtlichen Elfenbeinturm. In manchen Ländern stand die nationale bzw. staatliche Selbstfindung im Vordergrund, in anderen ging es allgemeiner um die Selbstverortung in der Moderne. Populäre Werke wie Egon Friedells (1878–1938) „Kulturgeschichte der Neuzeit“ widmeten der Aufklärung einigen Raum.248 In Polen, beispielsweise, herrschte ein positiver Bezug zur Aufklärung. Um 1900 wurde sie mit staatlicher Unabhängigkeit Polens, mit Staatsverfassung (3. Mai 1791) und mit der Selbstbehauptung Polens als Nation verbunden. Daran konnte nach dem Ersten Weltkrieg im wiederbegründeten Staat Polen angeknüpft

245 246 247 248

Ebd., S. 4–5. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6. Friedell (1928): Kulturgeschichte der Neuzeit. Bd. 2: Barock und Rokoko. Aufklärung und Revolution. Der erste Band war 1927, der dritte 1931, ebenfalls im Beck-Verlag erschienen.

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Grafik 6: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „American Enlightenment“ (verschiedene Schreibweisen) im Englischen, Zeitraum 1800 bis 2019. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https://tinyurl.com/3dfwkewm.

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werden. Als besonders einflussreich beschreibt Teresa Kostkiewicz den Schriftsteller Wacław Berent (1873–1940), der in den 1930er Jahren in seinen Texten die These vertreten habe „que la culture polonaise put persister grâce aux personnes qui, dans la deuxième moitié du XVIIIe siècle, formaient un nouveau groupe de l’intelligentsia.“249 In Spanien war die Gründung der zweiten Republik (1931) ein günstiger Moment für eine positive Haltung gegenüber der Aufklärung und ihrer Bedeutung für Spanien, der Sieg Francos im Bürgerkrieg führte hingegen zur „destruction systématique de la tradition historiographique libérale.“250 In Russland lassen sich nach der Oktoberrevolution von 1917 zwei Tendenzen feststellen. Die eine Tendenz bestand darin, die Wurzeln des Marxismus in der Aufklärung anzuerkennen. Diese war bzw. musste kritisch betrachtet werden, insoweit Aufklärung mit der Bürgerlichen Gesellschaft zu verbinden war. Dadurch war aber klar, dass die Aufklärung Teil des gesetzmäßigen historischen Prozesses war, in dem die Bürgerliche Gesellschaft die Feudalgesellschaft überwand und ersetzte.251 Die andere Tendenz fügte sich in die internationale Aufklärungsforschung ein, übersetzte Voltaire und Diderot, edierte die russischen Aufklärer.252 Die Moskauer Universität wurde 1940 nach Lomonossow benannt. Es herrschte in der sowjetischen Wissenschaft Interesse am Thema der radikalen Aufklärung und an radikalen Aufklärern wie Diderot, der einige Monate in St. Petersburg verbracht hatte (8. Oktober 1773 – 5. März 1774), sowie an Helvétius und an d’Holbach.253 Weitere kamen dazu: Jean Meslier, dessen berühmt-berüchtigtes – da atheistisch-kommunistisches – „Testament“ (handschriftlich 1719–1729) 1924 und dann noch einmal 1937 ins Russische übersetzt wurde.254 Ungestört war die Forschung jedoch nicht, der stalinistischen Repression fiel ein Aufklärungsforscher wie Ivan K. Luppol zum Opfer (1943 Tod in einem Gulag).255 Diese drei Beispiele (Polen, Spanien, Russland/Sowjetunion) zeigen, dass die Funktion der Aufklärung bzw. der der Auseinandersetzung mit ihr der Identitätsvergewisserung diente. Das war in Polen und Russland schon im 18. Jahrhundert der Fall gewesen. Das Thema der Aufklärung und ihrer Relevanz für die eigene Zeit und Identität beschäftigte nicht nur die Spezialisten. So war Johan Huizinga (1872–1945) keinesfalls in erster Linie ein Aufklärungshistoriker, aber er beschäftigte sich fortlaufend mit allgemeinen und großen Fragen der Geschichte. Er zählte zu den wichtigsten Historikern seiner Generation. 1933 hielt er an der Universität Ams-

249 Kostkiewicz (2002): L’historique et les usages des Lumières. La spécificité polonaise, S. 162–163, Zitat S. 163. 250 Sebastián (2002): Du mépris à la louange. Image, présence et mise en valeur du Siècle des lumières dans l’Espagne contemporaine, Zitat S. 146. 251 Andronov (2002): Qu’est-ce que le „prosvechtchenié“?, hier S. 180–181. 252 Karp (2002): Le concept des Lumières en Russie après 1917, hier S. 188–189. 253 Blom (2011): Böse Philosophen, S. 366. 254 Karp (2002): Le concept des Lumières en Russie après 1917, S. 190. 255 Ebd., S. 191.

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terdam einen Vortrag über „Naturbild und Geschichtsbild im 18. Jahrhundert“.256 Er weist einleitend darauf hin, dass oft die Eigennamen, die historische „Erscheinungen“ erhalten, aus der Zeit der Erscheinung selber stammen, sodass diese prioritär und als wichtig wahrgenommen werden. In Bezug auf die ja durchaus „weltbewegende“ Aufklärung verhielte es sich aber anders: Wie nun aber, wenn eine weltbewegende Erscheinung einmal nicht so glücklich war, rasch einen klingenden Namen zu bekommen? Dann läuft sie Gefahr, in ihrer Bedeutung unterschätzt zu werden […]. Dies ist meines Erachtens tatsächlich der Fall mit der mächtigen Kulturwende, die das 17. und 18. Jahrhundert erfüllt. Es ist kein allgemeiner und alles umfassender Name für sie in Gebrauch. Die im Schmieden von Begriffen und Namen stets gewandten Deutschen sprechen schon lange von „Aufklärung“; aber dies deutet nur einen Teil der Erscheinung an. Wir Holländer übersetzen es seit etwa fünfundzwanzig Jahren mit „Verlichting“. Im Französischen und Englischen gibt es kein völliges Äquivalent dafür, obschon die bildlichen Ausdrücke „siècle éclairé“, „lumières“ in jener Zeit selbst laut genug klingen.257

Huizinga setzte sich dann mit einem Schlüsselbegriff der Befassung mit der Aufklärung auseinander, dem Rationalismus: Welches sind die Denkformen, in denen das Naturbild des 18. Jahrhunderts aufgebaut wird? Oder lieber: das Weltbild im allgemeinen; denn es ist dieselbe Denkrichtung, welche die Vorstellung von Natur und Geschichte nun bestimmen wird. Als allgemeiner und am meisten hervortretender Zug dieses Denkens steht natürlich der Rationalismus im Vordergrund. „Age of reason“ sagte der Zeitgenosse selbst. Die Forderung strenger Vernünftigkeit hatten auch frühere Zeiten gekannt. Neu war einzig, daß nun die Zeit die Vernunft zur einzigen Richtschnur erhob. Hier droht sofort wieder eine Überschätzung der negativen Konsequenzen dieses Rationalismus. Taine setzte ihn einer verderblichen Neigung zu steriler Abstraktion und haltloser Verallgemeinerung gleich, mit der hohlen Phrase als Ergebnis. Dies ist unrichtig, sobald man es auf das naturwissenschaftliche Schaffen bezieht, und übertrieben für den Rest. Das 18. Jahrhundert zeigt im Gegenteil einen starken Sinn für genaue Wahrnehmung der Besonderheiten, eine große Liebe für das reale Objekt.258

Wie viele andere teilte er die Ansicht, dass „[D]ie moderne Kultur, um deren Bestehen wir nun kämpfen, ihren Anfang mit dem 18. Jahrhundert [nahm]. Dieses ist der jüngste Zeitraum, den unser Blick wirklich zu isolieren vermag.“259 Insgesamt wartet die Zwischenkriegszeit mit einer reichen Aufklärungsforschung auf, die international vernetzt wurde. Auf dem Internationalen Historikerkongress 1928 in Oslo, zum Beispiel, wurde eine Arbeitsgruppe zur Erforschung des „despotisme éclairé“ ins Leben gerufen, die zunächst bis 1937 Forschungsund Arbeitsberichte herausgab.260 Die meisten internationalen Impulse gingen wie schon im 19. Jahrhundert in der Zwischenkriegszeit immer noch von Deutschland und Frankreich aus, sieht man von Carl Lotus Beckers „Heavenly City of the Eighteenth Century Philosophers“ (1932) ab. 256 257 258 259 260

Huizinga (1945 [1933]): Naturbild und Geschichtsbild im 18. Jahrhundert. Ebd., S. 149–150. Ebd., S. 156–157. Ebd., S. 173. L’Héritier (1928): Le rôle historique du despotisme éclairé particulièrement au 18 e siècle; L’Héritier (1933): Rapport. Wiederaufnahme des ‚Programms‘ nach 1945: Hartung/Mousnier (1955): Quelques problèmes concernant la monarchie absolue.

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Neben Cassirers „Die Philosophie der Aufklärung“ wurde Paul Hazards „La crise de la conscience européenne“ zu einem Schlüsselwerk, das zuerst 1935 erschien. Der Band behandelte die – von Hazard nicht so wörtlich benannte – Frühaufklärung 1680 bis 1715. Bis zu seinem Tod 1944 arbeitete er am Nachfolgeband „La pensée européenne au XVIIIe siècle de Montesquieu à Lessing“, der postum 1946 gedruckt wurde. Viel Aufmerksamkeit erfuhr Bernhard Groethuysens „Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich“ (1927– 1930). Zahlreiche weitere bis heute bekannte Werke wurden in diesen Jahren veröffentlicht, etwa Daniel Mornets „Les origines intellectuelles de la Révolution française, 1715–1787“ (1933). Mornet (1878–1954) bettete die Revolution geistesgeschichtlich vollständig in das 18. Jahrhundert und die Aufklärung ein. Er veröffentlichte insgesamt mehrere Bücher zum französischen 18. Jahrhundert, darunter über Diderot und Rousseau. 1938 erschien Louis Réaus (1881–1961) „L’Europe française au siècle des Lumières“. Das Buch erfreute sich zu Lebzeiten des Autors einer großen Verbreitung, die aber nach seinem Tod 1961 deutlich nachließ. Im Vergleich zu anderen Werken erfuhr er aber die geringste Verbreitung, was mit dem Buchtitel, der ja ein Statement im Sinne des französischen zivilisatorischen Führungsanspruchs ist, zusammenhängen könnte. Darauf bezieht sich auch das 2007 erschienene Buch „Le mythe de l’Europe française“ von Pierre-Yves Beaurepaire. Friedrich Meineckes (1862–1954) „Die Entstehung des Historismus“ erschien erstmals 1936 und in zweiter Auflage 1946. Das Werk behandelt im Wesentlichen französische, englische und deutsche Aufklärer im Hinblick auf ihre Geschichtskonzeptionen, es wird durch einen Einstieg im späten 17. Jahrhundert und einen Ausklang mit dem Goethe des 19. Jahrhunderts abgerundet. Meinecke verweist im Vorwort auf den inhaltlichen Zusammenhang mit seinen älteren Werken, nämlich „Weltbürgertum und Nationalstaat“ (zuerst 1908) sowie „Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“ (zuerst 1924). Der Schwerpunkt des WeltbürgertumBuches liegt im deutschen 19. Jahrhundert, die „Staatsräson“ reicht von der Renaissance bis Treitschke und misst dem 18. Jahrhundert keine besonders herausragende Bedeutung zu. Norbert Elias (1897–1990) erarbeitete seine großen Schriften zur „Höfischen Gesellschaft“ und zum „Prozess der Zivilisation“ – beides Werke, in denen das 18. Jahrhundert und die Aufklärung enthalten sind – in der Zwischenkriegszeit, veröffentlicht wurden sie z. T. erst nach dem Zweiten Weltkrieg, da er aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen musste. Die „Höfische Gesellschaft“ war seine Habilitationsschrift 1933, die Universität Frankfurt verweigerte ihm jedoch das Habilitationsverfahren. Das Buch wurde 1969 veröffentlicht.261 Die zwei Bände zum „Prozess der Zivilisation“ erschienen erstmals 1939 in Basel. Autoren wie Groethuysen, Hazard und Becker fragten ebenfalls nach den philosophischen Gehalten der Aufklärung, nach den Ideen, aber sie verschoben den Akzent zunehmend auf die Frage, was dabei realhistorisch Neues entstand und fortwirkte. Ihre Schlussfolgerungen waren konkreter als die allgemeine und eini261 Opitz (2005): Einleitung, hier S. 7.

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germaßen verbreitete Vorstellung, dass die eigene Zeit von den Grundlegungen der Aufklärung geprägt werde. Zum argumentativen Dreh- und Angelpunkt wurde immer mehr die Bürgerliche Gesellschaft. Konkretisierte Schlussfolgerungen finden wir im Zweiten Weltkrieg bzw. in dessen Ausgang (und danach) auch bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, bei Jacob Leib Talmon und bei Hannah Arendt. Diese gehen aber in eine kritische Richtung, eben um die Frage, was die Totalitarismen der eigenen Zeit mit der Aufklärung zu tun hatten. Die Antworten fielen weniger eindeutig aus, als eine spätere Rezeption es glauben machen wollte. Daran schlossen sich mittlerweile zahlreiche aufklärungskritische Arbeiten an, die nicht alle mit dem Label „postmoderne Kritik“ geadelt werden können. Der grundlegenden Aufklärungskritik, die hier angesprochen wird, ist das Kapitel „Kritik“ gewidmet, womit aber nicht behauptet werden soll, die im vorliegenden Kapitel „Intellektuelle“ behandelten Autoren und behandelte Autorin seien „unkritisch“ zu Werke gegangen. KARL JOËL Karl Joël (1864–1934) war bereits mehrfach zu erwähnen gewesen, es wird Zeit, sich mit ihm zu befassen. Karl Joëls Werk „Wandlungen der Weltanschauung. Eine Philosophiegeschichte als Geschichtsphilosophie“ umfasst zwei Bände.262 Der erste erschien 1928 (735 Seiten), der zweite 1934 (960 Seiten). Die Ausführungen setzen mit dem 8. Jahrhundert vor Christus an und enden mit Joëls eigener Gegenwart. Den meisten Platz nehmen das 17., 18. und 19. Jahrhundert ein (ca. 235, 420 und 640 Seiten). Der scheinbar geringere Aufwand für die Antike wird im Prinzip durch die „Geschichte der antiken Philosophie“ des Autors (1921 publiziert) und weitere Werke ausgeglichen. Sein Vorhaben definiert Joël im Vorwort wie folgt: „[…] darum wird hier durchgehend Denkgeschichte im Zusammenhang mit Weltgeschichte vorgeführt.“ Die „Weltgeschichte“ ist, bis auf gelegentliche weiterführende Randnotizen, nichts anderes als europäische Geschichte, der untersuchte Raum des Denkens ist ebenfalls mit Europa identisch. Die Verbindung von „Denkgeschichte“ mit Geschichte gelingt, dadurch unterscheidet sich das Werk von vielen anderen aus der Zwischenkriegszeit, die sich, soweit es das 18. Jahrhundert angeht, relativ strikt auf Philosophie- bzw. Ideengeschichte beschränken. Charakteristisch ist die Verwendung des Epochenbegriffs „Aufklärung“ für mehr als nur „die“ Aufklärung: „Das Jahrhundert der griechischen Aufklärung (5. v. Chr.)“, „Das (1.) Jahrhundert der römischen Aufklärung und Revolution“ und „Das (12.) Jahrhundert der mittelalterlichen Aufklärung“, bevor „Das (18.) Jahrhundert der Aufklärung“ ausgiebig an die Reihe kommt. Joël behandelt jedes Jahrhundert als geschichtlichen Akteur. 262 Joël (1928/1934): Wandlungen der Weltanschauung. Eine Philosophiegeschichte als Geschichtsphilosophie. 2 Bände.

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Der Autor entwirft keine Theorie der Aufklärung, vielmehr liefert das Kapitel zum fünften vorchristlichen griechischen Jahrhundert die Schlüsselbegriffe, die nach seiner Ansicht „Aufklärung“ ausmachen263: Stadtkultur, Bürgergeist, Kritik, der Mensch, das Subjekt, Pluralismus, Individualismus, Dialektik, Analyse, „die Welt aufschließen bis ins Kleine und Einzelne“, kritisch analytischer Differenzierungsbetrieb, Freiheit bzw. Tragödie der Freiheit. Sokrates, den Kynikern und anderen widmet Joël seine besondere Aufmerksamkeit, sie kehren im 18. Jahrhundert wieder. Der Verfasser konterkariert in Bezug auf „Aufklärung“ – avant la lettre – die postmoderne Kritik an der Aufklärung, wenn er zum 18. Jahrhundert das Kapitel II,15 schreibt: „Das unsystematische Jahrhundert“. Das scheint der Auffassung zu widersprechen, dass die Aufklärung einem systemischen Geist gefolgt sei. Joël hat freilich gute Argumente, und er unterschlägt keineswegs einen Linné und dessen Systema Naturae. Sein Argument ist das Interesse vieler Autoren und Autorinnen im 18. Jahrhundert an der übergroßen Vielfalt der Welt, an den Details, an den Mikrokosmen. Joël sieht im 18. Jahrhundert im Grunde einen dezentrierten Blick am Werk. „Das 18. aber schätzt eher, was aus der Regel und Kette herausfällt und sucht […] das Außerordentliche, Merkwürdige, Neue, Ueberraschende, Wunderbare auf […].“264 Implizit kritisiert er Windelband, der offenbar seiner Lektüre nach diesen Blick fürs Detail allzu gering schätzte. Die Verbindung von „Denkgeschichte“ mit allgemeiner Geschichte beeindruckt noch heute, da der Autor kein lebensweltliches Feld auslässt. Er ist zwar nicht gerade ein Sozialhistoriker, aber die „kleinen Leute“ werden ebenfalls einbezogen, selbst wenn es überwiegend um hochkulturelle Manifestationen geht. Wiederum charakteristisch für diesen Autor ist das Interesse an der historischen Rolle von Frauen. 1896 hatte er einen (anschließend gedruckten) Vortrag über „Die Frauen in der Philosophie“ gehalten. Sein langes „Jahrhundert der Aufklärung“ in den „Wandlungen der Weltanschauung“ beginnt, abgesehen von einer kaum mehr als einer Seite langen Überleitung vom Barockkapitel mit „Das Jahrhundert der Frau“265, in dem Frauen als Herrscherinnen, Ratgeberinnen, Künstlerinnen, Dichterinnen, Philosophinnen und Salonnières beschrieben werden. Joël bezeichnet das 18. Jahrhundert als ein „weibliches“ im Gegensatz zum „übermännlichen“ 17. Jahrhundert, dem Barock. Sein Bild des 18. Jahrhunderts entbehrt der Schatten, die die damalige Forschung aber weniger gesehen hat als es heute der Fall ist. Bei der Behandlung des Erziehungswesens und der Pädagogik werden die Tendenzen zu strenger Disziplin und Zwang ausgeblendet; dass Sport Teil des Programms war, den Buben zum Burschen, Mann und wehrhaften Patrioten zu machen, wird nicht gesehen. Das Genre der literarischen und der politischen Pornografie wird unterschlagen, obwohl es für das 18. Jahrhundert und die Aufklärung charakteristisch ist. Nun war 263 Schreibweise (kursiv, teilkursiv oder anders) wörtlich nach Joël (1928): Wandlungen der Weltanschauung, Bd. 1, S. 73–78. 264 Ebd., S. 712. 265 Ebd., S. 575–580.

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Pornografie zu Joëls Zeit kein anerkanntes geisteswissenschaftliches Forschungsfeld wie seit den 1980er Jahren, das kann ihm nicht vorgeworfen werden, ebenso wenig wie anderen Autoren der Zeit. Die „Wandlungen der Weltanschauung“ stellt Joël unter die dialektische Perspektive von „Bindung“ und „Lösung“. Das 17. Jahrhundert erscheint als Lösung von der Renaissance und schafft neue Bindungen, von denen sich das 18. Jahrhundert löst und dabei der Renaissance, aber auch dem 5. Jahrhundert vor Christus in Griechenland wieder sehr nahekommt. Renaissance und Reformation sieht Joël zu Recht als „Frühaufklärung“ bezeichnet, die aber bis zu einem gewissen Grad das 17. Jahrhundert überspringt, bevor im 18. Jahrhundert wieder daran angeknüpft wird. Joël lässt den Blick in Europa weit schweifen. Er beschränkt sich nicht auf Deutschland, England/Schottland, Frankreich und ein bisschen Italien, er arbeitet Autoren und Autorinnen bzw. Künstler und Künstlerinnen aus allen Teilen Europas ein. Zwar betont er nicht, dass es (beispielsweise) auch in Spanien eine Aufklärung gegeben habe, aber er zitiert immerhin mitunter spanische Aufklärer. Wenn sich Russland unter Peter dem Großen verwestlicht und europäisiert (Joëls Begriffe), so gibt es nicht nur Deutsche, Franzosen und andere, die dort dazu beitragen, sondern auch russische Denker. Erst im dritten Abschnitt des Buchteils zum 18. Jahrhundert findet eine gewisse Verengung statt, als es um die eigentliche Aufklärungsphilosophie geht. Die Hauptkapitel dieses Teils verweisen auf die englische, französische und deutsche Aufklärung sowie auf Kant. Hier, und eigentlich erst hier, kommt der Vernunftbegriff ins Spiel. Joël konzediert, dass schon das 17. Jahrhundert durch die Beziehung zwischen Vernunft und Natur ausgezeichnet werde, dennoch weigert er sich, hier von Aufklärung oder Frühaufklärung zu sprechen: „Die beiden Jahrhunderte wollen eben in und mit Vernunft und Natur etwas ganz Anderes, ja Entgegengesetztes: das 17. will binden und bauen, das 18. scheiden und befreien […].“266 130 Seiten später, im Rahmen der Besprechung der „späteren deutschen Aufklärung“, wird Joël deutlicher: Man spricht so viel vom Rationalismus als Kennzeichen der Aufklärung; aber sie hat ja geschichtlich kein Monopol auf die Vernunft; sie hat diese vielmehr recht einseitig verstanden und verwertet. Die „Vernunft“ des 18. Jahrhunderts ist ja nicht die bindende konstruktive Geisteskraft, die jene großen Systeme des Barock erbaute, nicht die „Ordnung“, die Bossuet in der „Vernunft“ erkennt; sie ist auch nicht die spekulative, synthetische Vernunft Hegels, sie ist vielmehr eine analytische, kritische Kraft […], die in der Philosophie meist als nur reflexiver, diskursiver Verstand von der eigentlichen Vernunft abgehoben wird. Wenn die Vernunft der Aufklärung mehr ist als Kritik, als Scheidungskraft, wenn sie auch bindet, so bindet sie höchstens an den Menschen, an den wirkenden, als praktische Vernunft, die für menschliche Zwecke Nützliches sucht. Der Rationalismus geht daher im 18. Jahrhundert im Gegensatz zum 17. mit dem Utilitarismus zusammen und der Utilitarismus mit dem Individualismus. […]; es handelt sich um Förderung des Eigenwohls und des Einzelmenschen.267

266 Joël (1934): Wandlungen der Weltanschauung, Bd. 2, S. 1. 267 Ebd., S. 133.

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Intellektuelle

Joël geht direkt anschließend auf ein seiner Ansicht nach Missverständnis ein, das den Begriff „Menschheit“ betrifft: Noch einmal: man verkennt den Zug zur „Menschheit“ im späteren 18. Jahrhundert, wenn man darunter so selbstverständlich im modernen Sinn die Gesamtheit der Menschen versteht und nicht vielmehr die „Humanität“. Und man verkennt selbst dieses Ideal der letzten Aufklärung, wenn man sogleich darin den sozialen Ton im Sinne unserer „humanitären“ Bestrebungen hervortreten läßt. Die Humanität der Aufklärung ist noch dem Humanismus der Renaissance verwandt. Humanität bedeutet auch noch für Herder den „Charakter unseres Geschlechts“, und Tetens findet den „Charakter der Menschheit“ in der Perfektibilität. „Menschheit“ bezeichnet eben damals zunächst wie Tierheit einen Charakter, Eigenheit des Menschen, Menschlichkeit, Menschentum, nicht die Allheit der Menschen.268

Liest man das auf der Folie postmoderner Kritik an der Aufklärung, stellt sich die Frage, wo – wenn Joëls Begriffsdeutung von „Menschheit“ zutrifft – das Saatbeet für die „Große Erzählung“ gewesen sein soll, gegen die sich der postmoderne Diskurs wendet? Anders als später Horkheimer und Adorno hebt Joël die „Vernunft“ der Aufklärung vom Sockel: So ist die „Vernunft“ oder vielmehr „Vernünftigkeit“ der Aufklärung, ihr „gesunder Menschenverstand“ in Wahrheit mehr menschlich als Verstand, mehr gesund als vernünftig. Diese Vernunft, die sich nach Mendelssohn am „gesunden Menschenverstand orientieren“ soll, weil sie sonst oft strauchle, ist gar kurzatmig im Denken und logisch eher beschränkt als konstruktiv. Diese „Vernunft“ ist nicht als rationale Methode, überhaupt nicht logisch zu verstehen, sondern als Ernüchterung und Einschränkung des Glaubens auf das Glaubliche für den normalen Menschen, d. h. für die Vielheit der Menschen.269

Zur „Vielheit der Menschen“ setzt Joël erläuternd hinzu: Diese Vernunft bedeutet die Urteilsberechtigung auch des kleinen Individuums, die demokratische Nivellierung des Urteils und dessen Lösung und Freigabe ebenso nach der Seite des Urteilenden wie des Beurteilten. Während Descartes im Barock einen Geist das Ganze zusammenfassen läßt, läßt die Aufklärung viele über vieles urteilen und führt zur Urteilssonderung nach Objekten wie nach Subjekten. […] Die „Aufklärung“ will erst die Dinge „aufklären“ in deutlicher Unterscheidung, dann die Menschen aufklären, eben zur Unterscheidungsfähigkeit in geistiger Erhellung und Erziehung.270

Der Autor bringt verschiedentlich wie im vorhergehenden Zitat in „demokratische Nivellierung“ Aufklärung und Demokratie bzw. Demokratisierung zusammen. Im Einstiegskapitel des Buchteils zur „philosophischen Aufklärung“ werden C. Wolff und C. Thomasius als „Demokratisierer der Wissenschaft“ bezeichnet.271 Im abschließenden Kapitel zu Kant lautet es „geistige Demokratie der Aufklärung“272, über die sich Kant allerdings habe „erheben“ wollen. Den Gedanken des obigen Zitats zu „Vernunft“ direkt weiterverfolgend, schreibt er: „Diese intellektuelle Demokratisierung ging der politischen voraus und griff im kleinbürgerlichen 268 269 270 271 272

Ebd., S. 133–134. Ebd., S. 134–135. Ebd., S. 135. Ebd., S. 1. Ebd., S. 212.

Karl Joël

215

Deutschland, das sich in diesem Jahrhundert erst vom Gerberssohn Wolff, zuletzt vom Sattlerssohn Kant gründlich belehren ließ, weiter aus als in Frankreich.“273 Was sich heute vielleicht etwas despektierlich gegenüber Wolff und Kant liest, war von Joël kaum so gemeint. Außerdem hat er soziologisch Recht – etliche Aufklärer in Europa kamen aus kleinen Verhältnissen, was ihrer Durchschlagskraft nicht den geringsten Abbruch tat. Immer wieder betont der Autor die Aufmerksamkeit der Aufklärung für „Differenzen“, für das „Differente“274, für die „Vielheit“, für das „Recht der Vielheit“275 etc. Mit „Recht der Vielheit“ ist nicht eine Abstimmungsmehrheit gemeint, sondern die Vielfalt. In diesen Beobachtungen, die andere Autoren nicht mit derselben Konsequenz vortragen, liegt ein Schlüssel, warum „die Aufklärung“ dem postmodernen Diskurs standgehalten hat, da sie gewisse „Tugenden“ dieses Diskurses – das Dezentrieren, den Sinn für Differenz und différence, den Sinn für den Eigensinn – selber entwickelt hatte. Joël war sich der Originalität seiner Interpretation der Aufklärung bewusst: Wir müssen umlernen über das 18. Jahrhundert, gegen dessen Individualzug die Modernen noch blind sind. Hätte wirklich, wie man immer wiederholte, der Aufklärung nur am Menschen im Allgemeinen gelegen und nicht an seiner Besonderung und Eigenart, dann hätte sie sich ja nicht so leidenschaftlich in die Psychologie gerade als differentielle und individuelle Psychologie versenkt, dann hätte sie sich nicht geradezu auf menschliche Kuriositäten geworfen […], dann hätte sie vor allem nicht so mit Vorliebe Autopsychologie getrieben in Selbsterkenntnis und Selbstbekenntnis.276

Joël schüttet an solchen Stellen immer ein Füllhorn an konkreten Textbelegen aus dem Schrifttum der Aufklärung aus; er quantifiziert nicht, erstellt keine Kurven und Säulen oder Tortendiagramme, aber die von ihm dargelegte Fülle der Belege kommt beinahe einem quantifizierenden Verfahren gleich. Der Buchteil über die Aufklärung wird mit einem 50 Seiten langen Kapitel über Immanuel Kant abgeschlossen: „So gehören die Schriften, die man meint, wenn man von Kant spricht, erst dem Abend seines Lebens an und auch dem des Jahrhunderts. Denn er ist der Mann der Wende, der Ueberwinder seines Jahrhunderts, weil er es durchlebt und in sich aufgesogen hat.“277 Mit Horkheimers und Adornos nur wenige Jahre späterer Kant-Kritik im Kopf liest man bei Joël: Und wahrlich, er [= Kant; W.S.] hat dies kritische Messer, das die Aufklärung über alles schwang, nicht abgestumpft, sondern schärfer gemacht. Er hat sich über sein Jahrhundert erhoben, nicht indem er es von seinen Konsequenzen abzog, sondern sie bis ins Letzte zog, er hat dessen kritischen Geist geradezu monumentalisiert in seinen drei Hauptwerken gerade als „Kritiken“; er hat nach der Kritik seine Lehre selber Kritizismus benannt und so die Kritik bis

273 274 275 276 277

Ebd., S. 135. Ebd., S. 127. Ebd., S. 165. Ebd., S. 149. Ebd., S. 203.

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Intellektuelle zur Weltanschauung ausgetragen. Er hat den Säkulartrieb der Grenzsetzung, der Scheidung, Zergliederung, Analyse zur stärksten Erfüllung gebracht.278

Wo wäre hier bei Kant der Ansatzpunkt, aus dem Totalitarismus hätte entstehen können? Oder frugen die älteren Gelehrten in der Zwischenkriegszeit nicht danach, weil sie die Erfahrungen später von Horkheimer, Adorno, Arendt und vielen anderen nicht besitzen konnten? Joël sieht nicht zuletzt dank Kant „Freiheit und Vernunft als Menschenrechte“, die die Aufklärung grundlegt und die die Französische Revolution „blutig durch[kämpft]“.279 Ohne auf die eigene Gegenwart ausdrücklich Bezug zu nehmen, schließt Joël das Kant-Kapitel und damit den Buchteil über die Aufklärung wohl doch mit einer auf seine Zeit gemünzten Bemerkung: So versteht er [= Kant; W.S.] den Staat als die gesicherte Verallgemeinerung der Freiheit und den Völkerbund als die allgemeine Erweiterung der Selbständigkeit der Völker […]. Er lehrt einen verallgemeinerten Individualismus, keinen Sozialismus. Er läßt das Individuum […] frei der Zukunft entgegenleben, mit seiner Selbstentfaltung als Selbstaufweitung, d. h. mit seiner Vernunft als Allgemeinsinn. So führte Kant als neuer Moses aus der Fremdherrschaft des Weltmechanismus, aus der Heteronomie des Geistes zur Befreiung, und in der Freiheit fand er neue Tafeln des Gesetzes, im Geiste eine neue Allgemeinheit, und daraus schloß er einen Bund des Menschen mit dem Höheren, aber das Band blieb im Menschen, das Allgemeine im Subjekt.280

All dies, so fügt man in Gedanken hinzu, bekämpften der italienische Faschismus, der bereits herrschte, als Joël den ersten Band verfasste, und der deutsche Nationalsozialismus, der ebenfalls schon die Herrschaft übernommen hatte, als Joël den zweiten Band fertigstellte. Karl Joël nennt diese Faschismen im letzten Kapitel der „Wandlungen“, das dem Denken in seiner Zeit seit 1900 gewidmet ist, nicht direkt; die geschichtliche Einbettung, die er sonst vornimmt, fehlt hier, was möglicherweise damit zu tun hat, dass er über dem Abschluss des Buches verstarb und nicht jeder Satz als letzter Hand gelten kann. Er geht allerdings mit dem Rassismus hart ins Gericht, wenn auch, so hat man den Eindruck, ohne die menschenverachtenden Folgen im italienischen Faschismus zu kennen und für den Nationalsozialismus abzusehen. Die Werke Joëls wurden offenbar nicht übersetzt, einige aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg neu aufgelegt, zuletzt „Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik“ im Jahr 2016. Die „Wandlungen der Weltanschauung“ werden in 255 Bibliotheken nachgewiesen (WorldCat). Band 1 der Wandlungen wird lt. WorldCat in deutschen Bibliotheken breit nachgewiesen, er findet sich außerdem in Bibliotheken in der Schweiz, in den Niederlanden, Belgien, in Polen, in Frankreich, in Italien, in Schweden, im Vereinigten Königreich, in Spanien, Israel, USA (breit), Kanada, Südafrika, je einmal in Argentinien, Australien, Neuseeland. Band 2 wurde weniger erworben: Deutschland, Ungarn, Italien, Schweiz, Polen, Frankreich, Niederlande, Belgien, Schweden, Spanien, Vereinigtes König278 Ebd., S. 216. 279 Ebd., S. 217. 280 Ebd., S. 255.

Cay von Brockdorff

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reich, Israel, USA, Kanada, Südafrika, je einmal in Argentinien, Australien und Neuseeland. Die Zwischenkriegszeit war für Autoren, die sich mit der Philosophie der Aufklärung befassten, eine fruchtbare Zeit. Drei weitere sollen hier noch vorgestellt werden, bevor Ernst Cassirer zu seinem Recht kommt: Baron Cay von Brockdorff, Bernhard Groethuysen und Max Horkheimer. Cay von Brockdorff steht politisch in scharfem Gegensatz zu Groethuysen und Horkheimer. CAY VON BROCKDORFF Cay von Brockdorffs (1874–1946) Darstellung der „deutschen Aufklärungsphilosophie“ von 1926, die beispielsweise Paul Hazard verwendet hat, stellt ein nationalistisch orientiertes Werk dar.281 Brockdorff, der zunächst Mitglied der DNVP (Deutschnationale Volkspartei), dann ab 1933 der NSDAP sowie ab 1934 des NSLB (Nationalsozialistischer Lehrerbund) war, wirkte ab 1910 an der Universität Kiel im Fach Philosophie und Pädagogik. 1924 hatte er in derselben Buchreihe einen Band zur „englischen Aufklärungsphilosophie“ veröffentlicht. Die Buchreihe wurde von dem Philosophen Gustav Kafka herausgegeben, der als Person ein Gegenbild zu Brockdorff darstellte. Kafka gab von sich aus seinen Lehrstuhl an der TH Dresden 1934 auf, als jüdische Kollegen zunehmend verfolgt wurden. Der Band zur französischen Aufklärungsphilosophie in derselben Reihe war von Oskar Ewald (Friedländer) verfasst worden, der 1939 im Konzentrationslager Dachau interniert wurde. Nach seiner Entlassung ging dieser nach Oxford und starb dort bereits 1940. In der Darstellung zu „Deutschland“ werden bei von Brockdorff die Einflüsse der englischen Aufklärung regelmäßig angesprochen. Die französische Aufklärung erscheint demgegenüber eher marginalisiert, verbale Seitenhiebe lassen eine gründliche Abneigung gegen Frankreich erkennen, die sich allerdings nicht auf Inhalte der französischen Aufklärung überträgt. Die Schrift stellt eine „interessante“ Mischung aus unzweifelhafter Gelehrsamkeit und deutschnationaler Parteilichkeit dar. Letztere versteckt er hinter Friedrich dem Großen, darin ist er Hettner sehr ähnlich. Für die Menschenrechtslehre der Aufklärung hat er nicht allzu viel übrig, er legt da eine Linie an, die er bis zum US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson auszieht: Den heuchlerischen Mißbrauch mit den längst veralteten Kampfrufen der Aufklärungszeit, den die Amerikaner während des Weltkrieges trieben, wird man kaum zu schildern brauchen. Der Mann der 14 Punkte wollte, daß „alle Menschen glücklich“ werden sollten, Freiheit, Gleichheit müßten herrschen, der Despotismus, die Autokratie sollten aus der Welt geschafft werden. Die öffentliche Meinung hat den Redensarten aus dem Zeitalter der Aufklärung, die mit dem W e s e n der Aufklärung n i c h t s, aber auch rein gar nichts zu schaffen haben, lange geglaubt. Indessen sagt Schiller im Wallenstein:

281 Brockdorff (1926): Die deutsche Aufklärungsphilosophie.

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Intellektuelle „Ja, der verdient betrogen sich zu sehen, Der Herz gesucht bei den Gedankenlosen.“ Und zu diesen gehörte der Professor des Staatsrechts und der Geschichte Woodrow Wilson.282

Wilson, der die Diskriminierung der Afroamerikaner*innen in den USA begünstigte, gewissermaßen als Mann der Aufklärung einzuordnen, und sei es von deren „veralteten Kampfrufen“ her gedacht, erscheint als ein befremdliches Urteil, mit dem von Brockdorff freilich nicht allein stand. Das Buch, von dem 1973 bei Kraus ein Reprint erstellt wurde, findet sich außer in deutschen Bibliotheken auch in Australien, Frankreich, Israel, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Polen, Schweiz, Südafrika, USA, Vereinigtes Königreich. Im Nachruf auf von Brockdorff in der „Zeitschrift für philosophische Forschung“ von 1946 werden seine drei Buchbeiträge (Descartes, englische und deutsche Aufklärungsphilosophie) zur genannten Buchreihe als „zu den weitestverbreiteten Darstellungen auf diesem Gebiet [gehörend]“ charakterisiert. Hinweise auf seine NS-Vergangenheit enthält der Nachruf nicht.283 In der Tat lässt sich eine ungebrochene Rezeption der Brockdorff’schen „Deutschen Aufklärung“ bis heute nachweisen.284 Dabei dürfte eine Rolle spielen, das von Brockdorff auch ein ausgewiesener Hobbes-Forscher war und über Spinoza, Voltaire, Kant und andere berühmte Philosophen gearbeitet hat. Die hier von mir herausgestellte deutschnationale Seite und die schräge Beurteilung der Intentionen Woodrow Wilsons wird in der Rezeption jedoch kaum beachtet, da selten nach den politischen Subtexten gefragt wird. BERNHARD GROETHUYSEN Bernhard Groethuysens (1880–1946) zweibändiges Werk über „Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich“285 lässt aufgrund des Titels nicht erkennen, dass es um das 18. Jahrhundert und die Aufklärung geht. Doch genau darum geht es. Frankreich hat die Bedeutung eines Fallbeispiels, das über sich selbst und Frankreich hinausweist, ohne von Groethuysen als Repräsentativstudie verstanden zu werden. In vielem nimmt der Autor vorweg, was später im Rahmen der Mentalitätsgeschichte und der Untersuchung von Veränderungen in der Frömmigkeitspraxis 282 Ebd., S. 159–160. 283 Johannesson (1946): Baron Cay von Brockdorff gestorben, Zitat S. 142. 284 Dies wurde mit Hilfe von „erweiterte Suche“ in Google Books ermittelt. Ein Teil der Treffer entfällt auf die Aufzählung der Titel in der Buchreihe und besitzt daher keinen hier brauchbaren Aussagewert, aber es bleiben genug inhaltlich relevante Treffer ab Erscheinen des Buches bis heute übrig. 285 Groethuysen (1927): Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. Bd. 1: Das Bürgertum und die katholische Weltanschauung; Groethuysen (1930): Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. Bd. 2: Die Soziallehren der katholischen Kirche und das Bürgertum.

Bernhard Groethuysen

219

ausführlicher analysiert wurde. Die einen bezeichnen das als Entchristianisierung, die anderen fassen es unter den Begriff der Säkularisierung. In den meisten philosophischen bzw. ideengeschichtlichen Studien zur Aufklärung wird das Verhältnis der philosophes zur Frage der Religion bis heute relativ flach behandelt. Groethuysen geht sehr viel mehr in die Tiefe und zeigt die wahre Dimension der Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Religion auf. Beide bezogen sich auf die Gesamtheit des Lebens, deshalb gerieten sie in Streit, in dem sich eine vielfache Unverträglichkeit herausstellte. Die Lebensweise(n) der Bürger waren die Lebenswelt, in der sich diese Unverträglichkeit am deutlichsten zeigte. So untersucht der Autor nicht zum x-ten Mal die Schriften der Aufklärungsphilosophen, sondern wendet sich der Lebenswelt der Bürger zu und sucht den Streit dort auf, wo er fassbar wird: in den Predigten der Kirchenvertreter, die sich mit dem Bürger und seiner Lebenspraxis bezüglich deren Auswirkungen auf die Religion kritisch auseinandersetzen. Das tun sie auf verschiedene Art und Weise, je nachdem, wo sie selber stehen – auf Seiten der Jesuiten, auf Seiten der Jansenisten, als Pfarrer, als Bischöfe etc. Manche Geistliche gleiten dabei selber in die Sphäre der Aufklärung über. Das Bürgertum ist die neue soziale Formation, die die Ständegesellschaft zu sprengen beginnt. Der Bürger ist ein „neuer Mensch“ oder auch ein „neuer Menschentyp“. Er wirtschaftet anders, rationell und rational, er hat eine Lebensplanung, er fragt nach dem Sinn des Tuns und der Rolle dabei von Gott: So ist der Bürger nicht eigentlich zu der festen Überzeugung gelangt, daß die Religion falsch sei; wohl aber braucht er die Religion nicht mehr. Er hat ihre Lehren nicht eigentlich auf Grund bestimmter systematischer Anschauungen verworfen – dies tun im Grunde nur diejenigen, die sich irgendwie zu den Philosophen zählen – wohl aber hat er sich ein Leben gebildet, das außerhalb des religiösen Vorstellungskreises verläuft.286

Die Bürger Groethuysens sind Praktiker des Lebens. Er sieht sie nicht als diejenigen, die die Lehren der Philosophen umsetzen, sondern Bürger und Philosophen sind Teil desselben, Aufklärung genannten, Phänomens mit verschiedenen Rollen. In den beiden Bänden untersucht der Autor Schritt für Schritt die gesamte Glaubenslehre inklusive ihrer Abweichungen, z. B. zwischen Jesuiten und Jansenisten, in Bezug darauf, wie sie durch die bürgerliche Praxis infrage gestellt wird. Es geht um Tod, um Sünde, die Gottesidee, um die katholische Soziallehre und die ökonomische Praxis des Bürgertums. Jedes dieser Großthemen wird in seine einzelnen Bestandteile seziert. Im 1. Band folgt nach den ersten hundertfünfzig Seiten Darlegungen ein Schlüsselkapitel, das zum 3. Hauptkapitel „Die Idee Gottes“ gehört: „Gottes Allmacht und des Menschen Rechte“. Groethuysen erklärt: Wie später sich die Untertanen mit ihrem König auseinandersetzen werden, so scheint jetzt der Mensch mit seinem Schöpfer in Unterhandlung zu treten. Er will, daß die Rechtslage klar und eindeutig bestimmt werde, daß die gegenseitigen Rechte und Pflichten genau abgegrenzt seien. Man könnte beinahe behaupten, daß, bevor die Franzosen die Beziehungen zwischen 286 Groethuysen (1930): Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. Bd. 2, S. 208.

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Intellektuelle sich und ihrem Könige verfassungsgemäß geregelt wissen wollten, die Katholiken von ihrem Gott eine Art Verfassung gefordert haben. […] Als oberster Grundsatz dieser Verfassung ließe sich etwa die Forderung bezeichnen, daß Gott allen Menschen in gleicher Weise Gerechtigkeit schulde. Jede Parteilichkeit muß dabei ein für allemal ausgeschlossen sein. […] Auch Gott ist an das Gesetz gebunden.287

Groethuysen spitzt die Formulierungen dann noch etwas mehr zu: Es darf in alledem keine Ungewißheit mehr herrschen. Der Mensch ist wohl bereit anzuerkennen, daß er dem Schöpfer der Welt gegenüber gewisse Verpflichtungen zu erfüllen hat; aber er kennt auch seine Rechte, und diese Rechte, so fordert er, müssen geschützt werden. Was er eigentlich möchte, ist zunächst eine Erklärung der Menschenrechte, die für alle maßgebend sei und der auch Gott seine Anerkennung nicht versagen kann. Dann muß es ferner gewisse allgemein geltende und für alle bindende Gesetze geben, nach denen sich jeder fortan zu richten hat. Der Mensch will nicht weiterhin im Unklaren darüber sein, wieso und wofür er bestraft und belohnt wird. Die Regeln der göttlichen Rechtssprechung müssen ihm bekannt sein, damit, wenn es Not tut, er unter Berufung auf die gesetzlichen Vorschriften, seinen Fall darlegen und sich vor Gottes Gericht verteidigen könne. Jede Geheimpolitik ist von nun an ausgeschlossen; alles geschieht fortan in voller Öffentlichkeit. 288

Man fühlt sich in diesem Kapitel an die spätere These von Habermas zum bürgerlichen Rechtsstaat (s. u.) vorerinnert, mit dem Unterschied, dass Groethuysen den Bürger als homo oeconomicus zusätzlich im Kontext der Emanzipation von der alles beherrschen wollenden Glaubenslehre der katholischen Kirche sieht und insoweit weiter ausgreift als später Habermas. Indem man Groethuysen und Habermas zusammenschiebt, könnte man sagen, dass das Bürgertum den bürgerlichen Rechtsstaat nicht nur entwickelt, um seine ökonomischen Grundlagen, insbesondere das Eigentum, gegen obrigkeitliche Willkür abzusichern, sondern auch, um sich gegenüber dem anderen Alleinherrscher, Gott, abzusichern. Auch Groethuysen stellt sein Buch in den Kontext der Zeitgeschichte. Diese wird ihm zufolge immer noch vom Bürger bestimmt: So möchte ich hier den Bürger zu verstehen suchen: als eine Art Mensch, als unsere Art Mensch zu sein, zu denken und zu handeln. Es handelt sich hier nicht darum ihn zu werten, auch nicht darum, den Sinn seiner geschichtlichen Leistung auszusprechen. Nur dies setze ich voraus, daß er eben anders ist als der Mensch der Vergangenheit, und auch anders als der Mensch der Zukunft, daß wir auch ihn auffassen müssen als geschichtliches Phänomen, als etwas Relatives, in seiner geschichtlichen Bedingtheit Vergängliches.289

Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist Groethuysens Werk bei weitem das modernste zur Aufklärung aus der Zwischenkriegszeit mit bis heute gültigen Erkenntnissen.

287 Groethuysen (1927): Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. Bd. 1, S. 152, 153, 154. 288 Ebd., S. 157. 289 Ebd., S. VII.

Max Horkheimer (1930)

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MAX HORKHEIMER (1930) Im Zusammenhang des Themas „Aufklärung“ wird Max Horkheimers (1895– 1973) Name meistens als Co-Autor mit Theodor W. Adorno von „Dialektik der Aufklärung“ genannt. Horkheimer hatte sich jedoch in seiner Habilitationsschrift mit Kant auseinandergesetzt. Vergessen in der Aufklärungsforschung scheint seine Schrift von 1930 zu sein: „Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie“.290 Koselleck führt die Schrift im Literaturverzeichnis seiner Dissertation „Kritik und Krise“ auf (s. u.). Er erwähnt sie im Zusammenhang von Hobbes (Anmerkung 72, Kapitel 1). Kosellecks Begriff von der „bürgerlichen Geschichtsphilosophie“ beruht meines Erachtens auf Horkheimer. In dieser knapp 120 Seiten langen Schrift geht es, obwohl weder der Buchtitel noch das Inhaltsverzeichnis dies unmittelbar verraten, um die Aufklärung – im Prisma der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, deren Entwicklung Horkheimer ab Machiavelli darstellt. Die bürgerliche Geschichtsphilosophie wird im Bürgertum entwickelt und unterfüttert dessen sozio-ökonomischen Aufstieg, der 1789 in die Erlangung der politischen Macht umschlägt. Das wird freilich alles stillschweigend vorausgesetzt und ist nicht Gegenstand der Erörterungen. Aber es wird eine Begründung geliefert, warum von „bürgerlicher“ Geschichtsphilosophie die Rede ist: Den hier behandelten geschichtsphilosophischen Problemen ist nicht allein die gegenwärtige Bedeutung gemeinsam, sondern sie sind in der frühen Form, in der hier von ihnen die Rede ist, aus der gleichen Situation erwachsen: nämlich der sich befestigenden, von den Fesseln des Feudalsystems sich befreienden bürgerlichen Gesellschaft. Auf die bestimmten Bedürfnisse, Wünsche, Nöte und Widersprüche dieser Gesellschaft sind sie notwendig bezogen. Darum sind sie hier als Fragen der „bürgerlichen Geschichtsphilosophie“ gekennzeichnet. 291

Horkheimer schlägt die Brücke in die Aufklärung – er verwendet diese Bezeichnung rund 25 Mal, also in etwa auf jeder vierten Seite – von Machiavelli, Hobbes, den Utopisten Morus und Campanella sowie von Vico, der als letzter in der Reihe dem Zeitalter der Aufklärung angehört, aber etwa von Sternhell292, Jahrzehnte nach Horkheimer, als Anti-Aufklärer interpretiert wird. Horkheimer hingegen reiht ihn ein in die Konstrukteure der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, die mit den Interessen des Bürgertums verflochten ist. Weitere Denker wie Bacon und Descartes, die generell als grundlegend für die Aufklärung angesehen waren, werden zumindest gestreift. Horkheimer betont den Gegenwartsbezug: Wird auch hier die grundlegende geschichtsphilosophische Überzeugung des Verfassers nicht im Zusammenhang entwickelt, so sind doch, eben infolge des ursprünglichen Zwecks, die Probleme im Hinblick auf die Gegenwart in ihren Grundzügen dargestellt und erörtert. 293

290 291 292 293

Horkheimer (1930): Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Ebd., Vorwort, S. 6. Sternhell (2010): The Anti-Enlightenment Tradition. Horkheimer (1930): Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Vorwort, S. 5.

222

Intellektuelle

Man dürfe sich von der Schrift keine Synthese zur bürgerlichen Geschichtsphilosophie erwarten, vielmehr diene sie der Selbstverständigung über philosophische Probleme, die in der Gegenwart relevant seien, aber ihre Wurzeln bei Autoren von Machiavelli bis Vico hätten. Jeder der ausführlicher behandelten Autoren steht dabei für ein spezifisches geschichtsphilosophisches Problem – aus den folgenden Zitaten sind unschwer einige „Vorboten“ der „Dialektik der Aufklärung“ erkennbar: So können die Auseinandersetzungen über die an Machiavelli entwickelte psychologische Geschichtsauffassung nicht bloß für moderne, von der Psychologie beeinflußte Geschichtstheorien, sondern auch für Fragen der philosophischen Anthropologie Bedeutung gewinnen. Die Einwände gegen Machiavellis Ansicht sind wesentlich am Begriff der Gesellschaft orientiert; von ihr ist bei der Naturrechtslehre Hobbes’ die Rede. Ihre Grundgedanken sind in vielen Staats- und Rechtstheorien der Gegenwart noch enthalten. Auch das Problem der Ideologie, einer bestimmten Funktion im gesellschaftlichen Kampf, wird im Hobbesschen System aufgewiesen. Es steht gegenwärtig im Mittelpunkt der philosophischen und soziologischen Diskussion. Bewirkt die Ideologie den Schein, so ist dagegen Utopie der Traum von der „wahren“ und gerechten Lebensordnung. Sie spielt dem Sinne nach in jede philosophische Beurteilung der menschlichen Gesellschaft mit hinein. Ideologie und Utopie wollen als Haltungen gesellschaftlicher Gruppen aus der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit begriffen sein. Die gesetzmäßige Abhängigkeit der kulturellen Sphären vom Entwicklungsgang der Menschheit hat Vico zum Grundthema seiner „Neuen Wissenschaft“ gemacht; das Glanzstück ist die Behandlung der Mythologie als Spiegel politischer Verhältnisse. In der Gegenwart hat die Mythologie nicht bloß im Sinn einer ideologischen Bewußtseinsform, sondern ebensosehr in der Frage nach dem Wesen des primitiven Denkens wieder die philosophische Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.294

Die Schrift wurde – einige Jahrzehnte später – in mehrere Sprachen übersetzt: 1971 ins Griechische, 1974 ins Französische (zuletzt 2010), 1978 ins Italienische, 1982 ins Spanische, 1984 ins Portugiesische, 1995 ins Polnische.295 1969 wurde ein Raubdruck der Ausgabe von 1930 hergestellt.296 Der Fischer-Verlag (Fischer Bücherei) brachte 1971 eine Taschenbuchausgabe heraus, der Text findet sich auch in den „Gesammelten Schriften“, die im S. Fischer Verlag einige Jahre nach dem Tod Horkheimers herausgegeben wurden. Am meisten profitierte von der Amerikanischen wie von der Französischen Revolution das Bürgertum und mit ihr die „bürgerliche Gesellschaft“ als beherrschende Gesellschaftsformation bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Wenn ein Zusammenhang zwischen Aufklärung und Revolution besteht, dann kann man in der Tat nicht von Bürgertum und bürgerlicher Gesellschaft abstrahieren, sondern muss diese als zentrale Akteurin begreifen. Horkheimer stärkte eine aus dem Marxismus kommende Interpretation, die allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der Aufklärungsforschung zu greifen begann.

294 Ebd., Vorwort, S. 5–6. 295 Nachweise: WorldCat, Library of Congress (Washington), DNB. 296 WorldCat-Datensatz: https://tinyurl.com/tby7wre7.

Ernst Cassirer

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ERNST CASSIRER Ernst Cassirers (1874–1945) „Philosophie der Aufklärung“ erschien erstmals 1932. Bis heute wird das Buch nachgedruckt. Es wurde schnell international ein Standardwerk und ist es geblieben. Neben Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische gibt es eine rezente in Farsi (2003)297, in Chinesisch (1996)298, in Koreanisch (1995)299, in Japanisch (1962)300. Eine spanische Übersetzung erschien 1943 in Mexiko.301 Außer den anderen überaus bekannten Werken zur Renaissance und zu den „Symbolischen Formen“ verfasste Cassirer Texte zu Rousseau, Kant und Goethe, die ebenfalls in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Google Trends weist ein seit 2004 anhaltendes Suchinteresse nach Cassirer aus. Das Suchinteresse bezieht sich nicht nur auf „Die Philosophie der Aufklärung“, sondern auch auf andere Hauptwerke des Autors. Der Buchtitel „Die Philosophie der Aufklärung“302 verspricht eine Synthese, wie sie bis zum Zeitpunkt des Erscheinens 1932 nicht existierte. Das 1910 erschienene Buch „The Philosophy of the Enlightenment“ von John Grier Hibben besaß zwar auf Englisch denselben Titel wie Cassirers Buch, wurde aber deutlich weniger rezipiert. Karl Joëls umfangreiche Darstellung der Aufklärung und ihrer Philosophie, die in Zeichen oder Worten gerechnet annähernd doppelt so umfangreich wie Cassirers Buch war und annähernd gleichzeitig erschien, konnte nicht dieselbe Durchschlagskraft erzielen, da dies in die zweibändige „Wandlungen der Weltanschauung“ integriert und rein äußerlich und bibliografisch nicht sofort als Beitrag zur „Philosophie der Aufklärung“ zu erkennen war. So fiel Cassirers Buch rein formal ein Alleinstellungsmerkmal zu, das für den Erfolg nicht ganz nebensächlich gewesen sein dürfte. Hinzu kommt, dass Cassirer verbreitete negative Meinungen zur Aufklärung mit dem Buch gleich in der „Vorrede“ offen angriff. Er ging mit Hegels Kritik an der Aufklärung deutlich ins Gericht, ebenso mit der Haltung der Romantik gegenüber der Aufklärung. Cassirer schrieb: Die folgende Darstellung, der jede unmittelbar-polemische Absicht fernliegt, hat nirgends versucht, an diesen Vorurteilen eine explizite Kritik zu üben und ihnen gegenüber eine „Rettung“ der Aufklärungsepoche zu vollziehen. Worauf es ihr ankam, war lediglich die Entwicklung und die geschichtliche und systematische Erhellung ihres Gehalts und ihrer zentralen philosophischen Fragestellung. Eine solche Erhellung bildet die erste und unerläßliche Vorbedingung für die Revision jenes großen Prozesses, den die Romantik gegen die Aufklärung angestrengt hat. Das Urteil, das sie in diesem Prozeß gefällt hat, wird noch heute von Vielen kritiklos übernommen: und die Rede von der „flachen“ Aufklärung ist noch immer im

297 298 299 300 301 302

WorldCat-Datensatz: https://tinyurl.com/33vm3akm. WorldCat-Datensatz: https://tinyurl.com/s2v2bdk5. WorldCat-Datensatz: https://tinyurl.com/46985zkv. WorldCat-Datensatz: https://tinyurl.com/htwcyeem. WorldCat-Datensatz: https://tinyurl.com/ys63c8jm. Cassirer (1932): Die Philosophie der Aufklärung.

224

Intellektuelle Schwange. Ein wesentliches Ziel der vorliegenden Darstellung wäre erreicht, wenn es ihr gelänge, diese Rede endlich zum Schweigen zu bringen.303

Das klingt wie gemünzt auf Autoren eines Schlages wie Hippolyte Taine! Cassirer knüpft in den unmittelbar darauffolgenden Sätzen an die Gegenwart an: Daß es, nach Kants Leistung und nach der „Revolution der Denkart“, die die „Kritik der reinen Vernunft“ vollzogen hat, für uns kein einfaches Zurück zu den Fragen und Antworten der Aufklärungsphilosophie mehr geben kann, braucht nicht gesagt zu werden. Aber wo immer jene „Geschichte der reinen Vernunft“ geschrieben werden wird, deren Umriß Kant im letzten Abschnitt der Vernunftkritik zu zeichnen versucht hat, da wird sie vor allem der Epoche gedenken müssen, die die Autonomie der Vernunft zuerst entdeckt und die sie leidenschaftlich verfochten, die sie auf allen Gebieten des geistigen Seins zur Geltung und Anerkennung gebracht hat. Keine Behandlung der echten Philosophiegeschichte kann bloß-historisch gemeint und bloß-historisch orientiert sein. Denn der Rückgang auf die philosophische Vergangenheit will und muß stets zugleich ein Akt der eigenen philosophischen Selbstbesinnung und Selbstkritik sein. Mehr als jemals zuvor scheint es mir wieder an der Zeit zu sein, daß unsere Gegenwart eine solche Selbstkritik an sich vollzieht, – daß sie sich wieder den hellen und klaren Spiegel vorhält, den die Aufklärungsepoche geschaffen hat. […] Das Wort Sapere aude!, das Kant den „Wahlspruch der Aufklärung“ genannt hat, gilt auch für unser eigenes historisches Verhältnis zu ihr. Wir müssen statt sie zu schmähen oder vornehm auf sie herabzublicken, wieder den Mut finden, uns mit ihr zu messen und uns innerlich mit ihr auseinanderzusetzen. Das Jahrhundert, das in Vernunft und Wissenschaft „des Menschen allerhöchste Kraft“ gesehen und verehrt hat, kann und darf auch für uns nicht schlechthin vergangen und verloren sei; wir müssen einen Weg finden, es nicht nur in seiner eigenen Gestalt zu sehen, sondern auch die ursprünglichen Kräfte wieder frei zu machen, die diese Gestalt hervorgebracht und gebildet haben.304

Abgesehen vom allerletzten Absatz des Vorworts, der einen Dank an den Hauptherausgeber der Buchreihe „Grundriss der philosophischen Wissenschaften“, in der Cassirers Buch erschien, enthält, bilden die hier oben in Auszügen zitierten letzten beiden Seiten der Vorrede einen einzigen Absatz. Der argumentative Zusammenhang wird wie ein einziger Atemzug präsentiert. Mit Wendungen wie „die ursprünglichen Kräfte wieder frei machen“, „Selbstbesinnung“ und „Selbstkritik“ (mittels Befassung mit der Aufklärung), Vollzug der Selbstkritik durch die Gegenwart weist Cassirer der Aufklärung und der Beschäftigung mit ihr eine fundamentale Rolle für die eigene Gegenwart zu. Cassirer bringt prägnant auf den Punkt, was oftmals bis heute die positive Haltung gegenüber „der Aufklärung“ ausmacht. Da er deutlich mehr als Joël rezipiert wurde, dürfte vor allem Cassirers Buch die Wende zu einer neuen positiv-kritischen und positiv-konstruktiven Beurteilung der Aufklärung eingeleitet haben. Unsere Gegenwart steht diesem Ansatz wieder sehr nahe, und zwar im positiv-zugewandten Sinne Cassirers, während zwischendurch, mit Horkheimer und Adorno beginnend, die fundamentale Relevanz der Aufklärung eher in Bezug auf den ihr unterstellten ursächlichen Zusammenhang mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ins Auge gefasst wurde.

303 Ebd., Vorrede, S. XV. 304 Ebd., S. XV–XVI.

Ernst Cassirer

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Im Gegensatz zu Karl Joël betont Cassirer die Suche nach der Einheit, ggf. nach der Einheit in der Vielfalt. Es liest sich, als habe er der Europäischen Union ihr Motto „Einheit in der Vielfalt“ vorformuliert. Auffällig sind seine Singulare, wo wir heute eher den Plural setzen. Er schreibt von „der“ „zentralen philosophischen Fragestellung“ (s. Zitat oben), er betitelt das erste Kapitel mit „Die Denkform des Zeitalters der Aufklärung“. Sicher ist es dieser durchgehaltene Ansatz des Singulars, der zum Erfolg von Cassirers Buch beigetragen hat, suggeriert er doch, die Aufklärung sei tatsächlich synthetisch darstell- und verstehbar. Er erleichtert sich diese Aufgabe dadurch, dass er eigentlich nur Autoren aus der deutschen, englischen und französischen Aufklärung heranzieht, ohne dies weiter zu problematisieren. Während Joël das 18. Jahrhundert eindeutig vom 17. absetzt, startet Cassirer jedes Kapitel im 17. Jahrhundert. Seine „Philosophie der Aufklärung“ ist mindestens ebenso eine „Philosophie des 17. Jahrhunderts“. Ähnlich wie Joël unterscheidet er aber den „Systemgeist“ des 17. Jahrhunderts vom „systemischen Geist“ des 18. Jahrhunderts. Die meisten Registereinträge entfallen bei Cassirer auf Descartes, Leibniz sowie Newton, an die beiden erst genannten kommen die am häufigsten zitierten Aufklärer (Diderot, Kant und Voltaire) nicht heran. Es ist wohl weniger der dezidiert selektive Blick, der hier zum Ausdruck kommt, der das Werk interessant macht(e), als vielmehr die Betitelung der Kapitel, die strikt thematisch gehalten ist und, mit Ausnahme des fünften und sechsten Unterkapitels im siebten und letzten Kapitel, keine Namen von Aufklärern aufführt. Die Kapiteltitel lauten wie folgt: (1) „Die Denkform des Zeitalters der Aufklärung“; (2) „Natur und Naturerkenntnis im Denken der Aufklärungsphilosophie“; (3) „Psychologie und Erkenntnislehre“; (4) „Die Idee der Religion“; (5) „Die Eroberung der geschichtlichen Welt“; (6) „Recht, Staat und Gesellschaft“; (7) „Die Grundprobleme der Ästhetik“ (mit namentlicher Nennung von Gottsched und Baumgarten in Unterkapitelüberschriften). Das Buch schließt auf der allerletzten Seite mit einer Hommage an Lessing im Anschluss an dessen „Laokoon“: Goethe hat in „Dichtung und Wahrheit“ diese Wirkung von Lessings Laokoon dargestellt; er hat geschildert, wie er durch die Herrlichkeit der Lessingschen „Haupt- und Grundbegriffe“ sich mit einem Schlage „aus der Region eines kümmerlichen Anschauens in die freien Gefilde des Gedankens hingerissen“ sah. Diese hinreißende Kraft hat Lessing nicht nur innerhalb der Dichtung, sondern auch für das G a n z e der Philosophie seines Jahrhunderts besessen. Ihm vor allem ist es zu danken, daß das Jahrhundert der Aufklärung, das im stärksten Maße durch die Gabe der Kritik bestimmt, und das durch sie geleitet und beherrscht wird, nicht dem bloß-negativen Sinne der Kritik verfiel – daß es die Kritik wieder ins Leben zurückzuwenden und sie zum unentbehrlichen Werkzeug für das Leben, für die Entfaltung und die ständige Selbsterneuerung des Geistes zu gestalten und zu gebrauchen vermochte.305

Diese konstruktive, geradezu lebensnotwendige Charakterisierung von „Kritik“ bezieht sich, da es so grundsätzlich und zeitlos formuliert wird, sicher auf die eigene Gegenwart. „Kritik“ und die Diskussion von „Wahrheit“ sind zentrale 305 Ebd., S. 482.

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Gegenstände der Ästhetik der Aufklärung, so dass der Abschluss des Buches mit genau diesem Kapitel, das zugleich das längste von allen ist, ein eigenes Statement darstellt. Die Kapitelaufteilung kann als originell bezeichnet werden. Dass „Natur“ und „Religion“ titelgebende Begriffe sind, liegt nahe, „Psychologie“ im Licht anderer Werke wie von Høffding und Joël ebenso. Ähnliches lässt sich für das Thema des Rechts sagen, das Cassirer als eigenes Kapitel zusammen mit „Staat“ und „Gesellschaft“ sehr explizit macht. Das erste Unterkapitel (von zweien) befasst sich mit der „Idee des Rechts“ und dem „Prinzip der unveräußerlichen Rechte.“ Cassirer greift stark auf Denkfiguren der Antike zurück – die weiten Dimensionen des Rechtsdenkens der Aufklärung sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg Schritt für Schritt aufgedeckt worden. Cassirer macht, alles in allem, viele Themen – wie beispielsweise auch die Geschichtsschreibung der Aufklärung – stark, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg dann zu eigenen Teildisziplinen in der Forschung entwickelt haben. Viele Formulierungen sind gerade heute sehr anschlussfähig, wenn er z. B. schreibt, dabei ein Zitat aus Goethes „Faust“ verwendend: „Die Aufklärungsphilosophie gehört zu jenen Gedanken-Webermeisterstücken, ‚wo Ein Tritt tausend Fäden regt, die Schifflein herüber, hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließen.‘“306 Wir reden heute von Verflechtung, Netzwerken etc., und das ist das, was Cassirer darzustellen versucht. Freilich bezieht sich das immer auf Gedanken und Ideen. Cassirers Buch hat zur Verfestigung mancher bis heute mit der Aufklärung verbundener Ansichten beigetragen. Dies bezieht sich auf die Vernunftzentrierung und auf die Zentrierung auf die drei ‚großen‘ Aufklärungen – Deutschland, ‚England‘ und Frankreich sowie auf den geradezu performativen Singular von „die“ Aufklärung. Die Bedeutung des Werks ist außerdem in der Zeit selber, um 1930, zu suchen. Cassirer und Heidegger standen miteinander in philosophischem Streit. Dieser hatte durch die Internationalen Davoser Hochschulkurse von 1929 über Fachkreise hinaus eine gewisse Publizität erreicht. Cassirer und Heidegger hielten mehrere Vorträge und führten dann ein Streitgespräch auf dem Podium, in dem die grundverschiedenen philosophischen Ansätze deutlich wurden. Eigentlicher Streitpunkt war Kants Metaphysik. Die sehr lesenswerte Analyse des Streitgesprächs, seiner Vor- und Nachgeschichte(n), eingebettet in die Entwicklung des philosophischen Denkens der beiden Philosophen und ihrer Lebenswege von Peter E. Gordon zeigt, wie sehr Cassirers philosophische Anschauungen insgesamt mit seiner Lesart der Aufklärung, insbesondere natürlich Kants, zusammenhingen.307 Hinzukam der von Heidegger immer weniger versteckte Antisemitismus, auch wenn er sich Cassirer gegenüber, der aus einer jüdischen Familie stammte, offenbar keine antisemitischen Feindseligkeiten leistete.

306 Ebd., Vorrede S. XIII. 307 Gordon (2012): Continental Divide. Heidegger, Cassirer, Davos.

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CARL LOTUS BECKER Der US-amerikanische Historiker Carl Lotus Becker (1873–1945) wird in der Aufklärungsforschung vor allem mit seinem Bändchen „The Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers“ von 1932 zitiert.308 In der Regel sind die Erwähnungen kritisch, aber das ändert nichts an der großen Verbreitung dieser unter dem genannten Titel veröffentlichten vier Vorträge, die Becker im April 1931 an der School of Law der Yale University gehalten hatte. Sie wurden in der Reihe „The Storrs Lectures“ bei Yale University Press gedruckt. Seit Erscheinen wird das Bändchen ununterbrochen nachgedruckt, zuletzt 2004 (vgl. WorldCat). Übersetzungen erfolgten offenbar nicht. Die Attraktivität dieser Schrift besteht folglich bis in die Jetztzeit fort, es ließe sich eine imposante Liste an Publikationen nach 2000 aufstellen, in denen Beckers Ansatz nach wie vor diskutiert wird – ganz zu schweigen von Zitationen seit den 1930ern. Zunehmend wird „Heavenly City“ als dem postmodernen Denken verwandt eingestuft.309 Becker versuchte nachzuweisen, dass die Philosophen der Aufklärung trotz aller Religionskritik, die sie betrieben, nicht aus den christlichen Denkmustern (er verwendet diesen exakten Begriff nicht) heraustraten. Das traf ja auch noch für die jakobinische Revolution zu, die sich zudem des kirchlichen Zeremoniells als Muster ihrer Propagandainszenierungen bediente. Das Verharren in christlichen Denkmustern, die mit anderen Inhalten gefüllt wurden, ändert nach Becker überhaupt nichts am zentralen Stellenwert der Freiheit und ihrer vielen Spielarten bei den Aufklärern. Es ist hinreichend bekannt, welche wichtige Rolle Lichtmetaphern, das Licht, das die Fackel310 verbreitet, im Sprachgebrauch der Aufklärung einnahmen. Das Licht und Lichtmetaphern besitzen aber dieselbe starke Bedeutung im Christentum. Es entstand also eine direkte Konkurrenz um die Funktion des Lichtbringers. Aus der historischen Rückschau erscheint die Aufklärung als Zivilreligion, die die drei „Buchreligionen“ abzulösen bestimmt ist, und sie tut es – als Buchreligion. Carl Lotus Becker traf einen wichtigen Nerv in der Debatte um das richtige Verständnis der Aufklärung. Becker besaß einen weiten Blick, er bettete seine Überlegungen in einen Zeithorizont von sechs- bis siebentausend Jahren ein und endete mit dem 20. Jahrhundert, mit Gedanken zur russischen Oktoberrevolution im Vergleich zur Französischen Revolution, mit Gedankenspielen zur Zukunft im Licht der Russischen Revolution. Hätte er noch die McCarthy-Ära erlebt, wäre er wohl wegen Sympathie mit dem Kommunismus verfolgt worden. Wirkliche Sympathien für den 308 Becker (1955 [1932]): The Heavenly City of the Eighteenth-Century Philosophers. 309 Mit vorsichtiger Formulierung: Wright (2001): The Pre-Postmodernism of Carl Becker. Wright hat Beckers „Heavenly City“ 2003 mit einer Einleitung versehen publiziert. Die These von Becker als postmodernem Autor wird dezidierter vertreten von: Grenz (1996): A Primer on Postmodernism. 310 Fulda (2017): „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor“.

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Kommunismus Stalinscher Prägung hatte er natürlich nicht, aber er wog die Fragen mit wissenschaftlichen Mitteln ab, nicht mit Polemik. Die üblich gewordene isolierte Betrachtung der „Heavenly City“ ist wenig nachvollziehbar, denn Becker ging es in einem großen Teil seines Œuvres als Historiker um die Bedeutung des 18. Jahrhunderts und der Aufklärung für die Geschichte danach bis in die eigene Gegenwart, die er regelmäßig um Blicke in die Zukunft erweiterte. Die „Heavenly City“ erfuhr eine inhaltliche Fortsetzung in Gestalt dreier weiterer Vorträge, die der Historiker im November 1940 in der Page-Barbour Foundation der University of Virginia hielt und die erneut bei Yale University Press, zugleich bei Oxford University Press, unter dem Titel „Modern Democracy“ 1941 gedruckt wurden.311 Zahlreiche Nachdrucke gab es bis 1964. „Modern Democracy“ wurde von den amerikanischen Truppen in Österreich verwendet – das Exemplar der Universitätsbibliothek Wien, mit dem ich gearbeitet habe, trägt den Stempel „Property of Information Services Branch United States Forces in Austria“. Handschriftlich wurde mit Bleistift vermerkt „Leihgabe U. S. Inform. Serv. Branch 15.IX.1948“. Es handelt sich bei der Ausgabe um „Sixth printing, January, 1948“. Becker schrieb weitere Werke, die sich mit der Demokratiegeschichte und der Bedeutung des 18. Jahrhunderts für diese auseinandersetzten, so das Buch über die Unabhängigkeitserklärung, das ursprünglich aus dem Jahr 1922 stammte.312 Immer wieder kam er auf die Situation der Demokratie in der Gegenwart, das heißt im Zweiten Weltkrieg, zu sprechen. „Heavenly City“ ist zweifellos aus sich selbst heraus verständlich, aber im Kontext des Becker’schen Engagements als Historiker und Bürger lassen sich Missverständnisse eher vermeiden. So ging es Becker nicht darum zu behaupten, dass die Aufklärung eigentlich nur eine Spielart des Christentums gewesen sei. Er sieht die atheistischen Tendenzen, rückt diese aber zurecht; die Mehrheit der Aufklärer war nicht atheistisch. Er sieht die Kritik am Aberglauben, an der Kirche als Herrschaftsinstitution, er schaut aber vor allem auf die Kontinuität der Denkmuster, was im Kontext der sogenannten protestantischen bzw. katholischen Aufklärung bis heute von Interesse wäre. Die Aufklärung, die Becker geografisch weit ansetzt inklusive der USA, habe die Denkfigur vom Ewigen Leben und Jüngsten Gericht ersetzt durch den auf die Zukunft bezogenen Fortschrittsbegriff. Die Denkfigur als solche, das Muster darin, bleibt aber das gleiche, denn das menschliche Leben und sein Ziel wird unverändert auf eine Zeit nach dem Tod der Lebenden bezogen. Das Denkmuster als solches bleibt nach Becker auch im Marxismus dasselbe, nicht aber in der Stalin’schen Ausprägung des Sozialismus. Becker befasst sich nicht nur in „Heavenly City“ mit den Auswirkungen des bürgerlichen Kapitalismus und Industrialismus auf die Gesellschaft, ihre Werte und Ziele, die zu einer Veränderung der Denkmuster führen. 311 Becker (1948 [1941]): Modern Democracy. 312 Becker (1922): The Declaration of Independence [Neuausgaben: 1942, 1945, 1948].

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In „Heavenly City“ wie besonders im ersten Vortrag aus „Modern Democracy“ („The Ideal“) hebt Becker die Entstehung der Grundsätze der liberalen Demokratie in der Aufklärung hervor. Die amerikanische Unabhängigkeit und die in deren Zuge entstandenen diversen Rechteerklärungen sowie die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom August 1789 stehen nach seiner Lesart ganz klar mitten in der Aufklärung. Die Desorientierung beginne mit der Durchsetzung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die die Gesellschaft ökonomisch, rechtlich und ideell spaltet. Prägnanter als jeder andere in seiner Zeit erklärte Becker die Verwurzelung des modernen Demokratiekonzepts in der Aufklärung, zugleich besaß er einen scharfen Blick für alles, was die Realität an Veränderungen, ja Pervertierungen, der Idealkonstruktion im 19. und 20. Jahrhundert erbracht hatte. Anders als Horkheimer und Adorno, die gleichzeitig, als Becker an seinen Demokratievorträgen schrieb, an „Dialektik der Aufklärung“ arbeiteten, sah Becker Faschismus und Nationalsozialismus als Antithesen der Aufklärung; Mussolini, Hitler, aber ebenso Stalin, hätten die Vernunft dem Willen unterworfen, dem bzw. ihrem Führerwillen. Die Vernunft ist ausgehebelt, sie dient nicht der Erkenntnis wie in der Aufklärung, sie ist eben gar kein Instrument mehr, die Totalitarismen können gar nicht einer – und sei es einer in extremis getriebenen – „Aufklärung“ (als allgemeiner Begriff ohne Bindung an das 18. Jahrhundert) entspringen. Zwar formuliert es Becker nicht exakt so, wie ich es getan habe, vermutlich wusste er nichts von Adorno und Horkheimer, aber im Kontext dieser anderen Schriften, die im Zweiten Weltkrieg entstanden, liest sich Becker so, wie ich es versucht habe zu formulieren. Angesichts der vielen unveränderten Nachdrucke, die die Schriften von Becker in relativ kurzen Abständen erfuhren, darf man von einer breiten Nachfrage und Rezeption ausgehen. Becker pflegte einen sehr verständlichen Stil. Bei ihm ist „die Aufklärung“ eindeutig „the Enlightenment“, der Begriff bezeichnet die Sache und die Epoche, ist folglich fest gefügt. Becker ist seiner Zeit einigermaßen voraus, außerdem räumt er in „Heavenly City“ im dritten Vortrag („The New History“) gründlich mit dem Vorurteil auf, die Aufklärer hätten kein Geschichtsbewusstsein gehabt. Sie hatten es, trugen zur Erneuerung der Geschichtsschreibung bei, aber sie zogen aus der Geschichte andere Lehren als die Konservativen und jene Sozialgruppen, die ihre historisch gewachsenen Sonderrechte zu verteidigen suchten. Die Geschichte – ihre Interpretation der Geschichte – zeigte ja gerade auf, wo überall Reformbedarf herrschte. Carl Lotus Becker gehörte zu den amerikanischen Intellektuellen, die die Begründung der modernen Demokratie in der Aufklärung hervorhoben und dabei die atlantischen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts nicht als Bruch mit oder Pervertierung der Aufklärung ansahen. Zweifellos war dies mit Blick auf die Amerikanische Revolution, die zudem nicht immer als Revolution eingestuft wird, einfacher, weil es anders als in Frankreich keine radikaljakobinische Phase der Terreur gegeben hatte und sich die Amerikanische Verfassung seit 1787/1789 – zuzüglich der Amendments und über den Bürgerkrieg hinweg – als bis heute stabil erwiesen hat.

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Zu einer solchen geradlinigen Betrachtung – von der Aufklärung zur Demokratie – mochte sich in Europa zur selben Zeit kaum jemand entschließen. Geradlinig heißt allerdings nicht, dass Becker nicht die Modifikationen im 19. und 20. Jahrhundert bemerkt hätte, denn den zweiten Vortrag 1940 in „Modern Democracy“ nannte er „The Reality“, die sich vom im ersten Vortrag behandelten „Ideal“ deutlich unterscheide, den dritten „The Dilemma“, in dem er die negativen Seiten der Demokratie in der Industrie- und Massengesellschaft untersuchte. PAUL HAZARD Paul Hazard (1878–1944) veröffentlichte 1935 „La crise de la conscience européenne“, eine europäische Geistesgeschichte der Frühaufklärung (1680–1715).313 Der Folgeband „La pensée européenne au XVIIIe siècle, de Montesquieu à Lessing“, erschien postum 1946.314 Vor allem „La crise de la conscience européenne“ begründete Hazards, seitdem ungebrochene, internationale Bekanntheit. Hazard war Literaturwissenschaftler und Komparatist. Er absolvierte die École normale supérieure, er wurde 1910 an der Universität Lyon promoviert. Dort erhielt er seine erste Professur, 1913 wechselte er an die Sorbonne, 1925 wurde er ans Collège de France berufen. Viele Jahre lehrte er im jährlichen Wechsel am Collège und an der Columbia University in New York (1932–1940). 1929 wählte ihn die American Academy of Arts and Sciences zum Mitglied. 1940 wurde er in die Académie française aufgenommen, kriegsbedingt konnte die eigentliche Aufnahmezeremonie aber nicht stattfinden. Bei Kriegsausbruch blieb er nicht in den USA, sondern kehrte nach Frankreich zurück. Er schloss sich der Résistance an. Den zweiten Band, über das 18. Jahrhundert von Montesquieu bis Lessing, schrieb er unter Kriegsbedingungen. In den ungeheizten Bibliotheken holte er sich eine Lungenentzündung, von der er nicht mehr richtig genas.315 Neben der französischen Literatur befasste sich Hazard besonders mit der italienischen, immer wieder auch mit einzelnen Schriftstellern. Er war weltweit ein gesuchter Korrespondenzpartner. Sein Gesamtœuvre war vielseitig und fand rasch internationale Verbreitung. Nach der französischen Originalausgabe von „La crise de la conscience européenne“ von 1935 erschienen im selben Verlag 1939 und 1942 weitere Auflagen. Ab 1961 wurden Neuauflagen des Buches bei zwei großen Publikumsverlagen angeboten: Gallimard und Fayard, bei Fayard dann in jedem Jahrzehnt bis 1995. Die deutsche Übersetzung von Harriet Wegener erschien 1939 bei Hoffmann & Campe in Hamburg. Dass überhaupt eine deutsche Übersetzung erscheinen konnte, und dann noch in dieser Konstellation, kommt fast einem Wunder

313 Hazard (1935): La crise de la conscience européenne (1680–1715). 314 Hazard (1946): La pensée européenne au XVIII e siècle de Montesquieu à Lessing. 315 Vgl. den Nachruf auf Paul Hazard von Cabrini (1946): Paul Hazard. Weitere biografische Information bei Grafton (2013): Introduction, S. vii–xi.

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gleich. Wegener316 (1890–1980) war Feministin und Liberaldemokratin. 1934 wurde sie am Institut für Auswärtige Politik (Uni Hamburg), an dem sie arbeitete, aus politischen Gründen entlassen. 1935 wurde sie Präsidentin des deutschen Ablegers des internationalen Zonta-Clubs317, der in Deutschland seit 1933 nur mehr privat zusammenkommen konnte. Ihren Lebensunterhalt verdiente Wegener als freiberufliche Übersetzerin, ab 1942 bis ins hohe Alter arbeitete sie als Lektorin für Hoffmann & Campe. Nach dem Krieg gehörte sie zum Kreis der Gründer*innen der FDP. Der 1781 gegründete Verlag, der anfangs u. a. „aufklärerische Bildungs- und Erziehungsliteratur für den bürgerlichen Mittelstand“ vertrieb318, erhielt am 26. August 1944 von der „Reichsschrifttumskammer“ die Schließungsverfügung, konnte die tatsächliche Abwicklung aber hinauszögern, sodass diese faktisch nicht umgesetzt wurde. Dies war nicht zuletzt Harriet Wegener zu verdanken.319 Der Hazard-Band erschien in der Verlagsreihe „Europa Bibliothek“, die erst 1937 von Albert Erich Brinckmann (Kunstgeschichte) begründet worden war. Zur Intention der Reihe schrieb der Verlag 1942 (!) mit den Worten Brinckmanns: „Deutsche Kultur ist wesentlicher Bestandteil abendländischer Kultur und von größter geistiger Wirksamkeit – Europäische Kulturen entwickeln sich in ständigem Austausch, im ‚Nehmen und Geben‘ – Nationen müssen sich verstehen lernen, ehe sie sich verständigen können.“320 Und wie schrieb doch Hazard im Vorwort, hier nach der deutschen Ausgabe von 1939 zitiert: An die Stelle einer Kultur, die auf der Idee der Pflicht beruhte, der Pflicht gegen Gott, der Pflicht gegenüber dem Fürsten, versuchten die „neuen Philosophen“ eine Kultur zu setzen, die sich auf die Idee des Rechts gründete: auf das Recht des persönlichen Gewissens, das Recht auf Kritik, das Recht der Vernunft, die Menschen- und Bürgerrechte.321

Von der deutschen Ausgabe 1939 wurden mindestens 16.000 Exemplare gedruckt, von der Ausgabe 1949 mindestens 26.000, 1965 erschien die fünfte Auflage bei Hoffmann & Campe.322 Die erste englische Übersetzung kam 1953 bei Yale University Press und einem weiteren Verlag in London auf den Markt. Übersetzer war James Lewis May (1873–1961), der auch Gustave Flauberts „Madame Bovary“ ins Englische übersetzt hatte. Er trat außerdem selber als Autor, z. B. mit einem Buch über Anatole France, hervor.323 Bis heute kamen und kommen unentwegt Nachdrucke, auch als Taschenbuch (Penguin), auf den Markt. Relativ rezent (2013) nahm sich der Verlag New York Review Books der Sache an und publizierte eine von Anthony Grafton eingeleitete Ausgabe. Grafton betont die 316 https://www.gleichstellung.uni-kiel.de/de/Harriet%20Wegener.pdf. 317 Harriet Wegener wird im Wikipedia-Artikel „Zonta International“ aufgelistet: https://de. wikipedia.org/w/index.php?title=Zonta_International&oldid=208303061. 318 S. Verlagsarchivseite zu 1781: https://tinyurl.com/x8muj5js. 319 Details Verlagsarchivseite: https://tinyurl.com/4wavxjw4. 320 Verlagsarchivseite, Eintrag zu 1937: https://tinyurl.com/4wavxjw4. 321 Hazard (1939): Die Krise des europäischen Geistes, S. 24. 322 Zahlen aufgrund der Angaben auf den Impressum-Seiten der Ausgaben. 323 Werkverzeichnis zu May: https://tinyurl.com/fkuakwrn.

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anhaltende Relevanz des Buches und besonders die beeindruckende Belesenheit Hazards, was sich allerdings genauso über die anderen in diesem Kapitel zu den „Intellektuellen“ zitierten Autoren sagen lässt.324 Es ist wohl eher die unvergleichliche Kunst Hazards, beinahe alle seine zahlreichen Autoren und einige Autorinnen in fast allen seiner 23 Hauptperspektiven, die das Buch gliedern, einzubauen. Das Buch wurde 1946 ins Italienische und 1952 ins Spanische übersetzt, die italienische Ausgabe wurde 1968 und 1983 sowie jüngst 2019, mit einer Einleitung von Giuseppe Ricuperati, neu gedruckt.325 Der Nachfolgeband „La pensée européenne au XVIIIe siècle, de Montesquieu à Lessing“ wurde 1946 postum veröffentlicht, die deutsche Übersetzung „Die Herrschaft der Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert“ wurde wieder bei Hoffmann & Campe von Harriet Wegener in Verbindung mit Karl Linnebach (1879–1961) 1949 herausgebracht.326 Eine englische Übersetzung folgte 1954, 1963 neu aufgelegt. In Frankreich wurde das Buch seit Erscheinen in jedem Jahrzehnt bis 1995 neu aufgelegt, meistens mehrfach und nicht zuletzt auch als Taschenbuch. „La crise de la conscience européenne“ analysiert die Irritationen (kein Begriff von Hazard), denen sich die Zeitgenoss*innen des späteren 17. und frühen 18. Jahrhunderts ausgesetzt sahen. Es handelt sich um sehr viel mehr als einen wissenschaftlich reflektierten Gang durch das Schrifttum, es handelt sich um eine europäische Geschichte, in der etwa auch Polen und Russland einen Platz haben, Länder, die oft in Abhandlungen zur Aufklärung fehlten und noch immer fehlen. Hazard beschränkte sich folglich nicht auf einen französisch oder bestenfalls westeuropäisch zu verstehenden Europa-Begriff. Hazard erzählt die Geschichte der Irritationen, die fundamentale, bis in seine eigene Zeit wirksame, Veränderungen gezeitigt haben, als Drama in vier Akten: (1) „Die großen psychologischen Veränderungen“; (2) „Der Kampf gegen die Überlieferungen“; (3) „Der Versuch eines Wiederaufbaus“; (4) „Einbildungskraft und Empfindung“. Die Zahl der „Bilder“ in den Akten variiert: 5, 5, 7, 6. Um Missverständnissen vorzubeugen: Hazard selber behauptet nicht, ein Drama in vier Akten mit soundsoviel Bildern verfasst zu haben, es handelt sich um meine Zuschreibungen aufgrund des Eindrucks, den Sprachstil und Gliederung auf mich machen. Im französischen Original heißt es „Partie“ und „Chapitre“, die deutsche Ausgabe verzichtet hingegen auf Gliederungspunkte wie „Erster Teil“ und „Kapitel I“. Nach Hazard ist um 1715 – ein symbolisches Datum: Todesjahr Ludwigs XIV. – eigentlich alles da, was üblicherweise unter Aufklärung verstanden, aber eher dem weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts zugerechnet wird.

324 Grafton (2013): Introduction. 325 Vgl. WorldCat. 326 Steckbrief der DNB zu Linnebach: „Soldat 1900–1919, dann tätig beim Landesfinanzamt Darmstadt, zuletzt Oberregierungsrat. Militärhistoriker, Schwerpunkt: Preuß. Heeres- und Kriegsgeschichte, Befreiungskriege“. https://tinyurl.com/vh9nxn6x.

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Das erste Bild („Von der Beharrung zur Bewegung“) in „Die großen psychologischen Veränderungen“ ist der umfänglichen Reisetätigkeit und den zahllosen Reiseberichten gewidmet. Europäische Reisende in andere Kontinente würden die dortigen Kulturen interessiert beobachten, mit einem guten Blick für die Vielfalt und einem guten Gespür für die Sinnhaftigkeit anderer Verhaltensweisen und anderer Religionen im Vergleich zu Europa. Der Blick vieler Reisenden ist demnach, in der Sicht Paul Hazards, wesentlich weniger asymmetrisch gewesen als hundert Jahre später. Das zweite Bild („Vom Alten zum Modernen“) beinhaltet das Aufkommen eines kritischen Geschichtsverständnisses. Die biblischen Chronologien wurden empirisch überprüft und falsifiziert, es kam zum Konflikt mit der gängigen aus der Bibel abgeleiteten Universal- und Heilsgeschichte. Es geht weniger um die Querelle des anciens et des modernes, wie man aufgrund des Titels denken könnte. Im dritten Bild („Vom Süden zum Norden“) werden kulturelle Schwerpunktverlagerungen im Verein mit machtpolitischen Veränderungen untersucht, also der Aufstieg Englands zur im Vergleich zu Frankreich überlegenen Kolonialmacht, der Aufstieg Preußens, etc. Als „Norden“ fungieren die skandinavischen Länder nur am Rande, gemeint ist vor allem England, gefolgt von den Niederlanden, Preußen und Russland. Das vierte Bild („Heterodoxie“) hat die religiösen Konflikte zum Gegenstand und stellt die Folgen der Widerrufung des Toleranzedikts von Nantes (1598) durch Ludwig XIV. 1685 in den Mittelpunkt. Daneben werden einige Seiten dem Socinianismus und allgemein religiösem Nonkonformismus gewidmet. Der letzte Abschnitt „Vom Nonconformismus zur unbegrenzten Freiheit der Kritik“ bereitet das fünfte Bild vor: „Pierre Bayle“. Dieser erste Akt zeigt sehr plastisch, wie umfassend und tief die Irritationen in diesen drei bis vier Jahrzehnten gingen; nichts blieb unberührt. Was Hazard gegenüber anderen Autoren auszeichnet, ist der Umstand, dass er sich nicht mit einer Gipfelwanderung durch die berühmtesten Autoren begnügt, sondern beim Schrifttum in die Breite geht und dadurch einen guten Eindruck von der gesellschaftlichen Relevanz der beschriebenen intellektuellen Irritationen vermittelt. Natürlich erklimmt er auch gewissermaßen die „Seven Summits“, die Leser*innen müssen nichts missen. Der zweite Akt („Der Kampf gegen die Überlieferungen“) spielt die Dekonstruktion des für wahr Angenommenen durch und beginnt mit „Die Rationalisten“ als erstem Bild. Die im ersten Akt erzählten Irritationen führten zur Modifikation der Vernunft, deren Hauptaufgabe die Zerstörung „diese[r] unzähligen Irrtümer“ wurde.327 „Rationalisten“ (und Rationalistinnen wie Ninon de Lenclos etc.) umfasst die vielen Freigeister oder Libertins oder auch „Salonphilosophen“328, Philosophen wie Spinoza, der „große Baumeister“329, Gelehrte, Dichter und Dramatiker:

327 Hazard (1939): Die Krise des europäischen Geistes, S. 150. 328 Ebd., S. 151. 329 Ebd., S. 175. Die Formulierung liest sich wie ein Anklang an Gott als „großen Baumeister“ bei manchen Freimaurern.

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Intellektuelle So waren die Rationalisten. […] Sie griffen unaufhörlich an. Sie nahmen die servile Unterwerfung aufs Korn, die faulen Angewohnheiten, die ganze Masse der Verkehrtheiten und Torheiten. Sie begannen von neuem mit der nie endenden Aufgabe, uns nicht nur von unseren Irrtümern, sondern auch von unseren Feigheiten zu befreien. […] Sie verdienten Achtung wegen ihrer Aufrichtigkeit, ihres Mutes, ihrer Kühnheit […].330

Rufen wir uns bei diesem Zitat kurz in Erinnerung, dass die deutsche Ausgabe, aus der zitiert wird, im Deutschland von 1939 erschien. Das zweite Bild trägt die Überschrift: „Die Verneinung des Wunders: Die Kometen, die Orakel und die Hexenmeister“. Hier geht es also um die sprichwörtliche Entzauberung des Nichtrationalen. Am Beispiel des niederländischen „Kreuzzüglers des Geistes“, Pfarrer Balthasar Bekker, schreibt Hazard: Er zieht aus, Vorurteile zu bekämpfen […], aber hauptsächlich interessiert ihn der Teufel. Vom Teufel ist sein Denken besessen, sind seine Predigten voll, bis er ihn endlich 1691 in einem dicken Buche, Die betooverte Wereld, die verzauberte Welt, austreibt. Er will die Welt entzaubern.331

Nach Bekker kommt Christian Thomasius an die Reihe, für den Hazard viel Lob erübrigen kann: „der glorreiche Initiator der deutschen Aufklärung, ein Held des großen für das Licht geführten Kampfes.“332 Im französischen Original steht hier übrigens in Deutsch „Aufklärung“.333 Im dritten Bild stehen Richard Simon und die Bibelkritik im Mittelpunkt. Für sein Werk „Histoire critique du Vieux Testament“ (1678) benötigte er den Begriff der „Kritik“, der natürlich nicht unbekannt, aber erst einmal genauer zu definieren war. Hazard fasst zusammen: Sie [= die Kunst der Kritik; W.S.] entscheidet den Grad der Zuverlässigkeit und Echtheit der Texte, die sie studiert, und schließt alles außerhalb ihrer selbst Liegende aus, zum Beispiel alle Rücksicht auf Wahrung von Schönheit und Moralität. Wendet sie sich irgendeinem heiligen Buche zu, so ignoriert sie bewußt die Theologie, die in keiner Weise in ihr Fach schlägt. […] Ihr Standpunkt ist, daß sie den Text nicht beeinflussen kann; keine Autorität vermag einen Text zu etwas anderem zu machen als genau dem, was er ist. Widerspricht irgendeine Stelle einem Dogma und ist authentisch, so gilt nicht das Dogma, sondern das Geschriebene. […] Sie stützt sich auf die Philologie […].334

Im Mittelpunkt des nächsten Bildes steht Bossuet, „ein Arbeiter, der rastlos und eilig umherläuft, um die jeden Tag drohenden Mauerrisse zu reparieren.“335 Es wird ihm nicht gelingen; die Kritik eines Richard Simon, eines Spinoza und vieler anderer konnte sich durchsetzen. Erneut steht im fünften Bild eine Person im Vordergrund – Leibniz, dem die „Einigung der Kirchen [misslang]“. Leibniz stand bei dieser großen Frage in engem Kontakt mit Bossuet.

330 331 332 333 334 335

Ebd., S. 187–188. Ebd., S. 207. Ebd., S. 214. Hazard (1935): La crise de la conscience européenne (1680–1715), S. 180. Hazard (1939): Die Krise des europäischen Geistes, S. 220–221. Ebd., S. 253.

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Die Arbeit der Dekonstruktion hatte nach Hazard einiges in Ruinen gelegt, „[a]ber Europa liebt die Ruinen nicht“.336 So lautet die Überschrift des hieran anschließenden dritten Akts „Der Versuch eines Wiederaufbaus“, der mit John Locke einsetzt. „Man mußte also die große Reise von neuem antreten, die Menschenkarawane auf anderen Wegen anderen Zielen entgegenführen.“337 Hierbei half Locke mit dem „Essay concerning human understanding“ (1690). Im zweiten Bild geht es um „Der Deismus und die Naturreligion“, sodann um „Das Naturrecht“ und, im vierten Bild, „Die soziale Moral“. Es folgen „Das Glück auf Erden“, „Die Wissenschaft und der Fortschritt“ und, siebtens, „Einem neuen Idealbild vom Menschen entgegen“. Dabei ging es um ein Nachfolgemodell des honnête homme, das allerdings schon bei Balthasar Gracian in den 1630ern und 1640ern in der Figur des Helden als Idealmensch grundgelegt worden sei. Dieser spanische Jesuit sei Ende des 17. Jahrhunderts wiederentdeckt worden, gleichwohl etwas spät, da die Figur des Helden doch nicht mehr so recht in die Zeit passen wollte: „Auf der Bühne erschien der Bürger, lächelnd und bereits sehr selbstzufrieden!“338 Folgt man Hazards Ausführungen, war der Bürger zunächst ein Engländer, bis bald darauf in Frankreich ein anderer Idealtypus entstanden sei: der Philosoph.339 Die Zeit wurde reif für einen Voltaire, der dritte Akt endet mit dem lakonischen Satz: „Voltaire kann kommen.“340 Im vierten Akt („Einbildungskraft und Empfindung“) kommen auch wieder Reisende zu Wort, die China und viele andere Länder und Weltgegenden schildern und ins Bild setzen. Hazard vergisst nicht auf den Typus des „Halunken“ oder „Spitzbuben“, die Thematisierung der Hässlichkeit, etc. In diesem Akt geht es folglich um die Kultur im engeren Sinn, die verschiedenen Künste, die Musik, die Oper, das Lachen und Weinen. Hazard bringt die für Europa typische Dynamik zwischen Einheit und Vielfalt auf den Punkt: Ein und dieselbe Art zu denken und somit zu schreiben, gelangte mehr oder weniger in allen Ländern zur Herrschaft. Ordnung, Präzision, geregelte Vernunft, eine solide Schönheit, die sich nur als Preis großer Geduld und angespannter Arbeit erringen läßt, herrschten: darüber besteht kein Zweifel. Aber ist es nicht ebenso unbestreitbar, daß jedes Land diese allgemeine Vorschrift auf seine eigene Manier auslegte, und daß sich infolgedessen selbst noch in dieser gewollten Einheitlichkeit fühlbare Unterschiede, ja sogar Gegensätze geltend machten? 341

Hazard wendet sich hier den Vorstellungen nationaler Kultur zu, die insgesamt noch sehr begrenzt gewesen seien, aber „die universale und alles gleichmachende Vernunft (verlor) ihr Recht gegenüber den nationalen Eigentümlichkeiten.“342 In der Schlussbetrachtung beschreibt Hazard die vielen widersprüchlichen Erscheinungsweisen Europas und ordnet seine kurze Epoche ein: 336 337 338 339 340 341 342

Ebd., S. 280. Ebd., S. 281. Ebd., S. 379. Ebd., S. 385. Ebd., S. 387. Ebd., S. 446. Ebd., S. 452.

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Intellektuelle Die entscheidende Ideenschlacht findet vor 1715 und sogar vor 1700 statt. Die Kühnheiten der Aufklärung in der nach ihr so benannten Epoche [im frz. Original: „Les audaces de l’Aufklärung, de l’époque des lumières …“ – S. 470; W.S.] erscheinen blaß und bescheiden neben den aggressiven Kühnheiten des Tractatus theologico-politicus, neben den schwindelerregenden Kühnheiten der Ethik.343

Gleichwohl bezeichnet Hazard sich und seine Zeitgenoss*innen im Vorwort zum Folgeband über das 18. Jahrhundert als „direkte Nachkommen“ des 18. Jahrhunderts.344 Die dramatische Abfolge von Irritation, Dekonstruktion, Konstruktion und Widerstreit von Vielfalt und Einheit suggeriert eine zeitliche Abfolge, aber die besteht lediglich hinsichtlich des vierten Akts, die anderen drei spielen gleichzeitig. „La pensée européenne“, der Folgeband, ist ein Dreiakter, der im Prinzip dem Schema in „La crise de la conscience européenne“ folgt: Der erste Teil des ersten Bandes von „La pensée européenne“ ist mit „Der Prozess gegen das Christentum“ überschrieben und vereinigt die Vorgänge von Irritation und Dekonstruktion: Das 18. Jahrhundert begnügt sich nicht mit einer Reformation, es will das Kreuz zu Boden schlagen, den Gedanken einer Mitteilung Gottes an die Menschen, einer Offenbarung, auslöschen und die religiöse Auffassung des Lebens vernichten. Hieraus ergibt sich der erste Teil unserer Untersuchung: Der Prozeß gegen das Christentum.345

Der zweite Teil trägt den Titel „La Cité des hommes“, der sich mit den Folgen des genannten Prozesses, sprich der Konstruktion des Neuen anstelle des Alten, auseinandersetzt: ein neues Recht, eine neue Moral, die Transformation des Untertanen in den Bürger, neue Prinzipien in der Erziehung. Der dritte Teil „Désagrégations“ (Zerfall) wird den Eindruck einer allzu „idealen Perfektion“ wieder zerstreuen. Hazard entschuldigt sich ein wenig dafür, dass er seine Ausführungen auf die Philosophen konzentriert habe und daher keine „histoire intellectuelle du dixhuitième siècle“ liefere.346 Natürlich liefert er sie trotzdem. In „Der Prozess gegen das Christentum“ breitet Hazard zuerst das intellektuelle Instrumentarium der Aufklärung anhand zentraler Begriffe und Konzepte aus: Glück, Vernunft und Licht (lumière und lumières). Zur Allgegenwart der Lichtmetapher stellt er fest, dass zum ersten Mal ein Zeitalter sich selbst seinen Namen gegeben habe: Das Licht, die Lichtstrahlen, les lumières, das war die Devise, die sie auf ihre Fahnen schrieben; denn es geschah zum erstenmal, daß eine Epoche ihren Namen selbst wählte. Es begann le siècle des lumières, das Jahrhundert der Aufklärung.347

Unmittelbar daran anschließend geht der Autor auf Kants Antwort auf die Frage, was Aufklärung sei, ein. Es ist interessant zu lesen, dass auch noch für Hazard das 343 344 345 346 347

Ebd., S. 514. Hazard (1946): La pensée européenne, Bd. 1, Préface, S. I. Hazard (1949): Die Herrschaft der Vernunft, Vorwort, S. 24. Hazard (1946): La pensée européenne, Bd. 1, Préface, S. V. Hazard (1949): Die Herrschaft der Vernunft, S. 67.

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deutsche „Aufklärung“ der eigentliche Epochenname ist, den er für das Französische mit „siècle des lumières“ (noch mit kleinem „l“) übersetzt. Hazard schlussfolgert in diesem ersten Teil, „Prozess gegen das Christentum“, dass die Entchristianisierung (kein Begriff von Hazard) durch die Aufklärung bewerkstelligt worden sei. Es ist aber nicht bei einer Dekonstruktion (kein Begriff von Hazard) von Gott, Religion und Glaube geblieben, an die Stelle des Dekonstruierten trat nach Hazard die „Cité de des hommes“ (= zweiter Teil). Schlagwörter sind Naturreligion, Materialismus, Atheismus, Naturwissenschaften, Recht, Moral, Regierung, Erziehung, Ideen, Literatur und Dichtung, Geschichtsschreibung, der Kosmopolit, der „homme de lettres“, der Bürger, der Freimaurer, der Philosoph. Der Encyclopédie ist ein ganzes Kapitel gewidmet, auch wenn sie fortlaufend in den anderen Kapiteln vorkommt. Die Naturwissenschaften sind ein willkommener Anlass auf die schnell aufeinanderfolgenden Akademiegründungen in Europa einzugehen. Die Reihe der neuen Typen – vom Kosmopoliten bis zum Philosophen – verbindet die Neuartigkeit der Vorstellungswelt mit der Neustrukturierung der Gesellschaft, die wiederum mit den Institutionen der für das 18. Jahrhundert charakteristischen Soziabilität verbunden wird. Hazards sympathische Neigung, den Menschen anzusehen, wenn er unterwegs ist, und mit den Aufklärer*innen den Blick immer wieder über Europa hinaus schweifen zu lassen, bleibt auch in diesem Band erhalten. Schauen wir uns die beiden Kapitel über Recht und Regierung noch an. Im Kapitel „Recht“ stellt Hazard der Reihe nach wichtige vor allem naturrechtliche Werke vor, natürlich auch Montesquieus „Esprit des Lois“. Daran schließt er einige Gedanken über die Veränderung der Rechtspraxis an – hatte die naturrechtliche Philosophie einen Einfluss auf die Rechtspraxis? Er antwortet: […]; die Ideen führten eine Veränderung des Lebens herbei. Es gab damals in Europa noch Länder, wo die Inquisition ihre Scheiterhaufen lodern ließ. Wenn diese erloschen sind, wer sollte den Philosophen ihren Anteil an dieser Wohltat abstreiten? 348

Zur Entwicklung der Anschauungen über die Sklaverei schreibt er: Die Sklaverei, die von gewissen Leuten durch die Tatsache der Eroberung, die Bedürfnisse der Kolonisation, die Vorteile für den Handel und den feststehenden Brauch begründet wurde, konnte weder durch die Natur, die all ihren Kindern die gleiche Würde verleiht, noch durch die Vernunft gerechtfertigt werden, die nicht zugeben kann, daß ein Unterschied in der Farbe des Hautpigments die Verdammung zu Elend und Schmach nach sich zieht. Es entstand daher eine geistige Bewegung, die langsam auf Abschaffung der Sklaverei hinarbeitete; es entstand eine gegen die Sklaverei gerichtete Literatur, die auf die öffentliche Meinung und durch diese auf die weltliche Macht wirkte.349

Ähnlich ordnet er die Auswirkungen von Cesare Beccarias „Delle delitti e delle pene“ ein: Durch die Abhandlung über die Verbrechen und Strafen schaffte Beccaria zwar die Tortur nicht sofort ab, aber er bewirkte dadurch, daß sie nach und nach aus den Strafgesetzbüchern

348 Ebd., S. 230. 349 Ebd., S. 230–231.

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Intellektuelle verschwand. In seinem Buche gab es wohl nicht eine Zeile, die nicht auf den Geist der Gesetzgeber und dadurch auf die Gesetze wirkte.350

Das Kapitel über „Recht“ zählt zu den schwächeren im Buch, da die sonst für Hazard typische Verdichtung der Texte zu einem umfassenden Bild nicht stattfindet. Der Horizont bleibt eng, lediglich Missstände des 18. Jahrhunderts werden in der Folge der Rechtsphilosophie abgestellt. Das heißt, es gibt keine Zukunftsperspektive in dem Sinne, dass die Rechtsphilosophie der Aufklärung das moderne Rechtswesen, wenn nicht den Rechtsstaat, grundgelegt hätte. Man vermisst Kants Rechtslehre in diesem Kapitel. Das Kapitel „Regierung“ handelt zuerst vom Gesellschaftsvertrag (ohne speziell auf Rousseau einzugehen, das geschieht erst im dritten Teil in Band II) und ansonsten sehr viel mehr von den Rechten, die wir mit der Aufklärung verbinden: Freiheit, Gleichheit, Eigentum, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Respektierung der Menschenwürde, Gleichbehandlung vor Gericht, Freiheit sich dort aufzuhalten, wo es jemand möchte, alle ökonomischen Freiheiten: „Alle diese Freiheiten verschmelzen zu einem einzigen harmonischen Ganzen: dem liberalen Staat. Schande über den Despotismus!“351 Hazard berichtet über die Kontroversen, die vor allem Gleichheit und Eigentum hervorriefen, darunter die Frage nach der Gleichheit von Frauen und Männern. Bezüglich der Regierungsform habe es kein eindeutiges Votum, sei es für die Monarchie, sei es für die Republik gegeben, entscheidend sei die Bindung an das Gesetz und die innere Balance. Alles in allem habe es eine Neigung zur Monarchie gegeben, wobei das Gewicht des Volkes wuchs, das des Herrschers leichter wurde. Aus dem Untertan wurde der Citoyen. Das Vorbild für dieses Konzept habe der englische Staat, ein liberaler Staat, geliefert. Dies zwingt auch Hazard geradezu, nochmals auf Montesquieu einzugehen, aber er stellt klar, dass es auch andere gab, die das englische Modell lobten, unter anderem Jean-Louis de Lolme (1740–1806), dessen Schrift über die „Constitution d’Angleterre“ von 1771 Furore machte. Hazard belässt es aber bei der Nennung dieses Namens. Völkerrechtlich sei das Verhältnis der Staaten und Völker zueinander als „Société des nations“ gedacht worden – Hazard zitiert hier Emmerich de Vattel.352 In Wirklichkeit zöge sich infolge der Kriegs- und Eroberungsgeschichte Europas eine Blutspur durch die Geschichte. Doch diesem Übel abzuhelfen, sei dem „siècle des lumières“ vorbehalten gewesen. Der Autor meint die Friedenskonzepte, genauer, das Konzept des ewigen Friedens. Hazard befasst sich aber nur mit dem Abbé de Saint-Pierre353 und spielt dabei auf den Völkerbund an, der nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden war: 350 Ebd., S. 234. 351 „Toutes ces libertés se fondaient et s’harmonisaient en une seule image, celle de l’Etat libéral. Honte au despotisme!“ Hazard (1946): La pensée européenne, Bd. 1, S. 244; Hazard (1949): Die Herrschaft der Vernunft, S. 260. 352 Vattel (1758): Le Droit des gens. 353 Hazard bezieht sich auf folgende Schriften: Castel de Saint-Pierre (1712): Mémoire pour rendre la paix perpétuelle en Europe; Castel de Saint-Pierre (1713): Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe.

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Zweihundert Jahre nachdem Abbé de Saint Pierre für sein Projet gestritten hatte, wurde sein Plan wieder aufgenommen. Ein Bund der Nationen, eine Delegiertenversammlung, eine Friedensstadt haben aufgehört ein Traum zu sein und sind Tat geworden. Der Unterschied ist der, daß man die Streitmacht nicht geschaffen hat, die er in den Dienst der großen Sache des Friedens hatte stellen wollen.354

Das erste praktische Resultat der Rechts-, Staats- und Gesellschaftslehre des 18. Jahrhunderts seien die USA gewesen. Namentlich erwähnt Hazard Locke und Montesquieu als jene Autoren, aus denen die Staatsdoktrinen gewonnen worden seien. Es folgte Frankreich mit seiner Revolution. Hazard zitiert mehrere Artikel aus der Menschen- und Bürgerrechtserklärung, die er als Summe der „Arbeit der Philosophen“ interpretiert: „Alle diese Ideen erhielten hier nun ihre endgültige Form, nachdem die vorbereitende Arbeit der Philosophen zum Abschluß gekommen war.“355 Der zweite Band enthält nur einen Teil: „La désagrégation“, der in drei „Bücher“ mit 5, 3, 3 Kapiteln unterteilt ist. In diesem Teil geht es um „Inkohärenzen“ im Gegensatz zum Fokus des ersten Bandes, in dem es um „Kohärenzen“ gegangen sei. Eigentlich geht es um das Ende der Aufklärungsphilosophie: Es bleibt uns also die Aufgabe, in erster Linie die Antinomien zu untersuchen, die in dem Begriff der Natur, von dem das Jahrhundert bewegt wird, enthalten sind; zweitens, den philosophischen Ursprüngen des fühlenden Menschen nachzuspüren, und drittens die divergierenden Arten von Deismus zu ergründen, die alle im Deismus enthalten sind. Denn das sind die Elemente, durch die sich die Aufklärungsphilosophie zersetzt. 356

Ausführlicher als bisher porträtiert Hazard in diesem letzten Teil einzelne Autoren wie Diderot, Voltaire, Lessing, Kant und andere. Themen der beiden ersten Teile werden wieder aufgegriffen und nochmals beleuchtet. Der Schluss enthält, ähnlich wie am Ende von „La crise de la pensée européenne“, eine meisterliche Kulturgeschichte Europas im 18. Jahrhundert auf rund vierzig Seiten. Hauptgesichtspunkt ist erneut die Vielheit in der Einheit, gestützt auf die Mobilität der Menschen, auf kulturelle Transfer- und Austauschprozesse, auf eine reichhaltige Übersetzungstätigkeit, auf die erforderliche Soziabilitätsinfrastruktur. Frankreich wird als Kulturmodell für Europa gezeichnet. Der Blick des Autors reicht bis nach Nordeuropa, nach Polen, nach Russland, nach Ungarn, nach Spanien, nach Italien, selbst wenn insgesamt den Aufklärungen in England bzw. Schottland, Frankreich und Deutschland mehr Text gewidmet wird als den anderen. Hazard war nicht blind für die Gegensätze, die Feindseligkeiten, die Konflikte, Kämpfe, Kriege des 18. Jahrhunderts, den entstehenden Nationalismus, im Gegenteil. In Bezug auf seine eigene Zeit stellte er die Frage, ob es in Europa

354 Hazard (1949): Die Herrschaft der Vernunft, S. 268. 355 „Idées qui ne font que prendre ici leur forme arrêtée, à l’aboutissement du travail des philosophes.“ Hazard (1946): La pensée européenne, Bd. 1, S. 257; Hazard (1949): Die Herrschaft der Vernunft, S. 271. 356 Hazard (1949): Die Herrschaft der Vernunft, S. 393.

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Intellektuelle

nicht doch noch etwas anderes gebe als die destruktiven Kräfte – er schreibt ja während des Zweiten Weltkriegs: Europa muß dennoch eine unzerstörbare Kraft besitzen, da es inmitten unerhörter Katastrophen fortfährt zu leben.357

Diese unzerstörbare Kraft fand Hazard im 18. Jahrhundert, in der Aufklärung, die er in den beiden Büchern „La crise de la pensée européenne“ und „La pensée européenne“ analysiert hatte. Die Aufklärung wird bei ihm zur Grundlage eines Europas, das in der Lage sein wird, aus den Weltkriegstrümmern wieder zur Blüte zu gelangen. Hazard lag richtig, wir haben im Kapitel über die Aufklärung als Praxis im 20. Jahrhundert gesehen, welche Rolle diese für den Prozess der Europäischen Integration spielen sollte. „La pensée européenne“ wird durch einen dritten Band, einen Dokumentationsband, ergänzt. An den Anfang stellte Hazard bibliografische Hinweise, die neben übergreifender Literatur folgende Länder umfassen358: Deutschland, England, Spanien, Frankreich, Ungarn, Italien, Niederlande, Polen, Portugal, Russland, Skandinavische Länder, Dänemark, Schweden, Schweiz. In der übergreifenden Liste figurieren beispielsweise Cassirer und Carl Lotus Becker, bei der Literatur zu Deutschland trifft man wieder auf Hettner, Cay von Brockdorff und auf die weiter oben besprochenen Texte von Dilthey. Zu Frankreich führt Hazard zwei Bücher von Daniel Mornet an, „La pensée française au dix-huitième siècle“ (1926) und „Les origines intellectuelles de la Révolution française“ (1933). Detailforschung findet sich ausgiebig in den Anmerkungen, die den meisten Platz in diesem dritten Band einnehmen. Den Begriff der Identität verwendet Hazard nicht, aber die Identität des Europas, das nach dem Krieg Bestand haben wird, ist die Aufklärung. Dies war Hazards zentrale Botschaft. Er hatte sie nicht vergebens verfasst, wie die eingangs skizzierte Geschichte der Druckauflagen und Übersetzungen der beiden Werke belegt. PARADIGMENWECHSEL NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Mit Carl Lotus Becker kündigte sich bereits die vor allem nach 1945 immer deutlichere Verschiebung des Schwerpunkts der Auseinandersetzung mit der Aufklärung in die USA an. Noch bedeutete das aber keine globalgeschichtliche Erweiterung des Horizonts. Peter J. Gays zweibändiges Werk über die Aufklärung (1967–1969) wurde sofort zu einem Leuchtturm und stellt, chronologisch betrachtet, das auf Hazard nächstfolgende Hauptwerk der Aufklärungsforschung dar, das mit Cassirer und Hazard in einem Atemzug genannt wird. Gleichwohl stammten einige der epo357 Ebd., S. 624. 358 Im französischen Original ist die Reihenfolge alphabetisch, von A wie Allemagne bis S wie Suisse.

Paradigmenwechsel nach dem Zweiten Weltkrieg

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chemachenden Werke der Nachkriegszeit nochmals aus deutscher, aus bundesrepublikanischer Feder. Viele der zunächst im universitären Zusammenhang entstandenen Bücher über die Aufklärung erreichten Popularität und zahlreiche Auflagen, auch als Taschenbücher. Dies verweist auf den gesellschaftlichen Bedarf und das gesellschaftliche Interesse. Nach Faschismus und Nationalsozialismus stellten im Westen weder der Kommunismus Stalins noch Maos für die Mehrheit der Menschen eine politische Option dar, ebenso wenig die aus der Zwischenkriegszeit verbliebenen Diktaturen auf der iberischen Halbinsel. Die liberale Demokratie westlicher Prägung konnte nach 1945 nicht wirklich auf eine ‚stolze‘ Erzählung einer erfolgreichen Realgeschichte gegründet werden. Was aber überwiegend akzeptiert wurde, war der idealistische Rückbezug auf „die Aufklärung“ als Grundlegung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Immerhin konnten die USA als erfolgreiches demokratisches Produkt der Aufklärung interpretiert werden, wenn man so tat, als sei Sklaverei ein abgeschlossenes, ja überwundenes historisches Kapitel, wenn man die massive Diskriminierung der afroamerikanischen Bevölkerung überging und die Einschränkung der Meinungsfreiheit in der McCarthy-Ära leugnete. Als weiteres Modell einer aus der Aufklärung ableitbaren Demokratie konnte das Vereinigte Königreich hingestellt werden, wenn man den britischen Kolonialismus ausblendete. Frankreich schließlich konnte nicht wirklich als Modell fungieren, aber man tat sich leicht damit, Frankreich als jenes Land und jene Zivilisation zu akzeptieren, die die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 geschaffen hatte. Die Forschung machte sich diese vereinfachende Sichtweise nicht zu eigen, aber die Frage nach der Grundlegung der Nachkriegsgegenwart in der Aufklärung bewegte viele und bildete einen vielfach präsenten Subtext. Wie das weiter unten folgende Kapitel „Kritik“ beweist, war diese Haltung ergebnisoffen angelegt. Unter den allgemeinverständlich gefassten populären Publikationen trifft man immer wieder auf den Oxforder Gelehrten Isaiah Berlin (1909–1997), der aus einer Rigaer jüdischen Familie stammte. Er veröffentlichte 1956 ein Taschenbuch zum Preis von 50 US-Cent, in dem er eine allgemeine Einführung in die Aufklärung mit einer kommentierten Anthologie von Textauszügen aus John Locke, Voltaire, George Berkeley, David Hume, Thomas Reid, Condillac, La Mettrie, Johann Georg Hamann und Georg Christoph Lichtenberg verband.359 Das Taschenbuch wurde bis 1984 immer wieder aufgelegt und z. B. auch in Farsi (1966) übersetzt, es wurde weltweit verbreitet.360 Berlin war ein insgesamt einflussreicher Philosoph des Liberalismus des 20. Jahrhunderts, wie es sie inzwischen kaum mehr gibt.361 Der Zusammenhang zwischen Aufklärung und Bürgertum war schon im 19. Jahrhundert erkannt, aber kaum ausgeleuchtet worden. Dieser Zusammenhang 359 Berlin (1956): The Age of Enlightenment. 360 Angaben gemäß KVK. 361 Über I. Berlin vgl. etwa: Brockliss/Robertson, Hg. (2016): Isaiah Berlin and the Enlightenment.

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erfuhr nach 1945 verstärkt Aufmerksamkeit. Das oben besprochene Werk von Groethuysen war eines der ersten gewesen, das dem Anspruch einer unideologischen Erforschung dieses Zusammenhangs entsprechen konnte. In den 1950er Jahren wurde dieser Ansatz vermehrt aufgegriffen und vertieft, unter anderen von Koselleck und Habermas, aber auch von weniger bekannt gewordenen Intellektuellen. Zu nennen ist hier beispielsweise Hans Matthias Wolff (1912–1958) und sein Buch „Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung“ von 1949.362 Wolff kam nach seiner rechtswissenschaftlichen Promotion im Jahr 1934 an der Universität Hamburg im Rahmen weiterer Studien in die USA, wo er an der Brown University studierte. Dort wurde er 1938 in Philosophie promoviert. Er blieb in den USA und machte dort eine Universitätskarriere.363 Wolff arbeitet ideen- und geistesgeschichtlich, verbindet dies aber mit der sozialen Stellung des Bürgertums, das in der höfischen und ständischen Gesellschaft die „Unterschicht“ gebildet habe. Im Barock und Rokoko – Wolffs Alternativbegriffe zu „18. Jahrhundert“ – habe sich ein entscheidender Wandel angebahnt: „Die Unterschicht forderte Anteil am geistigen Leben und Umgestaltung des geistigen Lebens in ihrem Sinne; sie verlangte eine Weltanschauung, die die bürgerliche Lebensweise aus der Vernunft begründete und dadurch auf eine intellektuelle Grundlage stellte.“364 Eine Philosophie, die dies geleistet hätte, habe es nicht gegeben, es sei um nichts weniger gegangen als nachzuweisen „daß die Lebensweise des Bürgers der wahren Bestimmung des Menschen entsprach.“365 Wolff sieht Christian Thomasius als „Begründer der deutschen Aufklärung“, als einen Denker, „[der] den Prozeß der Intellektualisierung der Unterschicht einleitete“.366 Trotz dieses vielversprechenden Auftakts und zweier Kapitel zum „Geist des Kapitalismus“ entwickelt Wolff keine historische Bürgertums-These, wie es später Koselleck in „Kritik und Krise“ sowie Habermas in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ – beide führen Wolffs Buch nicht an – tun sollten. Wolff arbeitete in den USA, publizierte aber auf Deutsch, er war Arbeitsmigrant, aber kein Migrant aufgrund von Verfolgung wie Adorno, Arendt, Horkheimer und viele andere. Das mag ein wenig erklären, warum seine Studie damals in der Rezeption etwas unterging. Die allmähliche Verlagerung des Schwerpunkts der intellektuellen Auseinandersetzung mit der Aufklärung in die USA brachte Aufklärung und Demokratie362 Wolff (1963 [1949]): Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung. Durchgesehen und eingeleitet von Karl S. Guthke. Das Vorwort von Wolff ist auf Berkeley, Kalifornien, im Sommer 1949 datiert, das von Guthke zur 2. Auflage auf „University of California, Berkeley, Im Januar 1962“. 363 Zur Person s. University of California: In Memoriam, April 1960. https://tinyurl.com/ w39y7h76. 364 Wolff (1963 [1949]): Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, S. 23. 365 Ebd., S. 23. 366 Ebd., S. 24.

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geschichte, die Demokratie als Resultat der Aufklärung, enger zusammen. Dies stand dem kritischen Ansatz von Horkheimer/Adorno (s. Kapitel „Kritik“) und anderen durchaus entgegen, erwies sich aber als wirkungsvoller. Michel Foucault fragte Mitte der 1970er Jahre ebenfalls nach den realhistorischen Ergebnissen der Aufklärung, seine Antworten waren aber subtiler als die Behauptung eines Zusammenhanges zwischen Aufklärung und Totalitarismus oder Aufklärung und „totalitärer Demokratie“. Er befasste sich mit den biopolitischen „Technologien der Macht“, in der „Absicht, die Geschichte der Gegenwart zu schreiben“.367 Das 18. Jahrhundert und die Aufklärung haben bei Foucault in mehreren Werken Aufmerksamkeit gefunden, nicht nur in „Überwachen und Strafen“. Aber dieses Buch aus dem Jahr 1975 erreichte einen durchschlagenden internationalen Rezeptionserfolg, längst kann es als geradezu populär gelten. Mit Foucault wird Aufklärungsforschung in ungeahnter Weise Teil der populären Praxis der Aufklärung. Kein anderes Buch hat seitdem dermaßen und global das Denken über die Aufklärung geprägt, doch gerät es langsam in den Schatten von Jonathan I. Israels drei Bänden zur Aufklärung, die nach der Jahrtausendwende erschienen (s. u.). Die im Folgenden diskutierten Studien gehören zu den einflussreich(st)en der Nachkriegszeit, auch wenn ihre Verbreitung in Bibliotheken weltweit gemäß WorldCat Identities368 sehr unterschiedlich ist (Grafik 7).

Grafik 7: Verbreitung der einflussreichsten Bücher über die Aufklärung nach dem Zweiten Weltkrieg in Bibliotheken weltweit lt. WorldCat Identities (Stand: Dezember 2020).

367 Foucault (1981 [1976]): Überwachen und Strafen [frz. Orig.-Ausg. 1975], S. 43. 368 Die Zahlen erfassen sämtliche Ausgaben und Übersetzungen eines bestimmten Werks, von denen die an WorldCat beteiligten Bibliotheken Datensätze eingespeist haben. Datenstand: Dezember 2020. Die Daten pro Person und Werk werden in https://worldcat.org/identities/ zur Verfügung gestellt.

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REINHART KOSELLECK Im Titel der im Lauf der Jahre sehr bekannt gewordenen Dissertation von Reinhart Koselleck (1923–2006) aus dem Jahr 1954 (1959 gedruckt) kommt das Wort „Aufklärung“ nicht vor – und doch geht es zentral um „die Aufklärung“: „Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“.369 Koselleck diagnostiziert gleich im ersten Satz der Einleitung für seine eigene Zeit, die Mitte der 1950er Jahre, eine Weltkrise, deren „Wurzel“ oder auch „Beginn“ im 18. Jahrhundert liege.370 Die Aufklärung wiederum entstehe durch den Absolutismus, gegen den sie sich kritisch gewandt habe. Selbst, als Veranstaltung des Bürgertums, ist sie Verursacherin jener Krise, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reichte. Bis heute wird Kosellecks Text kontrovers diskutiert, oft geht es aber nur noch darum, Koselleck in die eine oder die andere politische Gesinnungsgruppe in Deutschland nach 1945 einzuordnen. Wie sehr war er Carl Schmitts Theorien verhaftet? Hatte er überhaupt eine liberale Gesinnung? War er ein Gegner der Aufklärung?371 Das Vorwort der Druckfassung ist auf März 1959 datiert, das Literaturverzeichnis führt Schriften mit Erscheinungsjahren bis einschließlich 1956 auf. Angeführt ist die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno, allerdings spielt sie für den Text keine Rolle und taucht nicht einmal in einer Anmerkung auf. Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (dt. 1955) wird in Anmerkung 32 des ersten Kapitels im Zusammenhang von Hobbes kurz diskutiert. Nicht im Literaturverzeichnis scheint auf: Maurice Merleau-Ponty „Phénoménologie de la perception“ (Paris 1945), die Schrift figuriert jedoch in Anmerkung 193 des zweiten Kapitels im Zusammenhang des für Koselleck wichtigen Begriffs der „Hypokrisie“. Alles in allem ist die Einbindung der Analysen in die Debatten seiner Zeit bei Koselleck kaum vorhanden – und trotzdem scheint den Zeitgenoss*innen der zeitgeschichtliche Zusammenhang auf der Hand gelegen zu haben. Koselleck versteht die Aufklärung als Kritik, wobei „Kritik“ einen historischen Prozess ausmacht. Damit lässt er die rein ideen- bzw. philosophiegeschichtliche Betrachtung hinter sich, da er den entscheidenden sozialen Akteur, das Bürgertum, das in Europa entstand, in einer sozialhistorischen Perspektive in den Mittelpunkt stellt. Die Denkfigur von der Aufklärung als Gegnerin des Absolutismus und als Siegerin über diesen in der Französischen Revolution, einerseits, und, andererseits, zugleich als Auslöserin einer lang anhaltenden weltweiten Krise – das „weltweit“ gehört zur Aufklärung – diese Denkfigur erwies sich als zukunftsträchtig für die weitere Auseinandersetzung mit der Aufklärung.

369 Koselleck (1959): Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. 370 Ebd., S. 1, S. 2. 371 Zusammenfassung des Diskussionsstandes: Quélennec (2019): Le jeune Reinhart Koselleck et les Lumières.

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Wie muss man sich den Zusammenhang zwischen Absolutismus und Aufklärung vorstellen? Koselleck erläutert diesen so: Der Aufbruch der bürgerlichen Intelligenz erfolgt aus dem privaten Innenraum, auf den der Staat seine Untertanen beschränkt hatte. Jeder Schritt nach außen ist ein Schritt ans Licht, ein Akt der Aufklärung. Die Aufklärung nimmt ihren Siegeszug im gleichen Maße als sie den privaten Innenraum zur Öffentlichkeit ausweitet. Ohne sich ihres privaten Charakters zu begeben, wird die Öffentlichkeit zum Forum der Gesellschaft, die den gesamten Staat durchsetzt. Schließlich wird die Gesellschaft anpochen an den Türen der politischen Machthaber, um auch hier Öffentlichkeit zu fordern und Einlaß zu erheischen. 372

Das vom Staat nicht besetzte Feld der Moral wird von der Aufklärung besetzt, sodass „Politik“ als Feld des Staates und „Moral“ als Feld der Gesellschaft letztlich in ein sowohl dualistisches wie dialektisches Verhältnis getrieben werden. Gegensatz und Zusammenhang beider bilden das Rückgrat der Koselleck’schen Argumentation. Das intellektuelle Hauptinstrument der Aufklärung war die „Kritik“, das Koselleck von der philologischen Bibelkritik eines Richard Simon (1678) über die Encyclopédie bis zu den Vernunftkritiken Kants ein Jahrhundert später historisch darlegt: Die Etappen der Kritik, die mit Simon, Bayle, Voltaire, Diderot und Kant umrissen wurden, zeugen von der zunehmenden politischen Bedeutsamkeit, die dem Begriff der Kritik im achtzehnten Jahrhundert zukommt. Das Politicum der Kritik lag nicht in der verbalen Bedeutung dessen, was unter ihr verstanden wurde, sondern entsprang jeweils dem Verhältnis, das sich aus der Trennung des „règne de la critique“ und dem Staat zwischen diesen beiden Bereichen ergab.373

Die Kritik setzte mit der Religionskritik ein und wurde nach und nach politisch, wurde aber weiterhin als unpolitisch deklariert. So wurde aus „Kritik“ „Hypokrisie“. Die Aufklärung verfiel einem „Dualismus“: Gesetzte Begriffe setzten ihre Gegenbegriffe, die im selben Vollzuge abgewertet und meist auf diese Weise „kritisiert“ wurden. Der unbewältigte Irrtum, in dem die Aufklärung befangen blieb, ihre geschichtliche Hypokrisie bestand darin, in dieser Negation bereits eine politische Position zu erblicken. Die dualistischen Spaltungen, derer sich die Kritiker bedienten, erwiesen sich damit als eine einzige Paradoxie: sie dienten als Ferment, alle Unterschiede und Gegensätze zu vermeiden, d. h. die dualistisch konstruierten Spannungen aufzuheben, aus denen die Aufklärung gerade ihre Evidenz bezog.374

Im Gegensatz zu „Kritik“ sei „Krise“ kein „zentraler Begriff“ des 18. Jahrhunderts gewesen, aber es habe eine „Wirklichkeit der Krise“ gegeben375: Die Wirklichkeit der Krise ist für die geistigen Vertreter der neuen Gesellschaft nichts anderes als ein in das Politische übertragener Kampf vermeintlich polarer Kräfte. […] Die politische Entscheidung wird zum Entscheid eines moralischen Prozesses. Auch damit wurde die 372 373 374 375

Koselleck (1959): Kritik und Krise, S. 41. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103. Ebd., Kapitel 3, Abschnitt III (beginnend S. 132).

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Intellektuelle Krise moralisch verschärft, blieb aber als politische Krise verdeckt. Diese Verdeckung als diese Verdeckung zu verschleiern ist die geschichtliche Funktion weiterhin der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Die Geschichte wird nur geschichtsphilosophisch erfahren. 376

Der Begriff der „Krise“ sei von Rousseau – „dieser erste Demokrat“377 – in die Debatte eingeführt worden: Rousseau, der als erster seine Kritik nicht nur gegen den bestehenden Staat, sondern mit gleicher Schärfe gegen die den Staat kritisierende Gesellschaft gerichtet hatte, erfaßte ihr Wechselverhältnis auch als erster unter dem Begriff der Krise.378

Rousseau denkt aber, nach Koselleck, auch die Diktatur und den Terror, er erscheint kaum als der „Demokrat“, als den ihn der Autor bezeichnet hat. Ein anderer Aufklärer, der mit dem Begriff der Krise arbeitete, sei Diderot gewesen, der am Ende der Krise ein Entweder/Oder zwischen Sklaverei und Freiheit vorhersagte.379 Ausdrücklich mit dem Begriff operierte auch Thomas Paine, der sich die Zeitschrift „The Crisis“ schuf.380 Bis zu einem gewissen Grad widerspricht Koselleck seiner eigenen Diagnose, dass „Krise“ kein zentraler Begriff gewesen sei, seine Ausführungen und wörtlichen Zitate vermitteln einen ganz anderen Eindruck. „Aufklärung“ bedeutet auch bei Koselleck, wie bei vielen seiner Vorgänger, englische, französische und deutsche Aufklärung. Das 17. Jahrhundert als Grundlegung bleibt sehr präsent. Der Autor knüpft die ideengeschichtlichen Aspekte an die Sozialgruppen, die deren Träger wurden: Die Gelehrtenrepublik, die Freimaurer (und Illuminaten), und das Bürgertum im engeren Sinn (Bankiers, Finanziers, Kaufleute, Steuerpächter, Amtsadel usw.). Neu ist, dass er sich von der oft üblichen Versklavung des wissenschaftlichen Geistes (der Gegenwart) unter den alles beherrschenden Vernunftbegriff frei macht und stattdessen den aufklärerischen Begriff der „Kritik“ in den Mittelpunkt setzt, der zugleich eine praktische Tätigkeit bezeichnet, das Kritisieren, das heißt das Unterscheiden, voneinander Scheiden. „Scheiden“ als Kennzeichen der Aufklärung war auch eine Beobachtung von Karl Joël gewesen, dessen Darlegungen zur Aufklärung Koselleck aber womöglich nicht gekannt hat.381 Die Anwendung des Instruments der Kritik führt schließlich zur „geschichtsphilosophische[n] Identifikation von Plan und Geschichte“.382 Die Aufklärung gebiert die Geschichtsphilosophie – nach Koselleck „die indirekt politische Macht schlechthin“.383 Hierbei weist Koselleck den Freimaurern, Illuminaten und anderen vergleichbaren Geheimbünden eine entscheidende Funktion zu.

376 377 378 379 380 381 382 383

Ebd., S. 132–133. Ebd., S. 135. Ebd., S. 133. Ebd., S. 144. Ebd., S. 152. Joël wird in den Anmerkungen und im Literaturverzeichnis bei Koselleck nicht aufgeführt. Koselleck (1959): Kritik und Krise, S. 112. Ebd., S. 113.

Robert Roswell Palmer

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Kosellecks „Aufklärung“ unterscheidet sich von den Auffassungen seiner wissenschaftlichen Vorgänger erheblich. Gegenstand der Geschichtsphilosophie sei das Ende des (absolutistischen) Staates gewesen, sie habe dabei die Revolution impliziert, zugleich diese aber verdeckt. Koselleck verfällt hier nicht den bereits zeitgenössischen Verschwörungstheorien über die Freimaurer und Illuminaten, sondern legt einen intellektuellen Mechanismus frei, den er ja bezeichnenderweise im Buchtitel als „Pathogenese“ charakterisiert. „Aufklärung“ ist bei Koselleck nicht die Grundlegung des modernen Rechtsstaats. Sie ist es für diesen Autor so wenig, dass er nicht einmal eine solche Funktion dementieren muss. Er gehört aber zu den Autoren, die versuchen, die Aufklärung geschichtstheoretisch als historischen Prozess zu begreifen, der gesellschaftlich verortbar ist. Gleichwohl bleibt die gesellschaftliche Verortung im Bürgertum pauschal und wird nicht vertieft. Kosellecks bürgerliche Gesellschaft ist eine im Vorhinein verurteilte Gesellschaft, der durch die Freilegung ihrer Pathogenese im 18. Jahrhundert gewissermaßen nachträglich der Prozess gemacht wird. Bürgertumskritik passte sehr gut in die 1950er Jahre, auch wenn deren große Zeit in den 1960ern stattfand. Koselleck führt im Grunde Horkheimers „bürgerliche Geschichtsphilosophie“ von 1930 weiter, er führt diesen Text im Literaturverzeichnis auf, diskutiert ihn aber nicht ausdrücklich. ROBERT ROSWELL PALMER Im selben Jahr, als Kosellecks Dissertation als Buch erschien (1959), veröffentlichte Robert Roswell Palmer (1909–2002) bei Princeton University Press den ersten Band von „The Age of Democratic Revolution“. Band 2 erschien 1964.384 Die Besonderheit des Buches in 2 Bänden ist der Umstand, dass Palmer die USA und Europa vergleicht und sich bezüglich Europa nicht auf den atlantischen Westen beschränkt, sondern Mittel-, Ostmittel- und Osteuropa einbezieht. Es gibt Seiten zu den skandinavischen Ländern, zu Italien und zur Iberischen Halbinsel, zu Griechenland, das im 18. Jahrhundert noch osmanisch beherrscht wurde. Die Aufklärungsforschung selber hatte noch nicht diesen geografisch weiten Blick. Die „democratic revolution“ wurzelt nach Palmer in der Aufklärung, aber diese tritt nicht als Hauptakteurin auf. Autoren wie Montesquieu, Rousseau und Voltaire werden natürlich zitiert, aber sie bedeuten nur Material unter vielem anderen. Eine spezifisch „amerikanische Aufklärung“ kennt Palmer nicht. Im ersten Kapitel des ersten Bandes skizziert der Autor einen Bezug auf die Weltlage Ende der 1950er Jahre: Recently, probably because we live in a period of world revolution ourselves, there has been more tendency to see an analogous phenomenon at the close of the eighteenth century. Alfred Cobban and David Thomson in England have spoken of a kind of Democratic International at 384 Palmer (1959): The Age of Democratic Revolution. Bd. 1: The Challenge; Palmer (1964): The Age of the Democratic Revolution. Bd. 2: The Struggle.

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Intellektuelle that time, and Louis Gottschalk of Chicago has stressed the idea of a world revolution of which the American and French Revolutions were a part.385

Palmer steht dieser These jedoch skeptisch gegenüber, vor allem sieht er sie im Licht der damals vorhandenen Forschung als empirisch nicht ausreichend untermauert an. Einen Vergleich mit „the revolution“ („of our own time“), das heißt der kommunistischen, vor allem sowjetischen und chinesischen, lehnt er ab. Palmer stellt fest, dass es schon vor 1800 den Gebrauch von „democracy“ und „democrat“ gegeben habe386 (was in der Forschung z. T. in Frage gestellt werde) und dass das Wort am besten passe, um diese revolutionäre Zeit zu charakterisieren. Dennoch seien die Begriffe eher Teil der gelehrten Sprache gewesen „without emotional impact“.387 Konstitutionelle Monarchie und Demokratie seien teilweise synonym verstanden worden. Als Fremd- oder Selbstbezeichnung seien „Demokrat“ und „Aristokrat“ in den revolutionären Umbrüchen seit den 1780er Jahren aufgekommen. Vor allem die französischen Jakobiner verwendeten diese Wörter häufiger, sie traten aber im ganzen Gebiet des Revolutionsgeschehens auf. In den USA entstanden ab 1793 mehr als ein Dutzend „Democratic Societies“: It is, therefore, no anachronism to apply the word „democratic“ to the eighteenth-century revolution. It was the last decade of the century that brought the word out of the study and into actual politics.388

Im neunten Kapitel behandelt der Autor „Europe and the American Revolution“ und kommt zu folgendem Schluss: The American Revolution coincided with the climax of the Age of Enlightenment. It was itself, in some degree, the product of this age. There were many in Europe, as there were in America, who saw in the American Revolution a lesson and an encouragement for mankind. It proved that the liberal ideas of the Enlightenment might be put into practice. It showed, or was assumed to show, that ideas of the rights of man and the social contract, of liberty and equality, of responsible citizenship and popular sovereignty, of religious freedom, freedom of thought and speech, separation of powers and deliberately contrived written constitutions, need not remain in the realm of speculation, among the writers of books, but could be made the actual fabric of public life among real people, in this world, now. 389

Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte interpretiert er im Grunde als den wichtigsten Nachlass jener Epoche: „The Declaration of 1789, by laying down the principles of the modern democratic state, remains the chief single document of the Revolution of the Western World.“390 Der zweite Band befasst sich stärker mit den Revolutionsdynamiken und deren Ergebnissen. The present volume traces the fortunes of both revolution and counter-revolution to about the year 1800. By that time, it is argued, although counter-revolutionary or aristocratic forces had 385 386 387 388 389 390

Palmer (1959): The Age of Democratic Revolution. Bd. 1, S. 8. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd., S. 20. Ebd., S. 239–240. Ebd., S. 488.

Alfred Cobban

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prevailed in some countries, the new or democratic view had established itself, in a way less than ideal, against attempts of its adversaries to put it down.391

Für die US-amerikanische Interpretation der Aufklärung in den 1960er Jahren ist dieser zweite Band weniger ergiebig und soll hier deshalb nicht resümiert werden. Palmers Untersuchung steht prinzipiell für eine Forschungsrichtung, die im Kontext der Siege der britischen und US-amerikanischen Demokratie sowie der französischen die revolutionären Ursprünge der westlichen Demokratie betonte. Zu diesen Studien lässt sich auch Barrington Moores „Social Origins of Dictatorship and Democracy“ (1966) zählen.392 Moore ging bezüglich der englischen, französischen und US-amerikanischen „kapitalistischen Demokratie“ von Revolutionen aus (im Fall der USA vom Bürgerkrieg), wendete sein Augenmerk im Wesentlichen aber den agrarischen Produktionsverhältnissen zu, die die Grundlage seiner Argumentation liefern. Dem stellte er China (Kommunismus), Japan (Faschismus) und Indien (asiatische Demokratie) vergleichend zur Seite. Die Aufklärung berücksichtigte er dabei nicht. ALFRED COBBAN Alfred Cobban (1901–1968) publizierte 1960 „In Search of Humanity. The Role of the Enlightenment in Modern History“.393 Das Vorwort ist datiert auf „University College London, 1959“, das Buch geht auf eine Vorlesungsreihe 1958 an der Harvard University zurück. Im Vorwort stellt Cobban die skeptische Frage, ob die „Aufklärung“ überhaupt in Deutschland Fuß gefasst habe; er konzentriert sich auf die englische und französische Aufklärung. In der Einleitung befasst er sich mit der Geschichte von Gewaltanwendung gegenüber Menschen. Die Aufklärung habe in dieser Hinsicht eine „ethische Revolution“ bedeutet. Die Aufklärer seien zu dem Schluss gelangt, dass die Zufügung von Gewalt, Schmerz und Qual keinerlei höherem gesellschaftlichen Ziel diene, das solches Verhalten rechtfertigen könnte.394 Das heißt nicht, dass nicht nach der Aufklärung, speziell im 20. Jahrhundert in den todbringenden totalitären Systemen, trotzdem solche Ziele zur Rechtfertigung von millionenfachem Töten argumentiert worden seien. Die Ursprünge des Totalitarismus könne man aber nicht in der Aufklärung sehen; Cobban weist entsprechende Thesen Talmons (Kapitel „Kritik“) zur Gänze zurück.395 Der Autor konstatiert einen Niedergang der politischen Theorie in seiner Zeit, das 18. Jahrhundert sei „the last great age of fundamental political thinking“ 391 Palmer (1964): The Age of Democratic Revolution. Bd. 2, Preface, datiert auf Mai 1964, S. V. 392 Moore (1967 [1966]): Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World. 393 Cobban (1960): In Search of Humanity. 394 Ebd., S. 17. 395 Ebd., S. 182–185.

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Intellektuelle

gewesen.396 Diesem Niedergang möchte er etwas entgegensetzen: „To restore ethical values means to revive political theory, and to achieve this what is needed is a return to the ideas of the eighteenth century, to pick up the threads where they were then dropped or broken off.“397 Natürlich könne man in Wirklichkeit nicht nahtlos an der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts ansetzen, aber es gebe sehr gute Gründe für eine Befassung mit dieser: Without artificial simplification, however, it may perhaps be taken as generally agreed that this period was marked by an important and continuous trend of thought which effected a revolutionary change in the outlook of the educated classes in Europe. If it is true that this was the last great creative age in moral and political thought, and if there is any justification for seeing the problem of the twentieth century as essentially a problem of political morality, then there is evidently a case for a reconsideration of what seems to be relevant among the ideas of the seventeenth and eighteenth centuries. This does not mean only a study of their political thinking, but the identification, discovery and repossession of a whole pattern of thought.398

Cobban befasst sich dann zunächst mit den „Grundlagen der Aufklärung“, die im 16. und 17., z. T. im frühen 18. Jahrhundert gelegt wurden. Das sind für ihn das wissenschaftliche Denken, verbunden mit dem skeptischen Denken und dem Denken in Prinzipien der Toleranz. Speziell geht er auf Lockes Wissenstheorie und auf breiterer Textgrundlage auf die Einführung von Moralfragen in die Debatte ein. Dem folgt die Entwicklung des politischen Liberalismus. Montesquieus Gewaltenteilung – Cobban wählt als Überschrift „Rule of Law“ – ist wieder ein eigenes Kapitel zugedacht. Der dritte Teil hat dann die eigentliche Aufklärung zum Gegenstand. Schlagworte sind „Materialismus“, Voltaires „Krieg“ gegen Religion, die französischen Utilitaristen, Hume und der philosophische Skeptizismus, Diderot und Wissenschaft und Moral, Rousseau sowie, den Teil abschließend, „Politics of the Enlightenment“. In diesem 18. Kapitel wendet sich Cobban gegen die Vernachlässigung des politischen Denkens der Aufklärung, das doch „the culminating feature“ jener ausmache. Damit meint er inhaltlich: The philosophes […] took as their end the happiness of individuals. This they believed to be largely dependent on environment and education, and these in turn on social institutions and government, which therefore held the key to a happier society. 399

Die inhaltliche Ausgestaltung dieses Features war gleichwohl sehr heterogen, die Ideen reichten vom Aufgeklärten Absolutismus bis zur Demokratie. Der Autor trennt zwischen dem politischen Denken der Aufklärung und dem der Revolution, allerdings interpretiert auch er die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte als „an expression of the ideals of the Enlightenment“.400

396 397 398 399 400

Ebd., S. 27. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 161. Ebd., S. 208.

Jürgen Habermas

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Cobban reserviert die Aufklärung als historisches Phänomen im Großen und Ganzen für den Westen: The Enlightenment of the seventeenth and eighteenth centuries […] was confined to France, the Low Countries, some of the Swiss cantons, Great Britain and its American colonies, and to a certain extent Scandinavia, with a minor influence on a small educated class in Spain, Italy and Germany. It never really crossed the limes Germanici or became translated into German. The Slav world remained almost untouched and the extra-European world completely immune.401

Dieses Verdikt weiter zu kommentieren, erübrigt sich. Cobban ging in seiner verdiktischen Interpretation der Beziehungen zwischen Aufklärung und Gegenwart noch weiter: […] if we judge the Enlightenment by something more modest than worldwide success, we must admit that where it took root its influence was lasting. Its tolerant, liberal, scientific, reforming ideals have survived in those nations of Western Europe, and their overseas extensions, where they first became influential; and the great totalitarian dictatorships which shortly dominated the world now seem less the portentous anticipation of the future than the last monstrous survivals of an earlier age.402

Im von ihm definierten historischen Raum der Aufklärung sieht Cobban in der eigenen Gegenwart die Erfolge der Aufklärung: Aberglaube – eingedämmt; religiöse Toleranz – vorherrschend; Meinungsfreiheit – immer weniger eingeschränkt; liberale politische Ideen – weithin akzeptiert; Regierungswillkür – stark reduziert; Recht – dient hauptsächlich dem Schutz des Individuums, sehr viel weniger seiner Unterdrückung; breiter Konsens über die Aufgabe der Regierung – das Wohlergehen aller.403 Dies und weiteres macht nach Cobban die „Western civilization“ aus. Vergleicht man die knapp 40 bzw. knapp 60 Jahre später publizierten Bücher von Postman und Pinker (Kapitel „Orientierung“), fällt auf, dass sie dieselbe Grundthese wie Cobban vertreten und die Erneuerung des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Denkens und Handelns aus der Aufklärung heraus entfalten, so als sei seitdem, ganz wie Cobban meinte, nichts Besseres auf den Markt der Ideen gelangt. Anders als Cobban schließt aber beispielsweise Pinker eine deutsche Aufklärung nicht aus, vielmehr stützt er sich kräftig auf Kant. JÜRGEN HABERMAS 1962 wurde erstmals Jürgen Habermas’ (* 1929) „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ publiziert, ein Werk, dessen Einfluss seitdem kaum überschätzt werden kann.404 401 402 403 404

Ebd., S. 224. Ebd. Ebd., S. 224–225. Im Folgenden wird nach der Suhrkamp-Ausgabe von 1990 zitiert: Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit.

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Intellektuelle

Die bürgerliche Öffentlichkeit gehört zur Aufklärung wie diese zur bürgerlichen Öffentlichkeit gehört, allerdings ist „die Aufklärung“ nicht der Fokus der berühmten Habermas’schen Schrift. Viel häufiger schreibt er schlicht vom 18. Jahrhundert oder gelegentlich vom „aufgeklärten Zeitalter“. Dennoch bestärkt er die Auffassung, dass die vorwiegend im 18. Jahrhundert, also in dem aufgeklärten Zeitalter, entstandene bürgerliche Öffentlichkeit auch etwas mit dem modernen Rechtsstaat zu tun hat, sodass durch die Hintertür der Zusammenhang von Aufklärung und Rechtsstaat bekräftigt wird: Die historischen Exkurse […] können belegen, daß Öffentlichkeit während des 18. Jahrhunderts politische Funktionen übernimmt, aber die Art der Funktion selbst ist nur aus jener spezifischen Phase der Entwicklungsgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft im ganzen zu begreifen, in der sich Warenverkehr und gesellschaftliche Arbeit von staatlichen Direktiven weitgehend emanzipieren. In der politischen Ordnung, mit der dieser Prozeß zu seinem vorläufigen Abschluß gelangt, nimmt die Öffentlichkeit nicht zufällig eine zentrale Stellung ein: sie wird geradezu das Organisationsprinzip der bürgerlichen Rechtsstaaten mit parlamentarischer Regierungsform, etwa in England nach der großen Reformbill von 1832; gleiches gilt, mit gewissen Einschränkungen, auch für die sogenannten konstitutionellen Monarchien nach dem Muster der belgischen Verfassung von 1830.405

§ 11 ist betitelt als „Die widerspruchsvolle Institutionalisierung der Öffentlichkeit im bürgerlichen Rechtsstaat“. Das bürgerliche Wirtschaftssystem, der freie Markt, braucht Berechenbarkeit. Die Bindung der Staatsgewalt an Gesetzgebung schafft Berechenbarkeit der Verhältnisse. Unter Bezug auf Max Weber schreibt Habermas: […] die Kalkulation der Profitchancen verlangt einen Verkehr, der sich gemäß berechenbaren Erwartungen abspielt. Kompetenzmäßigkeit und Justizförmigkeit sind daher Kriterien des bürgerlichen Rechtsstaats; „rationale“ Verwaltung und „unabhängige“ Justiz sind organisatorisch die Voraussetzung. Das Gesetz selber, an das Exekutive und Justiz sich zu halten haben, muß für jedermann gleichermaßen verbindlich sein; es darf prinzipiell keine Dispensierung oder Privilegierung erlauben.406

Es geht nicht abstrakt um „den“ Rechtsstaat, sondern um einen spezifischen, den der bürgerlichen Gesellschaft. Vorstellbar sei auch, wie bei den Physiokraten, der „legale Despotismus“ als Form von Rechtsstaatlichkeit. Hier könnte man ergänzend zu Habermas auch auf Montesquieu und Kant verweisen, die zwischen Rechtsstaat und zumindest Monarchie keinen Gegensatz erkannten. Jedoch: Der aufgeklärte Monarch der Physiokraten bleibt deshalb pure Fiktion: im Konflikt der Klasseninteressen würde Rechtsstaatlichkeit nicht schon per se eine Gesetzgebung nach Maßgabe der Bedürfnisse bürgerlichen Verkehrs garantieren. Erst mit der Gesetzgebungskompetenz selbst erstreitet sich das Publikum der Privatleute diese Gewißheit. Der Rechtsstaat als ein bürgerlicher etabliert die politisch fungierende Öffentlichkeit als Staatsorgan, um den Zusammenhang von Gesetz und öffentlicher Meinung institutionell zu sichern. 407

Habermas führt weiter aus: 405 Ebd., § 10, 1. Absatz, S. 88; S. 93 nochmals „bürgerlicher Rechtsstaat“. 406 Ebd., S. 95. 407 Ebd., S. 95–96.

Peter Jack Gay

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Wo die rechtsstaatliche Ordnung […], wie auf dem Kontinent, in einem zugrundegelegten Gesetz, eben dem Grundgesetz oder der Verfassung ausdrücklich sanktioniert wird, finden sich darin deutlich die Funktionen der Öffentlichkeit artikuliert. Eine Gruppe von Grundrechten bezieht sich auf die Sphäre des räsonnierenden Publikums (Freiheit der Meinung und der Rede, Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit usw.) und auf die politische Funktion der Privatleute in dieser Öffentlichkeit (Petitionsrecht, gleiches Wahl- und Stimmrecht usw.). Eine andere Gruppe von Grundrechten bezieht sich auf den in der Intimsphäre der patriarchalischen Kleinfamilie begründeten Freiheitsstatus des einzelnen (persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung usw.). Die dritte Gruppe von Grundrechten bezieht sich auf den Verkehr der Privateigentümer in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft (Gleichheit vor dem Gesetz, Schutz des Privateigentums usw.). Die Grundrechte garantieren mithin die Sphären der Öffentlichkeit und des Privaten (mit der Intimsphäre als deren Kern); sie garantieren die Institutionen und Instrumente des Publikums einerseits (Presse, Parteien) und die Basis der Privatautonomie (Familie und Eigentum) andererseits; sie garantieren schließlich die Funktionen der Privatleute, ihre politischen als Staatsbürger ebenso wie ihre ökonomischen als Warenbesitzer (und als „Menschen“ die der individuellen Kommunikation, z. B. durch das Briefgeheimnis).408

Die Aufklärung wird als solche kaum auf den Begriff gebracht, man könnte auch sagen, Habermas sieht dazu keine Notwendigkeit. Der Begriff „Aufklärung“ tritt vor allem als Quellenbegriff auf, insbesondere im Abschnitt über Kant, in dem Habermas an die berühmte Definition von „Aufklärung“ durch Kant anknüpft. Der geistes- und begriffsgeschichtliche Hintergrund von „public opinion“ bzw. „opinion publique“ bzw. „öffentliche Meinung“ wird in § 12 erörtert. Es handelt sich überwiegend um ein Stück Begriffsgeschichte, das Habermas mit Hobbes startet, über Bayle, Locke, Rousseau, die Physiokraten und manche andere bis zu Edmund Burke und Kant weiterführt. Die schwache Stellung des Begriffs „Aufklärung“ darf jedoch nicht überbewertet werden. Das Ergebnis des Buches ist eindeutig: Die Aufklärung führt zum Rechtsstaat, dem Bürgerlichen Rechtsstaat, dessen Grundprinzipien aber nach wie vor generell die des Rechtsstaats auch heute noch sind. PETER JACK GAY Ein nächstes, epochemachendes Werk, wurde 1967 veröffentlicht, der erste Band von Peter Jack Gays (1923–2015) „The Enlightenment: An Interpretation“. Band 2 folgte 1969.409 Der als Peter Joachim Fröhlich 1923 in Berlin in eine jüdische Familie Geborene emigrierte 1939 mit seinen Eltern und gelangte nach einer Zwischenstation in Kuba 1941 in die USA. Gay gibt im Vorwort zum ersten Band an410, seit 1959 an diesem Band gearbeitet zu haben; er befasse sich mit der Aufklärung seit 1944, als er noch im Studium (seit 1943) gewesen sei. Er gibt als Ziel seines „Essay“ an, eine Synthese 408 Ebd., S. 97–98. 409 Gay (1967): The Enlightenment: An Interpretation. Bd. 1: The Rise of Modern Paganism; Gay (1969): The Enlightenment: An Interpretation. Bd. 2: The Science of Freedom. 410 Gay (1967): The Enlightenment: An Interpretation. Bd. 1, S. XIV.

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liefern zu wollen, um die Polemiken um die Aufklärung seit Edmund Burke und den deutschen Romantikern zu ersetzen. Der Kern der Aufklärung werde durch die „Philosophen“ gebildet, zwischen ‚Edinburgh und Neapel‘, ‚Paris und Berlin‘, ‚Boston und Philadelphia‘.411 Er sieht drei Generationen von Philosophen am Werk, die sich überlappten und die sowohl intergenerationell wie transgenerationell miteinander verbunden gewesen waren – sei es durch gegenseitige Rezeption, Kommentierung und Debatte, sei es durch Korrespondenz, sei es durch Besuche, sei es durch regelmäßige Treffen wie im Fall des Salons des Ehepaars d’Holbach in Paris, wo Aufklärer aus verschiedenen Ländern während ihres Parisaufenthaltes zu Gast waren. Ohne hier schon ausdrücklich von „amerikanischer Aufklärung“ zu reden, setzt Gay deren Existenz offenkundig voraus. Im angehängten bibliographischen Essay schreibt er allerdings ausdrücklich von „American Enlightenment“412, doch nur um anzumerken, dass er sich im Buch nicht näher mit dieser Aufklärung auseinandersetze. Im Schlusskapitel des 2. Bandes wird er etwas deutlicher: „In the mid-1760s, when the efflorescence of the American Enlightenment began and came to the attentions of Europeans, the intellectual structure of the Enlightenment was practically complete.“413 Alles in allem markiert das zweibändige Werk die Verlagerung des Schwerpunkts der Erforschung der Aufklärung von Europa in die USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Dort ist er bis heute geblieben, wie man nicht zuletzt am Beispiel der weltweit einflussreichen Werke von Robert C. Darnton sehen kann, die von einer Vielzahl innovativer Studien zur Aufklärung von US-amerikanischen Forscher*innen umgeben sind. Peter J. Gays zwei Bände üben bis heute starken Einfluss aus, weil sie das Thema der Aufklärung in seiner ganzen, das heißt nicht nur philosophischen, Breite auffächerten.414 Beiden Bänden ist je ein bibliografischer Essay angehängt, die beide für die Forschungsgeschichte von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart Gays von großem Interesse sind, nicht zuletzt wegen der Lücken: Die Kontroversen um die Aufklärung im 19. Jahrhundert bleiben außen vor, die Aufklärungskritik im 20. Jahrhundert wird von Gay nicht sehr geschätzt, er erwähnt Talmon und kurz dieses und jenes Werk; an all dem kann er wenig Verwertbares finden. Diese Haltung hatte er bereits 1954 dargelegt.415 Trotz des weiten Horizonts bildet die französische Aufklärung den Kern- und Angelpunkt des Werks, gefolgt von den englischsprachigen Philosophen und, mit weitem Abstand, von den deutschen sowie einigen anderen wie den italienischen. Ebenso ausgiebig wie die französischen Philosophen werden die antiken, griechischen und römischen zitiert. Der Grund dafür liegt darin, dass Gay den ersten 411 412 413 414

Ebd., S. 3. Ebd., S. 442. Gay (1969): The Enlightenment: An Interpretation. Bd. 2, S. 558. Einen konzisen Einblick in Peter J. Gays umfangreiches Œuvre zur Aufklärung gibt Bianchi (2002): Peter Gay and the Enlightenment. 415 Gay (1954): The Enlightenment in the History of Political Theory.

Peter Jack Gay

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Band mit „Book One: The Appeal to Antiquity“ eröffnet. Dieses 1. Buch umfasst rund 200 Seiten. Er analysiert die intensive Präsenz antiker Schriftsteller in den Werken der Aufklärer und zeigt die inhaltliche Abhängigkeit vieler aufklärerischer Positionen von der Lektüre und Rezeption jener Quellen, unter denen wegen der leichteren Zugänglichkeit des Lateins gegenüber dem Griechischen die römischen Schriftsteller hervorragten. Die Aufklärer anerkannten die Entwicklung des intellektuellen Instruments der Kritik in der griechischen und römischen Antike als „Aufklärung“. Peter J. Gay konterkariert den bei etlichen Autoren seit dem 19. Jahrhundert geradezu fetischhaften Umgang mit dem Verhältnis von Aufklärung und Vernunft: „[…] the Enlightenment was not an Age of Reason but a Revolt against Rationalism. […] The claim for the omnicompetence of criticism was in no way a claim for the omnipotence of reason.“416 Gay versteht den 2. Band „The Science of Freedom“ als „the social history of the philosophes’ philosophy“.417 Gemeint ist die praktische Relevanz der Aufklärung für die Veränderung der Lebenswelt. Nach Gay waren die Aufklärer Menschen, die mit beiden Beinen im Leben standen.418 Es gab nichts, was zum menschlichen Leben gehörte, was nicht analysiert wurde und wofür nicht Verbesserungsvorschläge auf wissenschaftlicher Grundlage gemacht wurden. Dennoch liefert Gay keine Sozialgeschichte der Aufklärung; er bleibt auf der Ebene der Lektüre und Interpretation der Texte der Aufklärung, die sich – ohne Zweifel – mit sehr praktischen Problemen auseinandersetzten. Die Wissenschaften hatten ihre Grenzen, es gab Vorurteile, die einen objektiven wissenschaftlichen Blick verhinderten, es gab Wissenslücken, die nicht erkannt wurden, kurz, es kam natürlich auch zu Irrtümern wie der Annahme festgelegter Geschlechtsidentitäten. Trotzdem diente das meiste Wohlfahrt und Wohlstand, der Ermöglichung eines besseren Lebens. Sehr klar wurde auch der Zusammenhang mit Freiheit gesehen – das bessere Leben war ohne Freiheit nicht realisierbar und Freiheit, mehr Freiheit, nicht ohne das bessere Leben. Es ist Peter J. Gays Verdienst, mit diesem 2. Band früher sehr verstreute Perspektiven auf die Aufklärung, die durchaus über das rein Philosophische hinausgingen wie bei Karl Joël, vereinigt zu haben. Gay sieht die Zusammenführung der Perspektiven auf die „Bürgerliche Gesellschaft“ jedoch als zu kurz greifend an. Die im 18. Jahrhundert noch herrschende gesellschaftliche Vielfalt lasse sich nicht auf die Bürgerliche Gesellschaft reduzieren. Das Kapitalismus-Argument sagt ihm wenig zu: „The dynamism that is the capitalist spirit was, therefore, the property of a minority and to an impressive extent of outsiders.“419 Freilich diskutiert Gay Autoren wie Koselleck oder Habermas nicht, obwohl deutsche Literatur für ihn kein Rezeptionsproblem darstellte. 416 417 418 419

Gay (1967): The Enlightenment: An Interpretation. Bd. 1, S. 141. Gay (1969): The Enlightenment: An Interpretation. Bd. 2, Preface, S. IX. Ebd., passim, besonders betonend aber S. 56–57. Ebd., S. 47.

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Zentral für Gays Interpretation der Aufklärung ist das 8. Kapitel in Band 2 „The Politics of Decency“. Der Autor leitet dies wie folgt ein: The men of the Enlightenment had no doubts about their political aims. With few hesitations and only marginal disagreements, they called for a social and political order that would be secular, reasonable, humane, pacific, open, and free […]. […] the philosophes […] agreed that it was essential to give humanitarianism organized form and effective force. 420

Inhaltlich geht es in diesem Kapitel vorwiegend um Toleranz, Frieden, Abschaffung der Sklaverei, gerechtes und humanes (Straf-)Recht. Gay schließt den 2. Band mit einem Blick auf die Amerikanische Unabhängigkeit und Staatsbildung ab und beschreibt das Verhältnis zwischen der Amerikanischen und der Europäischen Aufklärung. Den Zeitgenossen sei die Bildung der USA wie eine Erfüllung der Aufklärung vorgekommen.421 Dieser Schlussgedanke hätte eigentlich mit Robert R. Palmers Studie korreliert werden müssen (was aber nicht geschieht), obwohl die Tendenz bei Gay in eine Palmer vergleichbare Richtung ging. MICHEL FOUCAULT Michel Foucault (1926–1984) gehört zu den bis heute einflussreichsten Geistesund Kulturwissenschaftlern überhaupt. Er hat epochenübergreifend gearbeitet, dabei nehmen die Frühe Neuzeit, das 18. Jahrhundert mit der Aufklärung sowie das 19. Jahrhundert vordere Plätze ein. Kaum jemand hat so eindringlich unsere Pfadabhängigkeit von den Grundlegungen jener Jahrhunderte analysiert. An dieser Stelle seinen Text von 1975 „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ herauszugreifen, könnte daher fast ein wenig willkürlich erscheinen, aber insgesamt war es dieser Text, der einem breiteren Publikum neue Sichtweisen auf die Aufklärung und generell das 18. Jahrhundert eröffnete. Nach der „Archäologie des Wissens“ ist WorldCat Identities zufolge422 dieser Text die am weitesten verbreitete Schrift Foucaults. Die Grundlinie seiner kritischen Betrachtung der Aufklärung hatte sich schon früh abgezeichnet, nämlich in „Folie et déraison: Histoire de la folie à l’âge classique“ (1961).423 Der Text setzt sich zunächst mit den Strafrechtsreformen des 18. und 19. Jahrhunderts auseinander, in deren Folge sich der Strafvollzug gründlich änderte. Meistens wurde an den Vorschlägen der Aufklärer für eine Reform des Strafrechts und des Strafvollzugs, für die oft Cesare Beccaria und seine Schrift „Dei delitti e delle pene“ (1764) als Ikone zitiert werden, ein humanitäres Motiv hervorgehoben. Foucault stellt nicht in Abrede, dass humanitäre Sichtweisen eine Rolle spielten, aber dahinter stand viel mehr, nämlich ein anderes Verständnis von

420 421 422 423

Ebd., S. 397. Ebd., S. 568. https://www.worldcat.org/identities/lccn-n79065356/. S. Miller (2003): Artikel „Foucault, Michel“, hier S. 58.

Michel Foucault

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Strafe. Foucault sagt es mit den Worten Mablys: „Die Strafe soll, wenn ich so sagen darf, eher die Seele treffen als den Körper.“424 Dies legte den Grund für die Reduktion und schließlich Abschaffung von Folter, Marter und grausamen Ausführungsarten der Todesstrafe, aber der humanitäre Aspekt war weder das eigentliche Ziel dahinter noch der Hauptzweck. Im Zusammenhang der Ausformung der Bürgerlichen Gesellschaft wurde das soziopolitische System des Ancien Régime gestört. Die Art der Delikte änderte sich dabei, Diebstahl, Bandenkriminalität, Raub, Hehlerei verdrängten an Häufigkeit andere Verbrechen, je mehr die auf Eigentum und Eigentumsrechten aufgebaute Bürgerliche Gesellschaft Eigentum anhäufte – durchaus im wörtlichen Sinn: Foucault bringt die riesigen Stapelplätze in den Häfen als Beispiel, wo Diebstahl und Hehlerei wie Pilze im feucht-warmen Klima gediehen und einen spürbaren materiellen Schaden anrichteten. Die Zunahme der Masse von Gütern, die im Eigentum von X oder Y standen, hatte nicht zuletzt mit dem Bevölkerungswachstum und dem steigenden (Konsum-)Bedarf an Gütern zu tun. Die Verschiebung der Kriminalität auf andere Zielobjekte hin war laut Foucault mit einer anderen Verschiebung verwoben: Im Ancien Régime hätten die von der Bevölkerung begangenen „Gesetzeswidrigkeiten“ essentiell mit dem Bestreiten behaupteter Rechte – des Königs, der Feudalherren, der Steuereintreiber usw. – zu tun gehabt, nunmehr „zielt die Gesetzeswidrigkeit des Volkes nicht mehr so sehr auf die Rechte als vielmehr auf die Güter ab“.425 Strafe und Strafvollzug mussten, um effektiv zu sein, folglich eine Steuerung, ja, Erziehung, der Gesellschaft bewirken, um die Entfaltung der Bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Wirtschaftsweise nicht zu hemmen und dieser einen verlässlichen Rechtsrahmen zu verschaffen. Letzteres entspricht grundsätzlich den Schlussfolgerungen zum „Bürgerlichen Rechtsstaat“ von Jürgen Habermas in „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, doch schreibt Foucault nicht vom Rechtsstaat, schon gar nicht in dem Sinne, in dem wir heutzutage diesen Begriff verwenden. Die Intentionen der Reform(en) seien die folgenden gewesen: Das eigentliche Ziel der Reform und ihrer allgemeinsten Forderungen ist nicht so sehr die Begründung eines neuen Strafrechts auf gerechteren Prinzipien, sondern vielmehr die Etablierung einer neuen „Ökonomie“ der Strafgewalt und die Gewährleistung einer besseren Verteilung dieser Gewalt dergestalt, daß sie weder an einigen bevorzugten Stellen zu stark konzentriert noch unter gegensätzlichen Instanzen zu sehr aufgeteilt, sondern in homogenen Kreisläufen verteilt ist, die den Gesellschaftskörper überall gleichmäßig durchdringen.426

Foucault verweist auf die zahllosen Punkte oder Stellen, von denen aus Justizreformen betrieben wurden, er weist den Aufklärern nicht einmal eine entscheidende Funktion bei diesen Prozessen zu. Gegen den Strich gebürstet betont also Foucault, dass die Aufklärung konkreter und detaillierter in ihrer Zeit eingebettet werden muss. Das holt die Aufklärung vom Sockel, auf den sie gehievt worden 424 Foucault (1981 [1976]): Überwachen und Strafen, S. 26. 425 Ebd., S. 107 u. ö. 426 Ebd., S. 102.

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war, sie bedeutet ein Agens unter etlichen anderen. Trotzdem kommt Foucault nicht umhin, immer wieder z. B. Beccaria zu zitieren. Unter den verschiedenen Reformoptionen habe sich bei den „ReformJuristen“ das Prinzip durchgesetzt, die „Bestrafung [gemeint ist die Gefängnisstrafe; W.S.] (als) eine Maßnahme“ anzusehen, „durch welche die Individuen wieder zu Rechtssubjekten gemacht werden sollen“.427 Anders ausgedrückt: Die (Bürgerliche) Gesellschaft pflegt und benötigt einen rationalen und rationellen Umgang mit dem Humankapital (das ist nicht Foucaults Wort), zu dem die Resozialisierung des Täters oder der Täterin gehört. Dem Ziel kommen andere, schon ältere, Entwicklungen zugute, die Gerhard Oestreich als „Sozialdisziplinierung“ (auch: „Fundamentaldisziplinierung“) bezeichnet hatte428, während Foucault stärker die politische und öffentliche Kontrolle über den Körper des Menschen in den Blick nimmt. Am Beispiel der „Disziplin“ im Militär des 17. und 18. Jahrhunderts legt er die Rationalisierungsprozesse dar, die sich darin versteckten. Die fanden aber nach und nach in allen Bereichen der Machtausübung, der Wirtschaft und der Gesellschaft statt und konditionierten schließlich auch das moderne Gefängnis. Der „Panoptismus“ schließlich muss uns im digitalen Zeitalter wie der Archetyp der Überwachung durch permanente Beobachtung und das Sammeln von Daten über jeden Einzelnen vorkommen, wobei Beobachter*in und Sammler*in im Gegensatz zu einem selber unsichtbar und anonym bleiben. Foucault hatte sich von den Traditionen der Geistes- und Ideengeschichte sowie der Geschichte der Philosophie gelöst und eine neue Sichtweise etabliert. Das ermöglichte es ihm, die für sein Thema einschlägigen Texte der Aufklärung in allgemeinere und zum Teil schon länger anhaltende Entwicklungen einzubetten. Bei ihm trifft man eigentlich nicht auf „die Aufklärung“. Aufklärer nahmen an Praktiken und deren Veränderungen teil und wirkten auf diesem Wege, das heißt nicht als Geistestitanen, als die sie oft in der Literatur erscheinen, an praktischen Grundlegungen mit, die deshalb noch heute aktuell sind, weil sie sich als ausbaubar und entwicklungsfähig erwiesen haben. Im Guten wie im Schlechten! In dem kurzen Text „Qu’est-ce que les Lumières?“, der im Rahmen einer Vorlesung Foucaults am 5. Januar 1983 am Collège de France entstand und immer wieder zitiert wird, weist der Philosoph der Aufklärung allerdings eine besondere Rolle zu: Die Aufklärung sei „une question philosophique, inscrite, depuis de XVIIIe siècle, dans notre pensée.“429 Foucault benutzt durchgängig das deutsche Wort Aufklärung, denn er geht von Kants Beantwortung der Frage, was Aufklärung sei (1784) aus. Er konfron427 Ebd., S. 169. 428 Oestreich (1968): Strukturprobleme des Absolutismus. Ursprünglich Antrittsvorlesung an der Universität Hamburg 1962. 429 „[…] eine philosophische Frage, die seit dem 18. Jahrhundert in unser Denken eingeschrieben ist“. Foucault (1994): Qu’est-ce que les Lumières? [Extrait du cours du 5 janvier 1983, au Collège de France]. Es gibt eine nicht in jeder Hinsicht gleiche und etwas längere Fassung: Foucault (1994): What is Enlightenment?, ursprünglich erschienen in Paul Rabinow, Hg. (1984): The Foucault Reader. New York: Pantheon Books, S. 32–50. Eine ausführliche Würdigung dieser zwei Texte s. bei Lilti (2019): L’héritage des Lumières, Kap. 12.

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tiert diesen Aufsatz mit dem späteren Text Kants von 1798 über den „Streit der Fakultäten“, in dem Kant über den Zusammenhang von (französischer) Revolution und Fortschritt der Menschheit nachdenkt. Foucault versteht Aufklärung einerseits als „événement singulier inaugurant la modernité européenne et comme processus permanent qui se manifeste dans l’histoire de la raison“.430 Das entspricht dem traditionellen Verständnis von „Aufklärung“. An Kants Aufsatz von 1784 hebt er den Umstand hervor, dass es um eine Positionierung gegenüber der eigenen Gegenwart und gegenwärtigem Geschehen (das Aufklären) gegangen sei, was er mit seinem eigenen Verständnis von der Aufgabe der Philosophie bzw. des kritischen Denkens verbindet: „on peut opter pour une pensée critique qui prendra la forme d’une ontologie de nousmêmes, d’une ontologie de l’actualité […].“431 Obwohl Foucaults Text nahelegt, dass er sich selber damit eigentlich von Kant herleitet, bezieht der Philosoph sich im Schlusssatz des Textes dann auf eine Linie von Hegel über Nietzsche, Max Weber und die Frankfurter Schule. Wichtiger als die Frage, ob Foucault das Problem, welche genaue historische Bedeutung der Aufklärung zukommt, widerspruchsfrei oder nicht gelöst hat, ist seine Feststellung, dass das Entscheidende nicht die Bewahrung des Erbes der Aufklärung sei. Er hat diesbezüglich sogar einen leichten Anfall von Sarkasmus: „Laissons à leur piété ceux qui veulent qu’on garde vivant et intact l’héritage de l’Aufklärung. Cette piété est bien sûr la plus touchante des trahisons.“432 Dieser „Verrat“ lenke von dem ab, worum es wirklich gehe: „Ce ne sont pas les restes de l’Aufklärung qu’il s’agit de préserver; c’est la question même de cet événement et de son sens (la question de l’historicité de la pensée de l’universel) qu’il faut maintenir présente et garder à l’esprit comme ce qui doit être pensé.“433 Genau genommen landet Foucault in einer Sackgasse, weil Aufklärung als Geschehen kein spezifisches Kennzeichen des 18. Jahrhunderts, sprich: „der Aufklärung“, darstellt, als solches reicht es zurück in die Achsenzeit (s. u.) und, in Europa, in die antike griechische Philosophie.

430 „[…] als einzigartiges Ereignis, das die europäische Moderne einleitet, und als permanenten Prozess, der sich in der Geschichte der Vernunft manifestiert.“ Foucault (1994): Qu’est-ce que les Lumières?, S. 686. 431 „[…] wir können uns für ein kritisches Denken entscheiden, das die Form einer Ontologie unserer selbst, einer Ontologie der Wirklichkeit annimmt […].“ Ebd., S. 687–688. 432 „Überlassen wir ihrer Frömmigkeit diejenigen, die das Erbe der Aufklärung lebendig und intakt halten wollen. Diese Frömmigkeit ist natürlich die rührendste aller Verräterinnen.“ Ebd., S. 686–687. 433 „Nicht die Überreste der Aufklärung müssen bewahrt werden, vielmehr muss die Frage dieses Ereignisses selbst und seiner Bedeutung (die Frage nach der Geschichtlichkeit des Gedankens des Universalen) als dasjenige, was gedacht werden muss, gegenwärtig und im Bewusstsein gehalten werden.“ Ebd., S. 687.

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JONATHAN IRVINE ISRAEL In jüngerer Zeit hat vor allem Jonathan Irvine Israel die Tradition des Anspruchs, die Aufklärung umfassend monografisch und innovativ darzustellen, den zuletzt Peter J. Gay eingelöst hatte, wieder aufgenommen. Inzwischen hat er gut ein halbes Dutzend Bücher zur Aufklärung geschrieben, die miteinander verbunden sind. Drei Titel bilden dabei eine Art Trilogie: „Radical Enlightenment“ (2001)434, „Enlightenment Contested“ (2006)435 sowie „Democratic Enlightenment“ (2011).436 Diese Publikationen wurden weltweit beachtet, in Rezensionen kontrovers diskutiert, es wurden Tagungen zur Diskussion der Thesen von J. I. Israel veranstaltet. Karen O’Brien charakterisierte Israels Bedeutung aufgrund der beiden ersten Bände in der American Historical Review 2010 wie folgt: The first two volumes of Jonathan Israel’s history of the Enlightenment – the most ambitious since Peter Gay’s The Enlightenment: An Interpretation (1966–1969) – have forged a massively scholarly intellectual yet socially particularized history of the Enlightenment as a radical, secular movement that holds the key to the prehistory of democratic liberalism, demanding a major reorientation of the periodization, canonical texts, and political import of Enlightenment studies.437

Jonathan I. Israels Zugriff zeichnet sich durch den geografisch weiten Blick aus, der nicht nur vollständig Europa und Russland, sondern auch die Amerikas und Asien abdeckt, selbst wenn sein Blick etwa in Bezug auf Asien überwiegend der von der europäischen Aufklärung herkommende bleibt. Niemand hat bisher so umfassend ‚unter einem Dach‘ so breit das Schrifttum seit der Frühaufklärung gesichtet, geordnet und kontextualisiert. Die Vielsprachigkeit des Autors, die der Vielfalt der Quellenlektüre wie der Rezeption einer vielfältigen und vielsprachigen Forschung zugutekommt, sticht in der Forschungslandschaft hervor, die längst einseitig englischsprachige Publikationen bevorzugt. Konsequent berücksichtigt er die Gegner der Aufklärung, er spürt den Nachwirkungen der Aufklärung im frühen 19. Jahrhundert noch nach. Insgesamt verrückt er die Schwerpunkte mehr zu den radikaleren Denkern und konterkariert damit auch das Aufklärungssubstrat, das heute weltweit verbreitet ist. Der Klappentext zu „Democratic Enlightenment“ hält unmissverständlich fest: The Enlightenment shaped modernity. Western values of representative democracy and basic human rights, gender and racial equality, individual liberty, and freedom of expression and the press, form an interlocking system that derives directly from the Enlightenment’s philosophical revolution.

Dies ordnet sich in die rezente Tendenz ein, die Zusammenhänge zwischen Aufklärung und Demokratie wieder stärker in den Mittelpunkt zu stellen. J. Israel formuliert einen unmittelbaren und direkten Zusammenhang zwischen den Positi434 435 436 437

Israel (2001): Radical Enlightenment. Israel (2006): Enlightenment Contested. Israel (2011): Democratic Enlightenment. O’Brien (2010): The Return of the Enlightenment, Zitat S. 1426–1427.

Jonathan Irvine Israel

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onen der „demokratischen Aufklärung“ und dem heutigen „interlocking system“ demokratischer Werte und Prinzipien. Israel bezeichnet dies als „westlich“, was aber, wie im Kapitel „Praktiken“ gezeigt wurde und im Kapitel „Orientierungen“ vertieft werden wird, zu kurz greift. Man mag zustimmen, dass die Bausteine seinerzeit im „Westen“ zusammengesetzt wurden, aber wie Israel selbst ausführt, ebenso wie viele andere im Kapitel „Praktiken“ zitierten Verfasser*innen (Osterhammel, Reinhard, Todorov usw.), wurde im 18. Jahrhundert Wissen aus aller Welt zusammengetragen, ausgewertet, interpretiert, transformiert. Die Produktionsstätten standen in Europa und Nordamerika, aber sie funktionierten nur, weil es eine globale Logistik und gut funktionierende Lieferketten gab. Die Ausführungen im Kapitel „Praktiken“ belegen, dass es im 19. Jahrhundert in mehreren Weltregionen zur Ausbildung demokratischer Traditionen kam – sofern man zustimmt, dass, beispielsweise, eine Übersetzung und Diskussion von Rousseaus „Contrat social“ ins Arabische, nicht gerade eine monarchische Staatsform stärkte. Mir scheint der Bezug zum Westen oft als unterkomplex konzipiert. Es geht Israel darum, die Aufklärer zu verstehen, ihre Texte „richtig“ zu lesen. Was aber ist eine „richtige“ Lektüre? Es handelt sich in erster Linie um eine ganz genaue, die sich nicht zuletzt bei einem Autor wie Kant auf seine Begriffsdefinitionen und sein „Problemdesign“ einlässt, innerhalb derer sich die Argumentationslogik entfaltet. Diese Übung des genauen Lesens erweist sich in der Praxis als schwieriger denn viele denken. Israel bringt eine Lektüre der Aufklärung auf den Punkt, die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bei Hettner, Troeltsch, ein wenig bei Høffding und anderen wie Carl L. Becker, Robert R. Palmer oder auch Peter J. Gay angeklungen war. Ähnlich wie Cassirer „Die Philosophie der Aufklärung“ zu einem historischen Phänomen sui generis machte, obwohl er nicht der erste gewesen war, der von „Die Philosophie der Aufklärung“ sprach und schrieb, macht Israel „Democratic Enlightenment“ zu einem historischen Phänomen sui generis, obwohl ihm etliche dabei vorangegangen waren, ohne sich in derselben erfolgreichen Weise durchsetzen zu können.

KRITIK EINFÜHRUNG Kritik an der Aufklärung gab es in der Epoche der Aufklärung selbst bereits reichlich. Das setzte sich im 19. und 20. Jahrhundert fort bis heute. Im Kapitel „Intellektuelle“ waren schon etliche kritische Stimmen zu vernehmen gewesen, beginnend mit Hegel. „Intellektuelle“ und „Kritik“ in zwei Kapitel aufzuteilen, mag insoweit inkonsequent anmuten. In diesem Kapitel „Kritik“ geht es in erster Linie um Fundamentalkritik an der Aufklärung, die von der Behauptung ihres Scheiterns bis zu gegenwärtigen Denkmalstürzen reicht. Vor allem die fundamentalkritischen Schriften erhoben „die Aufklärung“ zu einer westlichen und essentialistisch gedachten Identität, ohne sich dieser methodisch merkwürdigen Vorgehensweise wirklich bewusst geworden zu sein. Während Paul Hazard an „La pensée européenne“ arbeitete und zu dem Schluss kam, dass das, was im Singular europäische Kultur genannt werden konnte, im 18. Jahrhundert zusammenwuchs und sich zu einer auch in der Zukunft tragfähigen Grundlage entwickelte, wurden in denselben Jahren ganz andere Interpretationen der Aufklärung erarbeitet. Der berühmteste der in diesem Zusammenhang zu diskutierenden Texte ist zweifellos „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, entstanden zwischen 1942 und 1944 im US-amerikanischen Exil, also tatsächlich parallel zu Hazard, der sich in ungeheizten Räumen und Bibliotheken in Paris den Tod holte. Im Grunde gehen Horkheimer und Adorno von einer in der Aufklärung geschaffenen Identität aus – sie nennen es nicht so, was sie untersuchen –, aber sie untersuchen deren hochgradig toxische Wirkung, während Hazard die letztlich konstruktive Wirkung der durch die Aufklärung geschaffenen europäischen Identität sah. Ebenfalls im US-amerikanischen Exil schrieb Hannah Arendt „The Origins of Totalitarianism“, die ersten Kapitel entstanden 1944–1946. Das Buch erschien 1951 in englischer Sprache, später wurde es auf Deutsch übersetzt. Arendt maß der Aufklärung ein viel geringeres Gewicht bei als Horkheimer/Adorno bzw. Hazard. Das hat zur Folge, dass sie am wenigsten von allen Autor*innen dieser Jahre die Aufklärung unter dem Gesichtspunkt der Identitätsbildung betrachtete. Sie setzte sich jedoch in ihren weiteren Werken nach dem Krieg sowie in ihrer letzten Vorlesung 1970 an der New York School for Social Sciences intensiv mit Immanuel Kant, das heißt einem der wichtigsten Vertreter der Aufklärung, auseinander.1 1

Vgl. zusammenfassend zu Arendt – Kant: Geier (2012): Aufklärung, S. 295–304. Die Druckfassung der Vorlesung war beim Tod Arendts 1975 zu zwei Dritteln abgeschlossen; veröf-

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Kritik

Jacob Leib Talmon legte 1952 „The Origins of Totalitarian Democracy“ vor, das Manuskript wurde 1951 abgeschlossen. Er versuchte die verschiedenen und letztlich ambivalenten Weichenstellungen, die die Aufklärung schuf, herauszuarbeiten. Auch bei ihm wird politische Identität in der Aufklärung grundgelegt, nur dass es sich nicht um eine, sondern um verschiedene mögliche politische Identitäten handelt. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei noch einmal unterstrichen, dass die in diesem Kapitel diskutierten Autor*innen nicht selber mit dem Begriff der Identität arbeiten, aber sie setzen die identitätsbildende Wirkung der Aufklärung voraus, die als konstruktiv bzw., im Zusammenhang dieses Kapitels über Fundamentalkritik an der Aufklärung, als destruktiv bzw. toxisch oder ambivalent bewertet werden kann. Es geht nicht darum, die jeweiligen Argumentationen für richtig oder falsch zu halten, sondern darum, den in etwa seit 1942 um neuartige Zugänge zur Aufklärung erweiterten Diskussionsraum zu vermessen. Konzeptgeschichtlich kann Barrington Moore Jr. mit seinem bereits erwähnten Buch über die sozialen Ursprünge von Diktatur und Demokratie (1966) hier angeschlossen werden, aber er verschob das Untersuchungsfeld von der Aufklärung auf die Konflikte zwischen Grundherren und Bauern, von der Geistesgeschichte auf die Sozialgeschichte, die in dem Buch aber nicht als Sozialgeschichte der Aufklärung angelegt ist.2 Arthur Hertzberg untersuchte 1968 in „French Enlightenment and the Jews“ Zusammenhänge zwischen Aufklärung und Antisemitismus. Hertzberg setzte sich mit Voltaire auseinander, für ihn führte ein Weg von der Französischen Revolution bis Auschwitz. Ronald Schechter schrieb dazu eine ausführliche Kritik, auf die an dieser Stelle verwiesen sei.3 In „After Virtue“ (1981) charakterisierte Alasdair MacIntyre die Aufklärung als eine gescheiterte Kultur. Er verstand die Aufklärung nicht nur begrenzt als ein philosophisches, sondern als ein umfassend kulturelles Phänomen, was ihn einerseits auszeichnet, andererseits seine Feststellung nur um so schwerwiegender macht. Er wies der Aufklärung zudem Projektcharakter zu: „Justifying Morality“ sei ein „Enlightenment Project“ gewesen, das gescheitert sei.4 Durchgesetzt hat sich eine solche Kritik nicht. Insgesamt könnte eine längere Liste von aufklärungskritischen Texten seit den ersten Nachkriegsjahrzehnten aufgestellt werden. Stéphanie Roza betont in mehreren Publikationen die breite Rezeption des Antirationalismus eines Nietzsche und eines Heidegger und dessen Verbindung mit einer umfassenden Zurückweisung der Aufklärung.5 Heidegger, Nationalsozialist, habe nach dem Zweiten Weltkrieg Nationalsozialismus und Aufklärung miteinander in Verbindung gebracht. Als

2 3 4 5

fentlicht als: Arendt (2012): Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie [engl. Orig. 1982; dt. Erstausg. 1985]. Moore (1967): Social Origins of Dictatorship and Democracy. Schechter (2001): Rationalizing the Enlightenment, hier bes. S. 94 f. MacIntyre (1992 [1981]): After Virtue, hier Kap. 4 und 5. Roza (2020): La gauche contre les Lumières?; Roza (2019): Controverses contemporaines sur les Lumières (1945–2019).

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weitere Intellektuelle, die die Aufklärung als Quelle der modernen Totalitarismen interpretiert hätten, nennt Roza Michel Foucault, Jacques Derrida, André Glucksmann und weitere. Diese Linie werde von vielen Autor*innen in den postcolonial studies fortgeführt. Roza fragt in erster Linie nach dem – gestörten – Verhältnis zwischen französischer und internationaler Linken einerseits und der Aufklärung andererseits, aus der heraus die Linke ursprünglich entstanden sei. Dabei ergäben sich argumentative Parallelen wenn nicht Allianzen mit der Aufklärungskritik der extremen Rechten und der Faschismen. Unter der aufklärungskritischen Literatur fällt ein Titel von Lawrence Birken aus dem Jahr 1995 auf: „Hitler as Philosophe. Remnants of the Enlightenment in National Socialism“. Seine Grundthese ist die folgende: […] I would argue, it is possible to argue that Nazism – and especially Hitler’s exposition of it – represented an attenuated and popularized form of the Enlightenment style of thought. This thesis can be demonstrated by showing that many of the apparent contradictions of Hitlerism are nothing more than the residues of a coherent Enlightenment „episteme“. 6

Wie allerdings schon Sven-Eric Liedman in „The Postmodernist Critique of the Project of Enlightenment“ 1997 schrieb, lohnt sich eine Auseinandersetzung mit diesem Buch nicht, da es „an extraordinarily poor and unprofessional piece of intellectual history“ sei.7 Ein eigenes Feld stellt das postkoloniale Denken und seine Kritik an der Aufklärung dar, die einen eurozentrischen hegemonial-universalistischen Zivilisationismus gestützt habe, der bis in die Gegenwart anhalte. Antoine Lilti hat kürzlich diese durchaus heterogene Literatur und Kritik gesichtet und dazu einen Überblick erstellt.8 Auf einige Aspekte ist im weiteren Verlauf dieses Kapitels zur Kritik an der Aufklärung zurückzukommen. Doch kehren wir gedanklich zurück in die Jahre ab 1942. DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG Die Forschung zur Aufklärung im 18. Jahrhundert hat mit den unter dem Titel „Dialektik der Aufklärung“ (1942–1944) zusammengefassten „Fragmenten“, wie Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) selber ihre Schrift bezeichneten, nie wirklich etwas anfangen können.9 Zu hermetisch, sprich: 6 7 8 9

Birken (1995): Hitler as Philosophe, S. 14. Liedman (1997): The Postmodernist Critique of the Project of Enlightenment, S. 7. Lilti (2019): L’héritage des Lumières, Teil I: „Universalisme“, Kap 1: „Le défi postcolonial“. Horkheimer/Adorno (1987): Dialektik der Aufklärung. Die hier verwendete Ausgabe der „Dialektik der Aufklärung“ in den Gesammelten Werken von Max Horkheimer von 1987 beruht auf der Ausgabe von 1969, die im Wesentlichen dem Erstdruck von 1947 entspricht, es wurden von den beiden Autoren lediglich Druckfehler berichtigt (Vorwort zur Neuausgabe 1969, in der Ausgabe 1987 S. 14). Die Herausgeber Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr haben die Veränderungen zwischen dem 1944 abgeschlossenen Manuskript und dem Erstdruck 1947 mit abgedruckt. Kurzzitate: Vorrede = Vorrede 1944 und 1947, S. 16–24;

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Kritik

unhistorisch, ist die Argumentation, zu sehr zugespitzt auf einen Begriff von „Vernunft“, der sich kaum so in den Schriften des 18. Jahrhunderts findet. Während sich Foucault zustimmend auf diese Texte beziehen konnte, unterzogen Jürgen Habermas und viele andere die „Dialektik der Aufklärung“ eingehender Kritik. Die in den USA während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Texte wurden „zuerst 1944 anläßlich des fünfzigsten Geburtstags Friedrich Pollocks in kleiner Auflage als hektographiertes Typoskript des Instituts für Sozialforschung und dann im Druck 1947 in Amsterdam bei Querido, dem bedeutendsten deutschen Exilverlag“ veröffentlicht.10 Zunächst entfaltete das Buch keine große Wirkung, es kursierte aber auch als Raubdruck unter der Hand, wurde 1966 ins Italienische übersetzt und 1969 in einer deutschen Neuausgabe im S. Fischer Verlag einer breiteren Öffentlichkeit – vor allem der 68er-Öffentlichkeit – zugänglich gemacht. In der Aufklärungsforschung spielt der Text insoweit eine Rolle, dass er oft erwähnt wird, aber er hat sich nicht als richtungsbestimmend herausgestellt. Seine Wirkung zeigte sich erst deutlich später, im Zusammenhang des postkolonialen Denkens. Die Thesen des Autorenpaares wurden auf die koloniale Situation und deren kritische Analyse angewandt. „Aufklärung ist totalitär“11 oder „Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen“12 oder „in der Hand der restlos Aufgeklärten, welche die Gesellschaft ohnehin zur Barbarei hinsteuern“13 – solche Sätze finden sich gleich im ersten Fragment, das als „Begriff der Aufklärung“ betitelt ist. Die „Aufklärung“ dieser schockierenden Sätze wird wie folgt definiert: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt.“14 Die letztere Formulierung verweist auf Max Weber, der sie seit 1913, u. a. in seinem Vortrag von 1917 über „Wissenschaft als Beruf“, benutzte.15 Grundsätzlich binden Horkheimer und Adorno „Aufklärung“ nicht einfach an das 18. Jahrhundert, sie zitieren viele griechische Autoren der Antike, dann aber erst wieder Bacon, Galilei, Spinoza und diverse Philosophen des 18. Jahrhunderts,

10 11 12 13 14 15

Begriff = Begriff der Aufklärung, S. 25–66. Aus der Vielzahl von Diskussionsbeiträgen zur „Dialektik der Aufklärung“ s. vor allem Kunneman/Vries, Hg. (1989): Die Aktualität der Dialektik der Aufklärung. Zwischen Moderne und Postmoderne. Lavaert/Schröder, Hg. (2018): Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen. Nachwort des Herausgebers Gunzelin Schmid Noerr. In: Horkheimer/Adorno (1987): Dialektik der Aufklärung, S. 423. Horkheimer/Adorno (1987): Dialektik der Aufklärung, Begriff, S. 28. Ebd., Begriff, S. 31. Gemeint ist der Nationalsozialismus. Zitat: Ebd., Begriff, S. 43. Ebd., Begriff, S. 25. http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/weber_wissenschaft_1919/?hl=Entzauberung& p=15.

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gefolgt von einigen des 19. Jahrhunderts, insbesondere Nietzsche. Aufklärung sei ein „endloser Prozeß“.16 Das entspricht sinngemäß Max Webers „Entzauberung“ als endlosem Prozess. Und es entspricht dem in Darstellungen zur Geschichte der Philosophie verwendeten breiten Aufklärungsbegriff. Selbst die „bürgerliche Gesellschaft“ wird offenbar bereits in der griechischen Antike verortet, die Odyssee wird „als eines der frühsten repräsentativen Zeugnisse bürgerlich-abendländischer Zivilisation“ bezeichnet.17 Zwischen „Aufklärung“ und „bürgerlicher Gesellschaft“ wird ein enger Zusammenhang behauptet: „Wie die Aufklärung die wirkliche Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer unter dem Aspekt ihrer in Personen und Institutionen verkörperten Idee ausdrückt, so heißt Wahrheit nicht bloß das vernünftige Bewußtsein, sondern ebenso sehr dessen Gestalt in der Wirklichkeit.“18 Trotz eventuell schockierender Sätze, die hier eingangs zitiert wurden, haben die beiden Philosophen einen positiven Begriff von „Aufklärung“, ihre Kritik diene der „Vorbereitung eines positiven Begriffs von ihr“.19 Die Betonung lag zweifellos auf „Vorbereitung“, nicht auf einer tatsächlichen Ausführung des positiven Begriffs. Trotz der Charakterisierung von „Aufklärung“ als endlosem Prozess – schon die Mythen sind Aufklärung – herrscht wie bei Hegel eine gewisse Ambivalenz in Bezug auf die zeitliche Verortung. Zwischen der antiken griechischen Philosophie und der frühneuzeitlichen Grundlegung der Wissenschaft als alleiniger Methode des Denkens, die in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts allumfassend eingesetzt wird, gibt es scheinbar nichts. Das spiegeln die beiden Exkurse, die auf das erste Fragment zum Begriff der Aufklärung folgen, wider: Der erste Exkurs befasst sich mit der Odyssee (s. o.), der zweite mit Kant, de Sade und Nietzsche; dieser enthält auch viele Linien, die ins 20. Jahrhundert führen. Die Aufklärung mache die Vernunft zum Werkzeug der Werkzeuge, „starr zweckgerichtet, verhängnisvoll wie das genau berechnete Hantieren in der materiellen Produktion, dessen Resultat für die Menschen jeder Berechnung sich entzieht.“20 Die Folgen dieser Zurichtung der Vernunft als „Werkzeug der Werkzeuge“ werden vor allem anhand der von Totalitarismus und Weltkrieg sowie von industrieller Massenkultur der eigenen Gegenwart der beiden Autoren exemplifiziert. Dies führt zum Kernmotiv der Schrift, verstehen zu wollen, wie die entsetzlichen Ausprägungen von Totalitarismus, deren Zeitzeugen die Autoren waren, möglich geworden waren. Mehr oder weniger uneingestanden bezeichnet „Aufklärung“ in erster Linie die Aufklärung des 18. Jahrhunderts im Sinne einer folgenreichen Grundlegung der Geschichte, die bis heute meistens als „Moderne“ bezeichnet wird.

16 17 18 19 20

Horkheimer/Adorno (1987): Dialektik der Aufklärung, Begriff, S. 33. Ebd., Vorrede, S. 21. Ebd., Vorrede, S. 19. Ebd., Vorrede, S. 21. Ebd., Begriff, S. 53.

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Kritik

Die Versuchung, die Fragmente der beiden Kritischen Theoretiker aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zu sezieren, ist groß, hat hier aber keinen Platz. Die historisch-kulturwissenschaftliche Forschung hat die Zuspitzungen der Begriffe „Aufklärung“ und „Vernunft“ bei Horkheimer und Adorno nicht mitgemacht, zu vielstimmig ist der Chor der Angehörigen der République des Lettres, zu vielfältig die historischen Wege, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eingeschlagen wurden. Implizit, das heißt ohne kritische Durchleuchtung, setzten Horkheimer und Adorno ihre Kategorien „Menschheit“ und „Weltgeschichte“ mit dem industrialisierten Westen gleich. So, als würden alle anderen nicht zählen. Das war zwar ein in ihrer Zeit nicht unüblicher Blick auf die Geschichte, aber er war keineswegs zwingend. Implizit perpetuierten die beiden Autoren den Ausschluss von Frauen aus dem Untersuchungsfeld von Vernunft und Aufklärung, der im binären Modell der Aufklärung von zwei Geschlechtsidentitäten angelegt war.21 Sie hatten auch keinen Blick für all die Menschen, die sich, beispielweise im Widerstand während des Zweiten Weltkriegs, denen von den beiden Autoren kritisierten Entwicklungen entgegenstellten, es gab nicht nur den von ihnen beschriebenen Prozess der Aufklärung, sondern auch andere Aufklärungsprozesse. Die Autoren haben keinen Begriff vom „Eigensinn“ in der Geschichte, sie haben keinen wirklichen Begriff von „Vielfalt“ (obwohl sie das Wort verwenden), wie ihn etwa Karl Joël in seiner besprochenen Darstellung der Aufklärungsphilosophie oder Paul Hazard einsetzten. Schließlich blendeten die beiden Autoren drei Korrektive aus, die in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts galten: Jederzeit Kritik, jederzeit selbst denken, jederzeit humanistisch denken. Aber diese Einwände gegen Horkheimer und Adorno lassen sich vielleicht Jahrzehnte später leichter vorbringen als in einer Zeit, wo es schien, als würden Totalitarismus und Verbrechen an der Menschlichkeit (diese Formulierung findet sich im Deutschen bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts) den Sieg davontragen. Was die Verwendung der Fragmente aber eigentlich erschwert, ist der Umstand, dass der behauptete zeitübergreifende Begriff von Aufklärung nicht überzeugend ausgeführt wird. Der immer wieder getätigte Sprung von der griechischen Antike in die Neuzeit kann nicht überzeugen. Auch die faktische räumliche Verortung ist problematisch, sie ist zu eng. Und sie war in der Form nicht zwingend, denn was Karl Jaspers annähernd zeitgleich zum Achsenzeit-Theorem ausbaute (Kapitel „Achsenzeit“), war inhaltlich seit dem 18. Jahrhundert vorhanden.

21 Kulke/Scheich, Hg. (1992): Zwielicht der Vernunft. Die Dialektik der Aufklärung aus der Sicht von Frauen.

Hannah Arendt

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HANNAH ARENDT Hannah Arendts (1906–1975) „The Origins of Totalitarianism“ (1951)22 haben mit Horkheimer/Adorno und Talmon das aufgeworfene Grundproblem gemein, wie es zum mörderischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts kommen konnte. Arendt weist dem 18. Jahrhundert und der Aufklärung dabei eine schwächere Ursachen- oder Wurzelfunktion zu als die anderen Autoren.23 In der auf Juli 1950 datierten Danksagung (Acknowledgements) verweist die Autorin darauf, dass einige Texte, die Teil des Buches geworden sind, erstmals zwischen 1944 und 1946 publiziert worden waren. Bezüglich Kapitel vier und sechs wird ausdrücklich die Revision für die Buchfassung erwähnt. Alles in allem ist das Buch trotz des Publikationsjahrs 1951 den 1940er Jahren zuzurechnen. Die deutsche, von Hannah Arendt selber erstellte Ausgabe unterscheidet sich von der englischen.24 Daher wird hier nach der englischen Originalausgabe zitiert. Arendt fordert die Auseinandersetzung mit der Geschichte ein: Antisemitism (not merely the hatred of Jews), imperialism (not merely conquest), totalitarianism (not merely dictatorship) – one after the other, one more brutally than the other, have demonstrated that human dignity needs a new law on earth, whose validity this time must comprehend the whole of humanity while its power must remain strictly limited, rooted in and controlled by newly defined territorial entities. We can no longer afford to take that which was good in the past and simply call it our heritage, to discard the bad and simply think of it as a dead load which by itself time will bury in oblivion. The subterranean stream of Western history has finally come to the surface and usurped the dignity of our tradition. This is the reality in which we live. And this is why all efforts to escape from the grimness of the present into nostalgia for a still intact past, or into the anticipated oblivion of a better future, are vain.25

Das 18. Jahrhundert wird in diesem Buch auf seine Rolle für den Antisemitismus und den Rassismus hin befragt. Hannah Arendt hatte sich seit den 1930er Jahren mit verschiedenen Aspekten der Aufklärung befasst, sie setzte dies ihr ganzes Leben lang fort.26 Die Ausführungen im Totalitarismus-Buch sind daher nicht repräsentativ für die Breite ihrer Auseinandersetzung mit der Aufklärung. Bildete das 18. Jahrhundert die Wurzel des neuzeitlichen Antisemitismus aus? Im 3. Kapitel (The Jews and Society) geht Arendt auf die Berliner Situation um Moses Mendelssohn ein, sie formuliert einige kritische Bemerkungen zu Lessing und Goethe in Hinsicht auf deren Position zu den Juden. Aber es wird kein besonderer Bezug zu etwas wie „die Aufklärung“ hergestellt. Das Entscheidende ereignete sich Arendt zufolge später, als Juden eine führende Stellung, wie sie etwa die 22 Arendt (1951): The Origins of Totalitarianism. Deutsche Ausgabe: Arendt (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Von der Verfasserin übertragene und neubearbeitete Ausgabe. Geleitwort: Karl Jaspers. 23 S. ergänzend: Arendt/Voegelin, Eric (2015): Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe. „Die Aufklärung“ spielt in diesem „Disput“ keine Rolle. 24 Arendt (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Vorwort, S. XI. 25 Arendt (1951): The Origins of Totalitarianism, Preface, S. ix. 26 Cedronio (2002): Hannah Arendt et les Lumières.

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Kritik

Hofjuden im 18. Jahrhundert innegehabt hätten, längst verloren hatten. Zur Zeit der Dreyfus-Affäre in Frankreich hätten Juden keine führende Rolle mehr ausgefüllt, und dasselbe sei in Bezug auf die Zeit zu sagen, als der nationalsozialistische Antisemitismus einsetzte.27 Es ist dieses Paradoxon, das sie herausarbeitet, dass der Antisemitismus dann am heftigsten war, als Juden keine gesellschaftliche Gruppe darstellten, die wirkliche Macht ausgeübt hätte. Das 6. Kapitel steht unter dem Titel „Race-Thinking Before Racism“. Das Denken in Rassen gehe auf das 18. Jahrhundert zurück: „The historical truth of the matter is that race-thinking, with its roots deep in the eighteenth century, emerged simultaneously in all Western countries during the nineteenth century.“28 In Frankreich sei, beginnend mit Henri Comte de Boulainvilliers Mitte der 1720er Jahre, die Theorie von der Aristokratie als Erobererschicht in Frankreich eingeführt worden, die nach dem Recht des Stärkeren über die ansässige Bevölkerung, die „nation“, herrschte.29 Dies sei von weiteren Autoren wie dem Comte de Du Buat-Nançay 178930 und insbesondere dem Comte de Gobineau im 19. Jahrhundert weitergeführt worden. Die Eroberer seien dieser Theorie nach alle germanischen Ursprungs gewesen. „In any event, paradoxical as it sounds, the fact is that Frenchmen were to insist earlier than Germans or Englishmen on this idée fixe of Germanic superiority.“31 In Deutschland seien ähnliche Ansichten erst im Zuge der Niederlagen gegen Napoleon entstanden, um das Volk gegen die Fremdherrschaft zu einen. Wie in Frankreich steht aber nicht der Rassebegriff anfangs im Mittelpunkt, sondern „organic naturalistic definitions“, die auch auf andere Völker angelegt wurden. „If, in the early form of French aristocracy, racethinking had been invented as an instrument of internal division and had turned out to be a weapon for civil war, this early form of German race-doctrine was invented as a weapon of internal unity and turned out to be a weapon for national wars.“32 Arendt rekurriert hier nicht ausdrücklich auf die Aufklärung, die von ihr zitierten Autoren zählen auch kaum zu den philosophes. Rassetheorien im engeren Wortsinn entstanden am ehesten in England. Burke habe unter Nutzung des Schlüsselbegriffs „inheritance“ den französischen „rights of men“ die „rights of Englishmen“ entgegengestellt, die sich auf die „inheritance“ gründeten. NichtEngländern wie Afrikanern das zuzugestehen, sei damit ausgeschlossen worden. Erst im anglo-amerikanischen Raum mit der auf Sklaven basierenden Wirtschaft sei Rassismus entstanden, der sich später mit Eugenik verbunden habe.33 Arendt hebt hervor, dass Rassedenken in Deutschland und England bei der Mittelklasse 27 Arendt (1951): The Origins of Totalitarianism, S. 4. 28 Ebd., S. 158. 29 Arendt bezieht sich auf: Boulainvilliers (1727): Histoire de l’Ancien Gouvernement de la France. Bd. 1. 30 Arendt bezieht sich auf: Du Buat-Nançay (1757): Les origines de l’Ancien Gouvernement de la France, de l’Allemagne et de l’Italie. 31 Arendt (1951): The Origins of Totalitarianism, S. 164–165. 32 Ebd., die zwei Zitate in der Reihenfolge: S. 166, S. 167. 33 Ebd., S. 175 ff.

Hannah Arendt

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und nicht der Aristokratie entstand. Sie verortet das aber eher im 19. Jahrhundert als im 18. Jahrhundert, vorwiegend in Verbindung mit dem Imperialismus, besonders in Bezug auf die afrikanischen Kolonien. Kapitel 9, das letzte im zweiten Buchteil über den Imperialismus, behandelt „The Decline of the Nation-State and the End of the Rights of Man“. Es geht vor allem um die „Minderheiten“ und „Staatenlosen“ nach dem Ersten Weltkrieg, dann aber auch um das Rechtlosmachen von Menschen insbesondere im Nationalsozialismus. In diesem Zusammenhang kehrt Arendt zur französischen Menschenund Bürgerrechtserklärung von 1789 zurück und analysiert ein, wie sie meint, gravierendes Defizit bzw. eine Fehlkonstruktion, die auch schon Edmund Burke meinte erkannt zu haben und dem sie in dieser Beziehung sogar folgt. Die Menschen- und Bürgerrechtserklärung habe eine historische Wende bedeutet, da nicht mehr Gott oder Privilegierte bestimmten, was Recht sei und was nicht. Dies sei aber nicht die einzige historische Wende gewesen: Beyond this, there was another implication of which the framers of the declaration were only half aware. The proclamation of human rights was also meant to be a much-needed protection in the new era where individuals were no longer secure in the estates to which they were born or sure of their equality before God as Christians. In other words, in the new secularized and emancipated society, men were no longer sure of these social and human rights which until then had been outside the political order and guaranteed not by government and constitution, but by social, spiritual, and religious forces. Therefore throughout the nineteenth century, the consensus of opinion was that human rights had to be invoked whenever individuals needed protection against the new sovereignty of the state and the new arbitrariness of society. 34

Das habe einige, 1789 wohl nicht bedachte, Konsequenzen gehabt: Since the Rights of Man were proclaimed to be „inalienable“, irreducible to and undeducible from other rights or laws, no authority was invoked for their establishment; Man himself was their source as well as their ultimate goal. No special law, moreover, was deemed necessary to protect them because all laws were supposed to rest upon them. Man appeared as the only sovereign in matters of law as the people was proclaimed the only sovereign in matters of government. The people’s sovereignty (different from that of the prince) was not proclaimed by the grace of God but in the name of Man, so that it seemed only natural that the „inalienable“ rights of man would find their guarantee and become an inalienable part of the right of the people to sovereign self-government. In other words, man had hardly appeared as a completely emancipated, completely isolated being who carried his dignity within himself without reference to some larger encompassing order, when he disappeared again into a member of people. […] The full implication of this identification of the rights of man with the rights of peoples in the European nation-state system came to light only when a growing number of people and peoples suddenly appeared whose elementary rights were little safeguarded by the ordinary functioning of nation-states in the middle of Europe as they would have been in the heart of Africa. The Rights of Man, after all, had been defined as „inalienable“ because they were supposed to be independent of all governments; but it turned out that the moment human beings lacked their own government and had to fall back upon their minimum rights, no authority was left to protect them and no institution was willing to guarantee them. Or when, as in the case of minorities, an international body arrogated to itself a nongovernmental authority, its failure was apparent even before its measures were fully realized; not only were the 34 Ebd., S. 287.

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Kritik governments more or less openly opposed to this encroachment on their sovereignty, but the concerned nationalities themselves did not recognize a non-national guarantee, mistrusted everything which was not clear-cut support of their „national“ (as opposed to their mere „linguistic, religious, and ethnic“) rights, and preferred either, like the Germans and Hungarians, to turn to the protection of the „national“ mother country, or, like the Jews, to some kind of interterritorial solidarity.35

Nach Arendt hätte damit die Verbindung von Volkssouveränität, Nationalstaat und Menschenrechten, die 1789 in Frankreich bewerkstelligt wurde, nicht zur Begründung der Ära von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten geführt, weil die Konsequenzen dieser Konstruktion in Frankreich selber nicht erkannt worden seien. Es fehlte eine Bezugsinstanz außerhalb der Menschen wie beispielsweise Gott. Allerdings setzt sich die Autorin nicht mit Artikel 2 der Erklärung von 1789 auseinander, der festhält, dass der Erhalt der Menschenrechte das Ziel jeder politischen Vereinigung sei und sein müsse. Nun geht es aber nicht darum, zu klären, ob Hannah Arendt richtig gesehen hat oder nicht, sondern darum, welche Rolle die Aufklärung in ihrem Buch spielt. Wenn sie Autoren des 18. Jahrhunderts zitiert, sind es nur zum Teil Aufklärer wie Lessing und Mendelssohn, die sie aber nicht als Repräsentanten „der Aufklärung“ behandelt, sondern jeweils in nur einem konkreten Zusammenhang. Die Menschen- und Bürgerrechtserklärung wird nicht als ein Kulminationspunkt aufklärerischen Denkens charakterisiert, dies ist schlicht kein Thema, sondern es geht um die Funktionalität bzw. Dysfunktionalität der Erklärung im Kontext von Nationalstaat und Volk. Weder ist Aufklärung hier Teil des Wegs in den Totalitarismus noch ist sie das Gegenmodell. In den „Concluding Remarks“ findet sich ein kurzer Bezug auf „enlightenment“. Arendt argumentiert noch einmal mit der vermeintlichen Geschichtsvergessenheit der Aufklärung. Sie verweist zunächst auf Mythen, die den vom Dunkel umhüllten Beginn der menschlichen Geschichte erklären sollten. Diese hätten eine bestimmte Funktion besessen: These concepts of history have one characteristic in common: they assume that something was there, given, already established before human history actually began; that its laws sprang from a transcendent source (or event) and could only be obeyed or disobeyed. Only the French and American revolutions made a weak and fumbling attempt to come to a radically new concept, not of human history but of its ultimate meaning. According to them, history had been the „education of mankind“ (as Lessing put it), its growth and development from childhood to maturity, which would disappear with the firm universal establishment of an adult mankind, wither away, as it were, like Marx’s and Lenin’s state. And it was from this basis of enlightenment that the concept of human rights could be proclaimed. Human Rights were independent of historical rights, were given with human nature as such. Man’s new and solemnly proclaimed dignity was that he had come of age and become independent of God’s command and his own historical tradition, which had led him as a child is guided by his father. From the beginning, however, this new dignity was of a perplexing nature. It replaced historical rights with natural rights; it put „nature“ in the place of history, and it tacitly assumed that „nature“ was less alien to the essence of man than history. The very language of the Declara35 Ebd., S. 287–288.

Jacob Leib Talmon

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tion of Independence as well as of the Rights of Man – „inalienable“, „given with birth“, „self-evident truths“ – implies that man’s nature, supposed to have developed under the same necessity that compels a child to grow up, was the premise from which his laws and rights were to be deduced. Nobody at the time could possibly have foreseen that the „nature“ of man, defined and redefined by two thousand years of philosophy, might contain unpredictable and unknown possibilities; that man’s mastery of nature would reach a point where he could conceive the possibility of destroying the earth with man-made instruments; and that his knowledge of nature would one day instill in him serious doubts about the existence of natural laws at all. That, in other words, humanity might one day become as emancipated from nature as eighteenth-century man was from history. Today we consider both history and nature to be alien to the essence of man. Neither any longer offers us that comprehensive whole in which we feel spiritually at home.36

Arendt versuchte, die Aufklärung, die sie im obigen Zitat wörtlich anspricht, in Bezug auf die Menschenrechte weiter zu denken, um die in den 1780er Jahren noch nicht absehbaren Defizite der Menschenrechtskonzeption zu beseitigen. Dieses Weiterdenken der Aufklärung, was Kritik an Rousseau, Voltaire und anderen Aufklärern einschloss, durchzieht ihr Werk. Hannah Arendt arbeitete weniger über die Aufklärung, vielmehr arbeitete sie mit Aufklärern und dachte diese, insbesondere Kant, im Kontext des 20. Jahrhunderts weiter. Ihre letzte Vorlesung vor ihrem Tod galt Kants „politischer Philosophie“, sie hielt sie im Herbst 1970 an der New School for Social Research (New York). Die Texte wurden von Ronald Beiner aus dem Nachlass der Autorin herausgegeben und von Ursula Ludz vom Englischen ins Deutsche übertragen. Der Band erhielt den Titel „Das Urteilen“, da es zentral um Kants „Kritik der Urteilskraft“, aber auch viele andere Schriften wie die „Zum ewigen Frieden“ geht.37 Aus der letzteren Schrift zieht Arendt den folgenden Gedanken, der als Schlusswort des Abschnitts über diese Philosophin zitiert werden soll: Kraft dieser in jedem einzelnen Menschen vorhandenen Idee der Menschheit sind die Menschen menschlich, und sie können zivilisiert oder human in dem Maße genannt werden, in dem diese Idee zum Prinzip nicht nur ihrer Urteile, sondern auch ihrer Handlungen wird. 38

JACOB LEIB TALMON Mit „The Origins of Totalitarian Democracy“ (1952) eröffnete Jacob Leib Talmon (1916–1980), der aus einer jüdischen Familie aus Rypin (Polen) kam, eine bis heute fruchtbare Perspektive.39 Seine Kernthese lautet wie folgt: This study is an attempt to show that concurrently with the liberal type of democracy there emerged from the same premises in the eighteenth century a trend towards what we propose 36 37 38 39

Ebd., S. 434–435. Arendt (2012): Das Urteilen. Ebd., S. 115–116. Talmon (1952): The Origins of Totalitarian Democracy. Es folgten zwei weitere Bände zum 19. und 20. Jahrhundert; Vorwort datiert auf „Spring 1951 The Hebrew University, Jerusalem“. Kritische deutsche Ausgabe: Talmon (2013): Die Geschichte der totalitären Demokratie. Hg. von Uwe Backes. Backes skizziert in seiner Einleitung den Lebensweg von Talmon.

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Kritik to call the totalitarian type of democracy. These two currents have existed side by side ever since the eighteenth century. The tension between them has constituted an important chapter in modern history, and has now become the most vital issue of our time.40

Natürlich habe es im 18. Jahrhundert auch noch anderes gegeben als diesen Konflikt, aber from the vantage point of the mid-twentieth century the history of the last hundred and fifty years looks like a systematic preparation for the headlong collision between empirical and liberal democracy on the one hand, and totalitarian Messianic democracy on the other, in which the world crisis of to-day [sic!] consists.41

Rousseau wird von Talmon als Schlüsselfigur angesehen: In so far as it is dictatorship based on ideology and the enthusiasm of the masses, it is the outcome, as will be shown, of the synthesis between the eighteenth-century idea of the natural order and the Rousseauist idea of popular fulfilment and self-expression. By Rousseau’s „general will“, an ambiguous concept, sometimes conceived as valid a priori, sometimes as immanent in the will of man, exclusive and implying unanimity, became the driving force of totalitarian democracy, and the source of all its contradictions and antinomies.42

Talmon macht einen Unterschied zwischen linkem und rechtem Totalitarismus. Beim linken geht es um den Menschen, seine Vernunft und seine Rettung, beim rechten geht es um den Staat, die Nation oder die Rasse, also um das Kollektiv, es wird mit historischen, rassischen und organischen Konzepten gearbeitet, universelle menschliche Werte werden geleugnet.43 Talmon räum ein, dass die Machtpraxis bei beiden Totalitarismen oft sehr ähnlich ist. Der Autor untersucht dann in Buchteil I summarisch Morelly, Code de la nature, 1755, ein von Babeuf sehr geschätztes Werk; Helvétius, De l’esprit, 1758 sowie d’Holbach, Mably, Condorcet und natürlich besonders Rousseau, dem Kapitel 3 unter der Überschrift „Totalitarian Democracy“ gewidmet ist. Eighteenth-century thought, which prepared the ground for the French Revolution, should be considered on three different levels: first, criticism of the ancien régime, its abuses and absurdities; second, the positive ideas about a more rational and freer system of administration, such as, for instance, ideas on the separation of powers, the place of the judiciary, and a sound system of taxation; and lastly, the vague Messianic expectation attached to the idea of the natural order. […] An incalculable dynamism was immanent in the idea of the natural order. 44

Buchteil II befasst sich mit dem Jakobinismus als Station auf dem Weg zur totalitären Demokratie, Teil III analysiert die Babouvisten als „Kristallisationsphase“. Der erste Band handelt nur von französischen Autoren, der zweite Band erweitert den Kreis über Frankreich hinaus, etwa in Gestalt von Fichte und Marx. Band 3 reicht bis Mussolini und Hitler. Mit diesem – wie man sich vorstellen kann – kontrovers aufgenommenen Werk ist eine Argumentationslinie aufgebaut, an die in der Gegenwart immer 40 41 42 43 44

Talmon (1952): The Origins of Totalitarian Democracy, S. 1. Ebd. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6–7. Ebd., S. 19–20.

Entkolonialisierung des Denkens

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noch angeknüpft werden kann. Talmon argumentierte auf breiterer Grundlage als Horkheimer und Adorno und vermied den Fehler, die Aufklärung nur mit einer einzigen, im weiteren Verlauf der Geschichte eingelösten Option, die der menschenrechtsbasierten Demokratie, zu identifizieren. Er negierte aber nicht, dass auch diese Option eingelöst worden war. ENTKOLONIALISIERUNG DES DENKENS Denkmalstürze kommen in den Zeitläuften immer wieder vor. Sie stellen eine eigenständige Form fundamentaler Kritik dar. Persönlichkeiten der Aufklärung waren und sind davon nicht ausgenommen. So wurden in Frankreich aufgrund eines Gesetzes vom 11. Oktober 1941 des Vichy-Regimes, das den Willen der deutschen Besatzer vollzog, Statuen aus Bronze und anderen metallischen Materialien von den Sockeln geholt, um eingeschmolzen zu werden. Allein für Paris sind 14445 Denkmalstürze solcher Art bekannt. Das Wort „Denkmalsturz“ ist durchaus angebracht, da nur bestimmte Statuen entfernt wurden. Heilige, Könige und Königinnen sowie Helden des Ersten Weltkriegs blieben stehen. „Par contre, les humanistes, les philosophes, les victimes de l’intolérance cléricale sont concernées.“46 In Paris verschwanden 1942 in diesem Kontext aus den Reihen der Aufklärer, der Revolutionäre und der aus religiösen Gründen Verfolgten und Hingerichteten: Chevalier de la Barre, Condorcet, Camille Desmoulins, Diderot, Lavoisier, Rousseau, Voltaire. Statuen von Persönlichkeiten, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit Demokratie und Republik eng verbunden waren, verschwanden ebenfalls: Maria Desraimes (1828–1894), Frauenrechtlerin und Mitbegründerin der gemischtgeschlechtlichen transnationalen Freimaurer*innenloge „Droit Humain“, Victor Hugo, Ludovic Trarieux, Émile Zola, und etliche weitere.47 Eingeschmolzene Statuen findet man für viele Städte im Zweiten Weltkrieg. Inwieweit bewusst selektiv wie in Paris vorgegangen wurde, um nachdrücklich in eine gewachsene Erinnerungskultur einzugreifen, ist nicht so ohne weiteres zu beantworten. Im nationalsozialistischen Deutschland wurde die öffentliche Erinnerung an Moses Mendelssohn zur Zielscheibe, wie Martina Steer berichtet: „Die Marmortafel an Mendelssohns ehemaligen Wohnhaus in der Spandauer Straße in Berlin störte den Hausbesitzer und wurde im Dezember 1935 abgenommen. Das 1897

45 Zur Anzahl vgl. http://paris1900.lartnouveau.com/paris_les_statues.htm. Diese Seite ist eine Hauptseite mit, u. a., zwei Unterseiten zu den zerstörten Statuen (s. folgende Anmerkungen). 46 Verzeichnis der entfernten Statuen: http://paris1900.lartnouveau.com/paris00/statues_de_ rues1/statues_rues8.htm. Pellerin (2009): Les philosophes des Lumières dans la France des années noires, erwähnt die Entfernung der Diderot-Statue in Paris vom square d’Anvers, S. 151. 47 Vgl. http://paris1900.lartnouveau.com/paris00/statues_de_rues1/statues_rues8.htm (zwei Seiten!).

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Kritik

auf dem Dessauer Bahnhofsvorplatz errichtete Mendelssohndenkmal wurde 1933 abgebaut.“48 In der Gegenwart werden neben anderen historischen Personen Statuen von Aufklärern von den Sockeln gestürzt oder beschmiert. Die Universität Edinburgh nannte eines ihrer Gebäude in der Innenstadt, den David Hume Tower, in George Square um. Als Begründung wurde Rassismus in Humes Texten angegeben.49 Kantstatuen wurden ebenfalls wegen angeblich rassistischer Formulierungen bei dem Autor beschmiert. Grundsätzlich ist Kant diesbezüglich auch außerhalb der wissenschaftlichen Diskussion in die Kritik geraten.50 Wie das Beispiel Kant zeigt, gibt es noch andere Gründe als angeblichen Rassismus, die entstandene Erinnerungskultur anzugreifen: Als vor wenigen Jahren der Flughafen von Königsberg/Kaliningrad Immanuel Kant als Namenszusatz erhalten sollte, wurde aus der Moskauer Duma und der in Kaliningrad stationierten Marine heftig dagegen polemisiert. Es gab Aufforderungen, die erst 2005 nach Kant benannte Universität umzubenennen, verschiedene Erinnerungsorte für Kant in der Stadt wurden mit Farbe beschmiert.51 Kant war eben keine Russe gewesen. Rassismus-Vorwürfe wurden im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung 2020 in den Vordergrund gerückt. Viele Medien nahmen sich der Thematik an. Die Vorwürfe konterkarieren das, was nunmehr seit einigen Jahrzehnten als Kern der Aufklärung dargestellt wird, die Grundlegung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der Protest der Black-Lives-Matter-Bewegung richtet sich freilich weder exklusiv noch in erster Linie gegen Persönlichkeiten der Aufklärung, mehr im Fokus und vorwiegend, aber nicht nur in den USA, standen im Jahr 2020 Denkmäler von Männern, die im Sklavenhandel tätig gewesen waren oder Kolonialkriege geführt hatten oder generell mit Kolonialismus und Sklaverei verbunden gewesen waren. Die Wiener Zeitung berichtete am 24. Juni 2020: „Columbus geköpft in Virginia, in einen See geworfen in Richmond, in St. Paul auf die Nase gestürzt; Albert Pike in Washington gestürzt; Bismarck in Hamburg-Altona mit roter Farbe beschmiert. Der jüngste Fall: Die Statue des früheren Präsidenten Theodore Roosevelt vor dem New Yorker Naturkundemuseum wird abgebaut.“52 Die Stadt Antwerpen baute Anfang Juni 2020 eine Statue König Leopolds II. ab.53 Er hatte Belgien in die Rolle einer Kolonialmacht im Kongo gezerrt und nahm dafür den Tod unendlich vieler Afrikaner*innen in Kauf. Die Leopold-

48 Steer (2019): Moses Mendelssohn und seine Nachwelt, S. 370–371. Tafel und Denkmal wurden jeweils der jüdischen Gemeinde übergeben. 49 Vgl. Bericht der BBC, 13.9.2020. https://www.bbc.com/news/uk-scotland-edinburgh-eastfife-54138247. 50 Vgl. Bericht der taz, 26.6.2020. https://taz.de/Immanuel-Kant-und-der-Rassismus/!5692764. 51 Vgl. Bericht des Tagesspiegel, 5.2.2018. https://tinyurl.com/5dwk8aam. 52 Wiener Zeitung, 24.6.2020, Edwin Baumgartner: Denkmaldebatte: Als Columbus auf die Nase fiel. Im Zuge der „Black Lives Matter“-Demonstrationen werden immer öfter Denkmäler gestürzt oder beschmiert. https://tinyurl.com/3hrrfnz5. 53 Bericht u. a. in Luxemburger Wort, 9.6.2020. https://tinyurl.com/e39nx5nz.

Entkolonialisierung des Denkens

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Statue in Brüssel wurde im Juni 2020 mit Farbe besprüht und beschriftet, die Stadt ließ die Statue jedoch sofort mit Sandstrahlern reinigen.54 George Washington war bekanntermaßen ein Sklavenhalter und gerät deshalb seit Jahrzehnten immer wieder in die Kritik. Seinem letzten Willen gemäß wurden seine Sklaven nach seinem Tod freigelassen und durch einen von ihm zuvor gegründeten Fonds unterstützt. Reichte das, um der Kritik die Spitze zu nehmen? Nein. Darüber hinaus: Thomas Jefferson und, im 19. Jahrhundert, Abraham Lincoln waren Sklavenhalter. Eine geduldige Durchsicht von Zeitungsmeldungen aus dem Juni 2020 (und den folgenden Wochen) erweist den Umfang der Protestaktionen in etlichen Ländern, bei denen viel Biografisches über die früher eines Denkmals für würdig gehaltenen Personen herauskam. Die Dekonstruktion der Erinnerungskultur reicht insgesamt weiter zurück und tiefer und hängt mit der bereits angesprochenen Entkolonialisierung des Denkens zusammen. So gab es 2017 einen heftigen Konflikt an der London School of Oriental and African Studies.55 Studierende einer Gruppe „Decolonise our minds“56 stellten die „westlichen“ Philosophen von Platon bis Kant („weiße Männer“) infrage. Die Initiative ist auch auf dem Hintergrund der Gründungsgeschichte der Hochschule 1916 im Zusammenhang des britischen Kolonialismus zu sehen.57 Die Studierenden kommen aus rund 130 Ländern; in Politikwissenschaft und Philosophie würden, so die Kritik, trotzdem fast ausschließlich europäische Autoren behandelt. Dekonstruiert wird dabei – klarerweise – der grand récit von der Aufklärung, indem etwa die Verwicklung mit Kolonialismus und Rassismus hervorgehoben wird. Jonathan I. Israel bemerkte diesbezüglich, von „The Guardian“ 2017 befragt, dass der Blick auf die Aufklärung im Allgemeinen zu einseitig sei, da die radikalen Aufklärer eher übersehen würden. Gegenüber diesen (d’Holbach, Diderot u. a.) träfen die erhobenen Vorwürfe nicht zu, und man müsse sich im Klaren sein, dass die radikalen Aufklärer sehr viel mehr „die Aufklärung“ ausmachten als die Galionsfiguren Locke, Voltaire, Kant etc. The Guardian zitiert Israel: The Radical Enlightenment was „without question the starting point for the anti-colonialism of our time“. In Israel’s view, what he calls the „package of basic values“ that defines modernity – toleration, personal freedom, democracy, racial equality, sexual emancipation and the universal right to knowledge – derives principally from the claims of the Radical Enlightenment.58

Stéphanie Roza schrieb 2020 zur neuen Kritik an der Aufklärung, insoweit diese für die Übel des Rassismus und des weißen bzw. europäischen ‚suprematistischen Kosmopolitismus‘ verantwortlich gemacht wird, Folgendes:

54 55 56 57 58

Bericht der Süddeutschen Zeitung, 16.6.2020. https://tinyurl.com/yn792htr. Ausführlicher Bericht in The Guardian, 19.2.2017. https://tinyurl.com/pcaxmct9. https://web.archive.org/web/20210723185438/https:/soasunion.org/activities/society/8801/. https://www.soas.ac.uk/news/newsitem115783.html. The Guardian, 19.2.2017. https://tinyurl.com/pcaxmct9.

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Kritik Die radikale Infragestellung des Erbes der Aufklärung bedeutet einen Rückschritt, insoweit dabei, nolens volens, die Argumente und Thesen der alten konservativen und konterrevolutionären Kritik aufgegriffen werden.59

Vorwürfe, Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und Islamophobie Vorschub geleistet zu haben, werden schon länger gegen einige Aufklärer erhoben – gegen Voltaire, Kant und andere. Es gibt zahlreiche auch wissenschaftliche Untersuchungen, die die Kritik an mehreren Aufklärern zum Gegenstand haben und aus denen weiter oben schon zitiert wurde. Die meisten Texte bleiben innerhalb des Rahmens, den ein eher wissenschaftliches Lesepublikum bildet. Viel Resonanz hatte Emmanuel Chukwudi Eze 1997 mit dem Reader „Race and the Enlightenment“ gefunden.60 Der Reader versammelt einschlägige Auszüge aus Texten von Carl von Linné, Buffon, Hume, Kant, Herder, Blumenbach, Encyclopédie und Encyclopaedia Britannica, Jefferson, Cuvier und Hegel. In den letzten Jahren sind viele weitere Studien zur Frage rassistischer Vorstellungen in Aufklärungstexten durchgeführt worden61, wissenschaftlich findet damit jedoch seit Jahrzehnten eine Auseinandersetzung statt, die nie abgebrochen ist. Das Thema ist etwa auch in Hannah Arendts Totalitarismus-Buch (s. oben, Abschnitt 3) präsent, in dem sie der langen Vorgeschichte des faschistischen und nationalsozialistischen Rassismus nachging. 1971 publizierte Michèle Duchet eine Pionierarbeit unter dem Titel „Anthropologie et histoire au siècle des Lumières“ – ein Buchtitel, dem man zunächst nicht ansieht, dass es etwa ein Kapitel zur „Idéologie coloniale“ und beispielsweise ausführliche Erörterungen zum Begriff „race“ bei Buffon und Voltaire enthält. Duchet beschränkte ihre Studie auf französische Aufklärer, sie zitierte ausführlich den Wortlaut der Quellentexte, sodass ein umfassendes Bild der verschiedenen Ansichten und Auffassungen vom Menschen entsteht. Vereinfachungen nach schwarz-weiß-Manier lassen sich mit dem Quellenmaterial kaum begründen.62 Die Originalausgabe richtete sich an die Forschung, 1977 wurde im Verlag Flammarion eine um zahlreiche ‚Gelehrsamkeiten‘ entschlackte Ausgabe angeboten, die sicher ein breiteres Publikum als die ursprüngliche Forschungsmonografie erreichte, aber mit 168,00 französischen Francs keineswegs wohlfeil war.63

59 „[…] la remise en cause radicale de l’héritage des Lumières représente une régression, dans la mesure où elle revient à s’aligner, volens nolens, sur les arguments et les thèses de la vieille critique conservatrice et contre-révolutionnaire des anti-Lumières.“ Roza (2020): La Gauche contre les Lumières, S. 18–19. Zur Kritik am Kosmopolitismus s. außerdem: Coignard (2019): Le débat sur l’héritage des Lumières dans l’éducation à la citoyenneté mondiale. 60 Eze, Hg. (1997): Race and the Enlightenment; ders., Hg. (1997): Postcolonial African Philosophy. A Critical Reader. 61 Zur Diskussion der Thesen von E. C. Eze und anderen Autoren wie Frantz Fanon, Amilcar Cabral, Achille Mbembe und Michael Onyebuchi Eze s. Roothaan (2017): Political and Cultural Identity in the Global Postcolony. 62 Duchet (1977 [1971]): Anthropologie et histoire au siècle des lumières. 63 168,00 FF entsprechen aufgrund des fixen Umrechnungskurses 25,61 Euro. Das erscheint im Jahr 2021 preisgünstig, der Preis muss aber auf 1977 bezogen werden.

Entkolonialisierung des Denkens

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In den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ findet sich ebenfalls „Rasse“ als Haupteintrag; der frühneuzeitliche Abschnitt wurde von Antje Sommer verfasst, der anschließende neuzeitlich-zeitgeschichtliche von Werner Conze. Dieser Band erschien 1984. Die sprach- und bedeutungsgeschichtlichen Darlegungen zum Begriff „race“ und seinen Äquivalenten in anderen Sprachen erhellen die Unterschiede zwischen der Sprache der Aufklärungszeit und der im Zeitalter des Rassismus während des Imperialismus.64 Christian Neubauer hatte 1989 in seiner „Einführung in die afrikanische Philosophie“ rassistisch klingende Formulierungen in der europäischen Aufklärung in einem Teilkapitel behandelt.65 Die Philosophin Karin Hostettler arbeitete 2020 die Kritik an Kants vermeintlichem Rassismus auf.66 Diese Kritik existiert, wie oben berichtet, schon seit Jahrzehnten, blieb aber zunächst Teil eines wissenschaftlichen Diskurses und erreichte die breitere Öffentlichkeit erst später. Hostettler geht konsequent quellenkritisch vor, beachtet die zeitliche Entstehung der Texte – teils vor der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), teils danach bis in die 1790er Jahre – und sucht nach den Verbindungen zu den Vernunft-Kritiken und der Kritik der Urteilskraft, die als Kern der Philosophie des reifen Kant gelten. Von besonderem Interesse sind Kants Vorlesung über „Physische Geographie“ (erstmals 1757) sowie die Schrift aus 1775 „Von den verschiedenen Racen der Menschen“, die Kant 1785 als „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace“ fortführte. Kant arbeitete mit dem (französischen) Begriff der „Race“, um die empirisch feststellbare Diversität der Menschen zu erklären. Dabei nahm er Hierarchisierungen vor. Er war in seinem Standort Europa befangen, dachte also europazentrisch. Aber nirgendwo kam er zu Thesen, wie wir sie von den Rassetheoretikern und den Rassisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts kennen. Seine Fragestellungen waren völlig andere, vor allem, wie die empirisch erfahrbare Diversität der Menschen, erkennbar an den Hautfarben, mit der von Kant nicht infrage gestellten Einheit und monogenetischen Entstehung des Menschengeschlechts in einen vermeintlichen logischen Zusammenhang zu bringen sei. Sarra Abrougui hat sich unlängst mit der Kritik an Voltaires vermeintlichem Antisemitismus und seiner angeblichen Islamophobie auseinandergesetzt.67 Einer wissenschaftlichen Überprüfung halten die Vorwürfe – man möchte sagen: erwartungsgemäß – nicht stand. Stutzig sollte außerdem der Umstand machen, dass französische Kollaborateure während des Zweiten Weltkriegs Voltaire als Vater des französischen Antisemitismus vereinnahmten.68 In welche Kritik-Tradition möchte sich jemand stellen, wenn es darum geht, Voltaires Auseinandersetzung mit Religionen und Kirchen zu deuten?

64 Conze/Sommer (1984): Artikel „Rasse“. 65 Neugebauer (1989): Einführung in die afrikanische Philosophie, S. 76–79. 66 Hostettler (2020): Kritik – Selbstaffirmation – Othering. Immanuel Kants Denken der Zweckmässigkeit und die koloniale Episteme. 67 Abrougui (2019): Les Lumières entre confusions et controverses. 68 Pellerin (2009): Les philosophes des Lumières dans la France des années noires, hier S. 57 und S. 160–174: „Voltaire antisémite?“.

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Kritik

Angesichts des Umstands, dass es sich bei Voltaire, Kant usw. um Texte handelt, die mehr als zweihundert, teilweise zweihundertfünfzig oder annähernd dreihundert Jahre alt sind, dürfte die Forderung nach einem Minimum an Quellenkritik, Kontextualisierung und Befassung mit allgemeinen Zielen der von den inkriminierten Autoren angewendeten Argumentationsstrategien nötig sein. Mit diesen in den Humanwissenschaften zwingend geforderten kritischen Methoden widerlegt Abrougui Schritt für Schritt die Anti-Voltaire-Polemik. Samuel Moyn gibt in „The Last Utopia“ eine allgemeine Vorsichtsregel für den Umgang mit Geschichte: „The past is treated as if it were simply the future waiting to happen.“69 Diese methodische und Denkfalle versuchten Lynn Festa und Daniel Carey in „The Postcolonial Enlightenment“ (2009) zu beschreiben und zu vermeiden.70 Zeitgleich tat das Sankar Muthu mit dem Buch „Enlightenment Against Empire“ (2009)71, in dem er sich mit den Stimmen der Aufklärung gegen den Kolonialismus auseinandersetzte. Das Grundsatzproblem ist nicht nur erkannt, sondern ausgiebig beschrieben und diskutiert worden, jüngst von Antoine Lilti.72 Trotzdem bleibt der Ansatz, die Aufklärung in ihrer Zeit als globalen Prozess zu betrachten, wie es Sebastian Conrad versucht – und ebenso ich selber – meistens draußen vor der Tür. Dieser würde zwar der postkolonialen Kritik nicht die Fundamente weggraben, aber er würde die Defizite dieses Zugangs offenlegen. Letzten Endes gelangt jede ausführliche Lektüre von Texten der Aufklärung zu einem Sowohl-als-auch, manchmal bei ein und demselben Autor, manchmal aufs Ganze der Literatur bezogen. Jonathan I. Israel verwies 2017 in dem zitierten Interview mit „The Guardian“ auf die „Histoire des deux Indes“ (1770) des Abbé Raynal (und weiterer Mitautoren) als einem gegen Kolonialismus und Sklavenhalterei gerichtetes Werk hin: Written by a number of Radical thinkers including Raynal, Diderot and d’Holbach, it was both a study of Europe’s relations with the East Indies and the New World and an encyclopedia of anti-colonialism. Arguing that „natural liberty is the right which nature has given to everyone to dispose of himself according to his will“, the book both prophesied and defended the revolutionary overthrow of slavery: „The negroes only want a chief, sufficiently courageous to lead them to vengeance and slaughter … Where is the new Spartacus?“ The Histoire was astonishingly successful, published in more than 50 editions in at least five languages over the following 30 years.73

Man kann auf Rousseau verweisen, der keinerlei Rechtsgrundlage für die Sklaverei anerkannte. So stellte der „Sri Lanka Guardian“ einem Artikel über Rousseaus „Contrat social“ vom 1. Oktober 2020 die folgende Zeile voran: „Rousseau was an outspoken defender of individual liberty and critic of the Atlantic Slave Trade.“74 Man könnte auch auf den Abbé Grégoire (1750–1831) und seine schon 69 70 71 72 73 74

Moyn (2010): The Last Utopia, Kap. 1, S. 11. Carey/Festa, Hg. (2013 [2009]): The Postcolonial Enlightenment. Muthu (2009): Enlightenment Against Empire. Lilti (2019): L’héritage des Lumières, Teil I: „Universalisme“, Kap. 1. The Guardian, 19.2.2017. https://tinyurl.com/pcaxmct9. Anwar A. Khan: Jean Jacques Rousseau and the Social Contract, 1.10.2020. http://www. slguardian.org/2020/10/jean-jacques-rousseau-and-social.html.

Moderne und Aufklärung

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einmal zitierte Schrift von 1808 verweisen: „De la Littérature des Nègres“75: Der Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei Grégoire widerlegte systematisch alle Klischees und weißen Vorurteile über Afrikaner. Alexander von Humboldt übte Kritik am Kolonialismus und an der Sklaverei; beides lernte er auf seinen Reisen in den Amerikas unmittelbar und ausgiebig kennen.76 Eine in der Aufklärungsforschung inzwischen deutlich manifeste Tendenz besteht darin, idealisierende Konstruktionen „der Aufklärung“ kritisch zu hinterfragen und die Aufklärung eher zu historisieren als eine inzwischen zeitlich recht entfernte Epoche, die wir ohne weiteres als „fremd“ entdecken und zum Objekt (wissenschaftlicher) Neugierde machen dürfen. Als Beispiel sei „Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?“ (2015)77 von Andreas Pečar und Damien Tricoire vorgestellt: Die beiden Autoren plädieren dafür, die Aufklärung und die Autoren der Aufklärung wieder stärker im Kontext ihrer Zeit zu verstehen. Sie bezweifeln, dass diese zu den „Vätern“ der Moderne zählen, wobei der Moderne-Begriff verschwommen bleibt. Im Buch wird der Kritik der Aufklärung nachgegangen in Bezug auf kontroverse Themen wie Fortschritt, Toleranz, Rassismus, Sklaverei, Kolonialismus und Geschlechterverhältnisse. Nirgendwo erkennen sie in der Aufklärung unbestreitbare Vorkämpfer für Toleranz, gegen Rassismus, gegen Sklaverei usw., sodass der historische Rückbezug bei den Menschenrechten auf die Aufklärung ambivalent wenn nicht unzutreffend erscheint. Weitere Ansätze tragen zur „Entzauberung der Aufklärung“ bei. So etwa Forschungen zur Globalgeschichte der Demokratie. Als Beispiel sei auf Arbeiten von Benjamin Isakhan und Stephen Stockwell hingewiesen, die den Europazentrismus bzw. die Fokussierung auf den „Westen“ in der Demokratiegeschichte dekonstruieren.78 Demokratische Verfahrensweisen gab es demnach in vielen Regionen der Welt, über die in europäischen Reiseberichten und kultur- bzw. menschheitsgeschichtlichen Darstellungen auch berichtet wurde oder die sogar Vorbildfunktionen bereitstellten wie in Nordamerika (Irokesenbund). MODERNE UND AUFKLÄRUNG Grundsätzlich stellt sich, jedenfalls im 21. Jahrhundert, die Frage, wie sinnvoll es ist, Orte und Institutionen nach historischen Persönlichkeiten, und seien es Aufklärer*innen, zu benennen und Denkmäler aufzustellen. Historische Persönlichkeiten, die nur Licht sind, gibt es nicht, alle haben ihre Schatten. Früher oder später wird jede noch so konsensual zustande gekommene Benennung oder 75 Grégoire (1808): De la Littérature des Nègres. 76 Helmreich (2012): Lumières et dénonciation du colonialisme chez Alexandre Humboldt, zur Sklaverei s. besonders S. 304–312. 77 Pečar/Tricoire (2015): Falsche Freunde. 78 Isakhan/Stockwell, Hg. (2012): The Edinburgh Companion to the History of Democracy. Vgl. außerdem: Isakhan/Stockwell, Hg. (2011): The Secret History of Democracy.

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Kritik

Denkmalerrichtung strittig werden, weil sich die Aufmerksamkeit auf andere Aspekte in der Biografie der Ge- und Verehrten richtet. Dies ist das Problem einer jeden Erinnerungskultur, da sie auf Selektion und selektiver Interpretation beruht. Jede Zeit, jede Generation, entnahm aus der Aufklärung – unabhängig davon, ob die Aufklärung schon „die Aufklärung“ geworden war oder noch schlicht als Literatur des 18. Jahrhunderts oder schlicht als Philosophie galt –, was ihr in Bezug auf die eigene Zeit hilfreich erschien. Da Inhalte der Aufklärung von Anfang an fix an konkrete Personen geknüpft wurden, ergibt sich in der aktuellen Aufklärungskritik eine wenig zielführende Verpflichtung, über historische Personen streiten und Werturteile fällen zu sollen. Aber es kann im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nicht darum gehen, Werturteile über Voltaire oder Kant zu fällen. Kann ich nur dann überzeugend gegen Rassismus eintreten, wenn ich Kant verurteile? Natürlich geht es um symbolische Kommunikation, nicht wirklich um die Person, da diese Anspruch auf eine faire Betrachtung und Beurteilung hätte. Ziel der Aufklärungskritik ist gegenwärtig die Kritik an den „Eliten“. Diese Kritik hat jene ältere an der Bürgerlichen Gesellschaft abgelöst bzw. setzt diese mit gegenwärtigen Kategorien fort. Aufklärungskritik, die im Prinzip eine Kritik an einer später konstruierten „Aufklärung“ ist, aber vortäuscht, eine Kritik an der historischen Aufklärung darzustellen, wird auf diese Weise sinnlos. Die Fixierung auf historische Personen passt nicht, denn es geht um Werte und Identitäten, die niemals aus einzelnen Schriften und Personen abgeleitet werden können. Die Reduktion der Aufklärung auf Aufklärer*innen und einzelne Formulierungen ist durchaus, wie S. Roza schreibt (s. o.), anti-aufklärerisch. Die originäre Aufklärung war ein sozialer Prozess, wäre sie das nicht gewesen, wäre sie nichts, was heute noch trüge und worüber man sich streiten könnte. Letztlich bilden die hier anskizzierten Kritiken an der Aufklärung verschiedene Stränge79 postmodernen Denkens. Nach Daniel Gordon ist die Moderne, auf die sich das postmoderne Denken kritisch bezieht, ident mit „The Enlightenment“. Die Aufklärung sei „das Andere des Postmodernismus“ „in opposition to which postmodernism defines itself as a discovery and a new beginning.“80 „Die Moderne“ ist freilich mehr als nur „die Aufklärung“. Dass diese zu deren Grundlagen gehört, mag nicht zu bestreiten sein, aber die Moderne ist nicht die wörtliche Umsetzung irgendwelcher vermeintlicher Schlüsseltexte des 18. Jahrhunderts. In der Regel werden die Reformpolitiken im 18. Jahrhundert außer Acht gelassen, obwohl diese eine politische, ökonomische, rechtliche und teilweise religiöse Praxis schufen, aus der modifizierte Praktiken entstanden, aus denen sich weitere modifizierte Praktiken entwickelten, und so fort durch das 19. und 20. Jahrhundert hindurch. Das ergibt das, was eigentlich Moderne meint. Und wenn die Moderne nichts anderes wäre als die Umsetzung von Schlüsseltexten der Aufklärung, dann wären die Ergebnisse immer noch völlig wider79 Längst ein Klassiker der Darstellung modernen und postmodernen Denkens: Habermas (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne (zahlreiche Neuauflagen). 80 Gordon (2001): Introduction, S. 1.

Moderne und Aufklärung

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sprüchlich, da – inzwischen sattsam bekannt – in der Aufklärung höchst verschiedene Positionen vertreten wurden – gegen die Sklaverei, für einen Humanismus auf der Grundlage der Gleichheit der Menschen ohne Diskriminierung, und so weiter. Wenn, wie die Kritik an der Aufklärung alias Moderne suggeriert, nur bestimmte Positionen der Aufklärung wie, beispielsweise ‚für‘ oder zumindest ‚nicht gegen‘ die Sklaverei oder ‚für‘ oder zumindest ‚nicht gegen‘ den Kolonialismus, sich durchgesetzt haben, dann bleibt immer noch die Frage unbeantwortet, wieso diese und nicht die anderen Positionen? Wer waren die dafür verantwortlichen Akteure? In der Französischen Revolution wurde die Sklaverei aufgehoben: Erfüllte man damit nicht eine Position der Aufklärung? Napoleon führte sie wieder ein. Plantagenbesitzer, Schiffseigentümer, Leute aus der Wirtschaft, Neokolonisatoren dankten es ihm. Was hat das mit der Aufklärung zu tun? Soll behauptet werden, dass Napoleon die Aufklärung erfüllte? Eine Art Generalabrechnung mit der Aufklärung alias Fortschritt alias Moderne findet sich bei dem indischen Gelehrten Ashis Nandy (2012).81 „Fortschritt“ bezeichnet er als einen der „schmutzigsten Begriffe unseres Wortschatzes“, da mit ihm „einige der furchtbarsten Formen der Gewalt“ gerechtfertigt worden seien. „Fortschritt“ ist nach Nandy eng mit Europa verbunden: Obwohl ihre Wurzeln in der Aufklärung liegen, lässt die Sprache des Fortschritts den tiefgreifenden Einfluss zweier kulturell-geographischer Erfahrungen erkennen, die noch weiter zurückreichen: die Entdeckung Amerikas und der atlantische Sklavenhandel. […] Die neuen Entdeckungen setzten ein wahres Passionsspiel alter Wünsche nach Dominanz und noch älterer Phantasien nach vollständiger Vernichtung der Feinde in Gang.

Im 19. Jahrhundert seien die „Werte der Aufklärung […] in die sich ausdehnende Mittelklasse Europas gesickert“, der Kolonialismus benötigte „ein neues Ziel und eine andere Legitimationsstruktur“. Dabei sei das Konzept „Fortschritt“ „entscheidend“ gewesen: Das Konzept half, Schuld zurückzuweisen und die politische Kultur der Straflosigkeit aufrechtzuerhalten. Der Kolonialismus wurde zu einer pädagogischen Übung, eine notwendige Stufe der Modernisierung, etwas, worauf die Kolonisierten keinesfalls verzichten durften. […] Die Idee des Fortschritts war die logische Konsequenz der Metapher der „zivilisatorischen Mission“. Mit ihr wurde die Aufklärung selbst zum entscheidenden Kennzeichen der überlegenen westlichen Zivilisation. All dies erweckte den Eindruck, als sei im Europa des 17. [sic!] Jahrhunderts das letzte Wort zum menschlichen Schicksal und zur menschlichen Lage gesprochen worden und als seien die richtigen Antworten auf alle wesentlichen Fragen menschlichen Daseins ein für alle Mal gegeben worden. Nach einem solchen geistigen Höhenflug konnte der Rest der Welt allenfalls – in aller Bescheidenheit – kleine Korrekturen am westlichen Weltbild anregen.

Nandy betont, dass die Aufklärung, trotz „vieler guter Elemente“ an Gewalt als „Wirkmacht der Geschichte“ festgehalten habe, Gewalt sei als „ein Instrument zur Umsetzung ihrer Vorstellung von einer erstrebenswerten Gesellschaft“ betrachtet worden. Die „Idee des Kosmopolitismus“ der Aufklärung sei „blutleer“ gewesen:

81 Nandy (2012): Fortschritt. Alle folgenden Zitate in der Reihenfolge des kurzen Textes.

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Kritik In der besten aller möglichen Welten, so der feste Glaube, werde die Gesellschaft frei von ethnisch-religiösen Konflikten und Missständen sein. Diese Idee verdrängte schrittweise andere, kultursensiblere und vielleicht tragfähigere Formen des Kosmopolitismus, die interkulturelle Dialoge in der Vergangenheit schlichten halfen.

Hier trifft sich Nandy prinzipiell mit Dipesh Chakrabarty, der auf die Verdrängung anderer, nicht westlicher, Traditionen und Wissensbestände hingewiesen hatte. Nandy führt sein Argument aus: Viele multikulturelle Gesellschaften in Asien und Afrika haben über Jahrhunderte hinweg mit einfacheren Formen des Kosmopolitismus gelebt, die auch menschliche Schwächen zu integrieren vermochten.

Die Identifizierung von Aufklärung und Moderne und die Ableitung vieler Fehlentwicklungen und Missstände daraus ist historisch ganz allgemein teilweise inkongruent und übersieht die zahllosen Akteur*innen der Geschichte. Die Gegner*innen von Gewalt, Kolonialismus, Unterdrückung folgten mindestens genauso der Matrix der Aufklärung wie die selbsternannten Zivilisator*innen. Es wird in der Kritik an der Aufklärung vielfach eine Präsenz der Aufklärung bei den Menschen vorausgesetzt, die nicht vorhanden gewesen war. Man müsste unterstellen, dass „die Aufklärung“ den (westlichen) Menschen in Fleisch und Blut übergegangen war, aber wie weist man das methodisch unanfechtbar nach? In Wahrheit ist nicht die Aufklärung das Andere des postmodernen Denkens, wie Gordon meinte, sondern das Andere ist ein späteres Konstrukt namens „Aufklärung“, das nach Bedarf zugerichtet wird. Derrida arbeitete sich in der „Grammatologie“ an Rousseau ab82 und wurde trotz dieser erstaunlichen Perspektivverengung zu einem der einflussreichsten postmodernen Aufklärungskritiker. Ausgerechnet das postmoderne Denken, das eigentlich dezentrieren will, zwingt „die Aufklärung“ für die postmoderne Kritik in eine Zentralperspektive. Das hat den Effekt, dass Gegenkritik aufgebaut wurde und so die Aufklärung der Aufklärung in eine neue Runde gebracht wurde, die, jedenfalls gegenwärtig, zu einem Sieg nach Punkten des affirmativ-positiven Ansatzes zu führen scheint, wie das nächste Kapitel erweisen wird.

82 Derrida (1974): Grammatologie [frz. 1967: De la grammatologie], Zweiter Teil: darin „Einleitung in die ‚Epoche Rousseaus‘“.

ORIENTIERUNG EINFÜHRUNG Die Allgegenwart der Aufklärung im 21. Jahrhundert ist eindeutig. Von Kant, Lessing, Mendelssohn, Goethe, Schiller, Herder hat im deutschen Sprachraum wohl jede*r schon einmal gehört. Voltaire, Rousseau, Diderot, Olympe de Gouges – gute alte Bekannte in der frankophonen Welt. Newton, Locke, Hume, Paine, Smith und Mary Wollstonecraft – beste Freund*innen in der anglophonen Welt. Der jüdische niederländische Frühaufklärer Baruch de Spinoza – bekannt als Wegbereiter der Demokratie. Von Kant hat man aber auch in Japan oder sonst wo auf der Welt gehört, Rousseau ist nicht weniger weltweit bekannt – und so fort. Oft ist nicht allen immer ganz klar, wofür diese Namen im Einzelnen stehen – Goethe??? Ah ja! „Fack ju Göhte, genau …“ –, aber sie scheinen wichtig zu sein, so oft wie diese und andere Namen genannt, mit Hintersinn verballhornt oder für Namensgebungen (Schulen, Straßen, Plätze, Firmen, Netzwerke etc.) verwendet werden. Ganz zu schweigen von Denkmälern, Büsten, Erinnerungstafeln, Filmen, Musicals und dergleichen mehr. Dann wären da die Freimaurer*innen, noch immer scheinbar gut für spannende esoterische und Verschwörungsgeschichten, doch in Wirklichkeit stehen sie für die longue durée einer humanistischen Grundhaltung. Ihr Aufstieg begann im frühen 18. Jahrhundert, bis heute gibt es weltweit Freimaurer*innenlogen. Vor einigen Jahren schlenderte ich durch die Straßen von Iquitos im peruanischen Amazonasgebiet und stutzte – ich stand plötzlich vor einem Freimaurertempel. Die Freimaurer*innen, sie sind gegenwärtig und in unserer Zeit lebendig gebliebene Bot*innen der aufklärerischen Soziabilität. Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom August 1789 mag zunächst ein wechselvolles Schicksal erlebt haben, gleichwohl ist sie in der jetzigen französischen Fünften Republik geltendes Recht. Ein Rechtsdokument des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist im Jahre 2021 einklagbar, heißt das! Der erste Satz der Präambel der geltenden französischen Verfassung lautet: Das französische Volk bekennt sich feierlich zu den Menschenrechten und zu den Grundsätzen der nationalen Souveränität, wie sie in der Erklärung von 1789 festgelegt und in der Präambel der Verfassung von 1946 bestätigt und ergänzt wurden, sowie zu den in der Umweltcharta von 2004 festgelegten Rechten und Pflichten.1

1

„Le peuple français proclame solennellement son attachement aux Droits de l’homme et aux principes de la souveraineté nationale tels qu’ils ont été définis par la Déclaration de 1789, confirmée et complétée par le préambule de la Constitution de 1946, ainsi qu’aux droits et devoirs définis dans la Charte de l’environnement de 2004.“ Verfassung vom 4. Oktober 1958 in der geltenden Fassung vom 23. Juli 2008, Text beim Conseil Constitutionnel: https:// tinyurl.com/54w7j8h4 (Übersetzung: DeepL, https://www.deepl.com/translator).

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Orientierung

Dasselbe gilt für die US-amerikanische Verfassung von 1787/1789.2 Zwar wurde sie durch inzwischen 27 Zusätze (Amendments)3 weiterentwickelt, aber ihr Kern vom Ende des 18. Jahrhunderts besteht weiter. Natürlich ist auch sie im Jahre 2021 weiterhin einklagbar. Die Aufklärung gilt, gegebenenfalls gerichtsfest. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist in unserer eigenen Zeit, wie schon die wenigen Beispiele beweisen, sehr unmittelbar präsent. Rund um den Globus enthalten Verfassungen Bestimmungen, die in der Aufklärung rechtsphilosophisch durchdacht und ausformuliert wurden. Bidyut Chakrabarty, beispielsweise, geht in seinem bereits im Kapitel „Praktiken“ (Abschnitt 11) zitierten Buch über die indische Verfassungsidentität der Frage nach, was in der indischen Verfassung von 1950 auf die durch die Briten vermittelte Aufklärung und was auf indische Wurzeln zurückzuführen ist.4 In Ägypten wurde 1992 die „Gesellschaft für Aufklärung“ (Jam’iyyat alTanwīr) gegründet, die ein „Al-tanwīr“ (Die Aufklärung) genanntes Bulletin herausgab. Zwei Jahre vorher (1990) war die Kairoer Internationale Buchmesse unter das Motto „Einhundert Jahre Aufklärung“ gestellt worden. Präsident Mubarak suchte die Nähe zu „Tanwīr“, und Intellektuelle suchten die Nähe zur Regierung. Das änderte nichts an den eigentlichen Zielrichtungen, die Elizabeth Suzanne Kassab wie folgt zusammenfasst: The Egyptian and Syrian fin-de-siècle writings on tanwir are quite explicit: their subject is the darkness of their times spread by the ominous developments of the postindependence regimes. The darkness they address is concrete: their authors’ future and the future of their fellow citizens doomed by corrupt and violent states. It is the darkness of present times overwhelmed by endemic socioeconomic and political problems and the systematic prevention of people from participating in dealing with them publicly and rationally. It is also the darkness of a past that one could refer to in order to position oneself intellectually and politically in search of alternative futures, a past that is now blurred by an overwhelming state ideology. It is the fear and mistrust imposed by repression and violence, the darkness of state prisons and torture cells, and the darkness of state mendacity, cynicism, and opportunism. It is feelings of impotence, humiliation, insecurity, and despair. It is deprivation of basic health care, education, liberties, civil rights, and even human rights.5

Der Bezug zur Nahḍa-Periode des 19. Jahrhunderts, in der oppositionelle Werke erschienen waren, ist unmissverständlich. „Tanwīr“ ist nicht einfach als arabisches Wort für „Aufklärung“ (des 18. Jahrhunderts) zu betrachten, hängt aber auch mit dieser Bedeutung zusammen und gehört in den Kontext der politischen Debatten in Ägypten seit den 1990er Jahren bis in den „Arabischen Frühling“. Es 2 3

4 5

Text und Erläuterungen auf der Seite des US-amerikanischen Senats: https://tinyurl.com/ 3c5cn456. Alle Verfassungszusätze können auf der Seite des US-amerikanischen Senats in chronologischer Reihenfolge nachgelesen werden: https://www.senate.gov/civics/constitution_item/ constitution.htm#amendments. B. Chakrabarty (2019): India’s Constitutional Identity. Die indische Verfassung kann hier nachgelesen werden: https://www.constitutionofindia.net/constitution_of_india. Kassab (2019): Enlightenment on the Eve of Revolution, S. 149.

Einführung

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folgte eine Vielzahl von Aktivitäten, die mit dem Schlüsselwort „tanwīr“ verbunden wurden und die unter anderem zu einer erneuerten Befassung mit Averroes (Ibn Rušd, 1126–1198) führten.6 Wir treffen in den 1990er Jahren auf eine intensiver werdende Debatte um eine „islamische Aufklärung“ seit dem 18. Jahrhundert, die von Reinhard Schulze7 angestoßen wurde. Inzwischen ist es möglich geworden, eine Synthese zu schreiben, wie jene von Christopher de Bellaigue: „Die islamische Aufklärung“ (englisch 2017, deutsch 2018). Man beachte den bestimmten Artikel, der auch im englischen Originaltitel steht.8 Die Aufklärung findet sich im Indien der Zeit um 1800 als Symbiose zwischen europäischen und indischen Anteilen, wie das Beispiel des Raja Serfoji II. im südostindischen Tanjore zeigt.9 Dass „Aufklärung“ ein globalhistorisches Phänomen ist – vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart –, tritt schnell vor Augen. Mehr noch: Man kann an einem beliebigen Wochentag eine beliebige Zeitung aufschlagen bzw. online aufrufen und wird mit einiger Wahrscheinlichkeit immer wieder auf ausdrückliche Verbindungen zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts treffen. Meistens sind sie positiv. Das gilt für indische, kenianische, türkische Zeitungen, für europäische, für amerikanische. Zeitungsartikel, die die Aufklärung thematisierten, dienten im Januar 2015 in Paris nach den Attentaten auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den Supermarkt Hyper Cacher bzw. im Oktober 2020 nach der Enthauptung des Lehrers Samuel Paty und der Ermordung von drei Menschen in Nizza der Selbstversicherung. Zeitungsartikel mit Bezug auf die Aufklärung unterstützen eine kritische Haltung gegenüber dem Illiberalismus wie in Ungarn, sie dienen der Systemkritik wie in Indien, aber es gibt auch starke Kritik an der Aufklärung, z. B. im Zuge der Debatte um die Entkolonialisierung des Denkens. In unserer visuellen und klanglichen Welt ist die Aufklärung sehr präsent. Schlösser, urbane Raumgestaltung, Parks, Opern, Orchester- und Kammermusik, Bildende Künste des 18. Jahrhunderts zählen dazu. Nicht immer wird dabei bewusst „Aufklärung“ assoziiert, aber diese steckt überall drin. Sie beeinflusst uns, ohne dass wir das ausdrücklich wissen müssten. Die Europäische Union hat, dabei dem Europarat nachfolgend, Beethovens Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ aus der Neunten Symphonie als Hymne gewählt. Im Kunst- und Kulturbetrieb sind Bearbeitungen von und Auseinandersetzungen mit Werken des 18. Jahrhunderts gang und gäbe. Maurice Béjart (1927–2007) ließ die Neunte Symphonie von Beethoven 1964 tanzen, seine Choreografie wird bis heute aufgeführt, so am 9. November 2014 in der NHK Hall in

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Ebd., Kap. 1. Schulze (1990): Das islamische achtzehnte Jahrhundert; vgl. Kapitel „Praktiken“, Abschnitt 3. Bellaigue (2018): Die islamische Aufklärung. Nair (2012): Raja Serfoji II; vgl. Kapitel „Praktiken“, Abschnitt 3.

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Orientierung

Tokyo, in einer Besetzung, die Beethovens Intentionen bestens aufzugreifen scheint: 39 Tänzer[*innen; W.S.] aus 15 Nationen, ein Orchester aus Israel, ein indischer Dirigent, ein japanisches Ensemble, ein französisches Ensemble, ein französischer Choreograph, deutsche Worte und Musik. Seit mehr als 25 Jahren schlägt die Produktion Zuschauer in ihren Bann – auf der ganzen Welt: Ein weiterer Beweis, dass ihre Musik und Bilder in der Lage sind, Menschen weltweit zu berühren und zusammenzubringen, unabhängig von Nationalität, Religion, Alter, Geschlecht und all den anderen Faktoren, die an anderen Orten und in anderen Situationen Gräben zwischen Menschen schlagen.10

Bei genauerer Betrachtung der ideellen, geistigen, normativen und Werte-Fundamente unserer Zeit bleibt wenig übrig, in dem nicht etwas von der Aufklärung stecken würde. So etwas Alltägliches wie die kritische Analyse, die analysierende Kritik, ist ein Werk schon der Frühaufklärung. Für alle, die nicht Verschwörungstheorien anhängen, ist es die alltagstaugliche Methode schlechthin. Überall treffen wir auf Wissenschaft, sie ist mit allem verbandelt. Die Weichen hierzu wurden in der Aufklärung gestellt. Dass jede*r nach „Glück“ streben darf und soll, dass es ein Anrecht auf den individuellen Anteil am „Glück“ gibt, entstammt ebenfalls der Aufklärung. Die Grundhaltung findet sich in der Sozialphilosophie, zu der der moderne Wohlfahrtsgedanke ebenso gehört wie das Prinzip der Chancengleichheit und -gerechtigkeit und das Gebot der Nichtdiskriminierung. In der Aufklärung wurde vieles angestoßen, was sich, wie beispielsweise die Psychologie, nach ihr stark entwickelt hat und heute für sehr viele Menschen Relevanz besitzt und nicht selten das Leben wieder lebenswert macht. Andere Weichenstellungen und Anstöße werden aktuell heftig kritisiert, hier finden, wie es bereits oben dargestellt wurde, Denkmalstürze statt, aber sie treffen ihrerseits auf heftige Kritik, weil sie „die Aufklärung“ für etwas in die Verantwortung nehmen, für das sie nicht verantwortlich ist: Es führt kein direkter Weg, im Grunde überhaupt keiner, von Immanuel Kant zu Cecil Rhodes. Grundsätzlich sind Namen und Themen der Aufklärung beim Publikum beliebt. Die bekanntesten Namen der Aufklärung kommen in der beliebtesten Online-Enzyklopädie der Welt, Wikipedia, auf Artikel in mehr als 200 Sprachversionen (bei derzeit insgesamt rund 300 Sprachversionen) und werden jährlich millionenfach konsultiert. Viele Streitschriften und Debattenbeiträge zur Frage der Zukunft unserer Welt rekurrieren auf die Aufklärung. Gefordert wird eine „Zweite Aufklärung“, eine „radikale Aufklärung“, „Aufklärung jetzt!“ oder eine Fortführung des „Projekts Aufklärung“ – und gemeint ist nicht irgendeine Aufklärung, sondern „die Aufklärung“. Vom Streit zwischen den noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts verfügbaren Weltanschauungen ist offenbar allein das, was wir „die Aufklärung“ zu nennen 10 Vgl. die (zutreffende) Beschreibung auf der Seite des Musikversandhändlers jpc [sic!]: https://tinyurl.com/zvmnevm8. Die Aufführung war einige Monate von 2020 bis 2021 in der ARTE-Mediathek open access anzusehen. Warum auf der Seite von jpc „seit mehr als 25 Jahren“ geschrieben wurde, obwohl es 2014 genau 50 Jahre waren, ist unklar.

Einführung

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gewohnt sind, übrig geblieben. Alternative Angebote gibt es nur noch für die, die gerne diktatorisch andere Menschen beherrschen wollen, die Gewaltexzesse, Verbrechen, Ausbeutung und Entwürdigung für angemessene politische Instrumente halten, aber dahinter stehen keinerlei Werte außer der Selbstbereicherung der Machtclique auf Kosten Aller. Dass heute nur noch die Aufklärung als weltanschauliches Angebot übrig geblieben ist, hat weitere Gründe. Da gibt es zunächst einmal das Lebensnahe: Die Zahl der Aufklärer*innen war groß, viele entstammten kleinen Verhältnissen, ihre Wege und Schicksale waren ebenso divers wie ihre Thesen, etliche litten unter Gefängnis, freiwilligem Exil, Vertreibung, zeitweiliger Ächtung, manchmal Verachtung. Vielen sind Akte „zivilen Ungehorsams“ nachzuweisen, Aufklärer*innen waren selten „brav“, sie setzten sich über Verbote hinweg und lenkten das Licht des Erkennens auf alle möglichen Tabus. Ihnen können sich auch heute viele Menschen verwandt fühlen. Trotzdem lebten sie ihr Leben in der Regel mit Freude, zeigten diese, schlugen mitunter über die Stränge, hatten ihre Geheimnisse, Liebschaften, Leidenschaften, Schwächen, Eitelkeiten. Die meisten Aufklärer*innen – Geistesgröße hin oder her – stehen uns als Menschen irgendwie nahe. Der oft erlittenen Gewalt trat eine in sich vielfältige Philosophie gegenüber, die soziale, politische, ökonomische, kulturelle und religiös-kirchliche Veränderungen formulierte und forderte, dazu aber keine Gewalt als Mittel zum Zweck forderte. Die Vorbereitung der Menschen zur Erreichung der Veränderungen sollte durch Erziehung und Bildung geschehen. Der individuellen Befähigung und Initiative wurde der Vorzug vor vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten des Geistes und der Geschichte gegeben. Der Ansatz ist der der Menschenfreundlichkeit. Dort ist der Grund für den immer noch hohen Sympathiewert der Aufklärung zu suchen. Die Aufklärung war eine Lebenswissenschaft – nicht in dem eingeschränkten Sinn von Lebenswissenschaften heute, sondern im umfassendsten vorstellbaren Sinn, da alles einbezogen wurde. Diese Lebenswissenschaft – vielleicht besser: Lebensweltwissenschaft – ging von der Würde des Menschen aus. Keine der nach der Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Weltanschauungen vereinigte solche fundamentalen Bestandteile in vergleichbarer Weise. Freilich ist das kein Grund, die Aufklärung mit naiven Augen zu sehen. Die sozialen, politischen, ökonomischen, kulturellen und religiös-kirchlichen Konzepte trugen, so sie Praxis wurden, unter Umständen zur Implementierung struktureller Gewalt und struktureller Asymmetrien bei. Insoweit empfiehlt sich ein nüchterner Umgang mit der Aufklärung und den Aufklärer*innen. Wem kein Denkmal errichtet wird, der oder die muss auch nicht irgendwann wieder heruntergestürzt werden. Sicherlich wird auf „die Aufklärung“ so einiges projiziert, sicherlich ist „die Aufklärung“ ein Konstrukt, aber das Füllhorn der Aufklärung lief schon Mitte des 18. Jahrhunderts geradezu über und dennoch wurde immer weiter hineingefüllt. So viel, dass auch für uns das Füllhorn immer noch voll ist. So voll, dass dem

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Orientierung

bisher selbst die stärker gewordene Kritik an den Irrtümern und intellektuellen Fehlleistungen der Aufklärung keinen Abbruch tun konnte. Im 18. Jahrhundert wurde Aufklärung betrieben, es kam zu Aufklärungen im Plural. In den Schulen wurde aufgeklärt, in gewissen Grenzen, wenn man an die Diskussion um die Opportunität von „Volksaufklärung“ denkt. Es gab Aufklärer*innen, aufgeklärte Menschen, sogar aufgeklärte Monarch*innen. Aber es gab noch nicht das große und globale „wir“. Die Aufklärung reflektierte sich selber, sie war sich ihrer selbst bewusst, aber sie präsentierte sich noch nicht als grand récit. Sie sah sich noch nicht selber als eine Geschichte, die nach den Regeln des grand récit zu erzählen sei. Das geschah erst im Laufe der Geschichte der Aufklärung nach der Aufklärung, grob gesagt nach 1800, durch die die Aufklärung zur Aufklärung mit bestimmtem Artikel wurde (Kapitel „Namensgebung“ und „Intellektuelle“). „Die Aufklärung“ ist ein Konstrukt, das sich längst verselbstständigt hat. Dem Historiker stellt sich die Aufklärung des 18. Jahrhunderts als hochkomplexer Hypertext dar. Den aufzuklären, ist eine wissenschaftliche Aufgabe. Für aktuelle öffentliche Debatten um die Frage, worauf wir ideell, weltanschaulich, unsere Zukunft gründen sollen, ist das aber nichts. Für den Inhalt des Konstrukts namens „die Aufklärung“ gibt es im Französischen die schöne Formulierung vom „Esprit des Lumières“, die unausweichlich zur Assoziierung eines der berühmtesten Bücher der Aufklärung führt, zu Montesquieus „Esprit des Lois“ (1748). Mit einem „Esprit des Lumières“ lässt sich gut argumentieren. Und so geschieht es auch in vielen Beiträgen, unter denen rein exemplarisch das rezente Werk von Steven Pinker „Enlightenment now“ (2018) genannt sei (s. u.). Der Konstruktionsprozess war global – wie schon die historische Aufklärung global war. Zusätzlich zu den hier oben aufgelisteten Impressionen stellt sich die Frage, ob die Globalität der Aufklärung in unserer Gegenwart auch systematisch erfassbar ist. Eine Option wäre das Weltdokumentenerbe der UNESCO, in dem allerdings bis zum jetzigen Zeitpunkt die Aufklärung nur eine Nebenrolle spielt. In diesem Programm wird ein Weltgedächtnis auf der Grundlage historischer Primärquellen konstruiert. Die Vorschläge, welche Quellen in die Liste aufgenommen werden sollen, kommen von den beteiligten Ländern. „Die Aufklärung“ gehört nach Ausweis der aktuellen Liste nicht zu einer systematischen inneren oder informellen Strukturierung.11 Immerhin findet sich eine Linné-Sammlung von Seiten Dänemarks, es kommen aus Deutschland als Beitrag zur Liste Leibniz’ Briefwechsel und Goethes literarischer Nachlass, Frankreich steuert die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 bei, Israel theologische und alchemistische Schriften Isaac Newtons. Das UNESCO-Schwesterunternehmen einer World Digital Library12 räumt der Aufklärung etwas mehr Platz ein, allerdings wiederum keinen prominenten, 11 Aktuelle Liste: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Liste_des_Weltdokumentenerbes &oldid=213641934. 12 Vgl. https://www.wdl.org/en/. Abfragen sind in Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Portugiesisch, Russisch und Spanisch möglich.

Globales Publikumsinteresse an 33 Aufklärer*innen

291

auf den die Nutzer*innen direkt gelenkt würden. Immerhin findet man nach Eingabe des Suchworts „Enlightenment“ ein (unvollständiges) digitalisiertes Manuskript mit der vorletzten Fassung von Montesquieus „Esprit des Lois“ aus den Beständen der französischen Nationalbibliothek13, und anderes mehr, meistens bezieht sich das englische Wort aber auf Themen, die mit religiöser oder anderer Erleuchtung zu tun haben. Ähnliche Erfahrungen stellen sich mit der Suche z. B. in der französischen Fassung ein. Eine deutsche Fassung gibt es derzeit nicht. Erfolgversprechender ist es, von gesellschaftlichem Bedarf auszugehen. Hier bieten sich als Datengrundlage Wikipedia und Google Trends sowie Zeitungen an. Im letzteren Fall erweist sich Google News als sehr nützlich, da mittels der gewählten Suchworte weltweit einschlägige Zeitungsartikel aus dem prinzipiell digital zugänglichen Milliardenbestand an Zeitungsartikeln herausgefischt werden können. GLOBALES PUBLIKUMSINTERESSE AN 33 AUFKLÄRER*INNEN In diesem Abschnitt des Kapitels „Orientierung“ interessiert vor allem, wie sich ein allfälliges globales Interesse an der Aufklärung darstellt. Neben Zeitungen, die unten in den Abschnitten 3 und 4 analysiert werden, stellt Wikipedia eine gute Möglichkeit dar, den Kreis des Publikums zu erweitern, da es sich um eine global verbreitete und sehr populäre Enzyklopädie handelt. Laut Selbstauskunft von Wikipedia wird die Enzyklopädie zu den Massenmedien gerechnet, was zweifellos gerechtfertigt ist. Anfang 2021 kam sie auf Platz dreizehn unter den global am häufigsten benutzten Websites.14 Abgesehen vom jeweiligen Basisartikel „Aufklärung“ existieren zu vielen Aufklärer*innen Artikel, und zwar in mehreren, wenn nicht vielen Sprachversionen, die über den Globus verteilte „kleine“ und „große“ Sprachen betreffen. Alles in allem erscheint Wikipedia geeignet, einige Eindrücke zur heutigen Globalität der Aufklärung, repräsentiert durch ihre Autor*innen, zu gewinnen. Im Folgenden wird ein für die Aufklärungsforschung ungewohnter methodischer Weg beschritten, sodass einige erläuternde Bemerkungen zur Vorgehensweise unumgänglich erscheinen. Über die deutsche Sprachversion von Wikipedia ist am Ende eines jeden Artikels eine „Abrufstatistik“ zugänglich, die, einsetzend mit dem 1. Juli 2015, die Aufrufe in allen Sprachversionen, in denen ein bestimmter Artikel existiert, aufführt.15 Die Zeitfenster können nach Bedarf variiert werden. Man erhält Werte in Bezug auf jede Sprachversion, in der ein bestimmter Beitrag vorliegt, außerdem 13 Vgl. https://www.wdl.org/en/item/592/view/1/15/. 14 https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Wikipedia&oldid=214236290. 15 Erläuterungen vgl. https://wikitech.wikimedia.org/w/index.php?title=Tool:Pageviews&oldid= 1872114. Die benutzte Abrufstatistik wird von anfangs drei, nun zwei registrierten Wikipedia-Nutzern betreut (MusikAnimal, Marcel Ruiz Forns – Links zu den Usern s. auf einer xbeliebigen Pageview-Seite unten).

292

Orientierung

werden die für alle Aufrufe kumulierte Zahl und viele andere statistische Werte mehr angezeigt, von denen je nach Fragestellung Gebrauch gemacht werden kann. Die Ergebnisse der Statistik werden im Folgenden jeweils zunächst in tabellarischer Form aufgeführt und dann unter Angabe der verwendeten Kriterien interpretiert. Es versteht sich von selbst, dass kein Wert absolut gesehen werden darf, die Höhe eines Werts allein besagt nicht allzu viel. Erst die Verbindung mit anderen statistischen Werten, Vergleich und Kontextualisierung schaffen Interpretationsmöglichkeiten. Der erste Arbeitsschritt in Bezug auf die Auswertung von Wikipedia bestand darin, aufgrund der wissenschaftlichen Literatur zur Aufklärung (des 18. Jahrhunderts) in allen erforschten Weltregionen eine Namensliste zu erstellen. Namen, die selbst in diesem auf Spezialwissen ausgerichteten Feld selten vorkamen, wurden aussortiert, da signifikante Zugriffszahlen und weitere „globale“ Merkmale in Wikipedia, sofern sich überhaupt ein Artikel gefunden hätte, nicht zu erwarten waren. Nicht aussortiert wurden, trotz fallweise seltener Erwähnung, Aufklärerinnen (in der Regel zugleich Frauenrechtlerinnen). Dasselbe gilt in Bezug auf Aufklärer in Afrika und Asien, für die die durchschnittliche Aufklärungsforschung wenig Interesse beweist. Teilweise gilt das auch noch für Lateinamerika. Grundsätzlich aussortiert wurden sogenannte „aufgeklärte Herrscher*innen“, da für diese das Merkmal „aufgeklärt“ ohnehin strittig und als Motiv für eine Suche in Wikipedia (oder Google) nicht gesichert ist. Aussortiert wurden in einem späteren Schritt, nachdem verschiedene Interpretationsmethoden probeweise durchgeführt worden waren, die US-amerikanischen „Gründerväter“, die zwar auf hohe kumulierte Zugriffswerte kamen, aber überwiegend in den USA nachgesucht wurden. Ein „globales Interesse“ ließ sich daher für diese Gruppe nicht nachweisen, wenn man von Alexander Hamilton absieht, der jedoch nicht als Aufklärer überdurchschnittlich millionenfach aufgerufen wurde, sondern als Namensgeber des Musicals, in dem es zwar um diesen Hamilton, aber nicht um dessen Funktion als amerikanischer Aufklärer geht. Das Musical hat mit dem Thema der Aufklärung nichts zu tun. Dieser erste heuristische Zugriff ergab rund 200 Namen, für die die Zugriffszahlen in Wikipedia für den gewählten Untersuchungszeitraum erhoben und Gegenchecks mit Google Trends (dazu s. u.) durchgeführt wurden. In die Tabelle 1a aufgenommen wurden alle jene, die auf mehr als 1 Million Zugriffe, in allen Sprachversionen zusammengerechnet, gekommen sind. Das waren 41 Namen. Tabelle 1a ist insoweit repräsentativ, als sie im Rahmen der genannten Auswahlkriterien die 41 Aufklärer*innen enthält, die in rund sechs Jahren (weiter geht die benutzte Statistik nicht zurück) auf 1 Million oder mehr Aufrufe in allen Sprachversionen zusammenkamen. Die weiteren 20 Namen (Tabelle 1b) mit weniger als 1 Million Aufrufen verstehen sich exemplarisch, es wurden vorzugsweise Aufklärerinnen sowie Aufklärer aus in der Forschung weniger beachteten Regionen eingetragen, um auch an diesen die Frage nach einem allfälligen „globalen Interesse“ zu untersuchen. Aufgrund der weiter unten erläuterten Kriterien trifft dies etwa auf Anton Wilhelm Amo zu (Kapitel „Praktiken“, Abschnitt 3), der auf rund 832.000 Zugriffe kommt.

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Globales Publikumsinteresse an 33 Aufklärer*innen Tabelle 1a: Namen mit über 1 Mio. Abrufen in Wikipedia 1.7.2015 – 3.6.2021 (Spr. = Sprachversionen) Name

Abrufe

Spr.

Name

Abrufe

Spr.

Newton Kant Rousseau Voltaire Locke Goethe Smith Montesquieu Linné Spinoza de Sade Leibniz Hume Schiller A. v. Humboldt Lomonossow Diderot Hidalgo Paine Defoe Raja Ram Mohan Roy

61.272.329 31.908.528 27.659.326 20.935.099 22.599.760 22.290.431 20.683.868 14.132.604 13.787.402 13.226.313 12.316.087 12.087.984 10.552.310 8.199.754 8.072.292 7.715.329 7.075.305 7.037.888 6.182.079 6.149.079 6.099.241

218 162 144 148 131 176 148 97 168 107 70 143 101 108 96 83 90 50 81 97 50

Bentham Swift Wollstonecraft Olympe de Gouges Abigail Adams G. Berkeley Herder Lessing Beccaria Goldoni Condorcet Vico Gibbon Phillis Wheatley I. Krasicki D. Cantemir Mendelssohn Radischtschew J. R. WoronzowaDaschkowa

6.085.371 5.930.611 5.187.992 4.465.207 3.367.932 3.223.331 2.171.571 2.574.541 2.335.026 2.008.912 1.896.490 1.544.162 1.526.505 1.418.423 1.247.171 1.234.225 1.161.567 1.068.132 1.006.993

71 93 91 51 48 82 65 69 43 65 49 62 71 37 26 39 44 41 26

E. Espejo

1.002.024

15

Tabelle 1b: Namen mit weniger als 1 Mio. Abrufen, Auswahl exemplarisch Name

Abrufe

Spr.

Name

Abrufe

Spr.

C. Wolff Anton W. Amo De Jovellanos G. C. Lichtenberg Tatischtschew A. G. Baumgarten J. J. Fernández de Lizardi

909.173 832.062 771.329 749.753 718.120 598.331 584.737

48 18 23 42 31 48 18

501.552 434.450 405.967 377.187 334.437 272.874 131.495 96.263

38 35 30 21 32 32 9 11

C. M. Wieland S. Stasicz H. Kołłątaj

574.832 529.039 511.953

43 19 21

G. Forster R. Velestinlis Lavater Feijoo y Montenegro A. Korais S. Konarski Sera Jakob Judith Sargent Murray Henriette Herz Etta Palm d’Aelders

88.119 53.711

14 10

Die übrigen Namen aus der ersten heuristischen Erhebung wurden wegen zu geringer Datenbasis nicht weiter verfolgt. Das lässt sich gut an den Werten für die Frauenrechtlerin Etta Palm d’Aelders nachvollziehen, die aus den angegebenen

294

Orientierung

exemplarischen Gründen noch in die zweite Liste mit 20 Namen aufgenommen wurde. Sie kommt auf weltweit knapp 54.000 Zugriffe in Wikipedia in zehn Sprachversionen. Google Trends zeigt keine Daten an. Alle Tabellen dienen nur der Dokumentation. Die Werte, die Wikipedia und Google Trends für den gewählten Zeitraum (1.7.2015 bis 3.6.2021) anzeigen, variieren erfahrungsgemäß leicht, wenn man sie zu einem späteren Zeitpunkt nochmals aufruft. Das liegt daran, dass ggf. weitere, denselben Zeitraum betreffende, Daten erst später in die Wikipedia-Statistik bzw. in das Datenmaterial von Google Trends einbezogen wurden. Darauf haben die Nutzer*innen beim Abruf der Statistiken keinen Einfluss. Der Betrachtungszeitraum erklärt sich daraus, dass die hier genutzte Wikipedia-Statistik erst mit dem 1. Juli 2015 einsetzt. Das Enddatum hat für sich keinen Aussagewert. Ich habe je einen Probelauf 2019 und 2020 durchgeführt, Schlussfolgerungen gezogen – wie die Reduzierung der Ausgangsliste von 200 Namen auf 61 – und habe am 3. Juni 2021 die Werte für die 61 Namen bis zu diesem Stichtag abgerufen und in die Tabellen eingetragen. Die statistischen Werte hängen von einer Vielzahl von Einflüssen ab. Die Zahlen enthalten nicht nur die Lesezugriffe, sondern z. B. auch Aufrufe, die im Zusammenhang der Abfassung und Veränderung der Artikel stehen. Der Betrachtungszeitraum von ca. sechs Jahren erscheint aber lang genug, um die statistischen Auswirkungen von allfälligen Sondereffekten wie Jahres- und Gedenktagen oder Autor*innenkontroversen, die die Zugriffszahlen möglicherweise punktuell nach oben getrieben haben, auffangen zu können. Bei der nun erforderlichen Interpretation dieser Listen steht im Vordergrund, in welchen Fällen auf ein „globales Interesse“ an den Personen geschlossen werden kann. Dazu wurden folgende Kriterien entwickelt: Je mehr Sprachversionen eines Artikels vorhanden sind, je besser die Sprachen die Vielfalt der Welt abbilden, desto globaler ist das Interesse an dem fraglichen Aufklärer bzw. der fraglichen Aufklärerin. Grundsätzlich führen viele Sprachversionen auch zu höheren Abrufzahlen, wenn die Sprachversionen mindestens während eines guten Teils des Betrachtungszeitraums schon zur Verfügung standen, aber die Korrelation ist eher locker: Der Artikel „Mary Wollstonecraft“ kommt im Erhebungszeitraum (1.7.2015 bis 3.6.2021) auf ‚nur‘ 5.187.992 Aufrufe (Platz 24 nach Zahl der Aufrufe), liegt aber in 91 Sprachversionen vor. „Denis Diderot“ gibt es in 90 Sprachversionen, er kommt aber auf 7.075.305 Aufrufe (Platz 17). Der nach der kumulierten Aufrufzahl auf Platz 2 stehende Immanuel Kant kommt auf rund 31,2 Millionen Aufrufe in 162 Sprachversionen; Isaac Newton, Platz 1, erreicht beinahe doppelt so viele Aufrufe (knapp 61,3 Millionen), aber in Relation dazu erscheinen 218 Sprachversionen (ebenfalls Platz 1) nicht überwältigend, wobei es insgesamt nicht ganz 300 Sprachversionen gibt. Daran gemessen ist der Wert sehr hoch. Die am häufigsten benutzte Sprachversion eines Artikels hebt sich immer deutlich von der zweit- und dritthäufigsten Sprachversion und den danach folgenden ab. Je größer der Abstand zur zweithäufigsten Sprachversion ist, desto eher wirken sich länderspezifische (nationale) Einflüsse auf die Statistik aus. Das lässt

Globales Publikumsinteresse an 33 Aufklärer*innen

295

sich mithilfe von Google Trends kontrollieren, ob das so ist, oder ganz andere Faktoren eine Rolle spielen. Der Artikel, beispielsweise, zum russischen Aufklärer Lomonossow, nach dem die Moskauer Lomonossow-Universität benannt ist, kommt in allen Versionen zusammen auf rund 7,7 Millionen Aufrufe und liegt in 83 Sprachversionen vor. Auf die häufigste Sprache, Russisch, entfallen 6,15 Millionen Aufrufe, auf die zweithäufigste, Englisch, nurmehr rund 472.000. Die Kontrolle in Google Trends zeigt für denselben Zeitraum, dass nach diesem russischen Aufklärer (Google Suchobjekt „Michail Wassiljewitsch Lomonossow“, plus: spezifizierender Zusatz, der von Google Trends zur Unterscheidung von ähnlichen Suchobjekten angeboten wird: „Dichter“) hauptsächlich in Russland sowie einigen ehemaligen Sowjetrepubliken (Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan etc.) gesucht wurde. Google-Werte liegen für 73 Länder (im GoogleTrends-Speech: „Regionen“) vor, ab Position 25 (Ungarn) werden nur noch niedrigste Werte (= 1) ausgewiesen. Nach der absoluten Zahl der Aufrufe in Wikipedia kommt Lomonossow auf Platz 16, also einen Platz vor Diderot, aber die Sprachversionenstatistik lässt auf einen eher Russland-spezifischen Zusammenhang und weniger auf ein globales Interesse schließen, während bei Diderot die Werte für die drei häufigsten Versionen (Französisch, Englisch, Spanisch) recht ausgeglichen zwischen 1,85 und 1,25 Millionen liegen und sich immerhin noch zwischen 35 % und 40 % aller Aufrufe auf andere Sprachversionen ab der vierthäufigsten verteilen, während es bei Lomonossow nur rund 20 % sind. Als erster Indikator für „globales Interesse“ wird deshalb die folgende Merkmalskombination gewählt: Der Wert der am häufigsten aufgerufenen Sprachversion macht nicht mehr als ca. ein Drittel des für alle Sprachversionen kumulierten Werts aus und er ergibt maximal den doppelten Wert der zweithäufigsten Sprachversion. Es hat sich nämlich gezeigt, dass in den Fällen, in denen der Wert für die am häufigsten benutzte Sprachversion mehr als ein Drittel des kumulierten Werts ausmacht und mehr als doppelt so hoch ist wie der Wert der zweithäufigsten Sprachversion, starke länder- bzw. sprachraumspezifische (z. B. mitteleuropäischer deutscher Sprachraum) Einflüsse eine Rolle spielen. Dies wurde anhand der Ergebnisse von Google Trends kontrolliert: Wo konzentrieren sich regional im zugrunde gelegten Zeitraum die Suchinteressen? So erreichen die amerikanischen „Gründerväter“ allesamt in Wikipedia hohe Zugriffswerte, wobei der Wert der englischen Sprachversion zwischen 50 % und 80 % der kumulierten Werte aller Sprachversionen entspricht. Google Trends ergibt, dass die „Gründerväter“ überwiegend in den USA recherchiert wurden. Der Schluss, dass sich das auch in den statistischen Werten des jeweiligen Artikels in Wikipedia widerspiegelt, erscheint daher naheliegend. Den „Gründervätern“ kann deshalb kein „globales Interesse“ als Merkmal zugewiesen werden, daher tauchen sie in der Tabelle nicht auf. Man kann keinen Kausalzusammenhang zwischen den Daten von Wikipedia und Google Trends unterstellen oder voraussetzen, der Zusammenhang ergibt sich aus der Nachfrage der Nutzer*innen bzw. entsteht bei den Nutzer*innen und ihrem Informationsbedarf. Viele Nutzer*innen interessieren sich für Immanuel Kant; dies schlägt quantitativ sowohl auf Wikipedia wie Google durch. Freilich stimmt es, dass viele Nutzer*innen der Bequemlichkeit halber zunächst eine

296

Orientierung

Google-Suche starten und dann dort den, zumeist unter den ersten fünf bis zehn Links, angebotenen Wikipedia-Link wählen, obwohl sie den gesuchten Namen auch direkt in Wikipedia eingeben könnten. Faktisch gibt es eine teilweise Verbindung zwischen den Daten aus Google Trends und Wikipedia. Bezüglich der als „global“ apostrophierbaren Zahl der Sprachversionen ist eine Festlegung schwieriger: Man kann nicht einfach sagen, dass – beispielsweise – ab 30 Sprachversionen aufwärts die Sache „global“ sei und darunter nicht. Englisch wird überall in der Welt benutzt. Wenn die englische Sprachversion die häufigste ist, kann das ein Merkmal für „global“ sein, sofern sich nicht, z. B. durch den Gegencheck mit Google Trends, starke länder- bzw. sprachraumspezifische Einflüsse nachweisen lassen. Französisch, Portugiesisch und Spanisch werden in drei Kontinenten als Verkehrssprache benutzt und können daher zuerst einmal als Merkmal für „global“ betrachtet werden, sofern dem nicht einschränkende Einflüsse entgegenstehen. Arabisch wird ebenfalls auf mehreren Kontinenten gesprochen, aber die Mehrheit der Sprecher*innen lebt in einem bestimmten geografischen Raum. Andererseits gibt es eine große Arabisch sprechende Diaspora. Ähnliches gilt für Chinesisch, Japanisch, Russisch und Deutsch, aber auch Italienisch kommt teilweise auf einen der vorderen Plätze in der Häufigkeitsstatistik. Das heißt, wenn im Vergleich zu den 218 Sprachversionen, in denen „Isaac Newton“ vorliegt, 50 Sprachversionen bei einem anderen Artikel „wenig“ erscheinen, so kann dennoch das Merkmal „global“ erfüllt sein. Deshalb wurden zum Vergleich auch die Häufigkeitswerte für Arabisch, Chinesisch, Farsi, Hindi und Japanisch erhoben. Hindi wurde mitgetestet, aber die Gängigkeit des Englischen in Indien (wo ca. ein Sechstel der Weltbevölkerung lebt) macht diese Sprache nicht wirklich zu einem verlässlichen Prüfkriterium. Zusätzlich müsste mit Artikeln in Bengali und weiteren in Indien von vielen Menschen gesprochenen Sprachen verglichen werden, um Aussagen zum Interesse an bestimmten Aufklärer*innen in Indien treffen zu können. Da inzwischen die komplette Wikipedia in der Volksrepublik China gesperrt ist, sagen die Werte für Chinesisch überwiegend16 etwas über Nutzer*innen in Taiwan, Hongkong, Macau und in der weltweiten chinesischen Diaspora aus. Ein „Schema F“ bezüglich der Klassifizierung als „global“ im Zusammenhang der Sprachversionenanzahl existiert nicht. Unter Berücksichtigung der genannten Kriterien für ein offenkundig globales Interesse an einer Aufklärerin oder einem Aufklärer haben sich 24 Namen ergeben (Tabelle 2). Darunter befinden sich nur zwei (Amo und Baumgarten) mit weniger als 1 Million Aufrufen und nur eine Aufklärerin, Olympe de Gouges. Amo ist der einzige Afrikaner, der allerdings im Heiligen Römischen Reich ausgebildet und sozialisiert wurde und erst gegen Ende seines Lebens in seine Heimat (heutiges Ghana), aus der er als Kind zunächst in die Niederlande verbracht worden war, zurückkehrte (Kapitel „Praktiken“, Abschnitt 3). Dass er das Merkmal „globales Interesse“ erreicht, zeigt unter anderem, dass die Diskussion, den Horizont bezüg-

16 Eine Totalsperrung gelingt in der Praxis nicht; Details bei Wikipedia: https://de.wikipedia. org/w/index.php?title=Gesperrte_Websites_in_der_Volksrepublik_China&oldid=214207271.

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Globales Publikumsinteresse an 33 Aufklärer*innen Tabelle 2: Aufklärer*innen, die den definierten Kriterien für „globales Interesse“ eindeutig entsprechen Name

Abrufe

Spr.

Häufigste Sprache

Zweithäufigste Sprache

Dritthäufigste Sprache

Newton Kant Rousseau Voltaire Locke Goethe Smith Montesquieu Linné Spinoza de Sade Leibniz Hume A.v.Humboldt Diderot de Gouges Berkeley Herder Beccaria Condorcet Vico Mendelssohn Amo Baumgarten

61.272.329 31.908.528 27.659.326 20.935.099 22.599.760 22.290.431 20.683.868 14.132.604 13.787.402 13.226.313 12.316.087 12.087.984 10.552.310 8.072.292 7.075.305 4.465.207 3.223.331 2.171.571 2.335.026 1.896.490 1.544.162 1.161.567 832.062 598.331

218 162 144 148 131 176 148 97 168 107 70 143 101 96 90 51 82 65 43 49 62 44 18 48

En (19.992.992) En (7.738.744) En (6.203.848) En (7.175.129) En (7.947.614) De (5.717.695) En (6.497.127) Es (3.537.491) En (4.257.889) En (3.307.148) En (4.409.735) En (3.571.317) En (3.880.035) Es (2.222.669) Fr (1.853.574) Fr (1.506.268) En (1.103.788) De (650.390) It (747.790) Fr (704.756) It (450.427) En (424.502) De (259.637) En (135.743)

Es (12.932.908) Es (5.745.103) Es (5.151.019) Fr (6.739.766) Es (4.045.299) En (4.630.174) Es (4.137.629) En (2.743.182) Es (2.638.766) Es (2.467.613) Es (1.891.908) Es (2.195.304) Es (2.160.869) De (1.995.107) En (1.407.170) En (958.073) Es (684.031) En (553.861) En (712.750) En (509.733) En (430.165) De (251.817) En (207.155) Es (128.502)

Pt (2.983.609) De (2.854.896) Fr (3.505.674) Es (3.650.186) Pt (1.872.672) Es (1.969.148) Pt (1.328.010) Fr (2.164.007) Ru (977.732) Fr (1.493.938) Fr (1.242.131) De (1.382.728) Pt (581.934) En (1.738.428) Es (1.250.882) Es (917.542) Ru (271.151) Es (186.310) Es (238.566) Es (217.941) Es (190.901) He (140.401) Pt (178.476) Pt (52.737)

lich der als Aufklärer*innen erachteten historischen Personen zu erweitern, Früchte trägt. Alle anderen sind Europäer*innen. Zwischen dem Häufigkeitswert für Newton (61,27 Millionen) und Baumgarten (0,6 Millionen) liegen freilich Welten, ebenso zwischen den 218 Sprachversionen des Newton-Artikels und den 18 des Amo-Artikels. Auf über 200 Sprachversionen kommt nur Newton, drei kommen auf über 150 Versionen (Kant, Goethe, Linné), auf zwischen 100 und 150 kommen sieben (Rousseau, Voltaire, Locke, Smith, Spinoza, Leibniz, Hume), auf zwischen 50 und 99 acht (Montesquieu, de Sade, A. v. Humboldt, Diderot, de Gouges, Berkeley, Herder, Vico). Für die übrigen sind außer im Falle Amos Werte zwischen 40 und 49 zu verzeichnen (Beccaria, Condorcet, Mendelssohn, Baumgarten). Ein Abgleich der 24 Namen mit Google Trends ergibt, dass die meisten auch mit Google global gesucht werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Gegencheck mit Google Trends erfolgt nicht, weil ein Kausalzusammenhang mit Wikipedia unterstellt würde. Google Trends stellt einen eigenständigen und

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Orientierung

grundsätzlich einmal von Wikipedia unabhängigen methodischen Weg dar, einem allfälligen „globalen Interesse“ an Aufklärer*innen nachzugehen. Der Abgleich der Ergebnisse aus den beiden Statistiken (Wikipedia; Google Trends) unterstützt die Interpretation der Daten. Google Trends erfasst klarerweise auch nur Daten aus der Google-Suche, die allerdings von bis zu 90 % der Internetnutzer*innen eingesetzt wird.17 Gleichsam lückenlos global werden nur drei Aufklärer gesucht: Newton, Kant und Rousseau. Diese drei sind die globalsten unter den globalen. Am häufigsten treten Datenlücken bezüglich Afrika auf, am zweithäufigsten in Asien, am dritthäufigsten in Europa, am wenigsten in den Amerikas. Wer sich die Datenweltkarte und die Detailangaben zu jedem Land in Google Trends ansieht, wird zu dem Schluss kommen, dass die Datenlücken, sprich „weißen“ Flecken auf der Weltkarte, nicht auf Konnexionsprobleme zurückzuführen sind, sondern tatsächlich auf unterschiedliche Interessenlagen. Die Trend-Statistik wird manchmal von bestimmten Ländern angeführt (hier nicht ausgewiesen), es ergibt sich dadurch neben dem globalen Interesse ein zusätzlicher länderspezifischer, wenn nicht sogar nationaler Schwerpunkt. Beinahe alle der 24 Namen werden zusätzlich zum globalen Interesse in irgendeinem oder mehreren Ländern besonders intensiv nachgesucht. Diese Werte ändern sich aber, je nach ausgewähltem Zeitraum. Ihre Interpretation würde detaillierte Recherchen zu einzelnen Ländern erfordern, die hier nicht geleistet werden können. Es fällt auf, dass die 23 Aufklärer und die eine Aufklärerin ja im Prinzip aus Europa stammen, Europa aber nicht durch ein erhöhtes Suchaufkommen hervorsticht, sondern – in der unteren Tabellenhälfte – mehr Lücken zeitigt als die Amerikas. Die meisten der 24 sind offensichtlich bis zu einem gewissen Grad „enteuropäisiert“, das heißt, dass ihre ursprüngliche historische räumlich-europäische Radizierung keine sichtliche Rolle spielt. Sie stehen für bestimmte Konstellationen (Frauenrecht, Frauenemanzipation – Olympe de Gouges; Entkolonialisierung des Denkens – Anton Wilhlem Amo; etc.) und für bestimmte Inhalte (Rousseau – Gesellschaftsvertrag; Kant – Vernunft, Ewiger Friede; etc.). Diese Aufklärer*innen sind längst Teil des kulturellen und Werte-orientierten Welterbes – und zwar jenseits der Welterbe-Maßstäbe der UNESCO. Die 37 Aufklärer*innen, die aufgrund der an Wikipedia zunächst einmal angelegten Kriterien für „globales Interesse“ nicht in Tabelle 2 aufgenommen werden konnten, wurden gleichermaßen in Google Trends getestet. Tabelle 3b enthält die Namen, für die sich der Befund auf der Grundlage von Google Trends nicht grundlegend von dem in Tabelle 3a für die 24 Namen unterscheidet. Wenn beträchtliche geografische Lücken, im Allgemeinen ein (sehr) geringes Suchaufkommen und ein eindeutiger länderspezifischer Schwerpunkt zusammenkamen,

17 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/225953/umfrage/die-weltweit-meistgenutztensuchmaschinen/. Die Werte schwanken im Zeitraum 2016 bis 2021, sie sind nicht identisch für Stand- und mobile Geräte, aber insgesamt so weit über denen anderer Suchmaschinen, dass diese für unsere Zwecke hier vernachlässigt werden können.

Globales Publikumsinteresse an 33 Aufklärer*innen

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Tabelle 3a: Abgleich der 24 Namen aus Tabelle 2 mit Google Trends 18 Name

Sprachen

Länder

Newton Kant Rousseau Voltaire Locke Goethe Smith Montesquieu Linné Spinoza de Sade Leibniz Hume A. v. Humboldt Diderot de Gouges Berkeley Herder Beccaria Condorcet Vico Mendelssohn

218 162 144 148 131 176 148 97 168 107 70 143 101 96 90 51 82 65 43 49 62 44

194 173 164 157 153 129 164 139 126 120 111 120 120 97 108 56 56 58 54 46 73 18

Amo

18

29

Baumgarten

48

45

Weiße Flecken lt. Google Trends

Lücken in Afrika, Mittelasien Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika Lücken in Afrika Lücken in Afrika, Mittelasien Lücken in Afrika Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika, Asien, Osteuropa Lücken in Afrika, Asien, Europa Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika, Asien, Europa Lücken in Afrika, Asien, Europa Lücken in Afrika, Asien, Europa Lücken in Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika Lücken in Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika Lücken in Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika

18 Einstellungen: Suche weltweit 1.7.2015 – 3.6.2021, alle Kategorien, Web, inkl. Regionen mit geringem Suchvolumen. Eine Kontrolle der Daten für denselben Zeitraum einige Tage nach Erhebung ergab in wenigen Fällen leichte Abweichungen bei der Zahl der „Regionen“ (+/− 1). In Google Trends entspricht der Begriff „Region“ dem Territorium eines Staates. Der UNO gehören 193 Staaten an, dazu kommt rund ein Dutzend weiterer politischer Einheiten. In der Tabelle 3a, die die Zahl der Sprachversionen, in denen ein Wikipedia-Artikel vorliegt, mit der Zahl der Regionen vergleicht, für die Google Trends Zahlen anbietet, stehen in der rechten Spalte „weiße Flecken“ nur dann Bemerkungen, wenn Daten nicht nur für einzelne Länder, sondern größere Bereiche fehlen. Länder mit lt. Google Trends „geringem Suchvolumen“ wurden inkludiert. Weiße Flecken sind nicht auf fehlende Hardware oder fehlendes Internet zurückzuführen.

300

Orientierung

Tabelle 3b: Ergänzung zu Tabelle 3a: Weitere Aufklärer*innen von evtl. „globalem Interesse“ lt. Ergebnissen von Google Trends Name

Sprachen

Länder

Schiller

108

98

Lomonossow

83

72

Paine

81

82

Defoe

97

100

Bentham Swift Wollstonecraft

71 93 91

104 106 76

Wolff

48

33

Lichtenberg

42

44

Weiße Flecken lt. Google Trends Lücken in Afrika, Asien, Schwerpunkt deutschsprachiges Mitteleuropa Große Lücken in Afrika, Lücken in Asien, Lateinamerika, Schwerpunkt Gebiet der ehemaligen UdSSR Lücken in Afrika, Asien, Osteuropa, Schwerpunkt USA Lücken in Afrika, Schwerpunkt ehemaliger Ostblock Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika, Asien Lücken in Afrika, Asien, Lateinamerika, Europa Große Lücken in Afrika und Asien, Lücken in Europa Große Lücken in Afrika, Lücken in Asien, Lateinamerika, Europa, Schwerpunkt deutschsprachiges Mitteleuropa

wurde der Name nicht in die Ergänzungsliste aufgenommen. Das traf z. B. auf Abigail Adams zu, auf den mexikanischen Geistlichen, Aufklärer und Revolutionär Miguel Hidalgo, auf den indischen Aufklärer Ram Mohan Roy, auf den deutschen Aufklärer Lessing, auf den äthiopischen Aufklärer Zär’a Yaqob (oder Sera Jakob), und weitere. Hinzugekommen ist eine weitere Aufklärerin und Frauenrechtlerin, Mary Wollstonecraft, aber kein weiterer nicht-europäischer Aufklärer. Bei allen neun Namen sind die Lücken lt. Google Trends durchaus größer als in Tabelle 3a, aber die dennoch vorhandene Verteilung der Suchinteressen über den Globus und deren unterschiedlich hohe oder niedrige Intensität sprechen dafür, diese an die 24er-Liste anzuhängen. Für die 33 Namen soll nun im nächsten Schritt (Tabelle 4a) das Verhältnis zwischen den Sprachen Arabisch, Chinesisch, Farsi, Hindi und Japanisch ermittelt werden. Die Werte für Hindi haben dabei sicherlich die geringste Aussagekraft, da in Indien vor allem wohl Englisch zu Buche schlägt. Die Zahl vor der Klammer gibt den Platz der Sprachversion nach Häufigkeit an. Arabisch stellt in Wikipedia, bezogen auf die hier relevanten 33 Namen, in der Kategorie „Zahl der Sprachversionen“, in denen ein Artikel vorliegt, im Durchschnitt die vierzehnhäufigste Sprachversion, Chinesisch die zwölfhäufigste, Farsi die sechzehnhäufigste, Hindi die neunundzwanzighäufigste und Japanisch die achthäufigste dar. Vergleicht man die Namen und Sprachversionen danach, wer auf einen „besseren“, aber zumindest auf den genauen Durchschnittsplatz kommt, ergibt sich folgendes Bild (Tabelle 4b):

Globales Publikumsinteresse an 33 Aufklärer*innen

301

Tabelle 4a: Verhältnis zwischen den Sprachen Arabisch, Chinesisch, Farsi, Hindi und Japanisch für 33 global nachgefragte Aufklärer*innen Name

Spr.

Arabisch

Chinesisch

Farsi

Hindi

Japanisch

Newton Kant Rousseau Voltaire Locke Goethe Smith Montesquieu Linné Spinoza de Sade Leibniz Hume A.v.Humboldt Diderot de Gouges Berkeley Herder Beccaria Condorcet Vico Mendelssohn Amo Baumgarten Schiller Lomonossow Paine Defoe Bentham Swift Wollstonecraft Wolff Lichtenberg

218 162 144 148 131 176 148 97 168 107 70 143 101 96 90 51 82 65 43 49 62 44 18 48 108 83 81 97 71 93 91 48 42

7 (1.895.304) 11 (586.356) 10 (568.006) 8 (444.292) 9 (438.750) 25 (74.797) 10 (325.716) 12 (157.509) 11 (188.363) 9 (329.846) 13 (117.003) 13 (92.701) 9 (248.808) 20 (20.678) 17 (43.969) 16 (15.373) 12 (37.984) 20 (11.059) 14 (11.056) 25 (3.461) 10 (20.962) 14 (10.219) 8 (919) 10 (8.592) 20 (31.091) 19 (20.663) 11 (34.738) 16 (51.891) 16 (38.617) 15 (37.259) 16 (21.814) 14 (5.699) 17 (2.474)

10 (1.134.839) 10 (598.281) 12 (466.454) 11 (357.314) 11 (367.042) 12 (347.956) 12 (308.648) 11 (221.664) 15 (123.612) 14 (150.626) 9 (167.298) 9 (258.330) 10 (233.241) 11 (63.024) 12 (73.272) 15 (16.433) 10 (53.093) 12 (23.685) 10 (17.688) 11 (16.316) 12 (14.866) 11 (12.414) 12 (413) 14 (3.942) 11 (114.909) 14 (25.871) 8 (75.532) 20 (31.683) 9 (152.387) 14 (41.367) 10 (59.374) 20 (3.186) 13 (4.382)

15 (597.298) 12 (437.928) 9 (587.312) 14 (200.413) 15 (187.671) 11 (409.129) 16 (186.262) 15 (98.239) 21 (66.947) 8 (334.760) 15 (115.935) 14 (89.817) 11 (164.080) 29 (12.763) 19 (34.446) 20 (8.404) 13 (35.980) 25 (7.361) 21 (4.788) 13 (8.042) 16 (6.093) 10 (12.661) 11 (472) 13 (4.905) 13 (93.300) 32 (6.288) 14 (24.553) 22 (26.902) 13 (52.776) 20 (25.690) 19 (18.804) 17 (4.280) 19 (2.349)

13 (843.963) 34 (57.682) 13 (340.840) 29 (59.164) 20 (127.920) 56 (6.546) 15 (204.857) 24 (50.741) 22 (65.721) 35 (12.741) – 25 (37.603) 34 (14.778) 14 (36.089) – – – – 32 (830) – – – – 38 (543) 58 (1.844) 46 (1.644) 23 (12.260) 43 (6.186) 10 (75.462) 32 (9.728) 23 (12.084) – –

9 (1.437.008) 8 (964.864) 8 (1.128.329) 9 (435.838) 7 (651.832) 6 (1.036.075) 7 (619.657) 9 (334.159) 8 (323.933) 10 (320.399) 5 (669.277) 7 (415.741) 8 (258.112) 8 (119.965) 10 (88.604) 7 (66.789) 8 (85.647) 8 (43.838) 9 (23.764) 7 (57.656) 8 (27.067) 7 (36.902) – 8 (23.909) 7 (254.020) 16 (23.280) 6 (97.806) 10 (125.333) 3 (382.004)19 7 (213.424) 9 (62.715) 8 (23.283) 7 (21.823)

19 Japanisch ist bei Bentham die dritthäufigste Sprachversion.

302

Orientierung

Tabelle 4b: Durchschnittliche, über- und unterdurchschnittliche [= kein Eintrag] Platzierungen gemessen am durchschnittlichen Häufigkeitsplatz der Sprachversion Name

Spr.

Arabisch (14)

Chinesisch (12)

Farsi (16)

Hindi (29)

Newton Kant Rousseau Voltaire Locke Goethe Smith Montesquieu Linné Spinoza de Sade Leibniz Hume A.v.Humboldt Diderot de Gouges Berkeley Herder Beccaria Condorcet Vico Mendelssohn Amo Baumgarten Schiller Lomonossow Paine Defoe Bentham Swift Wollstonecraft Wolff Lichtenberg

218 162 144 148 131 176 148 97 168 107 70 143 101 96 90 51 82 65 43 49 62 44 18 48 108 83 81 97 71 93 91 48 42

7 (1.895.304) 11 (586.356) 10 (568.006) 8 (444.292) 9 (438.750)

10 (1.134.839) 10 (598.281) 12 (466.454) 11 (357.314) 11 (367.042) 12 (347.956) 12 (308.648) 11 (221.664)

15 (597.298) 12 (437.928) 9 (587.312) 14 (200.413) 15 (187.671) 11 (409.129) 16 (186.262) 15 (98.239)

13 (843.963)

10 (325.716) 12 (157.509) 11 (188.363) 9 (329.846) 13 (117.003) 13 (92.701) 9 (248.808)

12 (37.984) 14 (11.056) 10 (20.962) 14 (10.219) 8 (919) 10 (8.592)

11 (34.738)

9 (167.298) 9 (258.330) 10 (233.241) 11 (63.024) 12 (73.272) 10 (53.093) 12 (23.685) 10 (17.688) 11 (16.316) 12 (14.866) 11 (12.414) 12 (413)

8 (334.760) 15 (115.935) 14 (89.817) 11 (164.080)

13 (340.840) 29 (59.164)

15 (204.857) 24 (50.741) 22 (65.721)

25 (37.603)

Japanisch (8) 8 (964.864) 8 (1.128.329) 7 (651.832) 6 (1.036.075) 7 (619.657) 8 (323.933) 5 (669.277) 7 (415.741) 8 (258.112)

14 (36.089) 7 (66.789) 8 (85.647) 8 (43.838)

13 (35.980)

11 (114.909)

13 (8.042) 16 (6.093) 10 (12.661) 11 (472) 13 (4.905) 13 (93.300)

8 (75.532)

14 (24.553)

23 (12.260)

6 (97.806)

9 (152.387) 14 (41.367) 10 (59.374)

13 (52.776)

10 (75.462)

3 (382.004) 7 (213.424)

14 (5.699) 13 (4.382)

7 (57.656) 8 (27.067) 7 (36.902) 8 (23.909) 7 (254.020)

23 (12.084) 8 (23.283) 7 (21.823)

Vier Aufklärer sind in allen fünf Sprachen mindestens genau durchschnittlich oder besser als der Durchschnitt platziert: Rousseau, Smith, Leibniz und Paine. Dieser Zoom in fünf nicht-europäische Sprachen relativiert ein klein wenig den Befund aus Tabelle 3a (Werte aus Google Trends), in der Newton, Kant und Rousseau als die globalsten Namen erscheinen. Genau durchschnittlich oder besser platziert

Globales Publikumsinteresse an 33 Aufklärer*innen

303

sind im Chinesischen 26 Namen, im Japanischen 22, in Farsi 21, im Arabischen 20 und in Hindi 10, jeweils von 33. Nur Lomonossow und Defoe landen in allen fünf Sprachen auf unterdurchschnittlichen Plätzen. Im Arabischen sind mit Ausnahme Kants, Leibniz’, Mendelssohns, Baumgartens und Wolffs die deutschsprachigen Aufklärer unterdurchschnittlich platziert, ebenso die beiden Frauenrechtlerinnen. Im Chinesischen ergibt sich kein Muster, in Hindi sind es wieder mehrheitlich deutschsprachige Aufklärer, die unterdurchschnittlich platziert sind oder keinen Artikel haben, im Japanischen „schwächelt“ die französischsprachige Aufklärung. Dieses Hineinzoomen in verschiedenen Sprachen zeigt das Potenzial an Feindifferenzierung auf, das die statistischen Werte beinhalten. Das grundsätzliche Merkmal „globales Interesse“ wird dadurch aber nicht infrage gestellt. Tabelle 5: Liste der 33 Aufklärer*innen, an denen „globales Interesse“ herrscht Newton (1642–1726) Kant (1724–1804) Rousseau (1712–1778) Voltaire (1694–1778) Locke (1632–1704) Goethe (1749–1832) Smith (1723–1790) Montesquieu (1689–1755) Linné (1707–1778) Spinoza (1632–1677) de Sade (1740–1814) Leibniz (1646–1716) Hume (1711–1776) A.v.Humboldt (1769–1859) Diderot (1713–1784) de Gouges (1748–1793) Berkeley (1685–1753)

Herder (1744–1803) Beccaria (1738–1794) Condorcet (1743–1794) Vico (1668–1744) Mendelssohn (1729–1786) Amo (ca. 1703 – ca.1753) Baumgarten (1714–1762) Schiller (1759–1805) Lomonossow (1711–1765) Paine (1737–1809) Defoe (1660–1731) Bentham (1748–1832) Swift (1667–1745) Wollstonecraft (1759–1797) Wolff (1679–1754) Lichtenberg (1742–1799)

Die 33 Aufklärer*innen, an denen nach den gewählten Kriterien jeweils „globales Interesse“ besteht, repräsentieren unterschiedliche Aspekte der Aufklärung. Newton, Locke, Spinoza, Leibniz stehen für die Frühaufklärung, Spinoza und Mendelssohn waren jüdische Aufklärer, wobei Mendelssohn für die Haskala, die jüdische Aufklärung, steht. Olympe de Gouges und Mary Wollstonecraft waren Frauenrechtlerinnen. Als die ‚typischen‘ Philosophen der Aufklärung können Kant, Rousseau, Voltaire, Locke, Montesquieu, Hume, Diderot, Condorcet und Wolff angesehen werden, andere stehen für Forschung und Wissenschaft (u. a. Linné, Humboldt). Spinoza und Diderot werden meistens der radikalen Frühaufklärung bzw. Aufklärung zugerechnet. Der Marquis de Sade war auf seine Art ein radikaler

304

Orientierung

Aufklärer – interessanterweise analysierten Horkheimer und Adorno in „Dialektik der Aufklärung“ Kant und de Sade gemeinsam in ihrem zweiten Exkurs, der der Aufklärung des 18. Jahrhunderts gilt (Kapitel „Kritik“). Zu den 33 zählen Aufklärer*innen, die bei kursorischer Betrachtung Wesentliches und Bleibendes zu den Grundlagen des modernen Rechts- und Verfassungsstaats, zu den Grundlagen der Gesellschaftsreform und zu den Grundlagen der Wissenschaften beigetragen haben. Sie haben sich dazu unterschiedlicher Textgattungen, des wissenschaftlichen Experiments und der revolutionären Praxis bedient. Das Fehlen von ostmitteleuropäischen, südosteuropäischen, baltischen, italienischen, iberischen, lateinamerikanischen und indischen Aufklärern fällt natürlich auf. Die 33 Namen sind teils mit bestimmten Schriften, teils bestimmten (natur-) wissenschaftlichen Erkenntnissen, Entdeckungen, Erfindungen, teils mit Menschenrechten (Thomas Paine) verbunden. In der Regel arbeiteten die Aufklärer*innen zu vielen, teilweise sehr unterschiedlichen, Themen aus teilweise nach heutigem Verständnis nicht nahe beieinanderliegenden Feldern wie etwa Naturwissenschaften und Rechtsphilosophie. Trotzdem wurden schon zu ihren Lebzeiten bestimmte Werke oder Aktivitäten viel stärker wahrgenommen und rezipiert als anderes, was sie auch taten oder schrieben. Sie wurden früher oder später mit bestimmten Inhalten mehr und mit anderen weniger identifiziert. So gehören „Gewaltenteilung“ als grundlegendes Verfassungsprinzip und Montesquieu geradezu unzertrennlich zusammen. Montesquieu steht für „Gewaltenteilung“, Kant für den „ewigen Frieden“, die Definition von „Aufklärung“ und die tiefste vorstellbare Durchdringung der Vernunftidee, Rousseau steht für Volkssouveränität und Demokratie, Voltaire für Toleranz, Schiller für Freiheit und Auflehnung gegen Unterdrückung. Mit Olympe de Gouges und Mary Wollstonecraft sind Frauenrechtlerinnen vertreten, de Gouges wendete sich außerdem gegen die Sklaverei. Adam Smith repräsentiert die ökonomischen Denker der Aufklärung, Thomas Paine repräsentiert die Menschenrechtsphilosophie. Innerhalb der westeuropäischen Aufklärung sind sehr verschiedene Strömungen präsent. Carl von Linné mag neben der Naturwissenschaft für die skandinavische Aufklärung stehen. Der Marquis de Sade repräsentiert mit seinen pornografischen gesellschafts- und systemkritischen Schriften eine Strömung in der Aufklärung, wo Radikalität, Atheismus und die Nutzung von Pornografie für Zwecke der Fundamentalkritik miteinander verbunden wurden. De Sade war und ist zweifellos der bekannteste Vertreter dieser Strömung, aber längst nicht der einzige. So lässt sich diese Strömung schon in Diderots „Les Bijoux indiscrets“ (1748) erkennen, wenn auch um vieles weniger drastisch als bei de Sade. Außerdem stellte die politische Pornografie in der Vorrevolution und Revolution in Frankreich auch ohne de Sade einen sehr wirkungsvollen Faktor dar. Allen gemeinsam ist, dass sie mit Inhalten und Aktivitäten verbunden sind, die auch außerhalb ihrer damaligen spezifischen Kontexte Nachhaltigkeit entfaltet haben und multipel in neue und auch kulturell andere Kontexte übertragbar waren

Globales Publikumsinteresse an 33 Aufklärer*innen

305

und sind. Sie repräsentieren das, was die Zusammengehörigkeit unserer eigenen Zeit mit der Epoche der Aufklärung des 18. Jahrhunderts herstellt. Im Gegenzug kann festgestellt werden, dass jene Aufklärer*innen, die Merkmale aufweisen, die das Interesse stärker einschränken können, nicht zu der Liste mit 33 Namen, an denen „globales Interesse“ besteht, gehören. In Polen beispielsweise gab es eine sehr lebendige Aufklärung, sie hing aber eng mit der kulturellen Selbstversicherung und Selbstbehauptung im Zeitalter der drei Teilungen des Reiches durch Preußen, Österreich und Russland zusammen. Während Kant, Rousseau und viele andere nach allgemeingültigen menschheitlichen Wahrheiten suchten, sahen die polnischen Aufklärer ihre Aufgabe woanders. Entsprechend asymmetrisch verlief schon die gegenseitige Rezeption im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Und: Dies wirkt offenbar bis heute nach. Die geografischen Lücken in der 33er-Liste perpetuieren Asymmetrien, die schon in der Aufklärungsepoche selber bestanden hatten. In der globalgeschichtlich orientierten Forschung zur Aufklärung sind im Lauf der Zeit zwei wichtige Perspektiven zu der ursprünglich sehr europazentrischen hinzugetreten: (1) Europäische Aufklärer und Aufklärerinnen haben nicht nur originelle Einsichten gehabt und formuliert, sondern auch solche, die ebenfalls in anderen Kulturen zu finden sind. Die Aufklärer*innen selber waren sich dessen durchaus bewusst. Voltaire, um nur ein Beispiel zu nennen, „rankte“ die chinesische Zivilisation weit vor der europäischen. Tzvetan Todorov hat in seinem Buch „Esprit des Lumières“ (s. u.) eine ganze Reihe solcher nicht originell europäischer Einsichten erörtert. (2) Die Aufklärung endete nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern setzte sich im 19. Jahrhundert fort. Sie findet sich im Osmanischen Reich, in mittelasiatischen Emiraten, in Japan, in China etc. Es handelt sich dabei nicht einfach um immer globalere Rezeptionsprozesse – das sicher auch –, sondern zum Teil um Dynamiken, die im 18. Jahrhundert wurzeln. Immer geht es auch um Kontextualisierungen vor Ort, wo die Frage nach dem Copyright nebensächlich ist. Allerdings handelte es sich nicht unbedingt um „naturwüchsige“ Prozesse; der europäische Kolonialismus implementierte seine, womöglich auf die Aufklärung zurückgehenden Modernisierungsnormen, nicht friedlich. (3) Hinzu kommt als drittes Moment, dass es nicht eine, sondern viele Aufklärungen gab, deren Verflechtung zur einen Aufklärung, also „der Aufklärung“ im Singular, eher ein Konstrukt vor allem des 20. Jahrhunderts und weniger die „bare Wirklichkeit“ des 18. Jahrhunderts darstellt. Es muss daher die Frage gestellt werden, warum nicht-europäische Aufklärer*innen es so schwer haben, global rezipiert zu werden. Eine Antwort liegt auf der Hand, und sie ist mediengeschichtlich: Druckerpressen arbeiteten massenweise in Europa und Nord-Amerika, bevor sie in anderen Teilen der Welt zu einem selbstverständlichen Alltagsphänomen wurden. Vor der Erfindung des WWW wurden Inhalte in jeglichen Kommunikationsraum – von lokal bis global – mittels dieser Technik und Printmedien gedrückt. Im Grunde sind WWW und open access Strategien für die Verbreitung des Wissens der Welt noch viel zu jung, um den auf das 18. Jahrhundert zurückzuführenden Gap ausgleichen zu können.

306

Orientierung

Die außereuropäischen Aufklärungen des späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind durch eine intensivierte Rezeption bekannter Aufklärungsschriften und zunehmend durch deren Übersetzungen in die Landessprachen gekennzeichnet. Eigenständige Phänomene der Aufklärung im 18. Jahrhundert, wenn auch eigentlich immer an die Kulturkontakte mit Europäern geknüpft, sind in Vergessenheit geraten bzw. wurden lange Zeit als inexistent angenommen. Diese Verschüttungen räumt die Forschung derzeit beiseite. Wikipedia-Skeptiker*innen würden wahrscheinlich sagen, es sei nicht überraschend, dass Wikipedia historisch entstandene Asymmetrien bestätigt, wenn nicht verstetigt, da Wikipedia ja keine wissenschaftliche Publikation sei und man daher nicht erwarten könne, dass sie den Stand der Forschung widerspiegele. Das Argument würde nur zum Teil stimmen, da es eben doch sehr gute Artikel auf dem aktuellen Stand der Forschungsdebatten gibt. Zudem zeigt der Vergleich in der Tabelle mit Google Trends in etwa dieselbe Nachfrage. Die 33er-Liste spiegelt daher tatsächliche Präferenzen der Nutzer*innen weltweit wider, die sich aus unterschiedlichen Quellen und Motiven heraus entwickeln. Dabei spielen Schule und Schulbildung, Online-Informationsmedien, etc. eine Rolle. Bezieht man sich irgendwo in der Welt auf Voltaire und Toleranz, weiß man, dass es viele andere Irgendwos gibt, wo sich ebenfalls jemand auf Voltaire und Toleranz bezieht. Das reduziert Verlorenheit und schafft Elemente einer global geteilten Identität. Hinzukommt, dass selbst wissenschaftliche Sachbücher mit hohen Auflagen, die allgemeinverständlich geschrieben sind, nach wie vor die Aufklärung wie selbstverständlich als im Wesentlichen europäisches Phänomen präsentieren. So geht auch Steven Pinker in „Enlightenment now“, 2018 publiziert, vor – sein „Kronzeuge“ ist vor allem Kant. Pinker hat ebenso wenig wie Neil Postman oder Tzvetan Todorov oder Bassam Tibi Zweifel an der globalen Relevanz der (historischen) Aufklärung für das 21. Jahrhundert. Die „globale Relevanz“ der Aufklärung resultiert zwar aus einer selektiven Wahrnehmung, aber in keiner geschichtlichen Epoche bisher wurden so viele referierungsfähige und in einem umfassenden Wortsinn lebenswissenschaftliche Texte geschrieben, in denen es um Freiheiten, Toleranz, Gerechtigkeit, Humanitarismus, Gesundheit, Wohlergehen und Glück des Menschen sowie wissenschaftliche Grundlagen ging wie während der Aufklärung. Die Autor*innen kämpften oft gegen Zensur bzw. tricksten diese aus, manche mussten für ihre Meinung ins Gefängnis, andere flohen ins Exil. All das ist uns heute nur allzu bekannt, vieles aus unserer Zeit entdecken wir im Zeitalter der Aufklärung – damalige Probleme ähneln unseren heute und umgekehrt. Die schrecklichsten Kriege der Geschichte, die schrecklichsten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ereigneten sich nach der Aufklärung. Versuche, diese als Grundlegung mitverantwortlich zu machen, überzeugten nicht. Vielmehr wird der Aufklärung das Potenzial unterstellt, hiegegen Bollwerk sein zu können.

Zeitungen: Indien – Afrika – Türkei

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ZEITUNGEN: INDIEN – AFRIKA – TÜRKEI Der indische Mumbai Mirror brachte am 6. Oktober 2019 einen kurzen Artikel aus Anlass eines neuen Buches des ehemaligen Richters am Obersten Gerichtshof Indiens, Markandey Katju: „Ein ideologischer Kampf, der dem von Denkern wie Voltaire und Rousseau ähnelt, ist das Gebot der Stunde in Indien, bevor große politische Veränderungen stattfinden können, sagt der ehemalige Richter am Obersten Gerichtshof Markandey Katju in seinem neuen Buch ‚The Shape of Things to Come: An Impassioned View‘.“20 Katju veröffentlichte in dem Magazin „The Week“ am 2. Februar 2021 einen Kommentar zu den aktuellen Bauernaufständen unter dem Titel „Indian farmers have proved French philosopher Rousseau was right. Hindus, Muslims of western Uttar Pradesh have realised that they had been befooled“.21 Darin bezeichnete er sich als „Schüler Rousseaus“. Rousseau sei, anders als Hobbes, davon ausgegangen, dass der Mensch an sich gut sei, aber durch Propaganda und Lügen zu schlimmen Taten verführt werden könne. Dies sei immer wieder geschehen, doch kehre der Mensch immer wieder zur Wahrheit zurück. So auch jetzt: Now, the Hindus and Muslims of western Uttar Pradesh have realised that they had been befooled into thinking that they were each others’ enemies. The farmers there, whether Hindus or Muslims, have the same problem of not getting adequate remuneration for their agricultural produce, and it is only by joining hands in a united struggle that they can secure their demands. […] Rousseau is being proved right.

Die Argumente ließen sich sicherlich auch ohne Bezug auf Rousseau formulieren, aber sich auf ihn zu beziehen, mag den Überlegungen zusätzliche Autorität verleihen – was nur funktioniert, wenn Rousseau für Katjus Publikum eine Referenzgröße darstellt. Bleiben wir beim indischen Beispiel und suchen in englischsprachigen indischen online-Zeitungen bzw. den online-Versionen von Zeitungen nach „Montesquieu“. Die Zeitungen decken politisch gesehen ein breites Meinungsspektrum ab. „The Indian Express“ weist 23 Artikel, die den Namen Montesquieu enthalten, für den Zeitraum von 1998 bis Januar 2021 aus. Zumeist geht es um Recht und Gesetz, Verfassung, Frauenrechte, „illiberale Demokratie“ und gelegentlich um Bücher. „Hindustan Times“ bietet 4 Artikel zwischen 2011 und 2018 an, „The Wire“ 13 Artikel zwischen Juli 2015 und Januar 2021, „National Herald“ 4 zwischen Juli 2019 und Dezember 2020. Die inhaltlichen Betreffe ähneln denen im „Indian Express“. Montesquieu stellt eine affirmativ-positive Bezugsgröße dar. Denselben 20 https://tinyurl.com/332psdkc. „An ideological struggle similar to that launched by thinkers like Voltaire and Rousseau is the need of the hour in India before great political changes can happen, says former Supreme Court judge Markandey Katju in his new book ‚The Shape of Things to Come: An Impassioned View‘. ‚In India, a powerful attack in the realm of ideas has to be launched against feudal ideas and customs to sweep away centuries of feudal and irrational filth and falsehood, which is widespread in the country. And this is the job of patriotic, modern-minded intellectuals‘, he has argued.“ 21 https://tinyurl.com/2ndhz6s7.

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Versuch kann man mit anderen Namen wie Voltaire oder Kant etc. durchführen. Die Trefferquote für einen einzelnen Namen wie hier im Beispiel Montesquieu mag nicht sehr hoch erscheinen, doch würde man die Treffer für verschiedene Namen kumulieren, würden sich höhere Zahlen ergeben, sodass von einer „Präsenz“ von Aufklärern in indischen Zeitungen und Magazinen gesprochen werden kann. Der kenianische „The Star“ berichtete am 30. Mai 2019 kritisch über ein gescheitertes Programm zur Unterstützung von Schulen in armen, abgelegenen und von Trockenheit bedrohten Regionen in Kenia. Unter dem Artikel wurde Voltaire zitiert: „Quote of the Day: ‚We must cultivate our garden.‘ Voltaire. The French Enlightenment writer, historian and philosopher died on May 30, 1778.“22 Der nigerianische „The Nation“ analysierte am 24. November 2019 kritisch den schleppenden Fortgang bei der Korruptionsbekämpfung und bemängelte unter anderem: Going forward, the letters and spirit of the constitution should be obeyed to the letter. Getting lawmakers mixed up in performance of executive function does violence to the spirit of presidentialism, at the heart of which is Separation of Powers as propounded by Monsieur Montesquieu. Our lawmakers must be content with their assigned roles, ensuring that departments and agencies of government function optimally.23

Gewaltenteilung = Montesquieu; Montesquieu = Gewaltenteilung … Das türkische Magazin „Dünya Bülteni“ (Welt-Bulletin) veröffentlichte am 12. November 2019 einen langen Artikel von Mahi Çelik über Leben und Werk Voltaires unter der Überschrift „Der Mut, Voltaire zu kennen“.24 Voltaire wird als scharfer Kritiker der Umstände seiner Zeit und als eine Art Vater der Aufklärung dargestellt. Themen sind Toleranz, die Grundfreiheiten, Religion (Deismus, Atheismus, Kritik der Kirche), aus den Schriften werden vor allem Candide, Zadig, die Prinzessin von Babylon und Micromegas vorgestellt. Der Artikel ruft nicht speziell zu mutigen Taten politischer oder anderer Natur auf, wer sich mit Voltaire auseinandersetzt, kann eigene Schlussfolgerungen ziehen. Neben diesen Beispielen aus der unmittelbaren Gegenwart kann auch auf ältere verwiesen werden. So führt M. Maher allein für das Jahr 1994 mehrere Artikel aus der bekannten Kairoer Zeitung Al-Ahram an, in denen es um Voltaire als Chiffre für Freiheit, für Toleranz sowie Fortschritt ging.25 Solche und ähnliche Funde aus Zeitungen rund um die Welt könnten in großer Zahl zitiert werden. Meistens handelt es sich um affirmative, positiv-zustimmende Zitationen von oder Verweise auf Aufklärer. Szenen des Denkmalsturzes scheinen hier weit entfernt zu sein, vielmehr liefern Texte der Aufklärung das, was sie schon immer geliefert haben – Argumente gegen Unterdrückung und Willkür. 22 https://tinyurl.com/2sb8apwe. 23 https://thenationonlineng.net/commendable-act-2/. 24 Mahi Çelik: Voltaire’in bilmek cesareti. In: Kitabın Ortası dergisi [Buchjournal], Nr. 32, Nov. 2019. https://www.dunyabulteni.net/kultur-sanat/voltairein-bilmek-cesareti-h453100.html. 25 Maher (2006): Zur Voltaire-Rezeption im arabisch-islamischen Kulturraum am Beispiel Ägyptens, S. 400–401.

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Zunächst erstaunt die affirmativ-positive Haltung zur Aufklärung bzw. zu ihren in den jeweiligen Artikeln zitierten Vertretern, insoweit der Befund der Kritik am Kolonialismus und seinen Grundlegungen unter anderem im Europazentrismus zu widersprechen scheint. Beide Zugänge (negativ-kritisch und affirmativ-positiv) sind im Grunde selektiv, was aber eigentlich immer der Fall ist, auch im sogenannten Westen. Selektivität in Bezug auf die Aufklärung funktioniert deshalb gut, weil die Aufklärung kein Block gewesen ist. „Die Aufklärung“ ist eine Konstruktion, soweit darunter mehr als nur der Prozess des Aufklärens verstanden wird, der als Entzauberung der Welt nicht ans 18. Jahrhundert gebunden ist, sondern in der antiken Achsenzeit beginnt – oder noch früher, wenn man mit Horkheimer und Adorno sagt, dass schon der Mythos Aufklärung (Entzauberung) ist. Das Erbe der Aufklärung ist vielteilig, das heißt es besteht aus vielen Erbstücken. Mit allen Erbstücken auf einmal wurde bzw. wird nie gearbeitet. Darauf weisen auch Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Buch „Commonwealth“ (2009) hin.26 Die beiden Autoren verwenden den Begriff der „altermodernity“, den sie von post- und hypermodernem Denken absetzen. Mit hypermodernem Denken ist beispielsweise die Rede Ulrich Becks von der „zweiten Moderne“ gemeint. „Altermodernity“ knüpft einerseits an den Widerstand gegen die Moderne in den kolonisierten Weltregionen an, andererseits sollen gegebene Alternativen, die sich nicht auf Antimodernität zurückführen lassen, in den Blick genommen werden. Sie betonen Denklinien „absoluter Demokratie“ von Spinoza hin zu Marx, also alternative Bezugstexte und Autoren aus der im weitesten Wortsinn Aufklärung.27 Alternativen in der Aufklärung selbst stellen nur einen Strang von mehreren der „altermodernity“ dar; Arbeiterbewegungen und Widerstand gegen Kolonialität, Imperialismus und „racialized rule“ sind weitere Aspekte.28 Muss man die globale Verbreitung der Aufklärung nur als koloniales Instrument lesen, nur als Ausdruck der Kolonialität, nur der Durchsetzung eines einzigen (aufklärerischen, gelehrten) Wissens? Nein. Es erscheint sogar kontrafaktisch, das zu tun. Die der Aufklärung innewohnende subversive Kraft wirkte im Europa des 18. Jahrhunderts, und sie wirkte in verschiedenen Weltregionen, mit und ohne koloniale Herrschaft, im 19. und 20. Jahrhundert. „Die Aufklärung“ erledigte ihr Geschäft des Entzauberns durchaus. ZEITUNGEN: EUROPA – USA Im britischen liberalen „New Statesman“ vom 20. Januar 2020 schrieb der Politikwissenschaftler Boris Litvin von der Stetson University (Florida) über Rousseau und Twitter: „What Jean-Jacques Rousseau can teach us about Twitter. When a corporate will manages to masquerade as a general will, a society marked by en26 Hardt/Negri (2009): Commonwealth. 27 Ebd., S. 115. 28 Ebd., S. 115–117.

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trenched inequality will find itself oppressed from within.“29 Thema des Artikels ist die Macht, die der damalige amerikanische Präsident Donald Trump aus dem Einsatz seines Twitter-Kontos ziehen konnte und die damalige Weigerung von Twitter, dem Grenzen zu setzen. Was hat da Rousseau zu suchen? Litvin erklärt: The undue „reach“ of political messaging concerns not just advertising but the outsized audiences Twitter grants to those in power under the guise of equality and familiarity. And in order to understand the tension between Twitter-reach and equality it is worth turning to a political thinker who was preoccupied with the subtleties of popular communication: Jean-Jacques Rousseau.

Jack Dorsey, CEO von Twitter, habe sich zugute gehalten, dass Twitter „‚has enabled millions of people around the globe to engage in local, national, and global conversations on a wide range of issues of civic importance.‘“ Rousseaus Begriff der „Volonté générale“ setze eine Demokratisierung der Kommunikation voraus, und so sei Rousseau „neuen Medien“ gegenüber sehr aufgeschlossen gewesen. Rousseau habe der „Volonté générale“ den „corporate will“ der Regierung gegenübergestellt – womit eine durch Twitter bewerkstelligte Täuschung aufgedeckt werden könne: By providing Trump with a seemingly unmediated capacity to masquerade as a mere participant in its democratised conversation, Twitter has enabled his presidency to confound the general and corporate categories Rousseau sought to keep apart.

Folge dieser Maskerade sei die Selbsttäuschung von Trumps Anhängern über sich selbst, die sich nicht darüber im Klaren seien, dass sie keine Akteure, sondern nur „the despot’s spectators“ seien: „No matter how popular, a despot’s will cannot make a general will – it can only masquerade.“ Das ungarische Wirtschaftsmagazin „Heti Világgazdaság“ („Wöchentliche Weltwirtschaft“) brachte am 31. Januar 2019 einen Artikel und ein Interview über die Zensur, der ein Comic unterworfen wurde, das sich inhaltlich um Candides Reise drehte: „Ziel [des Comics; Anmerkung W.S.] war es, die Geschichte von Candides Reise in einer Weise zu erzählen, die den gesellschaftskritischen Charakter von Voltaires Werk bis heute beibehält.“ Die ungarische Regierung ordnete lt. Magazin eine Zensur des Comics an, andernfalls müssten die ursprünglich gewährten Zuschüsse zurückgezahlt werden.30 Eine andere ungarische Zeitung, Magyar Nemzet, veröffentlichte online am 25. Mai 2019 ein Gespräch zu der Frage „Ist die klassische europäische Kultur tot?“31 Das Gespräch wurde mit dem Philosophen Zoltán Frenyó, dem Wissenschaftshistoriker István Gazda und dem Schulleiter Szabolcs Zalay geführt und knüpfte sehr allgemein an Spenglers „Untergang des Abendlandes“ an. In den Antworten gab es wiederholt Rückgriffe auf die Aufklärung, Kant, Rousseau und Voltaire wurden namentlich als Zeugen aufgerufen. 29 https://tinyurl.com/5ats9cbz. 30 https://tinyurl.com/353pc6vu. 31 https://magyarnemzet.hu/lugas-rovat/furdovizzel-a-gyereket-6938177/; Ungarisch, übersetzt mittels Google Translate.

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Die französische Le Monde druckte am 30. August 2019 ein Interview mit der in Straßburg lebenden, aus Senegal stammenden, Schriftstellerin Fatou Diome ab, die sich in ihren Romanen mit dem Schicksal afrikanischer Migrant*innen nach Europa auseinandersetzt. Eine der an sie gestellten Fragen lautete: „Was halten Sie von der Kritik, die der ‚dekoloniale‘ Denkansatz an bestimmten Philosophen der Aufklärung übt?“32 Es geht um die Kritik an der Aufklärungsphilosophie im Hinblick auf deren Verhältnis zu Kolonialismus und Rasselehre. Fatou Diome hält die Kritik für unangebracht. Zum einen verweist sie auf den ideengeschichtlichen Stammbaum der Aufklärung, den sie über die Renaissance auf Averroes zurückführt, auf „un Arabe, un Africain“. Zum anderen unterstreicht sie, dass nicht nur die Aufklärer, sondern alle wichtigen Denker*innen bis heute auch Gedanken geäußert hätten, die man nicht übernehmen könne, aber dass man darüber das Richtige, was sie geschrieben oder gesagt hätten, nicht zur Seite schieben dürfe.33 Marc Lazar, Co-Autor mit Ilvo Diamanti, von „Peuplecratie. La métamorphose de nos démocraties“ (2019)34, äußerte im Interview mit Le Monde am 3. Mai 201935 die folgende Ansicht: „Die Demokratie in ihrer modernen Praxis basiert auf der Gewaltenteilung und auf allem, was zur aus der Aufklärung hervorgegangenen Rechtsstaatlichkeit gehört. Unter dem Druck dieser Bewegungen [= populistische Bewegungen; Anmerkung W.S.] treten wir nun in eine völlig andere Zeit ein […].“36 Lazar sieht uns folglich in einer Transitionsphase zum Schlechteren hin, weg von der Grundlegung unserer Demokratie und unseres Rechtsstaats durch die Aufklärung hin zum Populismus, der diese Grundlegung beiseite räumt. In Frankreich eröffnet der Bezug auf „les Lumières“ eine ganz andere Dimension als in anderen europäischen Ländern. Das ist seit vielen Jahren so, doch sorgte der französische Präsident Emmanuel Macron für eine starke Medienpräsenz der Aufklärung als Argument. Schon in seiner Rede am Abend des Wahlsieges am 7. Juni 2017 sagte er: „L’Europe et le monde attendent que nous défendions l’esprit des Lumières.“37 Er nahm die radikal-islamistischen Terrorattacken in Frankreich im Lauf des Jahres 2020 zum Anlass, zur Verteidigung der Aufklärung aufzurufen und bediente sich der, nicht im Detail erläuterten, Aufklärung als Argument. Er tat dies bei vielen Gelegenheiten, wie sich anhand der Berichte in der Tageszeitung „Le Monde“ sehr gut nachvollziehen lässt. Als ein Beispiel für

32 „Que pensez-vous des critiques portées par le courant de pensée ‚décolonial‘ à l’égard de certains philosophes des Lumières?“ 33 Le Monde, 30.8.2019, S. 23, Rubrik „Idées“. Der Artikel ist auch auf der Seite von Le Monde frei zugänglich, dort ist er auf den 25.8.2019, aktualisiert am 28.8.2019, datiert: https:// tinyurl.com/7ph43j4c. 34 Diamanati/Lazar (2019): Peuplecratie (Übersetzung aus dem Italienischen). 35 Le Monde, 3.5.2019, S. 23, Rubrik „Idées“. 36 „La démocratie, dans sa pratique moderne, se fonde sur la séparation des pouvoirs et sur tout ce qui relève de l’Etat de droit né des Lumières. Nous entrons maintenant, sous la pression de ces mouvements, dans une toute autre période […].“ 37 Vgl. Lilti (2019): L’héritage des Lumières, S. 9.

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Macrons medienwirksame Interventionen sei sein Interview vom 16. November 2020 für die Online-Publikation „Le Grand Continent“ ausgewählt.38 Macron verteidigte insbesondere die Meinungsfreiheit mit Nachdruck, nachdem der Lehrer Samuel Paty am 16. Oktober 2020 von einem Islamisten ermordet worden war. Herr Paty hatte im Unterricht, wie im Lehrplan vorgesehen, das Thema „Meinungsfreiheit“ durchgenommen und dabei auch MohammedKarikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt. Ein Großteil der Redaktionsmitglieder von Charlie Hebdo war 2015 einer Terrorattacke zum Opfer gefallen – wegen dieser Karikaturen. Auf den Ablauf der Geschehnisse ist hier nicht einzugehen, es sei nur erwähnt, dass der Lehrer umsichtig vorging und niemand von den Schüler*innen gezwungen wurde, die Karikaturen anzusehen. Macron äußerte sich in dem Interview zu Meinungsfreiheit wie folgt: Der Kampf unserer Generation in Europa wird ein Kampf für unsere Freiheiten sein. Denn sie sind gerade dabei, umgestoßen zu werden. Es wird also nicht um die Neuerfindung der Aufklärung gehen, sondern wir werden die Aufklärung gegen den Obskurantismus verteidigen müssen. […] Europa hat hier eine Verantwortung, deshalb ist für mich der zweite Kampf, der geführt werden muss, der Kampf um unsere Werte. Dieses Wort scheint allgemein zu sein, aber es ist der Kampf um die Aufklärung.39

In Frankreich ist es kaum nötig, die Lumières zu erklären, auch wenn ihre „genauen“ Inhalte je nach parteipolitischer Ausrichtung unterschiedlich dargestellt werden. Im wissenschaftlichen wie im medialen Diskurs hat die Debatte um konkrete Aussagen und Positionen der Aufklärer im 18. Jahrhundert ein hohes Gewicht, es wird sehr viel weniger als in Deutschland permanent nach einer „zweiten Aufklärung“ oder „neuen Aufklärung“ gerufen. Daher verneint Macron die Notwendigkeit einer neuen Aufklärung (réinvention des Lumières). Macrons ostentatives Anknüpfen an die Lumières muss zugleich als Signal an die französische Linke verstanden werden, für deren Selbstverständnis die Aufklärung und ihr Resultat, die Französische Revolution, eine zentrale Rolle spielen. Macrons Leitspruch „en même temps“ (= sowohl links wie rechts) wird hier von ihm selbst in Richtung Erbe der Linken ausgedeutet. Ob er das konservative Spektrum überzeugt, kann bezweifelt werden, da führende Philosophen der Konservativen wie Alain Finkielkraut und Jean-Claude Michéa seit Jahren Kritik an der Aufklärung betreiben.40 Sie würden es aber nicht tun, wenn sie nicht der Überzeugung wären, dass „ihr Frankreich“ immer noch ein Erbe der Aufklärung darstellt. 38 https://legrandcontinent.eu/fr/2020/11/16/macron/. 39 „Le combat de notre génération en Europe, ce sera un combat pour nos libertés. Parce qu’elles sont en train de basculer. Et donc, ce ne sera pas la réinvention des Lumières, mais il va falloir défendre les Lumières face à l’obscurantisme. […] Là, l’Europe a une responsabilité, donc pour moi le deuxième combat à mener, c’est ce combat pour nos valeurs. Ce mot paraît générique, mais c’est le combat pour les Lumières.“ Ebd. (Übersetzung: DeepL.) 40 Gianoncelli (2019): Les éteindre et les rallumer: L’héritage paradoxal des Lumières dans la pensée conservatrice contemporaine en France. Les cas d’Alain Finkielkraut et de JeanClaude Michéa.

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Nicht nur der Präsident und sehr bekannte Philosophen, sondern auch wichtige Medienvertreter argumentieren mit der Aufklärung im Blick. Ein Beispiel: Philippe Val war, unter anderem, 1992–2004 Chefredakteur und 2004–2009 Direktor von Charlie Hebdo sowie Direktor von France Inter 2009–2014. Er bezog und bezieht in kontroversen Debatten in Frankreich Stellung und sorgt seinerseits für Kontroversen. Er bezieht sich affirmativ auf bestimmte Aufklärer wie Voltaire, Diderot und Condorcet, während er sich von Rousseau ostentativ distanziert.41 Wie auch immer die Argumente im Detail lauten, ein prominenter Medienmann trägt dazu bei, Aufklärer im medialen und öffentlichen Diskurs als Debattenpartner oder als Debattengegner präsent zu halten. Rousseau erscheint bei ihm als Urheber vieler totalitärer Übel42 – dies knüpft argumentativ an Thesen zu Rousseau aus den 1940er Jahren an.43 Macron bezog sich in seinen Äußerungen nicht nur auf Frankreich, sondern auf Europa. Die Lumières eignen sich ihm zufolge als belastbare Wertegrundlage Europas bzw. der Europäischen Union. Einige Wissenschaftler*innen haben ebenfalls Artikel auf der Seite von „Le Grand Continent“ veröffentlicht. So die Aufklärungsforscherin Céline Spector, die sich am 31. Oktober 2019 der Frage nach der Möglichkeit einer „europäischen Demokratie“ auf der Grundlage einer neuerlichen Auseinandersetzung mit Montesquieus „Esprit des Lois“ und den amerikanischen Federalists von 1787 zuwandte, die sich ihrerseits mit Montesquieu auseinandersetzten.44 Es geht um die Kritik am „Demokratiedefizit“ der Europäischen Union. Spector entwickelt kein für die EU passendes Modell, aber hält die im 18. Jahrhundert entwickelten Argumente immer noch für fruchtbringend, insoweit höchst verschiedene Verfassungskonstellationen durchdiskutiert wurden, die unverändert relevant sind. Zwischen Zeitungsartikeln und Interviews auf der einen Seite und Buchessays – „livres d’interventions“ – aus Anlass aktueller Debatten bestehen viele Verbindungen. Solche Buchessays stellen mal mehr wissenschaftliche Sachbücher dar, mal mehr Streitschriften, wie S. Rozas zitiertes Buch „La Gauche contre les Lumières?“45 Werfen wir einen Blick in die USA und auf einen Artikel von Robert Darnton vom 27. Dezember 2018 in der New York Times (USA): „To deal with Trump, look to Voltaire“ Der Untertitel setzt fort: „Advice from the Enlightenment“.46 Darnton bezieht sich auf Voltaires Candide und zitiert „Let us cultivate our garden“, ein Satz, der seiner Einschätzung nach zu den „berühmtesten der ganzen Literatur“ gehöre. Darnton diskutiert hiervon ausgehend über den Nutzen von Zivilität auch im 21. Jahrhundert unter einem Präsidenten namens Donald Trump, der gemeinsam mit seinen Gefolgsleuten Zivilität aus der politischen Rede 41 Pellerin (2019): Philippe Val et les Lumières. 42 Ebd., S. 78. 43 S. den Abschnitt zu Talmon im Kapitel „Kritik“; Spector (2011): Au prisme de Rousseau: usages politiques contemporains. Pellerin bezieht sich ebenfalls auf Spector. 44 https://legrandcontinent.eu/fr/2019/10/31/la-democratie-europeenne-est-elle-possible/. 45 Roza (2020): La Gauche contre les Lumières? 46 https://www.nytimes.com/2018/12/27/opinion/trump-voltaire-enlightenment.html.

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[eigentlich ja nur mehr ein Politsprech; W.S.] entfernt habe. Er stellt kurz die wichtigsten Inhalte aus Voltaires Traktat über die Toleranz dar, macht einen Schlenker zur Weltgeschichte47 dieses Autors und schließt den Artikel folgendermaßen ab: „What more can we aspire to in the age of Trump? The opposition to bigotry and the defense of civil rights once again call for a commitment to the cause of civilization. They require moral passion seasoned with wit. Cultivate gardens. Écrasez l’infâme.“ Darnton konnte sich wie andere Autoren auch bezüglich der Opportunität seines Artikels auf eine rege öffentliche Diskussion in den USA um die Aufklärung verlassen, zu der nicht zuletzt die Präsidentschaft Donald Trumps viel Stoff bot. David Lay Williams, Politikwissenschaftler an der DePaul University und Autor zweier Bücher über Rousseau, kommentierte in „The Washington Post“ vom 11. August 2020 ein Interview des amerikanischen Generalstaatsanwalts William P. Barr bei Fox News. Barr behauptete, dass die Demokraten von einer „Rousseauean revolutionary“ Ideologie geleitet würden. Williams analysiert im Artikel die Fehlinterpretation Rousseaus durch Barr: „And Barr neglects to mention what makes this 18th-century Genevan philosopher most relevant today, which is what the Trump administration may fear most: a steadfast commitment to the rule of law.“ Hier wird Rousseau mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verbunden.48 DEUTSCHLAND Schauplatz Deutschland: Am 31. Juli 2019 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Artikel unter dem Titel „Voltaire lesen in Timbuktu“. Die Überschrift ist ohne jeden Zweifel gelungen! Hier ein Zitat aus der Zusammenfassung: „Die Wüstenstadt im Norden Malis war einst das Zentrum der afrikanischen Wissenschaften. Dann fielen die Islamisten ein. Die Stadtjugend praktiziert nun den kulturellen Widerstand gegen politische Apathie und repressive Traditionen. Sie liest.“ In der 2013 gegründeten Stätte für Jugendliche „Lecture vivante – Centre de Lecture et de la Promotion du Patrimoine Culturel“ würden Bücher zur Verfügung gestellt. Darunter fänden sich Molière und Rousseau, wird berichtet. Voltaire wird von einigen befragten jungen Mädchen als ein Autor, den sie gerne lesen, genannt.49 Wirklich Inhaltliches zu Voltaire enthält der Artikel nicht, aber für die Schlagzeile scheint der Name Voltaire besser als andere geeignet gewesen zu sein.

47 Voltaire (1756): Essai sur l’histoire générale. 48 David Lay Williams: Why does Barr fear Rousseau? Because his philosophy says no one is above the law, 11.8.2020. https://www.washingtonpost.com/outlook/2020/08/11/rousseauwilliam-barr-democrats/. 49 Jonathan Fischer: Voltaire lesen in Timbuktu, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 175, 31.7.2019, S. 11.

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Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nahm in ihre Ausgabe von Freitag, 13. November 2020, einen Beitrag des Ökonomen Jan Schnellenbach (Technische Universität Cottbus) über David Hume auf. Der Titel lautet: „Was Volkswirte David Hume verdanken.“ Das Abstract liefert die Essentials des Artikels: Die Universität von Edinburgh wirft ihrem großen Philosophen nun „Rassismus“ vor. Hume wird das nicht gerecht. Der Pionier empirischer Wirtschaftsforschung machte Vorschläge, um die Lage der Ärmeren zu verbessern. Brandaktuell klingen seine Warnungen über die Risiken der Staatsverschuldung.50

Der Rassismus-Vorwurf an Hume und die im Kapitel „Kritik“ bereits erwähnte Umbenennung des Hume-Towers der Universität Edinburgh in George Square sind nur ein Aufhänger aus aktuellem Anlass. Wirklich Thema des Artikels ist das nicht. Ein großes Foto zeigt das Hume-Denkmal mit einem gerade vorbeimarschierenden Dudelsack-Bläser in Edinburgh. Daneben steht als Kommentar: „Noch auf dem Sockel: Der Philosoph der Aufklärung David Hume im Herzen seiner Heimatstadt Edinburgh. Foto AFP“. Beide Beispiele aus deutschen überregionalen Qualitätsblättern geben gut die übliche Richtung an, in der über Aufklärer geschrieben wird. Die aus der wissenschaftlichen Literatur allmählich in die Öffentlichkeit gelangte Kritik etwa an der Verwendung der Kategorie „Rasse“ in Texten der Aufklärung wird nicht übergangen, aber es wird ihr keine Tragweite eingeräumt. Im Deutschen spricht und schreibt man gerne bis heute von „zweiter Aufklärung“. Hier setzte ein gewisser Boom in den 1960er und 1970er Jahren ein, wie Grafik 8 zeigt. Er ist etwas abgeflacht, aber nicht verschwunden. Die Autoren, die den Begriff verwendeten, lesen sich wie ein „Who is Who“ jener Jahrzehnte, nicht nur der Bundesrepublik: Ernesto Grassi, Krzysztof Michalski, Hans Georg Gadamer, Jürgen Mittelstrass, Endre Kiss, Jürgen von Stackelberg, Walter Dirks, Jeremy Rifkin, Neil Postman, und viele andere. Weitere beliebte Ausdrucksweisen sind im Deutschen „neue Aufklärung“ und z. B. „radikale Aufklärung“. Letzteres wird vorwiegend zur Bezeichnung bestimmter Aufklärungstendenzen im 18. Jahrhundert eingesetzt, weniger in Bezug auf vorgebliche Notwendigkeiten in der Gegenwart. Ausnahme ist etwa ein Buch von Ulrike Ackermann, auf das weiter unten kurz eingegangen werden soll. Ein Vergleich solcher Ausdrucksweisen, in die „Ende der Aufklärung“ einbezogen wurde, ergibt eine quantitative Präferenz für „Ende der Aufklärung“, die jedoch nur zum geringeren Teil durch die Diversität der Bedeutungszusammenhänge erklärt werden kann. Einerseits kann der Ausdruck eine rein zeitliche Bedeutung haben, andererseits wird in vielen Lebensbereichen aufgeklärt, etwa im Zusammenhang von Kriminalität oder Geheimdiensten. Meistens dreht es sich inhaltlich

50 Jan Schnellenbach: Was Volkswirte David Hume verdanken. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 265, 13.11.2020, S. 18.

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Orientierung

Grafik 8: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „zweite Aufklärung“ (verschiedene Schreibweisen) im Deutschen, Zeitraum 1800 bis 2019. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https://tinyurl.com/59scnmkx.

Deutschland

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Grafik 9: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „zweite“ und „neue Aufklärung“ sowie „Ende der Aufklärung“ im Deutschen, Zeitraum 1950 bis 2019. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https://tinyurl.com/hau8zm7w.

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Orientierung

Grafik 10: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „Ende der Aufklärung“ und „Postmoderne“ im Deutschen, Zeitraum 1950 bis 2019. Smoothing = 0. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https://tinyurl.com/2t6nx3ez.

Deutschland

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um „die Aufklärung“ und das Ende ihrer Relevanz51 wie in der Vorstellung von der Postmoderne. „Zweite“ und „neue“ Aufklärung beziehen sich bedeutungsmäßig ganz überwiegend auf „die Aufklärung“ und ihre Relevanz im 20. bzw. 21. Jahrhundert (Grafik 9). Gut zu erkennen ist, abgesehen vom besonderen Verlauf der Kurve von „Ende der Aufklärung“, dass „1968“ den Einsatz von „zweite“ bzw. „neue“ Aufklärung durchaus nachhaltig bis heute angeschoben hat. Im Vergleich mit „Postmoderne“ nimmt sich der Kurvenverlauf von „Ende der Aufklärung“ jedoch flach aus (Grafik 10). Das bedeutet, dass es in Bezug auf die Verwendung von „Ende der Aufklärung“ und „Postmoderne“ eine leichte Koinzidenz gibt, aber keine Bedeutungsverschmelzung, ebenso wenig mit „zweite Aufklärung“ oder „neue“ oder „radikale“ Aufklärung. Karl Steinbuch (1917–2005), ein Pionier der Computertechnik und Informatik, erlangte mit seinem Buch „Kurskorrektur“ 1973 in Deutschland einige Bekanntheit. Es markierte seine persönliche politische Wende in das konservative Spektrum. 1989 veröffentlichte er „Die desinformierte Gesellschaft. Für eine zweite Aufklärung“. Dieses nach Holzhackermethode konzipierte Buch bedarf an sich keiner ausführlichen Aufmerksamkeit, denn es bleibt dieses „für eine zweite Aufklärung“ schuldig. Dennoch: Steinbuch wie auch weitere Autor*innen deutscher Sprache, die vorgeben, für die Aufklärung, für eine zweite Aufklärung, für eine radikale Aufklärung usw. plädieren zu wollen, bezichtigen den modernen Menschen teils sinngemäß, teils wörtlich der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, setzen dann aber dessen Mündigkeit für diese oder jene Version von Aufklärung bereits voraus. Der polemische Charakter solcher Werke ist nicht zu übersehen, konstruktive Effekte scheinen gar nicht beabsichtigt zu sein, wenn man mit wohlinformierten und sorgfältig argumentierten Publikationen in französischer und englischer Sprache vergleicht, die sich gleichwohl an ein breites Publikum wenden. Einen Kristallisationspunkt in den Debatten bildete das Buch von Bassam Tibi (Bassām Ṭībī) „Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft“ von 1998. Das Buch erschien 2000 auch in einer Taschenbuchausgabe unter demselben Titel. Die 3. Auflage, ebenfalls als Taschenbuch, erhielt den Untertitel „Leitkultur oder Wertebeliebigkeit“, die jüngste Ausgabe erschien 2016 mit dem Untertitel „Europäisierung oder Islamisierung“. Das Buch zielt auf ein breiteres Publikum, das an der Debatte um den Islam in Europa interessiert ist. Es stellt eine Streitschrift dar und unterscheidet sich hinsichtlich der Textgattung von solchen Forschungsmonografien zur Aufklärung, die, wie Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, Breitenwirkung erzielt haben. Tibi bezeichnet sowohl Habermas wie Horkheimer als seine Lehrer. Ich zitiere nach der Originalausgabe von 1998: „[Ich habe] die politische Philosophie der 51 Als Beispiel sei genannt: Drechsel/Gerds/Körber/Twisselmann, Hg. (1987): Ende der Aufklärung? Der Band gibt keine Antwort im Singular auf die Titelfrage, sondern beleuchtet die Frage von vielen theoretischen Seiten her.

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europäischen Aufklärung studiert und weiß die europäische Tradition des Humanismus nicht nur zu schätzen, sondern auch sie gegen ihre Feinde in Schutz zu nehmen […].“ Weiter schreibt der Autor: Nachdem ich Europa im ersten Teil kritisiert habe, will ich in diesem Teil dazu übergehen, die europäische Identität der Aufklärung gegen die Geltungsansprüche der vormodernen Kulturen der Migranten in Westeuropa zu verteidigen. […] Als Migrant bin ich für die Migration ebenso, wie ich als Anhänger der Philosophie der Aufklärung auch für ihre Werte und gegen den wertelosen Postmodernismus eintrete.52

Später heißt es: Die Europäer scheinen einer zweiten Aufklärung zu bedürfen, in deren Rahmen sie ihr Verhältnis zum nicht-europäischen Rest der Welt im inter-kulturellen Dialog bestimmen. Zu den Aufgaben gehört, ihr ethnisch-exklusives Denken zu entromantisieren. Allerdings dürfen sie damit nicht fälschlich eine Selbstverleugnung verbinden […]. Auf dem Boden der europäischen kulturellen Moderne müssen sie einen Normen- und Wertekatalog verbindlich für sich und andere verlangen. Ich nenne diesen Katalog Leitkultur.53

Bassam Tibis Buch war für den Erfolg des Begriffs „Leitkultur“ wesentlich, seine Häufigkeit steigt, wie es die Kurve des Ngram Viewer zeigt, nach Erscheinen seines Buches schnell an (Grafik 11). Wie immer enthält die Kurve auch einen Beifang, da der Begriff „Leitkultur“ z. B. agrarwissenschaftlich verwendet wird. Noch deutlicher wird der Befund, wenn man nach dem Gebrauch von „Leitkultur“ als Fremdwort im Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen fragt (Grafik 12, zweiteilig). Vergleicht man die Häufigkeit in den fünf Sprachen, sieht man, dass trotz der Migration des Wortes „L(l)eitkultur“ in andere Sprachen die Debatte ziemlich deutsch ist – zumal es in anderen Sprachen kaum einen vergleichbaren Begriff gibt, der die öffentliche Debatte ähnlich stark orientieren würde. Lässt man Deutsch weg, ergibt sich eine zeitliche Koinzidenz: In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre steigen die Kurven in den vier Vergleichssprachen ebenfalls an und gehen auf und ab, der prozentuale Anteil am Sprachgebrauch ist aber um ein Vielfaches niedriger als im Deutschen. Bassam Tibi verbindet für seinen Begriff europäischer Identität die Aspekte Aufklärung, Moderne, Humanismus und Leitkultur, inhaltlich geht es ihm besonders um Menschenrechte, Toleranz und Demokratie. Die eigentliche Substanz seines Begriffes von Leitkultur entnimmt er der Aufklärung, wobei es sich bei ihm wie bei vielen anderen um ein konventionelles und habituelles Substrat namens „Aufklärung“ handelt. Nehmen wir als weiteres deutsches Beispiel von Ulrike Ackermann „Eros der Freiheit. Plädoyer für eine radikale Aufklärung“ (2008).54 Ackermann setzt ähnlich wie Tibi, den sie nicht erwähnt, bei der Frage der Wehrhaftigkeit der westlichen Zivilisation gegenüber dem „politischen Islam“ und „Islamismus“ an. Sie

52 Tibi (1998): Europa ohne Identität?, S. 137. 53 Ebd., S. 183. 54 Ackermann (2008): Eros der Freiheit.

Deutschland

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Grafik 11: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „Leitkultur“ im Deutschen, Zeitraum 1900 bis 2019. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https:// tinyurl.com/n3wkpbbs.

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Orientierung

Grafik 12: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „Leitkultur“ im Deutschen, Englischen, Französischen, Italienischen und Spanischen. Zeitraum 1950 bis 2019. Die Grafik rechts zeigt die im Vergleich zum Deutschen (Grafik links) flachen Kurven von Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch im Detail. Smoothing links = 0, rechts = 3. Groß- bzw. Kleinschreibung ist berücksichtigt. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https://tinyurl.com/ 3c3up5un bzw. https://tinyurl.com/v7s3a3ne.

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vermisst eine angemessene Wertschätzung der Freiheit (in all ihren Ausprägungen) und konstatiert im Westen, speziell in Deutschland, eine geringe Bereitschaft der Bevölkerung, sich proaktiv hinter das demokratische Staatswesen zu stellen. In das Buch sind ausführliche historische Rückblenden zur Idee der Freiheit(en) und der Demokratie eingearbeitet, unter denen das Zeitalter der Aufklärung eine wichtige Stellung einnimmt. Richtigerweise interpretiert Ackermann die Aufklärung nicht allein als Grundlage der modernen Freiheit und der modernen Demokratie, und sie nimmt auch keine undifferenzierte Überhöhung der Aufklärung vor. Eher neigt sie wie viele andere Autor*innen dazu, der Aufklärung einen extremen Vernunftbegriff zu unterstellen, der dann wieder argumentativ bekämpft wird. Was beinhaltet dann also das im Untertitel angekündigte „Plädoyer für eine radikale Aufklärung“? Es gibt kein Kapitel, das diesen Untertitel aufgreifen würde, lediglich das letzte Kapitel lautet „Eros der Freiheit im Diesseits“ und soll wohl das angekündigte Plädoyer darstellen. Dort wird eine radikale Selbstaufklärung angesprochen.55 Zwar wird das durch schöne Zitate aus Diderot und Spinoza verziert, aber es bleibt eine abstrakte Angelegenheit. Die Frage, wie sich der einzelne Mensch verhalten sollte, ohne vorher, wie die Autorin, eine Symbiose zwischen Freiheitsphilosophie und Erkenntnissen der Psychoanalyse Freud’scher Prägung herbeizuführen, bleibt unbeantwortet. ZUKUNFTSORIENTIERUNG DURCH AUFKLÄRUNG Die Hohe Zeit der Aufklärung als gesellschaftliche Orientierung fällt in unsere Gegenwart. Eine Vielzahl von substanziellen Diskussionsbeiträgen, aus denen im Folgenden eine Auswahl geboten wird, unterstreicht dies. Dass „Aufklärung“ und „Demokratie“ zusammenhängen, würden Viele, würde man sie dazu befragen, vermutlich bejahen. Es wird oft so dargestellt, der Geschichteunterricht bringt das den Schüler*innen im Allgemeinen als These näher. In der Regel wird das mit der Besprechung der Revolutionen in Amerika und Frankreich verbunden sein, speziell mit den diversen Rechteerklärungen und Verfassungen. Als Vorstellung, der positiv-affirmativ begegnet wird, ist die oft als auf der Hand liegend angenommene enge Verbindung zwischen Demokratie und Aufklärung eine neuere Vorstellung, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Früher wurde Demokratie vorwiegend mit den Revolutionen zusammen gedacht. Darüber hinaus wurde der historische Denkrahmen erweitert. Kloppenberg56 geht in „Toward Democracy“ (2016) der realen und Ideengeschichte der Demokratie in den (späteren) USA, England und Frankreich sowie im Mitteleuropa der Reformation seit dem 16. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert nach. Der Rahmen ist nicht neu, aber Kloppenberg liefert eine Synthese, die das Auf und Ab dieser 55 Ebd., S. 155. 56 Kloppenberg (2016): Toward Democracy.

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Orientierung

Geschichte(n) ebenso in den Blick bringt wie das Verhältnis von Gewalt und Entwicklung von Demokratie, das schon Barrington Moore Jr. und andere (Kapitel „Intellektuelle“) analysiert hatten. An der heute gängigen positiv-affirmativen Haltung prallt scheinbar alle Kritik ab. Jene aus der Zeit Horkheimers und Adornos, die die Frage nach Zusammenhängen zwischen Totalitarismus und Aufklärung in den Vordergrund stellte, kann als abgewiesen, wenn nicht erledigt gelten, da sie auf einem höchst problematischen Begriff von Vernunft und einem im Grunde irrealen Aufklärungsbegriff beruhte. Die postkoloniale Kritik hingegen bleibt lebendig, sie hat dazu geführt, dass die Aufklärung neu betrachtet wurde. Das geschah und geschieht jedoch auf zwei scheinbar nicht miteinander kompatible Weisen: Zum einen wurden Defizite in Bezug auf die aufklärerische Konzeption des Menschen und seiner Rechte offengelegt, was die Kritik an Rassismus, Befürwortung der Sklaverei etc. mit einschließt. Zum anderen verstärkten sich aber Bemühungen, „die“ Aufklärung deutlicher auszudifferenzieren und die Autor*innen, auf die diese Kritiken schlechterdings nicht zutreffen, von jenen zu unterscheiden, auf die sie durchaus zutreffen mögen. In diesem Zusammenhang findet zugleich eine Neubewertung von „Aufklärung“ und „Moderne“ statt. Verhältnis und Zusammenhang zwischen beiden wird genauso ausdifferenziert, wie die beiden Begriffe bzw. Konzepte selber. Undifferenziert von „Moderne“ zu sprechen, ist heute kaum mehr möglich. „Moderne“ als totalerklärender Begriff der Zeit seit der Industrialisierung kommt außer Mode – und das sicher zu Recht. Ähnlich ergeht es der Vorstellung vom „Projekt Aufklärung“. Im Deutschen („Projekt Aufklärung“), Englischen („Enlightenment project“) und Französischen („projet des Lumières“) wurde diese Formel seit den 1970er Jahren gängig, nach der Jahrtausendwende hat der Gebrauch aber stark nachgelassen (Grafik 13). Anthony Pagden sieht Alasdair MacIntyre als Urheber dieser Formel, der sie aber negativ-kritisch eingesetzt habe.57 Möglicherweise ist die Vorstellung von der Aufklärung als Projekt inzwischen mit dem allgemeinen Namen „die Aufklärung“ in den verschiedenen Sprachen verschmolzen, denn die Häufigkeitskurven von „die Aufklärung“ (etc. je nach Sprache) liegen um ein Mehrfaches höher als jene von „Projekt Aufklärung“ oder auch (im Deutschen) von „zweite Aufklärung“. Die genaue Ausdeutung des tatsächlichen Sprachgebrauchs in mehreren Sprachen bedürfte einer computergestützten Auswertung einer möglichst großen Zahl von Belegstellen, was hier in diesem Buch nicht en passant angeboten werden kann. Mein Eindruck ist der, dass die wie ein Eigenname verwendeten Formulierungen „die Aufklärung“, „the Enlightenment“ usf. die Konnotation „historisches“ und/oder „kulturelles“ „Erbe“ haben. Es wird nicht mehr wie bei der Vorstellung vom „Projekt Aufklärung“ etwas in einem kollektiven Prozess vorangetrieben,

57 Pagden (2013): The Enlightenment, S. 11. Bezug ist: MacIntyre (1992 [1981]): After Virtue.

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Grafik 13: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „Projekt Aufklärung“ im Deutschen, „Enlightenment project“ im Englischen und „projet des Lumières“ im Französischen. Zeitraum 1950 bis 2019. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https:// tinyurl.com/ys344vsa.

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Orientierung

Grafik 14: Google Books Ngram Viewer, Häufigkeitsverteilung von „Projekt“ und „Zweite Aufklärung“ (zwei verschiedene Schreibweisen) im Deutschen, „Enlightenment project“ (drei verschiedene Schreibweisen) im Englischen und „projet des Lumières“ (zwei verschiedene Schreibweisen) im Französischen. Zeitraum 1950 bis 2019. Smoothing = 3. Erstellungsdatum der Grafik: 7. August 2021, https://tinyurl.com/wbdx5tav.

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sondern es wird auf ein umfangreiches in sich ausdifferenziertes Erbe zurückgeschaut, mit dem sich arbeiten lässt. So wird es möglich, die Kritik bezüglich Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus, Befürwortung der Sklaverei, des Kolonialismus, der Priorisierung des Mannes sowie speziell des „weißen Mannes“ in der Aufklärung anzunehmen und zugleich in der Aufklärung die Grundlegung der heutigen demokratischen Prinzipien zu erkennen, solange in der Perspektive der Kritik das 18. Jahrhundert nicht mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwechselt wird und solange mit Blick auf die demokratischen Prinzipien die Ansprüche an die Demokratie, wie sie etwa das EU-Recht beinhaltet oder wie sie aus den zahlreichen UN-Pakten bzw. Konventionen hervorgehen, im historischen Rückblick auf eine Zeit, in der diese Ansprüche noch nicht formuliert gewesen waren, nicht verloren gehen. In dem Moment, in dem „die Aufklärung“ von ihrer Fesselung an „die Moderne“ oder an den Status eines „Projekts“ befreit wird, rückt sie in die Funktion eines zunächst einmal für sich stehenden Erbes, das reichhaltig ist und dabei manches enthält, was man ausschlagen muss, kann und will, während vieles andere neue Wertschöpfung ermöglicht. Und an diesem Punkt wird „Aufklärung“ tatsächlich zum Projekt, zum Projekt der Wertschöpfung, die bislang guten Teils ausgeblieben ist. Es scheint, als entwickele sich die Praxis der „Aufklärung der Aufklärung“ hin zu einem Projekt der Wertschöpfung aus der Aufklärung. Der Erbe-Begriff im Zusammenhang politischer Agenden rückte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg an rhetorisch exponierte Orte vor. So las man in der im Kapitel „Praktiken“ zitierten Präambel des Brüsseler Pakts von 1948 (Frankreich, Vereinigtes Königreich, Benelux-Staaten), dass die vertragschließenden Parteien beschlossen hätten „to fortify and preserve the principles of democracy, personal freedom and political liberty, the constitutional traditions and the rule of law, which are their common heritage“. Das Wort „Enlightenment“ kommt nicht vor, aber was da als „common heritage“ bezeichnet wird, liest sich wie das gängig gewordene Substrat aus „der Aufklärung“. Ob nun „die Aufklärung“ dabei im Stillen Pate stand oder eben diese Elemente erst einige Jahre später im allgemeinen Diskurs als Substrat der Aufklärung ausgewiesen wurden, spielt keine allzu große Rolle, entscheidend ist die Auffüllung des politischen Erbe-Begriffs mit „the principles of democracy, personal freedom and political liberty, the constitutional traditions and the rule of law“. Sehen wir von den unüberblickbar zahllosen Arbeiten über einzelne Autor*innen der Aufklärung ab, wurde das demokratiegeschichtliche Erbe der Aufklärung, wie im Kapitel „Intellektuelle“ am Beispiel von Robert R. Palmers „The Age of Democratic Revolution“ (1959–1964) gezeigt, nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend valorisiert – wenn nicht, wie im Kapitel „Kritik“ ausgeführt wurde, die Aufklärung zur Ermöglicherin des Totalitarismus im 20. Jahrhundert gemacht wurde. Aufklärungsforschung und Demokratietheorie gingen dabei meistens unterschiedliche Wege. Ausgehend von gängigen Fehlinterpretationen der Demokratielehre Immanuel Kants und bezugnehmend auf die Kritik an der Aufklärung als Teil des Totalitarismusproblems schrieb Ingeborg Maus 1992:

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Orientierung Wir leben in einem Jahrhundert der Gegenaufklärung. Eine Bestätigung dieser Erkenntnis und gleichzeitig eine Immunisierung gegen sie besteht darin, daß die extremen menschenverachtenden Formen politischer Integration, die das 20. Jahrhundert hervorbrachte, nicht als Ausdruck dieser Tendenz, sondern umgekehrt als Vollzug der Aufklärung gedeutet werden. […] Der vorliegende Versuch, eine „Aufklärung“ gegenwärtiger Demokratietheorie zu betreiben, indem er deren Verhältnis zur Aufklärung bestimmt, erscheint unter diesen Bedingungen als paradox oder zumindest aussichtlos. Er stößt auf die Schwierigkeit, daß die konsequentesten Demokratietheorien des 18. Jahrhunderts, wie z. B. diejenige Kants (oder auch Rousseaus), aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts gar nicht mehr als demokratische identifiziert, sondern eher als aufgeklärt absolutistisch (oder sogar „totalitär“) verdächtigt werden. 58

In „Zur Aufklärung der Demokratietheorie“, aus der dieses Zitat stammt, unternimmt es Ingeborg Maus, fast dreißig Jahre vor Jonathan Israel, die Radikalität der Kant’schen Demokratietheorie herauszuarbeiten, die sie der ihrer Ansicht nach zum Teil in mittelalterliche Konzepte (Beispiel der Diskussionen um Widerstandsrecht) zurückfallenden Demokratietheorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts gegenüberstellt. Da sich die Autorin überwiegend mit deutschsprachigen Beiträgen zur Demokratietheorie und zu Kant auseinandersetzt, trifft ihre scharfe Kritik freilich zunächst nur auf diese Texte zu, aber sie geht z. B. auch auf John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“59 ein. Der eigenen Zeit und ihren Diskussionen über die politische und Demokratielehre Kants wirft sie „refeudalisierende Vorverständnisse“ vor, sie sieht „faktische Refeudalisierungstendenzen der heutigen Gesellschaft“.60 Demgegenüber „erweist sich Kants demokratischer Monismus noch immer als Utopie“.61 Inzwischen sind viele weitere und ähnliche Stimmen vernehmbar geworden. In der Regel handelt es sich um zurückhaltende, aber kraftvolle und polemikfreie Stimmen, die international viel Aufmerksamkeit erreichten. Neil Postman (1931–2003) empfahl 1999 den Blick zurück auf das 18. Jahrhundert und die Aufklärung, um die Zukunft zu gestalten: Wenn Nach-vorne-Blicken denn überhaupt irgend etwas bedeutet, dann kann es doch nur bedeuten, daß wir in unserer Vergangenheit nützliche und humane Ideen suchen, mit denen wir die Zukunft gestalten können.62

Die Vergangenheit habe dazu viel anzubieten, seit den antiken Denkern: Dessen eingedenk, schlage ich vor, daß wir unsere Aufmerksamkeit dem achtzehnten Jahrhundert zuwenden. Dort, denke ich, können wir Ideen finden, die der Zukunft eine humane Richtung offerieren, Ideen, die wir mit Zuversicht und Würde über die Brücke ins einundzwanzigste Jahrhundert hinübertragen können.63

Postman sieht die Aufklärung grundsätzlich als umfassendes kulturelles Phänomen, hebt für seine Zwecke aber die folgenden Aspekte hervor, die in der Aufklä58 59 60 61 62 63

Maus (1992): Zur Aufklärung der Demokratietheorie, S. 7. Originalausgabe: Rawls (1971): A Theory of Justice. Maus (1992): Zur Aufklärung der Demokratietheorie, S. 35. Ebd., S. 61. Postman (1999): Die zweite Aufklärung, S. 21. Ebd., S. 25.

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rung entwickelt worden seien: Induktive Wissenschaft, religiöse und politische Freiheit, Volksbildung, rationaler Handel, Nationalstaat, Fortschritt, Glück, Bekämpfung des Aberglaubens durch die Vernunft.64 Er verweist zugleich auf negative Aspekte der Aufklärung oder zumindest ambivalente Positionen wie in Bezug auf die Sklaverei, sieht darin aber keinen Hinderungsgrund, die positiven Aspekte für die Zukunftsgestaltung zu nutzen. Diese handelt er in acht Kapiteln ab: Fortschritt, Technologie, Sprache, Information, Erzählungen, Kinder, Demokratie und Erziehung. Unschwer lassen sich darin in der Tat Schwerpunkte der Debatten in der Aufklärung wiedererkennen. Jedes Kapitel enthält Handlungsvorschläge, die sich im Kern sehr auf die US-amerikanischen Verhältnisse beziehen. Wer Postmans Maxime, dass der Blick nach vorn den Blick zurück benötige, nicht teilt, wird mit dem Buch wenig anfangen können. Tatsächlich werden alternative Zugänge, wie sie in der Zukunftsforschung eingesetzt werden, nicht diskutiert, ob sie nicht „besser“ sein könnten als der Blick zurück. Stephen Eric Bronner versuchte 2004 in „Reclaiming the Enlightenment“ mit den Verzerrungen der historischen Aufklärung in der Kritik seit der Gegenaufklärung aufzuräumen.65 Er sieht keine weltanschauliche Alternative zu den politischen Konzepten der Aufklärung als Grundlage eines Weiterdenkens der Politik im 21. Jahrhundert. Gertrude Himmelfarb (1922–2019) beendete ihre sehr erfolgreiche Darstellung der Aufklärungen in Großbritannien, Frankreich und den USA, die 2004 unter dem Haupttitel „Roads to Modernity“ erschien, mit einem klaren Statement. Die im folgenden Zitat enthaltenen Begriffe „sociology of virtue“, „ideology of reason“ und „politics of liberty“ sollen, in der genannten Reihenfolge, die britische, die französische und die US-amerikanische Aufklärung essentiell charakterisieren: The sociology of virtue, the ideology of reason, the politics of liberty – the ideas still resonate today. But they carry with them the accretions of more than two centuries of historical experiences and memories. And other ideas now compete for our attention: equality, most notably, but also nationality and ethnicity, class and gender, cultural diversity and global homogeneity. If the three Enlightenments ushered in modernity – or at least a new stage in modernity, or new variations on modernity – the postmodernists may be justified in calling this a postmodern age. Yet the ideas of virtue, liberty, and reason did not originate in modernity; nor have they been superseded or superannuated by postmodernity. We are, in fact, still floundering in the verities and fallacies, the assumptions and convictions, about human nature, society and the polity that exercised the British moral philosophers, the French philosophes, and the American Founders.66

Wie vor ihr Habermas, den die Autorin nicht zitiert, und nach ihr Israel, hält Himmelfarb an einem positiv besetzten Begriff der Moderne fest. Ihr „we“ wird an die drei Aufklärungen gebunden; es mag global gedacht sein, aber nicht im Sinne einer globalen Autor*innenschaft, ihre Moderne ist und bleibt westlich.

64 Ebd., S. 26. 65 Bronner (2004): Reclaiming the Enlightenment. 66 Himmelfarb (2004): The Roads to Modernity, Zusammenfassung.

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Orientierung

Tzvetan Todorov arbeitete 2006 in „Esprit des Lumières“ eine breitere Perspektive aus: Gott ist tot, die Utopien haben sich in Nichts aufgelöst, also, auf welchem intellektuellen und moralischen Sockel wollen wir unser gemeinsames Leben errichten? Damit wir uns als verantwortungsvolle Wesen verhalten können, brauchen wir einen konzeptuellen Rahmen nicht nur für unsere Diskurse, sondern auch für unser Handeln. Auf der Suche nach diesem Rahmen gelangte ich zu einer bestimmten Denkweise und Sensibilität, der humanistischen Seite der Aufklärung. In dem Dreivierteljahrhundert vor 1789 kam es zu jenen grundlegenden Veränderungen, die in erster Linie für unsere gegenwärtige Identität verantwortlich sind. 67

Todorov wechselt zwischen Aufklärung und Gegenwart, um die anhaltende Relevanz der Aufklärung darzulegen. Er versteht die Aufklärung als ein „Projekt“, das sich auf drei zentrale Ideen gegründet habe: Autonomie, der menschliche Zweck unseres Tuns, Universalität.68 Nach einer Kritik der Kritiken an der Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert führt der Autor die Konzeptbegriffe Autonomie, Laizität, Wahrheit, Menschheit und Universalität aus. Diese stehen im Grundsatz in keinem Kausalzusammenhang mit Europa, aber: Der esprit der Aufklärung wirft, so wie man ihn heute beschreiben kann, ein merkwürdiges Problem auf: Seine Bestandteile findet man in ganz unterschiedlichen Epochen in allen großen Zivilisationen; dennoch konnte er sich lediglich in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet, Westeuropa, durchsetzen. […] Gleichwohl ist das Denken der Aufklärung universell. Das gilt es als allererstes festzuhalten. 69

Todorov stellt damit klar, dass der esprit der Aufklärung universell, also weder genuin noch spezifisch europäisch ist, er gelangte aber zuerst in Europa zu praktischer Anerkennung. Der Autor bringt das mit der politischen Autonomie des Einzelnen wie des Volks in Verbindung, die es außerhalb Europas im 18. Jahrhundert nirgendwo gegeben habe. Diese Autonomie sei in ganz Europa aufgrund einer speziellen Eigenschaft Europas wirksam geworden: Einheit in der Vielfalt. Deshalb schlussfolgert er, „sans l’Europe, pas de Lumières; mais aussi: sans les Lumières, pas d’Europe.“70 67 „Après la mort de Dieu, après l’effondrement des utopies, sur quel socle intellectuel et moral voulons-nous bâtir notre vie commune? Pour nous comporter en êtres responsables, nous avons besoin d’un cadre conceptuel qui puisse fonder non seulement nos discours, cela est facile, mais nos actes. Parti à la recherche de ce cadre, j’ai été conduit vers un courant de pensée et de sensibilité, le versant humaniste des Lumières. Durant les trois quarts de siècle qui précèdent 1789 s’est produit le grand basculement qui, plus que tout autre, est responsable de notre identité présente.“ Todorov (2006): L’esprit des Lumières (E-Book-Ausgabe, ohne Seitenangabe, Buchanfang). 68 Ebd., Kap. 1. 69 „L’esprit des Lumières, tel qu’on peut le décrire aujourd’hui, soulève un curieux problème: on en trouve les ingrédients à des époques variées, dans toutes les grandes civilisations du monde; et pourtant il n’a pu s’imposer qu’à partir d’un moment précis, au XVIIIe siècle, et dans un lieu particulier, l’Europe occidentale. Examinons brièvement chacune de ces deux propositions. Même si l’on ne peut l’observer partout et toujours, la pensée des Lumières est universelle: voilà ce qu’on est obligé de constater tout d’abord.“ Ebd., Kap. 8. 70 Ebd., Kap. „Les Lumières et l’Europe“.

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Ähnlich wie Himmelfarb verkürzt Todorov das Erkenntnisinteresse auf Europa bzw. den Westen und erwähnt keinen Beitrag der übrigen Welt zu einer allfälligen Aktualität der Aufklärung. Robert B. Louden stellte 2007 die Frage, „How and why do the ideals of the Enlightenment still elude us?“ Dies ist der Untertitel von „The World We Want“.71 In diesem Buch wird sehr klar gezeigt, was die Konzeptualisierung der Aufklärung als Projekt heißen könnte. Es besitzt eine gewisse Verwandtschaft mit Neil Postmans „A Bridge to the Eighteenth Century“ (1999) und Steven Pinkers „Enlightenment now“ von 2018. Louden vergleicht die Erkenntnisse und vorgeschlagenen Strategien zur Erreichung der Ziele zwischen der historischen Aufklärung und der Gegenwart in fünf Feldern: Religion, Erziehung, Wirtschaft, Politik und Internationale Beziehungen, die er nicht als die einzigen, aber die vorrangigen Interessensfelder („primary areas of concern“)72 der Aufklärung ansieht. Warum soll man sich damit befassen? I believe that it is important at present to reexamine and rearticulate what the Enlightenment’s hopes for the future actually were, in part because these hopes have often been distorted, and in part because by reflecting on them we are also led to give more thought to our own hopes for the future. Although I do endorse most of the Enlightenment’s hopes (indeed, I believe that a strong majority of people do, once accurate versions of them are presented), in the present work I speak primarily not as an advocate of Enlightenment ideals but as an analyst and evaluator of them. What were these ideals? How and why have they still not been realized? Are better means toward the realization of these ideals available, and if so, what are they? What is still viable in these ideals, and what is not?73

Louden setzt sich für eine „korrekte“ Sicht der Aufklärung ein, zudem für eine kritisch-analysierende, zugleich sieht er keine sinnvolle Alternative zu der von ihm (und vielen anderen) verfolgten Vorgehensweise, Inspiration für die Zukunft, für „unser“ zukunftsbezogenes Wollen und Sollen, in der Auseinandersetzung mit der Aufklärung zu suchen, denn „The Enlightenment is the only historical period to be defined by a philosophical movement […]“.74 Ganz im Gegensatz zu Himmelfarb weist Louden der deutschen Aufklärung, was bei ihm wesentlich Kant bedeutet, eine zentrale Funktion zu, ohne die Überzeugung aufzugeben, dass die Rede von „der Aufklärung“ im Singular und von der Einheit in der Aufklärung die richtige gegenüber der Betonung der Aufklärungen im Plural sei. Die Identifizierung von „Aufklärung“ mit „Moderne“ und/oder „Western civilization“ hält der Autor für unergiebig und im Grunde für irrelevant. Ebenso wenig folgt er einer Reduktion der Aufklärung auf Gemeinplätze wie „permanent critique of ourselves“, da dies seit Sokrates praktiziert werde, vielmehr brauche es „some ‚faithfulness to doctrinal elements‘: any significant investigation of the Enlight-

71 72 73 74

Louden (2007): The World We Want. Ebd., S. 9. Ebd., S. 7–8. Ebd., S. 3.

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Orientierung

enment needs to investigate the specific means‐ends story behind their hopes for the future.“75 Nicht alle Hoffnungen der Aufklärung hätten sich erfüllt, zum Beispiel: „The growth of free trade, for instance, has not reduced poverty between and within nations, nor has it brought about world peace.“ Folgenreicher sei allerdings, dass „insufficient numbers of people are strongly committed to Enlightenment ideals such as peace, elimination of poverty, reduction of inequality, and an engaged civic culture to make clear progress in realizing these ideals.“76 Loudens Buch hat ein konkretes Ziel, das in bester humanistischer Tradition steht: At bottom, I seek to show what remains viable in Enlightenment ideals, and why we still have reason to hope that humanity may some day achieve those that survive scrutiny. My underlying goal is thus to present a reassessment, reenvisioning, and qualified defense of the moral and political ideals of the Enlightenment for our own time and place. 77

Die Aufklärer hätten sich, ohne dass man ihnen den Vorwurf der Naivität machen könnte, zu viel von neuen Institutionen, z. B. im Bildungsbereich und in der Wirtschaft, versprochen; deren Potenzial, Verhaltensweisen der Menschen zu ändern, sei überschätzt worden. Ein Beispiel: Economic globalization has not led to moral globalization, and the latter is what Enlightenment intellectuals were primarily advocating when they looked to a future in which nations would be drawn nearer to each other through commerce.78

Die Ausweitung des Freihandels habe zudem, entgegen den Erwartungen der Aufklärer, nicht zu einer Beseitigung oder auch nur Reduktion von Armut geführt. Das liege aber nicht daran, dass das Prinzip als solches falsch sei, sondern an der Anwendung ineffektiver Verfahren. Im Bereich der Politik sei geschichtlich das Konzept der Nation zwar verwirklicht, das Prinzip des brüderlichen Miteinanders der Nationen und ihrer Staaten aber verraten worden: „The nationalistic fervor that exploded after the Enlightenment was often simply not an Enlightenment nationalism.“ Ebenso wenig werde „the Enlightenment ideal of an effective world federation“ umgesetzt, das die nationale Souveränität hätte begrenzen sollen.79 Der relativ größte Erfolg habe sich im Feld der Demokratie ergeben: As regards republicanism, the strong growth of democracy in today’s world surely counts as one of the few uncontestable bright spots in any audit of the fate of Enlightenment ideals. In the course of two centuries, humanity has moved from 0 to 120 electoral democracies, which means that at present, slightly over three‐fifths of all sovereign states are electoral democracies. Of all the ideals examined in this study, democracy has received the highest level of realization in the post‐Enlightenment world.80

75 76 77 78 79 80

Ebd., S. 9. Ebd., beide Zitate S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 209. Ebd., S. 211. Ebd., S. 211.

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Nicht jede der bestehenden Demokratien liege nahe am Modell der Aufklärung, das träfe am ehesten auf die liberalen Demokratien zu. Außerdem würde die Hälfte der Weltbevölkerung nicht in liberalen Demokratien leben. Im Bereich der Internationalen Beziehungen sei die Bilanz gemischt: Es gebe Fortschritte in Gestalt der Vereinten Nationen, die prinzipiell in der Tradition der Idee vom Bündnis der Staaten zur Friedenssicherung stünden, aber weit von den Zielen entfernt seien. Internationales Recht auf Basis der Menschenrechte mache Fortschritte, aber wenige, und es gebe eine gesteigerte Bereitschaft, Krieg zu führen. Die Welt von heute sei von den Idealen der Aufklärung weit weg. Bleibt das Feld der Religion: „On my reading, the only Enlightenment ideals that unambiguously fail the history test are in the area of religion.“81 Zum Schluss plädiert Louden dafür, das Projekt Aufklärung – eine von ihm nicht wörtlich verwendete Begrifflichkeit – zu starten: But given that Enlightenment intellectuals were wrong in some of their assumptions about how to achieve these ideals, are Enlightenment texts still the best source for these ideals? At the risk of appearing irreparably nostalgic, let me answer with a qualified yes. These texts do remain our best starting point for serious reflection on improving the human condition by peaceful and open means.82

Die von ihm offen gelegten Irrtümer der Aufklärung könne man nun vermeiden, und es gebe auch andere, neue Probleme, für die die Aufklärung keine Lösung biete. Eine von Louden als quasi nicht hintergehbar dargestellte behauptete Eigenschaft wird durch all das aber nicht geändert: But what existed for a brief period during the Enlightenment was an enviable level of international consensus on, and commitment to, making a moral world – a new force in history that has yet to be matched.83

Zum guten Ende wird, wie bei Ingeborg Maus im Falle des Immanuel Kant, die Aufklärung zu einem immer noch utopischen Projekt – und nicht zufällig stützt sich Louden oft vor allem auf Kant. Der derzeit originellste Ansatz, aus dem Erbe der Aufklärung Wert zu schöpfen, kommt von Steven Pinker, dessen „Enlightenment now“ 2018 erschien und im selben Jahr bereits in einer deutschen Übersetzung zur Verfügung stand. Pinker beruft sich auf Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt als Ideale der Aufklärung: „Wie ich hoffentlich aufzeigen kann, sind die Ideale der Aufklärung zeitlos, waren jedoch noch nie von so großer Bedeutung wie gerade heute.“84 Pinker stellt dem Vernunftprinzip der Aufklärung das Mitgefühlsprinzip der Aufklärung zur Seite, zwei Prinzipien, „die das Wohlergehen der Menschheit befördern können“.85 Er begründet sein Buch:

81 82 83 84 85

Ebd., S. 212. Ebd., S. 223. Ebd., S. 223. Pinker (2018): Aufklärung jetzt, S. 6. Ebd., S. 9.

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Orientierung Mehr denn je gilt es, die Ideale der Wissenschaft, der Vernunft, des Humanismus und des Fortschritts von ganzem Herzen zu verteidigen. Was sie uns bescheren, nehmen wir als gegeben hin: Neugeborene, die eine Lebensspanne von über achtzig Jahren vor sich haben, üppig gefüllte Lebensmittelmärkte, sauberes Wasser, das mit einer kleinen Handbewegung zur Verfügung steht, und Müll, der genauso schnell verschwindet, Tabletten, die schmerzhafte Entzündungen beseitigen, Söhne, die nicht in den Krieg ziehen müssen, Töchter, die ohne Angst über die Straße gehen können, Kritiker der Mächtigen, die dafür nicht ins Gefängnis wandern oder erschossen werden, das Wissen und die Kultur der Welt verstaut in einer Hemdtasche. Dies alles aber sind menschliche Errungenschaften, keine kosmischen Geburtsrechte. Viele derjenigen, die dieses Buch lesen, werden sich noch daran erinnern – und Menschen in weniger begünstigten Teilen der Welt erfahren es –, dass Krieg, Mangel, Krankheit, Ignoranz und tödliche Gefahren ein natürlicher Bestandteil des Lebens sind. Wir wissen, dass Staaten in diese primitiven Bedingungen zurückfallen können, und das bedeutet, dass wir die Errungenschaften der Aufklärung auf eigene Gefahr hin missachten. […] Das vorliegende Buch ist mein Versuch, die Ideale der Aufklärung in der Sprache und gemäß den Konzepten des 21. Jahrhunderts neu zu formulieren. […] Der größte Teil des Buches widmet sich der Verteidigung jener Ideale auf eine für das 21. Jahrhundert typische Art: mit Daten. Diese evidenzbasierte Herangehensweise an das Aufklärungsprojekt zeigt, dass es keine naive Hoffnung war. Die Aufklärung hat funktioniert – möglicherweise handelt es sich um die größte kaum erzählte Geschichte aller Zeiten.86

„Die Aufklärung hat funktioniert“ ist ein starker Satz, den sich kaum jemand von den anderen zitierten Autor*innen getraut hat, hinzuschreiben. Pinker räumt ein, dass „die Aufklärung“ ein heterogenes Phänomen gewesen war, sieht jedoch in den vier zitierten Idealen ihre Einheit. Das Buch erfüllt das Versprechen, mittels umfangreicher Daten und deren Interpretation zu zeigen, dass und wie die Aufklärung funktioniert hat. Zentrales Stück ist dabei „Fortschritt“, der in verschiedene praktische Aspekte zerlegt wird. Pinker beginnt mit „Leben“ (auch Überleben, Bekämpfung von Hunger, Demografie etc.): Alle Statistiken, die eine Zeitspanne vom 18. Jahrhundert bis heute umfassen, zeigen das Ansteigen der Lebenserwartung, den Rückgang der Kinderund Müttersterblichkeit, die Verbesserung der Gesundheit, der Ernährung, des Wohlstands, des Rückgangs extremer Armut. Regionale Unterschiede und Ungleichheiten werden dabei nicht unter den Teppich gekehrt. Weitere Themen im Teil „Fortschritt“ sind Demokratie, Glück, Wissen und anderes mehr. Der Autor stützt sich sehr viel mehr als andere Autor*innen auf die Praxiszugewandtheit der Aufklärung, auf die ich im Kapitel „Praktiken“ hingewiesen habe. Die unzähligen Anstöße in der Aufklärung zu Reformen sowie zu Experimenten, aus denen Reformen entstehen konnten, wird meistens in der gegenwärtigen Diskussion vernachlässigt. Es wurden Dynamiken in Gang gesetzt, die vielfach bis heute nicht, jedenfalls nicht auf Dauer, unterbrochen wurden. Diese Anstöße passen für alle Orte in der Welt, sie waren und sind nicht an Europa gebunden. Steven Pinkers Tenor ist folglich, dass es kaum sinnvollere Orientierung als die Aufklärung geben kann, weil sie weiterhin funktioniert und Früchte trägt. Demgegenüber minimiert sich die Relevanz aller Aufklärungskritiken.

86 Ebd., S. 9 und S. 11.

ACHSENZEIT – SCHLUSS JASPERS’ PROVINZIALISIERUNG EUROPAS Es war Karl Jaspers, der akademische Lehrer Hannah Arendts, der in seinem 1949 publizierten Buch „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ von der „Achsenzeit“ schrieb.1 Er war nicht der Erfinder der bezeichneten Sache, vielmehr geht diese selber auf das 18. Jahrhundert – die Aufklärung – zurück, wie wir aus jüngeren Arbeiten, z. B. von Jan Assmann2, wissen. Einer der Wegbereiter des AchsenzeitTheorems im 18. Jahrhundert war der im Kapitel „Praktiken“ (Abschnitt 3) zitierte Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron (1731–1805) gewesen, der sich mehrere Jahre in Indien zu wissenschaftlichen Studien aufhielt und 1771 eine mehrbändige französische Übersetzung des Zend-Avesta publizierte.3 Das werdende Achsenzeit-Theorem bezog sich freilich nicht auf die damalige eigene Gegenwart. Welches historische Phänomen wollte Jaspers mit der „Achsenzeit“ auf den Begriff bringen? Er dezentrierte den historischen Blick, das heißt, er provinzialisierte Europa in Bezug auf die ca. sechs Jahrhunderte der Achsenzeit. Ihm ging es um Geistesgeschichte, er wollte zeigen, dass bestimmte fundamentale Veränderungen in der Art und Weise, wie Menschen die Welt begriffen, deuteten und handhabten, um 800 bis 200 vor Christus in ganz verschiedenen Weltregionen (China, Indien, „Abendland“) mehr oder weniger gleichzeitig auftraten. „In diesem offenen Horizont eines globalisierten Kulturgedächtnisses“, schreibt Jan Assmann, „erscheint Europa dann nicht mehr als der eine Ursprung, sondern nur noch als lokale Ausprägung eines globalen geistigen Durchbruchs.“4 Mit Assmann, knappest zusammengefasst, entstand nach Jaspers „die Zeit, in der wir leben“. Jaspers drückte es etwas anders aus: „Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben.“5 Jaspers hatte einen Anstoß gegeben, der sich als sehr fruchtbar erwies. Heute denkt man vor allem an den israelischen Soziologen Shmuel N. Eisenstadt, der sich über Jahrzehnte mit der Achsenzeit befasste, Konferenzen organisierte und zahlreiche Publikationen auf den Weg brachte.6 Jaspers stellte die zeitliche Parallele zwischen geistesgeschichtlichen Entwicklungen in China, in Indien und der mittelmeerischen Antike – Jaspers bevorzugte „Abendland“ – heraus. Ob diese Entwicklungen unmittelbar miteinander zu 1 2 3 4 5 6

Jaspers (2017 [1949]): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Assmann (2018): Achsenzeit. Benutzt wurde eine E-Book-Ausgabe mit „Positions-“ statt Seitenzahlen. Ebd., erstes Kapitel, das sich mit Anquetil-Duperron befasst. Dort wird auch erklärt, wieso der Autor für Zarathustra-Studien in Indien und nicht in Persien war. Ebd., Position 147. Jaspers (2017 [1949]): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 17. Eisenstadt, Hg. (1987–1992): Kulturen der Achsenzeit.

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Achsenzeit – Schluss

tun hatten, konnte bzw. wollte er nicht klären, – alle historischen und historischsoziologischen Erklärungsversuche, etwa Alfred Webers, diskutiert er, um sie allesamt als zu schwach zurückzuweisen. Freilich war eine solche Klärung für Jaspers auch eher nebensächlich, solange nichts aufgeboten werden konnte, was entschieden der Annahme, die als Achsenzeit zusammengefassten Phänomene seien Tatsachen, widersprochen hätte. Übernimmt man den nicht epochengebundenen weiten Begriff der Aufklärung, der schon im 18. Jahrhundert auf die antike attische Philosophie angewendet wurde, so fallen die beiden Theoreme – Aufklärung, Achsenzeit – zusammen. Die Achsenzeit war in der Antike („Antike“ als Weltzeit) ein globales Aufklärungsphänomen, aus dem allerdings die Amerikas ausgenommen scheinen. Geschichtswissenschaftlich kann man sich mit der einfachen Feststellung von Parallelen nicht zufriedengeben. Parallel erscheinende Phänomene in verschiedenen Weltregionen heischen nach Erklärung. Hatten oder haben sie miteinander zu tun? Der Beginn der menschheitsgeschichtlichen Moderne im Sinne des Achsenzeit-Theorems spießt sich nun auf den ersten Blick mit der gängigen Theorie der Moderne. Diese Moderne beginnt in der frühen Neuzeit, so die gängige Ansicht. Vor allem im 18. Jahrhundert veränderten sich in der Lebenswelt so viele Parameter, dass sich zusätzlich die Unterscheidung zwischen Moderne und Vormoderne eingebürgert hat. Assmann stellt das Theorem von der antiken – „antik“ ist hier im Sinne von Weltzeit gemeint – Achsenzeit in den Zusammenhang der Modernisierungstheorien. Modernisierung trifft sich in diesem Fall mit der Theorie von der fortschreitenden Rationalität und Rationalisierung der Lebenswelten seit der Antike, die insbesondere Silvio Vetta in „Rationalität. Eine Weltgeschichte“ (2012) dargestellt hat.7 Geht man zum ursprünglichen Ansatz von Jaspers zurück, der Europa insoweit provinzialisierte, als seine Achsenzeit universalhistorisch und nicht europazentrisch gedacht war, wird mithilfe des Achsenzeit-Theorems entgegen der Tradition Europa auch im Rahmen der Modernisierungstheorie provinzialisiert. Interessanterweise ist der Ansatz des „provincializing Europe“ nicht aufgrund der Arbeit von Jaspers, die bereits 1953 auch auf Englisch bei Yale University Press erschienen war8, allgemein bekannt geworden, sondern erst durch die Rezeption der schon weiter oben zitierten Arbeit von Dipesh Chakrabarty (2000), der die gemeinte Sache eben wörtlich und ebenso griffig wie erfolgreich als „provincializing Europe“ bezeichnete. Jaspers deckte seine Version der Provinzialisierung Europas in der weiteren Argumentation wieder zu, da er die abendländische Geschichte nach der Achsenzeit als eine besondere hervorhob; der Blüte Europas um ca. 1500 stellte er ein „kulturell niedergehen[des]“9 China und Indien gegenüber. Er konstatierte aber 7 8

9

Vietta (2012): Rationalität. Assmann (2018): Achsenzeit, Position 2977. Vgl. Jaspers (1953): The Origin and Goal of History. Translated from the German by Michael Bullock. Bullock übersetzte u. a. Max Frisch ins Englische; s. den Datensatz der DNB: http://d-nb.info/gnd/124918425. Jaspers (2017 [1949]): Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, S. 61.

Jaspers’ Provinzialisierung Europas

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auch Verluste und meinte: „Es gibt in Asien, was uns fehlt und was uns doch wesentlich angeht! […] Asien ist unsere unerlässliche Ergänzung.“10 Jaspers stellte zwar die Frage, ob in den frühneuzeitlichen Jahrhunderten „eine zweite Achsenzeit zu erblicken“ sei, verneinte diese dann jedoch.11 Die Niedergangthesen sind mittlerweile überholt, nicht nur wegen ihrer europazentrierten Grundierung, sondern vor allem aufgrund der verfügbaren Forschung, aus der im Kapitel „Praktiken“ zitiert wurde. Versteht man die Aufklärungsepoche als eine besonders intensive Phase in jenem langen Prozess der Aufklärung, der in der weltzeitlichen Antike angestoßen wurde, gibt es allen Grund, diesen Prozess in allen Weltregionen, die nach Maßgabe des Theorems an der antiken Achsenzeit beteiligt waren, aufzuarbeiten. Das ergibt eine sehr globale Globalgeschichte der Aufklärung. Im Grunde liegt es in der Konsequenz des Achsenzeit-Theorems, auch die Aufklärung als Achsenzeit zu denken. Wenn die antike Achsenzeit eine Zeit fundamentaler geistesgeschichtlicher Neuerungen in der Welt gewesen ist, dann haben diese nicht nur lange in Europa nachgewirkt, sondern auch in den anderen Weltregionen. Dem ist Eisenstadt im dreibändigen zweiten Teil seiner „Kulturen der Achsenzeit“ mit vielen Kolleg*innen nachgegangen. Wie im Kapitel „Namensgebung“ berichtet, gab und gibt es viele Stimmen über „Aufklärung“ im Mittelalter, die sich auf den epochenübergreifenden philosophischen Aufklärungsbegriff stützen. Im Allgemeinen kommen die Beiträge bei Eisenstadt nicht über das Mittelalter hinaus. Der neuzeitliche Anschluss fehlt leider. Aber es gibt keinen Anlass anzunehmen, dass die Fortwirkungen der antiken Achsenzeit im Mittelalter endeten bzw. nur in Europa in die Neuzeit reichten. Warum nicht auch in allen östlichen und asiatischen Kulturen, die in dem Achsenzeit-Theorem eingefasst wurden? Jaspers bot selber eine Antwort an: Von dem, was damals geschah, was damals geschaffen und gedacht wurde, lebt die Menschheit bis heute. In jedem ihrer neuen Aufschwünge kehrt sie erinnernd zu jener Achsenzeit zurück, läßt sich von dorther neu entzünden. Seitdem gilt: Erinnerung und Wiedererwecken der Möglichkeiten der Achsenzeit – Renaissancen – bringen geistigen Aufschwung. Rückkehr zu diesem Anfang ist das immer wiederkehrende Ereignis in China und Indien und dem Abendland. […] Zwischen den drei Welten ist, sobald sie einander begegnen, ein gegenseitiges Verständnis bis in die Tiefe möglich. Sie erkennen, wenn sie sich treffen, gegenseitig, daß es sich beim andern auch um das eigene handelt.12

„Renaissancen“ gibt ein willkommenes Stichwort ab, betrachtet man, wie extensiv sich die Aufklärer*innen auf antike Autoren, darunter auch „die Griechen“, bezogen. Peter Gay hatte diesen Aspekt des Schöpfens aus den antiken Autoren zu einer zentralen These in seinem Werk „The Enlightenment“ (1967–1969; Besprechung in Kapitel „Intellektuelle“) gemacht. Ließe sich die Aufklärung als eine 10 Ebd., S. 73. 11 Ebd., S. 78, S. 79. 12 Ebd., S. 22.

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Achsenzeit – Schluss

(weitere) Renaissance verstehen, in der nicht „zufällig“ die Rezeption der Geistesgeschichte jener Räume, die zur antiken Achsenzeit zählen, eine so wichtige erkenntnisfördernde Rolle spielte? Die Aufklärer*innen befassten sich nicht nur mit antiken Autoren, sondern auch asiatischen und arabischen aus unterschiedlichen Epochen. Man muss die bisherigen Vor-Urteile in der Aufklärungsforschung einmal beiseiteschieben und neue Fragen stellen, wie sie das Achsenzeit-Theorem nahelegt. Hält man sich an die üblicherweise als Aufklärung bezeichnete Epoche, im Wesentlichen das 18. Jahrhundert, bleibt zu klären, ob allfällige Parallelen in mehreren Weltregionen eher Zufällen zu verdanken sind, sich mangels Quellen einer ausreichenden Erklärung entziehen oder ob sich in ihnen eine verflochtene Geschichte namens Aufklärung zeigt. So wie wir mittlerweile wissen, dass es überall auf der Welt ein lebendiges 18. Jahrhundert gegeben hat, so wissen wir, dass den europäischen Aufklärer*innen eine enorme Fülle an Informationen über andere Weltregionen und Kulturen zur Verfügung standen, die ihr Denken und Argumentieren mindestens bereicherten, wenn nicht fundamental orientierten. In dieser Hinsicht war die europäische Aufklärung Teil einer Globalgeschichte. Zu klären ist, inwieweit das in der Perspektive anderer Weltregionen ebenso der Fall war. Im Kapitel „Praktiken“ konnten viele Hinweise gesammelt werden, dass die historische Aufklärung mehr als ein nur europäisch-nordamerikanisches Phänomen gewesen war und mehr als eine Folge nur vorwiegend europäischer geistigkultureller Expansion. Freilich bleibt hier viel zu tun, was leicht funktionieren sollte, wenn die Aufklärungsforschung ihre Vor-Urteile aufgibt. Die Frage, ob die Aufklärung nun ein europäisches oder doch genuin globales Phänomen auch schon im 18. Jahrhundert, und nicht erst heute, gewesen war, stellt sich daher zu Recht. Und sie wurde nicht nur von Voltaire bereits in der Aufklärung selber als Problemstellung erkannt. Dahinter steht die Kontroverse darum, ob die Aufklärung nach wie vor Instrument eines europäischen (Kultur-) Imperialismus ist, oder eben nicht. Freilich darf man sich von der geschichtswissenschaftlichen Untersuchung der Aufklärung als schon im 18. Jahrhundert globales Phänomen keine leichtgängige Entscheidung dieser Kontroverse erwarten, denn zwischen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und unserem Heute liegen nicht zuletzt die Verwerfungen des europäischen Imperialismus, der Weltkriege und der Ermordung von Millionen von Menschen – Verwerfungen, die mit der durch die Aufklärung grundgelegten Moderne und Modernisierung in einer Reihe kritischer Studien in Zusammenhang gebracht werden. Das entscheidende Problem mag also im 19. und nicht im 18. Jahrhundert liegen, so dass die Debatte um die Aufklärung des 18. Jahrhunderts als globales Phänomen weniger einbringt als gedacht. Dem steht gegenüber, dass Reformbestrebungen im Lauf des 19. Jahrhunderts in ganz verschiedenen Weltregionen sich selber mit dem Begriff der Aufklärung labelten. Und die gegenwärtige Debatte um die Aktualität der Aufklärung oder um die Notwendigkeit einer zweiten Aufklärung, die inhaltlich an die erste gebunden wird, ist ohnehin global dimensioniert und verwirft zum Teil die Frage nach den historisch-ursprünglichen Copyrights der Aufklärung als irrelevant.

Aufklärung und globale demokratische Identität

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Letzteres bezieht sich lediglich auf öffentliche Debatten. Wissenschaftlich gelingt entweder der Globalitätsnachweis – oder er gelingt nicht. Die Einbindung des Achsenzeittheorems verändert dabei die Generalperspektive, weil die Globalität der Aufklärung nicht allein zunächst im 18. Jahrhundert und der Zeit um 1800 zu suchen ist. Sie würde, wenn sie nachweisbar ist, bereits in der antiken Achsenzeit entstanden sein und sich später in Gestalt von Renaissancen manifestiert haben. Beschränkt man das Problem auf „Aufklärung“ im Sinne des philosophischen Begriffs von Aufklärung, kann die Validität des auf die gesamte Geschichte seit der Antike ausgedehnten Achsenzeittheorems als begründet gelten. „Aufklärung“ stellte und stellt den Kern dieser langen Achsenzeit dar. AUFKLÄRUNG UND GLOBALE DEMOKRATISCHE IDENTITÄT Die Entfaltung des Theorems im Feld der Geschichte ist aufwändiger, soweit es um die Neuzeit geht. Die Autor*innengruppe um Eisenstadt, die hier stellvertretend für viele andere zitiert sei, hat die Entfaltung für Antike und Mittelalter im Anschluss an Jaspers Anstoß intensiv bewerkstelligt. Mit Blick auf das 18. Jahrhundert kann festgehalten werden, dass die Aufklärung (als Kernelement der Achsenzeit) einen ausgedehnten Raum, im Osten beginnend, von St. Petersburg, Moskau und Kiew durch das ganze Europa weiter bis in die jungen USA, nach Mittel- und Südamerika betraf. Wir treffen auf sie im Indien der Zeit um 1800, im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Japan, China, Vietnam, im osmanisch-türkischen und arabisch-islamischen Raum. Die exemplarischen Untersuchungen zur heutigen Globalität der Aufklärung mittels Wikipedia- Statistiken und Google Trends sowie anhand von Zeitungsartikeln aus diversen Weltregionen unterstützen die Überlegung, mit dem Achsenzeit-Theorem zu arbeiten. Das Ende der Blöcke, vom Fall des Eisernen Vorhangs 1989 bis zur Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991, beendete auch den Wettkampf zwischen den beiden großen Weltanschauungen, der kommunistischen und der liberal-demokratischen. Letztere schien gesiegt zu haben, und zwar alternativlos. Zwar bezeichnen sich nach wie vor einige Staaten wie China, Nordkorea, Kuba und ein paar andere als kommunistisch bzw. sozialistisch, aber die Begriffe sind ausgehöhlt und gelten als Synonyme von diktatorisch. Francis Fukuyama traf mit „The End of History and the Last Man“ 199213 ein weit verbreitetes Gefühl, dass die ideologische Konfrontation zum Wohl der Menschen ein Ende gefunden habe. Er ging davon aus, dass sich die liberale Demokratie im Konflikt der politischen Blöcke und damit die dem Menschen zuträglichere Weltanschauung durchgesetzt habe, deren Wurzeln auch in der Aufklärung zu finden seien. Fukuyama selber argumentierte aber weniger mit der Aufklärung als mit Hegel. Über diese Thesen konnte man schon damals streiten, und tut es heute immer noch. Der große ideologische Konflikt zwischen zwei Blöcken ist verstummt, aber es existiert immer 13 Fukuyama (1992): The End of History and the Last Man.

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noch ein weltanschaulicher Konflikt, der nun aber aus der „richtigen“ Interpretation der Aufklärung resultiert. Die Phase vermeintlich ohne weltanschauliche Alternative währte kaum ein Jahrzehnt, dann kam 9/11 – die Terrorattentate vom 11. September 2001. Und das änderte wieder alles. Die Terrorstrategie, die Verbindung mit Al Kaida und dem Taliban-Regime in Afghanistan, die dahinter sichtbar werdenden Verflechtungen in der islamisch-arabischen Welt legten den umfassenden Charakter der offenbar gewordenen Herausforderungen frei. Zahlreiche weitere Terrorattentate mit zum Teil Hunderten von Toten haben sich in die Terrorchronik seit 2001 eingeschrieben. Das Wertgefüge der liberalen demokratischen Welt wurde genauso attackiert wie das World Trade Center in New York. Und es begann zu zerbröckeln. Freiheiten wurden eingeschränkt, Kontrollen erhöht, der Schutz persönlicher Daten immer kleiner geschrieben, es wurde der Status des „Gefährders“ eingeführt, der ohne Anklage und Gerichtsverfahren in „Sicherheitsverwahrung“ (s. Guantánamo, USA) genommen werden kann und der im „Rechtsstaat“ der Folter ausgesetzt wird (USA). Davon profitierte der Rechtspopulismus, der die Freiheit und das Recht im Rechtsstaat national, ethnisch und religiös exklusiv definieren möchte. Sowohl in den USA wie in Europa aber gab und gibt es zahlreiche rechtsextreme Terrorattentate mit Toten in ein-, zwei- und dreistelliger Höhe. Die Rhetorik der Rechtspopulist*innen bettet die Attentäter*innen ein und ermutigt sie – beides wohl ungewollt –, weil diese erkennen, dass die Terrorschaukel funktioniert. Die Resilienz demokratischer Gesellschaften wird herausgefordert. Der Wunsch, „Gefährder“ zu definieren und in „Sicherungsverwahrung“ zu nehmen, hat sich längst vom Kontext 2001, vom Kontext Guantánamo, gelöst und eine offenbar nicht stoppbare Dynamik entfaltet. Die Zugriffsrechte des Staates auf der Grundlage vage formulierter Straftatbestände gegenüber dem Staat und der Sicherheit seiner Bürger*innen wurden erweitert. Eine Antwort auf, verkürzt ausgedrückt, 9/11 und die seitdem in Bewegung befindliche Terrorschaukel sind folglich die in vielen Staaten, gerade auch in den EU-Staaten, vorgenommenen Gesetzesverschärfungen, die die Freiheit der Bürger*innen einschränken. Das lässt sich insgesamt als Abkehr von den in der Aufklärung grundgelegten Werten eines Rechtsstaats interpretieren. Diese Abkehr hat zumindest teilweise ihre Wurzeln in der Gegen-Aufklärung, die sich bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts manifestierte, die bis heute relevant geblieben ist und die sich mit der Stärkung des Individuums und seiner Rechte niemals abgefunden hat. Diese Situation führt zu einer Renaissance der „Aufklärung“, die als Geburtsstunde der Trias von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat, als sicheres, auch ethisches Fundament und als Kern der demokratischen Identität erscheint. Doch je mehr die Aufklärung als Kern der Identität einer mittlerweile globalen demokratischen Zivilisation diskutiert wird, umso mehr ist sie der Kritik als Wurzel vieler Übel – des Imperialismus, des Rassismus, ja, systematischer Vernichtung von Menschen – und als Fortsetzung eines europäischen bzw. westlichen Kulturimperialismus ausgesetzt. Die durch die Ermordung des Afroamerikaners

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George Floyd am 25. Mai 2020 durch einen Polizisten in Minneapolis (USA) weltweit ausgelöste Black-Lives-Matter-Bewegung hat auch wieder die Debatte um rassistische Anschauungen bei führenden Aufklärern wie Immanuel Kant neu angetrieben. Plötzlich war Kant ein Kandidat für den Denkmalsturz. Doch: Wer würde da vom Denkmal gestürzt werden? Der historische Kant oder das Konstrukt Kant? Hier geraten die Sehnsucht nach historischen Identifizierungsfiguren, die im Lauf der Jahrzehnte konstruiert werden, und die Auflehnung gegen eben diese konstruierten Figuren in Konflikt. In dieser Hinsicht ist die globale Geschichte der Aufklärung bisher an kein Ende gekommen. Dafür spricht nicht nur die Allgegenwart in unzähligen Zusammenhängen, sondern auch, dass sie seit dem Zeitalter der Französischen Revolution für negative Entwicklungen, insbesondere überaus gewaltsame, verantwortlich gemacht wurde und wird: Die Revolution geriet noch in den 1790er Jahren ins Schussfeld der Konservativen und Reaktionäre, dies hielt lange im 19. Jahrhundert an. Scharfe Kritik an der „bourgeoisen Aufklärung“ kam (und kommt) aber auch von „links“ seit der Zeit um 1900 – Stéphanie Roza geht mit vielen Autoren im bereits zitierten Buch „La gauche contre les Lumières?“ (2020) hart ins Gericht. Noch während des Zweiten Weltkriegs wurde ein Zusammenhang zwischen der Vernunftkonzeption der Aufklärung und dem Totalitarismus hergestellt. In der Gegenwart wird die vermeintliche Unterstützung der Aufklärung für Rassismus, Antisemitismus, Sklaverei und einen weißen suprematistischen Kosmopolitismus, der dem Kolonialismus des 19. und 20. Jahrhunderts zugrunde lag, scharf kritisiert. Darüber hinaus ist der Fortschrittsgedanke in die Kritik geraten, da er eng mit der rücksichtslosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und einem grenzenlosen Wachstum, das die Umwelt zerstört und den Klimawandel beschleunigt, in Zusammenhang gebracht wird. Die Philosophie der Postmoderne verstand sich als Antithese zur Moderne und damit zur Aufklärung. Kam die Kritik um 1800 und danach aus dem konservativen und reaktionären politischen Spektrum, kommt sie heute eher von der Linken. Um 1945 nahm die Frankfurter Schule in Gestalt von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bei der Kritik der Aufklärung eine zentrale Funktion ein, allerdings war der zugrundgelegte Aufklärungsbegriff philosophisch-epochenübergreifend und lehnte sich an Max Webers Begrifflichkeit von der Entzauberung der Welt an. Selbst wenn man die Frankfurter Schule politisch als „links“ einordnet, war die Aufklärungskritik nicht in dem Sinne von links kommend, wie es aktuell der Fall ist. Horkheimer und Adorno waren zudem nicht die einzigen, die sich fragten, ob es zwischen Wirkung der Aufklärung und Totalitarismus Zusammenhänge gab. Seit dem späten 19. Jahrhundert besteht der Mainstream bei der Auseinandersetzung mit der Aufklärung jedoch in einem positiv-konstruktiven Verhältnis, meistens stellt sie die wichtigste Identitätskomponente im Verständnis vom demokratischen Rechtsstaat auf der Grundlage der Menschenrechte dar. Beinahe wie im Stillen wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts hinein „die Aufklärung“ als Begriff und Sache konstruiert. Spätestens seit der Dreyfus-Affäre in Frankreich stützten und stützen sich die

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Gegner*innen von Unterdrückung und Unrecht auf die Aufklärung, ihr Beitrag zur Demokratieentwicklung wurde mehr und mehr gewürdigt. Durch „9/11“ erhielt der positiv-konstruktive Bezug auf „die Aufklärung“ neue Nahrung, sie dient der Selbstvergewisserung und der Identitätsbildung, während wenige Jahre später im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung die im Kern nicht neue Kritik an der Aufklärung wieder Auftrieb erhielt. In schnellem Rhythmus scheint das Pendel von Affirmation versus Kritik hin und her zu schwingen. Geht man bei der Betrachtung der Kriegs- und Nachkriegsphasen der letzten 200 Jahre der Frage nach, wie die jeweiligen Zeitgenoss*innen reagierten, um Kriegs- und heute Terrorzeiten zu überwinden, stößt man geradezu mit Sicherheit auf Auseinandersetzungen mit „der Aufklärung“. Diese setzt nicht abrupt nach dem Ende eines Krieges oder dem Ende einer Terrorphase ein, diese Auseinandersetzung ist mindestens latent immer vorhanden und wird nicht zuletzt durch die niemals sich unterbrechende, öffentlich zugängliche wissenschaftliche Analyse in einer kontinuierlichen Spur gehalten, aber sie verändert ihre Funktion in den Nachkriegs- und Nachterrorphasen bzw. Zwischenkriegs- und Zwischenterrorphasen. Die großen ideologischen Konfrontationen der Blöcke aus dem Kalten Krieg haben nicht überlebt; geblieben ist der Streit um die Deutung der Aufklärung. Doch warum ist das so? Was steckt in diesem Streit, das so wichtig ist, dass er nicht versiegt? Dass es so ist, hat damit zu tun, dass in der Aufklärung, jedenfalls so, wie sie gedeutet wird, immer noch zukunftsweisende Antworten gefunden werden – und dass die Welt, wie sie heute in ihren Grundzügen sich darstellt, die praktische Folge der Gesellschafts-, Wirtschafts-, Politik- und Kulturentwürfe der Aufklärung ist. Das ist längst nicht mehr nur in Europa so, vielmehr spielt die Aufklärung des 18. Jahrhunderts global diese Rolle der Antwortgeberin. Und wenn Denkmäler gestürzt werden, dann deshalb, weil den zu Stürzenden eine bis heute nachwirkende fundamentale Rolle unterstellt wird: „Unsere Probleme habt ihr geschaffen, weil ihr antisemitisch, rassistisch, islamophob, hegemonialmännlich gewesen seid“ – so könnte man die Aussagen paraphrasieren, die zu Denkmalstürzen führen. Die Aufklärung lehrte und praktizierte die Entzauberung der Welt, sie lehrte, die Welt mit wissenschaftlichen Augen zu betrachten, sie investierte viel Energie in die Klärung der Grundlagen der menschlichen Erkenntnis- und Verstehensfähigkeit. Den Konflikt, den sie mit dem Aberglauben – eine Chiffre für alles Mögliche vom eigentlichen Aberglauben bis zu Verschwörungsfantasien – ausfocht, erleben wir heute speziell während der Covid-19 Pandemie sinngemäß wieder. Trotz der Unterscheidung von Phasen in der Aufklärung längs „nationaler“ Erkennungsmuster (englische bzw. englisch-schottisch-irische, französische, deutsche Aufklärung und so fort), stellte die Beschäftigung mit „der Aufklärung“ eine Möglichkeit dar, transregional und transnational zu denken und zu argumentieren. Je mehr die Geschichtsschreibung und generell die Humanwissenschaften nationale Verengungen verließen und sich europäisierten bzw. globalisierten, umso geeigneter musste und muss ein Phänomen wie die Aufklärung als Grundlage

„Die Aufklärung“ als Lebenswissenschaft

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einer Identitäts-Erzählung, also eines grand récit, mit der sich eine globale Gesellschaft Orientierung gibt, erscheinen. Dies ist längst aus dem Feld der Wissenschaft herausgetreten, es ist im globalen Maßstab populär geworden. Hier könnte die Rückbesinnung auf den philosophischen Begriff von „Aufklärung“ hilfreich sein, weil es dabei um eine Methode des kritisch-analysierenden Denkens und Handelns geht. Was anderes könnte helfen, wenn es heute im 21. Jahrhundert zusätzlich zu den bekannten Krisen in Form von Krieg und Terror um die Krise des Klimawandels geht, dessen tödliche Folgen sich von Jahr zu Jahr brutaler manifestieren? „DIE AUFKLÄRUNG“ ALS LEBENSWISSENSCHAFT Zum guten Schluss komme ich auf meine Charakterisierung der Aufklärung als umfassende Lebenswissenschaft zurück, denn darin liegt der Schlüssel zur Erklärung, warum „die Aufklärung“ seit zweihundert Jahren immer wieder von neuem als weltanschaulicher Zufluchtsort geeignet erscheint. Ohne diesen Begriff zu verwenden, haben Autoren wie Postman, Louden oder Pinker den lebenswissenschaftlichen Charakter der Aufklärung erkannt. Im Licht des Achsenzeit-Theorems stellt diese Aufklärung nur einen zeitlichen Ausschnitt aus dem epochenübergreifenden Phänomen „Aufklärung“ dar, aber sie stellt das dar, woran die meisten Menschen denken, wenn sie „Aufklärung“ hören oder lesen. Sie ist das Tor, durch das wir gehen. Die lange Zeit beliebte enge Anbindung der Aufklärung an die Bürgerliche Gesellschaft hat den Blick auf das Lebenswissenschaftliche etwas verstellt. Dasselbe gilt in Bezug auf die Überbetonung der Vernunft im Zusammenhang der Aufklärung und in Bezug auf die Einstufung als „Projekt“. Jede Überbetonung einzelner Merkmale, zu denen auch der Universalismus zählt, führt letztlich zu einer partiellen Fehleinschätzung der Aufklärung. Die Nichtbeachtung der globalen Wissensströme seit dem 18. Jahrhundert führt ebenfalls zu Fehleinschätzungen. Heutzutage versteht man unter „Lebenswissenschaft(en)“ einen Fächerkanon, der breit ist, aber neben den Humanwissenschaften steht: Biologie, Biochemie, Biomedizin, Biophysik, Bioinformatik, Biodiversitätsforschung, Humanbiologie, Molekularbiologie, Medizin, Pharmazie, Chemie, Agrartechnologie, Ernährungswissenschaften, Lebensmittelforschung (u. a.).14 Um viele Themen, die in diesen Wissenschaften erforscht und verhandelt werden, bemühte sich bereits die Aufklärung, verband dies aber mit jenen Themen, die wissenschaftlich betrachtet, in die Sozial- und Humanwissenschaften bzw. Geistes- und Kulturwissenschaften, Rechts- und Wirtschaftswissenschaft eingeordnet werden. Viele Autor*innen wagten sich in sehr verschiedene Wissens- und Erkenntnisbereiche hinein. Im Detail mag ihre Expertise unter der Breite gelitten haben, es mag zu Irrtümern und Fehleinschätzungen gekommen sein, aber der Kommunikationsraum, den die 14 https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Biowissenschaften&oldid=208213069.

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Debatten der Aufklärer*innen schufen, war grenzenlos, vor allem war er ein Kommunikationsraum globalen Ausmaßes. Zugleich war er essentiell für die „Öffentlichkeit“, die zu einem festen Organ des Gemeinwesens wurde und dies blieb – und im Übrigen den Debatten folgen konnte, ohne sich durch das Erfordernis eines allzu detailreichen Spezialwissens ausgeschlossen zu fühlen. In all dem wurde ein Sinn gesehen, die Aufklärung als Lebenswissenschaft hatte einen erkennbaren Sinn – den Menschen zu befreien, ihm Eigenständigkeit zu ermöglichen, ohne die es keine Freiheit, weder für die Einzelnen noch für die gesellschaftlichen Kollektive, geben würde. Historisch gab und gibt es seitdem kein breiter und humanistischer konzipiertes Orientierungsangebot. Dazu kommt das Menschliche, Allzumenschliche in der Biografie der Aufklärer*innen, auf das ich mehrfach hinwies. Immer wieder waren Mut, Widerständigkeit, Eigensinn und Gewitztheit gefragt. Es kam zu faulen Kompromissen, um das eigene Leben etwas bequemer zu machen, es gab Situationen der Schwäche und des Versagens, des Scheiterns. Mozart, Beethoven, Beaumarchais, Goldoni, Tiepolo, Fragonard, Schiller, Voltaire, Beccaria oder Kant, um wenige zu nennen, können uns musikalischen, künstlerischen, literarischen oder intellektuellen Genuss bereiten. Diesem „Genuss“ eignet keine elitäre Begrenzung, jede*r kann ihn erleben. Die Unbefangenheit, mit der in der Aufklärung spekuliert wurde, bereitet Freude, weil man selber geradezu automatisch zu spekulieren beginnt und sich psychisch entlastet. Diese Eigenschaften, die nichts mit aufklärerisch-vernünftiger Argumentation zu tun haben, werden zu Unrecht übersehen, wenn es um die Frage der nachhaltigen Wirkung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts geht. Diese machen ihre Sympathiewerte aus, die bisher jede noch so fundamentale Kritik überstanden haben. Gesellschaftliche Orientierungen laufen nur teilweise als rationale Prozesse ab, es handelt sich um kollektive, kommunikative, kontroversielle, emotionale und psychische Prozesse, bei denen Sympathien und Antipathien in Bezug auf herausgehobene Akteur*innen wichtig sind. Viele seit Mendelssohn und Kant auf die Frage, was Aufklärung sei, gefundene Antworten bemühen sich, das Besondere an der Aufklärung, was sie von anderen historisch-epochalen Großinhalten unterscheidet, präzise auszudrücken. Meistens dreht es sich um ‚vernünftige‘ Definitionen. Ich sehe das Besondere in dem umfassend-lebenswissenschaftlichen Zugriff, der sich durch den globalen Kommunikationsraum manifestiert und der über die Zeiten hinweg Wohlgefühle auslöst, weil er in wohlgestaltete Formen (Kulturmuster) gekleidet wurde (Dichtung, Roman, Essay, Spekulation, Musik, Kunst, Schauspiel, Oper, usw., usw.). Argumentationen wurden spannend wie Abenteuerromane angelegt. Es gibt keine langweiligen philosophischen Abhandlungen. Die meisten Texte werden von unterschiedlichsten Emotionen getragen: Hoffnung, Zuversicht, Witz, Sarkasmus, Ironie, erotische und nicht erotische Lust, Angst, Liebe, Zorn, Amüsiertheit, Empörung, Enttäuschung, Triumphgefühl – es ist alles da, nicht vereinzelt, hier und da, sondern kontinuierlich. Das heißt, auch die abstrakteren philosophischen Gehalte, die Rechts-, Staats- und Gesellschafts-

„Die Aufklärung“ als Lebenswissenschaft

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theorien sind in eine von Emotionen getragene Schreibumgebung eingebettet, deren logische Form das Erzählen ist. Somit bleibt alles nah am Menschen. Keines der weltanschaulichen Orientierungsangebote des 19. und 20. Jahrhunderts schaffte dies und war wohl auch nicht dafür geeignet.

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS Zeitungsartikel, Interviews in Zeitungen sowie Websites sind den Fußnoten an Ort und Stelle zu entnehmen. PRIMÄRQUELLEN Ackermann, Ulrike (2008): Eros der Freiheit. Plädoyer für eine radikale Aufklärung. Stuttgart: Klett-Cotta. Adorno, Theodor W. (1994): Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Hg. von Rolf Tiedemann. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Nachgelassene Schriften, Abteilung I: Fragment gebliebene Schriften, Bd. 1) [1. Aufl. 1993]. Allier, Raoul (1898): Voltaire et Calas. Une erreur judiciaire au XVIIIe siècle. Paris: Stock. Al-Ṭahṭāwī, Rifāʿaẗ Badawī Rāfiʿ (1988): L’Or de Paris: relation de voyage, 1826–1831. Trad. de l’arabe, présenté et annoté par Anouar Louca. Paris: Sindbad. Arendt, Hannah (1951): The Origins of Totalitarianism. New York: Harcourt, Brace and Company. Arendt, Hannah (1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Von der Verfasserin übertragene und neubearbeitete Ausgabe. Geleitwort: Karl Jaspers. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt. Arendt, Hannah (2012): Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. Dritter Teil zu „Vom Leben des Geistes“. Hg. und mit einem Essay von Ronald Beiner. Aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz. 2. Aufl. München, Zürich: Piper [engl. Orig. 1982; dt. Erstausg. 1985]. Arendt, Hannah; Voegelin, Eric (2015): Disput über den Totalitarismus. Texte und Briefe. Hg. vom Hannah-Arendt-Institut in Zusammenarbeit mit dem Voegelin-Zentrum für Politik, Kultur und Religion der LMU München. Mit einer Einleitung von Ursula Ludz und Kommentaren von Ingeborg Nordmann und Michael Henkel. Göttingen: V&R Unipress (Berichte und Studien, Bd. 70). Assemblée nationale (1789): Déclaration des droits de l’homme et du citoyen: décrétés par l’Assemblée nationale dans les séances des 20, 21, 23, 24, et 26 aout [sic!] 1789, accepté par le roi. Paris. Bacon, Francis (1620): Novum organum scientiarium. London: Billius. Barroso, Manuel (2006): The Scottish Enlightenment and the Challenges for Europe in the 21 st Century; climate change and energy. Enlightenment Lecture, Edinburgh University, 28. November 2006. https://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-06-756_en.htm?locale=en. Basch, Victor (1920): La Société des Nations. In: Les Cahiers des Droits de l’Homme, Nr. 5, 5. März. Basch, Victor (1935): La Paix perpétuelle, règne de la raison et de la justice. In: Messages aux éducateurs, S. 245–246. Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de (1784): La folle journée ou Le mariage de Figaro. Comédie en cinq actes. Paris: Veuve Duchesne. Beccaria, Cesare (1764): Delle delitti e delle pene. Monaco [i. e. Florenz]. Becker, Carl Lotus (1922): The Declaration of Independence. A study in the history of political ideas. Reprinted with an introduction by the author. New York: Knopf.

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Literatur

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AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS REDAKTIONELLE HINWEISE ................................................................... 7 ZUM BUCH ................................................................................................... 9 EINLEITUNG .............................................................................................. 15 Aufklärung der Aufklärung ...................................................................... Gesellschaftliche Orientierung ................................................................. Das Buch und seine Kapitel ..................................................................... Aufklärungsforschung im Wandel ........................................................... Erzählkonstrukte ......................................................................................

15 17 20 24 31

NAMENSGEBUNG ...................................................................................... 39 1784: „Was ist Aufklärung?“ ................................................................... Epochenübergreifender Begriff „Aufklärung“ ......................................... Wege zu „die Aufklärung“ ....................................................................... Begriffsbildung „Philosophie der Aufklärung“ .......................................

39 43 47 55

PRAKTIKEN ................................................................................................ 61 Einführung ............................................................................................... 61 Grundzüge der Aufklärung ...................................................................... 62 Globalgeschichte der Aufklärung ............................................................ 70 Beethovens Neunte ................................................................................... 87 Denkmäler ................................................................................................ 89 Diverse Wirkungsbereiche ....................................................................... 95 Globalgeschichtliche Aspekte ................................................................ 100 Dreyfus-Affäre ....................................................................................... 108 Identitätsvergewisserung im Zweiten Weltkrieg ................................... 114 Europäische Integration und Aufklärung ............................................... 117 Entkolonialisierung und Aufklärung ...................................................... 127 UNESCO 1948 ....................................................................................... 131 INTELLEKTUELLE .................................................................................. 139 Einführung ............................................................................................. Deutsch-französische Zurichtung von „Aufklärung“ ............................. Hegel ...................................................................................................... Germaine de Staël .................................................................................. Guizot – Villemain – Cousin ................................................................. Alexis de Tocqueville ............................................................................

139 142 145 149 154 164

372

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Hermann Hettner .................................................................................... Hippolyte Taine – Félix Rocquain ......................................................... Windelband – Troeltsch – Dilthey – Vorländer ..................................... Harald Høffding ..................................................................................... John Grier Hibben .................................................................................. Zwischenkriegszeit ................................................................................. Karl Joël ................................................................................................. Cay von Brockdorff ................................................................................ Bernhard Groethuysen ........................................................................... Max Horkheimer (1930) ........................................................................ Ernst Cassirer ......................................................................................... Carl Lotus Becker .................................................................................. Paul Hazard ............................................................................................ Paradigmenwechsel nach dem Zweiten Weltkrieg ................................ Reinhart Koselleck ................................................................................. Robert Roswell Palmer .......................................................................... Alfred Cobban ........................................................................................ Jürgen Habermas .................................................................................... Peter Jack Gay ........................................................................................ Michel Foucault ..................................................................................... Jonathan Irvine Israel .............................................................................

167 182 186 198 204 206 211 217 218 221 223 227 230 240 244 247 249 251 253 256 260

KRITIK ....................................................................................................... 263 Einführung .............................................................................................. Dialektik der Aufklärung ....................................................................... Hannah Arendt ....................................................................................... Jacob Leib Talmon ................................................................................. Entkolonialisierung des Denkens ........................................................... Moderne und Aufklärung .......................................................................

263 265 269 273 275 281

ORIENTIERUNG ....................................................................................... 285 Einführung ............................................................................................. Globales Publikumsinteresse an 33 Aufklärer*innen ............................ Zeitungen: Indien – Afrika – Türkei ...................................................... Zeitungen: Europa – USA ...................................................................... Deutschland ............................................................................................ Zukunftsorientierung durch Aufklärung ................................................

285 291 307 309 314 323

ACHSENZEIT – SCHLUSS ...................................................................... 335 Jaspers’ Provinzialisierung Europas ...................................................... 335 Aufklärung und globale demokratische Identität ................................... 339 „Die Aufklärung“ als Lebenswissenschaft ............................................. 343

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS ...................................... 347 Primärquellen ......................................................................................... 347 Literatur .................................................................................................. 355 REGISTER ................................................................................................. 375

373

REGISTER Ackermann, Ulrike 320 Adams, Abigail 300 Adorno, Theodor W. 68, 265–268, 304, 341 Aḥmed III. (Sultan) 81 Aîne, Charlotte Suzanne de 63 al-ʿAẓm, Ṣādiq Jalāl 78 Allier, Raoul 109 al-Sayyid, Aḥmad Luṭfī 104 al-Tahtāwī, Rifāʿa Rāfiʿ 103 Amo, Anton Wilhelm 85, 89, 93, 292, 296, 298 Anderson, James 113 Anquetil-Duperron, Abraham Hyacinthe 75, 335 Arendt, Hannah 244, 269–273, 335 Aristoteles 104, 189 Atatürk (Mustafa Kemal Pascha) 127 Auger, Pierre 132 Aulard, Alphonse 142 Averroes 47, 104, 287, 311 Avicenna 104 Babeuf, François Noël 274 Bach, Johann Sebastian 176 Bacon, Francis 65, 146, 221, 266 Baron, Hans 192 Barr, William P. 314 Barroso, Manuel 126 Basch, Victor 110, 113, 118 Basedow, Johann Bernhard 66 Baumgarten, Alexander Gottlieb 202, 296, 297, 303 Bayle, Pierre 175, 233, 245, 253 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 68, 174, 344 Beccaria, Cesare 93, 135, 237, 256, 258, 297, 344 Becker, Carl Lotus 227–230, 240, 261 Beethoven, Ludwig van 67, 87, 122, 287, 344 Béjart, Maurice 287 Bekker, Balthasar 234 Bentham, Jeremy 104, 135 Berent, Wacław 208 Berkeley, George 204, 241, 297 Berlin, Isaiah 241 Bestermann, Theodor 25

Blum, Léon 111 Blumenbach, Johann Friedrich 278 Böhme, Jakob 146 Bolingbroke, Henry St. John, Viscount 191 Bonald, Joseph 96 Bossuet, Jacques Bénigne 234 Boucke, Ewald August 182 Boulainvilliers, Comte Henri de 73, 270 Boutmy, Émile 111 Brinckmann, Albert Erich 231 Brockdorff, Cay von 217–218, 240 Bronner, Stephen Eric 329 Brugmans, Henri 120 Buffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de 174, 184, 278 Burckhardt, Jacob 164 Burke, Edmund 63, 96, 253, 254, 270, 271 Burlamaqui, Jean-Jacques 103 Calas, Jean 109 Campanella, Tommaso 221 Carr, Edward H. 132, 134 Cassin, René 131 Cassirer, Ernst 223–226, 240, 261 Castel de Saint-Pierre, Charles Irénée 118, 238 Çelik, Mahi 308 Charlie Hebdo 287, 312, 313 Chevalier de la Barre siehe Lefèbvre Cobban, Alfred 247, 249–251 Condillac, Etienne Bonnot de 43, 174, 205, 241 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de 92, 274, 275, 297, 303, 313 Cook, James 92 Cousin, Victor 159–164 Croce, Benedetto 136 Croner, Harry 115 Cuvier, Georges 278 D’Holbach, Paul-Henri Thiry 174, 205, 208, 254, 277 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 89, 174, 196, 205 Darnton, Robert 313 Darwin, Charles 102 De Gaulle, Charles 123

376 Defoe, Daniel 303 Derrida, Jacques 265 Descartes, René 65, 84, 175, 193, 221, 225 Desmoulins, Camille 275 Desraimes, Maria 275 Dewey, John 107 Diderot, Denis 89, 91, 94, 115, 166, 169, 173, 184, 200, 205, 208, 225, 239, 245, 250, 275, 277, 294, 297, 303, 304, 313 Dilthey 164, 194–196, 240 Diome, Fatou 311 Dreyfus, Alfred 109, 110, 122 Du Buat-Nançay, Louis-Gabriel, Comte de 270 Eisenstadt, Shmuel N. 335 Elias, Norbert 210 Engels, Friedrich 66, 139 Ewald, Oskar 217 Faure, Edgar 123 Fénelon, d. i. François de Salignac de La Mothe-Fénelon 103, 105 Fichte, Johann Gottlieb 147, 175, 199, 274 Finkielkraut, Alain 312 Flaubert, Gustave 231 Fleury, André-Hercule de, Kardinal 185 Floyd, George 341 Fontenelle, Bernard le Bovier de 105 Forster, Georg 181 Foucault, Michel 243, 256–259 Fragonard, Jean-Honoré 344 France, Anatole 231 Francke, August Hermann 205 Franco, Francisco 208 Franklin, Benjamin 73 Frenay, Henri 119 Frenyó, Zoltán 310 Friedell, Egon 206 Friedländer, Oskar Ewald 57 Friedmann, Georges 132 Friedrich II. (preuß. König) 41, 148, 168, 177, 196, 198 Fröhlich, Peter Joachim siehe Gay Fry, Margery 135 Fu, Yan 107 Fuʿād, Beşīr 105 Fukuyama, Francis 339 Galiani, Ferdinando 174 Galilei, Galileo 64, 266 Gallandat, David-Henri 86 Gandhi, Mahatma 130 Gay, Peter Jack 156, 240, 253–256, 261 Gazda, István 310

Register Gentz, Friedrich 96 Geyer, Gerhard 86 Gibbon, Edward 83, 196 Glucksmann, André 265 Gobineau, Joseph Arthur de 270 Goethe, Johann Wolfgang von 90, 92, 95, 116, 122, 153, 170, 175, 181, 194, 269, 290, 297 Goldoni, Carlo 344 Gottschalk, Louis 248 Gouges, Olympe de 89, 92, 112, 296, 297, 298, 303, 304 Gournay, Vincent, Marquis de 97 Gracian, Balthasar 235 Grégoire, Henri Jean-Baptiste 85, 86, 280 Grimm, Melchior 174 Groethuysen, Bernhard 218–220, 242 Guizot, François 154–155, 171, 195 Habermas, Jürgen 220, 251–253 Haesaert, Jean-Polydore 136 Haikal, Hussein 129 Haller, Albrecht Viktor von 90 Hamann, Johann Georg 199, 241 Hambling, Maggi 92 Hamilton, Alexander 165 Händel, Georg Friedrich 67, 176 Hasse, Johann Adolph 176 Havet, Jacques 133 Haydn, Joseph 67 Hazard, Paul 114, 120, 230–240, 263, 268 Heath, Edward 122, 123 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 92, 116, 122, 145–149, 160, 173, 194, 199, 259, 278 Hegel, Karl 146 Heidegger, Martin 139, 226 Helvétius, Claude-Adrien 166, 174, 205, 208, 274 Herbjørnsrud, Dag 83 Herder, Johann Gottfried 90, 153, 181, 196, 199, 205, 278, 297 Herriot, Edouard 121, 122 Hertzberg, Arthur 264 Hettner 146, 156, 164, 167–182, 197, 261 Heywat, Walda 84 Hibben, John Grier 204–206, 223 Hidalgo, Miguel 300 Himmelfarb, Gertrude 28, 329 Hitler, Adolf 229, 274 Hô Chi Minh 128 Hobbes, Thomas 175, 200, 253 Høffding, Harald 198–203, 261

Register Hogg, Quintin, Lord Hailsham of Saint Marylebone 123 Holbach, Paul-Henir Thiry, Baron de 63, 105, 114, 274 Hölderlin, Friedrich 181 Horkheimer, Max 221–222, 265–268, 304, 319, 341 Hourani, Albert 104 Hugo, Victor 93, 275 Huizinga, Johan 54, 120, 208 Humboldt, Alexander von 92, 100, 297, 303 Humboldt, Wilhelm von 92 Hume, David 116, 196, 201, 204, 241, 250, 276, 278, 297, 303, 315 Hypathia 83 Ibn Ḫaldūn 104 Ibn Rušd siehe Averroes Ibn Sīnā siehe Avicenna Irokesen 73 Iselin, Isaak 181 Israel, Jonathan Irvine 260–261 Jacobi, Friedrich Heinrich 147, 199, 202 Jakob, Sera 83, 300 Jaspers, Karl 268, 335–339 Jean Paul 181 Jefferson, Thomas 73, 278 Jellinek, Georg 111, 193 Joël, Karl 140, 211–217, 225, 246 Jolowicz, H. 45 Jones, William 75 Josef II. (Kaiser) 98, 150 Kabir, Humayun 137 Kafka, Gustav 57, 217 Kant, Immanuel 39, 69, 78, 88, 89, 90, 110, 116, 117, 118, 122, 126, 147, 153, 160, 175, 181, 189, 194, 196, 198, 201, 202, 203, 204, 205, 214, 216, 221, 225, 226, 236, 239, 245, 251, 253, 259, 267, 273, 276, 277, 278, 279, 294, 297, 298, 303, 304, 306, 310, 328, 333, 344 Kapralik, Adolf 172 Katharina II. (Zarin) 98, 100 Katju, Markandey 307 Kaunitz-Rietberg, Wenzel Anton Graf 28 Klemperer, Victor 115 Koch, Adrienne 28 Kopernikus, Nikolaus 64 Koselleck, Reinhart 221, 244–247 Krauss, Werner 26 La Mettrie, Julien Offray 205, 241 Lamarck, Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de 92

377 Laski, Harold J. 132 Lavisse, Ernest 97 Lavoisier, Antoine Laurent de 92, 275 Lazar, Marc 311 Lecky, William Edward Hartpole 45 Lefèbvre, Jean-François, Chevalier de la Barre 110, 275 Leibniz, Gottfried Wilhelm 90, 94, 95, 153, 160, 176, 193, 196, 197, 200, 202, 204, 225, 234, 290, 297, 302, 303 Lenin, Wladimir Iljitsch 139, 272 Leopold II. (belg. König) 276 Lesky, Erna 140 Lessing, Gotthold Ephraim 90, 92, 117, 153, 175, 196, 202, 205, 225, 239, 269, 272 Lichtenberg, Georg Christoph 241 Linné, Carl von 66, 93, 212, 278, 290, 297, 303, 304 Linnebach, Karl 232 Liu, Shipei 106 Lo, Chung-Shu 132, 136 Locke, John 89, 147, 163, 171, 193, 196, 197, 200, 204, 205, 235, 239, 241, 253, 277, 297, 303 Lolme, Jean-Louis de 238 Lomonossow, Michail Wassiljewitsch 208, 295, 303 Louden, Robert B. 331–333 L’Ouverture, Toussaint 75 Ludwig I. (bayer. König) 90 Ludwig XIV. 172, 186 Ludwig XV. 185 Luppol, Ivan K. 208 Mably, Gabriel Bonnot de 174, 257, 274 Machiavelli, Niccolò 221, 222 MacIntyre, Alasdair 324 Macron, Emmanuel 311, 312, 313 Madison, James 165 Maimonides 46, 47, 199 Maria Theresia 28, 150 Maritain, Jacques 111, 132, 133 Marx, Karl 66, 116, 139, 272, 274 Maus, Ingeborg 327–328, 333 May, James Lewis 231 McKeon, Richard P. 132 Meinecke, Friedrich 139, 210 Mendelssohn, Moses 39, 89, 90, 94, 147, 181, 198, 202, 205, 269, 272, 275, 297, 303, 344 Merleau-Ponty, Maurice 244 Meslier, Jean 208

378 Michéa, Jean-Claude 312 Michelet, Karl Ludwig 146 Mill, John Stewart 104 Milton, John 89 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de 94, 97, 103, 117, 123, 128, 135, 153, 171, 173, 174, 185, 190, 196, 197, 202, 237, 239, 291, 297, 303, 304, 307, 308, 313 Morelly, Étienne Gabriel 174, 274 Moore, Barrington, Jr. 249, 264 Mornet, Daniel 174, 184, 240, 274 Morus, Thomas 221 Moser, Friedrich Karl von 177 Moser, Johann Jakob 180 Möser, Justus 196 Mozart, Wolfgang Amadeus 67, 344 Muhammad ʿAlī (ägypt. Regent) 103 Mussolini, Benito 229, 274 Napoleon 143 Naville, Pierre 114 Newton, Isaac 64, 89, 95, 116, 193, 225, 294, 298, 303 Nicolai, Christoph Friedrich 181, 205 Nietzsche, Friedrich 259, 267 Nimr, Fāris 102 Nipperdey, Thomas 143 Oestreich, Gerhard 258 Paine, Thomas 130, 302, 304 Palm d’Aelders, Etta 293 Palmer, Robert Roswell 247–249, 256, 261 Panthéon (Paris) 90, 91 Pareto, Vilfredo 164 Paty, Samuel 287, 312 Paulsen, Friedrich 139 Peter I. (Zar) 213 Petrov, Mikhail 54 Phule, Jyotirao 130 Pigalle, Jean-Baptiste 90 Pinker, Steven 333–334 Pombal, Sebastião José de Carvalho e Melo, Marquês de 169 Pope, Alexander 89 Popper, Karl Raimund 116 Porter, Roy 140 Postman, Neil 328–329 Priestley, Joseph 204 Puccini, Giacomo 96 Pufendorf, Samuel 176 Puntambekar, S. V. 137 Qichao, Liang 107 Quesnay, François 97

Register Ram Mohan Roy (Raja) 300 Ranke, Leopold von 173 Rawls, John 328 Raynal, Guillaume-Thomas François 75, 153, 174, 280 Réau, Louis 157, 210 Reid, Thomas 241 Reinhold, Carl Leonhard 199 Renan, Ernest 104 Reuter, Hermann 46 Rhodes, Cecil 288 Ritter, Paul 194 Robertson, William 196 Rocquain, Félix 184–186 Rost, Nico 116 Rousseau, Jean-Jacques 90, 94, 97, 106, 108, 110, 115, 117, 123, 128, 131, 169, 171, 173, 174, 183, 184, 185, 191, 192, 197, 201, 204, 246, 250, 253, 261, 274, 275, 280, 284, 297, 298, 302, 303, 304, 307, 309, 310, 313, 314 Sade, Donatien Alphonse François, Marquis de 267, 297, 303, 304 Said, Edward 78 Saint-Pierre siehe Castel de Saint-Pierre Ṣarrūf, Yaʿqūb 102 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 90, 147, 160, 199 Schiller, Friedrich von 90, 92, 153, 175, 181, 199, 304, 344 Schlegel, Friedrich 147 Schleiermacher, Friedrich 199 Schlettwein, Johann August 191 Schlobach, Jochen 25 Schlosser, Friedrich Christoph 171 Schmitt, Carl 244 Schütz, Heinrich 176 Senghor, Léopold Sédar 85 Serfoji II. (Raja) 77, 100, 287 Shipei, Liu 106 Simon, Richard 234, 245 Smith, Adam 66, 97, 107, 126, 135, 196, 297, 302, 304 Sokrates 189 Somerhausen, Luc 132 Somerville, John 136 Sonnenfels, Joseph von 28 Sourisseau, Laurent 110 Spencer, Herbert 104 Spengler, Oswald 310 Spinoza, Baruch de 95, 147, 175, 196, 206, 233, 266, 297, 303

Register Staël-Holstein, Anne-Louise-Germaine Necker, Baronne de 92, 140, 149–154, 157 Stalin, Josef Wissarionowitsch 139, 229 Starobinski, Jean 68 Steinbuch, Karl 319 Stourzh, Gerald 27 Sulzer, Johann Georg 202 Sumner, Claude 83 Susenyos (äthiop. Kaiser) 84 Swieten, Gerard van 28 Sybel, Heinrich von 164, 173 Taine, Hippolyte 164, 182–184, 190 Talmon, Jacob Leib 273–275 Tetens, Johannes Nikolaus 202, 205 Thatcher, Margaret 123 Thomasius, Christian 176, 205, 214, 234, 242 Thomson, David 247 Ṭībī, Bassām 319–320 Tiepolo, Giambattista 344 Tocqueville, Alexis de 104, 164–167, 173 Todorov, Tzvetan 330–331 Toland, John 83 Trarieux, Ludovic 275 Troeltsch, Ernst 191–194, 261 Trump, Donald 310, 313 Turgot, Anne Robert Jacques 196 Val, Philippe 313 Valjavec, Fritz 140

379 Vattel, Em(m)er(ich) 238 Venturi, Franco 27, 53 Vico, Giambattista 221, 222, 297 Villemain, Abel-François 155–159, 171 Voltaire 69, 83, 90, 91, 92, 94, 97, 98, 103, 105, 109, 110, 115, 117, 124, 169, 173, 191, 195, 196, 200, 204, 208, 225, 235, 239, 241, 245, 275, 277, 278, 279, 297, 303, 304, 307, 308, 310, 313, 314, 344 Vorländer, Karl 197–198 Washington, George 277 Weber, Alfred 336 Weber, Max 44, 192, 252, 259, 266 Wegener, Harriet 230, 231, 232 Wieland, Christoph Martin 90 Wilson, Harold 122 Wilson, Woodrow 218 Winckelmann, Johann Joachim 90, 196 Windelband, Wilhelm 186–191 Winter, Eduard 140 Wolff, Christian 176, 198, 205, 214, 303 Wolff, Hans Matthias 242 Wollstonecraft, Mary 89, 92, 294, 300, 303, 304 Ya’aqob, Zar’a siehe Jakob, Sera Youwei, Kang 107 Zalay, Szabolcs 310 Zaniboni, Eugenio 53 Zola, Émile 109, 115, 275 Zöllner, Johann Friedrich 39

h i s t o r i s c h e m i t t e i lu ng e n



beihefte

Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e. V. herausgegeben von Jürgen Elvert ( federführend), Matthias Asche, Birgit Aschmann, Markus A. Denzel, Jan Kusber, Sönke Neitzel, Joachim Scholtyseck und Thomas Stamm-Kuhlmann. Wissenschaftlicher Beirat: Winfried Baumgart, Michael Kißener, Ulrich Lappenküper, Ursula Lehmkuhl, Bea Lundt, Christoph Marx, Sönke Neitzel, Jutta Nowosadtko, Johannes Paulmann, Wolfram Pyta, Wolfgang Schmale und Reinhard Zöllner.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0939–5385

20. Arnd Bauerkämper (Hg.) „Junkerland in Bauernhand“? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone 1996. 230 S., kt. ISBN 978-3-515-06994-6 21. Stephan Lippert Felix Fürst Schwarzenberg Eine politische Biographie 1998. 446 S., geb. ISBN 978-3-515-06923-6 22. Martin Kerkhoff Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Saarfrage 1945 bis 1954 1996. 251 S., kt. ISBN 978-3-515-07017-1 23. Hans-Heinrich Nolte (Hg.) Europäische Innere Peripherien im 20. Jahrhundert 1997. 316 S., kt. ISBN 978-3-515-07098-0 24. Gabriele Clemens Britische Kulturpolitik in Deutschland (1945–1949) Literatur, Film, Musik und Theater 1997. 308 S., kt. ISBN 978-3-515-06830-7 25. Michael Salewski Die Deutschen und die See Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Jürgen Elvert und Stefan Lippert 1998. 361 S., geb. ISBN 978-3-515-07319-6 26. Robert Bohn (Hg.) Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945 1997. 304 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07099-7

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Markus Büchele Autorität und Ohnmacht Der Nordirlandkonflikt und die katholische Kirche 2009. 511 S., kt. ISBN 978-3-515-09421-4 Günter Wollstein Ein deutsches Jahrhundert 1848–1945. Hoffnung und Hybris Aufsätze und Vorträge 2010. 437 S. mit 2 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09622-5 James Stone The War Scare of 1875 Bismarck and Europe in the Mid-1870s. With a Foreword by Winfried Baumgart 2010. 385 S., kt. ISBN 978-3-515-09634-8 Werner Tschacher Königtum als lokale Praxis Aachen als Feld der kulturellen Realisierung von Herrschaft. Eine Verfassungsgeschichte (ca. 800–1918) 2010. 580 S., kt. ISBN 978-3-515-09672-0 Volker Grieb / Sabine Todt (Hg.) Piraterie von der Antike bis zur Gegenwart 2012. 313 S. mit 15 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10138-7 Jürgen Elvert / Sigurd Hess / Heinrich Walle (Hg.) Maritime Wirtschaft in Deutschland Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert 2012. 228 S. mit 41 Abb. und 4 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10137-0 Andreas Boldt Leopold von Ranke und Irland 2012. 28 S., kt. ISBN 978-3-515-10198-1 Luise Güth / Niels Hegewisch / Knut Langewand / Dirk Mellies / Hedwig Richter (Hg.) Wo bleibt die Aufklärung? Aufklärerische Diskurse in der Postmoderne. Festschrift für Thomas StammKuhlmann 2013. 372 S. mit 12 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10423-4 Ralph L. Dietl Equal Security Europe and the SALT Process, 1969–1976 2013. 251 S., kt. ISBN 978-3-515-10453-1

86. Matthias Stickler (Hg.) Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration 2014. 204 S., kt. ISBN 978-3-515-10749-5 87. Philipp Menger Die Heilige Allianz Religion und Politik bei Alexander I. (1801–1825) 2014. 456 S., kt. ISBN 978-3-515-10811-9 88. Marc von Knorring Die Wilhelminische Zeit in der Diskussion Autobiographische Epochencharakterisierungen 1918–1939 und ihr zeitgenössischer Kontext 2014. 360 S., kt. ISBN 978-3-515-10960-4 89. Birgit Aschmann / Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.) 1813 im europäischen Kontext 2015. 302 S., kt. ISBN 978-3-515-11042-6 90. Michael Kißener Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus Studien zur Geschichte eines mittelständischen chemisch-pharmazeutischen Unternehmens 2015. 292 S. mit 16 Abb. und 13 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11008-2 91. Wolfgang Schmale (Hg.) Digital Humanities Praktiken der Digitalisierung, der Dissemination und der Selbstreflexivität 2015. 183 S. mit 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-11142-3 92. Matthias Asche / Ulrich Niggemann (Hg.) Das leere Land Historische Narrative von Einwanderergesellschaften 2015. 287 S. mit 8 Abbildungen ISBN 978-3-515-11198-0 93. Ralph L. Dietl Beyond Parity Europe and the SALT Process in the Carter Era, 1977–1981 2016. 306 S., kt. ISBN 978-3-515-11242-0

94. Jürgen Elvert (Hg.) Geschichte jenseits der Universität Netzwerke und Organisationen in der frühen Bundesrepublik 2016. 276 S. mit 8 Abbildungen, kt. ISBN 978-3-515-11350-2 95. Jürgen Elvert / Lutz Feldt / Ingo Löppenberg / Jens Ruppenthal (Hg.) Das maritime Europa Werte – Wissen – Wirtschaft 2016. 322 S. mit 10 Abb. und 11 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09628-7 96. Bea Lundt / Christoph Marx (Hg.) Kwame Nkrumah 1909–1972 A Controversial African Visionary 2016. 208 S. mit 21 Abbildungen, kt. ISBN 978-3-515-11572-8 97. Frederick Bacher Friedrich Naumann und sein Kreis 2017. 219 S. mit 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11672-5 98. Wolfgang Schmale / Christopher Treiblmayr (Hg.) Human Rights Leagues in Europe (1898-2016) 2017. 323 S. mit 28 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11627-5 99. Jürgen Elvert / Lutz Adam / Heinrich Walle (Hg.) Die Kaiserliche Marine im Krieg Eine Spurensuche 2017. 247 S. mit 18 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11824-8 100. Jens Ruppenthal Raubbau und Meerestechnik Die Rede von der Unerschöpflichkeit der Meere 2018. 293 S., geb. ISBN 978-3-515-12121-7 101. Marion Aballéa / Matthieu Osmont (Hg.) Une diplomatie au cœur de l’histoire européenne / Diplomatie im Herzen der europäischen Geschichte La France en Allemagne depuis 1871 / Frankreich in Deutschland seit 1871 2017. 204 S. mit 2 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11865-1 102. Elnura Jivazada Eine Nation und ihre Denkmäler Erinnerungskultur im postsowjetischen Aserbaidschan 2021. 360 S. mit 35 Farbabb., geb. ISBN 978-3-515-13024-0

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist auch im 21. Jahrhundert noch immer relevant. Sie fungiert als humane gesellschaftliche Orientierung in einer Welt, die aus den Fugen gerät. Diese gesellschaftliche Orientierung zu bieten, war schon immer das Ziel der Aufklärung – dabei war sie jedoch jederzeit fundamentaler Kritik ausgesetzt. Das Potenzial der Aufklärung, der Gesellschaft in Zeiten von Krisen, Kriegen und Terror eine Leitlinie zu geben, entwickelte sich gerade im Zusammenhang mit solcher Kritik. Wolfgang Schmale geht diesem historischen Prozess seit dem frühen 19. Jahrhundert nach und legt ein besonderes Augenmerk auf die Intellektuellen von Hegel bis Foucault und J. I. Israel. Mit methodischen Ansätzen der Digital Humanities analysiert er die Aufklärung globalgeschichtlich. Sie erweist sich, so wie sie gegenwärtig meistens verstanden wird, als zukunftsfähige Lebenswissenschaft, die auch Fundamentalkritik standhält.

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ISBN 978-3-515-13168-1

9 783515 131681