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Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.)
Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Geschichte ist nicht nur interessant, sondern auch hilfreich, um Phänomene der Gegenwart verstehen und deuten zu können. Dies gilt auch für die Geschichte des Christentums. In diesem Buch sind die sechs Vorträge einer Vortragsreihe über die Geschichte des Christentums dokumentiert, die die VHS-Seniorenakademie Dithmarschen und die Jerusalem-Akademie in Hamburg gemeinsam durchgeführt haben. Dr. Hans-Christoph Goßmann, Prof. Dr. Holger Hammerich, Prof. Dr. Gabriele Borger, Bischof Dr. Hans Christian Knuth, Prof. Dr. Inge Mager und Henning Keine stellen je eine Epoche der Christentumsgeschichte dar. Ihre Beiträge geben somit einen Überblick über die Geschichte des Christentums von ihren Anfängen bis zur Gegenwart.
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.) - Geschichte des Christentums
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Geschichte des Christentums
ISBN 978-3-88309-663-6
Verlag Traugott Bautz GmbH
Geschichte des Christentums
Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie
herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann
Band 7
Verlag Traugott Bautz
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.)
Geschichte des Christentums
Verlag Traugott Bautz
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2011 ISBN 978-3-88309-663-6
Inhaltsverzeichnis Hans-Christoph Goßmann Vorwort
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Hans-Christoph Goßmann Die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens
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Holger Hammerich Alte Kirche
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Gabriele Borger Die Kirche im Mittelalter
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Hans Christian Knuth Kirche in der Reformation. 12 Thesen zur Bedeutung Luthers für die Zukunft
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Inge Mager Kirche in der Frühen Neuzeit 1555–1750. „Behüt uns allzusammen / Vor falscher Lehr / Und Feindes Heer, / Vor Pest und Feuersflammen“
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Henning Kiene Die EKD in Bewegung. Standortbestimmung der evangelischen Kirche in Zeiten des Wandels
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Die Autorinnen und Autoren
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Vorwort Hans-Christoph Goßmann Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Geschichte ist nicht nur interessant, sondern auch hilfreich, um Phänomene der Gegenwart verstehen und deuten zu können. Dies gilt auch für die Geschichte des Christentums. Um für eine Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Geschichte des Christentums einen geeigneten Rahmen zu bieten, haben die VHSSeniorenakademie Dithmarschen und die Jerusalem-Akademie in Hamburg gemeinsam eine Vortragsreihe durchgeführt, in der die einzelnen Epochen der Christentumsgeschichte in je einem Vortrag dargestellt werden. Die sechs Vorträge dieser Reihe wurden in der Zeit vom September 2009 bis zum Januar 2011 im Sitzungssaal der Sparkasse Westholstein in Meldorf gehalten: Den Auftakt dieser Reihe bildete der Vortrag über die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens von Dr. Hans-Christoph Goßmann am 8. September 2009, dann folgte am 17. November desselben Jahres der Vortrag von Professor Dr. Holger Hammerich über die Alte Kirche. Im Jahr 2010 wurden die nächsten drei Epochen der Christentumsgeschichte in je einem Vortrag dargestellt: Am 23. Februar hielt Professorin Dr. Gabriele Borger einen Vortrag über die Kirche im Mittelalter, am 19. Oktober setzte Bischof i.R. Dr. Hans Christian Knuth die Reihe mit einem Vortrag über die Kirche in der Reformation fort, in dem er die bleibende Aktualität Martin Luthers und seiner Theologie zur Sprache brachte, und am 23. November gab Professorin i.R. Dr. Inge Mager eine Einführung in die Geschichte der Kirche in der Frühen Neuzeit. Den Abschluss dieser Reihe bildete der Vortrag über die Kirche in der Moderne von Henning Kiene am 25. Januar 2011, in dem er die Nachkriegszeit bis zur Gegenwart thematisierte. In dem vorliegenden Band werden die Vorträge dokumentiert und damit einem größeren Publikum zugänglich gemacht.
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Für die gute Zusammenarbeit bei der Konzeption und Durchführung dieser Vortragsreihe danke ich dem Leiter des Vereins Volkshochschulen in Dithmarschen, Herrn Martin Gietzelt, ganz herzlich. Darüber hinaus gilt mein Dank Frau Ulla Wieckhorst für das gründliche Korrekturlesen.
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Die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens Hans-Christoph Goßmann Wer waren die Mitglieder der Urgemeinde? Wer waren die ersten Christen? Mit diesen Fragen wollen wir versuchen, uns einem Thema zu nähern, das nicht nur von historischem Interesse ist. Die erste Antwort lautet: Sie waren zunächst einmal Juden. Die ersten Christen stellten eine der vielen Gruppen innerhalb des damaligen Judentums dar. Das damalige Judentum präsentierte sich genau so vielschichtig wie das heutige. Jeder, der schon einmal in Israel war, hat selbst gesehen, in welcher Vielfalt jüdisches Leben in Israel existiert: Juden aus über 70 Ländern sind seit der Staatsgründung im Jahr 1948 nach Israel eingewandert und prägen jetzt das dortige Leben. Das jüdische Leben zur Zeit der Urgemeinde werden wir uns sehr ähnlich vorzustellen haben. Seit dem babylonischen Exil im 6. vorchristlichen Jahrhundert lebten Juden nicht nur im Land Israel, sondern auch in der Diaspora. Das Leben in der Diaspora – im Exil – geschah nicht aus Not, sondern freiwillig. Schließlich hatte ja jeder Jude die Möglichkeit, ins Land Israel einzuwandern. Wenn viele dies nicht taten, sondern ein Leben in der Diaspora vorzogen, dann deshalb, weil sie dort in jeder Hinsicht – kulturell wie materiell – günstige Lebensbedingungen vorfanden. Dabei kam es zu einer gegenseitigen Beeinflussung: Juden wirkten einerseits auf ihre Umgebung prägend und wurden andererseits selbst von ihrer Umgebung beeinflusst. Diese Einflüsse wirkten auch auf Israel, das Heimatland der Juden, da ein reger Austausch zwischen den Juden in der Diaspora und denen im Land Israel bestand. Dieser Austausch war allein deshalb schon gewährleistet, weil unzählige Juden aus der Diaspora anlässlich der großen Wallfahrtsfeste nach Jerusalem kamen. Jerusalem bildete auch für die Juden in der Diaspora das Zentrum. Das Leben in dem vergleichsweise kleinen Land Israel war also durch eine Vielzahl von kulturellen Einflüssen geprägt – es war gleichsam ein Schmelztiegel unterschiedlichster Richtungen. So
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wundert es nicht, dass es innerhalb des Judentums zur Zeit der Urgemeinde verschiedene jüdische Gruppierungen gab. Einige, wie z.B. die Pharisäer, sind uns aus dem Neuen Testament bekannt. Andere – wie z.B. die Essener – sind uns nicht aus dem Neuen Testament bekannt, sondern aus anderen Quellen. Eine dieser Gruppen innerhalb des Judentums bildete die Urgemeinde. Ich sage bewusst: innerhalb des Judentums. Das mag im ersten Blick zumindest sehr ungewöhnlich klingen. Schließlich sind wir ja heute gewöhnt, Judentum und Christentum als zwei unterschiedliche Religionen anzusehen. Diese Sichtweise wird dem Problem jedoch nicht gerecht, da Judesein nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Religion, sondern auch zu einem Volk bedeutet. Anders ausgedrückt: Jüdische Existenz definiert sich nicht nur religiös, sondern auch ethnisch. Die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk haben die ersten Christen jedoch niemals aufgegeben. Für sie schlossen sich die Bezeichnungen ’Juden’ und ’Christen’ keineswegs aus. Sie waren ihrem Selbstverständnis nach Juden, die an den Messias – an Jesus Christus – glaubten. Auch in ihren religiösen Auffassungen unterschieden sie sich in vielerlei Hinsicht nicht von ihren nichtchristlichen Mitjuden. Dies möchte ich an zwei Beispielen verdeutlichen: Die Essener von Qumran lasen die alttestamentlichen Texte in dem Bewusstsein, die Erben der göttlichen Verheißung zu sein. Da die Endzeit angebrochen war, konnte nun der eigentliche Sinn der prophetischen Aussagen verstanden werden. Dieses Schriftverständnis wird in folgendem Text, der in der ersten Höhe von Qumran gefunden wurde, besonders deutlich: Und Gott sprach zu Habakuk, er solle aufschreiben, was kommen wird über das letzte Geschlecht. Aber die Vollendung der Zeit hat er ihm nicht kundgetan. Und wenn es heißt: Damit eilen kann, wer es liest, so bezieht sich seine Deutung auf den Lehrer der Gerechtigkeit, dem Gott kundgetan hat alle Geheimnisse der Worte seiner Knechte, der Propheten. (1 Q pHab VII, 1-5).
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Dieses Schriftverständnis findet sich auch im Neuen Testament: Lasset uns auch nicht Unzucht treiben, wie etliche von ihnen Unzucht trieben und (deshalb) an einem Tage 23000 fielen. Lasset uns auch nicht Christus versuchen, wie etliche von ihnen ihn versuchten und von den Schlangen umgebracht wurden. Murret auch nicht, wie etliche von ihnen murrten und von dem Verderber umgebracht wurden. Dies aber widerfuhr jenen als Exempel; geschrieben wurde es zur Warnung für uns, denen das Ende der Welt nahe bevorsteht. (1. Kor. 10, 8-11). Paulus bezieht hier Ereignisse der Geschichte Israels auf die christliche Gemeinde. Vers 11 macht deutlich, dass er – wie die Essener von Qumran – glaubt, in der Endzeit zu leben. Auch die Bestimmungen, wie in der Gemeinde von Qumran Mitglieder zu behandeln sind, die gesündigt haben, sind den entsprechenden des Neuen Testamentes ähnlich: Man soll zurechtweisen, ein jeder seinen Nachbarn in Wahr(heit) und Demut und barmherziger Liebe untereinander. Keiner soll zum anderen sprechen in Zorn und Murren oder Halsstarrig(keit oder im Eifer) gottlosen Geistes. Und er soll ihn nicht hassen in seinem (unbeschnittenen) Herzen; sondern am selben Tag soll er ihn zurechtweisen, aber nicht soll er seinetwegen Schuld auf sich laden. Ferner soll niemand gegen seinen Nächsten eine Sache vor die vielen bringen, wenn es nicht vorher zur Zurechtweisung vor Zeugen gekommen ist. Diese Bestimmungen decken sich teilweise mit denen in Matthäus 18, 15-17: Wenn aber dein Bruder sündigt, so geh hin und weise ihn zurecht unter vier Augen! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er dagegen nicht, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit „jede
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Sache auf Aussage von zwei oder drei Zeugen beruhe“. Wenn er jedoch nicht auf sie hört, so sage es der Gemeinde! Wenn er aber auch auf die Gemeinde nicht hört, so sei er dir wie der Heide und Zöllner! Diese Beispiele machen deutlich, dass die Urgemeinde mit ihren religiösen Auffassungen nicht gleichsam im luftleeren Raum entstand, sondern in das damalige Judentum eingebettet war.
Die Trennung zwischen der Urgemeinde von dem übrigen Judentum und ihre Gründe 1. Die Trennung christlicher Seite Bei dieser engen Einbettung der urchristlichen Gemeinde in das damalige Judentum stellt sich die Frage, wann und vor allem warum es zur Trennung zwischen der Urgemeinde und den anderen Juden kam. Zunächst zur Frage, wann die Trennung erfolgte. Offensichtlich schon relativ früh. Die Juden waren durch das Claudius-Edikt aus Rom vertrieben worden. Eine genaue Datierung dieses Edikts ist nicht möglich. Während es nach dem christlichen Historiker Paulus Orosius, der im 5. Jahrhundert lebte, im Jahr 49 erlassen wurde, gibt der römische Schriftsteller Dio Cassius das Jahr 41 an. Auf jeden Fall betraf die Christenverfolgung des Nero im Jahr 64 nicht mehr die Juden, sondern die Christen. Daraus ist zweierlei zu schließen: Erstens, dass es zu der Zeit bereits nichtjüdische Christen gegeben hat, mit anderen Worten: dass sich das Christentum bereits als eigenständige Größe neben dem Judentum konstituiert hat und zweitens, dass die heidnische Umgebung bereits klar zwischen den Christen und den verschiedenen jüdischen Gruppierungen zu differenzieren wusste. Die Frage, warum die Trennung erfolgte, beantwortet uns das Neue Testament, genauer gesagt Galater 2 und Apostelgeschichte 15. Diese beiden Texte berichten von dem so genannten Apostelkonzil. Auf diesem wurde beschlossen, dass es neben der Judenmission auch
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die Heidenmission geben dürfe und solle. D.h. nun musste ein Heide, der Christ werden wollte, nicht erst Jude werden, sondern konnte direkt zum Christentum übertreten. Wie brisant dieses Problem zur Zeit des Neuen Testaments war, zeigt der Galaterbrief. Dieser Brief ist eine Kampfschrift, in der sich Paulus mit Vehemenz gegen die Auffassung wendet, ein Heide müsse zunächst Jude werden, um dann als Jude, der die Gebote hält, Christ werden zu können. In die galatischen Gemeinden waren Juden gekommen, die genau dieses förderten. Paulus, ebenfalls Jude, setzt sich aufs schärfste mit dieser Forderung auseinander und bezieht sich in Gal 2 auf die Regelung, die auf dem Apostelkonzil festgelegt wurde. Durch diese Regelung wurde aber die Gemeinschaft des jüdischen Volkes verlassen. Denn ein Heide, der nicht mehr Jude werden musste, um Christ werden zu können, gehörte natürlich nicht mehr der Gemeinschaft des jüdischen Volkes an. Ursprünglich war es also nicht so, dass Juden, die sich zu Jesus Christus bekannten, dadurch keine Juden mehr waren. Es war vielmehr so, dass die nichtjüdischen Christen zu keinem Zeitpunkt Juden gewesen waren. Seit dem Zeitpunkt, an dem die Christen nicht mehr nur unter Juden, sondern auch unter Heiden missionierten, muss zwischen den so genannten Judenchristen und den so genannten Heidenchristen unterschieden werden. Die heidenchristlichen Gemeinden waren z.T. aus den so genannten Gottesfürchtigen – Heiden, die sich von der jüdischen Ethik und dem jüdischen Monotheismus angesprochen fühlten und an den Synagogengottesdiensten teilnahmen, aber nicht zum Judentum übertreten wollten – hervorgegangen. Trotzdem fühlten sie sich im Laufe der Zeit dem Judentum immer weniger verbunden und distanzierten sich von ihm. Dies hatte u.a. die Konsequenz, dass in der frühen Kirche zunächst nicht klar war, ob das Alte Testament als Heilige Schrift der Kirche anerkannt werden sollte. Denn es war ja auch die Heilige Schrift der Juden. Und von denen wollten sich die Heidenchristen distanzieren. Markion, der als erster einen neutestamentlichen Kanon zusammengestellt hatte, verwarf
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das Alte Testament – wie die Gnostiker – völlig und hat aus seinem neutestamentlichen Kanon alles Alttestamentliche entfernt. Als sich die Gemeinde von Rom im Jahr 144 n. Chr. von Markion getrennt hatte, war die Entscheidung für das Alte Testament gefallen. Trotzdem gab es im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder Versuche, sich von dem Alten Testament zu distanzieren. Dies geschah in der Regel, wenn sich die heidenchristliche Kirche wieder einmal besonders antijudaistisch gab. Als Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit sind hier die Deutschen Christen zu nennen. 2. Die Trennung von jüdischer Seite Aber zurück zur Zeit der Urgemeinde. Die Distanzierung der Christen von den Juden hatte eine entsprechende der Juden von den Christen zur Folge. Dabei wurden nicht nur die Heidenchristen von den Juden abgelehnt, sondern auch die Judenchristen nicht mehr als Juden anerkannt. Nach jüdischem Verständnis schlossen sich also die Zugehörigkeit zum Judentum und die zum Christentum gegenseitig aus. Dies war jedoch – wie schon gesagt – nicht von Anfang an so gewesen. Ursprünglich war die Urgemeinde, die zunächst ausschließlich aus Judenchristen bestand, eine der vielen Gruppierungen innerhalb des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels gewesen. Erst als auch Heiden der direkte Zugang zur christlichen Religion eröffnet wurde, begann eine Entwicklung, die zur Trennung zwischen jüdischer und christlicher Religion führte. Die Öffnung der christlichen Religion für Heiden – also für Nicht-Juden – implizierte nämlich einen Unterschied zwischen Judentum und Christentum, der in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Während Juden sich nicht nur durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, sondern auch durch die zu einem bestimmten Volk definierten, definierten sich Christen ausschließlich durch ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, mit anderen Worten: durch ihren persönlichen Glauben.
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Judenchristentum heute Innerhalb der christlichen Kirche setzte sich das heidenchristliche Element durch. Die Kirche bzw. Kirchen, wie wir sie heute erleben, sind ausschließlich heidenchristlich. Deshalb begegnet oft die Auffassung, dass die Frage ‚judenchristlich – heidenchristlich’ ein Problem der Alten Kirche sei, ein Phänomen, das in der ’Kirchengeschichte I’ abzuhandeln sei, aber für die Gegenwart keinerlei Relevanz mehr habe. Dem ist jedoch nicht so. Judenchristen gibt es auch heute noch. Sie bezeichnen sich selbst jedoch nicht als Judenchristen. Diesen Ausdruck lehnen sie ab, da er der Terminologie der in der heidenchristlichen Kirche entstandenen Dogmatik entnommen ist. Sie ziehen die Bezeichnung messianische Juden vor, da sie an Jesus als Messias glauben. Dies stößt jedoch bei gläubigen nichtchristlichen Juden auf Kritik, da auch sie an das Kommen des Messias glauben und deshalb das Adjektiv messianisch nicht gerade durch die Juden okkupiert sehen wollen, die ihrer Meinung nach gar nicht mehr dem Judentum angehören. Kurzum: ein schwieriges Problem. Die beste Lösung findet sich in der englischen Sprache. Dort werden diese Juden Hebrew Christians genannt. Dieser Ausdruck hat jedoch den Nachteil, dass wir ihn nicht ins Deutsche übersetzen können. ’Hebräische Christen’ gibt die Bedeutung des englischen Ausdruckes nicht wieder, da ’Hebrew’ nicht nur die Sprache meint, sondern auch die Glaubensgemeinschaft, deren Gottesdienste in dieser Sprache abgehalten werden. Eine der bedeutendsten jüdischen Hochschulen in Amerika heißt ’Hebrew Union College’ und das Alte Testament wird als ’Hebrew Bible’ bezeichnet. Da das Wort ’Hebräisch’ im Deutschen jedoch ausschließlich die Sprache meint, ist eine Übertragung aus dem Englischen nicht direkt möglich. Bei dem Ausdruck ’Hebrew Bible’ wurde es versucht: Das Alte Testament wird jetzt oft als ’Hebräische Bibel’ bezeichnet. Dass diese Übersetzung aus den genannten Gründen jedoch ihre Probleme hat, hat Arnulf H. Baumann in seinem Aufsatz ’Altes Testament? – Hebräische Bibel? – Jüdische Bibel?’ in Friede über Israel, Zeitschrift für Kirche und Judentum 67, 1984, S. 49f., deutlich gezeigt.
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Das Problem der Benennung ist sehr bezeichnend. Denn es spiegelt die Sichtweiten und Beurteilungen wider, die diese Christen erfahren. Nach ihrem eigenen Selbstverständnis sind sie Juden. Für sie steht ihr christlicher Glaube in keinem Widerspruch zu ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. Der israelische Staat sieht dies allerdings etwas anders. Es gilt die Definition: Ein Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat und wer keiner anderen Religionsgemeinschaft angehört. Dies hat auch rechtliche Konsequenzen: Nach dem Rückkehrgesetz aus dem Jahr 1948 steht jedem Juden das Recht zu, nach Israel einzuwandern. Dies gilt nach der eben genannten Definition von ’Jude’ jedoch nicht für die messianischen Juden, da sie zwar der Abstammung nach jüdisch sind, aber nicht mehr als Juden gelten, weil sie der christlichen Religionsgemeinschaft angehören. Der Fall des Juden Daniel Rufeisen verdeutlicht dies beispielhaft: Als die Nationalsozialisten Polen besetzt hatten, war er an der Rettung tausender Juden beteiligt. Dann musste er selbst fliehen und wurde in einem Karmeliterkloster versteckt. Dort nahm er den christlichen Glauben an und ließ sich taufen. Später wollte er nach Israel einwandern und beantragte die israelische Staatsbürgerschaft aufgrund des Rückkehrgesetzes. Diese wurde ihm vom israelischen Innenministerium jedoch verweigert. Rufeisen legte Beschwerde ein, was einen Prozess zur Folge hatte, in dem der Oberste Gerichtshof entschied, dass ein getaufter Jude kein Jude mehr ist. Auf diese Weise wurde die oben genannte Definition gesetzlich festgeschrieben. Dieser Fall war deshalb so brisant, weil es um jemanden ging, der aktiv im Widerstand gegen die Nazis gearbeitet hat und dadurch vielen Juden geholfen hat. Dementsprechend stieß dieser Prozess auf großes öffentliches Interesse. Das Urteil hatte nicht zur Folge, dass Rufeisen kein israelischer Staatsbürger werden konnte. Die Staatsbürgerschaft wurde ihm zugesprochen – aber nicht aufgrund seiner jüdischen Herkunft. In der christlichen Theologie werden die messianischen Juden in aller Regel genau so wenig anerkannt. Ihnen wird zwar weder das Judesein noch das Christsein expressis verbis abgesprochen, aber sie werden
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schlicht ignoriert. Die Judenchristen haben – wie schon gesagt – in der christlichen Theologie ihren Platz in der Kirchen- und Dogmengeschichte der frühen Kirche, d.h. spätestens ab Ende des zweiten Jahrhunderts kommen sie nicht mehr vor. Folglich ist unter christlichen Theologen kaum bekannt, dass die Judenchristen nicht nur eine historische, sondern auch eine jetzt existierende Größe darstellen. Sofern sie überhaupt wahrgenommen werden, wird verständnislos gefragt, warum sie denn noch als Juden leben würden, wo sie als Christen doch vom „Joch des Gesetzes“ – wie es in der heidenchristlichen Terminologie leicht herablassend genannt wird – befreit sind. In der neueren theologischen Diskussion hat sich ein weiteres Problem ergeben: der jüdisch-christliche Dialog. Einerseits ist dieser Dialog ein Problem für die Judenchristen und andererseits stellen auch sie ein Problem für den Dialog dar. Denn wenn Juden und Christen sich in einem solchen Dialog gegenseitig annähern, wenn sie dabei viel Gemeinsames feststellen und wenn sie sich vor allem gegenseitig akzeptieren, ohne dass die Christen die Taufe ihrer jüdischen Gesprächspartner für notwendig halten, dann wird die Entscheidung eines Judenchristen, Jesus als Messias anzuerkennen und sich womöglich taufen zu lassen, stark hinterfragt. Umgekehrt sind Juden, die Christen geworden sind, eine Belastung für ein Religionsgespräch zwischen Juden und (Heiden-) Christen, da ein solches Gespräch nur dann möglich ist, wenn es von dem Vertrauen getragen ist, dass hinter ihm keine Missionsabsichten stehen. Das unterscheidet den heutigen jüdisch-christlichen Dialog vom früheren: In früheren Religionsgesprächen zwischen Juden und Christen ging es den christlichen Gesprächspartnern in aller Regel darum, die Überlegenheit des christlichen Glaubens darzulegen und die Juden zum Übertritt zu bewegen – dies gilt für den Dialog des Justin mit dem Juden Tryphon (2. Jahrhundert) ebenso wie für die Zwangsdisputationen im Mittelalter. Die Angst, von Christen missioniert zu werden, ist durchaus noch lebendig. Der Satz ’Mission ist die Endlösung der Judenfrage mit anderen
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Mitteln’ verdeutlicht dies beispielhaft. So wundert es nicht, dass in Israel am 27. Dezember 1977 das Gesetz über ’Verleitung zum Missionswechsel’ verabschiedet wurde. Dieses Gesetz wurde als ’Anti-MissionsGesetz’ bekannt. Es stellt die Mission unter Anbietung von Geld oder anderen materiellen Zuwendungen unter Strafe. Im Wortlaut dieses Gesetzes wird die christliche Mission zwar nicht namentlich genannt, aber es besteht kein Zweifel, dass sie gemeint ist. Bis jetzt fand dieses Gesetz allerdings – soweit mir bekannt – keine Anwendung. Man kann sich aber leicht vorstellen, dass Judenchristen in Israel keine gute Presse haben. Gelten sie doch als Juden, die sich haben missionieren lassen. Zum Schluss möchte ich kurz auf die jetzige Situation der Judenchristen in Israel eingehen. Es sollen nach den Zahlen, die Kai Kjaer-Hansen und Ole Chr. M. Kvarme in ihrem Buch ’Messianische Juden. Judenchristen in Israel’ (Erlangen 1983 , S. 30) angeben, etwa 1500-2000 Juden christlichen Glaubens in Israel leben. Diese Zahlen sagen allerdings nicht allzu viel aus, da es fast unmöglich ist, diese Gruppe statistisch zu erfassen. Dies liegt zunächst einmal daran, dass es keine homogene Gruppe ist, sondern sich überaus vielseitig präsentiert. Der größte Teil der Judenchristen gehört den in Israel bestehenden Konfessionskirchen an. Darüber hinaus gibt es so genannte messianische Versammlungen und halboffizielle bzw. private Kreise. Es gibt viele Judenchristen, die nicht getauft sind. Das hat zum einen den Grund, dass die Taufe als bloße Symbolhandlung angesehen wird, der keine größere Bedeutung zukommt. Zum anderen liegt es an der Furcht vor einer eventuellen gesellschaftlichen Isolation, da – wie bereits erwähnt – ein getaufter Jude nicht mehr als Jude gilt. Es wird befürchtet, dass die Taufe von der Umwelt als Austritt aus der Gemeinschaft des jüdischen Volkes aufgefasst wird. Die Frage, wer Judenchrist ist und wer nicht, ist letztlich genauso schwer zu beantworten wie die Frage, wer Jude ist und wer nicht. In den offiziellen Statistiken tauchen die Judenchristen nicht auf, d.h. sie werden vom israelischen Staat genau so wenig zur Kenntnis genommen wie von christlicher Seite.
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Aufs Ganze gesehen bilden die jüdischen Christen innerhalb ihres Volkes eine verschwindend geringe Minderheit. Dieses Schicksal teilen sie mit den arabischen Christen, die in einer islamischen Umwelt eine vergleichbare Randexistenz führen.
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Alte Kirche Holger Hammerich 1. Ouvertüre: Umfang, Strukturen und Bedeutung der Epoche Die Alte Kirche, das ist die Kirche in der antiken Welt, wie die immer noch beste Kurzdarstellung von Henry Chadwick betitelt ist. In der Forschung der letzten Jahre spricht man lieber von der frühen Kirche. Und ich habe mich dieser Sprachregelung angeschlossen. Dahinter steckt ein bezeichnender Mentalitätswandel zwischen der antiken Welt, der Welt des Altertums und uns. Bei uns ist neu ein Reklamegag und schon ein Zeichen von Qualität an sich. Für die Antike ist neu höchst verdächtig. Es zählt das Alte, Bewährte. Wer von früher statt von Alter Kirche redet, möchte darauf hinweisen, wie bedeutend, wie wenig überholt diese Zeit des Anfanges ist. Die Alte oder frühe Kirche beginnt mit der Jesusbewegung. Von Kirche kann man allerdings erst sprechen nach dem Zeugnis der ersten Auferstehungszeugen, als Jesus auf neue Weise gegenwärtig ist. Viel zitiert ist ein Satz von Alfred de Loisy: „Jesus verkündigte das Reich Gottes. Aber es kam die Kirche.“ Ganz so hart ist der Gegensatz allerdings nicht. Jesus hat keine Kirche geplant. Aber sie ist auch kein Bruch zu seiner Verkündigung. Als Historiker greife ich aber auf die Jesusbewegung zurück. Das Ende ist im Osten und Westen verschieden. Im Westen kann man es auf das Jahr 476 datieren. Der germanische Heerführer Odoaker setzt den letzten römischen Kaiser Romulus Augustulus ab. Damit hat das weströmische Reich aufgehört zu existieren. Im Osten sieht man im Allgemeinen die Herrschaft des Kaisers Justinian I. 527 - 565 als Abschluß. Das oströmische Reich bleibt weiter bestehen. Aber es verändert seinen Charakter und wird in der Geschichtswissenschaft fortan als Byzanz
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geführt. Erst 1483 mit der Eroberung Konstantinopels durch die Türken findet es sein Ende. Um ein halbes Jahrtausend Kirchengeschichte geht es also, die eng verwoben ist in die allgemeine Geschichte. Zum Glück gibt es einen von allen anerkannten Einschnitt: Am 28. Oktober 312 besiegt der Kaiser Konstantin seinen Gegenspieler Maxentius, ebenfalls Kaiser, vor den Toren Roms an der milvischen Brücke, dem Ponte Molle. 324 wird Konstantin Alleinherrscher des Römischen Reiches. Konstantin, der Kaiser, ist oder wird Christ, jedenfalls von diesem Moment an. Das Christentum wird von einer verfolgten Minderheit zur zunächst geduldeten, dann bevorzugten Religion. Unter Konstantin wird es noch nicht Staatskirche, wie häufig zu hören und zu lesen ist. Das geschieht erst unter Theodorus dem Großen im Jahre 380, obwohl auch das inzwischen umstritten ist. Zu unterscheiden sind also die ersten drei Jahrhunderte, die Anfänge der Kirche und die reiche kirchliche Zeit ab Konstantin, ab dem Epochenjahr 312. Sehr plakativ hat man in Unterrichtsmodellen formuliert: „Aus Verfolgern werden Verfolgte.“ Gemeint ist damit: In den ersten drei Jahrhunderten waren die Christinnen und Christen eine verfolgte Minderheit. Nach Konstantin sind sie dann selber zu Verfolgern von Nichtchristinnen und Nichtchristen geworden - sie merken: Ich versuche, möglichst den herabsetzenden Ausdruck „Heiden“ zu vermeiden. Diese Einteilung entspricht dem Selbstverständnis der frühen Kirche insoweit, dass sie die Märtyrer und Märtyrerinnen - die Frauen als Märtyrerinnen hat es durchaus gegeben - als Markenzeichen in den ersten drei Jahrhunderten versteht. Sie kennen wahrscheinlich den Satz: „Ein Samen ist das Blut der Märtyrer“ von dem Theologen Tertullian von Karthagos Anfang des zweiten Jahrhunderts. Doch die ersten drei Jahrhunderte sind durchaus keine Zeit unentwegter Verfolgungen gewesen, die vom Kaiser in Rom gesteuert worden sind. Bis Mitte des dritten Jahrhunderts - 250 - sind alle Verfolgungen lokale Pogrome, auf die sich die Statthalter oft notgedrungen einlassen. Die große zentrale Verfol-
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gung unter dem Kaiser Diokletian 303 bis 305 bzw. 311, die das Christentum ausrotten will, scheitert grandios und bildet den Hintergrund für den Aufstieg Konstantins. Jede Christin und jeder Christ musste damit rechnen, für seinen bzw. ihren Glauben Zeugnis ablegen zu müssen. Aber es gab durchaus Friedenszeiten. Die Verfolgung war nicht allgegenwärtig. Ich halte die innerkirchliche Entwicklung in den ersten drei Jahrhunderten auf die Zukunft gesehen für viel entscheidender und werde mich darauf konzentrieren. Die Zeit seit Konstantin, seit dem Epochenjahr 312, wird zur Zeit der Reichskirche. Die christliche Kirche wird zum einenden Band, das die divergierenden Kräfte des Römischen Reiches zusammenhalten soll. Religionspolitik wird zu dem wichtigsten Aufgabenfeld der Innenpolitik. Dabei müssen Staat und Kirche lernen, miteinander umzugehen. Den Kaisern ist an der Einheit der Kirche gelegen. Deshalb werden die Herrscher auch hineingezogen in die großen Auseinandersetzungen um die christliche Lehre. In reichskirchlicher Zeit werden die grundlegenden Lehraussagen formuliert, die bis heute das gemeinsame Gut mehr oder weniger aller christlichen Kirchen sind. Es handelt sich um die Dreieinigkeit, die Trinität, und die Lehre von Christus, wie sich göttliche und menschliche Natur Jesu Christi zueinander verhalten. Die Entscheidungen werden auf den sog. ökumenischen Konzilien getroffen. Sie gelten als Versammlungen der Ökumene, der weltweiten Christenheit. Ökumene bezeichnet die bewohnte Welt um das Mittelmeerbecken. Jenseits davon leben nur noch die Barbaren. Sieben ökumenische Konzilien gibt es. Davon fallen die ersten vier in unsere Zeit. In Wirklichkeit sind es nur Synoden des östlichen Reichsteils, an dem nur wenige Vertreter des Westens teilnehmen. Aber der Westen hat sich diesen Entscheidungen angeschlossen. Für den Westen setzt Augustin, 354 bis 430, den entscheidenden Akzent. Er formuliert die Lehre von Sünde und Gnade und bildet als Augustinus Magister, als der Lehrer Augustin, die unbeschrittene Autorität für das Mittelalter.
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Zur Signatur der Reichskirche gehört auch das Mönchtum. Es entsteht zur Zeit Konstantins in Ägypten und zugleich in Syrien und Palästina. Vom Osten breitet es sich in den Westen aus und gewinnt dort eine eigene Gestalt. Vielfach wirken Mönchshaufen auch in politische und kirchenpolitische Entscheidungen hinein. Soweit eine erste orientierende Übersicht. 2. Erster Akt: Die Institutionalisierung der Kirche Hier geht es um die maßgebliche Entwicklung der ersten drei Jahrhunderte. Lange Zeit hat der Geschichtsschreibung die Anfangszeit des Christentums als die gute alte Zeit der Einheit gegolten. Die Urgemeinde und die Apostel lebten einmütig miteinander, wie es die Apostelgeschichte schildert. Dann kommen abweichende christliche Gruppen auf, die Ketzer, und stellen den Konsens des Anfangs in Frage. Der rechte christliche Glauben wird dann in Abgrenzung formuliert. 1934 hat Walter Bauer ein Werk veröffentlicht „Rechtgläubigkeit und Ketzerei“. Es stellt das traditionelle Bild in Frage. Am Anfang steht die Vielheit, die Ketzerei. Das Christentum besteht aus einer Vielzahl von Ketzereien. Die stärkste Ketzerei setzt sich durch und wird zur Rechtgläubigkeit. Das ist nach Walter Bauer der römische Typ des Christentums. Dieser Ansatz Walter Bauers hat sich vielfältig bestätigt. Nur die Zuspitzung auf Rom lässt sich nicht halten. Am Anfang steht die Vielfalt. Die Rechtsgläubigkeit muß sich erst herausbilden. Es geschieht in einer Situation, in der das Christentum durch abweichende Gruppen in seiner Existenz bedroht ist. Es sind drei Bewegungen, um die es sich handelt. Da ist einmal die Gnosis. Es ist eine in sich nicht einheitliche religiöse Bewegung, die etwa gleichzeitig mit dem Christentum und unabhängig von ihm entstanden ist. Im zweiten Jahrhundert haben sich viele gnostische Gruppen als elitäre Salons an die christlichen Gemeinden angelehnt. Es gibt also eine
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christliche Gnosis. Gnosis heißt „Erkenntnis“. Es geht ihr um eine Erlösung des Menschen durch Erkenntnis. Am Anfang steht eine kosmische Katastrophe. Untergeordnete Geistesmächte lehnen sich auf gegen den obersten Gott. Sie werden in die Materie verbannt. Ein beschränkter untergeordneter Gott, der Demiurg, der Handwerker, schafft die materielle Welt. Es geht nun darum, dass der Mensch seine ursprüngliche göttliche Herkunft erkennt, dass er einen göttlichen Funken in sich trägt. Diese Erkenntnis befreit ihn aus den Banden der Materie und lässt ihn eingehen in die göttliche Fülle. Diese Spekulationen sind für die christlichen Gemeinden so gefährlich, weil sie die Güte der göttlichen Schöpfung bestreiten. Sie reißen Schöpfung und Erlösung auseinander. Außerdem verwandelt die Gnosis das Christentum in einen zeitlosen Mythos von Fall und Erlösung und setzt die Geschichte Jesu außer Kraft. Die zweite Gruppe geht auf Markion zurück. Er stammt aus Kleinasien vom Schwarzen Meer und kommt nach Rom. Im Jahr 144 schließt ihn die römische Gemeinde aus. Er hat der Gemeinde die Riesensumme von 200.000 Sesterzen gespendet. Die bekommt er bei seinem Rausschmiß bar auf die Hand zurück. Die finanziellen Möglichkeiten der römischen Gemeinde werden daran deutlich. Markion nimmt Anstoß daran, dass diese Schöpfung so schlecht organisiert ist mit Mücken und Krokodilen. Zwischen Kot und Urin werden die Menschen geboren. Diese Welt ist das Werk eines beschränkten jüdischen Gottes, des Demiurgen. Der Gott des Alten Testaments lässt sich allein vom Prinzip der Gerechtigkeit leiten. Jesus verkündet dagegen einen unbekannten Gott der Liebe, der die Menschen erlöst, wenn sie dann streng leben. Markion hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, warum es soviel Leid in der Welt gibt. Er beantwortet sie, indem er den Gottesbegriff aufspaltet in den unbekannten Gott und den Demiurgen. Markion ist radikaler Paulusschüler. Es geht ihm um Gnade und nicht um blinde Gerechtigkeit. Doch die Briefe des Paulus sind von den Juden verfälscht, deren Schrift das grausame Alte Testament ist. Markion verwirft folgerichtig das Alte Testament.
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Die Paulusbriefe reinigt er von jüdischen Verfälschungen und schafft ein erstes gereinigtes Neues Testament. Die Heilige Schrift der frühen Christenheit ist bis dahin die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta (LXX). Der Kanon, das verbindliche Neue Testament, besteht für Markion aus dem gereinigten Lukasevangelium und den echten Paulusbriefen. Markion gilt der frühen Kirche als der Erzketzer. Tatsächlich ist er ein radikaler Reformer, der eine eigene, sehr erfolgreiche Kirche gründet. Die Großkirche muß reagieren und nun auch ihren Kanon, ihr verbindliches Neues Testament, formulieren und am Alten Testament festhalten. Die dritte Gruppe ist der Montanismus. Es ist eine Bewegung, die um 160 mitten in Kleinasien, in Phrygien, entsteht. Sie will die urchristliche Prophetie wiederbeleben. Benannt ist sie nach ihrem Gründer Montanus, der als Prophet auftritt. Zwei Prophetinnen, Maximilla und Prisk gehören auch zu den Gründerfiguren. Durch sie spricht der Heilige Geist in der Gegenwart. In Pepuza in Phrygien wird das himmlische Jerusalem in allernächster Zeit wieder auf die Erde kommen. Der Montanismus belebt also die Endzeiterwartung der ersten Zeit wieder. Von seinen Mitgliedern erwartet er eine strenge Lebensführung. Eine Kirchenbuße nach der Taufe verwirft der Montanismus. Frauen spielen als Prophetinnen und Bischöfinnen eine herausragende Rolle. Mir ist keine andere frühchristliche Bewegung bekannt, in der Frauen uneingeschränkt positiv gesehen werden. Eigentlich ist der Montanismus keine Häresie. Er vertritt keine abweichende Lehre, sondern unterscheidet sich nur durch die strengere Lebensform von der Großkirche. Er ist also ein Schisma, eine Abspaltung. Doch den Bischöfen ist das unkontrollierbare freie Wirken des Heiligen Geistes unheimlich. Zur Abwehr des Montanismus entstehen in Klein-
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asien die ersten Synoden. Nach unseren Begriffen sind es Bischofskonsultationen. Die christlichen Gemeinden entwickeln drei Normen, um die Rechtgläubigkeit zu bestimmen und sich abzugrenzen. Im Gegenüber zu Markion wird festgesetzt, welche Bücher zum Neuen Testament gehören und welche nicht. Die Großkirche entwickelt also einen eigenen Kanon, eine eigene verbindliche Richtschnur für ein verbindliches Neues Testament. Einige Interpretationskünste sind nötig, um am Alten Testament festzuhalten. Um das Jahr 200 ist in Rom ein privates Verzeichnis entstanden, welche neutestamentlichen Schriften im Gottesdienst verlesen werden können. Nach seinem Entdecker wird es Canon Muratori genannt. Zwischen Osten und Westen wird noch um einzelne Bücher gestritten, die Offenbarung des Johannes und den Hebräerbrief. Aber in Grundzügen steht der neutestamentliche Kanon um 200 fest. Doch auch Bibelstellen kann man verschieden interpretieren. Es braucht einen Maßstab für das Verständnis. Da greift man nun auf die alte Glaubensregel zurück. Sie entspricht in etwa unserem Glaubensbekenntnis. Im Grundbestand liegt sie fast von Anfang an fest, auch wenn im Einzelnen der Wortlaut wechselt. Die Glaubensregel wird nun zum Maßstab für das richtige Verständnis des Neuen Testaments und zur verbindlichen Richtlinie für die Theologie. Mit dem ersten Artikel bekennt man Gott den Schöpfer, mit dem zweiten Artikel Jesus Christus als Erlöser. Gegen die Gnosis und gegen Markion hält man also an der Einheit von Schöpfung und Erlösung und damit von Altem und Neuem Testament fest. Doch gnostische Schulen arbeiten mit Sonderevangelien. Da ist Jesus nach seiner Auferstehung erschienen und hat den jeweiligen Gewährsleuten, Thomas, Philippus oder Mirjam die ganz heißen Geheimtips gegeben. Dagegen wird nun das kirchliche Amt verstärkt und zwar in Form
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einer apostolischen Sukzession. Dieser Begriff meint eine Nachfolge von den Aposteln an bis auf die Gegenwart und ist eine reine Geschichtskonstruktion. Die Apostel haben ihre Botschaft an ihre Nachfolger, die Bischöfe, weitergegeben und die wieder an ihre nächsten Nachfolger, die nächsten Bischöfe. Damit haben sie alles, was zur Wahrheit notwendig ist, in dieser Traditionskette überliefert. Ein Geheimevangelium hat daneben keinen Platz. Jede Gemeinde muß also von ihrem gegenwärtigen Bischof in einer Kette die Amtsinhaber bis auf einen Apostel zurückverfolgen können. Rom kann mit Petrus und Paulus sogar einen doppelten Ursprung erklären, eine Behauptung, die einer kritischen Überprüfung nicht standhält. In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts fängt man an, Bischofslisten aufzustellen. Wir haben so eine Liste für Rom. Auch für Jerusalem hat es sie gegeben. Die römischkatholische Kirche und auch die lutherischen Kirchen Skandinaviens halten noch heute an der apostolischen Sukzession fest. Angeblich habe ich auch die apostolische Sukzession: Denn der Bischof, der mich ordiniert hat, ist von einem schwedischen Bischof geweiht worden. Sie können an mir sehen, wie wenig die apostolische Sukzession nützt. Noch einmal: Es ist eine reine Geschichtskonstruktion, die keinen Anhalt an der Wirklichkeit hat, so weit wir sie ermitteln können. Sie stellt allerdings einen entscheidenden Baustein dafür dar, dass aus dem Bischof von Rom der Papst geworden ist. Mit diesen drei Normen, Schrift in Form des neutestamentlichen Kanons, Glaubensregel und das kirchliche Amt in Form der apostolischen Sukzession steht die altkatholische Kirche. Sie werden hier wahrscheinlich eher an die altkatholische Gemeinde auf Nordstrand denken. Sie gehört zur altkatholischen Kirche, die sich nach 1870 von der römischkatholischen Kirche getrennt hat, weil sie die Unfehlbarkeit des Papstes nicht anerkennen wollte. Die kirchengeschichtliche Bezeichnung stammt fast aus derselben Zeit, ist allerdings etwas älter: 1857. In der Forschung geht es auch noch etwas durcheinander. Zuweilen spricht man von früh-
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katholischer Kirche. Doch ich halte es für besser, frühkatholisch für die zweite Generation nach dem Urchristentum zu reservieren. Die Trennung vom Judentum gehört u.a. zu ihren Kennzeichen. Auf einer neuen CD ROM „Basiswissen Kirchengeschichte“ habe ich die altkatholischen Normen zur Examensvorbereitung auf die Eselsbrücke von drei Bs eingedampft gefunden: Bibel, Bekenntnis und Bischof. Sie werden inzwischen einschätzen können, wie weit diese Eselsbrücke trägt. Natürlich hat die Kirche von Anfang an kirchliche Ämter gehabt und sie hat auch Organisationsstrukturen entwickelt. Es war nicht alles dem freien Wirken des Geistes überlassen, wie man noch in der Forschung Anfang des 20. Jahrhunderts gedacht hat. Adolf von Harnack ist hier der große Name. Aber der Einschnitt der altkatholischen Kirche ist doch schmerzhaft und viel härter. Hier wird die Rechtgläubigkeit zementiert. In einem schmerzhaften Prozeß wird vieles ausgeschieden. Mit der Ausgrenzung des Montanismus wird man mißtrauisch gegen das unkontrollierbare freie Wirken des Geistes in der Kirche. Weil die Frauen so eine herausragende Rolle im Montanismus gespielt haben, werden sie nun in der altkatholischen Kirche in Nischen gedrängt. Durch die Gnosis geht faszinierende Spekulation verloren. Und auch Markion ist ein großer und radikaler Theologe. Seine kühnen Gedanken werden durch rechtgläubiges Mittelmaß ersetzt. Trotz aller dieser Einschränkungen war die Entstehung der altkatholischen Kirche ein notwendiger Prozeß kirchlicher Identitätsbildung. Sonst wäre die christliche Kirche im Supermarkt der antiken Religionen untergegangen wie die Katze in der Nacht, in der alle Katzen grau sind. Deshalb halte ich die Bildung der altkatholischen Kirche für eine wesentliche Signatur der ersten drei Jahrhunderte. Wenn heute jemand gegen die Amtskirche meckert, dann müsste er diese geschichtliche Erfahrung im Hinterkopf haben. Es ging damals um Sein oder Nichtsein für die Kirche.
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3. 2. Akt: Staat und Kirche als Lernprozeß Das Neue Testament hat keine einheitliche Meinung zum Staat. Jesus selber ist der Staat herzlich gleichgültig gewesen. Das geht aus dem Streitgespräch um den Zinsgroschen Markus 12 hervor. Jesus wird ein Silberdenar gegeben. Soll man mit ihm Steuern zahlen oder nicht? Jesus antwortet: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Und: Gebt Gott, was Gottes ist.“ Das ist keine saubere Arbeitsteilung, wie die Auslegungsgeschichte es verstanden hat, vielmehr ein ironischer Parallelismus, wie Martin Dibelius formuliert hat. Jesus will sagen: Ihr handelt doch schon längst mit dem Silberdenar und gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist. Aber gebt ihr auch Gott, was Gottes ist? Der Apostel Paulus ermahnt zur Loyalität gegen den Staat, dessen Willkür er oft kennengelernt hat. Er fordert in Römer 13: „Ordnet euch den örtlichen Behörden, den Magistraten, unter.“ Das ist keine grundsätzliche Äußerung, sondern eine praktische Empfehlung: Haltet euch an die Verkehrsregeln. Sonst kriegt ihr zu Recht ein Knöllchen. In der Offenbarung des Johannes ist der römische Staat, der Christen verfolgt, die große Hure Babylon und eine Macht der Endzeit. Die christlichen Schriftsteller des zweiten Jahrhunderts, die das Christentum gegen ungerechte Angriffe verteidigen, die Apologeten, betonen immer wieder die Loyalität der Christinnen und Christen. Sie beten für den Kaiser. Es gibt ein großes Fürbittengebet im 1 Clem um 100. Doch Christen verweigern sich dem Militärdienst. Ein Soldat darf nicht aufgenommen werden unter die Taufbewerber. Er muß seinen Beruf wechseln. Als die Christen daraufhin angemacht werden, erklärt der größte griechische Theologe Origenes Mitte des dritten Jahrhunderts allen Ernstes: Wenn alle Menschen im Reich Christen wären und für den Kaiser beten würden, dann brauchte der keine Soldaten mehr. So kann sich nur eine Minderheit als Trittbrettfahrer äußern. Unter Konstantin beschließt eine Reichssynode in Arles 314: Soldaten, die im Frieden desertieren, werden aus der Kirche ausgeschlossen. Die
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Kirche wird zur staatstragenden Größe. Und jetzt müssen Kirche und Staat lernen, miteinander umzugehen. Die Kirche wird privilegiert. Die Geistlichen werden von der Steuer befreit. Die Bischöfe werden den hohen Staatsbeamten gleichgestellt. Sie bekommen eine eigene Gerichtsbarkeit. Und sie übernehmen weithin die öffentliche Armenfürsorge. Aber die Kirche muß lernen: Der Kaiser regiert in ihre Streitigkeiten hinein. Glaubensgrundsätze werden zu Staatsgesetzen. Die Kaiser müssen lernen: Die Kirche ist kein so einheitlicher Block, wie es von außen aussieht. Ständig gibt es Lehrstreitigkeiten mit weitreichenden Folgen. Und auch Gewalt hilft nur bedingt. Meist hat die Kirche den längeren Atem. Es ist eine spannende Zeit, die ich leider nicht im Einzelnen vorführen kann. Weil es hier um die großen Linien geht, will ich sie ausziehen. Im Osten läuft es hinaus auf einen Cäsaropapismus. Der Kaiser bestimmt über die Kirche, ist also zugleich auch Papst. Der erwähnte Justinian I., 527 bis 567, wäre ein Musterbeispiel. Die Ostkirchen sprechen hier aber von Symphonia, von einer Übereinstimmung von Kirche und Staat. Und dann gibt es immer noch das Mönchstum als kritische Größe. Im Westen heißt der bestimmende Begriff Theokratie, Gottesherrschaft und in der Praxis Priesterherrschaft. In die Lücke, die der untergehende weströmische Staat hinterlässt, stößt die Kirche hinein. Leo der Große, nach nicht nur meiner Ansicht der erste Papst, 440 bis 461, zieht dem Hunnenkönig Attila entgegen, um Italien von Plünderungen zu verschonen. Er besänftigt auch den Vandalenkönig Geiserich vor der Plünderung Roms. Sie werden vielleicht von der Vandalenausstellung gelesen haben. Das sind nur die Aktivitäten Leos auf politischem Gebiet. Seine überragende kirchenpolitische Bilanz erwähne ich gar nicht. Hier liegen die Grundlagen dafür, dass das Papsttum zur beherrschenden Macht des Mittelalters wird.
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Doch wie es so ist mit geschichtlichen Schlagworten: Sie sind hilfreich zur Orientierung. Aber inzwischen haben zwei Generationen von Historikern daran gearbeitet, diese Orientierungsmarken zu widerlegen oder zu differenzieren. Es ist ihnen gelungen. Aber zur ersten Orientierung ist diese weite Perspektive, die einiges zutreffend charakterisiert, immer noch nützlich.
4. 3. Akt: Der arianische oder trinitätstheologische Streit Von 318/20 bis 381 dauert diese Auseinandersetzung. Über Jahrzehnte ist der gesamte Osten im Aufruhr. Der Westen wird hineingezogen. Die Kaiser mischen sich ein und verkomplizieren den Streit. Der Konstantinsohn Konstantius setzt mit Gewalt eine Kompromißformel durch. Doch nach seinem Tod verliert sie sofort die Bedeutung. Es ist schwierig, einem normalen Menschen heute zu erklären, worum es eigentlich geht und weshalb man so leidenschaftlich gekämpft hat. Ohne griechische Philosophie ist der Konflikt nicht zu erklären. Das Hauptproblem für griechisches Denken im Gefolge Platos ist es, wie der eine, leider unfähige Gott, der eigentlich nicht aussagbar ist, mit dieser vielfältigen und dem Leiden unterworfenen Welt in Verbindung gelangt. Die Antwort heißt: Gottes Weisheit oder sein Wort, seine Vernunft stellt diesen Kontakt zur Welt her. Griechisch heißt Wort und Vernunft Logos. Der Logos ist der Schöpfungsmittler. Sie haben vielleicht den Anfang des Johannesevangeliums im Kopf: Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Wort ist Logos. Der Logos wird mit Jesus Christus gleichgesetzt. Nun erklärt 318/320 der angesehene Presbyter Arius in Alexandrien: Der Logos ist das erste Geschöpf. Er ist einzigartig unter den Geschöpfen. Aber er gehört nicht auf die Seite Gottes, sondern auf die Seite der Geschöpfe. „Es gab eine Zeit, in der er, der Logos, noch nicht war“ lautet eine radikale Formulierung. Das Motiv für Arius ist wahrscheinlich, die Einzigartigkeit Gottes zu sichern.
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Für uns mag es als Belanglosigkeit erscheinen. Doch als Abendländer bekommen wir vielleicht eine Ahnung, wenn wir die Konsequenzen für die Erlösungslehre bedenken. Der Bischof Athanasius von Alexandrien, der große Gegner des Arius und der Hort der Rechtgläubigkeit, erklärt: Die Erlösung ist nur möglich, wenn Gott von außen eingreift, wenn er auf den Menschen zukommt. „Gott wurde Mensch, damit der Mensch vergottet würde“ lautet ein immer wieder vorgebrachter Satz. Erlösung ist im griechischen Sinne Vergottung. Bei Arius ist Jesus Christus dagegen Vorbild. Es kommt darauf an, zu leben wie Jesus. Das ist Voraussetzung für die Erlösung. Zugespitzt wäre das die Selbsterlösung des Menschen. 418/20 bringt Arius seine radikalen Thesen in mehreren Predigten vor. Sein Bischof Alexander geht etwas widerwillig gegen ihn vor. Eine Synode in Alexandrien verurteilt den Arius. Doch der sucht und findet Hilfe bei den Bischöfen des Ostens. Auch Alexander sammelt seine Hilfstruppen. Im Nu ist der ganze Osten in Aufruhr. Konstantin, der 324 Herrscher des Ostens wird, muß eingreifen. Er beruft 325 eine Reichssynode nach Nicäa in den kaiserlichen Palast in die Nähe der Hauptstadt ein (Erstes ökumenisches Konzil). Die Synode formuliert ein Bekenntnis. Das ist noch nicht das Bekenntnis, das hinten im Gesangbuch steht und an hohen kirchlichen Feiertagen im Gottesdienst gesprochen wird. Der Kaiser selber steuert das Stichwort homousios (wesensgleich) bei. Mit seinem Charme und durch eine geschickte Inszenierung schafft Konstantin es, dass die Mehrheit der östlichen Bischöfe das Bekenntnis mit Bauchschmerzen unterschreibt. Der Kaiser hat die Interpretation freigegeben. Ihm geht es um die Einheit der Kirche. Doch Nizäa ist noch nicht das Ende. Der Streit geht weiter. Daß der Sohn Konstantins, Konstantinus, mit einer Kompromißformel scheitert, haben wir schon erwähnt. Am Ende siegt doch die theologische Arbeit. Es sind die drei großen Kappadozier, die den Durchbruch schaffen: Ba-
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silus der Große von Cäsarea, sein etwas älterer Freund Gregor von Nazianz und der jüngere Bruder des Basilius, Gregor von Nyssa. Als nun auch die Politik in Gestalt des Kaisers Theodosius diese Richtung unterstützt, beendet eine Reichssynode in Konstantinopel, das zweite ökumenische Konzil, 381 den Streit. Die Synode verfasst ein Bekenntnis, das als Bekenntnis von Nicäa-Konstantinopel bis heute die Christenheit eint. Das ist auch das Bekenntnis hinten in unserem Gesangbuch. Inhaltlich lautet die Formel der Kappadozier: Ein gemeinsames göttliches Wesen und drei Personen. Den Heiligen Geist hat man im Laufe des Streites auch entdeckt. Die Formel über die Dreieinigkeit hört sich wie etwas seltsame Mathematik an. Ich kann in meinem zeitlichen Rahmen nicht entfalten, daß sehr viel mehr dahinter steckt.
5. 4. Akt: Der christologische Streit Offen ist noch die Frage, wie sich göttliche und menschliche Natur in Jesus Christus verhalten. Diese Frage wird geklärt im christologischen Streit 428 bis 451. Inhaltlich stehen sich zwei theologische Positionen gegenüber. Die alexandrinische Schule betont die Einheit der beiden Naturen. Sie steht allerdings in der Gefahr, daß die menschliche Natur Christi in die göttliche aufgesogen wird. Die antiochenische Schule geht stärker von der Trennung der beiden Naturen aus und betont die menschliche Natur. Hier besteht die Gefahr einer zu starken Trennung. Doch dieser theologische Konflikt wird nun überlagert von einem Kampf der großen Patriarchate. Alexandrien und Rom versuchen das neu aufgekommene Konstantinopel und Antiochien zu demütigen. Dann spielt auch noch das Kaiserhaus hinein mit einem sehr schwachen, lange regierenden Kaiser Theodosius II., den Enkel des großen Theodosius.
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In einer ersten Phase siegen Rom und Alexandrien und zwingen den Patriarchen von Konstantinopel Nestorius zum Rücktritt. Es geht hier um die Bezeichnung Marias als Gottesgebärerin, die Nestorius für mißverständlich gehalten hatte. Er wollte lieber von der Christusgebärerin sprechen. Eine Reichssynode 431 in Ephesus, das dritte ökumenische Konzil, trickst Nestorius und die Antiochener kirchpolitisch aus. Im Rückblick wird es nicht ganz zutreffend als Marienkonzil gefeiert. Allerdings ist die Bezeichnung Gottesgebärerin nun fest verankert. In einer zweiten Phase überzieht Alexandrien maßlos. Nach einer Räubersynode 449 in Ephesus wechselt der römische Bischof Leo der Große die Seiten und unterstützt nun Antiochien und Konstantinopel. Als Theodosius II. vom Pferd fällt und stirbt, übernimmt seine Schwester Pulcheria die Regierung und geht eine Pro-forma-Ehe mit dem Offizier Markian ein. 451 wird in Chalcedon auf dem vierten ökumenischen Konzil eine ausgefeilte Kompromißformel durchgesetzt. Im Westen läuft sie als „wahrer Gott und wahrer Mensch“. Aber tatsächlich umschreibt die dogmatische Erklärung von Chalecedon nur die Zuordnung beider Naturen und lässt das eigentliche Geheimnis offen. Die beiden Naturen sind wieder miteinander vermischt noch scharf getrennt voneinander, so lauten die berühmten negativen Adverbien von Chalcedon 451. Die Mehrheit ist in Chalcedon aber zu dieser Formel gezwungen worden. So meldet sich dann in der ägyptischen und der syrischen Kirche der Protest der Monophysiten, die an der einen Natur Jesu Christi festhalten wollen. Die Kaiser versuchen, die Reichseinheit zu retten. Es läuft letztlich auf eine sehr spitzfindige Interpretation der Formel von Chalcedon hinaus, dem Neuchalcedonismus. Dahinter steht der zu Anfang erwähnte Kaiser Julian, selber ein leidenschaftlicher Hobbytheologe. Doch die Gegner von Chalcedon sind nicht mehr zu gewinnen. Sie lösen sich als östliche Nationalkirchen vom Reich. In der weiteren Geschichte sind sie aber durch den Siegeszug des Islam auf die Verliererseite geraten
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und heute fast museale Gemeinschaften, die aber für ökumenische Gespräche hoch bedeutsam sind. Chalcedon gehört aber auch zum selbstverständlichen Erbe des Westens. Nur in sehr groben Umrissen habe ich Ihnen die sehr komplizierten Abläufe andeuten können. Aber Sie haben hoffentlich einen Gesamtüberblick über die frühe Kirche bekommen, auch wenn ich den Supertheologen Augustin aussparen musste.
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Die Kirche im Mittelalter Gabriele Borger Die Epoche, die wir Mittelalter nennen, ist die weitaus längste in der europäischen Geschichte. Auch wenn über ihre konkrete Abgrenzung Uneinigkeit herrscht, bleiben immer noch mehr als tausend Jahre, die wir mit dem Sammelbegriff Mittelalter benennen. Diese über tausend Jahre sind keineswegs gleichförmig und fassen, auch unter der Maßgabe der Unterteilung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter, durchaus keine gleichmäßige Entwicklung zusammen. Im Gegenteil: Tausend Jahre, tausend Themen. Da gibt es die große Geschichte, sozusagen die offizielle: Päpste, Kriege und Kreuzzüge, Kirchenbauten, Entwicklung der Theologie und die Ausbildung des Mönchtums. Daneben geben Disziplinen wie die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Auskunft über die Lebensformen der ganz normalen Menschen. Aus dieser Fülle greife ich zwei Aspekte heraus, die ganz direkt das konkrete Leben der mittelalterlichen Menschen betreffen: Was glauben sie, und wie gestalten sie ihr frommes Leben? Und zweitens: Wie gehen sie mit den Bedürftigen ihrer Zeit um? Ich gebe Ihnen also einen kleinen Einblick in die Frömmigkeitsgeschichte des Mittelalters und werfe einen Blick auf Aspekte der Diakoniegeschichte. Ich werde mich im Wesentlichen auf das späte Mittelalter beziehen. Frömmigkeitsgeschichte Heilige und Reliquien Ein frommer Mensch des Mittelalters - und fromm waren sie nach heutigen Maßstäben alle - hat sich intensiv mit der Verehrung der Heiligen beschäftigt, er hat täglich mit den Heiligen gelebt. Die Heiligen, historische Personen, die durch ihre besondere Lebensführung bzw. ihr gottesfürchtiges Schicksal zu Lebzeiten aufgefallen sind und nach ihrem Tode
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verehrt wurden, galten als sichtbare und wirkmächtige Verbindung zu Gott, so als hätten sie eine Art Doppelexistenz, die Seele im Himmel und den Leib auf Erden. Man ging davon aus, dass es Menschen gibt, die durch ihre Verdienste, die sie im Laufe ihres Lebens angesammelt haben, vor Gott besser dastehen als andere, und dass diese Menschen nach ihrem Tod ganz besonders nah bei Gott sind. Ausgehend von dem Gedanken der Communio sanctorum, der Gemeinschaft der Heiligen, der wiederum im Wesentlichen auf dem paulinischen Bild der Gemeinde der Gläubigen als einem Leib basiert, bekamen solche Verdienste der Einzelnen Gewicht für die Allgemeinheit. Erst durch seine angesammelten und überschüssigen Verdienste konnte ein Heiliger zum Schutzpatron werden, und als solcher war er in den Gefahren und Wirrnissen des Alltagslebens und in der Sicht auf die Ewigkeit durch das gesamte Mittelalter hindurch höchst gefragt. In Liturgie und persönlicher Frömmigkeit wurden die Heiligen deshalb angerufen, mit ihren Verdiensten „dazwischen zu gehen“, zwischen Mensch und Gott, zwischen Sünde und Vergebung, und als Mittler und Fürsprecher zu fungieren für die, die auf Erden noch in ihrer Sündenschuld lebten. Ihre Macht als Fürsprecher scheint schon vom frühen Mittelalter an unermesslich zu sein, die der Märtyrer zu allererst. Besondere Fürsorge galt der Verehrung der Heiligen an den Stätten ihres irdischen Wirkens, insbesondere deren Grabstätte. Ursprünglich war es wohl sogar so, dass die Heiligen zunächst nur von den Menschen verehrt wurden, in deren Lebensbereich sie gewirkt haben und ihre letzte Ruhestätte fanden. Heiligenkulte waren zunächst strikt ortsgebunden, woran auch heute noch die lokale Bindung mancher Heiligenkulte erinnert. Dazu gab es auch Länderheilige, Länderpatronate, am bekanntesten dürfte das besondere Patronat des Petrus und des Paulus in Rom sein. Heilige wachen über Regionen und Länder, sind Beschützer der dortigen Bevölkerung. Der Heiligenforscher Arnold Angenendt bringt solche Vorstellungen auf eine kurze Formel: Gott beherrscht die Welt, und
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Christus ist der ‚salvator mundi‘; die Heiligen aber wachen über die einzelnen Orte, wo sie jeweils als ‚patronus loci‘ fungieren.1 Macht schon die Ortsgebundenheit der Heiligen das Göttliche begreifbar, so wird dieses durch die mit den Heiligen verbundenen Reliquien vollends für den begrenzten menschlichen Horizont fassbar. Schon in der Alten Kirche wird vereinzelt davon berichtet, wie die sterblichen Überreste der Märtyrer gesammelt und ehrfurchtsvoll behandelt wurden. Die Reliquienverehrung steigerte sich im Laufe des Mittelalters immer mehr. Den Überresten der Heiligen wohnte, so meinte man, eine besondere Kraft inne, die die Heiligen auch zu deren Lebzeiten erfüllte und nach deren Tod für mancherlei wundersame Veränderungen bei den Gläubigen sorgte. Und die brauchten ziemlich viele Wunder. Zwar wird der Mensch als Krone der Schöpfung gesehen, faktisch aber ist er vielfältigen Gefahren in leiblicher und geistlicher Hinsicht ausgesetzt und braucht deshalb wirkmächtigen Schutz für Leib und Seele. Krankheiten wie Malaria, Pocken, Ruhr und schließlich in wütenden Wellen die gefürchtete Pest, die gerade gegen Ende des Mittelalters in nahezu jedem Jahrhundert ihre Opfer suchte, konfrontierten die Menschen unablässig mit dem bevorstehenden Tod. Für Frauen bedeutete zudem jede Geburt akute Lebensgefahr, die Säuglings- und Kindersterblichkeit lag hoch. Hungersnöte und in vielen Schichten der Bevölkerung immer wieder beißende Armut forderten ebenfalls ihren Tribut. Naturgewalten wie Hochwasser, Trockenheit oder Hagel musste man ebenso fürchten wie Feuer und Raub. Heilige und ihre Reliquien halfen. Man konnte sich schon im diesseitigen Leben ein wenig sicherer bewegen, wenn man sich unter ihren Schutz stellte und insbesondere durch Berühren, Küssen oder Umfassen der Knochenreste, Zähne oder Haare der Heiligen sich etwas von deren Kraft aneignete. Reliquien wurden immer beliebter. Besonders im späten Mittelalter stellten die, die es sich leisten konnten, große Sammlungen verschiedener Reliquien zusammen und boten sie dem Volk zu Wall1
Angenendt, Heilige und Reliquien, 128. 37
fahrtszwecken an, natürlich gegen bestimmte Zahlungen. Die größten Sammlungen waren im Besitz der Bischöfe und großen Kirchen, aber auch fromme Herrscher wie Friedrich der Weise, zu Luthers Zeiten Kurfürst von Sachsen, pflegte seine umfangreiche Reliquiensammlung und bot sie seinen Untertanen zur Verehrung an. Im Verlauf des Mittelalters bildete sich immer stärker die Sitte aus, heilige Orte oder eben auch solche Reliquiensammlungen zu besuchen. Man erhoffte sich als Lohn für die Mühen, die man mit der Wallfahrt auf sich nahm, besondere Zuwendungen der heiligen Kraft und berichtete von Wunderheilungen und sichtbarem heiligendem Segen an den Orten der Wallfahrt. Die übersteigerte Frömmigkeit, die sich im späten Mittelalter ausbreitete, führte zu einer beeindruckenden Massenhaftigkeit: In Scharen strömte man an Wallfahrtsorte und fiel in erschöpfte Verzückung angesichts der überströmenden Heiligkeit bestimmter Orte.2 Todesfurcht und Sündenschuld Insbesondere der Reliquienkult kann nicht verstanden werden, wenn man ihn nicht im Zusammenhang mit der Sorge nicht nur um das diesseitige leibliche, sondern vor allem um das jenseitige seelische Heil sieht. Der Tod war allgegenwärtig, und man stellte ihn sich sehr realistisch und bildlich vor - der Sensenmann auf bekannten Holzschnitten zeigt dies ebenso wie die in Stein gehauenen Würmer auf den Grabsteinen der Friedhöfe. Mit dem Tod war man, vor allem im späten Mittelalter, unwiderruflich auch den Strafen für all das ausgesetzt, was man bewusst oder unbewusst sündhaft begangen hat im irdischen Leben. Die Vorstellung von Christus als dem Weltenrichter prägte nicht nur das religiöse Gemüt des späteren Reformatoren Martin Luther, sondern beängstigte auch das Leben vieler seiner Zeitgenossen. Konnte der Tod mich überall ereilen, so war es doch notwendig, sich auf ihn vorbereiten 2
Vgl. dazu Bernd Möller, Frömmigkeit in Deutschland um 1500, in: ARG 56, 1965, 5-31.
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zu können und hinreichend Buße zu tun, möglichst noch auf dem Sterbebett. Eine Flut von Vorbereitungsliteratur sollte auch den Menschen, die nicht lesen konnten, bei dieser persönlichen Vorbereitung helfen, die so genannte Ars moriendi Literatur, eindrucksvolles Beispiel des Versuches, die Todesgefahr mit der großen Sehnsucht nach persönlichem jenseitigem Heil zu verbinden. Die Sorge um das Seelenheil oblag der Kirche, und diese bediente sich zur Erledigung ihrer Aufgaben des Bußsakramentes, das nichts anderes bezeichnen will als den Weg, den ein gläubiger Mensch von der Erkenntnis seiner Sünde bis zur Vergebung gehen muss - und möglichst vollständige Sündenvergebung war nötig, wollte man nicht nach dem Tode in ewigen oder zeitlichen Höllenstrafen liegen. Im Zusammenhang mit der Lossprechung von Sündenstrafen standen bestimmte Leistungen, für die man sich Ablass, Erlass von ewigen Sündenstrafen in unterschiedlicher Höhe verdienen konnte. Neben der Berührung von Reliquien oder dem Besuch von Wallfahrtsorten wurden dazu besonders im ausgehenden Mittelalter auch die Ablassbriefe angeboten und vielfältig genutzt.3 Persönliches Gebet als Reaktion auf Massenhaftigkeit Das Mittelalter, gerade das späte Mittelalter, ist nicht nur eine Zeit der frommen Massenbewegungen, sondern auch der Besinnung auf die ganz persönliche und dennoch in die Gemeinschaft der Gläubigen eingebettete Beziehung des Einzelnen zu Gott. Neben das Phänomen der Massenhaftigkeit tritt ebenso deutlich die Entdeckung der Individualität, und die 3
Im Zusammenhang mit der Reformation und der heftigen und berechtigten Kritik Luthers am spätmittelalterlichen Missbrauch des Bußsakramentes im Ablasshandel ist das eigentliche Anliegen dieser Praxis und das kräftige Bedürfnis der Menschen nach Heil gelegentlich zu stark aus dem Blick geraten. Es ist schwer, sich beschenken zu lassen, wer kann das schon glauben. 39
wiederum zeigt sich besonders schön und deutlich im Gebet. Der bevorzugte Ort für die Entwicklung der Gebetskultur ist im Mittelalter das Kloster. Zur Illustration einer Art von Gebetskultur im späten Mittelalter möchte ich Ihnen einen Text vorstellen, der in eine ganz andere und ungleich zartere Welt entführt, die eben auch „das Mittelalter“ ist. Er stammt aus einem Gebet- und Andachtsbuch, das im Jahr 1525 für eine Frau aus dem Umkreis des Zisterzienserinnenklosters Medingen in der Nordheide geschrieben wurde und heute in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg aufbewahrt wird. Nun werden sie sich vielleicht wundern, warum ich eine Quelle auswähle, deren Entstehungszeit uns eher an die Reformation denken lassen als an das Mittelalter. Das Buch atmet den Geist des Mittelalters und ist von den neuen reformatorischen Gedanken gänzlich unberührt; im Gegenteil, es stellt ein besonders schönes Beispiel mittelalterlicher klösterlicher Gebetskultur dar. Bevor wir uns dem kleinen Textausschnitt widmen, sollten wir wahrnehmen, dass unser Gebetbuch im Zusammenhang mit einer ganzen Menge ähnlicher Dokumente gesehen werden muss, fast jede größere Bibliothek in Europa besitzt in ihren Beständen Gebetbuchhandschriften aus den verschiedensten Regionen, die leider bis heute nicht hinreichend wahrgenommen werden, oft nicht einmal in Katalogen erfasst, geschweige denn ediert sind. Es handelt sich um spirituelle Gebrauchsliteratur aus klösterlichem Umfeld, manchmal für die Mönche oder Nonnen geschrieben, manchmal für Männer und Frauen, die sich im Umfeld der Klöster bewegen und an deren geistlicher Kultur in unterschiedlicher Weise teilhaben. Eine größere Gruppe unter diesen Gebets- und Andachtsbüchern bilden die Handschriften aus den Zisterzienserinnenklöstern Medingen und Wienhausen in der Nordheide, von denen derzeit mindestens 35 bekannt sind. Sie stammen zum größten Teil aus der Zeit zwischen 1475 und 1525, also aus dem ausgehenden Mittelalter. Die Handschriften beinhalten Textsammlungen mit Gebeten und Liedern aus sehr unterschiedlichen Zeiten und bewahren damit sowohl traditio-
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nelles (schwer genau zu datierendes) Material als auch lokale Neuschöpfungen auf. Sie sind durchwegs zweisprachig, also entweder mit einem überwiegenden Teil lateinischer Texte mit deutschen Einsprengseln oder mit einem weitgehend durchlaufenden mittelniederdeutschen Text, der von lateinischen Versatzstücken durchbrochen ist - einen Text solcher Art sehen wir uns gleich an. Die Bücher sind klein und handlich, sind also nicht als liturgisches Altarbuch gedacht wie etwa dieses Exemplar aus dem benachbarten Calenberger Kloster Mariensee. Viele der Medinger Büchlein weisen reiche Benutzungsspuren auf, so dass wir davon ausgehen können, dass sie tatsächlich als Begleiter der klösterlichen Frauen fungiert haben - gelegentlich finden sich am Ende der Handschriften Listen, die die Weitergabe im Hause dokumentieren. Thematisch behandeln die Büchlein immer geschlossene Festkreise des Kirchenjahres. Die überwiegende Mehrheit der Medinger Bücher befasst sich mit dem Oster- und Pfingstkreis, und auch das hier vorgestellte Buch führt durch die Ostertage. An dieser thematischen Zentrierung kann man schon erkennen, dass die Bücher streng liturgisch angeordnet sind. Im Falle der überwiegend deutsch gehaltenen Bücher sieht das dann so aus: In den lateinischen Texten, die meistens rot angesetzt sind, und oft mit geschmückten Initialen versehen sind, werden Teile der Messliturgie der jeweiligen Gottesdienste und Horen aufgenommen, sehr oft lediglich die Anfangsteile. In deren Anschluss finden sich dann inhaltlich passende Meditationen oder Gebete in deutscher Sprache. Sie haben unterschiedliche Längen: Ganz kurze Texte, die wie deutsche Erklärungen des liturgischen Geschehens wirken, wechseln sich ab mit längeren Passagen, die jeweils Themen aus dem Gottesdienst aufnehmen.4 4
Für die Hymnologie sind die Medinger Gebetbücher von besonderem Interesse und insgesamt auch eher wahrgenommen als von der Theologie, zumal der evangelischen. Sie beinhalten nämlich mindestens Ansätze zum deutschen Gemeindelied im Rahmen der lateinischen Messe. Ein solches Gemeindelied stellt beispielsweise das Osterlied EG 100 41
Um diese Art, ganz nah am gottesdienstlichen Geschehen und doch äußerst privat zu beten, zu veranschaulichen, sei an dieser Stelle ein Beispiel vorgestellt, das aus einem Medinger Osterorationale stammt. Mit ihm befinden wir uns in der ersten Messe am Ostersonntag, direkt vor dem Empfang der Eucharistie, die an diesem Tag einen besonders hohen Stellenwert in der Frömmigkeit innehatte. Vor dem genannten Text, den ich nur in Ansätzen erläutern möchte, da er für sich spricht, befindet sich ein Gebet zu Christus.5 >Dar na wan du horest dat men klinget mit den clocken iegen de tokumpst des groten koninges sla up de ogen dines herten< unn see an dat snee witte Pasche lemmeken dat dar wart gedra>gen an den henden des presters unn sprik in groter vrolicheyt.< Warliken nu sint de Paschelken hochtide dar ane du unschuldige lemmeken bist gedodet unn uns so lustich gemaket iegen dessen vroliken Osterdach Du bist dat unschuldige lemmeken dat up sik namen heft de sunde der werlt unn vullenkommen beteringe vor uns gedan do du vor uns wordest geoffert dinen hemmelschen vadere in den galgen des cruces Dar sunte Pawel de uterkoren apostel uns so vroliken to ladet unn secht Christus unse ware Pasche lemmeken is geoffert vor uns in den galgen des cruces dar: Wir wollen alle fröhlich sein. Es wurde in der ersten Messe des Ostersonntags gesungen, und zwar an liturgisch entscheidender Stelle. Die Klöster waren damit ziemlich modern, indem sie die strenge Latinität der klösterlichen Gottesdienste schon lange vor der Reformation durch den Gebrauch des deutschen Gemeindeliedes durchbrachen und zudem für eine innere und äußere Beteiligung der „Gemeinde“ sorgten. Vgl. Kiedl. 5 Zum Folgenden s. Gebetbuch aus dem Kloster Medingen, 1525, SUB HH cod theol 2199, 90r-91v. Die rot gehaltenen Textpassagen sind durch Klammern gekennzeichnet (>Wan du nalest den altare so denck an dinen herten.< Warliken nu vorneme ik dat de ware Osterdach Christus Jesus mi entiegen blenckert den min herte unn sele so lange begert hefft Din wunsame schin mote nu vorlüchten mines hertens schrin dat ik di mit vroude unn soticheit mote entfangen Amen. >Wan di de prester dat hilge sacrament gifft unn secht< De licham unses heren Jesu Christi vrome di in dat ewige levent >So denck in dinen herten< See ik bin en maget des heren mi sche na dinen worden Die kleinen Gebetbücher dienten ihren Benutzerinnen als ständige Begleiter, und zwar sowohl zur Nutzung während des Gottesdienstes - deshalb der enge Anschluss an dessen Ablauf und an die dort genutzten liturgischen Texte - als auch zur persönlichen Meditation zwischen den Gottesdienstzeiten und Stundengebeten. Die Frauen, für die sie bestimmt waren, sollten befähigt werden, dem Gottesdienstgeschehen selbständig mit innerer Teilnahme zu folgen und die Zeiten dazwischen ebenfalls zur inneren Suche nach Gott zu nutzen. Der vorwiegend deutsch gehaltene Text sowie vereinzelte Widmungen und Besitznotizen vermuten, dass es sich bei der Zielgruppe dieser deutschen Büchlein eher um Frauen aus dem Umkreis der Klöster handelt als um die Nonnen selbst6: Frauen aus dem gebildeten Bürgertum der reichen Salzstadt Lüneburg oder adlige
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Für die lateinischen Bücher gilt dies eher nicht. 43
Damen, die sich der persönlichen Frömmigkeit im bergenden Schatten des benachbarten Klosters widmen wollten. Was das Verständnis von persönlicher Frömmigkeit betrifft, so zeigen diese Gebetbücher neben dem zweifellos erzieherischen Anliegen, den Gottesdienstablauf persönlich nachvollziehbar zu machen, zweierlei: Das persönliche Gebet bleibt verankert im gemeinschaftlichen Gottesdienst. So sehr wir auch mystische Anklänge in den Texten finden, so zeigen sie doch nicht eine frei schwebende, sondern vielmehr eine gemeinschaftlich erlebte und dennoch sehr persönlich vollzogene Frömmigkeit. (Das mag eine Anregung für unsere Frömmigkeitspraxis heute sein: Gerade in der Teilnahme an liturgisch verlässlichen Gottesdiensten ereignet sich eine Belebung der ganz persönlichen Frömmigkeit. Gemeinschaft und Individualismus sind nicht nur im Mittelalter Geschwister. Zum anderen bebildern die Büchlein das Wissen, dass die Liturgie nicht als starre Vorgabe verstanden werden will, sondern als organisches Geschehen, als innerlich nachvollziehbare Bewegung. Diakoniegeschichtliche Aspekte Nach der Frage, was der mittelalterliche Mensch für sein eigenes Seelenheil tut und wie er seine Frömmigkeit lebt, wenden wir uns kurz auch der Frage der praktizierten Nächstenliebe zu: Wie begegnet der mittelalterliche Mensch dem, der noch weniger hat als er selbst? Wie sieht er Armut, wer ist zuständig für die Sorge um die Bedürftigen - und warum? Schon gleich zu Beginn des Mittelalters entsteht durch den Zusammenbruch des Römischen Reiches, durch Völkerwanderungen und durch ein erhöhtes Bevölkerungswachstum eine gesellschaftliche Situation, in der Armut zum ersten Mal regelrecht zu einem Massenphänomen wird. Der Mittelalterforscher Arnold Angenendt zeichnet ein gruseliges Bild vom Straßenbild in Stadt und Land, indem er von einem „Heer von Heruntergekommenen“ spricht, „deren Leben zutreffend nur als vegetieren bezeichnet werden kann: übelriechend, mit Geschwüren bedeckt, von
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Gebrechen entstellt und notgedrungen zudringlich.“7 Man entwickelte Strategien, sich diese Bedürftigen vom Leib zu halten, erschlagen auch von der überwältigenden Menge an extrem Armen und mutlos durch die Ausweglosigkeit der Situation. Armut schien ein Schicksal zu sein, unabänderlich. Gab es in der Alten Kirche erste Ansätze einer umfassenden Bedürftigenpflege von Seiten des Bischofsamtes, so klaffte mit der zunehmenden Not in der Bevölkerung eine Lücke, die schließlich der Benediktinerorden und mit ihm das Mönchtum überhaupt auszufüllen versuchte. Das Mönchtum wird zum bedeutendsten Träger der Diakonie im gesamten Mittelalter, und der Zusammenhang von Mönchtum und Diakonie ist in dem mönchischen Leitmotiv zu sehen, das besagt, dass ein Mensch in dem Armen Christus selbst begegnet und um Christi willen selbst zum Armen, zum ‚pauper Christi‘ werden soll, als freiwillig Armer sich den unfreiwillig Armen zuwendend. Die Armenfürsorge ist ganz eng liturgisch ausgestaltet - von der Aufnahme des Bedürftigen über die besondere Fürsorge an bestimmten Heiligentagen bis hin zu feierlichen Fußwaschungen in bestimmten Gottesdiensten. Die Verknüpfung von Spiritualität und Diakonie, von persönlicher Frömmigkeit und gesellschaftlichem Handeln, ist hier besonders einleuchtend zu sehen. Zugleich ist festzuhalten, dass die als durchaus notwendig erkannte Armenfürsorge sozusagen stellvertretend für die gesamte Christenheit den Klöstern zugeschoben wird - solange hier Nächstenliebe praktiziert wird, ist insgesamt für das Wohl der Christenheit gesorgt (vgl. das unablässige Gebet). Bleibt die Armenfürsorge und damit ein bedeutender Teil der tätigen Nächstenliebe ein besonderes Kennzeichen der Klöster (auch der Frauenklöster), so ist im Verlauf des Mittelalters auch festzustellen, dass sich der Zug zur Individualisierung auch in der Entwicklung eines individuellen Almosenwesens abzeichnet. Diese Entwicklung ist in verschiedenen geistesgeschichtlichen und sozialen Umwälzungen begründet, von denen nur einige hier genannt werden können: Zum einen ist im hohen Mittel7
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alter ein erneuter Zuzug in die Städte festzustellen, in dessen Folge in der zunehmenden Enge der Städte und verbunden mit wirtschaftlichen Veränderungen wie z.B. dem Wechsel von der Agrarwirtschaft zur Geldwirtschaft und zur Ausweitung des Handels sich neben der Steigerung des Wohlstands für manche Bevölkerungsteile auch eine Abdrängung der sozial Leidenden bis hin zur Stigmatisierung entwickelt. Die Klöster, meist an abgelegenen Orten gelegen, können zum einen die Fülle der Notleidenden nicht mehr bewältigen und erreichen zum anderen viele von ihnen gar nicht, weil diese in den Städten leben und wenig Bewegungsspielraum haben. Gerade die besonders stark ausgegrenzten Menschen, Prostituierte, Ausgestoßene, bleiben von der klösterlichen Fürsorge unerreicht. Langsam bildet sich auf diesem Hintergrund in den abgesicherten Schichten der städtischen Bevölkerung eine Veränderung in der Haltung dem Armen gegenüber aus. Man beginnt auch ganz individuell auf Motive christlicher Nächstenliebe zurückzugreifen und betrachtet es als Pflicht, wohltätig zu sein. Gutsituierte Bürger, die es sich leisten können, haben also von ihrem Wohlstand denen abzugeben, denen es schlecht geht. Die Individualisierung dieses Vorgangs geht dabei so weit, dass die Gabe selbst ganz eng mit der Person des Spenders verbunden wird: Letztlich kommt es nämlich ihm selbst zugute, mit der Gabe des Almosens ein gutes Werk getan zu haben, zum einen aufgrund der Verdienstlichkeit seines Tuns, zum anderen weil der Bedürftige im Tausch auf den Empfang der materiellen Hilfeleistung damit antwortet, dass er für den Spender betet. In diesem Grundgedanken ist auch das sich im Laufe des Mittelalters immer weiter ausbildende Stiftungswesen zu verstehen. Der Empfänger wird sozusagen instrumentalisiert und dient letztlich dem Seelenheil dessen, der sich Wohltätigkeit leisten kann. Solche Haltung wird nicht erst in der Reformationszeit kritisiert. Obwohl durchaus gängig, bleibt diese Form der Almosenpraxis nicht die einzige Antwort auf zunehmende Armut im hohen und späten Mittelalter. Paral-
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lel zu dieser individuellen Form entwickeln sich neue Orden und ordensähnliche Gemeinschaften von Männern oder Frauen als Träger diakonischer Praxis - die Spitalorden, die sich vorwiegend den Kranken zuwenden, und vor allem die Bettelorden, Dominikaner, Franziskaner, Karmeliter und Augustinereremiten. Besitzlosigkeit und Machtverzicht sind hier Programm, auch als Reaktion auf einen beobachteten Verfall ursprünglicher mönchischer Ideale wie freiwillige Armut in den herkömmlichen Orden. Die Mendikanten verstehen die eigene Armut als Christusnachfolge. Anders als die älteren Orden begeben sie sich bewusst in die Elendsquartiere der Städte, um mit den Armen zusammenzuleben und im Teilen deren Not zu lindern. Seelsorgerliche Aspekte haben dabei denselben Rang wie materielle Hilfe. Damit ist jede Möglichkeit, die Armen für das eigene Wohl zu instrumentalisieren, ausgeschlossen, und in der Bevölkerung wird gerade dieser Zug durchaus als Besonderheit wahrgenommen und geschätzt. Durch die wertschätzende Haltung dem Menschen, der Person des Armen gegenüber,8 und durch die wertschätzende Seelsorge gewinnen die Angehörigen der Bettelorden Glaubwürdigkeit und eine gesellschaftliche Kraft, die Armut als ein Phänomen in das Bewusstsein der Christenheit bringt, das nicht abzuschieben ist.9 Schluß Frömmigkeit und Diakonie, Spiritualität und Tätigkeit für die Benachteiligten einer Gesellschaft gehören im christlichen Kontext von jeher zusammen (und nicht nur dort - dieser Zusammenhang kann durchaus als ein spezifisches Phänomen der großen Religionen gelten). Im Mittelalter ist dies besonders deutlich in der Betrachtung des Mönchtums und seines Umfelds zu erkennen, das, wie wir sehen konnten, zugleich als Träger von Kultur und Herzensbildung fungiert. Vielleicht können auch in der 8
Übrigens ist Martin Luther Augustinereremit. Natürlich entwickelt sich auch im Zusammenhang der Bettelorden Missbrauch.
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Gegenwart von hier aus Impulse für die Gestaltung unseres kirchlichen Lebens, für die von vielen Seiten herbeigesehnte Belebung unserer Gemeinden und Gemeinschaften ausgehen.
Literatur: Arnold Angenendt, Das Frühmittelalter, Stuttgart 3. Auflage 2001 Ders., Heilige und Reliquien, München 1994 Horst Fuhrmann, Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter, Göttingen 2. Aufl. 1983 Ders., Einladung ins Mittelalter, München 3. Auflage 1988 Herbert Haslinger, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn u.a. 2009 Bernd Möller, ARG 56, 1965, 5-31
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Kirche in der Reformation 12 Thesen zur Bedeutung Luthers für die Zukunft10 Hans Christian Knuth »Herkunft aber bleibt stets Zukunft.« Mit diesem Satz fasst Martin Heidegger zusammen, was ich hier vermitteln möchte. Luthers Theologie und Philosophie, sein Kirchenbild und seine Verortung der Kirche in der Welt sind genau das, was wir in der gegenwärtigen Erfahrung der Krise des Glaubens und der Kirche brauchen. Sie sind mehr denn je gefragt, wenn es um die Zukunft der Kirche geht. Vorbei die Zeiten, in denen man meinte, man wäre über ihn hinaus. Wir haben ihn nur noch nicht eingeholt. Gerade die schweren kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um die Zukunft der Lutherischen Kirche innerhalb der EKD und der weltweiten Ökumene haben eines immer deutlicher gemacht: an Luther scheiden sich auch in Zukunft die Geister und ebenso die Wege der Kirchen. Nicht um Theologengezänk oder den Disput der Gelehrten geht es. Es geht um die Zukunft des Glaubens, der Kirche und des Menschen. Tat oder Wort, Haben oder Sein, Geld oder Geist, Erfahrung oder Glauben – das sind nur einige der Themen, die sein Denken provoziert. Und Luther beweist immer wieder, dass er zu den fundamentalen Fragen in Kirche und Gesellschaft Neues, Überraschendes, Unverzichtbares gesagt hat. Das hängt natürlich damit zu10
Dieser Vortrag ist bereits unter dem Titel ‚In Zukunft Luther. 12 Thesen zur Bedeutung Luthers für die Zukunft. Die bleibenden theologischen Aufgaben der VELKD’ in dem Buch: Hans Christian Knuth, In Zukunft Luther. Gesammelte Texte des Leitenden Bischofs der VELKD. Aus Anlass des 65. Geburtstags zusammengestellt und eingeleitet von Redlef Neubert-Stegemann und Claudia Aue, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005, erschienen (S. 12-38). Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Gütersloher Verlagshauses. 49
sammen, dass er das Wesentliche, was er seiner Zeit und uns zu sagen hat, aus der Bibel geschöpft hat. Wer meint, ihn in der Vergangenheit einsargen zu können, übersieht die unglaubliche Vitalität und Aktualität dieses Mannes. Man mag streiten über die Vergänglichkeit von Bildern und Interpretationen, die er gefunden hat. Er selbst wird sich immer wieder durchsetzen gegenüber seinen Verehrern und Gegnern. Das wird allerdings nicht überall so gesehen. Der renommierte Lutherforscher, Bernhard Lohse, schließt die Vorstellung seines Lutherbuches11 mit der Feststellung: »Luther gehört ins 16. Jahrhundert – und da soll er auch bleiben!« Die hier vorgelegten Texte sollen das Gegenteil beweisen. Luther lebte zwar im 16. Jahrhundert, aber wir haben ihn noch immer nicht eingeholt, er »ist uns weit voraus!« (Horst Hirschler). Luther kann schon deswegen nicht im 16. Jahrhundert bleiben, weil er uns so lebendig berührt, weil er mehr als alle anderen nach ihm das Herz anspricht, den Verstand beflügelt, für viele Probleme bereits Lösungen anbietet, die wir überhaupt erst allmählich in den Blick bekommen. Im Folgenden wird die Grundthese entfaltet, dass Luthers Theologie Quelle und Orientierung zukünftiger Theologie und Kirche ist. Dabei meint der Zukunftsbezug nicht eine Verengung auf Luthers Theologie oder auf die Sicht der nach Luther sich nennenden Kirchen allein. Wohl aber die Zuspitzung, dass eine Theologie und Kirche ohne den selbstkritischen Bezug auf Luther kaum eine Zukunft haben dürfte. Es liegt tief in der innersten Struktur dieses Denkens begründet, dass es immer zeitlich auf die jeweils aktuelle gesellschaftliche und kirchliche Situation bezogen werden kann. Darum werden hier Strukturfragen zum Verhältnis der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ebenso erörtert wie grundsätzliche theologische oder ökumenische und ethische Probleme. Es ist immer wieder überraschend, wie aktuell Luthers Denken ist in den unterschiedlichsten Herausforderungen unserer Kirche: im 11
Bernhard Lohse, Die neue Darstellung der Theologie Luthers, Münsterschwarzach 1996, S. 23.
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Gespräch mit der Philosophie, den Humanwissenschaften, der Politik und den Schwesterkirchen in der Ökumene. Auch der Humor kommt nicht zu kurz. Dabei geht es nicht um eine pflichtgemäße Beachtung der Tradition, vielmehr um die befreiende Wahrnehmung, dass diese Theologie trotz ihrer reichen Vergangenheit eine immer noch uneingeholte Zukunft hat. Als Student und später Pastor in einer Großstadtgemeinde und in ganz unterschiedlichen kirchlichen Ämtern und schließlich auch als Bischof und Leitender Bischof der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands erschlossen sich mir immer neue Aspekte seines Wirkens. Dies ist ein kleiner Spiegel der weit gefächerten Wirkungsgeschichte von Luthers Werk, wie es sich mir erschloss. Nicht zuletzt das Ringen um die zukünftige Gestalt der Lutherischen Kirche zeigt, dass die intensive Aufnahme lutherischer Impulse und Kriterien unverzichtbar ist auf dem Weg der Kirche in die Zukunft. Es wird darum im Folgenden ausgegangen von der Strukturreform der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelischen Kirche in Deutschland, dann werden theologische Grundlagen angesprochen und nach den konfessionellen und ökumenischen Vergewisserungen ethische Fragen erörtert – ein Zusammenhang, wie er sich fast jeden Tag im Alltag kirchenleitenden Handelns ergibt. Das ist ja das Faszinierende an Luthers Theologie, dass sie in den verschiedensten Denk- und Lebensbereichen relevant ist und dass sie erlaubt und ermöglicht, die Praxis theologisch zu reflektieren und die Theologie in die Praxis umzusetzen. Theologie und Kirchenleitung sind in besonderer Weise herausgefordert im aktuellen Strukturprozess der EKD. Darum sei damit begonnen.
Zur Diskussion über das Verhältnis von VELKD und EKD Als der Präsident des Landeskirchenamts der Landeskirche von Hannover, Dr. Eckhard von Vietinghoff, im Januar 2002 der überraschten Öf-
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fentlichkeit eine radikale Strukturreform der EKD vorschlug, ging er noch davon aus, dass es im Jahr 2006 die konfessionellen Zusammenschlüsse innerhalb der EKD nicht mehr geben werde: »Dann gibt es nur noch einen einzigen überregionalen Zusammenschluss: die in sich flexibel differenzierbare Evangelische Kirche in Deutschland.« Dieser Angriff führte glücklicherweise nicht zum Erfolg. Er setzte aber eine intensive öffentliche und kirchliche Debatte in Gang, die von Bekenntnisfragen bis zu Finanzfragen erhebliche Differenzen offenbarte. – Die ausführliche Diskussion ist in den »Dokumentationen« des Evangelischen Pressedienstes fortlaufend festgehalten. – Von Vietinghoffs Vorstoß endete mit dem Abschluss von Verträgen, die die EKD mit der VELKD und der Union Evangelischer Kirchen paraphierte, in denen jedenfalls der Fortbestand der VELKD ein für alle Mal abgesichert wird. Als so genanntes »Verbindungsmodell« wurden zwar alle denkbaren Formen der engen Zusammenarbeit der bestehenden überregionalen Zusammenschlüsse geprüft, die besondere Qualität der Gemeinschaft der VELKD auf der Basis eines gemeinsamen Bekenntnisses aber blieb erhalten. Die intensive theologische und kirchenpolitische Diskussion hat die Bedeutung eines gemeinsamen Bekenntnisses für die Identität von Kirche und kirchlichen Zusammenschlüssen entschieden unterstrichen. Der nunmehr den Gliedkirchen zugeleitete Kooperationsvertrag sieht eine Vielzahl von Synergieeffekten vor, beachtet aber die theologisch differenten Ausgangspositionen. Es wird weiter eine Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands geben mit Generalsynode, Kirchenleitung, Bischofskonferenz, Leitendem Bischof und Lutherischem Kirchenamt. Die Synodalen der Generalsynode der VELKD werden die EKD-Synodalen der Lutherischen Kirchen sein. Der Präsident des Lutherischen Kirchenamts wird zusätzlich theologischer Vizepräsident des Kirchenamts der EKD. Die Referenten des Lutherischen Kirchenamts werden auch zukünftig für das Deutsche Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes tätig sein und – wenn erforderlich – auch im Kirchenamt der EKD mitwirken. Es wird Synergieeffekte geben, aber keine Fu-
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sion, Kooperation zweier selbständiger Partner, aber keine Integration, Verbindung, aber keine Verschmelzung. Selbstverständlich bleibt auch die Bekenntnisidentität der Lutherischen Landeskirchen unberührt sowie ihre Mitgliedschaft im Lutherischen Weltbund. Die Frage der zukünftigen Bekenntnisgrundlage der EKD ist nun mit ganz neuer Dringlichkeit gestellt. Die Theologische Erklärung von Barmen und die Leuenberger Konkordie sind nach ihrem eigenen Selbstverständnis jedenfalls keine Bekenntnisgrundlage und können es auch von ihrer inneren Struktur her nicht sein. Die Synode von Barmen ermahnt zur Rückbesinnung auf die grundlegenden Bekenntnisse, Leuenberg regelt die Beziehung bekenntnisverschiedener Kirchen. Beide Dokumente setzen eine klare Bekenntnisgrundlage der einzelnen Kirchen voraus. Wenn die EKD das Lutherische Bekenntnis von Augsburg zu ihrer Grundlage machen würde, das in weitaus mehr als der Hälfte ihrer Gliedkirchen ohnehin im Bekenntnisbestand enthalten ist, wäre dieses Problem wenigstens gelöst. Die Strukturreform der EKD bietet nun die Möglichkeit einer unmittelbaren Mitwirkung der VELKD bei den Entscheidungen der EKD. Das war bisher nur indirekt über die Landeskirchen oder über kirchenleitende Personen der Fall. Es kommt nun alles darauf an, dass die Chancen dieses Prozesses für das Luthertum wahrgenommen werden. Die Schwesterkirchen aus dem weltweiten Luthertum mahnen und ermutigen die deutschen Lutheraner, beharrlich und gründlich daran zu arbeiten, dass im Mutterland der Reformation die lutherische Stimme klar und deutlich zu hören bleibt. Am Ende wird – so kann man hoffen – nicht die Macht der Zahlen, sondern die Vollmacht des Geistes entscheiden.
Luthers Theologie als Überlieferung und Auftrag In zwölf Thesen möchte ich erinnernd festhalten, was wir auf Grund der geschichtlichen und theologischen Leistungen der Reformationszeit als
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Orientierungsrahmen für die Selbstvergewisserung der evangelischen Kirchen anerkennen sollten. Luther hat zweifellos in einzigartiger Weise das neuzeitliche Denken initiiert und geprägt; seine klaren theologischen Akzente sind auch für uns immer noch Anstoß und Chance für die Identitätsfindungsprozesse, in denen sich unsere Kirchen heute befinden. In ihrer kritisch-dialektischen und selbstreflexiven Struktur ist die lutherische Denk- und Glaubensweise für den Protestantismus unaufgebbar; sie darf in dem Streben nach »Eindeutigkeit« der »Positionen« »der Kirche« (im Sinne einer Medienpräsenz als eingängige »Marke« der Institution) nicht untergehen, sondern sollte diese vielmehr selbstbewusst bestimmen.
These 1: Luthers Theologie ist ökumenisch, weil sie sich allein durch Jesus Christus leiten lässt. Jesus Christus ist der Grund der Kirche. Dies ist das Urbekenntnis aller christlichen Kirchen. Die historisch gewachsenen Unterschiede und Ausdifferenzierungen dürften von daher gesehen kein Grund für Kirchentrennungen sein. Menschliche Traditionen und menschliche Differenzen müssen nicht zerstört werden. Sie haben ihren eigenen Wert. Aber in der Unterscheidung von Grund und Gestalt der Kirche verweisen die verschiedenen Gestaltungsformen und Strukturen immer wieder auf den einen Grund, der die Unterschiede nicht aufhebt, aber genauso wenig zur Trennung werden lässt. Versöhnte Verschiedenheit hat der Lutherische Weltbund das genannt. Einheit in der Vielfalt kann man es nennen. In Luthers Theologie wird immer unterschieden zwischen Jesus Christus als dem Haupt der Kirche und der Kirche als dem Leib Christi, oder zwischen dem Wort Gottes und seiner Auslegung, zwischen dem Grund der Kirche, dem Grund des Glaubens und dem Inhalt des Glaubens. Und in dieser Unterscheidung, die doch nie trennt, was zusammengehört, liegt die Möglichkeit, die eine Kirche, den einen Leib Christi
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zu glauben, auch wenn es in der Erfahrung und im Schauen noch immer schwer fällt, die Einheit zu sehen. Die Ökumenizität der Kirche ist in der heutigen Zeit das Zukunftsweisende. Seit 1054 gibt es die große Spaltung der Christenheit in die Ostkirche und die Westkirche. Und dann hat sich noch einmal 1517 mit dem Thesenanschlag die westliche Kirche in die evangelische und die katholische Kirche geteilt, und dann sind im 19. Jahrhundert die vielen, vielen, auch evangelischen Konfessionen hinzugekommen. So gibt es heute Baptisten, Methodisten und Pfingstler, auch die Anglikaner gehören dazu und viele andere. Im 20. Jahrhundert jedoch fragt man nicht mehr so hartnäckig danach, was uns trennt, sondern danach, was uns verbindet. Und gerade das Luthertum, gerade die Kirchen, die sich an Luther orientieren, haben diese wunderbare Formulierung gefunden von der »Versöhnten Verschiedenheit«. Das geht zurück auf unsere Bekenntnisschriften, den 7. Artikel des Augsburgischen Bekenntnisses, in dem formuliert wird, dass es zur wahren Einheit der Kirche genügt, dass das Evangelium einträchtig verkündigt wird und die Sakramente dem Evangelium gemäß dargereicht werden. Mehr ist zur Einheit der Kirche nicht notwendig. Keine sakrosankte Kirchenverfassung, kein unfehlbares Lehramt, keine bischöfliche Sukzession. Weil die Lutheraner ganz präzise sich beziehen auf das, was zum Sein der Kirche unverzichtbar ist, deswegen können sie mit verschiedenen Strukturen leben. Sie können synodal verfasst sein, aber auch bischöflich. Sie können auch in einer Mischung aus synodaler und bischöflicher Leitung existieren. Das alles gehört nicht in den Bereich der Lehre vom Grund der Kirche, sondern – wie es die Kirchenstudie der Leuenberger Kirchengemeinschaft festgestellt hat – in der Unterscheidung von Grund und Gestalt der Kirche (oder aber auch von Grund und Inhalt des Glaubens) gibt es eine erhebliche Differenzierungsmöglichkeit in den Konsequenzen, wenn denn klar bleibt, was den Grund der Kirche ausmacht.
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Das ökumenische Potenzial des Luthertums liegt in dieser vom Lutherischen Weltbund 1977 in Daressalam beschlossenen Formulierung, der ökumenischen Schlüsselformulierung »Versöhnte Verschiedenheit«. Diese Konzeption scheint sich auch immer mehr durchzusetzen, sodass sogar in kirchenoffiziellen Dokumenten aus Rom diese Formel Verwendung findet. In dem wichtigen ökumenischen Papier, das gemeinsam mit der katholischen Kirche über die Rechtfertigungslehre beschlossen wurde, ist die Rede vom »differenzierten Konsens«. Man stellt fest, wo man einig ist, und dann urteilt man nüchtern, dass es noch Bereiche gibt, wo man verschieden ist, differenziert, aber diese Differenzierungen stellen den Grundkonsens nicht grundsätzlich in Frage. Der Begriff des differenzierten Konsenses entspricht in der Lehre dem, was die versöhnte Verschiedenheit meint. Und dies wiederum geht zurück auf den grundlegenden Satz, dass es genügt zur wahren Einheit der Kirche, das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente evangeliumsgemäß darzureichen. Dem steht die so genannte »Rückkehrökumene« entgegen, die davon ausgeht, dass die Weltchristenheit sich insgesamt nach Rom orientiert. Jedoch ist dieses ursprünglich römische Einheitsmodell nicht mehr durchzusetzen. Der Weltrat der Kirchen hat das Modell der »Konziliarität« entwickelt. Man stimmt darin überein, dass das Ideal ein Konzil aller Konfessionen wäre, die dann mehr oder weniger eine Synodalgemeinsamkeit herstellen. Aber in der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), in der in der Tat die Orthodoxen, die Anglikaner, die Methodisten, die Baptisten, die Lutheraner und andere zusammenwirken, zeigt sich, dass man diese Einheit möglicherweise in ethischen Fragen herstellen kann, jedenfalls in Europa, aber nicht in den grundlegenden dogmatischen Fragen. Denn bei aller Kritik an der katholischen Kirche deswegen, weil sie uns nicht die eucharistische Gastfreundschaft gewährt: die Orthodoxen tun es auch nicht. Das wird in der Diskussion gerne vergessen, und da entstehen die gleichen Schwierigkeiten wie mit der römisch-katholischen Kirche. Die
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Gemeinsamkeiten beziehen sich mehr auf ethische Fragen, obwohl auch hier sich große Gräben auftun, und vor allem auf eine gemeinsame Interessenvertretung im kommenden Europa. Aber wir Lutheraner streben die Einheit an im Herzstück unserer Kirche, in der Abendmahlsgemeinschaft. Nur da, wo Abendmahlsgemeinschaft ist und praktiziert wird, ist wirkliche Kirchengemeinschaft gegeben. Deshalb hat die Lutherische Bischofskonferenz nicht zufällig eingeladen zur eucharistischen Gastfreundschaft. Nach lutherischer Anschauung ist es letzten Endes nicht die Kirche, die einlädt zum Abendmahl, sondern der auferstandene Christus selber. Und deswegen wird niemand zurückgewiesen, der sich beruft auf Jesus Christus und der getauft ist. Sie alle sind eingeladen zum Abendmahl. Es ergibt sich also als überraschendes Ergebnis, dass gerade die Konzentration, dass Christus allein der Grund der Kirche ist, eine größtmögliche Offenheit und Weite zur Ausdifferenzierung und zur Variabilität von Kirche ermöglicht.
These 2: Luthers Theologie ist kritisch, weil Christus als der Gekreuzigte im Mittelpunkt steht. Gemessen an einer Theologie des Kreuzes sind alle weltlichen Institutionen, auch alle kirchlichen Ordnungen, alle Strukturen, auch alle Ämterstrukturen, alles, was wir als Menschen leisten können und darstellen können, vor dem Kreuz radikal relativiert. Das Kreuz ist einerseits das Gericht gegenüber allen weltlichen Institutionen und weltlichen Hervorbringungen, Ordnungen und Weltbildern. Das Kreuz ist aber nicht der Endpunkt, der Glaube ist ja kein Nihilismus, sodass man sagt, alles ist eitel, nichts hat Bestand. Sondern durch das Kreuz hindurch glaubt der Christ die Auferstehung des Gekreuzigten! Deswegen ist Luthers Theologie einerseits kritisch, und immer wieder das Markenzeichen und der zentrale Ausgangspunkt der reformatorischen Theologie, andererseits
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aber bleibt es nicht bei der Anschauung des Gekreuzigten, sondern durch das Kreuz und am Kreuz hat Luther immer (z. B. in seinen wunderbaren Osterpredigten) die Auferstehung schon gesehen und vor allen Dingen geglaubt und gehofft. Er hat der Verheißung Gottes getraut, dass das Kreuz nicht das letzte Wort ist. Von daher kommt diese Dialektik: die äußerste Kritik an den Institutionen, sofern sie heilig gehalten werden (wollen), und anderseits – in der Hoffnung auf das Jenseits alles Irdischen – dann auch das relative Gelten-Lassen des Irdischen, der Institutionen. Denn wenn es denn so ist, dass »wir alle vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen«, dann ist auf dieser Erde auch die ganze Hierarchie der Ordnungen relativ, dann kann man sie eben so oder so machen – vor Gottes Gericht haben solche Fragen letztlich keinen Bestand. Aber das ist zugleich auch ein Gesichtspunkt, der dem Relativen sein Lebensrecht belässt, sodass wir das Vorfindliche nicht zerstören müssen, destruktiv und nihilistisch werden, sondern dass wir sagen, diese Institutionen, diese Weltbilder, diese Ordnungen kommen und gehen. Der Glaube an die Auferstehung des Gekreuzigten hat das Sterben immer schon hinter sich. Aber das heißt auch, dass das, was vergeht, vor dem Kreuz »gerechtfertigt « ist, in sich zu würdigen und zu pflegen ist. Wir haben vielleicht als Protestanten, schon im 19. Jahrhundert, auch in unserer Verkündigung allzu selbstkritisch und allzu kritisch unsere Institutionen gesehen. Der Geist aber braucht eine Institution, und auch das Wort braucht eine Institution. Gott hat das Verkündigungsgeschehen in dieser Welt verankert. Wir müssen die Institutionen nicht zu »hoch und heilig« werten, aber wir dürfen sie auch nicht in Grund und Boden kritisieren, denn schließlich ist auch die Kritik von der Theologie des Kreuzes her kritikbedürftig, und also relativ. Die Kirche als Institution muss den menschlichen Erfahrungen und Notwendigkeiten in ihrer ganzen Breite Raum geben und einen »angemessenen Rahmen« dafür anbieten, der jeweils nach den Notwendigkeiten und nach den eigenen, z. B. finanziellen Möglichkeiten neu gefunden werden muss. Das Kriterium für
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die Gestaltung der Institutionen besteht darin, zu prüfen, ob sie die Verkündigung vom Kreuz ermöglichen oder verhindern. Dann kann man von der Erfahrung des verborgenen Gottes über die Erfahrung des Kreuzes auch die Erfahrung von Glück und Leid aufnehmen, die dann nicht an die Stelle des Glaubensgrundes treten, aber von ihm her beleuchtet werden.
These 3: Luthers Theologie ist menschlich, weil der Mensch in ihr nicht nach seinen Leistungen oder Fehlleistungen beurteilt wird, sondern gerade seine Sünde im Lichte der göttlichen Barmherzigkeit vergebbar ist. Dies ist ein wesentliches Kennzeichen der lutherischen Theologie. Luther hat das mehrfach definiert. Was ist eigentlich das Thema der Theologie? Und er hat dann formuliert, dass das Thema der Theologie der sündige Mensch ist und der rechtfertigende Gott. »Homo peccator, deus iustificans.« Der sündige Mensch und ihm gegenüber Gott, der ihn rechtfertigt. Wir wissen um unsere eigene Sünde und unsere Unvollkommenheit, um unsere Irrtümer und unseren Zweifel, und wir können, wenn wir das vor Gott bringen, dann auch das, was bei dem anderen, bei der Schwester, bei dem Bruder nicht perfekt ist, ganz anders akzeptieren, weil wir ja uns selbst im Lichte der göttlichen Barmherzigkeit annehmen dürfen. Die Formel, die heutzutage so verbreitet ist, »Gott nimmt uns an, wie wir sind«, ist verkehrt. Sie verzerrt das Geschehen der Rechtfertigung. Richtig muss es heißen: Gott nimmt uns an, obwohl wir so sind, wie wir sind. Wenn er uns annehmen würde, so wie wir sind, würde ja alles beim alten Adam bleiben. Dann hätten wir gewissermaßen seine Barmherzigkeit und seine Gnade gar nicht nötig, dann wären wir jeder so, wie er ist, und würden so bleiben. Gott nimmt uns an, obwohl wir so sind, wie wir sind. Das ist eigentlich der Vollzug der Rechtfertigung durch Gott.
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Luther hat einmal gesagt: »Der Mensch liebt, was liebenswert ist, und Gott liebt uns, bis wir liebenswert sind.« Er sieht uns mit den Augen Jesu oder wir dürfen sagen: An Jesus sehen wir, wie Gott uns sieht, wie er den Sünder aufnimmt! Aber gerade die Menschen, die Berührung hatten mit Jesus, sind ja dabei nicht geblieben, was sie waren, sondern waren dazu befreit und motiviert, ein anderes Leben zu beginnen! Jesus nimmt die Sünder an, aber nicht um die Sünde zu rechtfertigen, sondern um mit Gottes Liebe den Menschen in einem neuen Licht zu sehen. Er sieht ihn einfach anders, als er in Wirklichkeit (mit den Augen des Gesetzes gesehen) ist. Und das ist eigentlich der Grund, warum diese Theologie menschlich ist! Wir haben keine Heiligen und wir verehren auch keine Heiligen. Nicht, weil wir so griesgrämig wären und nicht die Größe von Menschen anerkennen würden. Natürlich haben wir große Gestalten in der Geistesgeschichte, in der Politik und auch in der Kirchengeschichte, und es wäre Muckertum und spießig, wenn wir nicht anerkennen würden, dass es Menschen gibt, die sich im Format weltenweit von uns unterscheiden. Warum sollte man sie nicht verehren? Aber es sind keine »Heiligen«, auch sie werfen große Schatten. Das gilt vor allen Dingen auch für Luther selber. Er ist kein »Heiliger«; wollte es auch nie sein. Schon gar nicht ist es möglich, dass wir zu Menschen beten, zu heilig Gesprochenen, denn auch »sie sind allzumal Sünder«. Gott hat ihnen große Gaben verliehen und auch sie hat er von ihrer Sünde befreit, so wie er uns befreit. Das ist eigentlich der innerste Hintergrund dafür, dass wir in der Seelsorge und in der Verkündigung und auch im praktischen Verhalten immer damit rechnen, dass wir es nicht mit perfekten »Heiligen« zu tun haben, sondern mit Menschen, die sich Mühe geben und die antworten auf die Liebe Gottes, aber eben nicht vollkommen sind. Luther hat das von seiner eigenen Person immer wieder gesagt. Er hat am Anfang kritisiert: »Was nennt ihr euch eigentlich ›lutherische‹ Kirche? Ich stinkender Madensack, habe ich euch erlöst? Christus hat euch
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erlöst! Also nennt euch nicht lutherisch!« Später dann, als die ersten Anhänger seiner Lehre Märtyrer wurden und umgebracht wurden und es eigentlich so war, dass lutherisch gleich evangelisch war, das heißt dem Evangelium entsprechend, da hat er gesagt: »Gut, dann nennt euch lutherisch, wenn das damit gemeint ist, dass ihr nicht mehr das Evangelium verkündigen dürft.« Und so hat es dann den Namen »Lutherische Kirche« gegeben. Aber eben nicht, weil er der große Heilige ist – er ist ein Sünder wie wir alle –, sondern weil an seinem Leben und durch seine Lehre Gott gezeigt hat, was er, Gott, macht, obwohl wir Sünder sind, mit uns, mit seiner Kirche. Und das kann eigentlich nur dazu führen, dass wir menschlich miteinander umgehen, dass wir uns nicht irgendwelchen Leistungsnormen unterwerfen und dass wir nicht versuchen, ob scheinheilig oder wirklich heilig, vollkommen und perfekt zu sein. Ich spreche den Heiligen der Alten Kirche nicht ab, dass sie ungewöhnliche Leistungen vollbrachten, bis hin zum Absurden: dass einer beispielsweise 40 Jahre auf einer Säule zubringt, bei Regen und Schnee und Sonne, um Gott nahe zu kommen, ist schon eine Leistung. Demgegenüber aber hat Luther gesagt: »Nein, nein, die Magd, die den Besen schwingt und dabei vielleicht ein Stoßgebet zu Gott schickt, die ist Gott näher als die Nonne, die den ganzen Tag betet und eigentlich nur in sich selber kreist in ihrer Frömmigkeit.« Die Menschlichkeit, die er zeigte in seinen Tischreden, in seinem Familienleben, in seinem Umgang mit Studenten und mit vielen, vielen Menschen, die von ihm Zuwendung und Fürsprache erbaten – diese Menschlichkeit ist ganz deutlich verwurzelt in der Erkenntnis, dass wir vor Gott allzumal Sünder sind.
These 4: Die Theologie Luthers ist modern, weil seine Lehre vom »Wort« schon viel weiter ist als das heutige Denken, das jetzt erst anfängt, über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit grundsätzlich nachzudenken.
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Das Gesetz sagt, »du sollst«, und es sagt es zu Recht. Das Evangelium sagt, »Gott tut das für dich, was du sollst.« Das Evangelium sagt uns nicht, was wir für Gott tun sollen, sondern was Gott für uns tut! Diese Grundunterscheidung ist so fundamental wichtig ... und jeder von uns vergisst sie immer wieder. Wir predigen: »Du sollst, du sollst, du sollst« – vielleicht modern, vielleicht ökologisch oder politisch, aber es ist Gesetz und es bleibt Gesetz! Wir dürfen aber das Evangelium verkündigen! Das heißt: was Gott für mich tut. Was Christus für mich getan hat. Dass Gott mir meine Sünden nicht nur nicht anrechnet, sondern vergibt. Mit dieser Unterscheidung von Gottes Wort, einerseits als Gesetz, das seine Wirkung behält, und andererseits als Evangelium, was mich dann aber auch befreit in einem letzten Sinne, nämlich im Verhältnis zu Gott, von den Forderungen des Gesetzes, hat Luther einen entscheidenden Impuls des Apostels Paulus aufgenommen. Sonst würde ich ja, biblisch gesprochen, in die Hölle kommen, wenn ich mir klar machte, dass ich an den Zehn Geboten praktisch jeden Tag sündige. Dann hätte ich ja keine Chance bei Gott, wenn er mir nicht jeden Tag vergeben würde, was ich an den Zehn Geboten versündige! In dieser Unterscheidung in Gottes Wort liegt nun doch der reformatorische Grundzug der Theologie. Der geht sehr schnell verloren, wenn sich Gesetz und Evangelium vermischen, weil man immer sofort fragt: »Was ist nun die Folge? Was ist nun die Folge aus dem Glauben. Wenn man glaubt, muss man doch das und das und das auf jeden Fall tun!« Vor lauter Nachdenken über die Folge verlieren wir den Grund des Glaubens. Vor lauter Nachdenken, was sich daraus ergibt, verlieren wir die Quelle des Glaubens. Und das ist nun das Entscheidende in der reformatorischen Theologie, dass zwischen Gesetz und Evangelium unterschieden wird. Diese Lehre vom Wort, von dem es alles ausgeht, hat Luther zunächst einmal im theologischen Zusammenhang durchdacht, aber wenn man jetzt statt »Wort« »Sprache« sagt, dann merkt man sofort, dass er als Theologe den Zusammenhang von Wort und Wirklichkeit durchdacht
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hat – von der Erfahrung Gottes ausgehend, dass ich ihn einerseits als den, der das Gericht an mir ausübt, und andererseits als den, der mir das Evangelium und die Freiheit vom Gesetz zuspricht, erfahre. Das hat Luther gesehen, und so ist es auch in der Bibel und überall, dass wir die ganze Wirklichkeit, vor allen Dingen uns selbst, aber auch unseren Nächsten und auch die Natur und den Menschen, unseren Beruf und unsere Gesellschaft, immer durch eine bestimmte »Brille« sehen; das nennt man heute »das Vorverständnis«. Wenn man einmal (an einem schlichten Beispiel sei es erläutert) eine Wiese anguckt, dann weiß man, der eine sieht, da kannst du fünf Grundstücke daraus machen, die kannst du versilbern, da kannst du viel Geld verdienen; der Zweite, der sieht, zwischen den Hälmchen, da krabbeln lauter Käfer, das ist vielleicht ein Biologe, der sieht die kleinen Käfer zwischen den Grashalmen; der Dritte, der sieht, dass die Böden sauer oder salzig sind, das ist der Landwirt; und der Vierte singt vielleicht mit Matthias Claudius »und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar«, der Poetische. So merkt man, das Vorverständnis führt zu völlig unterschiedlichen Erfahrungen. Diese Einsicht hat Luther zunächst im Verhältnis zu Gott entwickelt, diese Bedeutung des Glaubens als »spezifisches Vorverständnis«, diese Bedeutung des Wortes für die Erfahrung der Wirklichkeit. Und das ist ein Zusammenhang, der heutzutage allmählich in allen Wissenschaften überhaupt erst entdeckt wird. Es soll hier nicht weiter ausgeführt werden, aber philosophisch gesprochen ist es eine ganz unglaubliche Entdeckung, dass zunächst einmal von der Theologie (Schleiermacher, dann Dilthey) die so genannte Wissenschaft vom Verstehen, die Hermeneutik, entwickelt worden ist, dass das dann aufgenommen worden ist bei Heidegger und Gadamer bis zu Habermas und den modernen Philosophen; bei den Psychoanalytikern, bei den Soziologen, in der Pädagogik – überall entdeckt man, dass die Sprache eigentlich das Instrument ist, mit dem wir uns selbst, unseren Nächsten, unsere Wirklichkeit wahrnehmen. Die Sprache als »Brille« der Erfahrung von Wirklichkeit! Es gibt keine »ob-
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jektive« Wirklichkeit, sondern in unserem Vorverständnis sind wir immer geprägt von dem, was wir erwarten. Auch der Naturwissenschaftler hört aus der Natur nur die Antworten, die er vorher durch kluge Fragen gestellt hat. In diesem Zusammenhang von Gottes Wort und Wirklichkeit und Sprache und Erfahrung liegt ein Schlüssel der Zukunft der Theologie des Reformators. Die Neuzeit fängt gerade erst an, diese erkenntnistheoretischen Grundeinsichten Luthers aufzuholen! Auch große Naturwissenschaftler wie Pascual Jordan oder Heisenberg oder Carl-Friedrich von Weizsäcker machen darauf aufmerksam, dass es das Sprachproblem auch in den Naturwissenschaften gibt. Und das hat Luther, weil er sich so sehr mit dem Wort beschäftigt hat, eben schon damals herausgefunden. Da liegt das große Zukunftspotenzial in intellektueller Hinsicht.
These 5: Luthers Theologie ist erfahrungsbezogen, weil sie nicht abstrakte Ideen von Gott an sich und dem Menschen an sich reflektiert, sondern weil sie immer vom Menschen in seinem Verhältnis zu Gott und von Gott in seinem Verhältnis zum Menschen redet. In der Theologie ist eben nicht nur sozusagen »objektiv« die Rede davon, dass Gott die Welt geschaffen hat, sondern wie Luther es formuliert im Katechismus: Der Schöpfungsglaube spitzt sich darauf zu, dass ich bekenne: »ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat, samt allen Kreaturen.« – Dies ist eine umstürzende, neue theologische Perspektive. Man hat seit der Antike den Menschen immer wieder definiert – und es gibt eine Definition des Menschen, die heißt, er sei »das mit Vernunft begabte Tier« (»animal rationale«). Man hat also den Menschen definiert im Verhältnis zum Tier. Das macht ja auch Sinn. Das machen ja heute auch die Verhaltenswissenschaftler und die Biologen, sie definieren den Menschen im Unterschied oder in Parallele zum Tier. – Man kann ihn auch auf vielfältige andere Weise definieren. Man hat ihn soziologisch defi-
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niert: als Mensch, der im Gemeinwesen existiert; man kann ihn sexistisch definieren: man kann sagen, wie im Mittelalter, »der Mann ist ›die Krone der Schöpfung‹, ob die Frau überhaupt eine Seele hat, müssen wir noch mal reflektieren«. So hat man tatsächlich den Menschen definiert! Man kann ihn auch ökonomisch definieren, man kann sagen, der homo oeconomicus strebt in allem, was er tut, nach dem größtmöglichen Eigennutz und der Reiche und der Arme haben eine ganz verschiedene Art von Wirklichkeit. Das ist kein Glasperlenspiel! Man hat den Menschen auch rassistisch definiert im Dritten Reich und gefragt, »Was macht den Menschen zum Menschen?« und dann geantwortet, »Die arische Rasse ist lebenswert und die jüdische Rasse ist nicht lebenswert« – und diese Definition des Menschen, diese rassistische Definition, hat sechs Millionen Juden das Leben gekostet! Man sieht, es ist kein Spiel! Und heute geht es darum, ob der behinderte Mensch dieselbe Würde hat und dasselbe Lebensrecht wie der nicht Behinderte, und ob über das ungeborene Leben und sogar ob am Ende des Lebens über den alten Menschen geurteilt werden darf, dass es oder er nun kein Lebensrecht mehr habe. Das sind Fragestellungen, die sich ergeben aus der Definition des Menschseins, das heißt aus unserem »Vorverständnis« davon, was der Mensch sei. Irgendwann spricht man einem Menschen sein Menschsein ab, wenn er die Kriterien nicht mehr erfüllt, die man selber für die einzig maßgeblichen hält! Der Glaube aber, dass der Mensch ein Geschöpf Gottes ist, ist ein ganz anderer. Dann bekommt er Wert und Würde dadurch, dass er von Gott geschaffen ist. Das hat Luther oft gesagt. 1536 hat er eine Disputation über den Menschen formuliert in 40 Thesen: 20 philosophische, von denen er sagt, diese Definitionen durch die Wissenschaft, durch die Philosophie, die hätten ein gewisses Recht, man könne so über den Menschen reden, das habe auch seinen Erkenntniswert. »Aber«, sagt er, »das ist eigentlich nicht die theologische Definition des Menschen, sondern die theologische Definition des Menschen ist, dass er in Beziehung steht
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zu Gott«. Das macht seine Würde aus. Das macht seinen Wert aus. Und dann wird ganz deutlich: dann ist der alte und der junge Mensch, der Reiche und der Arme, der Schwarze und der Weiße, sie sind alle gleich wert. Die Frau und der Mann sind von gleichem Wert, weil Gott sie alle in gleicher Weise liebt. Daraus ziehen wir dann die Konsequenzen, bis hin zu Menschenrechten und zu den gleichen demokratischen Rechten. Anti-Apartheid, das geht darauf zurück, auf so einen simplen Satz. Aber es ist kein simpler Satz, das ist ein Satz, den uns keine Wissenschaft sagt, dass wir existieren in dieser Verhältnisbeziehung zu Gott; das sagt uns das Evangelium, das hat uns Jesus Christus nahe gebracht! Nichts gegen die Wissenschaften, die haben ihr Recht; aber wir wissen ja, wozu das auch teilweise führen kann, auch in extremen Formen der Medizin oder in anderen Wissenschaften, dass die Würde eines Menschen da auch auf der Kippe steht und verloren zu gehen droht. Hier jedoch ist eine »Definition«, eine Beschreibung, ein Verständnis des Menschen, dass wir unsere Würde aus der Beziehung zu Gott beziehen.
These 6: Luthers Theologie ist radikal, weil sie nicht fragt nach dem Sein Gottes, sondern danach, ob er mir gnädig ist. Heute ist die These weit verbreitet (auch in Helsinki hat der Lutherische Weltbund es einmal auf seiner Vollversammlung so formuliert): »Luther hat gefragt, wie kriege ich einen gnädigen Gott?, aber der moderne Mensch ist viel radikaler: er fragt, gibt es Gott überhaupt?« Nun ist aber diese spekulative Frage, »gibt es Gott überhaupt?«, erstens eine alte Frage, denn schon in der mittelalterlichen Scholastik (also in der mittelalterlichen Theologie) wurde sie immer gestellt; und zweitens ist das eine spekulative Frage: man sitzt im Sessel oder am Schreibtisch und sagt: »Gibt es Gott an sich, gibt es ihn oder gibt es ihn nicht?«. Während die Frage, die Luther stellt – »wie kriege ich einen gnädigen Gott?« – die eigentlich existenzielle Frage ist, denn sie stellt die Frage
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nach Gott in unmittelbarer Verknüpfung mit meiner eigenen Existenz! Und dieses existenzielle Fragen ist viel radikaler. In seiner Auslegung des großen Katechismus beschreibt Luther das und sagt, »woran du nun dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott«. Ist es das Geld, ist es der Ruhm, ist es die Familie, ist es der Erfolg, ist es der Sex? Was ist es, woran ich mein Herz hänge? Was ist eigentlich mein Gott? Oder mein Abgott. Und so gestellt, ist es ja das Ziel, lebensnahe zu fragen, »wie stehe ich denn dazu? Was macht es mit mir, das Reden von Gott?«, und das ist etwas ganz anderes, als wenn ich frei philosophisch philosophiere über den Gott als solchen. Luthers Theologie also ist existenziell und nicht spekulativ und dieser existenzielle Ansatz ist zugleich der moderne, weil er radikal ist. Nun hat man Luther ja vorgeworfen, er sei grenzenlos Subjektivist und Individualist. Und sein größter Fehler habe darin bestanden, dass er sich nicht dem Gehorsam seiner Kirche gebeugt hat, sondern darauf bestand, persönlich Gewissheit zu bekommen bei der Frage, wie er mit Gott dran ist. Es ist richtig, er hat zu Beginn seiner berühmten Invokavit-Predigten ganz deutlich gemacht, dass wir vor Gott vereinzelt werden. Wir sind allesamt in den Tod gefordert. Und niemand kann dann bei dem anderen sein. Das ist ein schicksalhafter Individualismus. Das ist eine Subjektivität, von Gott verordnet. Das ist eine Anfechtung, in die geraten wir, ob wir wollen oder nicht. Und da kann die Rückversicherung in der Gruppe oder in der Gemeinschaft nur eine Ablenkung sein von der Frage, wie ich im Gericht vor Gott bestehen kann. Individuum-Sein ist ja gerade nicht die willkürliche Anmaßung des egozentrischen Egoisten, der nur sich selber sieht, sondern es ist der Mensch, der von Gott herausgerufen wird aus allen seinen natürlichen geschichtlichen Beziehungen und Bindungen. Und wenn er so vereinzelt, so individuell ist, dann muss er auch eine ihn selbst betreffende Antwort auf die Heilsfrage bekommen. Dies ist der Subjektivismus, der die Neuzeit prägt, der über Hegel und Kierkegaard und andere Theologen in die Theologie und Philosophie eingegangen ist, und der das Kennzeichen des Protestantismus ausmacht.
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Keine selbstgewählte Subjektivität, sondern wie Sartre es ausgedrückt hat: »Wir sind zur Freiheit verdammt « – und: wir nehmen sie als Geschenk und Aufgabe aus Gottes Hand!
These 7: Luthers Theologie ist biblisch, weil sie aus dem Bibelstudium herkommt und zu ihm hinführt – und zwar nicht zum Buchstaben der Bibel, sondern zu Jesus Christus, ihrem Zentrum. Luther hat in der Einleitung zum ersten Band seiner gesammelten Schriften einmal geschildert, wie er zur Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes und das heißt zur Entdeckung des Evangeliums gekommen ist. Er schildert, wie er gerungen hat um den Begriff »Gerechtigkeit Gottes« und wie er Gott Vorwürfe gemacht hat, ihn angeklagt hat und gesagt hat, »nun haben wir schon die Zehn Gebote, mit denen du uns zugrunde richtest, weil wir ihnen nicht gerecht werden, und nun sprichst du auch noch im Zusammenhang mit Christus von der Gerechtigkeit. Wie soll ich denn der Forderung nach Gerechtigkeit gerecht werden?« Er hatte sich ja wirklich Mühe gegeben als Mönch, er hat alles versucht, was ihm als Mönch an Mitteln zur Verfügung stand, um seine Gerechtigkeit zu erreichen. Und dann schildert er, wie er zunächst einmal über den Psalmen versucht hat, diesen Begriff zu verstehen, und wie er dann vom Apostel Paulus her – wirklich wie eine Entdeckung, wie ein Blitz hat es ihn durchzuckt – wie ihm da klar geworden ist: »Die Gerechtigkeit Gottes, das ist ja nicht die Gerechtigkeit, die er von mir fordert, sondern das ist ja die, die er mir schenkt!« Damit hat er einen totalen Seitenwechsel vollzogen. Nicht die Gerechtigkeit, die Gott von mir fordert, sondern die er mir schenkt – die Kraft Gottes, nicht die Kraft, die ich aufbringen muss für Gott, sondern die er mir schenkt; die Macht Gottes, nicht die Macht Gottes, die ich anbeten soll, sondern mit der er mich bevollmächtigt. Und so ist Luther alle
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wichtigen Begriffe durchgegangen und dann schreibt er, dass sich ihm die Pforten des Paradieses auftaten und er wieder einschritt in das Paradies, das ihm vorher verschlossen war. Davon, von diesem Moment her lebte er, und davon lebt auch unsere evangelische Kirche: Wir predigen das Evangelium und nicht das Gesetz. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, mit der er uns gerecht macht, ist das Entscheidende, wenn wir von Gerechtigkeit reden. Die Bibel legt sich selber aus. Luther hatte viele Kommentare um sich herum, er war unglaublich fleißig. Er hat Tag und Nacht geforscht, um den Sinn des Textes herauszubekommen. »Es riecht nach der Lampe«, hat Hanns Rückert einmal gesagt. Trotzdem, er hat eine Stelle der Heiligen Schrift mit einer anderen plötzlich erleuchtet. Das heißt mit anderen Worten, er braucht und wir brauchen nicht das unfehlbare Lehramt, nicht die Bischöfe, nicht andere Autoritäten, die uns erzählen, wie die Bibel auszulegen ist, sondern die Bibel legt sich selber aus. Das ist ein klassischer Grundsatz reformatorischer Theologie! Gemeinschaftlich sitzen wir alle um die Bibel herum und jeder trägt bei, was er kann. Aber der Bischof weiß es nicht von vornherein besser als die Kindergottesdiensthelferin (die weiß es manchmal wirklich besser). Deswegen haben wir kein Lehramt, deswegen haben wir auch keine Unfehlbarkeit des Papstes, deswegen haben wir keine abgeleitete Unfehlbarkeit der Bischöfe, deswegen können wir auch ruhig drei oder fünf Bischöfe an der Spitze einer Kirche haben, denn sie reden alle nicht unfehlbar. Sie sind im Dialog. Und das ist für unser Kirchenverständnis ganz wichtig. Auch der Pastor hat nicht das einzige und das letzte Wort, sondern für uns alle gilt das Priestertum aller getauften Glaubenden. Und das heißt ja nicht nur, der Bankdirektor ist zuständig für den Finanzausschuss, der Architekt für den Bauausschuss, sondern alle sind zuständig für die geistliche Leitung der Gemeinde! Das kommt ja auch durch die Wahl der Pastoren zum Ausdruck. Sie werden nicht von oben eingesetzt, sondern der Kirchenvorstand entscheidet, und die Kirchenkreissynode ist es, die den Propst oder die Pröpstin wählt. Das ist eine fundamentale geistliche Ent-
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scheidung. Und das ist hier auch zum Ausdruck gekommen, dass nicht das Amt über der Gemeinde ist, sondern dass das Wort über der Gemeinde ist und dass die verschiedenen Dienste, die sich ausdifferenzieren in die Ämter, dass sie alle eine Funktion haben, nämlich das Wort auszulegen! Es wird auch deutlich, dass wir nicht die Tradition zur Offenbarungsquelle machen. Das ist auch durch die Barmer Theologische Erklärung ganz deutlich vertieft und konzentriert worden. Christus selber ist es, der uns gerecht macht, er ist die Quelle und auch die Mitte der Schrift. Denn das ist ja auch deutlich, dass Luther nicht einfach den Buchstaben zum papiernen Papst gemacht hat und jetzt gewissermaßen die Bibel als neues Gesetzbuch entdeckt hat, sondern er hat immer gefragt, »was treibt Christus, wo ist die Christus-Verkündigung, wo wird das Evangelium verkündigt und nicht das Gesetz?«. Da kommt es immer auf eine kritische Nachfrage nach den biblischen Texten an, wir müssen sie auslegen, wir müssen sie nicht einfach schlucken, blind, sondern auslegen im Sinne des Evangeliums. So könnte man noch eine ganze Reihe Folgerungen aus diesem grundlegenden Erlebnis Luthers mit der Heiligen Schrift ableiten. Dabei ist entscheidend zu bemerken, dass es nicht das Genie Luther war, der die Entdeckung gemacht hat, es war nicht eine individuelle Eingebung, sondern er konnte sofort an den Begriffen, an den biblischen Schriften nachweisen, dass diese Entdeckung auch für andere gelten konnte. Dass diese Entdeckung von ihm auch für andere nachvollziehbar war. Nur dadurch gibt es eine evangelische Kirche. Eine Kirche, die sich auf das Wort der Schrift gründet, und die nun nicht sagt, diese genialen Erfahrungen haben nur ganz wenige gemacht, sondern Luther hat, indem er das Wort Gottes auslegte, mit dieser neuen Erfahrung vielen anderen zu derselben Erfahrung verholfen. In der heutigen Diskussion über Esoterik und Mystik, Ekstase und Exzess und ozeanische Gefühle und was wir alles an Sehnsüchten mit uns herumtragen, ist es noch mal wichtig zu sagen: »Es ist das Wort Gottes,
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auch der Buchstabe der Schrift, der richtig ausgelegt wird, der uns dann zu einer geistigen Erfahrung führt.« Luther war ja nach heutigen Begriffen zeitlebens Professor der Bibelwissenschaft. Er hat keine Dogmatik geschrieben, sondern immer wieder die Bibel ausgelegt. Das ist das Grundgeschehen der Kirche und auch ihr Grundauftrag. Die Kirche entsteht durch die Verkündigung des Wortes. Sie ist – wie Gerhard Ebeling einmal gesagt hat – »das Geschehen ihres Grundes«.
These 8: Luthers Theologie ist postpatriarchalisch und postfeministisch, weil der Mensch nicht in seinem Verhältnis zur Natur, sondern aus seiner Beziehung zu Gott definiert wird. Damit wird seine biologische und seine geschichtlich-gesellschaftliche Konstitution nicht geleugnet, aber sie wird transzendiert. Sie wird überschritten. Lange Zeit meinten ja die Männer, in der Kirche hätten sie alleine das Sagen. In anderen Kirchen ist es leider noch so: weder die Orthodoxen – die Anglikaner allmählich seit ein paar Jahren – noch die katholische Kirche öffnen sich hier, sodass sie ganz bewusst sagten, »wir ordinieren Frauen« – sondern man sagt in der katholischen Kirche, »Christus kann nur durch einen Mann repräsentiert werden, weil er selbst ein Mann war«. Das wird tatsächlich so begründet! Wenn wir aber sagen, es kommt auf das Wort Gottes an und auf die Verkündigung Jesu Christi, dann müssen wir nicht Christus repräsentieren, sondern wir müssen ihn verkündigen, und das ist etwas ganz anderes! Und das kann natürlich die Frau genauso gut, oder vielleicht viel besser als der Mann, und deswegen gibt es bei uns mit Überzeugung die evangelische Pastorin und evangelische Bischöfin, auch wenn wir damit ökumenisch Schwierigkeiten haben! Weil wir eben aus der Beziehung Gottes zu uns leben und nicht biologisch meinen, wir wären vielleicht von unterschiedlicher Qualität (was ja auch nicht der Fall ist).
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Nicht die Männer machen die Kirche zur Kirche und auch nicht die Frauen. Entscheidend ist, dass wir uns auf Christus beziehen. Bei der Frage, was ist grundlegend für die Kirche, gibt es ein eindeutiges Kriterium: Wer Christus verleugnet, gehört nicht zur Kirche. Da ist wirklich Schluss. Das ist das, was Kirche zur Kirche macht und was sie identifiziert. Alle anderen Merkmale muss man ertragen, auch wenn sie einem noch so schwer fallen. Ethische Differenzen, moralische Differenzen, Lebensformen, darüber muss man nachdenken, da gibt es auch Entscheidungen; die können aber nicht dazu führen, dass man einen Menschen aus der Kirche ausschließt. Wer jedoch Christus verleugnet, der hat sich entschieden. Diese Entscheidung muss man ernst nehmen. Die darf man nicht moralisch diskriminieren, aber hier ist die Grenze der Kirche! Deswegen muss die Gender-Problematik, das Verhältnis von Frauen und Männern in der Kirche, angesprochen werden. Und sie muss aufgearbeitet werden, weil es in unseren Köpfen immer noch versteckt oder unversteckt dieses Vorurteil und Klischee gibt, als wären die Herren der Schöpfung etwas Besseres als die lieben Schwestern. Deshalb ist es auch wichtig in der Erziehung, das immer noch einzuschärfen, dass das nicht der Fall ist – und das ist ja in der reformatorischen Theologie begründet. Deswegen gibt es in der evangelischen Kirche verheiratete Pastoren, weil Luther das ganz deutlich gemacht hat, dass nicht das Ideal des männlichen Asketen Gott am nächsten ist, sondern dass wir von Gott unseren Auftrag haben, in Familie und Gemeinde und Politik uns in seinem Sinne zu betätigen.
These 9: Luthers Theologie ist sozial, weil sowohl in der Lehre von den beiden Reichen als auch in der Lehre vom Verhältnis von Gesetz und Evangelium das gesellschaftliche politische Eintreten für Recht und Gerechtigkeit im Auftrag Gottes verstanden wird.
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Die weltliche »Obrigkeit« hat eine ganz entschiedene theologische Funktion. Die berühmte Zwei-Reiche-Lehre sagt, es gibt ein Reich zur Linken: dazu gehören Ehe, Familie, Politik und Gesellschaft – und ein Reich zur Rechten: dazu gehören das Evangelium und die Kirche; und in beiden Reichen regiert Gott, jedoch auf unterschiedliche Weise. Dagegen gibt es die Theorie, die sagt, die Kirche muss immer der Gesellschaft sagen, wie sie sich entscheiden soll. Das ist mehr die katholische Position und auch in der Lehre von der Königsherrschaft Christi, bei den Reformierten, ist das der grundlegende Ansatz im Verhältnis von Bürgergemeinde und Christengemeinde, dass die Christengemeinde der Bürgergemeinde sagt, was richtig ist. Luther hat das anders gesehen. Luther hat gesagt, der Fürst – heute würde man sagen, der gewählte Vertreter in der Demokratie – hat sein Amt von Gott direkt. Die Kirche kann ihm höchstens sagen, dass er sein Amt von Gott hat. Sie kann ihm aber nicht sagen, was er in diesem Amt tun und lassen soll. Sie kann ihn beraten, wenn er das wünscht. Sie kann Denkschriften machen. Sie kann ihm aber nicht sagen, »vom Evangelium her gibt es jetzt in dieser politischen Entscheidung nur diesen Weg«. Sie kann beitragen zur Gewissensschärfung, aber den Auftrag der Regierung, auch auf der kommunalen Ebene, oder den Auftrag der Mutter, die ihr Kind erzieht, den gibt Gott direkt im Reich der Linken, und er erhält die Welt durch zwei Regierweisen: durch die Verantwortung, durch das »Gesetz« im Reich der Linken, und durch das Evangelium im Reich der Rechten, im Reich der Kirche. Aber die Obrigkeit ist nicht einfach die herrschende Klasse oder das, was gerade die Herrschaft wahrnimmt, sondern sie ist diejenige Instanz, die für Recht und Gerechtigkeit und Ordnung und Erhalt der Gesellschaft eintritt. Gott ist auf der Seite der Obrigkeiten. Das ist im Dritten Reich leider sehr verzerrt worden – so, als ob die Aussagen des Apostels Paulus und des Reformators Luther immer gelten für die jeweils konkrete Regierung, die gerade an der Macht ist. Nein, sondern sie gelten dem Auftrag der Regierung: sie muss für Recht und Gerechtigkeit und soziale Ver-
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hältnisse eintreten – und das tut sie dann, wenn sie es tut, im Auftrag Gottes! Das ist das Faszinierende bei Luther, dass diese Welt nicht zerfällt in das Reich des Bösen und das Reich des Guten. Es heißt nicht: »Da ist diese böse Welt mit ihrer Politik und mit ihren menschlichen Dingen – und da ist die schöne Welt der Kirche«, nein! Gott regiert das Ganze und es gibt eine unmittelbare Beziehung auch der Welt des Politischen zu Gott – in der Gewissensschärfung. Die Zwei-Reiche-Lehre sagt, die zwei Reiche kommen zusammen, einmal in Gott, dem Einen, der beides in seinen Händen hält, und in uns, die wir als Christen vielleicht politische Verantwortung wahrnehmen oder in Forschung und Lehre oder wo immer in Familie und Beruf verantwortlich sind und die wir als Christen Gottes Wort hören – auch in uns kommen die beiden Reiche nochmals zusammen. Den Vorwurf, es komme bei Luther zur Eigengesetzlichkeit politischer Sachzwänge, den kann man eigentlich nicht erheben, wenn man sieht, dass die »zwei Reiche« in Gott und in den Christen wieder zusammengehören. Und man kann das auch sehr schön sehen, weil Luthers Theologie sich vor allen Dingen hier bei uns im Norden ausgewirkt hat und in Skandinavien. Nirgendwo auf der ganzen Welt kann man so die gesellschaftlichen Folgen der reformatorischen Theologie im lutherischen Sinne ablesen wie im Norden. In Amerika ist es mehr der Calvinismus, in Europa sonst ja sehr gemischt, katholisch und evangelisch, in Holland noch ein bisschen reformiert, aber im Norden, in Dänemark, Norddeutschland, Skandinavien, Schweden, da ist das Luthertum, wie man sieht, eine vorbildliche soziale Initiativkraft. Die Ersten, die die Sklaverei abgeschafft haben, waren die Dänen. In Schweden gelten bis heute vorzügliche soziale Gesetze. Dem Luthertum vorzuwerfen, es würde sich nicht um soziale und gesellschaftliche Belange kümmern, ist absolut töricht. Es kümmert sich nur anders darum als andere. Die Kirche schreibt den Politikern ihre Entscheidung nicht vor, sondern die Kirche
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versucht zu ermutigen und auch zu ermahnen, dass sie aus eigener Verantwortung ihre Entscheidungen vor Gott treffen.
These 10: Luthers Theologie ist verständlich, weil sie im Kleinen Katechismus oder auch in seinen Chorälen vollständig und volkstümlich zusammengefasst ist. Sie hat den Konfirmanden und dem Professor etwas zu sagen. Ein schöner Luther-Choral einmal wirklich durchmeditiert oder die Lektüre des Kleinen Katechismus oder gar des Großen, die Lektüre einer kleinen Schrift oder auch der großen reformatorischen Grundschriften führt auch den Nichtfachmann ganz schnell zum Herzen seiner Theologie. Luthers Theologie ist verständlich, es ist ja gerade das Erlebnis der Reformation, dass die Menschen es plötzlich verstehen lernen, nicht nur, weil es nicht mehr lateinisch gesprochen ist, sondern deutsch, sondern weil das Deutsch auch in einer Sprache gesprochen wurde, die bis heute unsere Herzen ergreift. Man muss ja nicht anfangen mit Luthers akademischen Disputationen, aber seine Lieder, seine Katechismen, seine erbaulichen Schriften von den guten Werken, von der Freiheit eines Christenmenschen, über die babylonische Gefangenschaft der Kirche aus den 20er Jahren – das sind verständliche, bis heute aktuelle Themen! Übrigens auch, was er gegen den Wucher geschrieben hat, ist im zunehmenden ökonomischen Zwangsgehäuse, in dem wir stecken, durchaus aktuell.
These 11: Luthers Theologie hat Zukunft, denn sie ist gänzlich auf die Verheißung Gottes gegründet. Sie wird nicht durch Menschen realisiert, sondern sie bewahrheitet sich im Kommen Gottes selber. Sie ist so auf Gottes Kommen konzentriert,
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dass nur dann die Kirche keine Zukunft hätte, wenn Gott keine Zukunft hätte – und Gottes Zukunft dürfen wir trotz aller Anfechtungen und auch Schwächen unserer Kirche ja nun wirklich festhalten und bekennen! Diese Verheißung ist der Grund der christlichen Hoffnung. Von ihm soll jetzt die Rede sein – nicht von einem »Prinzip Hoffnung«, nicht von einer »Theologie der Hoffnung«, sondern von ihrem Grund; nicht von den Konsequenzen der Hoffnung, sondern von ihren Quellen, nicht von den Werken der Hoffnung, sondern von dem, was überhaupt hoffen lässt. Es besteht die Gefahr, dass wir zu viele ungedeckte Schecks ausgeben – auch in der Kirche, dass wir darüber hinaus gerade in der Kirche in erschütternder Weise dem Leistungsprinzip zum Opfer gefallen sind und vom Grund, von der Begründung unserer Hoffnung nichts mehr zu sagen haben. Stattdessen bürden wir uns selbst und unseren Mitmenschen und Mitchristen Lasten und Forderungen, Gebote und Gesetze auf. Nicht das ist das theologisch Skandalöse an der Politik in der Kirche, dass hier politisch geredet wird, sondern, dass so gesetzlich geredet wird, dass eben nicht mehr vom Evangelium der Hoffnung, sondern nur noch von ihren Defiziten gesprochen wird. Man sollte darum auf die Stimme unseres Reformators hören, dem man gewiss nicht nachsagen wird, er habe eine politisch folgenlose Theologie betrieben, der aber gerade deswegen zu folgenreicher Wirkung kam, weil er sich nicht in erster Linie an den Folgen seiner Theologie orientierte! Für Martin Luther ist der erste Vers aus dem 11. Kapitel des Hebräerbriefes zeitlebens eine grundlegende Orientierung seines Glaubensverständnisses gewesen und geblieben. Denn er versteht den Glauben ganz von der Hoffnung her und umgekehrt: »Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.« (Hebr 11,1) Schon 1509 hat er – an sich noch ganz im Stile eines mittelalterlichscholastischen Dogmatikers – umstürzende neue Erkenntnisse über das
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Verhältnis von Glaube und Hoffnung aus diesem Vers gewonnen. Also acht Jahre vor dem Thesenanschlag lag ihm dies im Wesentlichen schon klar vor Augen. Ähnlich wie in unseren Zeiten verband sich für den mittelalterlichen Menschen die Hoffnung mit einem ausstehenden Hoffnungsgut. Wenn von Hoffnung die Rede war, so war davon die Rede, was der Mensch entbehrte, sei es die Hoffnung auf irdische oder zeitliche Güter. Der erhoffte Gott war, wie in so manchem populären theologischen Entwurf unserer Tage, der Gott der Zukunft, d. h. der Gott der Abwesenheit, oder, philosophisch gesprochen: das Prinzip Hoffnung entwickelte eine Ontologie des Nochnichtseins, eine Lehre vom Sein, welches aussteht. Anders Luther: Er sah in dem Vers eine so enge Verzahnung von Glaube und Hoffnung, dass die Hoffnung nicht auf einen ausstehenden Inhalt zu beziehen sei, sondern auf den Glauben selbst als den Grund der Hoffnung. Der Glaube ist ja nach dem Hebräerbrief eine feste Zuversicht auf das, was man hofft. Und mit ihm stellt sich die Hoffnung dar als ein Glaubensgut, was schon jetzt – im Glauben – erfahrbar und ergreifbar ist. In der brennenden Sehnsucht nach Gott, in der begründeten Hoffnung auf ihn, ist er mir ja schon nahe, steht also nicht mehr aus, sondern ist als unsichtbarer Inhalt des Glaubens in der Hoffnung vergegenwärtigt. Luther übersetzte mit seiner lateinischen Bibel diesen Vers so: Der Glaube ist die Substanz all dessen, was ich hoffe. Luther spekuliert also nicht frei schwebend über das Wesen der Hoffnung an sich, sondern er sieht sie in ihrem Bezug zur Existenz, in ihrer Bedeutung für das konkrete Leben – und zwar schon jetzt. Das Wort Christi, das der Glaube ergreift, eröffnet eine lebensmächtige, Gegenwart und Vergangenheit überstrahlende Zukunft. In der Weise des Hoffens wird die Zukunft vergegenwärtigt. Wenn ich mich mit Leib und Seele ausstrecke nach dem, was Gottes Wort mir verheißt, dann bin ich ja durch dieses Ausstrecken, durch diese affektive Hoffnung, bereits in einem völlig neuen Zustand; insofern verändert die Hoffnung mein Leben schon jetzt fundamental. Der Glaube ruft die Hoffnung überhaupt
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erst ins Leben und entreißt den Menschen den Mächten der Vergänglichkeit, des Todes und der Sünde. Mit der Hoffnung verlasse ich gleichsam mich selbst, wandere aus aus diesem Todesleib und habe meinen Standort in dem, was mir verheißen ist. Dieses »Außerhalb-meinerselbst-Stehen«, diese Ekstase des Glaubens, ist das Kennzeichen der vom Glauben geschaffenen Hoffnung. So ist der Glaube der Grund der Hoffnung. Die Hoffnung macht schon jetzt deutlich, was dem Auge verborgen bleibt, sie holt das Unsichtbare ins Sein, sie macht offenbar, was sonst unerkannt bliebe. Es ist schon erstaunlich, wie dieses Bibelwort dann in der Zeit der ersten Psalmenvorlesung, der Paulus-Exegese und schließlich der ausgereiften reformatorischen Theologie der 20er Jahre für Luther immer wieder eine zentrale Bedeutung gewinnt. Und es ist noch viel überraschender, dass dieses Verständnis von Hoffnung heute auf eine ganz ähnliche Gesprächssituation trifft wie zu Luthers Zeiten: Die scharfe Kritik Luthers am mittelalterlichen Verständnis der Hoffnung trifft ja heute auf ein vulgäres Verständnis der christlichen Hoffnung, das weit verbreitet ist. Wie sieht es aus? Die Hoffnung wird dort verstanden als ein Vermögen des Menschen, als eine Tugend, über die er in ständiger Vertiefung und Übung mit der Zeit verfügen könnte. Aber das ist noch nicht alles. Diese Hoffnung wird angeblich auch erst wirklich, wenn sie sich in sichtbarem Tun realisiert. Da wird dann christliche Hoffnung – unter der Devise: »Die Wahrheit ist konkret« – schlicht zur Überhöhung eines Wünschens und Begehrens, das man auch ohne Glauben recht gut und kräftig vertreten kann. Dass die Schöpfung erhalten bleibe, ist ein berechtigter Wunsch, aber es ist nicht der Inhalt der christlichen Hoffnung. Dass der Frieden anbricht, ist ein nur allzu berechtigter Wunsch, aber um das zu erkennen, bedarf es des Kreuzes Christi nicht. Dass Männer und Frauen eine Gemeinschaft werden, dass Klassenhass und Rassenhass aufhören, all das sind gute und notwendige Ziele: Aber sie sind nicht der Inhalt der Hoffnung, für die Christus ans Kreuz ging, und die wir von Gott erwarten.
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Wir Christen müssen wieder lernen, unsere berechtigten Wünsche für das Leben und die Zukunft dieser Welt an den biblischen Verheißungen zu messen. »Denn: hoffen wir allein in diesem Leben, so sind wir die allerelendesten unter allen Menschen« (1 Kor 15,19). Die Hoffnung, die sich gründet im Glauben an den Gekreuzigten, erfüllt nicht einfach irdische Wünsche und befreit nicht einfach von Ängsten vor der Zukunft. Sie verändert vielmehr auch diese Ängste und Wünsche fundamental. Schon im Alten Testament richtet sich vereinzelt Hoffnung gar nicht mehr auf irdisches Glück und irdischen Segen, sondern allein auf Gott, der dem ihm Vertrauenden Gemeinschaft bietet (Psalm 73,23.26). Im Neuen Testament wird dann die Hoffnung selbst zum Heilsgut, nicht etwa zur Erwartung eines besonderen Inhalts. Christliche Hoffnung ist im Neuen Testament Erwartung Gottes. So ist Gott der Gott der Hoffnung, einer Hoffnung, die sich auf Gott und sonst nichts richtet. Luther konnte später sagen: Die christliche Hoffnung ist die reinste Hoffnung auf den reinsten Gott. Das mag manchem eher als Verzweiflung erscheinen, denn als Hoffnung. Und in der Tat: Solche Hoffnung ist nach einem Wort von Friedrich Gogarten ihrem Gegensatz, der Verzweiflung, so sehr benachbart wie das Leben dem Tod, wie das Sein dem Nichtsein. Durch die Hoffnung in Christus widerfährt dem Menschen, dass er ganz und gar zunichte wird. Denn diese Hoffnung bringt ihn dahin, wo er mit seinen Aktivitäten am Ende ist, wo er nichts mehr sieht, hört, fühlt, als das Kreuz. Dann fragt er radikal nach Gott, und erst in diesem radikalen Fragen nach Gott kommt der Mensch zu sich selbst. Hier hängt die christliche Hoffnung aufs innigste zusammen mit der Rechtfertigung des Sünders. »Denn«, so sagt Luther, »wohin gelangt denn der Mensch, der auf Gott hofft, wenn nicht in sein eigenes Nichts? Wohin denn geht der, der in dieses Nichts geht, außer dorthin, woher er kommt? Er kommt aber aus Gott und dessen Nichts. Darum kehrt der, der in sein Nichts zurückkehrt, in Gott zurück.«12 12
Luther, Kommentar zu den Psalmen von 1519–21, WA 5, S. 168. 79
Mit dem marxistischen Philosophen Ernst Bloch könnte man argwöhnen, in solchem Glauben spreche sich das Scheitern der bürgerlichen Klasse aus, ein verhinderter oder latenter Selbstmord, ein Hineinknien ins Sterben, ein Wille zum Nichts, das heißt zu dem in ihm versteckten Hunger- und Schlachtentode. Bloch sieht hier Untergangsphilosophen am Werk, die das bloße Nichts der kapitalistischen Zukunft zu einem unausweichlich-absoluten machten, damit der Blick auf eine veränderbare Welt, auf die sozialistische, gänzlich blockiert werde.13 Bloch hatte dabei besonders Martin Heidegger im Blick, er übersieht aber, dass dem Nichts bei Luther das Sein Gottes gegenübersteht, dass sich die Hoffnung darauf richtet, dass gerade der Tod des Menschen, als dessen eigentliches Kennzeichen, zunichte gemacht wird, und insofern die Hoffnung allein an dem Gott hängt, der die Toten ins Sein ruft. Alle begrenzten Hoffnungen, am Tode vorbei, sind ja deswegen hoffnungslos, weil das Erhoffte selbst nicht am Tode vorbeikommt (Gerhard Ebeling). So wird gerade die Jenseitshoffnung zum einzigen Grund auch aller berechtigten, relativen Diesseitshoffnungen. Es wird hier ein Verständnis von Hoffnung sichtbar, das den begrenzten innerweltlichen Ziel- und Hoffnungsvorstellungen überlegen ist. Weder die Utopie der klassenlosen Gesellschaft noch der Traum von unbeschränkter Herrschaft wird hier geträumt. Auch das Nichts wird nicht verehrt. Indem der Glaube den Illusionen den Boden entzieht, legt er und ist er selbst der Grund der Hoffnung für jeden Einzelnen und für die Welt.
These 12: Luthers Theologie ist nicht Luthers Theologie, sondern einzig und allein Christus-Zeugnis. Trotz aller Fehler und Schwächen des Menschen Luther – gerade seine Spätschriften gegen die Juden sind hier zu nennen; furchtbare Schriften, 13
Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1972, S. 1366.
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das müssen wir klar sehen – trotz dieser Fehler und Schwächen, aber auch trotz seiner geistigen Größe und seiner existenziellen Tiefe, wird er prägend bleiben als der, der nicht sich selbst, sondern den lebendigen Gott bezeugt hat. Was für den großen Reformator selbst gilt, das gilt auch für die Kirche als Ganze: sie bezeugt nicht sich selbst, sondern den, der sich durch sie den Menschen mitteilen will. Die Kirche versucht in erster Linie nicht, sich durch humane Taten und Werte selbst zu inszenieren und Anerkennung zu verschaffen, sie steht auch nicht unter dem Zwang, die Liebe Gottes durch ihre eigene Liebestätigkeit, durch ihr Gutsein sozusagen zu bewahrheiten, ja, sie sollte sich nicht einmal bemühen, durch liturgische oder gemeinschaftliche Ausstrahlung, durch politisches oder soziales Engagement »den Glauben attraktiv machen« zu wollen. Sondern sie widmet sich ganz selbst-vergessen ihrem ersten und ursprünglichen Impuls und Auftrag, nämlich von der Rettung, der Vergebung, der Rechtfertigung zu erzählen, die uns durch Christus zukommt. Die Kirche feiert nicht sich selbst, sondern wendet sich mit ihrer Verkündigung nach außen, an die Welt. Das ist der Grund und der Sinn, warum die lutherische Kirche Volkskirche ist! Unabhängig von der ethischen Qualität der Kirche in ihrer jeweiligen Zeit – die Kirche hat Teil am Sündersein des Menschen, auch für sie gilt das Wort des Paulus: »Es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten« (Röm 3,23) – und unabhängig von der Quantität der jeweils zahlenden Gemeindemitglieder, hat die Kirche einen Auftrag, mit dem sie sich an das ganze Volk wendet, durch den sie mit dem ganzen Volk sein jeweiliges Schicksal teilt, durch den sie für das Leben des ganzen Volkes Fürsorge trägt. Eines der berühmt gewordenen Bonhoeffer-Worte ist das von der Kirche, die nur Kirche bleiben kann, wenn sie »Kirche für andere« wird. Wichtig ist, dass jedenfalls Kirche nicht für sich selbst existiert. Problematisch ist allerdings, wie unterschiedlich dieses Wort gedeutet wird, wie es instrumentalisiert wird, wie es in Gefahr gerät, Kirche aufzulösen
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in eine Aktionsagentur zugunsten jeweils ganz unterschiedlicher Zielund Interessengruppen. Da wird Kirche gemessen an ihrer politischen Effizienz, an ihrer gesellschaftlichen Ausstrahlung, an ihrer ethischen Qualität. Da wird – im gewiss richtigen Engagement für Randgruppen – die Kirche selbst zu einer Randgruppe stilisiert. Da wird das Sein-fürandere von vornherein ethisiert, und die Kirche bleibt nichts anderes als ein riesiger Wohlfahrtsverein, der sich gesellschaftlich auch durch nichts anderes legitimiert, als durch soziales Handeln bis hin zur Begründung des Kirchensteuereinzugs und der übrigen staatlichen Förderungen. Damit ist nichts gesagt gegen eine erfolgreiche Diakonie, aber wenn es schon gilt, dass Diakonie etwas anderes ist als Sozialarbeit, dass Mission, Ökumene sich nicht erschöpft in Entwicklungshilfe, wie viel mehr gilt das dann für die Kirche selbst: Kirche kann also nur »Kirche für andere« bleiben, wenn sie wirklich »Kirche für andere« bleibt. Für die Kirche gilt, wie für den einzelnen Christen: sie lebt nicht von ihren Werken. Sie verifiziert sich nicht durch ethische Postulate, legitimiert sich nicht durch soziales Handeln. Gerade im neuen Jahrtausend wird es entscheidend darauf ankommen, es wird die Frage von Sein oder Nicht-Sein der Kirche sein, ob sie das Evangelium von der rettenden Gnade Gottes verkündigt oder den Menschen mit sich selbst alleine lässt. Die Kirche lebt ganz und nur von der Botschaft, die sie ins Leben ruft, und diese Botschaft dient dem Loben Gottes und sonst nichts. Die »Kirche für andere« ist zunächst die Kirche für Gott. Sie lobt ihn, fürchtet ihn, gehorcht ihm, glaubt ihm, verkündigt ihn und dient den Menschen dadurch, dass sie dem Wort Gottes »dient«. Sie soll nicht am Menschen verdeutlichen, wer Gott ist, sondern an Gott lernen, wer der Mensch ist: ein Kind, dessen Gott sich erbarmt. Die Kirche soll sich auch von Gott nicht ihr eigenes Bild machen, sondern sie redet von Gott, indem sie auf den gekreuzigten und auferstandenen Christus hört, denn er ist Gott und sonst keiner. In der Tat kommt es darauf an, die unaufgebbaren christologischen und trinitarischen Grundbekenntnisse der Kirche in Zukunft geltend zu ma-
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chen und sie einer Christenheit und einer Welt von morgen so verständlich und klar zu bezeugen, dass jedenfalls deutlich wird, was Kirche zur Kirche macht. Sie lebt von der Botschaft, dass der allmächtige Gott sich offenbart hat in dem gekreuzigten Christus. Und alle kirchlichen Aktivitäten werden sinnlos, wenn sie nicht jene Grenze ganz deutlich markieren, an der der Mensch am Ende ist und Gott mit ihm neu beginnt. Auch und gerade die Nächstenliebe, die Ethik, die Mitmenschlichkeit, haben ihren Sinn nicht in sich selbst, sondern haben allein den Sinn, Gottes Liebe, seine Zuwendung, seine Menschlichkeit zu bezeugen. Das ist keine Einengung der Kirche auf ein frommes, religiöses Reservat. Aber unser ganzes »weltliches« Engagement hat ja eben dies zur Voraussetzung: dass wir nicht aus dem Haben leben, sondern aus dem Sein, dass wir als einzelne Christen und als Kirche gerade unser Sein nicht begründen auf unserem Haben, unserer Rasse, unserer Religion, unserem Reichtum, unserer Leistung und dem gesellschaftlichen Prestige, sondern auf dem Hören auf die Botschaft, dass wir von Gott geliebte Menschen sind, obwohl wir so sind, wie wir sind. »Kirche für andere «, das heißt also »Christus für andere!« »Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen!« (Joh 3,30), sagt Johannes der Täufer über Jesus. Darum: auch die Kirche »muss abnehmen«, damit Christus »wachsen« und zu den Menschen kommen kann – so wird dann vielleicht auch die Kirche wieder wachsen. Mit dieser Entfaltung der zwölf Thesen sollte deutlich werden, inwiefern Luthers Erbe die Zukunft erschließt und sich nicht in einzelnen theologischen Erörterungen, sondern als ein Gesamtzusammenhang in der Tiefe und der Breite und der Höhe der Gedanken bewährt.
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Schlussfolgerungen: Die zukünftigen theologischen Aufgaben der Lutherischen Kirchen und ihrer Arbeitsgremien in der Evangelischen Kirche in Deutschland
Glaube und Ethik Einzuschärfen bleibt die fundamentale Unterscheidung zwischen dem, was Gott für uns tut, und dem, was wir für den Nächsten tun. Denn für Gott können wir überhaupt nichts tun. Das bedeutet: Primat der Verkündigung vor dem Handeln der Kirche. Das bedeutet: immer vom Glauben und seiner Überzeugung auszugehen und nicht vom guten Werk oder der Ethik. Glauben ist nicht Handeln oder Fühlen. Das Christentum lässt sich nicht völlig in Ethik überführen. Auch der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung kann nicht an die Stelle des Christuszeugnisses treten. Er ist eine Folge davon.
Grund und Gestalt Die Grundunterscheidung von Gottes Handeln und menschlicher Antwort wirkt sich auch im Kirchenverständnis aus. Die Unterscheidung von Grund und Gestalt der Kirche führt zu sehr flexiblen Strukturen des Amtes und des Kirchenaufbaus. Die Kirche kann bischöflich oder synodal oder auch gemischt bischöflichsynodal geleitet werden. Die Ordnung der Kirche ist kein Bekenntnisinhalt. Sie darf allerdings nicht das Grundgeschehen der Kirche behindern. Diese Flexibilität (CA VII: satis est) gibt den lutherischen Kirchen gegenüber den reformierten und auch den katholischen eine sehr große ökumenische Offenheit.
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Angefochtene und triumphierende Kirche Luthers Theologie ist immer Theologie des Kreuzes. Die Kirche repräsentiert die angefochtene Gemeinde, nicht den über Tod und Teufel erhabenen Christus. Von ihm verkündigt sie, aber ihr eigener Platz ist an der Seite der Armen und Angefochtenen. Die Osterbotschaft setzt die Verkündigung des Kreuzes nicht außer Kraft. Sie bestätigt sie vielmehr als Gottes gute Botschaft. Auch die Inkarnationstheologie und die Theologie der Hoffnung müssen sich messen lassen an der Realität des Kreuzes und am Ernst des dadurch zur Geltung kommenden göttlichen Gerichtes.
Fazit Die Kirche als Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder wird nicht durch moralische oder ethische oder gesellschaftliche Konsense identifiziert. Sie ist erkennbar und bleibt erkennbar darin, dass sie das eine Thema der Theologie praktiziert und verifiziert, nämlich dass es im Evangelium um den Menschen als Sünder geht und um Gott als den, der ihn rechtfertigt. Diese Grundposition muss die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands innerhalb der EKD und der Ökumene festhalten. Dafür ist und bleibt sie theologiepolitisch unverzichtbar. Auch in diesem Sinne gilt »in Zukunft Luther«.
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Kirche in der Frühen Neuzeit 1555–1750 „Behüt uns allzusammen / Vor falscher Lehr / Und Feindes Heer, / Vor Pest und Feuersflammen“ Inge Mager I. Einleitung Das Zitat, das ich als Motto über diese Vorlesung gesetzt habe, entstammt einem geistlichen Lied des evangelischen Theologen und Dichters Paul Gerhardt. Es wurde erstmals 1653 von dem Berliner Kantor Johann Crüger vertont und veröffentlicht. Die vier Verse sind in die Form von Verschonungs-Bitten an Gott, den Garanten umfassenden menschlichen Wohlergehens, gerichtet. Sie markieren - ins Positive gewendet und modern ausgedrückt - die dafür noch immer wichtigen Rahmenbedingungen: Rechtgläubigkeit, Friede, Gesundheit und Katastrophenschutz. Nur die Reihenfolge würden wir heute vermutlich verändern. Während die Menschen nach der Reformation die rechte Lehre der jeweiligen Kirche, das entsprechende Bekenntnis und den Glauben an den am Jüngsten Tage richtenden oder belohnenden Gott, also die geistliche Dimension und die Ewigkeitsperspektive für das hielten, worauf es im Leben vorrangig ankomme, haben die Menschen nach 1750, vollends seit der Aufklärung ihre Aufmerksamkeit mehr auf das hiesige Geschehen mit den politischen, gesellschaftlichen und sozialen Belangen gerichtet. Die Sehnsucht nach äußerem Frieden, nach Bewahrung vor Seuchen, unheilbaren Krankheiten und Katastrophen aller Art hat sich indessen bis heute um nichts abgeschwächt. Wenn das eine oder andere solcher befürchteten Übel dennoch hereinbrach und die Menschen sich ihm ohnmächtig ausgeliefert fühlten, war es vornehmlich die Aufgabe der Kirche, der Theologie und der Seelsorge, um Antworten, Trost und Hilfe dafür bereitzuhalten. Deshalb nahmen die Pastoren der Reformationskirchen ebenso wie die Priester in der katholischen Kirche noch über Jahrhunderte eine Schlüsselstellung in den frühmodernen Gesellschaften
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ein, obgleich ihre empfindlichen Kirchenzucht- und Disziplinierungsmaßnahmen auch oft gehörigen Widerspruch hervorriefen. II. Die Rahmenbedingungen für die nachreformatorische KG Im Unterschied zur einheitlichen mittelalterlichen und auch zur nachreformatorischen katholischen KG zerfällt die nachreformatorische evangelische KG in unterschiedliche Kirchengeschichten einzelner Territorien, Städte und Regionen. Die einzigen gemeinsamen bekenntnisunabhängigen Rahmenbedingungen für die gesamte KG seit der Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert war das Heilige Römische Reich deutscher Nation mit seinen verschiedenen Organen und das habsburgische Kaisertum als oberste politische wie lehnsrechtliche Instanz für alle. Für die Kirchenpolitik in dem durch die Reformation religiös gespaltenen deutschen Reich waren zunächst die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 ausschlaggebend. Ihnen zufolge galten die Anhänger des Augsburgischen Bekenntnisses von 1530 nicht mehr als Ketzer, sondern standen unter kaiserlichem Schutz. Entsprechend gingen in den evangelischen Territorien die kirchenleitenden Funktionen der Bischöfe auf die Landesfürsten über. Diese konnten nunmehr unbehelligt die Konfession in ihren Herrschaftsgebieten bestimmen, während die geistlichen Fürstentümer, d.h. die Erzbistümer, Bistümer und Fürstabteien, katholisch bleiben mussten und die Konfession nicht ändern durften, wenn ihre Repräsentanten im Amt bleiben wollten. In Nord-, Mittel- und Ostdeutschland ist die Reformierung geistlicher Gebiete und deren Einbeziehung in angrenzende weltliche Fürstentümer dennoch geschehen, so dass der Katholizismus in Gesamtdeutschland gegen Ende des 16. Jahrhunderts erhebliche Verluste zu beklagen hatte und nahezu eine Minderheit darstellte. Die auf Kompromissen und Paritäten beruhenden Vereinbarungen des Augsburger Religionsfriedens bestanden bis zum Ausbruch des 30jährigen Krieges im Jahre 1618. Sie wurden 1648 im Westphälischen Frieden bestätigt, verfeinert und jetzt ausdrücklich auch auf die Calvinis-
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ten ausgedehnt. Die Konfessionsverteilung hatte sich inzwischen - knapp 100 Jahre später - aber wieder zugunsten der katholischen Kirche verändert, freilich nicht nur durch den Religionskrieg, sondern bereits vorher durch gezielte Maßnahmen zur Stärkung der eigenen Konfession. Ein solcher Prozess der Festigung nach innen und der Expansion nach außen lässt sich damals in allen drei christlichen Kirchen beobachten. Das hängt nicht zuletzt mit der bereits betonten Vorrangstellung des Religiösen zusammen. Jede Religionsgemeinschaft glaubte, über die Wahrheit und über die allein zum Heil führenden Mittel zu verfügen und möglichst viele auf diesen Weg mitnehmen zu müssen. III. Konfessionalisierungswellen in allen Konfessionskirchen Den Anfang machten die Lutheraner, die den echten, sog. genuinen Lehrgehalt des Reformators Luther gegenüber den veränderten Akzentsetzungen des Mitreformators Philipp Melanchthon ebenso wie gegenüber den leicht katholisierenden Tendenzen der Anhänger des Interims in teilweise erbitterten Streitigkeiten zu bewahren suchten. Nach dem Tode Luthers hatte die auf Ausgleich gerichtete Theologie Melanchthons viel Zustimmung gefunden. Sie bewährte sich auch in der schwersten Probe, welche die Reformationskirchen zu bestehen hatten, als der ev. Schmalkaldische Bund 1547 der Übermacht des katholischen Kaisers militärisch erlag und 1548 das Interim akzeptieren musste. Das Interim war eine von Karl V. erlassene Kirchenordnung, deren dogmatische und liturgische Bestimmungen die Reformation rückgängig machen und bis zur endgültigen Wiederherstellung der einen katholischen Kirche durch ein Konzil gelten sollte. Wie zur Zeit Luthers galt die im Interim verhandelte Hauptkontroverse neben Messopfer, Heiligenkult, Ablass und Fegefeuer noch immer der Rechtfertigung des Sünders - entweder allein aus reiner Gnade im Glauben an den stellvertretenden Sühnetod Christi oder durch verdienstliche Mittätigkeit des Menschen in Gestalt von guten Werken und anderen heilsfördernden Maßnahmen. Diese Frage hat bis heute keine gemeinsame Antwort gefunden. Melanchthon nahm in
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all diesen Fragen eine vermittelnde Position ein, während die strengen Lutheraner sich kompromisslos zeigten. Hier liegen die Wurzeln für die z.T. erbittert ausgetragenen innerreformatorischen Streitigkeiten zwischen den Philippisten, den Anhängern Melanchthons, und den Gnesioluthranern, den „echten“ Erben Luthers. Das der Reformation durch das Interim drohende „Aus“ konnte jedoch durch militärische Schachzüge und einen unerwarteten Parteiwechsel auf evangelischer Seite im letzten Moment abgewandt werden, so dass die Protestanten auf dem Augsburger Reichstag 1555 die bereits erwähnte Duldungs- und Bestandsgarantie erhielten. Und die innerhalb des Luthertums aufgebrochenen Lehrdifferenzen fanden 1577 in der Konkordienformel, der letzten lutherischen Bekenntnisschrift, ihre Beilegung. Einschließlich der übrigen Bekenntnisschriften verfügte die leidlich befriedete lutherische Kirche nunmehr mit dem Konkordienbuch für Jahrhunderte über einen unverrückbaren Maßstab, an dem auch die künftigen orthodoxen Dogmatiker wie Leonhard Hutter (1563-1616), Johann Gerhard (1582-1637) oder Abraham Calov (1612-1686) sich orientierten und der oft unter erheblichem Druck von den neuen städtischen wie fürstlichen Kirchenleitungen eingefordert werden konnte. Das universitäre Zentrum des leidlich befriedeten Luthertums war seit 1548 nicht mehr das kurfürstlich-albertinische Wittenberg, sondern die neu gegründete herzoglich-ernestinische Hochschule in Jena. Die katholische Kirche hatte auf die existenzgefährdende Herausforderung der Reformatoren nach jahrzehntelangem Zögern mit der Einberufung eines Konzils im Dezember 1545 in Trient reagiert. Während der Ruf nach einem allgemeinen, freien christlichen Konzil auf protestantischer Seite die ganze Reformationszeit hindurch vergeblich erklungen war, wagte der Papst dessen Einberufung erst jetzt, als er hoffte, die „abtrünnigen“ Protestanten wieder unter seine Herrschaft zwingen zu können. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht. Die mit Unterbrechungen bis 1563 in Trient und Bologna tagende Kirchenversammlung, in deren Verlauf insgesamt vier Päpste starben, blieb doch bis zum Ende
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eine reine katholische Angelegenheit. Allerdings sollte das bald sog. Tridentinum für den Katholizismus weitreichende positive Folgen haben. Denn die von den Konzilsvätern verabschiedeten dogmatischen, gegen die Theologie der Reformatoren gerichteten Beschlüsse zementierten die katholische Lehre über Jahrhunderte bis heute; und die zahlreichen praktischen Reformmaßnahmen, etwa für die Priesterausbildung, die bischöfliche Amtsführung und die ganze Ämterhierarchie setzten die römische Kirche instand, um auf die evangelische Kritik in Zukunft überzeugender antworten zu können. Insbesondere der 1540 vom Papst bestätigte Priesterorden der Jesuiten trug durch seine missionarische, lehrende und seelsorgliche Tätigkeit entscheidend zur Stabilisierung der katholischen Kirche seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bei. Vor allem gelang es ihm - nicht selten unter Einsatz gegenreformatorischer Strategien - verlorenes Terrain zurückzugewinnen und selbst die großen geistlichen Fürstentümer Köln, Mainz und Trier im Einflussbereich der Kurie zu belassen, so dass die katholischen Stimmen im Kurkollegium bei der Kaiserwahl weiterhin die Mehrheit besaßen. Auch das ursprünglich in der Schweiz um Zürich und Genf beheimatete Reformiertentum verfeinerte seine Lehrbildung und hatte im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert gleichfalls erhebliche Zuwächse zu verzeichnen. Dabei stand es bekanntlich bis 1648 nicht ausdrücklich unter dem reichsrechtlichen Schutz des Augsburger Religionsfriedens. Weil aber nach Meinung zahlreicher Zeitgenossen Zwingli und Calvin den Bruch mit dem Katholizismus konsequenter vollzogen hätten als Luther und die Wittenberger Reformatoren, schlossen sich einzelne Territorien wie z.B. die Kurpfalz dem Calvinismus an oder wechselten vom lutherischen ins reformierte Lager wie die Stadt Bremen, das Fürstentum Anhalt oder die Landgrafschaft Hessen-Kassel. Entscheidende Dokumente der Zugehörigkeit zum Calvinismus waren der Heidelberger Katechismus von 1563 und der sog. Lobwasser-Psalter von 1573, die deutsche Übersetzung einer ursprünglich französischen Bereimung und Vertonung sämtlicher 150 Psalmen für den gottesdienstlichen Gesang.
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Alle drei Konfessionalisierungswellen brachten nicht nur eine Vertiefung des jeweils eigenen Glaubensgutes, sondern auch eine Vertiefung des Grabens zu den anderen christlichen Kirchen mit sich. Die jeweiligen Abschottungen wirkten sich sowohl auf das geistliche Leben einer Landeskirche als auch auf die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse aus. Vor allem profitierten - mehr im Protestantismus als im Romabhängigen Katholizismus - die Fürsten als nunmehr oberste Bischöfe ihrer Landeskirchen davon. Denn die äußere Verwaltung der Kirche samt dem Kirchengut, die Überwachung der rechtgläubigen Monokonfessionalität ihrer Untertanen, die Ehegerichtsbarkeit sowie die Schulaufsicht, vereinzelt auch die Verantwortung für die verbliebenen Klöster bescherte ihnen eine erhebliche Kompetenzausweitung. Die für all diese Aufgaben eingerichteten Konsistorien waren nichts anderes als der verlängerte Arm des landesherrlichen Kirchenregiments, das abgesehen von der Einrichtung der Synoden im 19. Jahrhundert bis 1918 Bestand hatte. Hier liegt auch eine der Wurzeln des Absolutismus, den es ohne die Reformation vielleicht nie oder erst sehr viel später gegeben hätte. IV. Intoleranz und Gewalt Die das sog. konfessionelle Zeitalter eröffnenden Konfessionalisierungen brachten leider ein hohes Maß an Intoleranz mit sich. Der bekenntniskonforme Glaube als absoluter Maßstab bestimmte auch den Alltag der Menschen. Die Angehörigen jeder Konfession waren davon überzeugt, dass nur ihre Gottesverehrung und Frömmigkeit im Jüngsten Gericht bestehen würden. Alle Formen von Toleranz und Kompromissbereitschaft galten als Gefährdung des eigenen Seelenheils und als Verrat an der für allein richtig eingestuften Wahrheit. Diese Überzeugung erklärt den oft unbarmherzigen Umgang mit Andersglaubenden ebenso wie die erstaunliche Leidensbereitschaft einzelner oder auch ganzer Gruppen. Dass Pastoren mit ihren Familien oft mehrere Male von ihren Pfarreien vertrieben wurden, war keine Seltenheit. Theologische Streitli-
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teratur hatte Hochkonjunktur. An den Universitäten wurden Lehrstühle für Kontroverstheologie eingerichtet. Die Konfessionsdifferenzen prallten am spürbarsten dort auf einander, wo Protestanten und Katholiken auf engem Raum zusammenleben mussten. Das traf seit dem Augsburger Religionsfrieden für einige konfessionell gemischte Reichsstädte zu. Zwar waren die städtischen Gremien paritätisch besetzt; doch allein die unterschiedlichen Gottesdienst- und Frömmigkeitsformen führten ständig zu Konflikten, Schikanen und sogar tätlichen Übergriffen. So geschehen 1607 in der schwäbischen Reichsstadt Donauwörth, wo die katholische Minderheit gegen die Vereinbarung eine Prozession mitten durch die ev. Innenstadt mit wehenden Fahnen, Kreuzen und Monstranzen durchgeführt hatte und dafür von aufgebrachten Protestanten verprügelt wurde. Die daraufhin im Schnellverfahren vom Reichshofrat über die Stadt verhängte Acht mit nachfolgender Zwangsrekatholisierung rief reichsweiten Protest hervor, führte 1608 und 1609 zur Gründung zweier konfessioneller Defensivbündnisse und entlud sich zehn Jahre später im Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Unmittelbarer Auslöser war freilich die Wahl des reformierten Friedrich von der Pfalz zum böhmischen König durch die überwiegend evangelischen böhmischen Stände, obgleich der katholische Erzherzog Ferdinand zuvor für dieses Amt designiert worden war. Der Verlauf des aus dem religiösen Zwiespalt in Deutschland erwachsenen und nach dem Eintritt Schwedens 1631 europäische Ausmaße annehmenden Krieges ist kein genuin kirchengeschichtliches Thema, obgleich viele Menschen unsagbar gelitten haben, weniger zwar unter den Kriegshandlungen als unter den soldatischen Einquartierungen und unter den durch die Truppen eingeschleppten Seuchen. Kirchengeschichtlich relevant sind allerdings die Auswirkungen des langen kriegsbedingten Ausnahmezustandes auf Kirche, Theologie und Frömmigkeit und natürlich einzelne Bestimmungen des Westfälischen Friedens wie z.B. die endgültige Selbständigwerdung der Schweiz, schmerzhafte Gebietsabtretungen an Frankreich und Schweden, die Einrichtung einer neuen Kur-
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würde für Bayern, und in Norddeutschland insbesondere die Wiederherstellung des katholischen Bistums Hildesheim, der Wechsel zwischen einem katholischen und einem evangelischen Bischof aus dem welfischen Hause in Osnabrück und der Fortbestand des evangelischen Bistums Lübeck unter Fürstbischöfen aus dem Hause Holstein-Gottorp mit einem Superintendenten für die geistliche Leitung in Eutin. Im Übrigen erneuerte und präzisierte das Instrumentum Pacis Westfalicae den Augsburger Religionsfrieden und setzte das Jahr 1624 als Fixpunkt für den Konfessionsstand fest, ohne freilich die weiterhin in der Schwebe bleibende Wahrheitsfrage zu beantworten. Auch mit der rein formalen Einbeziehung der Reformierten unter die reichsrechtliche Duldung verband sich keine inhaltliche Aussage. Andere Glaubensgemeinschaften wie z.B. die verschiedenen Täuferfraktionen, allen voran die Mennoniten, blieben weiterhin davon ausgeschlossen. Die Monokonfessionalität in einem Territorium erfuhr insofern eine gewisse Erweichung, als Minderheiten der nunmehr drei legitimierten christlichen Kirchen sich in einem Territorium mischen und wenigstens Privatgottesdienste abhalten durften, während sie früher konvertieren oder auswandern mussten. Eingeschränkte konfessionelle Koexistenz und konfessionelle Parität bei der Besetzung der Reichsorgane, wie der Verwaltungen in den Reichsstädten, machen vielleicht die Hauptcharakteristika des Westfälischen Friedens aus. Beides galt jedoch nicht in den habsburgischen Erblanden, wie wir von den nach Sachsen geflohenen und in Herrnhut angesiedelten Böhmischen Brüdern (1722) und von den in Preußen aufgenommenen Salzburger Protestanten (1731) wissen. Und das landesherrliche Kirchenregiment erfuhr insofern eine Einschränkung, als es sich jetzt nur noch auf die äußere kirchliche Verwaltung bezog und der Konfessionswechsel eines Fürsten keinen Konfessionswechsel der Untertanen mehr nach sich zog. Auch der Bestand der katholischen geistlichen Gebiete blieb durch das Reformationsverbot bis 1803 gewahrt.
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V. Reunionsprogramme und vereinzelt propagierte Toleranz Trotz der vielfach beklagten gegenseitigen Abgrenzungen und Feindseligkeiten zwischen den christlichen Kirchen im konfessionellen Zeitalter hat es dennoch Bemühungen in Richtung einer Aufhebung der Kirchenspaltung bis hin zu empfohlener geschwisterlicher Toleranz gegeben. Schon unter den Reformatoren war es vor allem der Humanist Philipp Melanchthon, dem daran lag, die Lehrdifferenzen im Verständnis des Abendmahls und der Prädestination zwischen den Anhängern Luthers und den Schweizern beizulegen und die Rechtfertigungskontroverse mit der Papstkirche zu beenden. Als beides nicht gelang und an der endgültigen Abspaltung der Reformationskirchen von Rom trotz mehrerer vergeblicher Religionsgespräche kein Zweifel mehr bestand, rief der katholische, in Köln wirkende Theologe Georg Cassander (1513-1566) seine Kirche trotzdem zu Dialogbereitschaft und grundlegenden Reformen auf. Beides sollte auf der Basis der gemeinsamen frühchristlichen Theologie eine Annäherung an reformatorische Positionen erleichtern. Besonders ausgeprägt war der Wunsch nach dogmatischer Verständigung mit dem Luthertum im reformierten Lager, das sich ja bis 1648 noch außerhalb des Religionsfriedens befand. Vor allem der Heidelberger Theologieprofessor David Pareus (1548–1622) warb für die Beilegung des Lehrdissenses mit der lutherischen Schwesterkirche. Ein weiterer Reformierter, der niederländische Natur- und Völkerrechtler Hugo Grotius (1583-1645), wagte es sogar, den Alleingeltungsanspruch einer Konfession in Frage zu stellen und für ein vernünftiges, tolerantes, überkonfessionelles Christentum zu werben. Davon angeregt, entwickelte der aus Schleswig-Holstein stammende Helmstedter Theologieprofessor Georg Calixt (1586-1656) eine Friedenstheologie, die ähnlich wie bei Cassander auf den nach seiner Meinung unstrittigen Dogmen der ersten fünf christlichen Jahrhunderte fußte, zu denen die Reformatoren hinter die Irrtümer der Papstkirche zurückgekehrt seien. Auf dieser heilsnotwendigen Basis wollte Calixt durch interkonfessionelle Begegnungen und Lehrgespräche geschwisterliche Koexistenz und eines Tages auch
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die christliche Wiedervereinigung erreichen. Der Helmstedter Ireniker sah sich nicht zuletzt durch den verheerenden 30jährigen Religionskrieg in seinen fast schon ökumenisch zu nennenden Bemühungen bestätigt, fand aber keine Unterstützung bei den erbittert gegen ihn als Synkretist/Religionsmischer polemisierenden lutherischen Glaubensgenossen. Ähnlich erfolglos endeten auch verschiedene Religionsgespräche und Reunionspläne im späteren 17. Jahrhundert. Sie scheiterten nicht zuletzt an den Verwerfungen des Konzils von Trient, welche die Katholiken nicht preisgeben, die Protestanten nicht akzeptieren wollten. Diese vor allem in Hannover unter Beteiligung von Gottfried Wilhelm Leibniz geführten Verhandlungen hinterließen aber eine offene Wunde, deren Heilung sich erst die ökumenische Bewegung des 20. Jahrhunderts wieder vorgenommen hat. VI. Existentielle Grenzerfahrungen und deren Bewältigungsstrategien Einige solcher Grenzerfahrungen sind in den Verschonungsbitten des über diese Vorlesung gestellten Mottos bereits genannt: Krieg, Pest, Feuer. Die Reihe ließe sich beliebig verlängern um Missernten, Preisanstiege, Hungersnöte, Naturkatastrophen aller Art, Kometen. Solange es menschliches Leben gibt, gibt es auch solche Erfahrungen. Nur die Art und Weise, damit umzugehen, hat gewechselt. Wie im Mittelalter war auch in der Frühen Neuzeit vorrangig die Kirche als geistliche Therapeutin gefragt. Entsprechend dem noch weithin ungebrochenen theologischen Weltbild, nach welchem der Schöpfergott das Geschehen im Mikro- wie im Makrokosmos lenkt und vorankündigt, galt es noch immer als selbstverständlich, himmlische Vorsorge zu treffen. Bloß die Mittel dazu waren infolge der reformatorischen Kritik an Heiligenkult, grober Werkgerechtigkeit und Ablasshandel andere geworden. Allein der Glaube an das Verdienst Jesu Christi und das Vertrauen auf die göttliche Gnade sollten es nun richten. Doch vielen Menschen fehlte die Heilsgewissheit; sie fühlten sich angesichts der lebensbedrohlichen Zeitereignisse und der nicht enden wollenden Lehrstreitigkeiten etwa über die
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Rechtfertigung, das Abendmahl oder die Prädestination in höchstem Maße verunsichert und unter der Last ihres Lebensalltags überfordert. Das alte Stiftungswesen mit Aussicht auf jenseitigen Lohn kehrte sehr bald u.a. in vielen Testamenten zurück. Manche Menschen trachteten künftigem Unheil zu entgehen, indem sie Sündenböcke benannten und z.B. als vermeintliche Hexen unschädlich zu machen suchten. Andere wiederum flüchteten sich in Alchemie oder sonstige Glück und Schutz versprechende Geheimpraktiken. Das Wiederaufleben der im Mittelalter vereinzelt aufgetretenen Hexenverfolgungen im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert gehört noch immer zu den Rätseln der Kirchengeschichte. Sowohl in katholischen als auch in evangelischen Regionen wurden zumeist alleinstehende, verwitwete ältere Frauen aufgrund von diffusen Gerüchten verdächtigt, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, mit ihm gebuhlt, am Hexensabbat teilgenommen und Schadenzauber verübt zu haben. Derartige für uns heute abwegige Geständnisse wurden durch grausame Foltermethoden aus den Angeklagten herausgepresst und am Ende meist mit dem Tode bestraft. Anweisungen für Anklage, Deliktermittlung und Prozessführung enthielt der 1486 erstmals veröffentlichte sog. „Hexenhammer“. Zu seinen Befürwortern gehörten leider auch Geistliche aller Konfessionen. Zu einem Ende kam diese größte nicht kriegsbedingte Massentötung erst unter dem Einfluss der Aufklärung zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Der Protest des Jesuiten Friedrich Spee von Langenfeld im Jahre 1631 verhallte noch; erst der ev. Philosoph und Jurist Christian Thomasius fand 1701 und 1712 mehr Gehör. Es fällt heute schwer, sich vorzustellen, dass der Tod unschuldiger Menschen eigene Ängste besänftigt haben sollte. Weit mehr überzeugt die Suche nach Trost und Halt in einer intensivierten Frömmigkeit durch Gebete, geistliche Lieder und Meditationen. Gebetbücher und Erbauungsschriften aller Art hatten denn auch im 17. Jahrhundert Hochkonjunktur. Eines der verbreitetsten Andachtsbücher stammte von dem anhaltinischen Theologen Johann Arndt (1555-1621)
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und trägt den Titel „Vier Bücher vom Wahren Christentum“. Es erschien vollständig erstmals 1610 und wurde unzählige Male bis in unsere Zeit nachgedruckt. Arndt, der nach mehreren Amtswechseln zuletzt Generalsuperintendent in Celle war, wollte mit seinem „Wahren Christentum“ der beklagten Diskrepanz zwischen Glauben und Leben begegnen und mahnte eine über die Konfessionstreue hinaus durch Bußbereitschaft, Wiedergeburt und Nachfolgeernst ausgezeichnete Frömmigkeit an. Letztlich sollten seine Leser durch die meditierende Lektüre des Buches und durch den Gebrauch der Gebete des später angehängten „Paradiesgärtleins“ (1612) ihre durch die Sünde verlorene Gottebenbildlichkeit zurückgewinnen und andere Menschen werden. Arndts Hauptquelle ist die Bibel. Streckenweise reiht er ein Schriftwort an das andere. Daneben bedient er sich mit Vorliebe mittelalterlicher mystischer, aber auch zeitgenössischer spiritualistischer Quellen, von denen einige sogar aus dem nichtorthodoxen Lager stammen. Arndt verstand es, sie so geschickt in seinen lutherischen Rahmen einzupassen, dass seine Rechtgläubigkeit trotz z.T. heftiger Einsprüche von amtskirchlicher Seite bis heute nicht wirklich in Frage gestellt werden konnte. Arndts Kampagne gegen das bloße „Maulchristentum“ ohne erkennbaren Niederschlag im Lebensalltag und sein Aufruf zu einer ernsthaften, die ganze Existenz wendenden Christusnachfolge, hat der Frömmigkeit wieder lebensbewältigende Kraft verliehen. Gleichzeitig trug Arndt dazu bei, eine Bewegung mit vorzubereiten, die zunächst verächtlich „Pietismus“ genannt wurde und sich heute als wohl klingende Epochenbezeichnung eingebürgert hat. Kaum eine Zeit war so fromm wie das 17. Jahrhundert. Die Einordnung Arndts als „Frühpietist“ ist nicht nur ein Forschungskonstrukt, sondern entspricht auch dem Selbstverständnis dieser Bewegung. Denn Philipp Jakob Spener (1633-1705), der Begründer des kirchlichen Pietismus in seiner Vollgestalt, hat sein Reformprogramm 1675 als Vorrede zu der von ihm neu herausgegebenen Evangelienpostille Johann Arndts konzipiert und damit ausdrücken wollen, dass er theologisch auf den Schultern Arndts steht. Dieses Reformprogramm enthält
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„fromme Wünsche/Pia Desideria“, durch welche das ganze gesellschaftliche und kirchliche Leben geläutert werden sollte. U.a. schlug Spener ein vertieftes Bibelstudium gerade der Laien, fromme Erbauungsstunden neben den Gottesdiensten sowie eine gründliche Reform der Theologenausbildung vor. Ferner erinnerte er an die verschüttete missionarische und sozial-diakonische Dimension des Christentums. Beides griff Speners Schüler August Hermann Francke (1663-1727) nach seiner „Bekehrung“ in dem 1695 zu bauen begonnenen Komplex der Halleschen Anstalten auf und erweiterte es durch einschlägige pädagogische Impulse. Davon als Zögling des Halleschen Pädagogiums angeregt, siedelte der Nichttheologe Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) ab 1722 böhmisch-mährische Glaubensflüchtlinge auf dem Hutberg seines Gutes Berthelsdorf in der Oberlausitz an. Daraus entstand nicht nur eine Handwerkerkolonie, sondern eine nach seinen Vorstellungen gegliederte und verfasste Freikirche, die sich über ganz Europa bis nach Amerika ausbreitete und als Evangelische Brüder-Unität Herrnhut bis heute besteht. Die von ihr noch immer herausgegebenen Bibel-„Losungen“ für jeden Tag des Jahres fanden und finden viel Anklang. Sie sind inzwischen in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Nach diesem gerafften Überblick über die vier „Generationen“ bzw. Ausprägungen des Pietismus als eines Versuchs, das Leben durch vertiefte Frömmigkeit und ein praktisches Christentum dem Evangelium gemäß zu gestalten und sich auf die allenthalben erwartete Wiederkunft Christi vorzubereiten, kehre ich nochmals ins 17. Jahrhundert zurück, um mich weiteren Trostinstrumenten zuzuwenden, nämlich den geistlichen Liedern, von denen zu keiner Zeit so viele und so zeitlose entstanden sind wie damals. Unter den zahlreichen Dichtern wähle ich den bekanntesten aus: Paul Gerhardt (1607-1676), der seit 1657 als Diakon an der Berliner Nikolaikirche wirkte, bis er 1668 sein Amt aufgeben und das Kurfürstentum Brandenburg verlassen musste, weil er als überzeugter Lutheraner die reformiertenfreundliche Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten nicht mittragen konnte. So verbrachte er seine letzten freud-
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losen Jahre in Lübben im Spreewald unter kursächsischem Schutz. Seine Frau und seine Kinder, bis auf einen Sohn, waren noch in Berlin an der Pest gestorben. Paul Gerhardt wusste, wovon er sprach, wenn er in einem 1653 veröffentlichten Lied in der vorletzten Gebets-Strophe dichtete: „Behüt uns allzusammen / vor falscher Lehr / Und Feindes Heer, / Vor Pest und Feuersflammen.“ Der Dichter hatte alle Herausforderungen seiner Zeit am eigenen Leib erfahren und erlitten. Ohne sie auszublenden, durchklingen dennoch Freude, Dankbarkeit, Zuversicht und Hoffnung seine Lieder. Polemik sucht man vergebens in ihnen. Deshalb fanden viele der ursprünglich gar nicht für den Gottesdienst gedachten Texte bald Eingang in die allerorten zusammengestellten landeskirchlichen Gesangbücher und selbst in das brandenburgische reformierte Hofgesangbuch. Man sang und singt sie entweder nach den eigens von den Berliner Nicolai-Kantoren Johann Crüger und Johann Georg Ebeling komponierten Melodien oder nach bekannten Kirchenlied-Weisen. Der Grund für die ungebrochene Beliebtheit einzelner Paul Gerhardt-Lieder besteht in ihrer sprachlichen Schönheit ebenso wie in ihrem hohen Verallgemeinerungsgehalt. Dem mitreißenden Schwung des Sommerliedes „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ kann sich selbst heute kaum einer versagen, die Sonnen- und Singe-Lieder gehören noch immer zu den am liebsten im Gottesdienst angestimmten, keine Passionszeit ohne „O Haupt voll Blut und Wunden“ und kein Heiliger Abend ohne „Ich steh’ an deiner Krippen hier“. Wie viele Generationen das Psalmlied „Befiehl du deine Wege“ in den unterschiedlichsten Ausweglosigkeiten getröstet und hoffnungsvoll gestimmt hat, wird man wohl nie erfahren. Gerade dieser Text lässt etwas erahnen von der Kraft, die menschlichen Worten innewohnen kann. Die fortgeschrittene Zeit lässt es nicht zu, andere Kirchenlieddichter wie etwa Johann Heermann oder Johann Rist ebenso zu würdigen. Es sollte nur deutlich geworden sein, dass geistliche Lieder einen hohen Anteil an der von Theologie und Kirche geleisteten Stabilisierungsarbeit im kri-
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sengeschüttelten konfessionellen Zeitalter und weit darüber hinaus hatten. Um die gemeinschaftstiftende Wirkung von Liedern wusste auch Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, der für seine Herrnhuter Brüdergemeine selbst viele Verse schrieb und sie in allwöchentlichen Singestunden zum Einsatz brachte. VII. Frauen in der frühneuzeitlichen Kirchengeschichte Alle in dieser Vorlesung bisher erwähnten oder vorgestellten Personen waren Männer. Die Kirchengeschichte ist wie die allgemeine Geschichte noch immer durchweg männlich. Frauen kommen darin gewöhnlich kaum oder allenfalls am Rande vor. Dabei haben die Reformatoren vom Priestertum aller Glaubenden und Getauften gesprochen und den Zölibat der Geistlichen abgeschafft. Damit änderte sich für das Verhältnis der Geschlechter zu einander und in der Gesellschaft freilich wenig. Im Gegenteil: Durch die Aufwertung der Ehe und die Ermöglichung der Pastorenheirat blieben Frauen fast noch mehr als im Mittelalter auf den engen Radius von Haus und Familie beschränkt und zur biblisch begründeten Unterordnung unter ihre Partner verpflichtet. Eigene Gestaltungsräume fehlten. Nur Fürstinnen und ganz wenigen besonders starken, gebildeten Frauen gelang es, dem Rollenzwang zu entkommen und vereinzelt sogar zur Schreibfeder zu greifen. Die Beteiligung am theologischen Diskurs war allerdings wie bei den mittelalterlichen Mystikerinnen in der Regel nur mit Hilfe einer höheren Autorisation durch den Heiligen Geist möglich. Die Berufung auf eine jenseitige Inspiration barg aber häufig die Gefahr in sich, außerhalb der amtskirchenüblichen Maßstäbe zu geraten und bestraft, verfolgt oder ausgewiesen zu werden. Gerade im konfessionellen Zeitalter stand bekanntlich jede Abweichung von der in Bekenntnisschriften und Dogmatiken festgeschriebenen Norm im Verdacht der Sektiererei. Insbesondere Frauen, die es wagten, sich am theologischen Diskurs der Männer zu beteiligen, standen von vornherein unter kritischer Dauerbeobachtung.
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Mit der Vorstellung einer solchen unangepassten, gesellschaftlich und theologisch aus dem Rahmen fallenden Frau des schleswig-holsteinischen Raumes möchte ich meine kirchengeschichtlichen Ausführungen beschließen. Diese Frau eignet sich auch aus dem Grunde für dieses Schlusskapitel, weil sich in ihrem Leben so gut wie alles wiederfindet und verdichtet, was ich bisher angesprochen habe: das Ringen um die religiöse Wahrheit, Naturkatastrophen, Epidemien, Krieg, vertiefte Frömmigkeitsformen, Häresieverdacht. Bei dieser ungewöhnlichen Frau handelt es sich um Anna Ovena Hoyers (1584-1655), Tochter eines wohlhabenden Bauern aus Koldenbüttel und Ehefrau des Eiderstädter Stallers/Amtmannes Hermann Hoyer, der zunächst in Hoyersworth, später in Tönning residierte. Diesem oblag im Auftrag des schleswig-holsteinischen Herzogs neben der wirtschaftlichen und rechtlichen auch die kirchliche Oberaufsicht über die Region. Obgleich bei der Heirat erst 15 Jahre alt, hatte Anna Ovens eine für Mädchen ungewöhnliche höhere Bildung genossen und begnügte sich nach der Heirat trotz ihrer neun Kinder auf Dauer nicht mit der Hausfrauen- und Mutterrolle. Mit wachen Augen verfolgte die religiös Interessierte die teilweise restriktiven Maßnahmen ihres Mannes gegenüber Mennoniten, David Joriten, Rosenkreuzern und anderen sich in Konventikeln zusammenschließenden kirchlichen Außenseitern. Vor allem vertiefte sie sich in deren Schrifttum. Als sie mit 38 Jahren verwitwete, nutzte sie ihre in materieller und kirchlicher Hinsicht priviligierte Stellung dazu, einigen in der Öffentlichkeit missliebigen Personen auf ihren Besitzungen Asyl zu gewähren. Vor allem der Laientheologe und Arzt Nicolaus Knutzen Teting (1593/94-ca. 1640) scheint ihr besonders nahegestanden zu haben. Doch ihre Großzügigkeit ließ ihr Vermögen zumal während des 30jährigen Krieges - langsam zusammenschmelzen. Zudem geriet auch sie mehr und mehr unter Häresieverdacht. Deshalb siedelte sie nach verschiedenen Ortswechseln vermutlich in den frühen dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts aufgrund ihrer Beziehung zum skandinavischen Adel nach Schweden über. In der Witwe des in der
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Schlacht bei Lützen 1632 gefallenen Königs Gustav Adolf fand sie eine Schicksalsgefährtin und Gönnerin. Diese schenkte ihr das Gut Sittwick südlich von Stockholm und ermöglichte der Emigrantin einen von äußeren Sorgen freien Lebensabend. Die meisten ihrer Kinder waren damals bereits versorgt. So konnte Anna Ovena Hoyers sich ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Lesen und Schreiben, widmen. Bereits 1628, als sie noch in Schleswig-Holstein lebte, war im niederländischen Leiden ein Büchlein von ihr mit dem Titel „Gespräch eines Kindes mit seiner Mutter. Von dem Wege zu wahrer Gottseligkeit“ erschienen. Der Druck scheint durch den nicht unumstrittenen Juristen Johann Angelius Werdenhagen (1581-1652) vermittelt worden zu sein. Das verrät sein gereimtes Vorwort „An den Christlichen Leser“, in dem die schreibende Frau verteidigt und betont wird, dass Weisheit nicht auf Universitäten zu lernen sei, sondern vom Heiligen Geist erbeten werden müsse. Deshalb brauche niemand Bedenken zu tragen, sich von einer Frau belehren zu lassen. Die Legitimation durch den Geist Gottes wäre bei einem Amtstheologen wohl kaum nötig gewesen. Aber der Mut einer kirchenkritischen Mutter, sich in die religiöse Erziehung ihrer Kinder an der Autorität des kritisierten Ortsgeistlichen vorbei einzumischen, war nicht alltäglich und weckte Misstrauen. Anna Ovena Hoyers gereimte Mutter-Kind-Unterhaltung in gebundener Sprache gehört zur katechetischen Erbauungsliteratur. Obgleich ein Schreibtischprodukt mit langen mütterlichen Monologen vermitteln die kindlichen Fragen, Einsprüche und Zweifel stellenweise doch den Eindruck eines echten Gesprächs. Das Ziel des geistlichen Erziehungsweges ist eine konsequente Kreuznachfolge Christi als Voraussetzung für das ewige Leben. Wie bei Johann Arndt, den Anna Ovena Hoyers ausgiebig gelesen zu haben scheint, geht es auch ihr um das „wahre Christentum“, das sie in der Landeskirche vermisst. Obgleich sie bei ihrem kindlichen Gesprächspartner Buße, Wiedergeburt und die konsequente Umsetzung des Glaubens im Alltag nachdrücklich anmahnt, ist sie doch zugleich bestrebt, den Vorrang der göttlichen Gnade vor der eigenen Mittätigkeit
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an der Bekehrung, Rechtfertigung und Heiligung zu wahren. Dieses in mehrfacher Hinsicht interessante Lehrgespräch einer Mutter mit ihrem Kind fiel Ende des 17. Jahrhunderts ohne Verfasserangabe keinem geringeren als Philipp Jacob Spener in die Hände. Dieser lobte es, gab es wegen seines pädagogischen Wertes erneut heraus und verhalf der ihm nicht bekannten Autorin dadurch zu einer unerwarteten Breitenwirkung. Von dem übrigen religiösen Kleinschrifttum Anna Ovena Hoyers hat sich nur noch eine 1650 in Amsterdam publizierte Ausgabe ihrer „Geistliche[n] und weltlichen Poemata“ erhalten. Sie vermitteln einen lebendigen Eindruck vom Zeitgeschehen in Schleswig-Holstein, Dänemark und Schweden, von ihrem Unbehagen an Kirche und Theologie ihrer Zeit, von ihrer intensiven, teilweise mystischen Frömmigkeit und auch von ihrer Theologie, die in der Christologie und in der Eschatologie von der orthodoxen Norm abweicht. Anna stellte nämlich Christi volle Menschheit in Frage und rechnete mit dem alsbaldigen Hereinbrechen des Endes. In Stockholm hat sich noch eine handschriftliche Sammlung nicht gedruckter geistlicher Lieder Anna Ovena Hoyers erhalten. Einige von ihnen, obgleich sie den Poetikregeln des Martin Opitz noch nicht verpflichtet sind, können neben der geistlichen Lyrik anderer Dichter inhaltlich und formal durchaus bestehen. In der neueren deutschen Literaturgeschichte wird ihr denn auch ein gebührender Platz als satirische Schriftstellerin und geistliche Lyrikerin eingeräumt. Sie war eine überaus wache, mutige Frau, die sich über die ihrem Geschlecht gesetzten Grenzen hinwegsetzte, um das als wahr Erkannte weiterzusagen und ihren Zeitgenossen den Spiegel vorzuhalten. So erinnerte sie z.B. anlässlich der großen Sturmflut von 1634 die Unbußfertigen an Gottes Gericht und die zur Umkehr Bereiten an die göttliche Fürsorge. Ihre Poemata klingen aus mit einer Anspielung auf die zehn klugen und törichten Jungfrauen: „Der Bräutgam ist vorhanden / Verschlaft die Stunde nicht / Wollt ihr nicht stehn mit Schanden / So habt ein brennend Licht“. Und ganz am Ende steht die kindliche Bitte: „Amen, Herr Jesu, Amen / In Gnaden zu uns komm / Und mach uns allzusammen / Heilig, gerecht
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und fromm / Laß uns mit dir anfangen / Alles in dieser Zeit / Und durch dich auch erlangen / die ewig Seligkeit“ (S. 103f.).
Kirche in der Frühen Neuzeit 1555–1750 1520–1556 1530 1540 1545–1563 1546 1546–1547 1548 1548/58 1555 1555–1621 1560 1561 1561ff. 1563 1564 1573 1576 1577 1580 1582–1637 1584–1655 1586–1656
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Kaiser Karl V. Augsburgisches Bekenntnis päpstl. Bestätigung des Jesuitenordens (Gründer: Ignatius von Loyola) Trienter Konzil (Tridentinum) Martin Luthers Tod Schmalkaldischer Krieg Augsburger Interim Anfänge der streng lutherischen Univerität Jena Augsburger Religionsfriede Johann Arndt (Frühpietist) Philipp Melanchthons Tod Menno Simons stirbt bei Bad Oldesloe Streitigkeiten zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern Heidelberger Katechismus Johannes Calvins Tod reformierter Lobwasser-Psalter Gründung der Reform-Universität Helmstedt Konkordienformel (letzte lutherische Bekenntnisschrift) Konkordienbuch (bis heute gültige luth. Bekenntnisschriftensammlung) Johann Gerhard (bedeutender luth. Dogmatiker) Anna Ovena Hoyers aus Eiderstedt Georg Calixt in Helmstedt (luth. Unionstheologe)
1607 1607–1676 1610 1611 1618–1648 1631 1632 1633–1705 1634 1648 1663–1727 1675 1694 1700–1760 1712ff. 1731
Konflikt zwischen Katholiken u. Protestanten in Donawörth Liederdichter Paul Gerhardt Vier Bücher von Wahrem Christentum von Johann Arndt Paradiesgärtlein (Gebetbuch von Johann Arndt) Dreißigjähriger Krieg Gustav Adolf v. Schweden hilft den Protestanten Gustav Adolf stirbt nach dem Sieg bei Lützen Philipp Jakob Spener, Begründer des Pietismus Sturmflut an der Westküste Schleswig-Holsteins Westfälischer Friede mit „Normaljahr“ 1624 August Hermann Francke (Hallesche Anstalten 1694ff.) Pia Desideria, Programm des Pietismus Gründung der pietist. Universität Halle Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (Herrnhut 1722/27) Ende der Hexenverfolgungen (Christian Thomasius/Halle) vertriebene Salzburger Protestanten in Preußen
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Die EKD in Bewegung Standortbestimmung der evangelischen Kirche in Zeiten des Wandels Henning Kiene Im Jahr 2006 beschloss die Synode der Nordelbischen Kirche eine umfassende Reform der Nordelbischen evangelisch-lutherischen Kirche. Kirchenkreise sollten zusammengelegt, die Dienste und Werke der Nordelbischen Kirche neu strukturiert werden. Die damalige Bischöfin Bärbel Wartenberg-Potter mahnte, dass der Mantel der Kirche zu weit geworden sei. Das Gewand der Kirche sei zu groß geschneidert, die Kirche in dem Gewand geschrumpft. Dieser Schrumpfungsprozess sei unumkehrbar. Die Kirche müsse sich diesem Prozess anpassen. Sie würde sich auch den veränderten Lebenswelten der Menschen neu zu stellen haben. Die Menschen seien beständig mobiler geworden und hätten zeitgleich ihren Heimatbegriff neu definiert. Die Bischöfin wusste namhafte Mitglieder der Kirchenleitung hinter sich. Sie sprach auch vielen Pröpsten aus der Seele. Es war nicht mehr zu übersehen, der damalige Kirchenkreis Süderdithmarschen schrumpfte jährlich um ein kleines Dorf, die ehren- und hauptamtlichen Leitungs- und Verwaltungsstrukturen waren jedoch nur in Grenzen veränderbar. Bei dem jährlichen Mitgliederverlust spielten die Kirchenaustritte keine entscheidende Rolle. Die Menschen verließen die Region, sie zogen weg, der Arbeit hinterher, die Alten starben, die Kinderzahlen gingen drastisch zurück, die Taufe der Kinder wird immer weiter verschoben, so dass sie vielfach auch in evangelischen Familien ganz unterbleibt. Mit dem Mitgliederschwund setzte eine andauernde Finanzkrise ein. Die Erkenntnis war bitter, die Zeiten, in denen zusätzliche kirchliche Dienste geschaffen wurden, sind endgültig vorbei. Noch eins kam dazu: Unsere Kirche muss sich auf einem wachsenden Markt unterschiedlicher Weltanschauungs- und Sinnstiftungsangebote als Mit-
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bewerberin unter anderen behaupten. Das ist für unsere Kirche neu und ungewohnt. Den Kirchen war nach dem Krieg von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes eine vorzügliche Ausgangsposition gewährt worden. Das Subsidiaritätsprinzip hatte genuin staatliche Aufgaben wie die Trägerschaft von Kindertagesstätten, auch Krankenhäuser und andere öffentliche Aufgaben in die Verantwortung der Kirchen gebracht. Die Kirche hat nur den kleineren Kostenanteil, später vorwiegend das Ehrenamt in diese Arbeitsbereiche eingebracht, die Grundfinanzierung kam und kommt von staatlicher Seite und speist sich aus den Gebührenhaushalten. In diesen Arbeitsbereichen wurde neben der wirtschaftlichen immer auch die inhaltliche Frage gestellt. Stimmt die evangelische Aussage in der Kindertagesstätte, in der Diakonie, in der ambulanten und stationären Pflege? Wo Evangelisch draufsteht soll auch Evangelisch drin sein. Oder in der Zeit der Umstellung der pflegenden Einrichtungen auf die Bedingungen, die die Pflegeversicherung stellt, kann man Menschen nach den Pflegesätzen pflegen und das evangelische Profil erhalten? Alles, was ich Ihnen hier als Themenliste ausrolle, sind bekannte, auch vertagte, verdrängte, vergessene und auch neue Fragen. Und, die vielfach aus wirtschaftlichen Fragestellungen entstandenen Themen verstehe ich immer auch als inhaltliche, als theologische Herausforderungen. Es geht nicht um Reduktion der Mittel, um Einsparungen, sondern es geht um die Konzentration kirchlicher Arbeit auf das Wesentliche. Wie ein Smart, dieses kleine Auto, ein echter Mercedes ist, so sollte auch Kirche unter veränderten Bedingungen als Kirche geistliches Leben ausprägen und sich diakonisch ausdrücken können. Smart ist ein vollgültiger Mercedes. Er ist es als das Auto, das alle Wesensmerkmale eines Autos aufweist und dennoch auf sein Minimum reduziert worden ist. Inhalte bleiben, Ballast geht. Schon vor über 10 Jahren war klar, dass unsere Kirche mit Sicherheit anders aussehen wird, als wir sie uns heute vorstellen. Und ich bin immer kritisch, wenn „Weise aus dem Morgenland“ anrücken und anfan-
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gen, die Sterne über die Zukunft der Kirche zu deuten. Wie schwierig solche Zukunftsaussagen sind, zeigt sich, wenn man sich einmal überlegt, was die Menschen vor 30 Jahren über unsere Zeit gesagt haben. Wer hätte im Jahr 1981 vorhergesagt, dass nur acht Jahre später die Mauer fällt, wir heute schon zum zweiten Mal eine Kanzlerin aus dem Osten haben und es mehr Handys als Einwohner in Deutschland gibt mit der Folge eines Dauerklingeltons an allen Orten. Die Frage, wie die Kirche der Zukunft aussieht, wohin sie sich bewegt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Das Zweite, was wir mit Sicherheit über die Zukunft der evangelische Kirche sagen können: Es wird sie garantiert geben - und zwar bis zum Ende der Welt. Das ist die vielleicht größte und mutigste Aussage, die unsere Väter und Mütter damals im Augsburger Bekenntnis 1530, im siebten Artikel über die Kirche ausgedrückt haben: „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“ Dies wird sicher nicht die Kirche in ihrer heutigen Form sein. Was es aber geben wird, ist eine Kirche Jesu Christi, in der „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“. Das ist die große Verheißung: Wir können als kirchliche Verantwortungsträger und engagierte Christen gar nicht so viel falsch machen, als dass es die auf dem Evangelium Jesu Christi fußende Kirche nicht mehr geben würde. Und in dieser großen Verheißung gründet dann zugleich auch die große Freiheit - und Verantwortung - zur Gestaltung der Kirche: Eben weil die Kirche ein Geschöpf des Wortes Gottes ist, im Theologen-Deutsch eine „creatura verbi divini“, deshalb gibt es keine unveränderbaren Strukturen in der evangelischen Kirche. Darum ist auch die Zusammenlegung der Kirchenkreise und der Dienste und Werke in der Nordelbischen Kirche und die Bildung der Nordkirche kein Problem, wenigstens kein theologisches Problem. - Vielmehr haben
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sich alle kirchlichen Ordnungen, Strukturen und Einrichtungen immer wieder neu daran auszuweisen, dass sie der Wirkung des Wortes Gottes dienen. Oder um es noch einmal mit den Worten aus dem Augsburger Bekenntnis, Artikel 7, zu sagen: „Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden.“ Die evangelische Kirche ist so von ihrem Selbstverständnis her eine „Kirche der Freiheit“ - der Freiheit von unveränderlichen, heiligen Ordnungen, der Freiheit zur verantwortlichen Gestaltung. Und als solch eine „Kirche der Freiheit“ ist sie ständig im Aufbruch, in Bewegung, in Unruhe - weil das Evangelium Jesu Christi, an dem sie sich alleine ausrichtet, dieses „Geschrei von der Gnade Gottes“ (Luther), eine dynamische, lebendige Größe ist, die in jeder Zeit andere Formen braucht, um frei laufen zu können. Im Folgenden14 möchte ich Ihnen gerne zunächst etwas über die Rahmenbedingungen gegenwärtiger kirchlicher Entwicklung sagen, eine Art Wetterkarte zur „kirchlichen Großwetterlage“. Danach versuche ich in einem zweiten Schritt, den Reformprozess der evangelischen Kirche in den letzten Jahren zu skizzieren. Schließlich werde ich versuchen, Ihnen - aus meiner persönlichen Perspektive - einige vorläufige, fragmentarische Eindrücke von der hohen Kunst geben, Kirche zu reformieren. 1. „Kirchliche Großwetterlage“. Trends und Rahmenbedingungen kirchlicher Entwicklung Überblickt man die aktuellen „kirchen-klimatischen Verhältnisse“, so kann man sagen: Heiter bis wolkig. Gemischte Wetterlage.
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Die folgenden Abschnitte sind in enger Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden des Projektbüros Reformprozess entstanden und teilweise bereits veröffentlicht worden. 109
Zunächst zur heiteren Seite, die man manchmal bei dem Reden über Wandel, Bewegung, Veränderung all zu leicht übersieht. Wir leben in der evangelischen Kirche in Deutschland Anfang des 21. Jahrhunderts in so günstigen kirchlichen Verhältnissen wie zu kaum einer anderen Zeit und an kaum einem anderen Ort in der „Kirche aller Zeiten und Weltgegenden“. Wir können in Deutschland ungehindert und ohne Gefahr Gottesdienst feiern, das Evangelium verkündigen, in Diakonie, Seelsorge, Bildung und Medien öffentlich wirksam sein. Noch immer - trotz Konkurrenz pflegen wir Alte, beraten Kinder in Beratungsstellen, betreiben Kindergärten, können dort frei, christlich agieren. Das ist - gerade wenn man die Situation vieler verfolgter Christen weltweit vor Augen hat - ein so hohes Gut, für das wir Gott gar nicht genug dankbar sein können. Wir haben einen riesigen geistlichen Schatz - angefangen aller erst bei den Mitarbeitenden. Unterschiedliche Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen einer und vier Millionen Menschen ehrenamtlich in der evangelischen Kirche tätig sind, davon alleine rund 120.000 Menschen im Gemeindevorstand oder Presbyterium. Wir haben noch über 15.000 theologisch sehr gut ausgebildete Pfarrerinnen und Pfarrer. Im weiten Feld der Diakonie arbeiten über 450.000 Menschen. Dazu kommen die Kirchenmusiker/innen, Diakon/innen, Lehrer/innen, Küster/innen, Sekretär/innen. Ein weiterer Schatz liegt etwa in den vielen schönen und wertvollen Kirchen. In nahezu jedem Dorf in Deutschland finden Sie eine christliche Kirche. Wir haben einen geistlichen Schatz an theologischen Erkenntnissen und an Bildungsorten, an denen wir diese vermitteln können - von den Kindertagesstätten, über den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen oder an den insgesamt rund 1.000 evangelischen Schulen bis hin zu den theologischen Fachbereichen und Fakultäten an den Universitäten oder den eigenen kirchlichen Hochschulen. Wir haben eine sehr gute ökumenische Beziehung zu anderen Kirchen, insbesondere auch zur katholischen Schwesterkirche im Land.
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Wir haben ein sehr gutes Verhältnis von Staat und Kirche, das von den Staatskirchenrechtlern mit dem unschönen Begriff der „hinkenden Trennung“ bezeichnet wird - ein sehr unschöner Begriff für ein sehr gutes Verhältnismodell. In Deutschland weiß der Staat, dass er von Werten und Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Und die großen Kirchen tragen mit ihrem vielfältigen Engagement im Bereich von Religion, Sozialwesen, Bildung oder Kultur wesentlich, verlässlich und gut zum Allgemeinwohl bei. So sind, um nur ein Beispiel zu nennen, das mich seit den Dithmarscher Jahren besonders beschäftigt, die Kirchen in vielen strukturschwachen ländlichen Räumen oft die einzigen verbliebenen Kulturträger, die öffentliche Räume bieten, ortsnahe Bildungs- und Hilfsangebote vorhalten und zur sozialen Identität und Integration beitragen. Zugleich wissen die Kirchen, dass sie in der modernen, differenzierten Gesellschaft eben nicht für alle Teilbereiche selbst zuständig sind, auch wenn keiner dieser systemischen Teilbereiche wie Wirtschaft, Politik oder Kultur ohne ethische und religiöse Dimensionen ist. Die Beschreibung der heiteren Sonnenseite unserer kirchlichen Situation ließe sich noch weiter fortführen. Zum Schluss aber noch ein wichtiger Punkt, der hier auf keinen Fall fehlen darf: Wir befinden uns in der evangelischen Kirche gegenwärtig in einer Phase der geistlichen Neubesinnung und Vertiefung kirchlichen Lebens, die gesellschaftlich mit einer neuen Offenheit für religiöse Themen einhergeht. Die geistliche Neubesinnung der Kirche lässt sich exemplarisch etwa an den Themen der EKD-Synoden ablesen. In Leipzig 1999 wurde „Mission“ - im weiten Sinne eines einladenden, ansprechenden Zeugnisses von der eigenen Lebensgewissheit - als „Herz- und Pulsschlag“ allen kirchlichen Lebens herausgestellt. Aber wir sprechen offener, intensiver von Glaube und Gott. Und das in einer Zeit, in der Religion ganz anders als früher auf der gesellschaftlichen Tagesordnung steht: in der Pilgern zur religiösen Massenbewegung geworden ist, in der Boulevard-Zeitungen und Aldi Bibeln herausgegeben und in der - gerade auch durch die Begegnung mit
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dem Islam - die Frage nach den eigenen religiösen Wurzeln neu gestellt wird. Die Vorbereitungen, die in Deutschland als „Stammland der Reformation“ im Blick auf die großen 500-Jahr Feiern im Jahr 2017 und dann folgend stattfinden, sind wesentlich auch ein Akt der geistlichen Neubesinnung. Nach so viel Sonne nun zu den Wolken. Die evangelische Kirche steht zugleich vor großen Herausforderungen. Einige kurz umrissene Problemfelder: Die evangelische Kirche verliert jedes Jahr etwa um die 200.000 bis 300.000 Mitglieder. Das sind - einmal institutionell umgerechnet - rund 100 bis 150 Ortsgemeinden bei einer durchschnittlichen Gemeindegliederzahl von 2.000 Personen. Dieses Problem teilt sie mit anderen großen Institutionen wie Parteien oder Gewerkschaften und auch mit den so genannten „mainstream churches“ anderer Länder - was das Problem aber keineswegs geringer macht, im Gegenteil. Es zeigt vielmehr die strukturelle Abhängigkeit von Rahmenbedingungen, die nur zum Teil von ihrer selbst zu beeinflussen sind. Zwei Drittel dieses Mitgliederschwundes gehen dabei allein auf demographische Gründe zurück. Die evangelische Kirche ist - auf Grund der Kirchenaustritte früher Jahre - stärker überaltert als die Bevölkerung in Deutschland insgesamt - und dies vor allem in den östlichen Landeskirchen. Selbst wenn wir in den kommenden Jahren kein einziges Mitglied durch Austritt verlieren würden - womit nicht zu rechnen ist - und wenn wir jedes Kind mit einem evangelischen Elternteil taufen würden - was wir derzeit nicht tun - und auch wenn wir die nicht unerhebliche Zahl von rund 60.000 Menschen dazurechnen, die jedes Jahr durch Erwachsenentaufen, Wiedereintritte oder Übertritte zur evangelischen Kirche dazukommen, selbst dann werden wir in den nächsten Jahren weiter schrumpfen. Einfach, weil die Überalterung in der Kirche so stark ist. Wir brauchen daher ein umso stärkeres Engagement für ein „Wachsen gegen den Trend“.
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Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die Familie als primärer Ort religiöser Sozialisation ihren Charakter verändert hat. Eltern und vor allem auch Großeltern spielen - wie Studien belegen - die bei weitem wichtigste Rolle in der Weitergabe christlichen Glaubens noch weit vor allem, was später in Kindergarten, Kirche oder Schule vermittelt werden kann. Glaube lernt man als Muttersprache. Diese Sozialisationsinstanz fällt jedoch in vielen Fällen aus: weil es den Eltern an Sprachfähigkeit für den eigenen Glauben mangelt, weil die Großeltern zu weit weg sind, weil die Pluralität religiöser Prägungen in den Familien höher ist als früher oder weil man bei der zweiten oder dritten Eheschließung den erneuten Gang zur Kirche scheut. Auch wenn die Taufbereitschaft der Kirchenmitglieder nach eigenen Angaben insgesamt gestiegen ist, sprechen die zurückgehenden Tauf- und Trauzahlen in den letzten Jahren eine deutliche Sprache. Mit den zurückgehenden Mitgliederzahlen verbinden sich dann auch rückläufige Finanzen. In dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ (2006) gingen die Schätzungen für das Jahr 2030 von einem Drittel weniger Mitglieder und der Hälfte weniger Einnahmen aus. Gerade der Schwund von Mitgliedern im erwerbsfähigen Alter zeigt hier Wirkungen bei den kirchlichen Haushalten. Noch stärker wirkt sich aber die Abhängigkeit der Kirchensteuereinnahmen von wirtschaftlichen Entwicklungen, etwa der Arbeitslosenquote, und politischen Veränderungen insbesondere bei Steuerrecht aus. Jede große steuerrechtliche Veränderung lässt sich unmittelbar an den kirchlichen Haushalten ablesen - und an den kirchlichen Austrittszahlen, da die Kirchensteuer die einzige Steuer ist, die man freiwillig zahlt. Zudem hat sich auf Grund des veränderten religiösen Umfeldes die Selbstverständlichkeit, mit der man früher in der Kirche war, geändert. Kirchenmitgliedschaft wird nicht länger einfach von den Eltern gleichsam „sozial ererbt“, sondern im Laufe des eigenen Lebens zum Gegenstand bewusster Entscheidung. Die evangelische Kirche ist ein Anbieter
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neben anderen auf dem sich pluralisierenden Markt religiöser Sinnangebote. Und endlich - um auch hier die offene Liste mit einem wichtigen Punkt zu beschließen - hat sich die Kenntnis christlicher Glaubensüberlieferung und die Vertrautheit religiöser Praxis massiv verändert. Der Pegelstand des „religiöse Verfügungswissen“ ist gesunken, an manchen Stellen bis zur Notwendigkeit einer neuen Alphabetisierung. Ob biblische Geschichten, Kirchenlieder, Bekenntnisse, Gottesdienste: Diese Texte und Riten leben davon, dass sie eingeübt, wiederholt, memoriert, meditiert, verinnerlicht werden. Die Schnelligkeit und die Bilderflut im „Tempodrom“ der Massenmedien bieten nicht gerade günstige Bedingung für die Vermittlung und Aneignung von christlichem Glauben. Glaube ist wie gute Poesie - es braucht Zeit, Ruhe und immer wieder neue Begegnung, ihn zu verstehen. 2. „Kirche im Aufbruch.“ Der Reformprozess in der evangelischen Kirche Die von mir hier nur kurz umrissenen Chancen und Herausforderungen der evangelischen Kirche waren der Grund dafür, dass der vorherige Rat der EKD im Jahr 2004 eine Perspektivkommission einsetzte mit dem Auftrag, einmal einen „strukturellen Weitwurf“ zu wagen. Jenseits aller aktuellen Zwänge von Strukturreformen, Haushaltsdiskussionen und kurzfristigen Entscheidungsfragen sollte die Perspektivkommission einmal überlegen, wie die evangelische Kirche aus heutiger Sicht im Jahre 2030 aussehen könnte und was wir heute tun müssen, um dann möglichst gut dazustehen. Unter der Leitung des ehemaligen Ratsvorsitzenden Bischof Huber erarbeitet diese mit ganz unterschiedlichen Professionen besetzte Kommission dann das Impulspapier „Kirche der Freiheit“, das dann - nach vorheriger Beratung in Rat und Kirchenkonferenz - im Juli 2006 veröffentlicht wurde. Und rückblickend darf man sagen: Soviel Bewegung und Aufbruch in der verfassten Kirche wie in den dreieinhalb Jahre seit der Veröffentlichung gab es selten!
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Der Text führte zu einer sehr intensiven und kontroversen Diskussion über die Zukunft der Kirche - weil hier eine ganze Reihe strittiger Fragen angeschnitten worden sind, etwa nach der Qualität kirchlicher Arbeit, dem Gelingen des kirchlichen Föderalismus oder der Zukunft des Pfarramtes und des Ehrenamtes. Vor allem aber war der Text von seiner Gattung völlig ungewohnt und untypisch für die evangelische Kirche. Anders als in den sonst üblichen wohlformulierten und konsensual ausgerichteten kirchlichen Verlautbarungen, die möglichst viele integrieren und niemanden weh tun wollen, war dieser Text bewusst provokant formuliert: Er wollte einen Impuls setzen, griff heiße Eisen auf, war nicht mit den verschiedenen Interessens-Gruppen abgesprochen und war so „anstößig“ in einem konstruktiven Sinne. Und er wagte es, konkrete, messbare Zielvorgaben zu machen. Seine vier biblisch begründeten Grundannahmen waren: - Geistliche Profilierung statt undeutlicher Aktivität. Wo evangelisch draufsteht, muss Evangelium erfahrbar sein. - Schwerpunktsetzung statt Vollständigkeit. Kirchliches Wirken muss nicht überall vorhanden sein, wohl aber überall sichtbar. - Beweglichkeit in den Formen statt Klammern an Strukturen. Nicht überall muss um des gemeinsamen Zieles willen alles auf dieselbe Weise geschehen. - Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit: Auch der Fremde soll Gottes Güte erfahren können, auch der Ferne gehört zu Christus. Die Auflagenhöhe von über 45.000 Druckexemplaren und über 400.000 Downloads im Internet macht deutlich, wie intensiv die Wirkung dazu war und ist - von völliger Ablehnung bis zur begeisterten Aufnahme. Ohne auf die Diskussion der verschiedenen einzelnen Punkte hier eingehen zu können, darf man in jedem Fall sagen: der Text hat viel reformerischen Aufbruch bewirkt. Es wurde im Januar 2007 ein Zukunftskongress in Wittenberg abgehalten, auf dem erstmals alle kirchenleitenden Personen zusammen mit einem Querschnitt aus den Landeskirchen über die Zukunft der evangelischen Kirche berieten.
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Im Sinne einer „Blütenlese“ möchte ich Ihnen nun aus dem bunten Strauß der konkreten Maßnahmen und Aktionen, die in diesem Prozess angestoßen wurden, einige schöne Blumen pflücken. Dabei sei vorweg gesagt, dass ich mich jetzt, anders als eingangs auf die Darstellung der EKD-Ebene, also der Bundesebene beschränke. Zeitgleich vollziehen sich vielfältigste engagierte Aufbrüche und Reformanstrengungen auf Gemeinde, Kirchenkreis und Landeskirchenebene, oft schon lange vor dem EKD-Papier, oft aber auch, indem sie Impulse von dem Prozess aufgenommen haben. 1. Die drei Leitthemen: Aus der Einsicht heraus, dass Konzentration das Geheimnis des Erfolges ist, fokussierte sich der weitere Prozess auf drei inhaltliche Hauptthemen: a) Qualitätssicherung besonders bei Gottesdiensten und Kasualien, b) missionarische Wendung nach außen, c) Leitung und Führung. Es war die begründete Annahme, dass in diesen drei Themen wesentliche Schlüssel für die weitere Entwicklung liegen. Bei dem ersten Thema ging es um die Frage: Was können wir dafür tun, dass jeder ganz normale Sonntagsgottesdienst und jede Bestattung in der Woche so gestaltet, wahrgenommen und gepflegt werden, dass sie von möglichst vielen Menschen als ansprechend und einladend empfunden werden? Unsere Gottesdienste sind es schlicht wert, dass wir uns um eine möglichst intensive Pflege bemühen. Mit dieser - neudeutsch ausgedrückt - Pflege des „geistlichen Kerngeschäftes“ hing zugleich das zweite Thema zusammen: Was können wir dafür tun, dass sich alle kirchliche Arbeit einladend an die Menschen draußen richtet, an die, die noch nicht oder nicht mehr etwas mit dem Evangelium anfangen können? In vielen kirchlichen Vollzügen, in unserer Sprache oder unseren Einstellungen haben wir uns schlicht noch nicht hinreichend auf diese neue missionarische Herausforderung eingestellt. Und das dritte Thema Leitung und Führung geht davon aus, dass nachhaltige Veränderung und Zielorientierung der Kirche sich nur vollzieht, wenn sie von der Leitung mitgetragen ist. In dem weiten Feld der Kultur, der Struktur und der Instrumente von
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Leitung besteht in der evangelischen Kirche jedoch noch Entwicklungsbedarf. 2. Reformationstag und Jahresthemen in der Reformationsdekade: Um diesem Bemühen um Aufbruch und geistlicher Erneuerung nicht nur einen Ort, sondern auch einen festen „Punkt in der Zeit“ zu geben, bemüht sich die EKD zum einen um eine neue Profilierung des Reformationstages, zu dem es jetzt gemeinsame Gestaltungsideen und einen EKDEmpfang mit Verleihung der Martin-Luther-Medaille an herausragende Personen des Protestantismus gibt. Zum anderen werden die einzelnen Jahre bis zum Reformationsjubiläum jeweils mit besonderen Jahresthemen begangen, etwa das Jahr 2010 mit dem Thema Bildung. 3. Sammlung von Beispielen guter Praxis: Um Kirche als „lernende Organisation“ zu stärken und die vielfältigen Schätze zu heben, die in der tagtäglichen kirchlichen Arbeit schlummern, hat die EKD eine Sammlung von Beispielen guter Praxis eingerichtet, die Sie im Internet finden. Jeden Monat werden hier zehn neue anregende, innovative, qualitätsvolle Beispiele aus der Gemeindearbeit vorgestellt - und ich kann nur sagen: Wenn Sie einmal wissen wollen, was es alles an guten Einfällen in der Kirche gibt, stöbern Sie einfach mal hier, es lohnt sich! Da findet sich etwa die Beschreibung eines Gottesdienstes für die Obdachlosen einer Stadt, die im letzten Jahr starben, oder die Schilderung eines Gottesdienstes am Heilig-Abend auf dem Friedhof für Menschen, die im letzten Jahr einen Angehörigen verloren haben. Und schon beim Lesen dieser Beispiele spüren Sie etwas von der hohen geistlichen Dichte dieser Arbeit. Diese Arbeit wird zur Zeit weitergeführt in einem Forschungsprojekt, das vom Bundesministerium für Forschung und Bildung gefördert wird und darauf zielt zu klären, wie sich das interaktive WEB 2.0 nutzen lässt, um das Erfahrungswissen kirchlicher Praktiker stärker zu heben und zu vernetzen. Zielpunkt davon ist der Aufbau einer Art „Wikipedia kirchlicher Innovation“, eines interaktiven Lexikons, das der Darstellung und gemeinsamen Weiterentwicklung guter Projekte dient.
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4. Bildungsinitiative „Erwachsen glauben“: Zu den großen BegleitProjekten gehört dann die Initiative „Erwachsen glauben“. Sie zielt darauf, ein dauerhaftes und flächendeckendes Angebot von „Kursen zum Glauben“ für Erwachsene in Deutschland zu fördern. Für manche Menschen war der Konfirmandenunterricht das letzte Mal, dass sie sich intensiv mit Themen des Glaubens auseinander gesetzt haben. Für andere sind Gott, Bibel, Glaube, Kirche interessante, aber völlig unbekannte Gebiete. Hier versucht die Initiative durch die Verbreitung von vorhandenen und das Angebot von neuen missionarischen Bildungsangeboten zu helfen. 5. Die Zukunftswerkstatt Kassel 2009: Eine gewisse Zäsur in dem bisherigen Prozess war die Zukunftswerkstatt im September des vorletzten Jahres in Kassel. Hier wurde nach drei Jahren des Prozesses einmal Zwischenbilanz gezogen: wo stehen wir, was haben wir erreicht, wo wollen wir hin. Rund 1.200 Multiplikatoren aus allen Landeskirchen und Handlungsfeldern waren dazu eingeladen. Und es war eine höchst anregende Veranstaltung, auf der evangelische Kirche einmal ganz anders erlebt werden konnte: angefangen von der Galerie guter Praxis, auf der sich hundert ausgewählte Projekte präsentierten, über Werkstätten zu unterschiedlichen Zukunftsthemen und „Andachten anders“ mit dem Versuch, Gottesdienst an ganz ungewöhnlichen Orten zu feiern (etwa im Gericht, in der Bank, im Kino oder als „Gospel to Go“ im Einkaufszentrum) bis hin zu einem „Abend ausgezeichneter Ideen“, einer Art kirchlicher Oskar-Nacht, bei der sich in der Verleihung von sieben ganz unterschiedlichen Preisen die Vielfalt kirchlicher Aufbrüche spiegelte. Sie merken bei meinem Erzählen: In der evangelischen Kirche ist wirklich zur Zeit viel in Bewegung und ich bin froh und dankbar, als Präses der Synode und Vorsitzender der eben neu vom Rat eingesetzten Steuerungsgruppe weiter hieran mitwirken zu können.
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3. Von der Kunst, Kirche zu reformieren Abschließend möchte ich Ihnen einige vorläufige, unfertige Eindrücke schildern, die ich bisher für mich persönlich von der hohen Kunst, Kirche zu reformieren, gewinnen konnte: 1. Geistliche Gelassenheit und brennende Leidenschaft: Es gibt eine große geistliche Gelassenheit, sich - wie eingangs gesagt - immer wieder daran zu erinnern, dass nicht wir es sind, die Kirche sicher durch die Zeit führen, sondern dass es Gott selbst ist. Und er wird dies mit Sicherheit gut tun - darauf dürfen wir uns verlassen. Unsere Aufgabe ist es, dass wir Gott dabei möglichst Hilfe und nicht Hindernis sind. Und eben deshalb verbindet sich die geistliche Gelassenheit mit einer brennenden Ungeduld - denn wofür, wenn nicht hier, lohnt es sich, voll Leidenschaft zu brennen? 2. Erfahrung aus 2000 Jahre Tradition und Innovation: Die Kirche ist eine Kirche ständiger Veränderung und Erneuerung. Deshalb sollte man sich davor hüten, die gegenwärtigen Veränderungen ängstlich zu dramatisieren. Es geht um Transformation, nicht um irgendwelche Untergangsszenarien. Der Blick auf 2000 Jahre Kirchengeschichte lehrt einen Dankbarkeit für das, war wir haben, Demut, im Blick auf das hohe Gut, das uns anvertraut ist und eine hilfreiche Distanz zu mancher aktueller Aufgeregtheit. 3. Ein gesunder Schuss kirchenleitender Hysterie: In der protestantischen Frömmigkeit findet sich mitunter die Neigung zu einer gewissen depressiven, zwanghaften Geisteshaltung. Man leidet an dem, wie es ist, und wehrt sich zugleich, daran etwas zu verändern. Um hier einen systemischen Ausgleich zu schaffen, braucht es manchmal einen guten Schuss von „kirchenleitender Hysterie“, dem Wagnis, Kirche auch mal mutig anders zu denken, zu leben, zu gestalten. Am Schluss wird es sowieso schon noch zu recht gerüttelt. Nur: Man kann auf zwei Seiten von einem Pferd fallen. Und ich habe manchmal den Eindruck, dass es eine gewisse Neigung gibt, aus lauter Furcht vorm „Runter-Plumpsen“ erst gar nicht aufzusitzen.
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4. Komplexität der Institution oder vom „Reigen der Gemeinde“: Es gibt eine schöne Übung, die einen die Komplexität vor Augen führt, was es heißt, Kirche zu reformieren. Stellen Sie sich einmal vor, wir stünden alle in diesem Raum und jeder von Ihnen hätte die Aufgabe, sich auf dem Platz um sich selbst zu drehen. Das dürften wir sicher einigermaßen gut hinkriegen. Stellen Sie sich dann vor, Sie müssten sich nicht nur um sich selbst drehen, sondern zusammen mit Ihren beiden Nachbarn auch noch im Kreise umeinander drehen. Hier wird es schon schwieriger. Und stellen Sie sich nun vor, diese verschiedenen sich drehenden DreierGruppen würden sich dann auch noch wechselseitig um die anderen Dreiergruppen drehen. Nun ist es schon hinreichend kompliziert. Dies spiegelt in etwa die Situation von jeweils um sich kreisenden Gemeinden, Kirchenkreisen und Landeskirchen. Und Kirche zu reformieren heißt, in Mitten der verschiedenen Drehungen eine gemeinsame Richtungsveränderung anzustoßen. 5. Mentalitätswandel und Strukturwandel: Eine besondere Herausforderung im gegenwärtigen Reformprozess besteht darin, dass einerseits die gewachsenen Strukturen kirchlicher Arbeit in einem mitunter schnellen Tempo verändert werden und auch verändert werden müssen. Dieser äußere Strukturwandel geht zugleich einher mit der Notwendigkeit einer Mentalitätsveränderung, einer inneren Neuausrichtung der mitwirkenden Personen. Dabei ist vor allem der zweite Prozess der entscheidende, da Strukturen immer von den Menschen leben, die sie ausfüllen. Die Herausforderung besteht darin, beide Prozesse gut miteinander zu vernetzen, so dass sie einander fördern und nicht behindern. 6. Geistliche Konzentration und Wendung nach außen: Zu dem Mentalitätswandel innerhalb der Kirche gehört dabei die doppelte Bewegung der geistlichen Konzentration und der Wendung nach außen. Der entscheidende Grund für die Qualität kirchlicher Arbeit ist es letztlich, dass sie aus einer der Gewissheit der eigenen geistlichen Wurzeln erfolgt und sich deshalb dann auch mutig und getrost auf Neues, auf das „Fremde“, auf die „Welt“ einlassen kann.
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7. Schönheit des Protestantismus: Der Glaube, wie ich ihn in der evangelischen Kirche und Tradition kennen lernen durfte, gehört zu den grundlegendsten, schönsten und wichtigsten Dingen in meinem Leben. Und ich bin meiner Kirche dankbar dafür, dass sie mit ihrer Nüchternheit und geistigen Klarheit, mit ihrer bilderarmen Kargheit und ihrer Musik und mit ihrer sozialen Leidenschaft diesen Glauben an Jesus Christus weitervermittelt. Fulbert Steffensky hat in diesem Sinne bei seinem äußerst lesenswerten Vortrag auf der Zukunftswerkstatt der EKD in Kassel von der „Schönheit des Protestantismus“ gesprochen. Meine Hoffnung und mein Anliegen ist es, dass wir - so weit es in unserem Vermögen steht diese Schönheit neu zum Leuchten bringen. Darum lassen Sie uns gemeinsam bemühen. Und zwar mit Gott und flott.
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Die Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Gabriele Borger, Professorin für Diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie Hamburg (Das Rauhe Haus) Dr. Hans-Christoph Goßmann, Pastor der Jerusalem-Gemeinde in Hamburg und Direktor der Jerusalem-Akademie Prof. Dr. Holger Hammerich, Direktor i.R. des Pädagogisch-Theologischen Instituts der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Arbeitsstelle Kiel Henning Keine, ehemaliger Propst des Kirchenkreises Dithmarschen, Pastor im Projektbüro Reformprozess im Kirchenamt der EKD in Hannover Bischof Dr. Hans Christian Knuth, Bischof i.R. der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche im Sprengel Schleswig und Vorsitzender der Nordelbischen Kirchenleitung, Präsident der Luther-Akademie Prof. Dr. Inge Mager, Professorin i.R. für Kirchengeschichte an der Universität Hamburg
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Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:
Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.
Band 2:
Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zu 65. Geburtstag, 2010, 233 S.
Band 3:
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Reformatio viva. Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag, 2010, 300 S.
Band 4:
Ephraim Meir, Identity Dialogically Constructed, 2011, 157 S.
Band 5:
Wilhelm Kaltenstadler, Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus – wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen?, 2011, 109 S.
Band 6:
Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2011, 294 S.
Band 7:
Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Geschichte des Christentums, 2011, 123 S.
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