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German Pages 658 [660] Year 2012
Geschichte der Sprache – Sprache der Geschichte
Lingua Historica Germanica Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Band 3 Herausgegeben von Stephan Müller, Jörg Riecke, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler
Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte e.V.
Jochen A. Bär, Marcus Müller (Hg.)
Geschichte der Sprache – Sprache der Geschichte Probleme und Perspektiven der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen Oskar Reichmann zum 75. Geburtstag
Akademie Verlag
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978-3-05-005111-6 978-3-05-005824-5
Inhalt
ZUR EINFÜHRUNG .......................................................................................................... 1 Theorien – Begriffe – Methoden CHRISTOPHER J. WELLS Mehr Räumlichkeit in der Zeitlichkeit der Sprachgeschichtsschreibung? .................... 9 JÖRN LEONHARD „Definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“ Historische Semantik und komparative Methode ....................................................... 37 ANDREAS GARDT Textsemantik. Methoden der Bedeutungserschließung .............................................. 61 KATJA LEYHAUSEN-SEIBERT Semiotik der historischen Aussage ............................................................................. 83 ANJA LOBENSTEIN-REICHMANN Sprachgeschichte als Gewaltgeschichte. Ein Forschungsprogramm .......................... 127 MARCUS MÜLLER Geschichte als Spur im Text ........................................................................................ 159 Historische Grammatik VILMOS ÁGEL Junktionsprofile aus Nähe und Distanz. Ein Beitrag zur Vertikalisierung der neuhochdeutschen Grammatik ............................................................................. 181 ANNA VOLODINA / EDGAR ONEA Im Anfang war die Lücke ........................................................................................... 207 Historische Lexikologie und Lexikographie TILMANN WALTER Der Sexualwortschatz im Frühneuhochdeutschen ...................................................... 239
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Inhalt
THORSTEN ROELCKE Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik von Immanuel Kant ..................................................................................................... 305 LAURA BALBIANI „deutlich, fasslich und überzeugend“. Eigenschaften und Aufgaben der frühen Kant-Lexikographie (1786–1804) ............................................................. 335 FRANZISKA MÜNZBERG Einzigartigkeiten: Pluralrestriktionen im Wörterbuch ................................................ 365 ULRIKE HAß Zur Sprache von Sprachgeschichtsforschung und Geschichtswissenschaft. Wortschatz und usuelle Konstruktionen ..................................................................... 389 EKKEHARD FELDER/FRIEDEMANN VOGEL Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt. Zur Idiomatisierung von Zeitgeschichte in Medientexten von 2001 bis 2010 ............................................. 413 Varietäten – Textsorten – Autoren – Diskurse BARBARA SCHMIDT-THIEME Zur Historiogenese der Fachsprache Mathematik im deutschen Sprachraum ............ 437 JOACHIM TELLE Vom Tinkturwerk. Ein alchemisches Reimpaargedicht des 16. Jahrhunderts und seine Bearbeitungen von Andreas Ortel (1624) und J. R. V. (1705) ................... 459 JOCHEN A. BÄR Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik ..................................... 497 NILS LANGER Die Lesebuchfrage in Schleswig-Holstein (1864–1870) ............................................ 565 JÖRG RIECKE Die „Idee von Sprachgeschichte“ in Egon Friedells Kulturgeschichte........................ 585 NINA BEREND Migration und Dialektwandel. Aspekte der jüngsten Sprachgeschichte des Russlanddeutschen ............................................................................................... 609 Anhang JOCHEN A. BÄR Eine etwas andere Geschichte der deutschen Sprache ................................................ 631 VERZEICHNIS DER WISSENSCHAFTLICHEN PUBLIKATIONEN OSKAR REICHMANNS ..... 637 REGISTER ..................................................................................................................... 649
Zur Einführung
Wirft man einen Blick in neuere und neueste Publikationen zur Sprachgeschichte des Deutschen1, so stellt man fest, dass allenthalben – von den dafür traditionell offenen Bereichen der Text- und (in jüngerer Zeit) Diskursgeschichte bis hin zur Grammatikgeschichte – eine Tendenz zur Soziopragmatik erkennbar wird. Oder anders gesagt: Sprachgeschichtsschreibung versteht und präsentiert sich heute weithin als Kulturgeschichtsschreibung. Es liegt auf der Hand, dass der Heidelberger Sprachhistoriker Oskar Reichmann an dieser Entwicklung maßgeblich Anteil hat. Der vorliegende Band, der ihm zum 75. Geburtstag gewidmet ist, versucht unter diesem Aspekt einen Querschnitt durch Theorie und Praxis heutiger Sprachgeschichtsschreibung. Er beinhaltet Beiträge aus den Bereichen Theorie und Methodologie der (Sprach-)Geschichte, Methodologie der Textanalyse, historische Korpuslinguistik, historische Grammatik, Lexikologie und Lexikographie, historische Varietätenlinguistik und historische Sprachbewusstseinsforschung. Der Band gliedert sich in vier Teile: Im ersten, Theorien – Begriffe – Methoden, sind sechs Aufsätze versammelt, die sich reflexiv mit der Geschichte im Allgemeinen, der Sprachgeschichte im Besonderen und hier wiederum v. a. mit der historischen Semantik befassen. Der zweite Teil enthält zwei Beiträge zur historischen Grammatik; im dritten Teil, historische Lexikologie und Lexikographie, widmen sich sechs Beiträge der wortschatzbezogenen Beschreibung des Deutschen. Im letzten Teil, Varietäten – Textsorten – Autoren – Diskurse, sind zwei im engeren Sinne varietätenlinguistische, zwei auf Einzeltexte bezogene und zwei die Sprachreflexionsgeschichte betreffende Aufsätze versammelt. Insgesamt zeigt sich, dass das gesamte Perspektiven- und Methodenspektrum, das in dem vorliegenden Band dokumentiert ist, vollständig aufgeht in einer grundständig handlungsbezogenen Auffassung von Sprache im Allgemeinen und Sprachgeschichte im Besonderen. Die Tatsache, dass die Beiträge dieses Bandes in ihrer Vielfalt ein Bild der gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte der deutschen Sprachhistoriogra1
Beispielsweise die Sammelbände $eue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge (hrsg. v. Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/Angelika Linke, Berlin/New York 2002), Historische Semantik (hrsg. v. Jörg Riecke, Berlin/Boston 2011) und Frühneuhochdeutsch. Aufgaben und Probleme seiner linguistischen Beschreibung (hrsg. v. Anja LobensteinReichmann/Oskar Reichmann, Hildesheim [Germanistische Linguistik 213–215] 2011).
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phie geben, macht die forschungsgeschichtliche Bedeutung deutlich, die Oskar Reichmann, dessen Schüler und wissenschaftliche Mitstreiter hier zu einem guten Teil versammelt sind, zukommt. Christopher Wells plädiert in seinem Beitrag für eine Einbeziehung der sozialen Räumlichkeit in die Sprachgeschichtsschreibung. Dazu diskutiert er im Anschluss an Jürgen Habermas sowie an sprachsoziologische Positionen begriffliche Differenzierungen im Spannungsfeld der sozialen Raumdimensionen ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Privatheit‘ und führt jeweils in kurzen Skizzen vor, wie sprachhistorische Befunde, insbesondere im Bereich der Lexikologie, auf diese zu beziehen seien. Ausführlicher wird dann in exemplarischer Absicht eine Geschichte des privaten Sprachgebrauchs in der jüngeren Sprachgeschichte skizziert. Jörn Leonhard beschreibt das Programm einer komparativen historischen Semantik in der Geschichtswissenschaft. Dazu werden die historische Semantik und die komparatistische Methode fachhistorisch vorgestellt und kritisch reflektiert. Am Beispiel der Entstehung von ›liberal‹ und ›Liberalismus‹ als modernen Deutungsmustern im Politikvokabular Europas seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wird das Potenzial der Methode aufgezeigt, und zwar insbesondere im Vergleich der deutschen mit den französischen Verhältnissen. Die am Beispiel konkretisierte Methodenreflexion fokussiert sich insbesondere auf die Übersetzungsproblematik und deren methodologische Implikationen. Andreas Gardt präsentiert ein Raster zur linguistisch informierten Textanalyse (TexSem), in das Termini und methodische Ansätze aus den Bereichen Textlinguistik, Lexikologie, Stilistik/Rhetorik, Syntax und Flexionsmorphologie sowie Bildsemiotik eingehen. Nach einer texttheoretischen Fundierung werden die einzelnen textsemantischen Erschließungsverfahren von der Begriffsebene bis hin zur bildsemiotischen Analyse vorgestellt und zueinander in Beziehung gesetzt. Katja Leyhausen-Seibert beschäftigt sich mit der Semiotik der historischen Aussage. Dabei werden sprachliche Perspektivierungen historischer Sinngestalten auf Satzebene analysiert und die Bedingungen ihrer Genese diskutiert. Nacheinander werden aus diesem Grund in Beispielanalysen von Sätzen aus deutschen Sprachgeschichten die Dimensionen der Syntax, der Satzsemantik und der an Peirce orientierten Semiotik behandelt. Vor diesem Hintergrund plädiert die Verfasserin für eine reflexive Sprachgeschichte, die ihre eigene Semiotizität als Bedingung historischer Erkenntnis anerkennt. Anja Lobenstein-Reichmann behandelt den Zusammenhang von Sprache und Gewalt in historischer Perspektive. Einleitend wird festgestellt, dass Gewalt als sprachliches Phänomen sinnvollerweise nur als Aspekt der Gebrauchsdimension der Sprache zu verorten ist. Ausgehend vom Artikel Gewalt im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch arbeitet Lobenstein-Reichmann begriffliche Aspekte der Wortverwendung von Gewalt zwischen ›potestas‹ und ›violentia‹ heraus und wendet diese auf die Sprachgebrauchsgeschichte an. Es entsteht so die Skizze einer „Sprachgeschichte als Gewaltgeschichte“. Marcus Müller unternimmt eine nicht-konstruktivistische Erklärung der Sinnkonstitution in Geschichtstexten. Das geschieht über den Terminus Spur, der im Anschluss
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v. a. an Sybille Krämer als epistemologischer Leitbegriff eingeführt wird. Es werden dazu drei Aspekte des Spurbegriffs genannt und auf die Situation der historischen Textproduktion angewendet: ›Materialität‹, ›Semiotizität‹ und ›Kontextualität‹. Historische Sprachzeugnisse erscheinen in diesem Zusammenhang nicht nur als hermeneutisch zu verstehende Interpretamente, sondern auch als materielle Indices auf singuläre leibliche Praktiken. Der Beitrag Vilmos Ágels dokumentiert eine empirische Untersuchung zum Grammatikwandel, und zwar im Bereich der Junktion: Die exemplarische Analyse der „textgrammatischen Möglichkeiten des Junktionsfeldes“ umfasst nähe- und distanzsprachliche Texte vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Die Analyse erfolgt korpuslinguistisch auf der Grundlage einer reichen Ausdifferenzierung des Junktionsbegriffs, der in Anlehnung an Wolfgang Raible entwickelt wird. Das Ergebnis der Untersuchung stellt nach Ágel ein starkes empirisches Argument für Oskar Reichmanns Vertikalisierungstheorie dar. Anna Volodina und Edgar Onea befassen sich mit Argument-Weglassungen, und zwar hauptsächlich mit solchen, die kontextgebunden sind (Topik- und Diary-Drop). Die Erörterung erfolgt zuerst systembezogen, dann varietätenlinguistisch und sprachhistorisch. Als zentrales Ergebnis halten die Autoren fest, dass Argument-Weglassungen in der deutschen Sprachgeschichte durchgängig vorkommen. Im Zentrum des Aufsatzes steht die Skizze einer pragmatischen Theorie von Argument-Weglassungen im Deutschen. Tillman Walter legt eine Darstellung des Sexualwortschatzes im Frühneuhochdeutschen vor. Ausgehend von dem Befund, dass Sexualität in den verschiedenen theologischen und säkularen Diskursen ganz unterschiedlich sprachlich bearbeitet wird, analysiert Walter den entsprechenden Wortschatz in den Kommunikationsbereichen Theologie, Dichtung und Medizin und präsentiert im Anschluss eine ausführliche Systematik der frühneuhochdeutschen Bezeichnungen für den Geschlechtsverkehr. Thorsten Roelcke behandelt die Terminologisierung in Immanuel Kants Transzententaler Ästhetik. Konkret wird analysiert, wie Kant im ersten Paragraphen der Kritik der reinen Vernunft Termini im Text entwickelt und so zu einem eigenem Fachwortschatz kommt. Dazu stellt Roelcke das terminologische System in seiner Struktur dar und beschreibt dann die „terminologische Linerarisierung“, bei der er drei Strategietypen herausarbeitet: die „Strategie induktiver Disziplinbildung“, die „Strategie wachsender Entfernung“ und die „Strategie assoziativer Verflechtung“. Im Anschluss werden Definitionstypen, Erläuterungsmuster, terminologische Vernetzung und graphische Markierung behandelt. Außerdem wird die Terminologie einer Analyse hinsichtlich der Kategorien ‚Vagheit‘ vs. ‚Eindeutigkeit‘ unterzogen. Der Beitrag von Laura Balbiani schließt hier unmittelbar an, indem er die frühe Forschungsgeschichte der Kant-Lexikographie behandelt. Darunter fällt nach Balbiani eine Gruppe von Werken, die innerhalb einer kurzen Zeitspanne erschienen (von 1786 bis 1804). Diese frühen Lexika hatten vor allem das Ziel, Kants Schriften für die akademi-
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schen Lehre, dann auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, indem das Kantische Begriffssystem „von innen“ lexikographisch rekonstruiert werden sollte. Balbiani stellt die Projekte vor und analysiert deren inneren und kommunikationsgeschichtlichen Zusammenhang. Franziska Münzberg diskutiert selten belegte Flexionsformen von Lexemen, insbesondere aus der Sicht der Lexikographie. Dies geschieht am Beispiel von Pluralformen besonders zu Feminina mit Derivationssuffix -heit/(ig)keit, z. B. Gemütlichkeiten, Lückenhaftigkeiten, Schlichtheiten. Nach einer allgemeinen Besprechung der Darstellung von Pluralformen im Wörterbuch aus der Benutzerperspektive geht Münzberg auf Fälle wie z. B. Schönheiten ein, in denen durch die Pluralbildung eine bestimmte Lesart des Ausdrucks selegiert wird. Ulrike Haß stellt eine korpuslexikographische Vergleichsstudie zur Sprache von Geschichtswissenschaft und Sprachhistoriographie vor. Dabei werden usuelle lexikalische Prägungen und kontextuelle Muster frequenter Ausdrücke in einem teils quantitativen, teils qualitativen Verfahren vergleichend analysiert und mit dem allgemeinen Sprachgebrauch (nach Maßgabe des Duden-Universalwörterbuchs) verglichen. Ziel der Studie ist es, einerseits Studierenden und Fremdsprachenlernern einen leichteren Zugang zum nicht-terminologischen Teil der historischen Wissenschaftssprache zu ermöglichen und andererseits eine Reflexion des Sprachgebrauchs in den einander nahe stehenden Fächern selbst anzustoßen. Der Beitrag Ekkehard Felders und Friedemann Vogels dokumentiert eine Korpusanalyse zu dem Ausdruck Bewältigung. Der Hintergrund ist das allgemeine Forschungsinteresse, wie Gegenstände die von Kommunizierenden als ‚faktisch‘ konstituiert werden, in ihrer sprachlichen Konstitution analysiert werden können. In einem quantitativ-qualitativen Verfahren wird herausgearbeitet, welche Sachverhalte in Medientexten zwischen 2001 und 2010 als ‚zu bewältigen‘ ausgewiesen werden und wie diese sprachlich präsentiert werden. Die Analyse stellt sowohl diachron die Konjunkturen ‚zu bewältigender‘ Gegenstände als auch synchron die diesbezüglichen Unterschiede zwischen den großen überregionalen Printmedien dar. Barbara Schmidt-Thieme skizziert die Entwicklung der mathematischen Fachsprache. Nach einer begrifflichen und allgemein historischen Einführung werden dazu fünf Zeugnisse aus unterschiedlichen „Zeiten und Kulturen“ präsentiert und jeweils im sprachlichen, mathematischen und historischen Kontext besprochen: der Knochen von Ishango (ca. 20.000 v. Chr.), Euklids Elemente (ca. 300 v. Chr.), die Rechenbücher von Adam Ries (ab 1518), Christian Wolffs Mathematisches Lexicon (1716/34) und Guiseppe Peanos Arithmetices Principia (1889). Abschließend werden übergreifend allgemeine Charakteristika der fachsprachlichen Entwicklung aufgezeigt. In dem Beitrag Joachim Telles wird das alchemische Lehrgedicht Vom Tinkturwerk erstmals philologisch erschlossen. Es handelt sich dabei um ein Reimpaargedicht aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von unbekannter Autorschaft, das bis ins ausgehende 18. Jahrhundert Wiederaufnahmen in Form einer Bearbeitung (durch Ortel,
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1624), einer Nachdichtung (von J. R. V., 1705) und Übersetzungen gefunden hat. Telle liefert eine inhaltliche und formale Beschreibung des Gedichts sowie der beiden konkret genannten Wiederaufnahmen, dokumentiert die Überlieferungssituation und ediert den Text des Gedichts mit einem ausführlichen Apparat. Jochen A. Bär gibt eine umfassende Darstellung von Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik. Der Beitrag synthetisiert und ordnet sprachtheoretische Positionen aus dem gesamten Spektrum des romantischen Diskurses. Bär gliedert das Thema in fünf Aspekte: die Theorie der Sprache als Poesie, Sprachskepsis, Hermeneutik, Beiträge zur Theorie der Rhetorik und Beiträge zur vergleichenden Sprachwissenschaft und zur Herausbildung der Germanistik. Diese theoriehistorische Darstellung wird konfrontiert mit systematischen Analysen zum Sprachgebrauch der Romantiker. $ils Langers Beitrag ist im Bereich der historischen Soziolinguistik angesiedelt. Er beschäftigt sich mit der Lesebuchfrage im 19. Jahrhundert in Schleswig-Holstein. Als Hintergrund der Debatte wird die komplexe Mehrsprachigkeitssituation geschildert, welche durch die Zweisprachigkeit Niederdeutsch-Hochdeutsch im Landesteil Holstein und die Fünfsprachigkeit (Friesisch, Niederdeutsch, Hochdeutsch, Reichsdänisch und Sønderjysk) im Landesteil Schleswig gekennzeichnet ist. Auf der Grundlage eines Korpus aus Texten der Schleswig-Holsteinischen Schulzeitung wird die Debatte um eine angemessene Gestaltung von Lesebüchern für den Volksschulunterricht nachgezeichnet. Umstrittener Gegenstand ist vor allem die (sprach-)politische Charakterisierung der sprachsoziologischen Verhältnisse. Jörg Riecke spürt der „Idee von Sprachgeschichte“ in Egon Friedells Kulturgeschichte der $euzeit nach, die dem Beitrag als Korpus zu Grunde liegt. Nach der soziokommunikativen Einbettung des Werks in die Zeit seiner Entstehung und der Schilderung seiner frühen Rezeption werden Belegstellen diskutiert, die metasprachlich die Bedingungen des Geschichte-Schreibens verhandeln, und zwar unter den folgenden Aspekten: Verhältnis von Positivismus und Idealismus in der Geschichtsschreibung, Quellen der (Kultur-)Geschichtsschreibung, Sprachgeschichte und ihr Verhältnis zur Kulturgeschichte. So ergeben sich „Bausteine zu einer ‚Idee von Sprachgeschichte‘ in der Kulturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts“. $ina Berend legt Aspekte der jüngsten Sprachgeschichte des Russlanddeutschen dar. Sie untersucht dabei Sprach- und Dialektwandel des Russlanddeutschen als linguistischer Varietät. Nach einer historisch-systematischen Skizze des Russlanddeutschen wird sprecherbezogen die Re-Migration Russlanddeutscher nach Deutschland und die daraus entstehende neue Sprachkontaktsituation dargestellt. Vor diesem Hintergrund werden anhand von Interviewdaten Sprachwandelphänomene analysiert, die sich aus der Kontaktsituation ergeben. Die vorliegende Festschrift erscheint zehn Jahre nach dem von Vilmos Ágel, Andreas Gardt, Ulrike Haß und Thorsten Roelcke herausgegebenen, dem Jubilar zum 65. Geburtstag gewidmeten Band Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension und wird
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herausgegeben von zwei Schülern Oskar Reichmanns, die 2002 noch zu klein waren. Dankenswerterweise sind die Herausgeberin und die drei Herausgeber von damals wiederum mit Beiträgen beteiligt, so dass die Kontinuität gewahrt bleibt. Im Titel Geschichte der Sprache – Sprache der Geschichte ebenso wie in der Anlage unseres Bandes soll nicht nur ein Selbstverständnis der heutigen germanistischen Sprachgeschichtswissenschaft, sondern auch die Bandbreite der Arbeitsfelder des Jubilars selbst zum Ausdruck kommen: Sprachgeschichte des Deutschen ebenso wie Theorie der Historiographie, mit Schwerpunkten unter anderem in den Bereichen Historische Lexikologie und Lexikographie, Historische Semantik, Historische Grammatik, Textgeschichte und Geschichte der Sprachreflexion. Oskar Reichmann wurde am 16. 4. 1937 in Wilgersdorf, Kreis Siegen, als zweiter Sohn der Eheleute Karl und Emilie Reichmann geboren. Er studierte von 1957 bis 1962 die Fächer Germanistik und Geschichte an den Universitäten Marburg und Bonn, legte 1962 in Marburg das Erste Staatsexamen ab und wurde 1964 mit einer Arbeit über den Wortschatz der Siegerländer Landwirtschaft und Haubergswirtschaft promoviert. Von 1964 bis 1965 arbeitete er als Wissenschaftlicher Angestellter am Forschungsinstitut für deutsche Sprache – Deutscher Sprachatlas in Marburg, von 1965 bis 1967 als Studienreferendar. Das Referendariat schloss er durch die Zweite Staatsprüfung ab. Es folgte eine kurzzeitige Tätigkeit als Lehrer an der Gesamtschule Kirchhain bei Marburg und gleichzeitig (mit halbem Deputat) als Wissenschaftlicher Assistent am Studienseminar Marburg. Vom September 1967 bis bis zum September 1974 war Reichmann an der Freien Universität Amsterdam als Lektor (nach deutschem Verständnis: als C2/C3-Professor) für die Teilbereiche Sprachwissenschaft und Ältere deutsche Philologie tätig, daneben als Teilzeitdozent an der Cocma (dem Lehrerausbildungsinstitut) in Utrecht. 1974 nahm er einen Ruf als Ordinarius für Germanistische Sprachwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Sprachgeschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg an, wo er von 1981 bis 1983 Dekan, von 1983 bis 1985 Prodekan der Neuphilologischen Fakultät war, von 2001 bis 2002 Rektoratsbeauftragter für das Institut für Übersetzen und Dolmetschen und über viele Jahre Beauftragter für die Universitätspartnerschaft mit der Fremdsprachenhochschule Peking. Reichmann wirkte als Gastprofessor an den Universitäten Paris-Sorbonne, Paris-Nanterre, Catania, Budapest, Szeged, Peking, Tokyo und Fribourg. 1987 lehnte er einen Ruf auf die Professur für Germanische und Deutsche Philologie an der Philipps-Universität Marburg ab. Er war bzw. ist Mitglied in der Wissenschaftlichen Kommission der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Deutsche Rechtswörterbuch, im Kuratorium des Instituts für deutsche Sprache (Mannheim), in der Kommission zum Fackel-Wörterbuch an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wien), in der Kommission des Projekts „Editionen“ an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wien) und in der Kommission zur Vergabe des Ruprecht-Karls-Preises der Universität Heidelberg sowie langjähriger Vertrauensdozent der Studienstiftung des deutschen Volkes.
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Für seine Arbeit als Wissenschaftler und Universitätslehrer2 erhielt er unter anderem das Bundesverdienstkreuz am Bande; 2010 wurde er zum Professor ehrenhalber der Fremdsprachenuniversität Peking ernannt. 2
E r i n n e r u n g 1 (Bär): Als ich vor 25 Jahren – ein Semester zuvor erst hatte ich das Studium der Fächer Germanistik und Philosophie in Heidelberg aufgenommen – mich vor die Notwendigkeit gestellt sah, eine Einführung in die Linguistik zu besuchen, war mir, meinem damaligen Selbstverständnis als angehender Literaturwissenschaftler gemäß, die Sache derart wenig geheuer, dass ich mich entschloss, vorsichtshalber gleich zwei derartige Lehrveranstaltungen parallel zu belegen. Die eine mutete vielversprechend an aufgrund ihres einfühlsam und auf den Bedarf des unbedarften Zweitsemesters hin verfassten Ankündigungstextes („Thematisiert werden u. a. die Berührungspunkte von Linguistik und Philosophie“, „Ich berate Sie bei der Abfassung wissenschaftlicher Hausarbeiten“ usw.). Die andere lag terminlich günstig, der Veranstaltungskommentar, bestehend aus einem einzigen Satz, wirkte allerdings eher abschreckend: „Behandelt werden die Bühler’schen Grundfunktionen der Sprache.“ Danach: ein Dutzend Literaturangaben. In der ersten Lehrveranstaltung blieb ich genau zwei Sitzungen lang, in denen ich (zeitweise erfolglos) gegen unerklärliche Müdigkeit zu kämpfen hatte. Die zweite, geleitet von Oskar Reichmann, wurde zu meinem wissenschaftlichen Ur-Erlebnis. Vom ersten Augenblick an spürte man mitreißende Begeisterung für die Gegenstände. Vom ersten Augenblick an war Selbstdenken gefragt. Vom ersten Augenblick an auch fühlte man, dass es keine Beschränkungen für persönliche Vorlieben und Schwerpunktsetzungen geben würde. („Sie interessieren sich für die Berührungspunkte von Linguistik und Philosophie? Dann arbeiten Sie doch über den Zusammenhang von Sprache und Erkenntnis!“) Ich schrieb eine Hausarbeit über das Konzept des Zusammenhangs von Sprache und Erkenntnis bei Adam Schaff, die Reichmann (wie fast alle der Hunderte von Hausarbeiten, die jemals bei ihm abgegeben wurden) innerhalb einer Woche las. Das Exemplar mit dem auf dem Titelblatt von ihm handschriftlich notierten Besprechungstermin fiel mir unlängst wieder in die Hände: 16. 4. 1988. Für meine Magister- und anschließend meine Doktorarbeit akzeptierte er ein Thema, das ihm anfangs durchaus nicht nahe lag: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Meiner Habilitationsschrift (ebenfalls ein Zeugnis wissenschaftlichen Eigensinns) attestierte er: „Von einer Lektüre im Sessel ist abzuraten“. Er hat sie gleichwohl gelesen; er hat meinen akademischen Werdegang stets mit Vertrauen und kritischem Wohlwollen begleitet und gefördert und mir, ebenso wie allen anderen seiner Schülerinnen und Schüler, die intellektuellen Freiräume gelassen, deren die Entfaltung wissenschaftlicher Individualität notwendig bedarf. *** E r i n n e r u n g 2 (Müller): Ich habe Oskar Reichmann zuerst als Leiter des von mir 1996 besuchten Proseminars ‚Geschichte der Sprachtheorie‘ erlebt. Die daran anschließende Zwischenprüfung verlief eher ungünstig: Als zurückhaltender Student war ich Reichmann vorher noch nicht weiter aufgefallen. Außerdem war er zum Termin meines Referats über das Grimm’sche Wörterbuch verhindert und hatte sich durch seine damalige Mitarbeiterin vertreten lassen. Die von mir angegebene Textgrundlage (ein Quellentext zur Sprachtheorie Jacob Grimms) war ihm in der Prüfung abhanden gekommen, stattdessen redete er über Texte, von denen ich noch nie gehört hatte. Nach der Prüfung wartete ich niedergedrückt und in der Erwartung, durchgefallen zu sein, vor der Tür. Reichmann bat mich herein und listete mir die Dinge auf, die er mindestens erwartet, ich aber nicht gesagt habe. Der andere Teil der Prüfung – abgelegt bei dem damals in Heidelberg tätigen Mediävisten Freimut Löser über mittelhochdeutsche Apokalypsen – habe ihm aber so gefallen, dass der mäßige Verlauf des linguistischen Teils wohl an ihm gelegen haben müsse. Er gab mir also die Note 1,0 und bot mir eine Hilfskraftstelle am Frühneuhochdeutschen Wörterbuch an. Ich nahm an – weniger aus Passion für das Frühneuhochdeutsche, von dem ich nur wusste, dass man es nicht gut verstehen
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Jochen A. Bär / Marcus Müller
Die ungebrochene Schaffenskraft, die der Jubilar bis in die allerjüngste Vergangenheit an den Tag gelegt hat3, möge ihm noch lange unvermindert erhalten bleiben. Wir wünschen ihm viele weitere Jahre bei bester Gesundheit und freuen uns auf neue gewichtige Beiträge, auf anregende Gespräche und denkwürdige Erlebnisse. Vechta / Heidelberg, im April 2012 Jochen A. Bär
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Marcus Müller
kann, sondern eher aus Perplexität und Ehrfurcht. Die Folgejahre verbrachte ich damit, Kopien von Kopien zu zerschneiden, Exzerptzettel mit Textpassagen zu bekleben und bunt mit Unterstreichungen zu verzieren. Danach hätte ich entweder Linguist oder Kindergärtner werden können – zum Glück für die Kinder bot mir Reichmann später ein linguistisches Promotionsthema an. Von seinen Seminaren nahm ich mit, so viele ich konnte; die besten Sitzungen entstanden, wenn er einen Textausschnitt verteilte, alle darüber meditieren ließ und dann fragte: „Wer fängt an?“ – Nie und nimmer wäre ich ohne Reichmann Sprachwissenschaftler geworden; nicht dass er mir alles beigebracht hätte, aber doch die Haltung zur Wissenschaft, die alles andere ermöglicht hat. Einen Eindruck von seiner Vielseitigkeit ebenso wie von seiner enormen Produktivität gibt die Liste seiner Publikationen im Anhang. Vollständigkeit haben wir dabei angestrebt, aber vermutlich kaum erreicht.
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CHRISTOPHER J. WELLS
Mehr Räumlichkeit in der Zeitlichkeit der Sprachgeschichtsschreibung?
1. Einleitung 2. Der soziale Raum 3. Soziologische Sozialräume 4. Unterteilungen des sozialen Raumes in Öffentlichkeit und Privatheit 5. Die rezente Sprachgeschichte und der private Raum 6. Schlußbemerkungen 7. Zitierte Literatur
1. Einleitung 1.1. Oskar Reichmann hat in seinem produktiven Forscherleben vieles zur Sprachgeschichte des Deutschen in Theorie und Praxis beigetragen, in neuerer Zeit vor allem im Rahmen seiner unermüdlichen Herausgebertätigkeit an den HSK-Ausgaben der Sprachgeschichte und am Frühneuhochdeutschen Wörterbuch. Zwei Themenkomplexe der rezenteren deutschen Sprachgeschichte sind jedoch noch weiter aufzuarbeiten: die multikulturelle Sprachgemeinschaft nach den siebziger Jahren und die nichtgeographische, also soziale Räumlichkeit des Sprachgebrauchs in den letzten Jahrhunderten. Anläßlich meiner Rezension der 2. Ausgabe der großen HSK-Sprachgeschichte ist mir aufgefallen, daß der soziale Raum zu kurz gekommen ist. Freilich, es kommen verschiedene Raumaspekte im Sachregister vor, und auch die Raummetaphorik sowie die Erforschung des Aufkommens der regionalen und nationalen Varianten des ,Deutsch‘, welche räumliche Reichweite impliziert. Große Teile des Handbuchs befassen sich auch mit Arealforschung zu Dialekträumen und individuellen Dialekten, zu den regionalen Umgangssprachen, zur Stadtforschung – auch die Umwelt und deren linguistische Aspekte werden berücksichtigt.1 Vom Jubilar selbst sind in seinem Beitrag zur historischen Le1
Die Politisierung der Umwelt als Zivilisationsherausforderung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sowie das Aufkommen einer Soziologie der Natur und linguistische Verschiebungen in der Bedeutung der mediatisierten Diskurse zu dieser Problematik haben auf die öffentlichen und privaten Interaktionen der Sprecher ihre Wirkung: Stötzel 1995. Schon in dem Bedeutungsunterschied zwischen Umwelt und Umfeld.
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Christopher J. Wells
xikologie sehr förderliche theoretische Bemerkungen zu handlungstheoretischen Ansätzen geliefert, welche auch für die Mikroebene der Kommunikation im Raum Folgen haben. Der Verdinglichung und Hypostasierung von Sprache wird durch eine Auffassung der Kommunikation als (Ver)handlung zwischen gleichberechtigten (sich ablösenden) Sprechern und Hörern entgegengewirkt: Die Beteiligten einigen sich über den ,Sinn‘ der von ihnen benutzten Begriffe und Wörter, welche ,Gebrauchsklassen‘ von ,Bedeutungen‘ umfassen, d. h., sie stimmen überein (oder auch nicht) über diejenigen ,Sememe‘, die in der Situation und im Kontext gemeint sind. Vermutlich basiert die Wahl auf dem jeweiligen Lebens- und Wissenshorizont der Sprecher, auf ihrer Erfahrung der relativ undefinierten (unbegrenzten) Bedeutungen. Diese Wendung zum Pragmatischen wird mitunter nicht nur als Vertiefung der Erkenntnisse der modernen Linguistik gesehen: Jede Reifizierung – Verdinglichung – von Sprache wird von den Radikalpragmatisten2, zu denen auch die ‚Integrationalisten‘3 gehören, entschieden zurückgewiesen, da sie davon ausgehen, daß Kommunikation nicht durch die ,Telementation‘4 stattfindet, sondern durch paralinguistisches und linguistisches Handeln in bestimmten Situationen negotiert wird, ohne auf Enkodierung und Dekodierung eines gemeinsamen vorhandenen Idealsystems zu basieren. 1.2. Wie Reichmann darlegt, ist die Sprachhandlungstheorie für die Sprachgeschichte adäquater, weil der Wortgebrauch wesentlich als Wandel konzipiert wird und damit als Mechanismus der Sprachveränderung sich geradezu anbietet. Alle im Strukturalismus verankerten Operations-Typen von Wortwandlung, „nämlich Bedeutungsverengerungen, -erweiterungen, -verschiebungen, -verbesserungen, -verschlechterungen, Polysemierungen, Monosemierungen usw.“, erhellen aus dem Wortgebrauch. Die Kontextualisierung der Kommunikation erfordert natürlich die Berücksichtigung der Sprecher(-gruppen) und deren Verhältnis zueinander, des Sachverhalts und der Textsorten, neben eventuellen paralinguistischen Aspekten der Gesprächssituation.5 Die verschiedene Sprachkompetenz der Kommunikationspartner (ihre jeweils andere Erfahrung der ‚Bedeutungsklassen‘ der Wörter) verschafft dem Medium Sprache eine Flexibilität, auf die schon Wilhelm von Humboldt hingewiesen hat: „Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit. Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre [...]. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-
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Vgl. Pinker 2007. Harris 1980; 1981; 2001: Die Sprache wird als künstliches, ahistorisches Konstrukt der Linguisten und Sprachhistoriker betrachtet. ,Telementation‘: der Bedeutungstransfer von einer Person zur anderen mittels eines gemeinsamen (sprachlichen) Codes, in den Information enkodiert und aus dem vom Hörer/Leser dekodiert wird. Die Integration(al)isten zweifeln an der Existenz eines solchen idealisierten Codes, folglich an deren linguistischer Analyse, sowie an der ,synchronen‘ und ,diachronen‘ Beschreibung eines reifizierten ,Sprachsystems‘. HSK 2, Bd. 1, Nr. 37, Absatz 4, 624–629, bes. 626–628.
Mehr Räumlichkeit in der Zeitlichkeit der Sprachgeschichtsschreibung?
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Verstehen, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.“6
Auch die Begriffsgeschichte von Reinhart Koselleck und anderen liefert manches zur Strukturierung der Gesellschaft – allerdings (wie in einem Wörterbuch zu erwarten) mit unterschiedlich kontextualisierten Belegen und ohne durchgängige Gesellschaftsmodelle zu liefern7. Für die historische Lexikologie sind deshalb die Beiträge der Begriffsgeschichte also oft schwer überschaubar, und man muß zuerst den geeigneten kommunikativen Rahmen zu bestimmen versuchen, in den die Darstellung der Sprecher-Interaktionen eingebettet werden soll, um diese dann historisch-interpretatorisch mit anderen Darstellungen für andere Epochen zu kontrastieren. 1.3. Hier soll der soziale Raum als dieser Rahmen untersucht werden, der im Registerband zu HSK 2 weitgehend fehlt. Zwar bespricht Peter von Polenz in seinem Aufsatz Sprache und Gesellschaft in kritischer Sicht die Raummetaphorik (2HSK 2.1, 43 ff.), er erläutert aber keine sozialen Räume; übrigens, auch in seiner großartigen dreibändigen Sprachgeschichte gibt es keine ausgiebigen Hinweise auf die soziale Räumlichkeit der Sprecher, obwohl Polenz dies in anderen Arbeiten durchaus impliziert, z. B. wenn er notiert, daß „der politische Witz in der DDR im halböffentlichen Diskurs“ angesiedelt sei.8 Folgende vorläufige Bemerkungen zur linguistischen Raumproblematik in einer soziolinguistischen Sprachgeschichtsschreibung – vornehmlich der privaten und halbprivaten Kommunikationsräume – sind also als Versuch einer anderen Perspektivierung bekannten Materials sowie als Anregung für weitere Forschungen zu verstehen.
2. Der soziale Raum Der soziale Raum ist längst von Soziologen und Kulturhistorikern eingehend erörtert worden, und diese Erkenntnisse wollen auch in der historischen Linguistik systematisch und umfassend berücksichtigt werden. Das kann aber hier nicht geschehen, obwohl ich in erster Linie auf die oft sprachsensiblen Thesen von Jürgen Habermas hinweisen möchte, wo das Aufkommen und die Verschiebungen der sozialen Dimensionen ,Öffentlichkeit‘ und ,Privatheit‘ im Rahmen der Gesellschaftstheorie behandelt werden.9 Auch wenn ich die Terminologie von Habermas nicht direkt übernehme, bilden 6
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Humboldt 1830–35, VII, 65; kurz vorher bemerkt er: „In der Erscheinung entwickelt sich die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat.“ (VII, 56). Brunner/Conze/Koselleck 1972–1997 und besonders Koselleck 2006. Bekanntlich ist auch der Begriff ‚Begriff ‘ etymologisch ein räumlicher! v. Polenz 1993, 131; zit. nach Schiewe/Schiewe 2000. Habermas 1962/1990 und Habermas 1981–85/1995. Beide Werke behandeln und unterscheiden mit nichtlinguistischer bzw. nichtsprachgeschichtlicher Intention den Privatbereich und den öffent-
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seine Arbeiten für eine eingehende Behandlung der Sozialstrukturen der Moderne einen Ausgangspunkt. Anstatt nun die Sozialstruktur ausschließlich in der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit zu behandeln oder sie mit stilisierten, prototypischen Idealgebilden auszustatten, geht Habermas von der alltäglichen Kommunikation als Handlung aus, und er fängt mit einer Erörterung der Herkunft und Polysemie von Öffentlichkeit nach Grimms DWb. an; seine Behandlung der (ebenfalls polysemischen) Privatheit bleibt sekundär. Für den Sprachhistoriker hat natürlich die Öffentlichkeitssphäre schon deshalb den Vorrang, weil dieser Bereich (Schrift- und Herrschaftskultur) der Forschung am ehesten den Zugang zu Quellenmaterial und metalinguistischer Beschreibung verschafft, welch beide ohnehin nur mittelbar die ,ursprünglichen‘ Handlungssituationen der Sprecher vermitteln – also im wesentlichen abstrakte Konstrukte darstellen. Mit Sicherheit wird aber bei weitem die Mehrheit der sprachlichen Handlungen zu jeder Zeit im Privaten bzw. im Halbprivaten oder in der Halböffentlichkeit stattgefunden haben und, weil mündlich, sind sie bis in die Moderne hinein den Forschern in der Regel unzugänglich – oder durch die Verschriftung höchstens mittelbar zugänglich –, ephemer und darüber hinaus lückenhaft, heterogen, und (zeitlich) Außenstehenden schwer verständlich. Heute aber und in der rezenten Vergangenheit können die privaten ,speech-acts‘ legal oder illegal festgehalten werden, was nicht nur die synchrone Gesprächsanalyse ermöglicht, sondern Daten für die Sprachgeschichtsschreibung zur Verfügung stellt. Allerdings wird die ‚Natürlichkeit‘ des Materials bisweilen durch das Bewußtsein, daß nichtlegitimierte Beobachter – ,bystanders‘ – dabei sind, kompromittiert.10 In seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit bringt Habermas (1962/1990, 57) einen schematischen Grundriß der Hauptsphären der soziolinguistischen Interaktionen für das 18. Jahrhundert (d. h. für das ,Deutschland‘ bzw die deutschen Territorialstaaten des 18. Jahrhunderts) in der Zeit nach der Französischen Revolution, als das Wort Öffentlichkeit zuerst gebildet wurde nach Analogie des englischen publicity und des französischen publicité11.
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lichen Bereich. Dabei werden die komplexen, diversen Arten von Öffentlichkeit und Privatheit betont (1962/1990, 16 f.): neben der aufkommenden bürgerlichen Öffentlichkeit erscheine eine ,plebejische‘, die von jener bürgerlichen weitgehend ,ausgeschlossen‘ sei. Die Situation der Frauen sei bei der patriarchalischen Natur sowohl der öffentlichen wie der privaten Sphäre noch komplizierter. Für umfassende Mikrostudien der dramaturgischen Aspekte des ‚Talks‘ vgl. Goffman 1972 und 1981. Gewahr des Einflusses der antiken Theoretiker auf die Jakobiner über englische politische Denker (vgl. Dieckmann 1964), kehre ich die Reihenfolge dieser Fremdwörter bei Habermas (1962/1990, 56) um!
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Privatbereich
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Sphäre d. öffentl. Gewalt
Bürgerliche Gesellschaft (Bereich d.Warenverkehrs u. d. gesellsch. Arbeit)
politische Öffentlichkeit literar. Öffentlichkeit (Clubs, Presse)
Staat (Bereich d. „Polizei“)
Kleinfam. Binnenraum (bürgerl. Intelligenz)
(Kulturgütermarkt) (adelig-höf. Gesellschaft) „Stadt“
Hof (adelig-höf. Gesellschaft)
Für Habermas scheidet die „fundamentale Trennungslinie zwischen Staat und Gesellschaft [...] die öffentliche Sphäre vom privaten Bereich. Der öffentliche Bereich beschränkt sich auf die öffentliche Gewalt. Ihr rechnen wir noch den Hof zu. Im privaten Bereich ist auch die eigentliche ‚Öffentlichkeit‘ einbegriffen; denn sie ist eine Öffentlichkeit von Privatleuten. Innerhalb des den Privatleuten vorbehaltenen Bereichs unterscheiden wir deshalb Privatsphäre und Öffentlichkeit. Die Privatsphäre umfaßt die bürgerliche Gesellschaft im engeren Sinne, also den Bereich des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit; die Familie mit ihrer Intimsphäre ist darin eingebettet. Die politische Öffentlichkeit geht aus der literarischen hervor; sie vermittelt durch öffentliche Meinung den Staat mit Bedürfnissen der Gesellschaft.“12
Hieraus erhellt, daß Habermas, der sich von vornherein für das Aufkommen einer politischen Öffentlichkeit und für die öffentliche Meinungsbildung interessiert, unter Privatbereich sowohl die Privatinteressen der (Klein-)Bürger in ihren Alltagsbeschäftigungen in der ‚Öffentlichkeit‘, auf dem Markt usw., als auch die häusliche Sphäre des Familienlebens in der ‚Intimität‘ versteht. Für die Gegenwartssprache, also für das Deutsch nach dem Zweiten Weltkrieg, ist eine engere Auffassung der primären Bedeutungsklassen des Wortes privat angebracht, das hier mit intim/Intimität für das nichtöffentliche Leben benutzt wird. Freilich, man kann den Wortgebrauch von privat bei Habermas auch in Adelungs Wörterbuch belegen: „Die Private Person, eigentlich eine in keinem öffentlichem Amte stehende Person; als eine Privat-Person leben, welches man auch privatisiren nennet. Nach einer andern Einschränkung ist die Private Person der befehlenden Person in einem gemeinen Wesen entgegen gesetzt, und da sind alle zum Gehorchen verbundene Glieder eines Staates in dieser Rücksicht PrivatPersonen.“13
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Habermas 1962/1990, 89. Adelung 1808, Th. III, 840. Adelung versucht bekanntlich den Sprachgebrauch der oberen Klassen in der Provinz Ober-Sachsen in deren schriftlichem und mündlichem Verkehr als Hochdeutsch zu beschreiben; auf Gesprächssituationen ging er nicht ein, obwohl er die ,Würde‘ – Stilebene – ein-
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Sehr pauschal gesagt: Habermas verfolgt keine vorrangig linguistischen Ziele und er sieht die Privatleute in ihrer Distanz zur Staatsgewalt; ferner: Er ist nicht an den Sprachstilen als solchen interessiert und diskutiert höchstens die familiale Struktur, nicht die familiäre Sprache, die in der Privatheit vorherrschen kann.14 Es wäre eine aufschlußreiche Aufgabe, die gesellschaftstheoretischen Einsichten von Habermas mit linguistischen Beispielen konkret zu belegen bzw. kritisch zu hinterfragen, obwohl dies für das 18. Jahrhundert und frühe 19. Jahrhundert vermutlich für manche Textsorten wegen Mangels an Zeugnissen aus den ,nichtöffentlichen‘ Bereichen schwierig sein würde. Denn ,das Volk‘ scheint damals als Publikum von der repräsentativen Öffentlichkeit ausgeschlossen, owohl es geradezu diese Öffentlichkeit ,konstitutiert‘, indem es (als schweigende Mehrheit?) die Kulisse für die Herrscherstände und Amtsträger darstellt.15 Für die Gegenwart jedoch bekommen Gruppen, Schichten und soziale Netzwerke in vorher nicht vorhandenen Weisen Zugang zur Öffentlichkeit und zu den öffentlichen Diskursen. Nicht zuletzt deshalb werden im folgenden zumeist rezentere Phasen des Deutschen besprochen, vornehmlich sprachliche Aspekte und Probleme des privaten Raumes.
3. Soziologische Sozialräume 3.1. Auf die Begriffe ‚Raum‘/,Räumlichkeit‘ kann nur sehr oberflächlich eingegangen werden – nicht zuletzt aus Raumgründen. Sprechergruppen kommen im Raum zustande, in Kommunikationssituationen der Mikroebene, und Raum als solcher, ob physisch oder virtuell, wird immer psychisch empfunden, subjektiv erlebt und erfühlt, und sei er noch so scheinbar konkret/objektiv. Dies bedingt die Art der Kommunikation, die ,im Raum‘ situiert ist, auch wenn diese Kommunikation keineswegs Abbild der Situation ist, weil Sprache generalisierbar genug sein muß – d. h. nicht an eine Situation gebunden –, um als Kommunikationsmittel zu funktionieren. Folglich ist die Vorstellung, daß Sprache die Gesellschaft reflektiere, ein „korrelationaler Irrtum“.16 Reinhart Koselleck schlägt eine Arbeitshypothese vor,
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zelner Wörter in fünf Kategorien einteilte, die er anfangs partiell durch Sonderzeichen kennzeichnete. Habermas (1962/1990) listet im Register diverse Begriffe und Paarformeln – Gesellschaft, adlighöfische; bürgerliche; feudale; Gesellschaften, geschlossene; Gesellschaft, hochkapitalistische; humanistisch-aristokratische; öffentlich-räsionierende etc.; Intimität, bürgerliche; fingierte; kleinfamiliale; literarisch vermittelte; Intimbereich; Intimsphäre; Intimsphäre, bürgerliche, familiale; kleinfamiliale; Öffentlichkeit, bürgerliche; demokratische; großfamiliale; hellenische; hergestellte; höfische; literarische; manipulierte; obrigkeitlich-reglementierte etc.; Privatheit, ... Privatleben; Privatleute; Privatleute, bürgerliche; räsonierende;... Privatsphäre etc. Habermas 1962/1990, 17. Implizit: Wird das Volk aktiv, demonstriert es, so nimmt es außerhalb der Wahlrituale am politischen Leben teil. Cameron 1990, 85 f.
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„die von einer elastischen Korrespondenz ausgeht: Sprachwandel und sozialer Wandel korrespondieren miteinander, ohne daß der eine im andern aufgeht, ohne daß der eine auf den anderen kausal zurückzuführen ist.“ 17
Aber die subjektive Wahrnehmung der Räume wirkt sich auf die Bedeutungen der Wörter aus, wie in den Wortfeldern um das Haus als Ort der Privatsphäre, die aber unten nur flüchtig erörtert werden. 3.2. Der Raum an sich ist unbegrenzt – nicht delimitiert oder definiert – obwohl die Menschen Räume erkennen, physisch erschaffen und sprachlich erzeugen können. Die erkennbaren naturphysischen Räume sind häufig durch Naturgrenzen bestimmt, wie das Meer, Gebirge, Flüsse, (Ur-)Wälder usw.; in sprachlicher Hinsicht ist dieser physikalische, geografische Raum meistens mit Unterschieden im Sprachgebrauch verbunden, er umfaßt Dialekte oder Dialektareale, die oft schwer zu bestimmen sind. Der erschaffene, bebaute Raum, der mit Hausformen, mit Städteplanung und sogar mit bestimmten Zimmern zusammenhängen kann, läßt den öffentlichen Raum des Marktplatzes, die agora, vom privaten Bereich der Bürger trennen, obwohl Wohnraum zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen anders ausgeprägt und aufgeteilt ist. Die Begriffe ,Öffentlichkeit‘ und ,Privatheit‘ sind dementsprechend schillernd und weitgehend schwer bestimmbar – lat. publicus hängt letztlich wohl mit populus ›Volk, Nation‹ zusammen, lat. privatus dagegen mit ›vom Staat abgesondert, ohne Amt, nicht öffentlich‹. 3.3. Der Raum in der Soziologie wird in kleinere Räumlichkeiten aufgeteilt – in Sphären, Bereiche, Bezirke, $ischen usw. –, in denen die Handelnden ihre Standpunkte wählen und von wo aus sie Perspektiven entwickeln. Wenn die Sprachgeschichtler nun versuchen, die Geschichte der Sprachen mit der Geschichte ihrer Sprecher in Zusammenhang zu setzen, müssen sie auch noch den Standort des jeweiligen Sprechers im geschichtlichen Kontext der Kommunikation zu lokalisieren versuchen. Mit anderen Worten, sie versuchen, dem sozialen Raum in seinen Unterteilungen linguistische Aspekte abzugewinnen, wobei linguistische Raumbezeichnungen wie Domäne und Situation hinzukommen. Fishman (1972) definiert ,Domäne‘ als Klasse von Situationen, welche eine bestimmte linguistische Varietät erfordern.18 Schon lange haben Soziolinguisten den Sprachwechsel in verschiedenen Situationen durch Sprecher verschiedener Sprachen (Diglossie) mit dem Wechsel sprachlicher Varietäten durch Sprecher derselben Sprache verglichen: untersucht man den Wandel dieses Wechsels, betreibt man dynamische Sprachsoziologie. Gleichzeitig heißt das, daß man das Sprachverhalten auf der Mikroebene der Situation analysiert – nach Goffman „the microecological orbit in which the speaker finds himself“19 – und auf der Makroebene verselbständigt – ‚reifi17
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Koselleck 2006, 305. Vorher (ebd., 303): „Jeder sprachliche Wandel ist per definitionem immer schon sozial. Aber nicht jeder soziale Wandel ist eo ipso sprachlich ...“ Z. B. Fishman 1972. Goffman 1972, 62.
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ziert‘ –, um langfristige Entwicklungen zu erkennen. Natürlich hat Habermas erkannt, daß Begriffe ohne Einverständnis der sie Benutzenden nicht präzise sind: Gerade deshalb müssen sie durch Konsens eingeengt, was gegen den Hintergrund eines mehr oder weniger gemeinsamen Diskurshorizontes, bzw. einer geteilten Lebenswelt der Sprecher geschieht. Von dieser Warte aus erscheint das Aufstellen einer normativen Grammatik, eines Wörterbuchs sowie das Verfassen von Sprachgeschichten als nicht durchführbar! Wenn wir jedoch die Lexika und Grammatiken, und natürlich die Sprachgeschichten, als Ideologeme erkennen, die durch eine im besten Falle (klein geschriebene) ,politische‘ Motivation betrieben werden – etwa als Teil der Kulturpolitik, als Herstellung (und Feststellung) von Lokal- und Nationalvermächtnissen und gar als Modelle der Sprachgebrauchsgeschichte, sofern sie das Licht der Öffentlichkeit erreichen –, sind sie legitim. Das heißt nicht, daß diese abstrahierten Konstrukte (Sprachen, Grammatiken, Wörterbücher und Sprachgeschichten) anders als sehr mittelbar mit der Kommunikation zusammenhängen. 3.4. Auch die Zeit-Räume der Sprachgeschichtsschreibung werden rein konventionell an die sprachlichen Zeugnisse der Vergangenheit herangetragen. Die zeitliche Räumlichkeit als Faktor in der Sprachgeschichte wird oft zu oberflächlich behandelt, weil man vorschnell Unterteilungen der Vergangenheit vornimmt, seien sie aus dem angesetzten Sprachsystem entwickelt oder von außen an dieses angelegt worden. Die Verfasser von Systemgeschichten der historischen Grammatik arbeiten seit Hermann Paul und Ferdinand de Saussure mit ,Sprachzuständen‘ oder ,coupes synchroniques‘, obwohl ihre Querschnitte nicht rein synchron sind, weil eine Sprachgemeinschaft nicht aus gleichaltrigen Sprechern besteht, deren Kommunikation (um das verdinglichende Wort Sprache zu vermeiden) ältere und jüngere Bestandteile aufweisen muß, aus denen schließlich ein Abstraktum gewonnen wird. Weder die Zeit noch Räume sind statisch: Sie verschieben sich beide und stets. Sowohl Zeit als auch Raum sind subjektiv und objektiv bzw. überpersönlich. Daß die Zeit auch räumlich aufgefaßt wird, ist an der alltäglichen verblaßten Metaphorik evident – Zeitraum, Zeitspanne, Zeitpunkt, zu dieser Zeit und in dieser Zeit haben immanent andere Dimensionen – diese Metaphorik repräsentiert auch den Versuch, Zeit zu bannen und festzuhalten. 3.5. Das Aufstellen von sozialen Räumen ist schon deshalb schwierig, weil das Sprecher-Verständnis solcher Räume und deren Verteilung sich mit der Zeit und mit kulturellen und politischen Veränderungen verschiebt. Obwohl Geschichte und Sprachgeschichte erst als überindividuelle Sinngestalten beschreibbar und interpretierbar werden, nehmen sie ihren Ausgang im Wahrnehmen und Verständnis der Sprecher, bilden gewissermaßen Interpretationen des Wirklichen zeitlich verlängert. Da jedoch die anzusetzenden Räume erst aus den sozialen und kulturellen Zusammenhängen zu rekonstruieren sind, welche nicht konstant sind, fängt man am besten mit moderneren Zeitverhältnissen an, zumal diese Räume weder alle für die Vergangenheit, noch für bestimmte
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Gemeinschaften und Gesellschaften gelten, noch – vielleicht – für die nähere Zukunft. Zum Teil mögen die Räume nicht viel mehr als Metapher sein, um die Wahl/den Gebrauch bestimmter Register, Stilebenen oder Wortschätze zu begründen, um sie zu ,orten‘. Beiläufig kann man über die Diglossie Aspekte des Räumlichen behandeln, wie von Alan Hudson20 vorgeschlagen wird; somit werden beide anfangs angesprochenen zu kurz gekommenen Problemkreise der Räumlichkeit und der multikulturellen Sprachgemeinschaft miteinander verbunden: Etwa ,migrantische‘ Haussprache in der Privatheit, z. B. (Küchen-)Türkisch gegenüber lokaler dialektaler Umgangssprache – oder Mischformen (Kanakisch, Quelia) – in der Öffentlichkeit. Ein altes Problem der Sprachgeschichte ist, wie Peter Wiesinger bemerkt, daß sie zumeist „teleologisch auf den [jeweils] rezenten Sprachzustand ausgerichtet“ ist.21 Wenn man aber nach dem Verhältnis des heutigen Sprachverhaltens (der heutigen Sprachkultur?) zu dem aus vergangenen Zeitläuften fragt, scheint dies Verfahren berechtigt. Die Vergangenheit läßt sich kaum weniger als die Gegenwart endgültig bestimmen. Nicht so sehr die Kontinuität des Werdegangs der Sprache ist für die Sprecher relevant, sondern die Erkenntnis des heutigen Sprachgebrauchs, der erst aus dem Vergleich mit früheren Verhaltensweisen und -formen erhellt. Nicht auf die Klärung der Frage „Wie ist die Sprache geworden, was sie ist?“ kommt es an, sondern auf die Frage „Was ist die rezente Sprache, und wie unterscheidet sie sich von früher?“ Für die Problematik der sozialen Räumlichkeit also müssen wir zuerst sprachlich prägende soziale Räume ansetzen, um deren Vorhandensein und Beschaffenheit auch für frühere Gemeinschaften zu untersuchen. Es erweist sich als sehr schwierig, ältere Gesellschaftsstrukturen zu rekonstruieren – nicht nur wegen der Insuffizienzen der Quellen, sondern aus ‚ideologischen‘ Gründen. Wir können also nicht leicht einen ,Zustand‘ in der Vergangenheit schaffen, der als gesicherte Ausgangsposition gelten kann, um ihn dann mit rezenten Umständen zu vergleichen. Auch terminologische Unterschiede verschleiern und verhindern diesen Versuch – das Wort Zustand ist ein Beispiel dafür, Sprachverhalten wäre vielleicht besser (vgl. Anm. 21). In seiner späteren Arbeit zur Theorie des kommunikativen Handelns mahnt Habermas: „Tatsächlich sind kommunikative Äußerungen in verschiedene Weltbezüge stets gleichzeitig eingebettet. Kommunikatives Handeln stützt sich auf einen kooperativen Deutungsprozeß, in dem sich die Teilnehmer auf etwas in der objektiven, der sozialen und der subjektiven Welt zugleich beziehen, auch wenn sie in iherer Äußerung thematisch nur eine der drei Komponenten hervorheben.“22
Diese Trias von Objekt der natürlichen Welt, von Kommunikationshergang der sozialen Welt und von jeweiligen subjektiven Perspektiven der Sprechermeinung bildet den gegebenen Unterbau jeder Kommunikation im Öffentlichen wie im Privaten, wobei eine 20 21
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Hudson 1994. Wiesinger 1990 (zit. nach Klaus J. Mattheier: 2HSK, III, 2712). Vielleicht wäre Sprachverhalten besser, weniger statisch als Pauls Sprachzustand. Habermas 1981–1985/1995, 184.
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gemeinsame ‚Lebenswelt‘ der Sprecher und ihr sich verschiebender Situationshorizont in das Zusammenspiel von Verständigung und Einverständnis hineinspielen. Diese Konventionalisierung kann gewissermaßen von unten dialogisch-symmetrisch geschehen im Gespräch, kann aber auch durch Institutionalisierung asymmetrisch von oben herab oktroyiert werden, wie dies im Falle der Heraus-,Bildung‘ der Nationalsprache geschieht, und wie dies für die Kommunikationsbereiche Religion, Recht und Sitte Dieter Wolf bemerkt.23 Hier wäre auf die Rolle der Massenmedien, vor allem der Presse hinzuweisen, wo die brisanten und kontroversen Begriffe in Kampfdiskursen an Schärfe gewinnen. Auch die soziale Vernetzung schafft durch größere oder kleinere Maschen Zwischen-Räumlichkeiten, die in immer neuen Formen und Abwandlungen entstehen. Diese sozialen Netzwerke eines Individuums fallen der Zeitlichkeit anheim: mit zunehmendem Alter sterben Mitglieder eines Jahrgangs weg oder verkapseln sich. 3.6. Ähnlich Verschwimmendes/Verschwommenes ließe sich von der Zeit und von der Zeitlichkeit denken, denn in der Vergangenheit existierten für die Sprecher sicher andere herrschende Zeitbegriffe und andere Zeitgefühle als für die meisten modernen Europäer. Die Diversität der sprachlichen Zeitlichkeit und Räumlichkeit ist sicherlich durchaus noch in modernen Gesellschaften vorhanden, nur nicht immer bestimmend oder prägend. Ob man mit traditionellen sprachlichen Varietäten – also mit den ‚Lekten‘24 –, mit sozialen Netzwerken, mit Diskursen oder mit sozialen Räumen operiert: Sie lassen sich schwer präzise eingrenzen. Durch Einverständnis der Sprecher aber können die Wörter, Begriffe und Strukturen der Kommunikation in den sozialen Räumen durchaus auch einen Normcharakter bekommen, wodurch sie als Ideologem oder Symbol fungieren oder Solidaritätsfunktion erhalten, wie dies bei den kodifizierten und verschrifteten Nationalsprachen der Fall ist. Hand in Hand damit geht die Konstruktion von Grammatiken und Sprachgeschichten. Immerhin hat das Konzept eines Sprach- bzw. Sprechraumes, der virtuell durch Sprache erschaffen wird, viel mit den virtuellen Sprechergemeinschaften des Internets gemein, was zukunftsweisend ist und eine Kontinuität im Wandel gewährleistet: Die neuen Medien setzen Kommunikation scheinbar mit neuen Mitteln fort, aber auf der Grundlage schon existenter Kommunikationsmuster, -strukturen und -strategien.
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Wolf in: Reichmann/Wolf 1998, 632. Also mit Akrolekten, Basilekten, Dialekten, Soziolekten, Technolekten, Chronolekten, Idiolekten, usw.
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4. Unterteilungen des sozialen Raumes in Öffentlichkeit und Privatheit 4.1. Die Aufteilung der Gesellschaft in Privatheit und Öffentlichkeit kann nicht ohne weiteres in die Vergangenheit vor dem späten 18. Jh. rückprojiziert werden, was nicht verwunderlich ist; denn das Wesen der ,Privatheit‘ hängt eng mit der Identität des Individuums zusammen und von der Natur der Gesellschaft ab, in der es lebt. Der soziale Status als ‚frei‘ oder ‚unfrei‘ wird bei dem Maß an Privatheit eine Rolle spielen, das die Einzelperson genießt. Ohne direkt an Räumlichkeit gebunden zu sein, definiert sich die Privatheit auch im Gegensatz zur Öffentlichkeit, vor allem in den neueren Zeiten.25 Das Individuum wird zunächst in Beziehung zu anderen Mitgliedern seiner Sprachgemeinschaft betrachtet, um Aspekte der Räume, in denen es sprachlich interagiert zu differenzieren. Die einzelnen Kommunikationsräume können in Gruppen zusammengefasst werden als Räumlichkeiten – zunächst vereinfacht unter den Dimensionen Privatsphäre – Öffentlichkeitssphäre, wobei das Wort Sphäre die Unbestimmtheit – und Durchlässigkeit – dieser Räumlichkeiten andeutet, die ein jeweils anders gelagertes Umfeld oder eine jeweils anders gelagerte Umwelt beinhalten. In beiden Dimensionen herrschen Gewohnheiten, Muster und Normen, Rituale usw. vor, welche den Grad der Vertrautheit/Bekanntheit mit den Gesprächsteilnehmern/-partnern zum Ausdruck bringen und Stil- und Sprachebenen bestimmen – formell/informell, verbindlich/unverbindlich, usw. Für diesen Bereich werden Bezeichnungen wie halbprivat, halböffentlich vorgeschlagen, die schon in der Umgangssprache gebräuchlich sind. 4.2. Zur Privatheit oder Privatsphäre gehören vorläufig sowohl der Privatbereich an sich als auch die Intimsphäre, die persönlich-individuell ist (vielleicht daher stricto sensu ,prä-sozial‘, da nur den Einzelnen oder höchstens das Paar angehend). Auch diese beiden Aspekte lassen sich nicht absolut trennen, wie Bezeichnungen wie Busenfreund und Intimfeind erkennen lassen. Immerhin, man kann innerhalb der Familie – und jeder Mensch wird schließlich normalerweise in eine Familie hineingeboren – sehr persönliche Bereiche des Körpers und des Sexuallebens für sich vor Anderen bewahren wollen, spätestens in der Pubertät.26 Der Baby Talk, (oder motherese) gehört hierher sowie das grob Unanständige, sofern es im Affekt oder in der emotionalen Bindungssprache als Zeichen der Nähe verwendet wird – mein kleines Scheißerchen usw. Beides, Baby Talk, sowie das Unanständige werden als beleidigend aufgefasst, wenn sie außerhalb der 25
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Beiläufig: Das Wort Privatheit und einige verwandte Begriffe finden sich anscheinend nicht als Lemmata im historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Geschichtliche Grundbegriffe: Brunner/Conze/Koselleck 1972–1997); es fehlen auch z. B. Individuum, Person. Elias (1976/1992, Bd. 1, 222) bespricht die Kleinfamilie als „einzige legitime, gesellschaftlich-sanktionierte Enklave ... Ihre sichtbaren und unsichtbaren Mauern entziehen das ‚Privateste‘, ‚Intimste‘, das ununterdrückbar ‚Tierische‘ im Dasein eines Menschen den Blicken der anderen.“
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Privatheit gegenüber fremden Personen gebraucht werden. Dies gilt auch für Verwandtschaftsbezeichnungen – alter Opa, Brüder, Onkel, Tante oder vertraute Anreden – mein Lieber, meine Süße: außerhalb der Privatheit ist ihr Gebrauch heikel. Die Anrede mit du, bestimmte persönliche oder brisante Themenkreise, Schnodderigkeit im Ausdruck – auch Umgangssprachliches oder Dialektales, ein barscher Tonfall und paralinguistische Elemente – Gestik, Droh- und Beleidigungsgebärde usw. – können Ausdruck der Entspanntheit und Gleichheit unter Vertrauten sein, aber im Gegenteil Außenstehenden gegenüber äußerst unhöflich und verletzend sein. 4.2.1. Die Privatsphäre insgesamt betrifft das Sprachverhalten und Benehmen in Sachen, die Außenstehende zunächst nicht angehen, und wo die Beteiligten mit einander, wie das Material und die Situation vertraut sind. Dieser private Raum kann heute nicht ausschließlich mit dem Zuhause der Sprecher gleichgesetzt, und es ist wohl illusorisch, wenn man meint, es wäre in der Vergangenheit anders. Der Versuch, zwischen dem Privatbereich und dem persönlichen Intimbereich zu unterscheiden, muß davon ausgehen, daß diese Bereiche selbst kulturell- und zeitbedingt sind. Die intimsten Aktivitäten eines Menschendaseins, etwa des Trieblebens, finden für gewöhnlich außerhalb oder abseits der Öffentlichkeit statt, sind unsozial aber trotzdem nicht ,sprachlos‘, wobei meistens das Leben ,der Anderen‘ etwa in Witzen oder im Tratsch erörtert wird oder in Sex-Medien exploitiert und vermarktet. Die Grenzen zwischen privat und intim müssen von nichtöffentlicher Situation zu nichtöffentlicher Situation jedenfalls vereinbart werden, aber solche sozialen Räume lassen sich trotzdem aufstellen und auch sprachlich belegen. Zwar ist nicht jeder Haushalt gleich, jede Wohnung ist anders und die Familie umfaßt ein schillerndes Personal – im Mittelalter erfährt man z. B. einiges über die Wohnverhältnisse am Hof oder im Kloster27, über diejenigen in Bauernhütten und -stuben ist man weniger gut informiert. Zur Hofhaltung gehörten, neben Blutsverwandten, auch die Diener, und auch das im 16. Jh. belegte Wort Familie wird aus famulus ›Diener‹ hergeleitet. Die private Sphäre läßt sich also eben nicht mit dem Zuhause gleichsetzen, noch ist die Bezeichnung ,Haussprache‘ dafür adäquat, weil mehrdeutig. Auch ist Haus die allgemeinere Bezeichnung für ,Wohnraum‘28, und eher nicht emotional aufgeladen im Vergleich zum Wort Heim, das schon auf das Private und Intime anklingt. Das Element heim- erscheint z. B. in positiven Kollokationen und Bildungen Heimat und heimisch, aber auch in negativen: Das Heim ist auch unheimlich. So erscheinen Altersheim/Asylantenheim/Seniorenheim/Pflegeheim in oft ungünstigem Licht, während die Wurzel -heim-
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Vgl. Schulz 1889 oder, hundert Jahre später, Bumke 1986. Viele Belege im DWb.: 700 ff., zumeist rein beschreibend, außer vielleicht Lusthaus, Muhmenhaus, Schimpfhaus, Töchterhaus, die alle die Bedeutung mit Freudenhaus ›lupanar‹ teilen. Zuhause ist dagegen zumeist positiv. Eingehender zur Mehrdeutigkeit der Wörter Haus und Familie in der preußischen Rechtslegung des 18. und 19. Jahrhunderts s. Koselleck 2006, 465–485, mit Hinweis auf Dieter Schwab, „Familie“, in: Brunner/Conze/Koselleck, Bd. 2 (1975), 253–301.
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auch in verheimlichen, geheim, Geheimnis29 erscheint, somit teilweise mit Bedeutungen von privat und Privatsphäre überlappend. Desgleichen Wörter wie traut, vertraut, vertrauensvoll, vertraulich. Hierhin gehören der Geheim-/Privatsekretär und das Kabinett; sie spielen an auf den Ausschluß der Außenstehenden aus der Privatsphäre, aber auch aus der Intimsphäre: Kabinett ist Euphemismus für das moderne WC, wie auch Garderobe und Toilette neben früheren Belegen aus dem DWb.30 wie heimlich gemach, nobishaus, obishaus, sprâchhûs oder privet. Direkter sind Formen wie kothhaus, stanckhaus, und völlig verschwunden ist die ahd. Wortfamilie um suâs, mhd. geswaese mit einer Reihe von Bedeutungen von privatus, familiaris, civilis, domesticus neben furtim, clam, secreto und eben auch latrina, cloaca: also von ›vertraut‹, ›persönlich‹, ›heimlich‹ bis zu ›Toilette‹. 31 Bezeichnungen wie privet, sekret, oder Abort zielen auf Abgezogenheit hin, was die interessante Frage aufwirft, ob tabuisierte Teile des Lebens und des Körpers auch in der familialen Privatheit sprachlich verschwiegen wurden. Es ist hier nicht die Absicht, eine Studie zur Entwicklung des Örtchens zu liefern, nicht zuletzt, weil die in den Wörterbüchern angeführten Belege nicht alle zu derselben Zeitstufe, geschweige denn zu derselben Gebrauchsschicht und Stilebene gehören. Immerhin: sie belegen zur Genüge die Bedeutung des abgeschiedenen, von anderen Menschen getrennten, letztlich ,unsozialen‘ Ortes der Intimsphäre. 4.2.2. Der halbprivate Raum. Die familiär-vertraute Ausdrucksweise wird in der Öffentlichkeit angetroffen oder vernommen, wenn Freunde oder Verwandte sich unterhalten, eventuell mit dem Handy telefonieren. Diese öffentliche Kommunikation in ,familiärer Stillage‘ distanziert sich von anderen (nicht lizensierten) Umstehenden – ,grenzt sie aus‘, indem durch Sprache ein halbprivater Raum geschaffen wird. Andererseits könnte man von ,privatem Raum in der Öffentlichkeit/Halböffentlichkeit‘ sprechen – über Terminologie läßt sich streiten). Etwa: der Freundeskreis an einem besonderen Tisch im Lokal (,Stammtisch in der Kneipe‘), im Gegensatz zur Hochzeitsfeier im Restaurant, wo Verwandte, Angeheiratete und deren Freunde eine ‚geschlossene Gesellschaft‘ bilden, normalerweise in einem separaten Zimmer/Saal. (Also: zeitweilig privater Raum!) Manchmal sind solche Bereiche für persönliche Gespräche/Geschäfte in öffentlichen Gebäuden gekennzeichnet.32
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Vgl. auch Kafkas beunruhigende Parabel Heimkehr, die – auch – als entfremdete Wiederkehr eines ,verlorenen Sohnes‘ verstanden werden kann. Grimm DWb.: (Bd 14, Sp. 2469, 24): „SCHEISZHAUS [Lfg. 14,13], n., wofür die verhüllenden ausdrücke abort, abtritt, in älterer sprache heimliches gemach, oder nur das gemach, sekret, privet, heimlicher ort u. ähnl. üblich sind“. Eine regionale (schweizerische) Variante zekret wird von frz. chambre secrète abgeleitet (Grimm DWb. Bd 31, Sp. 599, 36) . Graff 1846, Sp. 903–906. Vgl. im Hildebrandslied „suasat chind“. Im Hauptpostamt in Hannover z. B. durch einen Anschlag „Diskretion!“, der zur Distanzhaltung mahnt – übrigens ein Wort, das auch in Kontaktanzeigen implizit Persönliches (und Intimes) zu schützen verspricht.
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4.2.3 Der halbintime Raum. Man könnte auch einen halbintimen Raum ansetzen, in dem Handlungen vorgenommen, die sehr persönlicher Art sind: Der Besuch beim Arzt, beim Frisör, der Besuch eines Schwimmbades, einer öffentlichen Bedürfnisanstalt usw. Sprachlich sind diese Bereiche oft durch professionelle Distanzierung charakterisiert, obwohl gerade beim Arzt oder im Krankenhaus familiäre Anredeformen zu finden sind, besonders gegenüber Alten (sog. ,Senioren‘) und Kindern – die Anrede mit Vorname, das berüchtigte inklusive ‚Krankenschwester-wir‘ („Jetzt nehmen wir artig unseren Einlauf“), die Bezeichnung Onkel Doktor und dergleichen mehr.33 4.3. Die Öffentlichkeit. Zur öffentlichen Sphäre/Öffentlichkeit gehören sowohl der öffentliche Raum als Bereich der Staatsgewalt und der Regierung (und anderer Institutionen wie der Kirche), als auch der halböffentliche Raum der Alltagskommunikation: Der informellere Umgang mit den Teilnehmern kann als halböffentlich bzw. als halbprivat interpretiert werden, je nach dem Grad der Bekanntschaft, der sich auch entwickelt bzw. schwankt. 4.3.1. Der öffentliche Raum. Im öffentlichen Raum ist die Kommunikation meistens asymmetrisch, nichtreziprok und weitgehend ritualisiert. Graduierungen des Raumes reichen bis zur Staatsgewalt hinauf. Hier haben die individuellen Sprecher nur die Rolle Beistehender, sofern sie nicht in die eingeschriebenen Rollen der formellen Transaktionen und Riten eingebunden sind. Bereiche der Regierungen und Verwaltungen erledigen ihre ,Formalitäten‘ weitgehend nach Normen und Mustern, die nicht privater Natur sind, und oft durch Rituale vorgeschrieben werden. Innerhalb des Öffentlichen können Unterteilungen zwischen politischer Fachsprache, Ideologiesprache, Verwaltungssprache usw. gezogen werden, die uns aber hier nicht weiter beschäftigen.34 Hier ist relevant auch die Vermittlung von politischen Inhalten an die Bevölkerung über die Medien, zusammen mit der politischen Fachsprache. Dies ist ein wechselseitiger Prozeß: Im 19. Jahrhundert erfolgte eine stufenweise Demokratisierung des deutschen Wortschatzes mit politischen Entwicklungen in der Bevölkerung, und Fachwörter wurden in der Umgangssprache vertraut. Die sich bildenden Interessengruppen machten umgangssprachliche Formulierungen nötig, um sie politisch anzusprechen. Die Kulthandlungen der Religion, politische Feierlichkeiten und Debatten finden in diesem Raum statt, wobei letztere für rhetorische Zwecke absichtlich mit anderen Registern vermengt werden können. Politik und Religion haben den Bezug auf z. T. überlappende moralisch-ideologische Werte gemeinsam und können manchmal dasselbe Vokabular benutzen. Der kirchliche Bereich der Öffentlichkeit (in der Spät-DDR zu einer alternativen Öffenlichkeit umfunktioniert) hat seine eigenen Rituale im Gottes33
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Ein Reflex davon sind vielleicht auch die ‚Doktorspiele‘ der Kindheit, wo durch die Rollen-Bezeichnung einer sanktionierten erwachsenen Handlungsperson versucht wird, ein intimes Erlebnis zu legitimieren? Dieckmann 1969/1975.
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dienst, bei Beerdigungen usw., und Textsorten und Verhaltens- und Kommunikationsmuster sind mit diesen verbunden. Der ganze Bereich ist, außer man nimmt an den feierlichen Anlässen, Ritualen und Kulthandlungen teil, praktisch immer mediatisiert. In den Printmedien, außer der schön(geistig)en Literatur bestimmt der Protokoll des jeweiligen öffentlichen Diskurstypus (‚Gattung‘), was und wie es gesagt wird. Bezeichnenderweise stammt das Wort Protokoll aus der Diplomatik, einem Teil der Kanzleisprache, weil die Normen für öffentliches Agieren in modernen literaten Sprachgemeinschaften wie die Schriftsprache kodifiziert sind. Gleichzeitig können Infraktionen dieser öffentlichen Sphäre, wie es Schimpfwörter verkörpern, zum Teil aus der Intimsphäre stammen, etwa Tabuwörter aus dem Sexualverhalten und Fäkalwörter. Dem Ursprung nach jedoch (d. h., von woher die Sprecher ihren Wortschatz gelernt haben) kommt dieses Vokabular sicher nicht aus der Privatheit, sondern aus den halbprivaten und halböffentlichen Räumen. Auf dem Schulhof35 oder bei der Armee, in Vereinen, Gruppen überwiegend wohl jüngerer Leute müssen die Bezeichnungen sexueller oder kraß vulgärer Sachverhalte aufgekommen sein. Vulgärpsychologisch gesehen, sind sie wohl teilweise der Versuch einer Identitätsfindung zwischen dem Familienleben und der noch anzutretenden selbständigen Existenz in der Gesellschaft der Erwachsenen. Umgekehrt: Zum Teil sind es unangebracht benutzte Formulierungen aus der Religion oder aus Prestigeeinrichtungen des Staates, blasphemische und entehrende Benutzung sakraler und transzendenter Werte. Auch sonst sozial Benachteiligte oder Ausgegrenzte sind tabuisiert und geben Vokabular für diskreditierende Ausdrücke her.36 In beiden Fällen werden Wörter und Wendungen mit explizit kraß bis zynisch-ironisierender stilistischer Wirkung instrumentalisiert, um eine Gruppenidentität zu bekunden und um sich gegen andere Parteien abzugrenzen. Somit gleicht diese Kommunikation in ihren Zielen, wenn auch (gewöhnlich) nicht in den benutzten Sprachformen, dem öffentlichen Auftreten anderer, politischen Gruppen ... 4.3.2. Der halböffentliche Raum. Der Bereich der Alltagssprache, wo Sprecher einander begegnen und wo die Normen der alltäglichen Interaktionen mit Bekannten und Fremden stattfinden, ist halböffentlich. Dies ist also der Raum, in dem Höflichkeits-Konventionen, Imagegebärden und Tabus die Rollenspiele des Individuums begleiten. Hier herrschen Leerformeln, stereotype Wendungen und Formeln der Begrüßung, des SichVerabschiedens, Muster der freundlich-funktionalistischen Strategien der Dienstleistungen. Viele Rollenspiele sind hier möglich, je nach den Verhältnissen und Funktionen der 35
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Es ist dann ironisch, die Kinder zu Hause vor Unflätigkeiten schützen zu wollen, die sie ohnehin lernen, wenn sie unter sich spielen, oder die inzwischen durch schrille und geschmacklose Auftritte von Promis, Sportlern im Fernsehen, oder über drastisch-realistische Filme oder Computerspiele transportiert werden. Pinker 2007, 330: „In most other languages, the taboo words are drawn from the same short list of topics from which English and French get their curses: sex, excretion, religion, death and infirmity, and disfavoured groups.“
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Beteiligten: Im Grunde jedoch sind die Beziehungen der Leute zueinander symmetrisch in dem Sinne, daß sie mit gleicher Berechtigung und als freie Mitbürger am sozialen Verkehr teilnehmen. Soweit wenigstens die gesellschaftliche Fiktion. In der Arbeitswelt, in Vereinen und Clubs entstehen Unterteilungen dieses halböffentlichen Bereichs, und halböffentlich und halbprivat bestehen nebeneinander und manchmal in derselben Situation, wenn verschiedene darin Beteiligte einander ,näher‘ oder entfernter stehen. Dies schlägt sich dann im Sprachgebrauch, in der Wahl der Anredepronomina usw. nieder. Aber gerade in halböffentlichen, halbprivaten und privaten Gesprächssituationen, wo die Sprachform nicht ritualisiert ist, kommen aus vielen Gründen verschiedene Stillagen vor.37 Das ist schon von Erving Goffman bemerkt worden, der auf die Einbettung von ,fremden‘ Elementen im Gespräch hinweist, um Erzählpartien oder eine Meinung zu signalisieren. Dieses Verfahren nennt er ,layering‘ des Diskurses, und er sieht solche ,Lamination‘ als eine Art Schichtung an.38 Solche Mischformen sind durchaus die Norm, aber deren Voraussetzung ist natürlich die Bekanntheit unterschiedlicher Sprachformen, die in der neueren Zeit für alle Bevölkerungsschichten durch die neuen Medien zugänglich geworden sind, und dementsprechend als Versatzstücke in der Kommunikation instrumentalisiert werden. Wohl in diesem (in meiner Terminologie) halböffentlichen und mediatisierten Bereich lokalisiert Habermas die ,Bildungssprache‘: „In der Öffentlichkeit verständigt sich ein Publikum über Angelegenheiten des allgemeinen Interesses. Dabei bedient es sich der Bildungssprache. Die Bildungssprache ist die Sprache, die überwiegend in den Massenmedien, in Fernsehen, Rundfunk, Tages- und Wochenzeitungen benutzt wird.“39
5. Die rezente Sprachgeschichte und der private Raum Nach diesen Überlegungen gerade zur persönlichen und privaten Räumlichkeit, weise ich kurz auf drei Problem-Bereiche hin, wo die Verteilung Öffentlichkeit und Privatheit interessante sprachliche Wirkungen mitbeeinflusst hat: a) Das Sprachverhalten in der DDR; b) Die Verteilung öffentlich/privat im westlichen Teil Deutschlands nach dem Mauerfall; c) Abgrenzung des Privatbereichs und der Intimsphäre im Zeitalter des Internets. 37 38
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Sogar in bedrohten Sprachgemeinschaften, z. B. des Gälischen: Dorian 1994. Goffman 1981, 154. Ähnlich begründet dürfte das von Peter Schlobinski für das Jugendsprachverhalten diagnostizierte ,Collagenhafte‘ (,Bricolage‘) sein – das Hantieren mit Versatzstücken – diesmal aus Filmen, Fersensehsendungen, ,Kanak-Sprak‘, Popmusik, Comics, oder bewußt schrillen Stillagen, usw. (Schlobinski/Heins 1998). Habermas 1978, 330.
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5.1. (a) Das Sprachverhalten unter der Diktatur der DDR. Ein gemeinsamer Zug, der die DDR-Diktatur mit der Hitler-Diktatur verbindet, ist der Verlust der öffentlichen politischen Freiheit. Unter anderen Kontinuitäten im kommunistischen Osten Deutschlands fällt die phrasenhafte verflachende Sprache der Herrscher im öffentlichen Diskurs des „Vierten Reiches“ besonders auf – auf den Viktor Klemperer als „LQI“ verweist.40 Als konstante Textsorte bleibt der dubiose Denunziantenbrief, der früher oder später in die Hände der Staatsspitzel gelangt – auch dies eine andauernde Institution der Nazizeit, wo die Regierung alle Lebensbereiche und -sphären zu überwachen versuchte. Das Monopol der Nachrichten und Meinungen wurde der Staatsgewalt vorbehalten, die aber auch das Privatverhalten zu kontrollieren suchte – in der DDR sogar bis in die Intimsphäre hinein, wenn man die berüchtigte Geruchdifferenzierung41 bedenkt. So mußten in beiden Epochen die Bevölkerung bzw. Oppositionelle auch ein feines Gespür für politische Nuancen entwickeln, wenn man außerhalb der Privatsphäre und des Familienkreises verkehrte, denn in beiden Systemen agierten Spitzel und Denunzianten. Die Doppeldeutigkeit der Worte entsprach einer Doppelbödigkeit der Lebenswelten der Sprecher, die in der Öffentlichkeit mehr oder weniger mitmachten, und in der Privatsphäre durch Witze kritisierten und hinterfragten, aber auch Mitbürger ausfühlten, wobei sogar Sprachlosigkeit signifikant werden konnte.42 Die Stasi arbeitete mit politisch-operativer Konspiration, einem „Grundprinzip der politisch-operativen Arbeit [...] gekennzeichnet durch: – den Einsatz geheimer, dem Feind und der Öffentlichkeit gegenüber verborgener Kräfte, Mittel und Methoden, – die Tarnung der politisch-operativen Pläne, Absichten und Maßnahmen, – aktives und offensives Handeln zur Überraschung, Täuschung, Ablenkung, Desinformierung des Feindes.“43
Damit war ihr Standpunkt weder öffentlich, noch privat, obwohl sie durch die vielen ,inoffiziellen Mitarbeiter‘ in beiden Sphären konspirativ-politisch tätig war – das StasiWörterbuch listet fünfundzwanzig Seiten lang die relevanten Begriffe auf (177–203), und die Definitionen bezeugen zur Genüge das schizoide Denken der Behörde.44 Angefangen mit dem Konzept einer ,sozialistischen Persönlichkeit‘ reicht die offiziöse staatliche Sphäre bis in die professionellen und privaten Leben der Staatsbürger hinein, von denen erwartet wurde, daß sie an politischen Meetings und Kundgebungen teilnahmen 40
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Klemperer 1999. Der LQI-Begriff gilt bei Klemperer für Ost- und West-Sprachverhunzung. Sieh besonders die Einträge zum 25. und 27. Juni 1945. Vgl. auch Ehlich 1997. Wörterbuch der Staatssicherheit 1993, 136 f. Vgl. Bauer 1988, 16: „Ich untersuche nicht die Sprachgestalt und ihre Veränderung [...] Ich befrage die Verwendung der vorhandenen Sprache, ihren geschickten oder fahrlässigen, unfreien, hörigen Einsatz“. Bekannt auch der bittere Spruch des Karl Kraus: „Zu Hitler fällt mir nichts ein.“ Wörterbuch der Staatssicherheit 1993, 219 f. Wawrzyn (1990) spricht vom „Jargon der Heimlichkeit“ als einer „Mischung aus deutscher Beamtensprache und brutalem Geheimdienstjargon“; Vollnhals (1994, 506) beschreibt gar „das manichäische Weltbild der Staatssicherheit“.
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und dafür sorgten, daß ihre Kinder Mitglieder der Freien Deutschen Jugend wurden usw. In Schule und Arbeit herrschten politische und quasi-militärische Strukturen, von denen etwa der Wehrsportunterricht und die Arbeitsbrigade mit einem Brigadechef, der dem Vorarbeiter entsprach, bekannt sind. In der DDR bildete die Politik keineswegs nur eine beliebige Schnittmenge des Daseins, die man akzeptieren oder lassen konnte. Zunehmend weitete der Staat seinen Einfluß über das Leben der Staatsbürger in verborgener Art und Weise aus, wobei der hinterlistige Staatssicherheitsdienst – als der/die Stasi bekannt – viele Personen durch Bestechung und Erpressung ihre Nachbarn, Freunde und sogar ihre Ehepartner45 und Familien ausspionieren ließ. Die Mitgliederschaft der Stasi wird auf bis zu 85.000 hauptamliche Mitarbeiter und bis zu 300.000 inoffizielle Mitarbeiter geschätzt46, was bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 17 Mio. Menschen ziemlich hoch ist. Das ganze Land wurde durch 15 Bezirksverwaltungen und über 200 Kreis- und Objekt-Dienststellen eingedeckt: „Viel belacht, oft gefürchtet, immer gegenwärtig.“47 Der mißlungene Aufstand des 17. Juni 1953 leitete eine neue, intensivere Phase der Überwachung und Bespitzelung ein, und es wird geschätzt, daß rund 4 Mio. Akten zu Staatsbürgern (fast einem Viertel der Bevölkerung) angelegt wurden und weitere 2 Mio. zu ausländischen Staatsbürgern. In solchem Ausmaß drang der Staat in das Privatleben ein, und der ganze Begriff ‚privat‘ hatte selbstredend einen anderen Stellenwert im kommunistischen System. Dies überrascht nicht, und es läßt sich ohne weiteres anhand des Vorkommens von Wörtern und Zusammensetzungen mit dem Element privat in Manfred Hellmanns Korpus-Wörterbuch der DDR belegen, in dem von 158 verschiedenen Komposita 137 in der westlichen Presse gegenüber von nur 38 in der östlichen erscheinen. Die Bildungen Privatleben und Privatsphäre fehlen.48 Ohne ein öffentliches Forum, zogen sich die einzelnen Staatsbürger soweit wie möglich aus dem öffentlichen Raum zurück, und es entstand etwas, das eine $ischenkultur genannt wird. Über diese Nischen und deren Sprache sind wir schlecht informiert: Erst nach der Wende und im Nachhinein über Erinnerungen und mündliche Überlieferung etwa der Witzkultur – und natürlich (mit anderem Stellenwert) in Literaturwerken – können/konnten wir die Sprache der Privatsphäre der DDR lückenhaft rekonstruieren. Immerhin, die Sprachrevolte bei der Wende, die Peter von Polenz (1991) beschrieben hat, läßt das Sprachschöpfertum und die linguistische Sensibilität der DDR-Bürger ahnen. Wie Niethammer und andere gezeigt haben: „Die Mehrfachkodierung der Kommunikation war in der Regel nicht einfach auflösbar und forderte eine gesteigerte Aufmerksamkeit, um nicht nur eine der möglichen Ebenen wahrzunehmen. Sie wurzelte in der allzeitigen Präsenz autoritärer Strukturen, die aber nicht allseitig 45 46
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Ein Beispiel für viele: Wollenberger 1992. Die Angaben schwanken: 95.000 Beamte und 173.000 IMs (DER SPIEGEL 23 Oktober 1995). Aus dem Videofilm Das war die DDR. Teil 4: Schild und Schwert. Wir sind das Volk. 1993. Ein Dokumentarfilm von Anne Worst und Arnold Seul. Gegründet wurde die Stasi im Februar 1950 nach dem Motto: „Wir müssen alles erfahren. Es darf an uns nichts vorbeigehen.“ Hellmann 1992, 667–671, Art. 409, privat.
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durchgesetzt waren oder werden konnten. In diesen Zwischenräumen entlastete sich das Volk durch seinen Witz, ein Sprachhandeln, das mit den Grenzen von Wahrheit und Tabu spielt und sich an diesem Spiel schärft. Dieses Sprachverhalten ist im Sinne politischer Veränderungen weitgehend folgenlos und auch verhalten genug, um für gewöhnlich nicht sanktioniert zu werden; seine Distanzierungen halten aber das individuelle Selbstbewußtsein aufrecht und begrenzen die Durchsetzbarkeit der autoritären Strukturen. So unerträglich gemeinplätzig oder ausweichend viele offene Sachdiskussionen in der DDR verliefen, so kunstvoll war der Sinn für mehrbödige Geschichten und Bilder ausgebildet.“49
Eine ähnliche Erfahrung machte eine DDR-Bürgerin, als ihre Mutter wegen eines Besuchs aus dem Westen ihre Entlassung einreichte, lieber als den Kontakt zu den Verwandten aufzugeben: „Dieser Vorfall hatte mich sensibilisiert. Langsam lernte ich, mir zwei Sprachebenen zuzulegen, eine offizielle, die ich in der Schule anwandte, und eine private für den engeren Familienund Freundeskreis, in der ich ehrlich über meine Ansichten und Gedanken sprechen konnte. Darüber hinaus fand ich eine Nische, in der ich anders sein konnte als in der Schule und der Pionierorganisation: die Kirche.“50
Ein Beispiel Niethammers aus dem, wie er sagt, „Labyrinth der Semantik“, das die Fiktion der Arbeiterklasse als Herrscher entlarvt: „wurde ein Funktionär wegen einem Vergehen diszipliniert und degradiert, so hieß es ,er sei in die herrschende Klasse abgestürzt‘.“
Wenn nötig, also konstruierten die DDR-Sprecher aus Versatzstücken der öffentlichen Staatsgewalt ihre eigene Privatsphäre, als Ablassungsventil, und auch als heimlichen Protest. Sprachgeschichtlich wird dies schon deshalb interessant, weil es als Kontinuität mit dem vorausgehenden Regime gesehen werden kann. Streng genommen kann man von drei Phasen der Opposition zur öffentlichen Gewalt sprechen: i. von der Nazidiktatur, wo in der öffentlichen und halböffentlichen Kommunikation andere Sprachnormen erwartet wurden; ii. von den Militärverwaltungen nach der Niederlage, z.B. Mil-Gov. in der britischen Zone und SMAD in der Sowjetzone, wo die Verwaltungssprache der Siegermächte von vornherein nichtdeutsch war, im Gegensatz zum nichtöffentlichen Sprachgebrauch; iii. von der SED-Sprache in offiziösen Medien und bei öffentlichen Kundgebungen und Ritualen in der DDR, wie eben erwogen. Nach meiner Interpretation also weist der Sprachgebrauch der DDR eine durchgehende Kontinuität auf, von der Nazidiktatur über die Miltärregierungen der Nachkriegszeit und in die DDR-Zeit hinein: in allen drei Phasen mußten die Sprecher auf der Hut sein
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Niethammer/von Plato/Wierling 1991, 40 ff. Baganz 2001, 140. Vgl. ebd., 144: „Wir verhielten uns angepaßt und äußerten wenig Kritik in der Öffentlichkeit, in der Privatsphäre diskutierten wir offen.“
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und darauf achtgeben, was und wie und zu wem sie es sagten. Die öffentlichen und gar die privaten Kommunikationsräume konnten existenz- und lebensgefährlich sein. 5.2. (b) Die invertierte Verteilung von privat und öffentlich im vereinten Deutschland. Es ist hier die Hypothese, daß die Verteilung öffentlich/privat im westlichen und östlichen Teil Deutschlands nach dem Mauerfall so grundlegend anders strukturiert und verteilt war und bleibt, daß die sich befreit habenden Ostdeutschen zunächst eine ganze Weile ratlos blieben. Die im DDR-Staatsfernsehen als dekadente Erscheinungen angeprangerten ‚Freiheiten‘ des Westens dürften sich für die prüderen Brüder und Schwestern aus dem Osten als eventuell noch schlimmer als geahnt entpuppt haben? Dann war die manchmal in den Medien beschworene ,Mauer in den Köpfen‘ eventuell eine Schutzmauer für die Scham und der Versuch, doch noch eine private Kammer oder Nische für sich zu bewahren? Denn krasse Aspekte der Privatheit und zunehmend der Intimsphäre wurden und werden öffentlich wahrgenommen, und eine schillernde und verwirrende Vielfalt an nichtöffentlichen Verhaltensweisen bot/bietet sich auf der Straße und in der Reklame an. Ferner: die Kommunikation schien weitgehend symmetrisch, d. h. reziprok, schon durch das Vorhandensein eines parlamentarisch-demokratischen Wahlsystems, aber auch durch Demonstrationen und Interessengruppen, die die neunziger Jahre hindurch über das Internet und die Anzeigenwerbung verstärkt wurden. Schon seit den späten Sechzigern wurde die westdeutsche Öffentlichkeitssphäre von einer Flut neuer Bewegungen hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten überflutet, wie die Bürgerrechts-Bewegung, die sexuelle Befreiung, der Feminismus, die Alternativ- und ÖkoBewegung usw., neben Mode- und Popkulturerscheinungen, besonders in der Musik, die auch die Jugend in der DDR beeinflusste.51 In Literatur-52 und Bühnenwerken, in Liedertexten, in Comics, im Kino und in Fernsehfilmen, an Häuserwänden als Graffiti usw. kommen im Laufe der Dekaden zunehmend Wörter und Wendungen vor, die früher weder in der Halböffentlichkeit, noch in der Öffentlichkeit akzeptabel waren. Hier sind Sendungen wie Tutti Frutti, Wa(h)re Liebe, die Jerry Springer Show und ,reality programmes‘ wie Big Brother erwähnen, aber auch die Hörersendungen, wo Zuschauer und Zuhörer im Laufe der Sendung anrufen und ,live‘ (,life‘!) dazu beitragen. Vieles ist zugleich aus den USA importiert und damit sind die Medien auch Zulieferer von Fremdwörtern und -begriffen. Die Boulevardisierung der Printmedien trägt auch zu der Preisgabe der Trennung in privat und öffentlich bei und macht die Leser zu Voyeurs der lifestyles von Prominenten und Möchtegernen. Die Anzeigenwerbung zog kräftig mit und wirbt unter der Rubrik Intimpflege für Mittel gegen Körpergeruch, Menstruationsbeschwerden, Impotenz und Hämorrhoiden in manchmal zu detailfreudiger Manier. Zugegeben, dieses Wortgut und diese Stillage gehören eher besonderen Unterteilungen der 51
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Leitner 1983, 313 ff.: Die Rockmusik wurde „als ‚Trojanisches Pferd‘ für die ideologische Diversion gegen den Sozialismus“ gesehen. Etwa Charlotte Roche, Feuchtgebiete, Ullstein, 2009. Über Körperflüssigkeiten s. bes. Elias (1976/ 1992), Bd.1.
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halbprivaten Sphäre an: Schule, Gang oder männlicher Sportmannschaft oder ähnlich; sie sind vermutlich nicht der herrschende familiäre Umgangston? Immerhin: das Meiste der Dysphemien ist den meisten Erwachsenen vertraut, wenn es nicht sogar gebilligt wird. Ich beschränke mich hier auf ein penetrantes Beispiel aus der bekannten Fernsehzeitschrift TV-Spielfilm: „FLOP GUIDE KALKHOFE. Die krassen Fälle im TV: So schlecht, dass sich das Einschalten schon wieder lohnt. ‚Der Schwarze schnackselt gem!‘ Das ist bayerisch und heißt auf Deutsch so viel wie ‚Der Neger fickt zu viel‘. Aber das könnte rassistisch verstanden werden. Deshalb wählte unsere Vorzeige-Fürstin Gloria von Thurn und Taxis letztens in einer Talkshow die sprachlich etwas charmantere Variante, beimVersuch den allgemeinen Werteverfall und die Existenz des unmoralischen SCHNACKSELVIRUS Aids zu erklären. Nun kriegt sie für diesen geschwafelten Sondermüll von überall Schelte und hat Angst, man könne glauben, die Adeligen seien alle doof. Quatsch, das glaubt deswegen keiner. Das wissen wir ja jetzt! Obwohl die Ausführungen der KNATTERFÜRSTIN natürlich nicht einfach auf diese eine Afro-Pop-These reduziert werden sollten. Da war ja auch noch die Behauptung, dass Stoiber ein scharfer Rochen ist und dass man Sex keinesfalls nur so zum Spaß haben sollte, sondern zur Zeugung von Kindern. Klingt plausibel und auf die Dauer sehr übersichtlich, hätte der PAPST selber auch nicht schöner ausdrücken können, noch nicht mal vor 200 Jahren. Wenn auch manche Zuschauer sagen, lieber zehnmal zu viel gepimpert als einmal ins Gehirn geblasen. Ansichtssache. Nicht selten ist der meist recht kurze Paarungsakt verbunden mit langwieriger zwischenmenschlicher Interaktion [...] Deswegen erledigen viele inzwischen die Kopulation telefonisch über im Nachtprogramm ausgewiesene Service-Anbieter oder schieben einfach den Schniedel ins Fax. Und weil nun mal der Schwatte im Busch kein Telefon hat, dafür aber ebenso viel Zeit wie Testosteron, schnackselt er halt andauernd und macht Aids. Aha. Vielen Dank, Frau Dr. Fürstin. Die Welt ist ja doch net so kompliziert, wie sie manchmal ausschaut, gell?“ 53
Ferner sind Arbeitswelt und Gesellschaft im stetigen Wandel begriffen. So sitzen inzwischen viele Sprecher in Zwischenräumen: die Familie ist nicht intakt, die Arbeitswelt auch nicht, Vereine und Kirchen verlieren an Popularität. Daneben entstehen virtuelle Bekanntschaften auf Facebook oder in Blogs oder Tweets, die auch zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden, und gleichzeitig verlieren Nationalstaaten und Gruppen an Konturen: ihre Grenzen werden aufgehoben, zumindest hinterfragt. Was Identitätsfragen aktuell werden läßt. Wie es der Spiegel in einem rezenten Aufsatz zum Phänomen Burnout (etwa ›Ausgebranntheit‹) ausdrückt: „Im Zeitalter der Globalisierung sind Schnelligkeit, Perfektion und permanente Einsatzbereitschaft bei maximaler Flexibilität zur gesellschaftlichen Norm geworden. Gleichzeitig gehen Rückzugsräume verloren, in denen man sich erholen kann, wenn sich die Welt da draußen immer schneller dreht. Traditionelle Familienstrukturen lösen sich auf. Frauen, aber zunehmend auch Männer stehen vor der Herausforderung, Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen und allen gerecht zu werden.“54
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TV Spielfilm, 13/01 (16. 6.–29. 6. 2001), 44. „Volk der Erschöpften“, DER SPIEGEL 4 (2011), 114–122 (Zitat: 118).
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Kein Wunder, wenn seinerzeit die frisch eingemeindeten Ossis an einem Überfluß des Privat-Intimen in der Öffentlichkeit gelitten haben. 5.3. (c) Abgrenzung des Privatbereichs und der Intimsphäre im Zeitalter des Internets. Durch die globale Vernetzung entstehen Gemeinschaften / Gemeinden Gleichgesinnter über Staatsgrenzen und über Nationalitäten hinweg. Paradoxerweise werden gleichzeitig die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit gesprengt und Stilnormen des Füglichen und Schicklichen und des Dysphemischen und Vulgären in Frage gestellt. Sprachlich sind damit auch die innersten und persönlichsten Bereiche eines Individuums potentiell allen zugänglich, was die Würde der einzelnen Sprecher und zum Teil ihre Scham verletzten kann. Dies wird von der Werbung, von den Medien insgesamt und von einzelnen sog. Promis und Sternchen kommerziell ausgenutzt. Das Zuhause des Individuums ist nicht mit seiner Privatsphäre gleichzusetzen, schon aus dem Grund, daß nicht jeder ein Zuhause hat. Immerhin, die Privatsphäre stellt den Teil der Existenz des Individuums dar, über den es autonom verfügt. Bei der jüngeren Generation der Deutschen dürfte dies oft das Handy sein, wo Adressen, Bilder, Daten zur Person usw. gespeichert werden, was jedoch verhängnisvoll werden kann, weil das Mobiltelefon meistens vernetzt ist, was den Besitzer für Hacking (vielleicht Newscorp?) und Identitätsraub offen läßt. Ja, streng genommen könnte man meinen, erst und nur in der einsamen Privatheit (also unsozial!) könne man eine konsequente und konstante Identität entwickeln, da durch die Erfordernisse dieser oder jener sozialen Rolle jeweils ein anderes Ich auftritt. Deborah Cameron bezweifelt, daß die Leute solche feste und monolithische soziale Identitäten überhaupt haben, die durch ihr Verhalten konsequent ausgedrückt werden. Die soziale Identität wird im Gegenteil erst durch das soziale Verhalten konstuiert und ‚negotiiert‘/,verhandelt‘.55 Vielleicht kann man hier auf die ‚dramaturgische‘ Auffassung Goffmans verweisen, nach der der Einzelne in verschiedenen Situationen eine andere Rolle spielt, ein anderes Ich zur Schau stellt.56 Manches aus dem Privatbereich kann in chatrooms im Internet oder in Fernseh- und Radiosendungen an und in die Öffentlichkeit dringen, inklusive Sprachliches, das zuvor durch andere Instanzen des guten Geschmacks oder der tonangebenden Kreisen sanktioniert wurde. Akut ist in den letzten Jahren die Computerkriminalität geworden, die über Hacker und Cracker, mit Spam und Phishing die Privatheit der Privatsphäre zunehmend bedrohen. Heute jedoch stehen alle vor dem Dilemma, die Errungenschaft der neuen Medien benutzen zu wollen, ohne sich und ihre Familien durch illegale und
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Cameron 1990, 86: „do people really have such fixed and monolithic social identities which their behaviour consistently expresses?“ Vgl. auch Marcel Proust: A la recherche du temps perdu. La Fugitive (554): „On dit ... que notre système nerveux vieillit. Cela n’est pas vrai seulement pour notre moi permanent qui se prolonge pendant toute la durée de notre vie, mais pour tous nos moi successifs qui en somme le compose en partie.“ Goffman 1981.
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schonungslose Angriffe von außen gefährdet zu sehen.57 Paradoxerweise adoptieren manche Internet-Nutzer Pseudoidentitäten, um eventuell private und enge, um nicht zu sagen intime virtuelle Beziehungen mit anderen Internauten zu knüpfen! Dabei kommen auch Aspekte der Privatheit in der Cyberwelt zum Ausdruck: öffentlich, oder halböffentlich oder halbprivat ...?
6. Schlussbemerkungen 6.1. Der Raum bzw. die Räumlichkeit bedeutet zunächst eine Kontextualisierung der Sprachhandlungen und deren Interpretation mit anderen paralinguistischen Facetten der Kommunikation – Gestik, geteiltes Vorwissen, Bekanntschaftsgrade usw. Somit werden pragmatisch-psychologische Erkenntnisse der Integrationslinguistik in die Deutung der sich zeitlich verschiebenden Kommunikation herübergetragen. Die Preisgabe eines determinierten linguistischen Codes zugunsten des semantischen Feilschens um Sinngebung in pragmatischen Situationen läßt die Integrationslinguistik als Variante der Radikalen Pragmatik erscheinen.58 Die RP versucht, im Lichte der Erwartungen und des Wissens der Sprechenden in Gebrauchssituationen möglichst viele Aspekte der Sprache zu erklären, ohne feststehende mentale Vorstellungen der Wortbedeutungen überhaupt.59 Hier müssen wir wohl zwei Ebenen oder Bereiche des Sprachgebrauchs unterscheiden: Eine kodifizierte bzw. konventionalisierte Ebene, deren Regeln zunächst den Sprechern institutionell implizit angedeihen und auch explizit anerzogen werden, und eine ‚spontanere‘ Ebene, wo pragmatische Faktoren und konkrete, situationsimmanente Faktoren (vorläufiges) gegenseitiges Verstehen negotieren helfen. Die herkömmliche Sprachgeschichte hat sich zwangsläufig mit abstrakten, repräsentative Sprachdaten abgegeben (mit Saussures ,langue‘), welche mittelbar auf öffentliche und halböffentliche Sphären und deren mehr oder weniger kodifizierte, also instutionalisierte Normen zurückgehen. Die Saussure’sche ,parole‘ dagegen stellt den informelleren alltäglichen Konsens dar, der nicht unbedingt konventionaliesiert wird, oder zumindest nicht als Norm institutionalisiert. Die Verschiebung der Verhältnisse unter den unterschiedlichen Räumen, in denen Sprecher einander begegnen, wirklichen Räumen und virtuellen, ideellen ‚vorgestellten‘ 57
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Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Im Keller, Hamburg 1996, 18, über die Gründe, warum er seine Privatheit preiszugeben bereit war, um eine authentische Version seiner Entführung zu veröffentlichen, während für seine Familie eher die Rückgewinnung ihrer zerstörten Privatheit wichtig war. „What is called in question, in other words, is whether the concept of ‘a language’, as defined by orthodox modern linguistics, corresponds to any determinate or determinable object of linguistic analysis at all, whether social or individual, whether institutional or psychological. If there is no such object, it is difficult to evade the conclusion that modern linguistics has been based upon a myth.“ (Harris 1990, 45). Pinker 2007, 107 f.
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Räumen (nach Schopenhauer gibt es vielleicht nur letztere: „Die Welt ist meine Vorstellung“) bildet mit einen Teil von den Wandelmechanismen, die die Sprachformen verwandeln. Sprachgeschichtlich lassen sich diese Veränderungen erst dann erfassen, wenn sie von den Kontexten losgelöst sind, in denen sie aufgekommen sind. Aber die menschliche Kommunikation besteht in normativen, wiederholten Interaktionen, die z. T. gerade kontextbezogen sind, was ihrem Erscheinen in geschriebenen Berichten in den Medien oft entgegenwirken kann. 6.2. Ob realiter oder virtuell, Kommunikation findet im ,Raum‘ statt, Leute gehen auf einander zu, kommen einander näher; oder gehen auf Distanz. Um ‚politisch‘ zu handeln, also zu kommunizieren, mußten von jeher Individuen zusammenkommen und gemeinsam agieren. Durch die neuen Medien von Internet und Mobiltelefon sind nicht nur die Menschen mobil und aus ihrer Vereinzelung heraus an andere Menschen verbunden, sondern sie können ‚sich mobilisieren‘. Diese Freiheit schafft neue Handlungen – aber auch neue Wörter und linguistische Innovationen – welche über soziale Netzwerke verbreitet werden. Interessengruppen der unterschiedlichsten Art und Legitimation entstehen. Für Staaten und für Nationalsprachen heißt dies, daß die meisten Menschen die räumlichen Grenzen leicht und konstant überwinden können, was Konsequenzen für die staatliche Kontrolle der Informations- und Datenfluten hat – und folglich auch für die nicht immer von der Obrigkeit gewünschten Interessengruppen. Die Erweiterung der Kommunikationsnetze auf die virtuelle Welt bedeutet nicht nur eine metaphorische Weiterentwicklung. Die Vernetzung der Kommunikation hat eine lange Geschichte. Straßennetze, Fluß- und Kanalnetze, Eisenbahnnetze, Telefon-, Funk- und Fernsehnetze bis hin zum Internet – so verkehren immer mehr Leute immer häufiger und immer schneller miteinander. Gleichzeitig bildet die Vernetzung den Verlust eines Teils der Privatheit im engsten Sinne. Regierungen, der Kommerz und die Kriminalität benutzen die neue Elektronik für ihre eigenen Zwecke, wiederum wie schon immer. Information und Desinformation erlauben und verhindern die demokratischen Freiheiten und erschweren gleichzeitig die Regelung der Begriffe und der Formulierungen. Die semantischen Kämpfe (G. Stötzel) oder die brisanten Begriffe, die in der Öffentlichkeit (in den Öffentlichkeiten?) eine große Rolle spielen und die wohl immer kontrovers sein werden, exemplifizieren die perspektivisch vorgegebenen Polysemien der Kommunikations-‚Parteien‘, die subjektiv ihre Kommunikation bewerten. In der Spannung zwischen öffentlich und privat lassen sich viele, vielleicht sogar alle Varietäten und Diskurstypen des Sprachgebrauchs lokalisieren, und auch die von der Wissenschaft herauspräparierten Modelle sowohl des aktuellen als auch des diachron konstruierten Sprachverhaltens. Über die Auf- und Unterteilung dieser beiden Sozialsphären und über deren gegenseitige Durchlässigkeit und Interferenz, sowie über die entstehenden Mischformen wird man noch lange streiten. Nicht zuletzt, weil ‚Raum‘ ein dehnbarer Begriff ist ...
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JÖRN LEONHARD
„Definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“ Historische Semantik und komparative Methode
1. Einleitung 2. Historische Semantik als Programm: Methodische Anknüpfungspunkte 3. Vergleich und Übersetzbarkeit: Die komparative historische Semantik als methodisch-konzeptionelle Herausforderung 4. Liberalismus und Liberalismen: Vom semantischen Nominalismus zur Vielfalt sprachlich sedimentierter Erfahrungsgeschichten 5. Zusammenfassung und Ausblick: Übersetzung als Kulturtransfer 6. Zitierte Literatur
1. Einleitung Die Klage des Publizisten Alfred Rutenberg im Staats-Lexikon von 1842 über „Sprachmengerei und Begriffsverwirrung [...] in Deutschland [...] gerade auf dem Gebiete der Politik“ (Rutenberg 1842, 408) war kein Einzelfall. Sie korrespondierte mit der von vielen Zeitgenossen geteilten Überzeugung, dass die Krisen- und Umbruchsphase seit 1789, in der „die neuen comprimierten Mächte [...] freigelassen“ schienen, so dass „selbst das alte und älteste, das sich für unverändert ausgibt, [...] durch die große Epoche verändert [...] oder in andere Verhältnisse gestellt“ worden war (Niebuhr 1845, 41 f.), nicht ohne Folgen für die Entstehung, Umdeutung oder Neubestimmung politisch-sozialer Leitbegriffe bleiben konnte. Allen definitorischen Anstrengungen zum Trotz blieb dem kritischen Beobachter Wilhelm Heinrich Riehl 1851 nur die resignierende Feststellung, dass „hinter der Verwirrung der Begriffe und Standpunkte [...] eine tiefe Ironie“ lauere, nämlich „das Bekenntnis, daß eben jene hergebrachten Parteigruppen bloße Schatten, todte Formeln geworden sind, die keine Macht mehr haben angesichts der Ereignisse“ (Riehl 1855, 13). Diese Veränderung von Bedeutungen und Geltungsdauer ideologischer Etiketten bildete auf sprachlich-diskursiver Ebene den langfristigen Wandel von der altständischen Lebenswelt zur modernen Gesellschaft ab. Aber dieser Prozess war nicht allein auf Deutschland beschränkt, sondern markierte einen grundlegenden Erfahrungsumbruch in ganz Europa. Die Zeitgenossen entwickelten in allen europäischen Gesellschaften ein neues Bewusstsein für die Veränderung
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von überlieferten Begriffsinhalten, die durch die Erfahrungsumbrüche seit 1789 zunehmend überholt schienen. Die Fermentierung von verschiedenen Zeiterfahrungen, für die 1789 eine zentrale Wasserscheide darstellte, ergab sich aus der Brückenfunktion tradierter Begriffe, die über neue Bedeutungen gewissermaßen in einen neuartigen Erfahrungsraum hineinwuchsen. Semantische Verschiebungen implizierten eine ideologische Temporalisierung, ein Bewusstsein für den tiefgreifenden soziokulturellen Bruch und die neue Qualität der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit. Erst vor diesem Hintergrund ergab sich für den Zeitgenossen der besondere Zäsurcharakter des Jahres 1789: „Jadis les noms nouveaux devaient se retremper dans le passé, pour avoir de la valeur: maintenant la marche est inverse, les noms anciens doivent venir se retremper dans le présent. Les anciens noms ainsi retrempés par leur alliance avec l’histoire moderne, ont une double signification, et par conséquent une double valeur. Les noms de l‘ancienne histoire étrangers à la nouvelle, sont pour le peuple français comme s’ils n’existaient plus. [...] Aujourd’hui, en France, les noms sont comme les langues, divisés en langues mortes et en langues vivantes: 1789 fait la ligne de démarcation. La nouvelle France date de là: ce qui est au-delà est pour elle de l’histoire ancienne, qui n’inspire plus d’intérêt qu’aux savans et à quelques intéressés“ (de Pradt 1820, 138 f.).
Zum prägenden Kennzeichen der mit 1789 einsetzenden Phase wurde also die Verdichtung von Zeiterfahrungen, die sich konkret in der historisch-semantischen Entwicklung von neuen ideologisch-richtenden Zeitbegriffen niederschlugen.1 Diese zeitgenössische Reflexion verweist exemplarisch auf die Notwendigkeit, die Methoden der historischen Semantik mit der Perspektive des Vergleichs zu verbinden und damit zugleich die traditionelle Fixierung der Begriffsgeschichte auf die politischsoziale Sprache Deutschlands zugunsten eines europäischen Zugriffs zu überwinden. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Beitrag zunächst das Programm, die methodischen Prämissen und Probleme einer komparativen historischen Semantik am Beispiel von liberal/Liberalismus als Teil einer vergleichenden Erfahrungsgeschichte skizziert. In einem zweiten Schritt soll in der konkreten empirischen Analyse der Stellenwert zeitgenössischer Übersetzungen als Paradigma eines semantischen Kulturtransfers beleuchtet und damit die Erweiterung der komparativen Perspektive zum Transfer entwickelt werden.
2. Historische Semantik als Programm: Methodische Anknüpfungspunkte Im Gegensatz zu traditionellen ideengeschichtlichen Ansätzen geht die historische Semantik nicht von einem universalistisch-zeitlosen Liberalismus-Begriff aus, sondern sucht im zeitgenössisch-diachronen Längsschnitt die historische Semantik vergleichend zu 1
Vgl. Leonhard 1999.
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analysieren.2 Wichtig für diese Methode ist die Prämisse von den „Deplazierungen und Transformationen der Begriffe“, die Michel Foucault in Anlehnung an Modellvorstellungen von Georges Canguilhem hervorgehobenen hat: „Sie zeigen, daß die Geschichte eines Begriffs nicht alles in allem die seiner fortschreitenden Verfeinerung, seiner ständig wachsenden Rationalität, seines Abstraktionsanstiegs ist, sondern die seiner verschiedenen Konstitutions- und Gültigkeitsfelder, die seiner aufeinander folgenden Gebrauchsregeln, der vielfältigen theoretischen Milieus, in denen sich seine Herausarbeitung vollzogen und vollendet hat.“ (Foucault 1969, 11.)
In einer komparativen historischen Semantik wird ein Begriff wie „Liberalismus“ daher nicht als normativ intendierte, gleichsam unumkehrbare Fortschrittsgeschichte hin zu mehr Freiheit und Demokratie, als unreflektiertes politisch-konstitutionelles Abbild einer kontinuierlichen Durchsetzung der Aufklärungs- und Emanzipationsidee verstanden, sondern es wird nach seiner je spezifischen Bestimmung im zeitgenössischen Bezugsrahmen politisch-sozialer Auseinandersetzungen, Krisen und Umbrüche gefragt. Für den entwickelten Bewegungsbegriff gilt dabei das Diktum Carl Schmitts (1930, 5), wonach jeder „politische Begriff ein polemischer Begriff“ sei. Schmitts programmatische Aussage deutet auf eine zweite Grundannahme einer solchen Untersuchung hin, nämlich die konkrete Funktion politisch-sozialer Deutungsmuster als Werkzeuge und Kampfmittel in politischen Auseinandersetzungen. Begriffe sind für Schmitt gerade keine „sinnlosen Abstraktionen“3, sondern sie sind eingebettet in die konkrete Sprechsituation und in die sprachliche Ordnung von Diskursen. Sprache fungiert also nicht allein als Indikator politisch-sozialer Konflikte, sie ist vielmehr ein entscheidender Faktor und damit ein konstitutives Element in solchen Prozessen. Aber erst im diachronen Längsschnitt wird das Spannungsverhältnis zwischen der relativen Kontinuität eines für den Diskurs unverzichtbaren Grundbegriffs des politisch-sozialen Vokabulars und der jeweiligen Einmaligkeit der Neubestimmung des Begriffsfeldes in der Auseinandersetzung mit tradierten Bedeutungselementen deutlich. Diesen Zusammenhang charakterisiert am ehesten das Bild vom historischen Grundbegriff als semantisch formativem Medium für sich verändernde Erfahrungen und Erwartungen. Daraus ergibt sich zugleich sein Charakter als umstrittener, umkämpfter und polemischer Begriff. Die sozialhistorische Dimension der historischen Semantik resultiert aus der Konzeption von Sprache als Teil des sozialen Wissens, das sprachlich durch spezifische Bedeutungsträger konstituiert wird. Liberalismus steht dabei für einen Typus, der durch seinen Abstraktionsgrad, sein semantisches Innovationspotential und die in ihm kondensierten und fermentierten Erfahrungen und Projektionen Rückschlüsse auf die Veränderungen des sozialen Wissens in unterschiedlichen Zeitschichten zulässt. Genese und Transformation eines Begriffs lässt in diesem Sinne „eine von den historischen Akteuren nicht
2 3
Vgl. im Folgenden Leonhard 2001, 61 ff. Vgl. Marquardt 1997, 14 ff. und 5; vgl. Schmitt 1933, 13.
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initiierte oder gesteuerte Transformation von Grundelementen des sozialen Wissens nachvollziehbar“ werden (Gumbrecht 1979, 86). Aus der diskursanalytischen Perspektive ergibt sich die Frage nach Mechanismen innerhalb des Kommunikationssystems, durch die semantische Argumente und Topoi eine spezifische Ausrichtung erhalten. In einem allgemeinen Sinne liegt der historischen Semantik zunächst ein Diskursbegriff zugrunde, der in erster Linie den Kommunikationszusammenhang von Redner und Adressat und damit die konkreten gesellschaftlichen Bezüge und historischen Kontexte betont. Im engeren Sinne lässt sich der Diskurs als spezifische Form einer in Quellen nachweisbaren Rede in einem begrenzbaren Zeitraum definieren, der durch einen abgrenzbaren Gegenstand bzw. ein spezifisches Thema gekennzeichnet ist und von sozial bestimmbaren Akteuren praktiziert wird.4 Für das Funktionieren eines politischen Diskurses ist die Existenz von Grundbegriffen als Referenzpunkte dabei unverzichtbar; gerade durch sie kommt es durch Affirmation oder Kritik zu einer weitreichenden Binnendifferenzierung von Vokabularen und Redeweisen. Zugleich werden die semantischen Transformationen von Grundbegriffen selbst erst in Diskursen realisiert, nämlich in der Auseinandersetzung mit überlieferten Begriffen und Bedeutungsinhalten. Politischer Diskurs und politisch-soziale Deutungsmuster stehen von daher in einem engen wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Damit wird der Diskurs als die pragmatische Ebene der historisch-semantischen Konkretisierung in die Analyse integriert, als „der Ort der Ausdifferenzierung der Wörter, damit zugleich auch ihrer wechselseitigen Interpretation“.5 Schließlich treten in die Analyse der historischen Semantik im weitesten Sinne auch mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen ein: Im konkreten langfristigen Bedeutungswandel, gesellschaftlichen Gebrauch, in der Verbreitung des Begriffes und in den zeitgenössischen Definitions- und Abgrenzungsversuchen werden bestimmte kollektive Dispositionen erkennbar, in denen sich vergangenes Gegenwartsbewusstsein und Zukunftsprojektionen verdichten: In diesem Sinne vollzieht die historische Semantik „die sprachliche Eigenbewegung nach, in der sich geschichtliche Erfahrungen sammeln oder Hoffnungen formuliert sein wollen“ (Koselleck 1967, 17). Auf der Ebene der symbolischen Repräsentation von diachronem Bedeutungswandel fungiert die historische Semantik gleichsam als Modell der Mentalitätsgeschichte: „Die Erlernung der Sprache ist das Muster für die gesellschaftliche Vermittlung von Bedeutungswissen. Indem wir unsere Muttersprache erlernen, übernehmen wir die Weltauslegung, die sie in sich trägt. Umgekehrt schlagen sich Wandlungen der Weltauslegung im Wandel der Sprache, der Begriffe, ihres Gebrauchs und ihrer Bedeutungen nieder. Die Begriffsgeschichte, oder allgemeiner, die historische Semantik, kann daher für die Mentalitätsgeschichte gewissermaßen als Modell dienen. Sie muss allerdings zu einer Art allgemeiner ‚Semantik‘ des kollektiven Verhaltens in der Geschichte erweitert werden. In Analogie zu den Lautzeichen lassen
4 5
Vgl. Hölscher 1979, 328. Vgl. Stierle 1979, 176, sowie Marquardt 1997, 22 f.
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sich auch Verhaltensformen als Symbole verstehen, die noch etwas anderes bedeuten, als was sie selbst sind.“ (Sellin 1985, 576 f.)
3. Vergleich und Übersetzbarkeit: Die komparative historische Semantik als methodisch-konzeptionelle Herausforderung Friedrich Nietzsches Diktum, dass definierbar nur sei, was keine Geschichte habe, während sich alles geschichtlich Gewordene einer Definition entziehe (Nietzsche 1887, 317), markiert ein entscheidendes erkenntnistheoretisches Problem, wenn vermeintlich historisch gewachsene Gemeinsamkeiten Europas zitiert werden. Viele der historisch imprägnierten Begriffe, die man wie zum Beispiel ›Aufklärung‹, ›Bürgertum‹ oder ›Liberalismus‹ als Europäismen, also als Chiffren für prinzipiell geteilte Werte und Erfahrungen, für immer mehr Konvergenz Europas definiert, sind nur begrenzt übersetzbar oder nur um den Preis der Nivellierung je spezifischer Erfahrungen in Raum und Zeit übertragbar. Hier führt die komparative Perspektive zum heuristischen und hermeneutischen Problem der Übersetzbarkeit. Semantik und Semiotik, Bedeutungsund Zeichenstruktur, sind nicht allein diachroner Veränderung im historischen Prozess unterworfen, sondern müssen auch synchron differenziert werden. Hinter scheinbar gleichen Begriffen standen und stehen je besondere Erfahrungsdeutungen und Erwartungshaltungen von Gesellschaften. Aus dieser Perspektive gibt es also a priori keine universelle Bedeutung von europäischen Schlüsselbegriffen und Schlüsselargumenten.6 Welche Perspektiven und Probleme aber bringt die Kopplung von historischer Semantik und komparativer Methode mit sich? In partieller Analogie zu den von Jürgen Kocka und Heinz-Gerhard Haupt entwickelten Perspektiven der komparativen Methode lassen sich auch die erkenntnistheoretischen Perspektiven des Vergleichs auf sprachlich-diskursiver Ebene charakterisieren (vgl. Haupt/Kocka 1996, 12 ff.): Erstens dient der komparative Zugriff auf der deskriptiven Ebene der deutlicheren Profilierung der einzelnen Vergleichsfälle. Die Besonderheiten von Begriffs- oder Argumentationsfeldern werden deutlicher und eröffnen so weitergehende analytische Perspektiven zur Erklärung struktureller historischer Sachverhalte. In heuristischer Hinsicht führt der Vergleich zweitens zu bisher nicht gestellten Fragen und zur Erkenntnis neuartiger Probleme. Wie bereits oben angedeutet, besteht zumal für viele europäische Ismen wie Liberalismus oder Nationalismus die Gefahr der impliziten Gleichsetzung semantisch nicht äquivalenter Bedeutungsträger. Dieses Problem setzt den Vergleich voraus, es entsteht gleichsam erst unter den Bedingungen der komparativen Betrachtung. Auch die historischsemantischen Berührungspunkte zwischen den Vergleichsfällen, der kulturelle Transfer 6
Vgl. Leonhard 2006; ders. 2011.
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auf dem Weg der Begriffsübersetzung, Adaption und Integration, wird häufig erst durch die komparative Methode sichtbar.7 Sobald der Vergleich über die rein deskriptive Gegenüberstellung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den ausgewählten Vergleichsfällen hinausgeht, vermag er drittens zur Aufklärung grundlegender historischer Sachverhalte beizutragen. Die historisch-semantische Komparatistik fragt auf einer weitergehenden analytischen Ebene nach den sich in Sprache niederschlagenden Erfahrungen und Erwartungen, nach Bewusstseinslagen und Wirklichkeitsstrukturen, Wahrnehmungs- und Deutungsmustern in den jeweiligen historischen Kontexten. Durch die diachrone Anlage des Vergleichs treten raum- und zeitspezifische Regelmäßigkeiten stärker als in anderen Analysen hervor. Unter dem Vorbehalt, dass der Historiker auch im Vergleich für die experimentelle Überprüfung einer Hypothese keine naturwissenschaftliche Voraussetzungen finden kann, weil sie sich durch die komplexe Struktur historischer Ausgangsbedingungen niemals wie in einer Versuchsanordnung homogenisieren lassen, vermag die historische Komparatistik doch zu erhellen, welche spezifischen Konstellationen in einem Vergleichsfall zu welchen semantischen Entwicklungen führen, wenn ähnliche Bedingungen in einem anderen Fall fehlen. Für die analytische Funktion des historisch-semantischen Vergleichs hat, viertens, die ideologiekritische Dimension eine besondere Bedeutung. In der Gegenüberstellung von Ideen und Interessen werden die in den Begriffen und ihrer zeitgenössischen kritischen Rezeption sich niederschlagenden besonderen Diskrepanzen zwischen Programm und sozialer Praxis in den Blick genommen. Die komparative Methode bewirkt aus der Perspektive des Historikers fünftens eine paradigmatische Verfremdung, sie verstärkt das Denken in Möglichkeiten und beugt der Provinzialisierung von Forschungsperspektiven vor. Kulturelle Spezifik und Historik gewinnen im vergleichenden Arbeiten eine neue Dimension, indem sie zur Reflexion über den eigenen kulturellen Standort herausfordern: Der komparative Zugriff erweitert den Standpunkt des Historikers um die Multiperspektivität seiner Vergleichsfälle. Der Vergleich kultureller Deutungsmuster bringt aber auch besondere Probleme mit sich.8 Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka weisen in diesem Zusammenhang auf das Ungleichgewicht zwischen Empathie beim „Zugang zum Außergewöhnlichen“ und analytisch ausgefeilten Konzepten hin. Zudem rückten die narrativen Verfahren, mit deren Hilfe die Analyse von kulturellen Deutungsmustern häufig erfolgt, zu sehr in den Mittelpunkt, so dass ein Spannungsverhältnis zur komparativen Geschichtswissenschaft mit analytischer Zielsetzung vorliege. Dennoch müsse der Vergleich ohne die Einbeziehung der unterschiedlichen Wirklichkeitserfahrungen zugunsten einer vergleichenden Strukturanalyse viel von seiner Überzeugungskraft verlieren. Dies gelte zumal für das Problem der semantischen Konstruktion von Wirklichkeit.9 Während sich bestimmte kul7 8 9
Vgl. Haupt/Kocka 1996, 10; Espagne 1994; Espagne/Werner 1985; Schöttler/Werner 1994. Vgl. Leonhard 2001, 83 ff. Vgl. Haupt/Kocka 1996, 34.
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turelle Praktiken wie Alphabetisierung, religiöse Kulte, Protest oder Erinnerung10 aber noch relativ leicht unter vergleichenden Fragestellungen als soziale Prozesse untersuchen lassen und sich zumal ideologische Bewegungen wie Liberalismus, Nationalismus und Faschismus im Hinblick auf Programmatik und soziale Praxis für den Vergleich geradezu anbieten, ergeben sich aus dem Kulturvergleich auf der Ebene einer historischen Semantik erhebliche methodische Probleme, wenn man nicht bei einer bloß deskriptiven Bestandsaufnahme stehenbleiben will. Geht man von einem strengen methodischen Verständnis der komparativen historischen Semantik aus, dann stellt sich hier nämlich ein grundlegendes Übersetzungsproblem, das Reinhart Koselleck anlässlich eines semantischen Vergleichs von „bürgerlicher Gesellschaft“ in Deutschland, England und Frankreich formuliert hat: „Die Untersuchung aller gesellschaftlichen Zustände und ihrer Veränderungen bleibt auf die sprachlichen Quellen verwiesen, die davon zeugen können. Jeder Vergleich muss also doppelgleisig verfahren: Die Sprachzeugnisse müssen übersetzt werden, um semantisch vergleichbar zu werden. Aber ebenso müssen die daraus erschlossenen sozialen, ökonomischen und politischen Vorgänge ihrerseits vergleichbar gemacht werden – was ohne die sprachlichen Vorgaben und ihre Übersetzungen nicht möglich ist. Insofern hängt jeder Vergleich von der Übersetzbarkeit sprachlich je verschiedenartig gespeicherter Erfahrungen ab, die aber als Erfahrungen an die Einmaligkeit der jeweiligen Sprache zurückgebunden bleiben. Wir stehen also methodisch vor einer aporetischen Situation.“ (Koselleck/Steinmetz/Spree 1991, 21 f.)
Jede komparative Semantik steht vor diesem Problem, das methodisch zugleich an den Ausgangspunkt dieses Beitrages zurückführt: Die häufig unreflektierte Übersetzung unterschiedlicher historischer Erfahrungen und Erwartungen in einem scheinbaren Äquivalenzbegriff einer Sprache ist ihrerseits ein Kennzeichen des Vergleichs. Wird er als methodisches Problem reflektiert, verbirgt sich hinter ihm das von Koselleck angesprochene Problem der Übersetzung: Um die Untersuchungsfälle vergleichbar zu machen, müssen Begriffe übersetzt werden, aber diese Übersetzung bedingt zugleich, die Einmaligkeit der Erfahrungsverdichtung in der jeweiligen Sprache zugunsten eines scheinbaren Äquivalents zu nivellieren. Dies markiert eine aporetische Situation. Sie ließe sich methodisch nur umgehen, wenn bei der Übersetzung „die sprachlich nicht einholbaren Differenzierungen mitreflektiert“ würden (ebd., 22), was für den länderübergreifenden Vergleich eine Metasprache voraussetzte. Diese semantische Metaebene existiert aber nicht. Es ist nicht zu übersehen, dass dem diskurstheoretisch bestimmten Vergleich hier „systematische Schranken“ gesetzt sind (Haupt/Kocka 1996, 35). Die Textinterpretation muss daher den Versuch unternehmen, den Erfahrungsgehalt der unterschiedlichen Begriffe in den jeweiligen nationalsprachlichen Varianten nachzuvollziehen bzw. nachvollziehbar zu machen.
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Vgl. etwa François 1989; Blackbourn 1994; Tilly/Tilly/Tilly 1975; Tacke 1993; Rausch 2006.
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4. Liberalismus und Liberalismen: Vom semantischen Nominalismus zur Vielfalt sprachlich sedimentierter Erfahrungsgeschichten Schon diese methodischen Überlegungen unterstreichen, wie sehr Historiker von Übersetzungsfallen umgeben sind.11 Sie liegen nicht nur in der internen Kommunikation zwischen historischen Subdisziplinen begründet. Wichtiger und komplexer noch sind hermeneutische Übersetzungsfallen auf zwei unterschiedlichen Ebenen, die unmittelbar aus der Arbeit des Historikers erwachsen. Diachron muss der Historiker die von ihm untersuchten Phänomene der Vergangenheit in eine gegenwärtige Kommunikationssprache übersetzen, um seine Analyse vermitteln zu können. Bereits in dieser Übersetzung liegt die Gefahr der Nivellierung, also einer Einebnung von diachronen Unterschieden zugunsten der begrifflichen Fassung eines Phänomens, in dem Vergangenheit und Gegenwart scheinbar in eins fallen. Man kann diese diachrone Übersetzungsfalle als Anachronismus charakterisieren. Die Bedeutungsgehalte eines Begriffes zu unterschiedlichen Zeiten unterscheiden sich aber grundsätzlich. Gegen diese Falle des Anachronismus, also der historisch unzutreffenden Verwendung eines chronologisch später entstandenen Terminus für ein Phänomen der Vergangenheit oder eines chronologisch früher entstandenen Terminus für ein Phänomen der Gegenwart immunisiert die historische Semantik mit ihrer Analyse der historische Genese und Wandlung von Begriffsbedeutungen. Im Folgenden soll es um die zweite, synchrone Dimension der Übersetzungsfalle gehen. Sie ist nicht nur ein Phänomen der Gegenwart, sondern auch ein inhärentes Problem der Geschichte, wie die historische Semantik von „liberal/Liberalismus“ zeigt. Die Frage nämlich, welche historischen Phänomene unter den Begriff „Liberalismus“ fallen, gewinnt bei Vergleichen immer wieder eine besondere Dimension: Lassen sich die den Begriff prägenden Bedeutungskategorien bei der Verwendung des Begriffes in einem Land ohne weiteres auf ein anderes Land übertragen? Hier wird die bereits oben angesprochene Klippe des semantischen Nominalismus erkennbar, also die unreflektierte Übernahme eines Begriffes aus dem politisch-sozialen Vokabular eines Landes und seine semantische Gleichsetzung mit dem vermeintlichen Wortäquivalent aus dem politischen Diskurs eines anderen Landes. Dies aber lässt die außerhalb der Übersetzung liegenden Bedeutungsdifferenzen unberücksichtigt und trägt so erheblich zur Kommunikationsbarriere bei, die zu den besonderen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Vergleichs zählt. Das kommunikative Missverständnis, das sich häufig als Begriffsverwirrung und Leiden an der vermeintlichen Vagheit und Ungenauigkeit historischer Begriffe äußert, setzt da an, wo die Übersetzung zur Verständigungsfalle und die historische Semantik zum Erkenntnisproblem wird. (Vgl. Leonhard 2001, 47, 66 u. 83.) 11
Vgl. im Folgenden Leonhard 2008.
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Semantik und Semiotik, die Bedeutungs- und Zeichenstruktur, sind also nicht allein diachroner Veränderung im historischen Prozess unterworfen, sondern müssen auch synchron differenziert werden. Auf dieser Ebene zeigt der Vergleich, dass hinter scheinbar gleichen Begriffen je besondere Erfahrungsdeutungen und Erwartungshaltungen von Gesellschaften standen und stehen (vgl. Koselleck 1976). So wird hinter der hermeneutischen Dimension der Übersetzung eine Grundbedingung historischen Verstehens erkennbar, nämlich die Auseinandersetzung mit diachronem Wandel und synchroner Unterschiedlichkeit. Uneindeutigkeit und Ungleichzeitigkeit von vergangenen Erfahrungen und ihrer Deutungen sind aus dieser Perspektive kein Ergebnis eines analytischen Defizits, sondern im Gegenteil Ausdruck dieser doppelten diachronen und synchronen Differenzbestimmung (vgl. Leonhard 2009). Das soll im Folgenden am konkreten Beispiel der Entstehung von ›liberal‹ und ›Liberalismus‹ als moderne Deutungsmuster im Politikvokabular Europas seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gezeigt werden. Dabei erweist sich die moderne Vorstellung eines europäischen Liberalismus jenseits überzeitlicher Ideenvorräte im Blick auf die semantischen Ungleichzeitigkeiten des 19. Jahrhunderts schnell als brüchig: Denn was Zeitgenossen in Frankreich um 1815 unter den idées libérales verstanden, unterschied sich erheblich von liberalen Ideen in Deutschland oder idee liberali in Italien. In Großbritannien, dem vermeintlichen Mutterland des bürgerlichen Liberalismus, dominierten nicht nur die Namen der aus dem 17. Jahrhundert stammenden aristokratischen Parlamentsparteien der Whigs und Tories, sondern auch noch lange ihr exklusiver Politikstil (vgl. Leonhard 2002). Die frühe Geschichte dieses wirkungsmächtigen politischen Etiketts war aus dieser Perspektive immer auch die Geschichte von vollzogenen oder abgewehrten Übersetzungsvorgängen. Dieser Aspekt verweist methodisch auf die Erweiterung der komparativen Fragestellung, des Vergleichs zwischen europäischen Liberalismen, zu einer Geschichte von komplexen Transfers und Verflechtungen auf der Ebene der historischen Semantik. Alle drei methodischen Perspektiven führen in letzter Konsequenz wieder auf die hermeneutische Grundfrage der Übersetzung zurück: Inwiefern lässt sich sprachlich artikuliertes Deutungswissen von einer Gesellschaft oder einem Staat auf andere Kontexte übertragen, und was genau geschieht in diesen Übertragungs- und Übersetzungsvorgängen? Für die Genese der politisch-sozialen Semantik von ›Liberalismus‹ in Deutschland, England, Frankreich und Italien seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts kam dem Transfer von Frankreich aus eine grundlegende Bedeutung zu. Damit ist ein komplexer Prozess von Begriffs- bzw. Bedeutungsexport und -import bezeichnet, der ausgehend von der semantischen Innovation der Französischen Revolution und ihrer Folgen in unterschiedlichem Ausmaß, auf direktem oder indirektem Weg alle mitteleuropäischen Staaten erfasste und hier weitreichende Rezeptionsprozesse anregte. Bereits auf einer rein quantifizierenden Basis lässt sich diese besondere Rolle Frankreichs im europäischen Vergleich nachweisen. Die folgende Tabelle gibt die Auswertung nationalbibliographischer Kataloge im Blick auf die Zahl von Publikationen wieder, die einen Bestandteil des Wort-
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feldes liberal mit politischer Konnotation im Titel oder Untertitel enthalten.12 Bis in die 1830er Jahre dominierten danach eindeutig französische Publikationen: 40
37 34
35 30
27 26
25
24
20 15
13
12
10
10
9
5 0
19
18 17
4 0000
1801-10
11
1811-20
Frankreich
2
1821-30
8
10
9
6
5
4
9
7
44 4 2
1831-40
Deutschland
1841-50 Italien
1851-60
1861-70
1871-80
England
Aber die Vorreiterfunktion Frankreichs ging weit über die quantifizierbare Dimension hinaus. Der Innovationsschub, der das Jahr 1789 auch zu einem Epochendatum in der Umgestaltung und Differenzierung des alteuropäisch-ständischen Politikdiskurses machte13, gründete auf der Politisierung und Ideologisierung von ehemals unpolitischen Begriffen, der Erfindung neuer Attribute und der Dynamisierung und Universalisierung des Diskurses weit über die bis dahin dominierenden gesellschaftlichen Gruppen hinaus. Der Export der Revolution umfasste nicht allein Ideen, Institutionen und Gesetze, sondern auch das gesamte Spektrum einer neuen politischen Kultur und Ikonographie sowie auf sprachlich-kommunikativer Ebene ein neuerschlossenes Potential an politisierten und ideologischen Begriffen.14 Als zentrales Schlagwort des 18. Brumaire 1799 gingen die idées libérales in der von Napoleon Bonaparte bewusst eingesetzten Form weit über das im Französischen bis dahin eher untergeordnete Aufklärungsattribut libéral, etwa im Ausdruck éducation libérale (Sieyès 1789, 42), hinaus. In der Suche nach einem unbelasteten und zugleich positiv konnotierbaren Etikett für den militärischen Staatsstreich des ehrgeizigen Revolutionsgenerals boten sich die idées libérales an, weil sie bislang von keiner der politischen Gruppierungen der Revolution vereinnahmt worden waren. Die gewaltsame Entmachtung des Direktoriums begründete Bonaparte mit der vermeintlichen Rückkehr zu 12 13 14
Vgl. Leonhard 2001, 573. Vgl. Guilhaumou 1989 sowie Koselleck 1988. Vgl. Lüsebrink/Reichardt 1990.
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den legitimen Ursprungsprinzipien der Revolution durch Beseitigung derjenigen Umstände, welche ihnen im Wege standen: „Les idées conservatrices, tutélaires, libérales, sont rentrées dans leurs droits par la dispersion des factieux qui opprimaient les conseils, et qui, pour être devenus les plus odieux des hommes, n’ont pas cessé d’être les plus méprisables“.15 Aus ideologiekritischer Perspektive verschleierte der betonte restaurative und defensive Charakter der idées libérales die faktischen Machtinteressen Bonapartes, der sich hier des klassischen Topos der angeblichen Bedrohung des Erreichten bediente, um damit das eigene Vorgehen als Rettung der legitimen Revolutionsziele zu rechtfertigen. Bonaparte bediente sich auch nach dem Brumaire seines durch den Staatsstreich begründeten Deutungsmonopols, indem er sich programmatisch als „héro des idées libérales“ und damit als nationaler Retter der legitimen Revolution stilisierte.16 Dies verwies auf zwei Zeitdimensionen, aus deren Spannung sich das semantische Spannungsfeld und der ideologische Innovationsimpuls der „idées libérales“ ergaben: In ihnen sollten die „crimes révolutionnaires“ der zurückliegenden Terrorherrschaft überwunden und die wahren Revolutionsziele in Form einer vermeintlichen „restauration générale“ erreicht werden.17 Damit konturierten sie den Erfahrungsraum vergangener Vergangenheit und den Erwartungshorizont vergangener Zukunft. Die Attribute conservatrice, tutélaire, libéral markierten damit die äußerste Grenze der Revolution und erlaubten von hier aus die Aufhebung, die Beendigung der Revolution. Ihren Ursprung verdankten die idées libérales zwar der Revolution, aber die Stabilisierung der Prinzipien der gemäßigten Revolution zwischen 1789 und 1791 bedingte in der Situation von 1799 eine doppelte Abgrenzung vom ständisch-feudalen Ancien Régime wie von der jakobinischen Entartung der Revolution. Die weitgespannten Hoffnungen, die die postthermidorianischen Republikaner mit den bonapartistischen idées libérales verbanden, liefen auf eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Revolution und auf diesem Wege zu einer Garantie ihrer ethischen Wertmuster hinaus. Die republikanische Projektion, welche die schnelle Verbreitung der idées libérales in der politischen Publizistik zunächst noch dominierte, zielte damit auf eine politische Stabilisierung, garantierte Rechtssicherheit und gesellschaftliche Versöhnung: „Bonaparte, par idées libérales entend tout ce qui peut embellir la République, la faire aimer; tout ce qui tend à moraliser la Révolution“.18 Die hinter dieser Interpretation stehende Erwartung erfüllte sich allerdings nicht, denn faktisch mündete die Projektion einer republikanisch-moralischen Katharsis der Revolution bald in die napoleo15
16
17 18
Proclamation du général en chef Bonaparte. Le 19 brumaire, 11 heures du soir, in: Le Diplomate. Numéro XVI. Tridi 23 Brumaire, an VIII de la République française (13. November 1799). Der Text ist auch abgedruckt in Buchez/Roux 1838, 257. Mémoires de M. de Bourrienne, ministre d’état; sur Napoléon, le directoire, le consulat, l’empire et la restauration. Bd. 3. Paris 1829, 28. Proclamation du général en chef Bonaparte, in: Buchez/Roux 1838, 255. L’Ami des Lois, 16 Frimaire an VIII, zitiert nach: Aulard 1903, 42.
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nisch-imperiale Stilisierung mit Hilfe der in der Person des Kaisers personalisierten idées libérales, welche die Aufhebung und damit das von Napoleon definierte Erbe der Revolution symbolisierten. Napoleon beanspruchte das ideologische Deutungsmonopol und machte die idées libérales dabei zu einem ideologischen Orientierungspunkt und sprachlichen Identifikationsmittel seiner Herrschaft, indem er eine fortschrittliche constitution und administration sowie vor allem den Code Civil in den Bedeutungszusammenhang der idées libérales und damit in die Tradition der von ihm bestimmten legitimen Revolution einordnete. Damit sollten politisch-sozialer Fortschritt und zugleich gesellschaftliche Stabilität unter den Bedingungen einer postrevolutionären Gesellschaft zusammengebracht werden.19 In der imperialen Selbstinterpretation Napoleons nahmen die idées libérales eine zentrale Rolle ein und wurden bald zum Ausgangspunkt eines sprachlichen Revolutionsexports weit über Frankreichs Grenzen hinaus. Die Übertragung und Übersetzung des revolutionären Deutungswissens auf andere europäische Kontexte erfolgte dabei vor dem Hintergrund der militärischen Hegemonialpolitik Frankreichs gegenüber seinen Nachbarn. Die in diesem Zusammenhang aus Frankreich übernommene administration sage et libérale sollte allen wichtigen kontinentaleuropäischen Staaten auch ohne eigene Revolution die positiven Ergebnisse von 1789 nahebringen. Nicht zuletzt in der offiziellen Sprachpolitik erschien Napoleon weit über Frankreich hinaus als die Verkörperung des historischen Fortschritts, der dem Bedürfnis der europäischen Völker nach den Errungenschaften von 1789 entgegenkam: „Les peuples d’Allemagne, ceux de France, d’Italie, d’Espagne désirent l’égalité et veulent des idées libérales“.20 Vor diesem Hintergrund erfolgte schließlich die erste Übertragung des französischen Etiketts libéral in der offiziellen Publizistik der deutschen Rheinbundstaaten. Sie folgte der von Napoleon bestimmten Sprachpolitik (vgl. Vierhaus 1982, 753). Dabei standen nicht der hegemoniale Ausgriff Frankreichs und die damit verbundenen militärischen Auseinandersetzungen, sondern die Rolle Napoleons als Verkörperung, Vermittler und Garant der idées libérales im Zentrum. So wurde der französische Kaiser in der von Peter Anton Winkopp herausgegebenen Zeitschrift Der Rheinische Bund an herausragender Stelle mit seinem Aufruf an die Spanier zitiert, sich eine „liberale Konstitution“ zu geben (Schue 1809, 192). Auch die Erwähnung der nach französischem Vorbild geschaffenen „dem liberalen Genius der Zeit angemessenen Anstalten“ in Deutschland und Europa (Emmermann 1808, 261 f.) wies in diese Richtung. Dieser gezielte Export von libéral durch Frankreich prägte zunächst die Politisierung des Adjektivs in Deutschland. Von ihm ging nicht nur eine fortschrittliche Reformerwartung, sondern auch die konkrete Forderungen nach Überwindung feudaler Relikte, nach bürgerlicher Rechtsgleichheit und der institutionellen Verankerung politischer Partizipation aus. Als publizistische Multiplikatoren dieses Transfers wirkten neben den Artikeln in politischen 19 20
Vgl. Martin 1987, 45–53. Napoleón Bonaparte, Correspondance, Nr. 13361 vom 15. November 1807, Bd. 16, Paris 1864, 197.
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Zeitschriften der Rheinbundstaaten mit Rekursen auf Frankreich und zahlreichen Übersetzungen programmatischer Äußerungen Napoleons auch bereits zeitgenössische Konversationslexika und Wörterbücher in Deutschland, die neben dem tradierten Wortfeld liberal/Liberalität nunmehr auch bereits auf die liberalen Ideen rekurierten. Voraussetzung für jede Form von Übersetzung und Übertragung war zunächst die semantische Entkopplung der idées libérales von ihrem napoleonischen Schöpfer. Indem der Ausdruck im Kontext des Wiener Kongresses sowohl von den innen- als auch von den außenpolitischen Gegnern des französischen Kaisers als positiver Orientierungsbegriff aufgegriffen wurde, emanzipierten sich die idées libérales von ihrer ursprünglichen Funktion als napoleonisches Herrschaftsattribut. In Frankreich selbst bediente sich die konstitutionell orientierte Opposition der idées libérales, um den Sturz des Kaisers zu erklären. So wies de Pradt (1815, 37) Napoleon in seinem zeitgenössischen Werk über den Wiener Kongress die Einsicht zu: „Ce n’est pas la coalition qui m’a détrôné, ce sont les idées libérales“. Die idées libérales standen also, nunmehr gelöst von der napoleonischen Selbstinterpretation, im politischen Umbruch 1814/15 für einen Neuanfang, der auf gesellschaftlicher Versöhnung und politischer Stabilität beruhen und zugleich das Erbe der Revolution in die Gegenwart hinein verlängern sollte: „La défaveur dans laquelle les idées libérales sont tombées, ne nous a pas détourné de leur rendre hommage. Si l’on a beaucoup abusé de leur nom, en revanche, on a mis une grande sobriété dans leur application“ (ebd., 65). Aus der Tatsache, dass sich das semantische Potential des Begriffs vom bonapartistischen Entstehungskontext gelöst hatte, lässt sich die bruchlose Kontinuität des politischen Orientierungsbegriffes auch bei fundamental veränderten Rahmenbedingungen nach 1814/15 erklären: Aus dem napoleonisch-imperial intendierten Identifikationsbegriff wurde ein Referenzpunkt für die innenpolitische Opposition gegen Napoleon. Als transpersonal-abstrakter politischer Begriff überlebten die idées libérales daher auch die militärische Niederlage und den politischen Untergang ihres ursprünglichen Repräsentanten.21 Das semantische Feld um libéral blieb zunächst unbestimmt genug, um sich für den publizistischen Einsatz bei ganz unterschiedlichen politischen Akteuren zu eignen. Libéral/liberal stand für eine Mischung aus Fortschrittserwartung und Hoffnung auf politisch-gesellschaftliche Stabilität, die den Übergangscharakter der Zeit nach 1815 kennzeichnete und nicht mehr allein auf Frankreich bezogen werden musste. In einer Stellungnahme der königlich-hannoverischen Gesandtschaft von 1814 hieß es entsprechend: „nur durch solche liberalen Grundsätze können wir bei dem jetzigen Zeitgeist und bei den billigen Forderungen der teutschen Nation Ruhe und Zufriedenheit herzustellen hoffen“.22
21
22
Vgl. Nouvelles idées libérales, Paris 1815; [A. Jouffroy:] Des idées libérales des français, en mai 1815. Dédié aux électeurs, par A. J., Paris 1815, sowie V. de Matty: Les idées libérales expliquées. Marseille 1818. Zitiert nach: Aretin 1816, 174, Anmerkungen.
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Im Ergebnis fand eine transpersonale Adaption der idées libérales in den politischen Diskurs verschiedener europäischer Länder statt: Obwohl dabei die kritische Abgrenzung gegenüber den Prinzipien der radikalen Französischen Revolution dominierte, schied auch eine Rückkehr zur altständischen Gesellschaft des Ancien Régime als Alternative aus. Zwischen diesen beiden Polen von Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten standen die idées libérales. Als Restaurationsattribut kam der Begriff nicht in Frage, weil nach der semantischen Entkopplung von Napoleon der Bedeutungszusammenhang mit politisch-konstitutionellem Fortschritt und prinzipieller Reformpolitik hervortrat. Damit war der Bedeutungszusammenhang erkennbar, der von nun an den Bedeutungsgehalt des Begriffes wesentlich bestimmen sollte: Nach 1815 formierte sich zumal in Frankreich die restaurative bzw. reaktionär bestimmte Kritik am politischen Bedeutungsgehalt von libéral, das innerhalb des sich ausbildenden Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft bald zum orientierungsmächtigen Oppositionsetikett wurde. Semantische Transfers und Übersetzungen französischer Begriffe lassen sich für Deutschland nahezu idealtypisch verfolgen. Eine imitierende Übersetzung dominierte dabei in der Frühphase bei deutschen Zeugen der Revolutionsereignisse in Paris. Aus der Kenntnis der französischen Ausdrücke, deren publizistische Diffusion die zahlreichen politischen Journale leisteten, übersetzten deutsche Revolutionsbeobachter solche Ausdrücke zunächst ins Deutsche, wobei der französische Bedeutungskontext zunächst unverändert mittransportiert wurde. So übernahm Konrad Engelbert Oelsner 1797 das zeitgenössische Schlagwort der principes libéraux als Symbol der gerechten Forderungen von 1789, als er ausführte: „Wer mittelst der Revolution zu Rang und Reichtum gelangt ist, sieht mit schnöder Verachtung auf Philosophie und liberale Grundsätze herab, als wenn die Revolution nicht von diesen ausgegangen wäre“.23 Dem folgte eine Phase der adaptierenden Übersetzung, in der die Übertragung von Begriffen und Bedeutungen aus Frankreich in eine partielle Kontextualisierung anhand neuer semantischer Elemente mit deutschem Hintergrund überging. Sie lässt sich in einem 1816 erschienenen Aufsatz von Johann Christoph von Aretin geradezu exemplarisch untersuchen. Aretins im Titel programmatisch gestellte Frage „Was heißt Liberal?“ stellte den ersten systematischen Versuch dar, das Auftauchen des neuen Adjektivs liberal im deutschen Sprachraum zu erfassen und für die eigene Gegenwart eine zutreffende Bestimmung zu liefern. Der deutsche Autor ging zunächst von der Begriffsbestimmung in Frankreich aus und orientierte sich dabei eng an dem im $ouvelliste Français von 1815 anonym erschienenen Artikel Les Idées libérales.24 Auf den ersten Blick handelte es sich auf weite Strecken um eine imitierende Übersetzung. Eine genauere Analyse aber zeigt, wie die deutsche Übersetzung mit einer selektiven Interpretation einherging, durch welche die französischen Bedeutungsgehalte im Blick auf die 23 24
Brief vom 10. Mai 1797, zitiert nach Deinet 1981, 285. Aretin 1816, 163 ff., und Les Idées libérales (1815).
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deutschen Verhältnisse verändert wurden. Frankreich stellte um 1814/15 im Hinblick auf das politisch-soziale Vokabular und den politischen Diskurs eine Projektionsfläche für deutsche Erfahrungen und Erwartungen dar. Die Auseinandersetzung mit dem französischen Vokabular zwang zu einer deutschen Begriffsbestimmung, sie bot ein semantisches Forum für die Projektion von Erwartungen im konkreten Zusammenhang der deutschen Diskussionen um die Gewährung landständischer Verfassungen nach Artikel 13 der Deutschen Bundesakte. Aretin konstatierte, dass „seit zwei Jahren ungefähr“ der Begriff der „liberalen Grundsätze“ als „neues Feldgeschrei oder Losungswort“ wahrnehmbar sei. Dies rekurrierte auf die auch in der deutschen Publizistik nachweisbare Verbreitung der idées libérales. Dabei verteidigte er das Schlagwort gegen den verbreiteten Vorwurf des revolutionären Umsturzes, indem er es als Ausdruck des Aufklärungs- und Vernunftprinzips bestimmte: „Die liberalen Grundsätze sind keine anderen als die vernünftigen“.25 Daran schloss sich eine über die Übersetzung hinausweisende semantische Positionierung des Adjektivs liberal im Deutschen an. Durch eine Kontrastierung von Bedeutungsnuancen anderer semantisch verwandter Begriffe wie freisinnig oder Liberalität kam Aretin zu dem Ergebnis, dass innerhalb des deutschen politisch-sozialen Vokabulars kein eigener Begriff existierte, der den lateinischen Begriffen liberalis bzw. liberalitas in der Verbindung von allgemeinem Freiheitsattribut, sozialer Distinktion und soziokulturellem Habitus entsprach. Dies mache die übersetzende Entlehnung unumgänglich: „ E d e l sagt zuviel, n a c h s i c h t i g , m i l d zu wenig, g r o ß m ü t h i g , wenn man will, zu viel und zu wenig. Die Begriffe von Billigkeit, Menschenfreundlichkeit, Wohlwollen, Uneigennützigkeit, Großherzigkeit liegen alle in dem Worte: L i b e r a l i t a s , jedes aber von jenen Worten einzeln genommen ist unzureichend. F r e i s i n n i g würde zu sehr auf den Freiheitssinn allein sich zu beziehen scheinen. F r e i m ä ß i g wäre etwas besser, noch besser f r e i i s c h , aber Beides ist ungewöhnlich. So lang also nicht ein neues Wort angenommen wird, müssen wir leider die ausländischen Ausdrücke: L i b e r a l , L i b e r a l i t ä t , die L i b e r a l e n , beibehalten“ (Aretin 1816, 167).
Bei der Erfassung der politischen Bedeutungsdimension des „für uns Teutsche neuen Wortes“ griff Aretin wieder intensiver auf die französische Vorlage zurück. Dabei blieb er jedoch nicht bei einer bloß imitierenden Übersetzung stehen, sondern bezog in seinen Versuch, die „wahre Bedeutung“ von liberal verbindlich zu bestimmen, auch solche Bedeutungszusammenhänge mit ein, die so in der französischen Vorlage nicht vorkamen. Auf einer allgemeinen Ebene stand liberal zunächst für den aus dem geistigen Fortschritt von Aufklärung und Vernunft erwachsenen Anspruch des mündigen Staatsbürgers auf Sicherung gegen absolutistische Willkür in der politischen Gemeinschaft, die in dieser Perspektive weniger als überkommener Untertanenverband sondern als Zu25
Aretin 1816, 163 f.; in dieser Passage verwies er ausdrücklich auf die zeitgenössische Diskussion in Frankreich: De l’abus des mots, de leur fausse interprétation et de leur influence sur la destinée des peuples par M. H. B., Paris 1815, 15, sowie Michaud, Histoire des quinze semaines ou le dernier règne de Bonaparte, Paris 1815, 11.
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sammenfassung prinzipiell gleichberechtigter Bürger erschien (Aretin 1816, 168 f.; Les Idées libérales 1815, 277 f.). Im Hinblick auf die Religion – dieser Aspekt fehlte in der französischen Vorlage völlig – bestimmte Aretin „diejenigen Grundsätze“ als liberal, „welche die Gewissensfreiheit sichern, und dem Fanatismus eben so abhold als dem Unglauben“ seien. Damit suchte er dem Vorwurf entgegenzutreten, das Adjektiv stehe in der Tradition einer gottlosen Revolution. Liberal sei es vielmehr, „dem Religionsspötter und Indifferentisten mit Kraft entgegenzuwirken, und überall die reine Gottes-Verehrung verbreiten helfen“. Die Aussagekraft des Adjektivs für die Gegenwart ergab sich aus seiner Anbindung an die Postulate von Gerechtigkeit und aufgeklärter Vernunft. Vielmehr verstand der Autor das Erbe der Aufklärung funktional als unumgängliches Werkzeug für die Konkretion der liberalen Grundsätze (Aretin 1816, 169; Les Idées libérales 1815, 278). Der „Atheist, welcher der Tugend einen ihrer stärksten Trostgründe raubt, der Witzling, der unsre Moralität durch freche Spöttereien herabwürdigt, der Anarchist, der um zur Gewalt zu gelangen, Unruhe stiftet“ erschienen Aretin (ebd., 169 f.) als Vertreter einer gefährlichen „Ultra-Liberalität“. Die Begriffsbestimmung nahm also eine explizite Scheidung zwischen dem legitimen Anspruch und der möglichen Entartung vor. Politisch konkreter markierten Verfassung und Regierung den konstitutionellen Erwartungshorizont hinter der Übertragung der idées libérales auf deutsche Verhältnisse. Hier wirkte die 1814 in Frankreich gewährte Charte Constitutionnelle prägend. Dieser Bedeutungszusammenhang ließ sich auch auf die deutsche Situation nach der in der Deutschen Bundesakte angekündigten Gewährung landständischer Verfassungen übertragen. Aretins Übersetzung fiel genau in die Phase anhaltender Diskussionen um konstitutionelle Zugeständnisse der deutschen Einzelstaaten nach dem Ende des Wiener Kongresses. Daraus ergab sich eine eigene Dynamik der Übersetzung der französischen Vorlage als semantische Adaption: Es handelte sich eben nicht mehr um eine imitierende Übersetzung ohne Berücksichtigung der deutschen Kontexte, sondern um eine Anpassung und implizite semantische Interpretation, die für die Integration des Begriffes in das deutsche Vokabular einen unverzichtbaren Entwicklungsschritt darstellte. Während im $ouvelliste Français von der universellen civilisation als Maßstab für die Gewährung von Freiheit die Rede war, griff Aretin auf den Begriff der Bildung zurück, die eine stärker sozial exklusive Konnotation enthielt. Auch die Erwähnung der $ation als Horizont der liberalen Verfassung bedeutete im deutschen Kontext etwas grundlegend anderes als im französischen Bedeutungszusammenhang. Aus deutscher Sicht stand dahinter um 1815 die doppelte Erwartung von konstitutionellen und nationalpolitischen Fortschritten:
„Definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat“ „Eine V e r f a s s u n g i s t l i b e r a l , wenn sie der Nation nicht nur alle Gattungen von Freiheit gewährt, deren ihr Bildungsstand fähig ist, sondern auch die Freiheit unter den Schutz der edlen und großmüthigen Gesinnungen stellt. Wesentliche Bestandtheile einer solchen Verfassung sind daher gegenseitiges Zutrauen der Regierung und der Regierten, ehrenvolle Auszeichnung des Verdienstes und des Talents, Wohlwollen gegen alle Menschen ohne Unterschied des Standes und des Bekenntnisses“. (Aretin 1816, 170.)
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„Une constitution libérale non-seulement donne à une nation tous les genres de liberté que son état de civilisation admet, mais elle met encore la liberté sous la sauvegarde des sentiments nobles et généreux. La confiance mutuelle du gouvernement et du peuple, les égards dus au talent et à la vertu, la bienveillance envers les nations étrangères, font parties de toute constitution libérale“. (Les Idées libérales 1815, 278 f.)
Die liberale Regierung charakterisierte für Aretin nicht allein die Bereitschaft, öffentliche Kritik zuzulassen, sondern sich im Gegensatz zum Gottesgnadentum des Ancien Régime der öffentlichen Meinung als neuer Quelle politischer Legitimation zu versichern. Während der Autor des französischen Aufsatzes explizit die Existenz einer institutionalisierten öffentlichen Kritik an der Regierung durch eine politische Opposition im Parlament hervorhob, die den erreichten Entwicklungsstand der französischen Verfassungsgeschichte und der entwickelten parlamentarischen Fraktionen nach Einführung der Charte Constitutionnelle 1814 reflektierte, blieb Aretin bei der Betonung der öffentlichen Meinung stehe, ohne ihr bereits ein institutionalisiertes Gewicht als antagonistisches Element gegenüber der Regierung zuzuweisen – dies wiederum entsprach der heterogenen Verfassungswirklichkeit der Einzelstaaten des Deutschen Bundes nach 1815: „Eins der ersten Kennzeichen einer l i b e r a l e n Regierung ist, daß sie öffentliche Verhandlungen über die den Staat und das Volk zunächst angehenden Gegenstände gestattet. Mit der Verhandlung wird auch der Widerspruch zugelassen. Jede liberale Regierung erlaubt also die Kritik ihrer Verfügungen: ja sie wünscht sie sogar, einmahl weil die freie Discussion allein dem Volke seine politische Freiheit beweist, und dann, weil sie die Regierung von dem Zustand der Volksstimmung unterrichtet, und ihr Gelegenheit giebt, jene ungeheure moralische Kraft, genannt öffentliche Meinung, zu leiten und in Bewegung zu bringen; ein Vortheil, den der Despotismus gänzlich entbehrt“. (Aretin 1816, 171.)
„Un des premiers caractères d’un gouvernement libéral, c’est de provoquer une discussion publique sur toutes les questions qui intéressent l’État et la nation. Mais admettre la discussion, c’est admettre la contradiction; or la contradiction habituelle, en fait de politique, est ce qu’on nomme opposition. Tout gouvernement libéral admet donc une opposition; il y a plus, il la désire, d’abord parce que l’existence bien manifeste d’une opposition peut seule constater l’existence de la liberté politique, ensuite parce que les débats entre les ministres et l’opposition signalent les erreurs où les premiers ont pu tomber, éclairent le gouvernement sur la situation de l’esprit public, et fournissent l’occasion de diriger, d’exciter et de mettre en mouvement l’opinion, cette force morale incalculable dont le despotisme se prive luimême“. (Les Idées libérales 1815, 279 f.)
Aretin erkannte die Gefahr, die mit dem neuen Adjektiv verbundene gemäßigte Freiheitsidee zu verkennen und forderte ausdrücklich die Mäßigung der Öffentlichkeit gegenüber den Interessen des Staates. Einen Fundamentalkonflikt zwischen Staat und Ge-
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sellschaft galt es aus deutscher Sicht zu verhindern. Liberal konnotierte in diesem Zusammenhang eine möglich konstitutionelle Integration, in dem Staat und Gesellschaft aufeinander zugeordnet blieben und damit die Grundlage für politische und gesellschaftliche Stabilität schufen. Dabei maß der deutsche Autor dem „Stand der Gebildeten“ als prädestinierte Gruppe der Gesellschaft und den Regierungen die entscheidende Rolle zu: „Die liberalen Grundsätze allgemein zu machen, muß nun die Beschäftigung der Regierungen und der Nationalgelehrten seyn; nur Illiberalität setzt den Verfügungen einer das Gute wollenden Regierung Hindernisse entgegen. Wollten aber die Regierungen selbst ihr Interesse bis zu dem Grade verkennen, daß sie fähig wären, den liberalen Gesinnungen und Grundsätzen den Krieg zu erklären, so würden sie bald zu ihrem großen Nachtheil einsehen lernen, daß ihre Macht kleiner ist, als die Macht der Geister“ (Aretin 1816, 173).
Für diese Passage gab es in der französischen Vorlage keine Entsprechung. Aretin übernahm zwar die darin von Bonald übernommene Ansicht, die liberalen Ideen seien „allen guten Köpfen und rechtschaffenen Gemüthern gleichsam angeboren“ und betonte im Sinne eines kontinuierlichen geschichtlichen Fortschritts der liberalen Ideen, daß „jede Verfassung nur in so fern Kraft, und Dauerhaftigkeit“ habe, „als sie die liberalsten Grundsätze d e r Z e i t [...] zu positiven Gesetzen“ mache (ebd.). Er ließ aber die in der französischen Vorlage betonte Identität der in Frankreich etablierten constitution mixte mit dem Bedeutungsgehalt von libéral ausgeklammert. Die in dem französischen Artikel angesprochene konstitutionelle Konkretisierung, eben die Verfassung der konstitutionellen Monarchie, war für Deutschland einstweilen eine Erwartung und noch keine konkrete Erfahrung. Auch der im französischen Text ausführliche Hinweis auf den Bedeutungszusammenhang zwischen den idées libérales als programmatischer Anspruch zu Beginn der Französischen Revolution und der notwendigen Distanzierung von libéral gegenüber der radikal-jakobinischen Revolution – „ne donnons pas le nom d’esprit libéral à l’ambition, à la cupidité, à l’immoralité, coiffées du bonnet rouge“ (Les Idées libérales 1815, 282) – wurde von Aretin lediglich verkürzt übertragen. Für den deutschen Kontext von 1816 spielte der ausführliche Rekurs auf konkrete Revolutionserfahrungen keine entscheidende Rolle, während diese Interpretationsgeschichte von 1789 für die Semantik von libéral in Frankreich entscheidend war (vgl. Aretin 1816, 172). Die Präsenz der liberalen Ideen auf der lexikalischen Ebene markierte für Deutschland schließlich den Übergang von der Adaption zur Integration des Begriffsfeldes in den politischen Diskurs. Bereits in der 4. Auflage des Brockhaus’schen Conversationslexikons von 1817 erfüllten die liberalen Ideen eine Bestimmungs- und Richtungsfunktion für das Begriffsfeld insgesamt, an dessen Politisierung für den Autor kein Zweifel bestand: „In den neuesten Zeiten ist die Liberalität auch auf das bürgerliche und kirchliche Leben bezogen worden. Die sogenannten liberalen Ideen sind daher keine andern, als die Ideen von der politischen und religiösen Freiheit, nach deren Realisirung das gegenwärtige Zeitalter mit so großer Regsamkeit strebt“. (Brockhaus 1817, 674 f.)
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Diese Bedeutungsrichtung dominierte die Wörterbuchebene bis zu Beginn der 1830er Jahre. Für den Brockhaus schien die Prägekraft des Begriffes bereits 1817 derartig offenkundig, dass er die eigene Gegenwart sogar als „das Zeitalter der liberalen Ideen“ bezeichnen konnte. Während die politische Konkretion der idées libérales in Frankreich, also die „constitution libérale“ als Ausdruck einer konstitutionellen Monarchie, mit der Gewährung der Charte von 1814 konkretisiert schien und damit einen europäischen Orientierungspunkt für die postrevolutionäre Gestaltung politischer Ordnung darstellte, markierte die „liberale Constitution“ für Deutschland einstweilen nicht mehr als einen Erwartungshorizont. In seinem Schatten verfestigten sich bald die Interessengegensätze von Staat und Gesellschaft, als die repressive Wende von 1819/20 die Realisierung nationalpolitischer und konstitutioneller Fortschritte seitens der Flügelmächte des Deutschen Bundes immer unwahrscheinlicher machte. Für den Brockhaus von 1817 stand noch fest, dass eine „liberale Constitution [...] die politische und religiöse Freiheit der Bürger“ anerkenne und sichere (ebd.). Indem die liberalen Ideen semantisch an das Aufklärungsparadigma der Vernunft gekoppelt wurden, suchte man dem aufkommenden Revolutionsvorwurf prophylaktisch zu begegnen, nicht zuletzt durch die programmatische Identifizierung der liberalen Ideen mit dem naturgesetzlich-universellen Fortschritt der Geschichte. Der Überzeugung, dass sie prinzipiell die vernünftigen Prinzipien der Aufklärung verkörperten, gab der Brockhaus pointierten Ausdruck, wenn er ausführte, liberale Ideen zu bekämpfen, hieße „nichts anderes, als die Vernunft selbst zu bekämpfen, also unvernünftig handeln“ (ebd.). Hier setzte die für Deutschland charakteristische ideologische Aufladung des Begriffsfeldes ein, die den Liberalismus, der die liberalen Ideen in der politischen Publizistik seit den beginnenden 1820er Jahren zunehmend ablöste26, zum Kristallisationspunkt einer weit über den konkreten politisch-gesellschaftlichen Horizont hinausgehenden Erwartung universellen Fortschritts machte. Der dem Bewegungsbegriff der 1820er Jahre eigene Fortschrittsattentismus fungierte dabei als scheinbares Integrationsmittel: Hinter dem Begriff Liberalismus ließen sich einstweilen alle politisch-gesellschaftlichen Reformziele zusammenfassen, ohne dass diese durch realpolitische Erfahrungen auf ihre konkrete Umsetzbarkeit überprüft werden konnten. Vielmehr trat neben die hochgesteckten Erwartungen auf naturgesetzliche Umsetzung von Fortschritt und Emanzipation, die für die deutschen Zeitgenossen keiner Revolution bedurften, weil der Siegeszug des Aufklärungsparadigmas unaufhaltsam schien, nunmehr auch die semantische Kritik und Abgrenzung: Im Kontext der Stagnation und Wende des innenpolitischen Kurses in vielen deutschen Einzelstaaten nach 1819/20 sahen die Regierungen mit wachsendem Argwohn auf den sich in Liberalismus konzentrierenden Anspruch der politischen Öffentlichkeit auf konstitutionell abgesicherte politische Partizipation, Rechtsgleichheit und nationalpolitische Fortschritte. Die sich hier abzeichnende Divergenz zwischen Staat und Gesellschaft, der Wandel der tradierten Einheit der „civitas sive societas civi26
Vgl. Krug 1823 sowie die polemische Gegenposition: Liberalismus 1824.
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lis“ in den Pluralismus antagonistischer Interessen (vgl. Riedel 1975, 737), bildete sich nicht zuletzt im regierungsamtlichen Argwohn gegenüber den liberalen Ideen ab. Während der Brockhaus noch voller Zukunftsoptimismus über das Zeitalter der liberalen Ideen spekulierte, zeigte sich der preußische Gesandte in München 1817 von dem gleichen Begriff zutiefst beunruhigt, als er hervorhob, daß zum herrschenden Ort der „revolutionairen Ideen“ die Universitäten geworden seien, „indem diese die Brennpunkte wären, worin sich in so vielen jungen Männern diese sogen. liberalen Ideen entzündeten“.27
5. Zusammenfassung und Ausblick: Übersetzung als Kulturtransfer Was zeigt das hier präsentierte Beispiel der Übersetzung der französischen idées libérales in die liberalen Ideen um 1815? Zunächst dokumentiert das Beispiel eindrücklich, dass die komparative historische Semantik nicht bei statischen und gleichsam abgeschlossenen Vergleichseinheiten stehenbleiben kann, sondern vielmehr die Kontakte zwischen nationalstaatlichen Vokabularen und Diskursen in den Blick nehmen muss. Übersetzungen sind dafür ein besonders anschauliches und aufschlussreiches Beispiel; sie dienten der Diffusion von Bedeutungswissen in besonderen historischen Momenten. Dabei ging es nicht um die „richtige“ oder „falsche“ Übersetzung, sondern um die in der hermeneutischen Schwierigkeit des Übertragungsvorgangs für die Zeitgenossen erkennbare Umformung und Neufassung des Übersetzungsgegenstandes. So erschließt sich aus der Uneindeutigkeit und vermeintlichen Vagheit – oder zugespitzt ausgedrückt: aus der Unübersetzbarkeit von Begriffen – der Pluralismus und die historische Ungleichzeitigkeit von chronologisch gleichzeitigen Erfahrungswelten.28 Eine solche analytische Fassung der Übersetzung widerspricht der Vorstellung von einer geradlinigen Wirkungsgeschichte im Sinne einer voraussehbaren Relation zwischen einem Impuls aus dem Ursprungskontext und seiner Rezeption im Aufnahmekontext. Das oben skizzierte Beispiel der idées libérales unterstreicht gerade die Diskrepanz zwischen ursprünglicher Intention und dem je besonderen Ergebnis der adaptierenden Übersetzung: Die Übertragung der französischen idées libérales in die liberalen Ideen ging nicht in einer imitierenden Übersetzung auf und war kein Übersetzungsakt im Sinne einer durch die wortetymologische Ähnlichkeit naheliegenden Bedeutungsidentität. Vielmehr setzte sie die interpretative Distanzierung von der exportierten napoleonischen Herrschaftspropaganda voraus. Obwohl ein semantisches Produkt der Revolution und in den politischen Diskurs der kontinentaleuropäischen Gesellschaften erst durch die napoleonische Herrschaft eingeführt, wurden die idées libérales zu einem 27 28
Brief von Zastrows an Hardenberg, 7. November 1817, in: Chroust 1949, 159. Vgl. Cassin 2004.
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allgemein anerkannten Orientierungsbegriff in den politischen Vokabularen Europas in der Zeit des Wiener Kongresses. Sie lösten sich damit aus der personal bestimmten Herrschaftsideologie Napoleons und überlebten als abstrakt-transpersonales Attribut die Niederlage ihres Erfinders. Übersetzungen fungierten im vorliegenden Fall, also der Entstehung neuer politischsozialer Deutungsmuster und Semantiken seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts, als Teil kultureller Aneignungsprozesse im Rahmen von Transfers und Rezeptionsvorgängen zwischen unterschiedlichen Gesellschaften. Sie dienten der Ausdifferenzierung und Neuausrichtung der sprachlichen Formen politisch-sozialer Selbstdeutung und Selbstvergewisserung. Aus der Perspektive der Analyse ist das Interesse an der Bedeutungsveränderung im Übersetzungsvorgang entscheidender als die Frage des Ursprungskontextes. Solche Übersetzungen als Kulturtransfer fanden nicht zufällig statt. Der Export und Import von politisch-gesellschaftlichem Bedeutungswissen setzte ein Spannungsfeld aus krisenhaften Erfahrungsbrüchen und Zukunftsprojektionen voraus. Um dieses Spannungsfeld sinnhaft zu kommunizieren, reichten die überkommenen Nomenklaturen des politisch-sozialen Diskurses nicht mehr aus. Das aber machte seit der Französischen Revolution und der Napoleonischen Herrschaft den Import der französischen Begriffe und Vokabulare so attraktiv. Was die Übersetzung als Kulturtransfer charakterisierte, war eine interpretative Selektion von exportiertem Bedeutungswissen: Mit der aus Frankreich importierten Begriffssprache suchte man auch in Deutschland die Umbrüche der Zeit zu deuten und eigene Erwartungen an die Zukunft zu formulieren. Die napoleonisch konnotierten idées libérales bedeuteten daher zu keinem Zeitpunkt eine erschöpfend-verbindliche Definition des Erbes der Französischen Revolution. Angesichts je besonderer Erfahrungsumbrüche und Projektionen konnten sie in Deutschland und anderen europäischen Gesellschaften durch den Übersetzungsvorgang semantisch neu verortet werden. So offenkundig die liberalen Ideen zu Beginn der 1820er Jahre noch ihren Ursprung von den idées libérales durch ihre Wortnähe verrieten, so wenig ließen sie sich auf einen statischen Bedeutungsgehalt festlegen. Die Übersetzung der idées libérales, ihre Adaption und Integration in die europäischen Politikdiskurse, war Ergebnis eines Kulturtransfers, in dessen Verlauf sich die Bedeutungskontur des Transferobjekts selbst verändert hatte. In übergreifender Perspektive bieten die hier skizzierten methodischen Chancen und Herausforderungen einer europäisch vergleichenden historischen Semantik Probleme, aber auch Chancen (vgl. Leonhard 2006, 362 f.). Zu den Problemen zählt die Abwendung von jeder Generalisierung zugunsten komparativer Differenzbestimmungen. Daraus entsteht auch ein Vermittlungsproblem für eine solche Erfahrungsgeschichte. Hinzu tritt die einseitige Fokussierung auf die sprachliche Verarbeitung von Erfahrungen. Es kann nicht allein um das notwendige Verständnis des Verhältnisses zwischen Sagbarem und Machbarem gehen (vgl. Steinmetz 1993). Auch die Grenzen zwischen Sagbarem und Nicht-Sagbarem müssen berücksichtigt werden. Eine Erfahrungsgeschichte kann nicht allein darin aufgehen, wie sie sprachlich verarbeitet wird. So wenig es eine Auto-
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nomie von Begriffen, Metaphern, Topoi, Argumenten und Diskursen gibt, so wenig ist eine in reiner Textualität aufgehende Geschichtsschreibung vorstellbar. Diesen methodischen Problemen und Erklärungsgrenzen stehen aber große Chancen und Potentiale gegenüber. Eine methodisch reflektierte historische Semantik als Paradigma einer Erfahrungsgeschichte im europäischen Vergleich schlägt Schneisen im Geflecht vergangener Wirklichkeiten, welche die nationale Engführung vieler Historiographien überwinden helfen. Eine solche Erfahrungsgeschichte sensibilisiert für methodische und theoretische Fragen über die Grenzen etablierter Subdisziplinen hinaus, etwa im Hinblick auf die skizzierten heuristischen und hermeneutischen Potentiale, wie sie im Blick auf das Problem der Übersetzbarkeit von Erfahrungen erkennbar werden. Ein solches Programm immunisiert auch gegen die vorschnelle geschichtspolitische Konstruktion von Europäismen. Einer solchen retrospektiven Teleologie und der Allmacht der vom Ergebnis her argumentierenden Historiker setzt eine vergleichende Erfahrungsgeschichte Europas die Vielfalt und Uneindeutigkeit, die Ambivalenz und die Ungleichzeitigkeit entgegen.
6. Zitierte Literatur [Aretin, Johann Christoph Freiherr von] (1816): Was heißt Liberal? Zum Theil mit Benützung eines französischen Aufsatzes in dem Nouvelliste français. In: Neue Allemannia 1, 163–175. Aulard, Alphonse (1903): Paris sous le consulat. Recueil de documents pour l’histoire de l’esprit public à Paris. Bd. 1: Du 18 brumaire an VIII au 30 brumaire an IX. Paris. Blackbourn, David (1994): Marpingen. Apparitions of the Virgin Mary in Nineteenth-Century Germany. New York. [Brockhaus, F. A.] (1817): Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexicon. Bd. 5. 4. Aufl. Leipzig. Buchez, P. J. B. /P. C. Roux (1838): Histoire parlementaire de la Révolution française ou journal des assemblées nationales depuis 1789 jusqu’en 1815. Bd. 38. Paris. Cassin, Barbara (Hg.) (2004): Vocabulaire européen des philosophies. Dictionnaire des intraduisibles. Paris. Chroust, Anton (Hg.) (1949): Gesandtschaftsberichte aus München 1814–1818. Dritte Abteilung: Die Berichte der preußischen Gesandten. Bd. 1: Vom Anfang des Jahres 1814 bis zum Oktober 1825. München. Deinet, Klaus (1981): Konrad Engelbert Oelsner und die Französische Revolution. Geschichtserfahrung und Geschichtsdeutung eines deutschen Girondisten. München. Emmermann, Friedrich Wilhelm (1808): Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. In: Anton Peter Winkopp (Hg.): Der Rheinische Bund 8, 248–265. Espagne, Michel (1994): Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle. In: Genèses. Sciences sociales et histoire 17, 112–121 Espagne, Michel/Michael Werner (1985): Deutsch-französischer Kultur-Transfer im 18. und 19. Jahrhundert. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 14, 502–510. Foucault, Michel (1969): Archäologie des Wissens. 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1992.
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ANDREAS GARDT
Textsemantik Methoden der Bedeutungserschließung
1. Texttheoretische Voraussetzungen 2. Textsemantisches Analyseraster (TexSem) 3. Methoden der Bedeutungserschließung 4. Zitierte Literatur
1. Texttheoretische Voraussetzungen Textsemantik meint im Folgenden zweierlei: 1. eine Eigenschaft von Texten (ihre Bedeutungsqualität) und 2. dasjenige wissenschaftliche Arbeiten, das sich mit dieser Eigenschaft befasst. Dieses Arbeiten steht implizit oder explizit in einem theoretischen Rahmen und bedient sich – auf das Gesamt der Forschung gesehen – unterschiedlicher Methoden. Im Folgenden sollen einige dieser Methoden, die in der germanistischen Sprachwissenschaft verbreitet sind, beschrieben werden. Der theoretische Rahmen dagegen soll hier lediglich mit wenigen Worten umrissen werden, da er an anderen Stellen bereits ausführlich beschrieben wurde.1 Textsemantisches Arbeiten ist immer auf individuelle Texte gerichtet, auf einzelne oder Gruppen von Texten. Dabei vermittelt es jedoch auch Erkenntnisse sprachsystematischer Art, indem es bei der Analyse einer hinreichend großen Zahl von Texten z. B. derselben Textsorte Aussagen des Typs erlaubt, ‚die Textsorte X‘ weise zu einer bestimmten Zeit diese oder jene Kennzeichen der Bedeutungskonstitution auf. Es spielt keine Rolle, ob man Texte grundsätzlich dem Sprachsystem zuordnet, als dessen umfangreichste Einheiten, oder aber als Phänomene je individueller Sprachverwendung begreift. Tatsache ist, dass Texte immer auch Musterhaftes aufweisen, weil sie nur so gestalt- und rezipierbar sind. Je deutlicher die analytische Fragestellung auf dieses Musterhafte zielt, desto stärker bewegt sich textsemantisches Arbeiten in Richtung einer systemlinguistischen Beschreibung, je mehr einzelne Autoren ganz bestimmter Zeiten im Vordergrund stehen, desto eher geht es um individuelle Formen der Bedeutungskonstitution. 1
U. a. in Gardt 2007; 2007a; 2009; demn.
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Dass Texte semantisch emergente Einheiten sind, also Einheiten, deren Bedeutung komplexer ist als die ‚Summe‘ der Bedeutungen ihrer Konstituenten, ist eine Selbstverständlichkeit, die sich in unterschiedlicher Begrifflichkeit ausdrücken lässt. Die Sicht von Texten, Textbedeutung und Textverstehen als Ausdruck einer bestimmten Relation von Teilen und Ganzem wird von der Hermeneutik traditionell mit dem Bild vom „Zirkel des Verstehens“ beschrieben (z. B. Gadamer 1993) und reicht bis zur aktuellen kognitivistischen Darstellung des Verstehensprozesses als Bewegung bottom up (von den Textteilen zum kognitiven Entwurf der Bedeutung des Textes) und top down (vom Bedeutungsentwurf zu den noch nicht rezipierten Teilen) (so bereits 1983 van Dijk/Kintsch). Der Vorgang der Bedeutungsbildung verläuft für den Verstehenden intuitiv – Hans Hörmann spricht vom „subjektiven Gefühl ‚jetzt habe ich es verstanden‘“ (Hörmann 1987, 137) –, lässt sich aber in der textsemantischen Analyse im Nachhinein explizieren. Eine Selbstverständlichkeit für die moderne Texttheorie (der Sprach- sowie der Literaturwissenschaften) ist auch die Annahme, dass Bedeutungen nicht ‚in Texten liegen‘, sondern vom Leser am Text gebildet werden. Die sprachlichen Konstituenten des Textes dienen als kognitive Stimuli der Sinnbildung durch den Rezipienten, auch dies ein Vorgang, der bereits in der Hermeneutik benannt wird (Hans-Georg Gadamer bezeichnet das Aufeinandertreffen des Sinnpotentials des Textes mit dem intellektuellen Horizont des Lesers im Zuge des Verstehensvorgangs als „Horizontverschmelzung“) und auch in aktuellen konstruktivistischen Texttheorien unterschiedlicher Spielarten so beschrieben wird.2 Mit der Einnahme dieser Position wird zugleich die Auffassung aufgegeben, wonach eine objektive Erschließung der Bedeutung von Texten grundsätzlich möglich ist. Bedeutungen von Wörtern mögen sich zwar im Sinne einer langue-Bedeutung mit einem gewissen Anspruch auf überindividuelle Verbindlichkeit angeben lassen, und auch die Semantik grammatischer Formen ließe sich noch regelhaft beschreiben. Doch die Kontextualisierung von Wörtern und Formen im konkreten Textvorkommen bedeutet eben nicht eine Auswahl aus einem fest vorgegebenen Satz von Bedeutungsmöglichkeiten, sondern bewirkt ein gegenseitiges Semantisieren der Textkonstituenten. Die Abläufe sind so vielschichtig und in einem Maße von Vorwissen und Urteilsvermögen des Rezipienten abhängig, dass von Objektivität der Bedeutungsbestimmung nicht die Rede sein kann. Was allerdings möglich ist, ist ein Konsens über die Bedeutung, und im Alltag des Textverstehens wird diejenige Bedeutungszuweisung, die den größten Konsens findet, nicht selten auch als die ‚richtige‘, ‚objektiv zutreffende‘ gesehen. Die zu diesem Aspekt einschlägige Literatur in den Philologien sucht immer wieder einen Weg zwischen der Einsicht in den Charakter von Bedeutungsanalysen als von den urteilenden Subjekten abhängigen Konstruktionen und dem Wunsch, angesichts eben dieses Konstruiertseins die Analysen nicht völlig der je individuellen Beliebigkeit ihrer 2
Man vgl. etwa die thematisch einschlägigen Aufsätze in Hermanns/Holly 2007.
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Verfasser anheim zu geben und damit die Validität semantisch-analytischen Arbeitens zu gefährden. Auch hier werden traditionelle Sichtweisen der Textwissenschaften durch sehr aktuelle Ansätze ergänzt. So findet z. B. die Kategorie der Empathie des Interpreten, die bei Friedrich Schleiermacher durch dessen „divinatorische Methode“ (Schleiermacher 1976) sozusagen kanalisiert wird, ihre Entsprechung in aktuellen kognitivistischen Kategorien.3 Eine besondere Rolle spielt gerade in sprachwissenschaftlichen Darlegungen zur Textanalyse der Autor eines Textes. Der pragmatische Sprachbegriff sieht Texte als kommunikative Handlungen, die von einem Verfasser auf (einen) Rezipienten gerichtet sind.4 Dabei wird die Textbedeutung in aller Regel als unmittelbarer Niederschlag der Intention des Autors gesehen. Die Identifizierung von Textbedeutung und Autorintention mag daher rühren, dass die Sprachwissenschaft Schriftlichkeit in gewisser Weise von der Mündlichkeit her denkt: Als eigentlicher, onto- und phylogenetisch primärer Sprechakt gilt der mündliche, dessen situative Unmittelbarkeit eine Trennung von Sprecherintention und Bedeutung des Gesprochenen nicht plausibel erscheinen lässt – der Sprecher, so das Argument, wird schon wissen, was er meint. Eben das wird auf Schrifttexte übertragen, und Erfahrungen mit Gebrauchstexten des Alltags scheinen diese Position zu bestätigen: Wir gestehen dem Autor zu, seinen Text semantisch kontrollieren zu können, sehen ihn auch in der Verantwortung dafür und können in Zweifelsfragen auf ihn als Autorität zurückgreifen. Tatsächlich aber ist eine Identifizierung von Autorintention und Textbedeutung unzulässig. Auch wenn sie sich bei Gebrauchstexten oft als unproblematisch erweist, greift sie bei Texten, die das semantische Potential von Sprache in anderem Maße ausreizen, zu kurz. Bei literarischen Texten etwa gilt das Wort des Autors über seinen Text lediglich als eines unter vielen (vgl. z. B. Beardsley/Wimsatt 2000), eben weil er das Bedeutungspotential seines Textes nicht erschöpfend überblicken kann, unter anderem deshalb, weil auch ihm unbewusste Faktoren seine Sprachwahl beeinflusst haben mögen. Hinzu kommt, dass Autoren etwa von Sachtexten schlicht Fehler bei der Verschriftlichung unterlaufen sein können, dass eine Umsetzung ihrer Mitteilungsabsicht aus der Sicht der Rezipienten also als faktisch mangelhaft bewertet wird. Die eingangs erwähnte Hinwendung des textsemantischen Arbeitens zu individuellen Texten bzw. Gruppen von Texten sei zum Abschluss der kurzen theoretischen Einbettung noch einmal aufgegriffen. Auf den möglichen Gewinn im Hinblick auch auf sprachsystematische Informationen wurde bereits hingewiesen. Hinzu treten Informationen über kommunikative Praktiken, also darüber, wer auf welche textuelle Art und Weise zu einer bestimmten Zeit, in einem jeweiligen Raum, für welche Lesergruppen, zu welchen Themen kommuniziert (hat). Und schließlich erlaubt die textsemantische Analyse einen Blick auf die sprachliche Verfasstheit des thematischen Gegenstandes, 3 4
Vgl. dazu Rizzolatti/Sinigaglia 2008 u. Zaboura 2008; auch Hermanns 2007. Nahezu jede neuere Einführung in die Textlinguistik mag hier als Beispiel dienen.
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um den es in den Texten geht, und damit – jedenfalls insofern der Gegenstand erst als sprachlich gefasster intellektuell verfügbar ist – einen Blick auf den Gegenstand selbst.
2. Textsemantisches Analyseraster (TexSem) In der folgenden tabellarischen Übersicht sind Faktoren aufgeführt, die besondere Relevanz für die Bedeutung von Texten und, dementsprechend, für ihre textsemantische Analyse besitzen. Dass grundsätzlich jede Konstituente eines Textes semantisch relevant sein kann, ist eine triviale Feststellung. Dementsprechend umfang- und variantenreich sind solche Übersichtsdarstellungen, und nicht zufällig erinnern sie an die Topik der antiken Rhetorik, in der die einzelnen Topoi als Findeorte für Argumente zum Verfassen von Reden dienen. Ebenso dienen sie, bei umgekehrter Blickrichtung, der Analyse von Texten, sodass eine Zusammenstellung wie die folgende auch eine Anleitung zur textsemantischen Analyse darstellt. Eben so, als Textsemantisches Analyseraster (TexSem), ist sie zu verstehen. Das Raster basiert im Wesentlichen auf Arbeiten des Verfassers seit 2002, in denen einschlägige Forschungsergebnisse (insbesondere aus den Bereichen der Textlinguistik, Lexikologie und Rhetorik/Stilistik) und Beispiele konkreter Analysepraxis berücksichtigt wurden.5 In seiner hier vorliegenden Form wurde das Raster u. a. um die Angaben zur Analyse von Text-Bild-Kombinationen nach Klug (demn.) erweitert. Bei einer Analyse kann es nicht darum gehen, das Raster mehr oder weniger mechanisch abzuarbeiten. Eine Analyse mag ausschließlich auf den Textsortencharakter von Texten abheben, eine andere lediglich auf die Metaphorik, die Text-Bild-Relationen, die argumentative Struktur der Texte, die Varietätenspezifik der Lexik oder auf einen anderen Einzelaspekt. Tatsächlich sind in textanalytischen Arbeiten häufig Kombinationen von Fragestellungen und Analysegegenständen üblich. Auch die sich durch die Analysegegenstände ergebenden Methoden der Analyse, von denen einige im Folgenden beschrieben werden sollen, lassen sich in unterschiedlicher Weise kombinieren. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Dreitteilung des Analyserasters – kommunikativ-pragmatischer Rahmen des Textes, Makrostruktur und Mikrostruktur – nicht die Chronologie der Analyse spiegelt, jedenfalls nicht konsequent. Sicher lassen Texte oft auf den ersten Blick Verfasser, antizipierte Rezipienten und Textsorte erkennen, auch das Thema ist oft rasch bestimmt, ohne differenzierte Analyse der Mikrostruktur. Doch ist das nicht zwangsläufig der Fall, bisweilen lassen sich auch allgemeinere Aussagen über einen Text erst durch einen genauen Blick in die Mikrostruktur formulieren.
5
Insbesondere Gardt 2002; 2007a; 2008; demn.; dort auch Verweise auf berücksichtigte Forschungsliteratur wie Brinker/Antos/Heinemann/Sager 2000 u. a. m.; zusätzlich s. Fix/Gardt/Knape 2008/ 2009.
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Der dem Analyseraster zugrunde liegende Textbegriff ist ein pragmatischer, bindet den Text in einen Handlungsrahmen ein, der aus Verfasser, antizipiertem Leser und Situation besteht. 1. Kommunikativ-pragmatischer Rahmen des Textes a. Textproduzent (Autor, Fotograf, Zeichner usw.) – Alter, Geschlecht, Bildung, Tätigkeit/Beruf, kultureller (sozialer, politischer, religiöser usw.) Hintergrund, Diskursposition und -interesse etc. b. (antizipierte) Leser – Alter, Geschlecht, Bildung, Tätigkeit/Beruf, kultureller (sozialer, politischer, religiöser usw.) Hintergrund, Diskursposition und -interesse etc. c. Medium – schriftlich/bildlich auf Papier (Buch, Zeitung, Plakat, Flyer etc.) u. a. Zeichenträger – schriftlich/bildlich im Internet d. Situation – Ausgangs- und Zielsituation/Wirkungsbereich 2. Textuelle Makrostruktur Zu beachten: punktuelle – flächige Formen der Bedeutungskonstitution a. Textsorte gegliedert nach (u. differenziert nach Experten-/Laienkommunikation; konzeptioneller Schriftlichkeit/Mündlichkeit): 1. Lebensbereichen/Wissensdomänen: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Verwaltung, Religion etc. 2. Handlungsformen informierende Texte (z. B. Fachtexte), sozial verbindende Texte (Obligationstexte, z.B. Verträge), agitierende Texte (z. B. best. politische Reden), anleitende Texte (z. B. Gebrauchsanweisungen) etc. Zu beachten: monologisch – dialogisch (u. a. Foren, Chats, Blogs etc.) b. Binnenstruktur des Textes – Layout des Gesamttextes: Arrangement des Textes auf der Seite, z. B. Gliederung in Absätze, in bildliche und sprachliche Teile etc. – Text-Bild-Relation: syntaktische Relationen, z. B. durch Text-/Bilddeixis, Verweisziffern/-buchstaben, Legenden; semantische Relationen, z. B. Dominanz/Gleichwertigkeit bildlicher/sprachlicher Textteile in Bezug auf die Textinformation, Bezug Überschrift – Text/Bild; funktionale Relationen/Beitrag der bildlichen/sprachlichen Teile zur Kommunikation der Gesamttextfunktion; bei Internettexten zusätzlich lineare vs. hyperstrukturelle Organisation, Verlinkung, Animation etc. – Textthema und Themenentfaltung: deskriptiv – narrativ – explikativ – instruktiv – argumentativ – appellativ – Aufbau nach Textteilen: Einleitung – Hauptteil – Schluss etc. (in rhetor. Begrifflichkeit: exordium, narratio, argumentatio, peroratio etc.), auch Wiederholungen, Kontrastierungen thematischer Blöcke – Aufbau des Bildes: Aufbau von Bildzeichen zu solchen komplexerer Struktur, Kohäsion/Inkohäsion von Bildzeichen/Bildszenen (durch Form, Linien, Anordnung im Raum/Perspektive des i. d. R. zweidimensionalen Mediums, durch goldenen Schnitt, Dreieckskomposition, Gestaltungsraster) etc.
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3. Textuelle Mikrostruktur Zu beachten: punktuelle – flächige Formen der Bedeutungskonstitution a. Phonie: Metrum, Rhythmus; Lautwiederholungen und -kontrastierungen, z. B. Reim, Alliteration, Assonanz etc. b. Graphie: Schrifttypen, -größen, Hervorhebungen (Fettsatz, Sperrung etc.) etc. c. Wortbildungsmorphologie: Wortbildungen (u. a. Ad-hoc-Bildungen) d. Lexik u. Phraseologismen – Fachwort, Fremdwort, Neologismus, Archaismus, Vulgarismus, Regionalismus etc.; u. a. Bestimmung der Varietät (Fachsprache etc.) und – in Verbindung mit der grammatischen Analyse – des stilistischen Registers (salopp, umgangssprachlich, bildungssprachlich etc.), unter Berücksichtigung von Nähe- und Distanzsprachlichkeit – Schlagwort (Fahnenwort – Stigmawort) (deontische Bedeutung) – semantische (konzeptuelle) Felder/Netze: Etablierung von Themen/Teilthemen im Text (Anschluss an die Kategorien von Wortfeld, Begriffs-/Konzeptfeld, Frame/Wissensrahmen etc.) Zu beachten: - Kollektivsymbolik: u. a. Metaphern und Metonymien (Metaphernfelder/konzeptuelle Metaphern) - Kollokationen - Bezugsetzung eines Textzeichens (Wort, Wortgruppe, Phraseologismus, Satz, textstrukturelle Konstituente) - zu den in semantischer Relation stehenden Ausdrücken des Sprachsystems, (Synonyme, Antonyme etc.) - zu den Sprachzeichen des Kotextes (Intratextualität) - zu Sprachzeichen in anderen Texten desselben Autors oder anderer Autoren derselben oder einer früheren Zeit (Intertextualität) e. Bildzeichen (unterschiedlichen Komplexitätsgrades) – formreale/abstrakte Bildzeichen: ikonische (indexikalisch-ikonifizierte) oder symbolische (symbolifiziert-indexikalische, symbolifiziert-ikonische) Deutbarkeit – Farbe, Kontraste, Harmonien – Schlagbild (Fahnenbild – Stigmabild) (deontische Bedeutung) – semantische (konzeptuelle) Felder/Netze: Etablierung von Themen/Teilthemen im Bild (Anschluss an die Kategorien von Begriffsfeld, Frame/Wissensrahmen etc.) – Kollektivsymbolik: u. a. visuelle Metaphern und Metonymien (Metaphernfelder/konzeptuelle Metaphern) – visuelle Kollokationen – Bezugsetzung eines Textzeichens bildlicher Natur zu den Bildzeichen des Kotextes (Intratextualität) zu Bildzeichen in anderen Texten desselben Autors oder anderer Autoren derselben oder einer früheren Zeit (Intertextualität) f. Argumentationsformen (Text und Bild) – argumentative Schlüssigkeit der Darstellung; z. B. stringente Argumentation vs. assoziative Verknüpfung der Einzelaussagen – Bestimmung charakteristischer Topoi, als vom konkreten Ausdruck gelöster Agglomerationen sedimentierten Wissens: Analyse durch Nachweis enthymemischer Argumentation, ausgehend von Textausdrücken oder Propositionen, in denen Argumente stark komprimiert (Schlagwörter/-bilder, visuelle/verbale Kollektivsymbole etc.) oder explizit ausformuliert sind Zu beachten: Präsuppositionen und Implikaturen
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g. Syntax und Flexionsmorphologie – Satzarten – Art und Grad der syntaktischen Komplexität (Parataxe, Hypotaxe) – Satzlänge, Komprimierungen – Spezifik der Satzanschlüsse – Wortstellung – Modus verbi, Genus verbi (u. a. Formen der Passivierung/Deagentivierung) [alternative Begrifflichkeit: rhetorische Figuren: Wiederholungsfiguren (Chiasmus, Parallelismus etc.), Auslassungsfiguren (Anakoluth, Ellipse etc.), Satzfiguren (rhetor. Frage etc.), Kontrastfiguren (Antithese, Oxymoron etc.)] h. Interpunktion
Die Zusammenstellung greift im Wesentlichen auf die Begrifflichkeit dieser Disziplinen zurück: Textlinguistik, Lexikologie, Stilistik/Rhetorik, Syntax und Flexionsmorphologie sowie Bildsemiotik. Um der spezifisch textuellen Form der Bedeutungsbildung gerecht zu werden, kann es in der Analyse nicht um die Beschreibung isolierter Einzelbedeutungen von Ausdrücken und Syntagmen gehen. Der Emergenz des Textes entspricht nur eine analytische Methode, die das semantische Zusammenwirken der Textkonstituenten erfassen kann. Damit geraten Bedeutungsaspekte in den Blick, die sozusagen oberhalb der Ebene des punktuellen Vorkommens der Einzelkonstituenten bestehen und deren Bedeutungen in sich bündeln. Was über die ‚Bedeutung‘ oder ‚Funktion‘ von Textteilen oder ganzen Texten gesagt wird, basiert immer auf der Wahrnehmung solcher Bündelungen. Allerdings ist der analytische Zugriff auf sie je nach Disziplin und Ansatz durchaus unterschiedlich. Im Folgenden seien die Verfahren der Begriffsanalyse, der Schlagwortanalyse, der Toposanalyse, der Metaphernanalyse und der Frameanalyse kurz umrissen. Auch sollen bildsemiotische Analyseverfahren erwähnt werden. Besonderes Augenmerk bei den Beschreibungen wird auf kognitivistische Ansätze gelegt werden. Alle Verfahren lassen sich sowohl zur Analyse historischer wie aktueller Texte einsetzen.
3. Methoden der Bedeutungserschließung 3.1. Begriffsanalytische Verfahren Begriffsanalytische Verfahren basieren auf der Annahme, dass sich die Bedeutungen ausdrucksseitig unterschiedlicher, dabei semantisch mehr oder weniger verwandter Textausdrücke zu übergeordneten kognitiven Einheiten zusammenführen lassen und dass diese Einheiten für die Bedeutung eines Textes oder einer Textpassage von hervorgehobener Relevanz sind. Dabei lässt sich der Grad der semantischen Verwandtschaft zwischen den Textausdrücken durchaus unterschiedlich angeben. Von partieller Synonymie (als Teilen semantischer Merkmale im Sinne einer strukturalistischen Semantik)
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bis zur lockereren Verbindung auf der Basis von Assoziationen6 oder Wittgensteinscher Familienähnlichkeiten sind unterschiedliche Relationen denkbar. Die semantische Relation zwischen den Ausdrücken kann durch die Zugehörigkeit zur selben Wortart ergänzt werden, wie es etwa in der Trierschen Wortfeldtheorie üblich ist (Trier 1931). Für die textsemantische Analyse ist damit ein Doppelschritt vorgegeben, auf die Feststellung der Bedeutung einzelner Textausdrücke folgt ihre Bündelung zu einem Begriff: „Innerhalb eines Einzellexems wird immer von Bedeutungen gesprochen (ein Wort hat, wie bereits normalsprachlich gesagt wird, Bedeutung); die auf den Punkt gebrachte inhaltliche Gemeinsamkeit zweier oder mehrerer Einzelbedeutungen unterschiedlicher Lexeme wird hier als Begriff bezeichnet. Begriffe sind mithin Zusammenfassungen des Analysierenden und somit interpretativ gewonnene kognitive Größen.“ (Lobenstein-Reichmann 1998, 25.)
Was Anja Lobenstein-Reichmann als Auf-den-Punkt-Bringen bezeichnet, nennt Jochen A. Bär „auf einen gemeinsamen semantischen Nenner [bringen]“ (Bär [in Vorber.], Kap. 6.4.1.2.4). Dabei handelt es sich immer um einen interpretativen Akt, dessen subjektive Dimension sich bis zu einem gewissen Grade durch Befragung von Expert Raters oder durch lexikographische Sicherungsverfahren kontrollieren lässt.7 Allerdings ist beides nicht unaufwändig, und so wird die Zuweisung von Bedeutungen zu Begriffen zumeist ungesichert, aus der individuellen Kompetenz des Analysierenden vollzogen. Ihre Akzeptanz hängt davon ab, ob die Rezpienten die Analyse für angemessen halten, ebenfalls aufgrund ihrer individuellen Kompetenz. Die grundsätzliche hermeneutische Gebundenheit des Urteils ist jedenfalls mit keiner Methode zu umgehen. Im letzten Satz des Zitats von Lobenstein-Reichmann werden Begriffe als „Zusammenfassungen des Analysierenden“ bestimmt, eben wegen der interpretativen Qualität der Begriffsbildung. Damit ist jedoch ein auch ontischer Status von Begriffen als kognitiven Größen ‚in der Welt‘, d. h. im Bewusstsein der Sprecher, jenseits der wissenschaftlichen Analyse, nicht geleugnet. Bär differenziert dementsprechend zwischen prospektiven Begriffen, die vom Analysierenden sozusagen kognitiv mitgebracht werden und seine „interpretative[n] ‚Vorgriffe[n]‘ auf den Objektsprachgebrauch“ darstellen. Ihnen stehen respektive Begriffe als Ergebnisse der Analysen gegenüber (Bär [in Vorber.], Kap. 6.4.1.2.4). Gegenüber Bedeutungen, die ebenfalls kognitive Größen sind, sind Begriffe damit kognitive Größen zweiten Grades. Diese epistemologische und zugleich heuristische Bewegung von einer ersten kognitiven Ebene zu einer zweiten durchzieht die meisten textsemantischen Analysen, wobei allerdings die zweite dieser Ebenen nicht in allen Fällen als Ebene der Begriffe, sondern – wie mir scheint zu6
7
Schon 1940 prägte Charles Bally den Begriff des champ associatif, bei dem die Verbindungen zwischen den Ausdrücken allerdings auch durch etymologische, morphologische oder lautliche Faktoren zustande kommen kann (Bally 1940, 195). Bei diesen Verfahren werden in Wörterbüchern Bedeutungsangaben von Lemmata untersucht, für die engere semantische Beziehungen angenommen werden, wobei als Hinweis auf das Gegebensein solcher Beziehungen die Verwendung identischer Beschreibungsausdrücke in den Angaben gesehen wird (vgl. dazu Lutzeier 1983).
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nehmend – als Ebene der Konzepte bezeichnet wird. Der terminologische Wechsel ließe sich damit rechtfertigen, dass der Ausdruck Begriff alltagssprachlich oft im Sinne von Wort verwendet wird (wie in Der Begriff XY beschreibt diesen Zusammenhang nicht treffend), die Bevorzugung von Konzept also eine Verwechslung ausschließen würde. Auch der zunehmende Einfluss kognitivistischer Ansätze mag etwas mit der Tendenz zu Konzept zu tun haben, wobei die Umorientierung für die Terminologie der Textanalyse vor allem dann sinnvoll erscheint, wenn nicht nur sprachliche Zeichen Gegenstand der Untersuchung sind. Eine kognitive Einheit, die durch ein Sprachzeichen als dessen Bedeutung evoziert wird, lässt sich häufig auch durch eine graphische Darstellung evozieren. Wer etwa das Konzept des ‚Franzosen‘ im Deutschland der Alamode-Zeit untersuchen will, wird zum einen in Texten fündig, in denen Wörter verwendet werden, deren Bedeutungen dazu beitragen, dieses Konzept zu konstituieren. Dieselben oder vergleichbare Informationen mag er aber auch anhand der Analyse von Kupferstichen, die ‚typische Franzosen‘ zeigen, erhalten. Spätestens dort, wo Text und Bild gleichermaßen zur Konstitution kognitiver Einheiten beitragen, bietet es sich an, für die kognitiven Größen zweiten Grades die Bezeichnung Konzept zu verwenden, eben weil Begriff in der fachsprachlichen Verwendung sehr weitgehend mit einer Semantisierung durch Sprache verbunden ist. Begriffs- bzw. konzeptanalytischen Ansätzen liegt in aller Regel die konstruktivistische Überzeugung zugrunde, dass Sprache Wirklichkeit nicht einfach abbildet, sondern ganz entscheidend dazu beiträgt, sie kognitiv überhaupt erst verfügbar zu machen. Über den Grad der sprachlichen Prägung unserer Wirklichkeitsbilder finden sich (verständlicherweise) keine definitiven Aussagen, stattdessen eher allgemeine Formulierungen wie die mittlerweile klassische Reinhart Kosellecks, wonach ein zentraler Begriff nicht nur „Indikator“, sondern auch „Faktor“ historischer Entwicklung sei (Koselleck 1979, 120).
3.2. Schlagwortanalyse Dasselbe trifft auf Schlagwörter zu. In textsemantischen Analysen spielen sie vor allem dort eine Rolle, wo in Texten argumentiert, gestritten und appelliert wird. Oft sind es Texte, die brisante gesellschaftliche Themen zum Gegenstand haben, und dementsprechend häufig stammen sie aus dem politischen Leben. Walther Dieckmann hat bereits 1969 den semantischen „Kondensierungsvorgang“ hervorgehoben (Dieckmann 1975, 103), durch den Wörter zu Schlagwörtern werden, sodass sie kaum eines Kontextes bedürfen, um semantisch zu wirken. In ihnen können sich ganze weltanschauliche Programme spiegeln, und ihre Parteilichkeit wurde auch zur Grundlage ihrer linguistischen Klassifizierung. Fritz Hermanns hat Schlagwörter in Fahnen- und Stigmawörter unterteilt (Josef Klein spricht bei ersteren auch von „Hochwertwörtern“ [Klein 1989, 21]). Aufgabe der Fahnenwörter ist es, „als parteisprachliche Wörter aufzufallen. Sie sind dazu da, dass an ihnen Freund und Feind den Parteistandpunkt, für den sie stehen, er-
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kennen sollen“ (Hermanns 1982, 91 f.). Grundsätzlich gilt dasselbe für Stigmawörter, und der Unterschied liegt in der positiven (Fahnenwörter) bzw. negativen (Stigmawörter) Wertung. Je nach ideologischer Orientierung kann ein Schlagwort sowohl als Fahnenwort als auch als Stigmawort verwendet werden, wie das Beispiel Sozialismus aus der bundesdeutschen Diskussion der späten sechziger und der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zeigt. Eine semantische Präzisierung der Schlagwortanalyse ist durch das Konzept der deontischen Bedeutung möglich. Hermanns definiert sie als „diejenige Bedeutung oder Bedeutungskomponente von Wörtern und Wendungen […], kraft derer Wort oder Wendung bedeutet oder mitbedeutet, daß wir, in Bezug auf einen Gegenstand, etwas nicht dürfen, dürfen oder sollen“ (Hermanns 1989, 75). Die Aufforderung zum Tun oder Lassen ist bei Schlagwörtern aufgrund ihrer deontischen Qualität also im Lexem selbst angelegt (Sozialismus ‚ist zu befördern‘ bzw. ‚zu bekämpfen‘) und entsteht nicht erst auf der propositionalen Ebene. Durch eine explizite Proposition können deontische Tautologien entstehen, dann, wenn die im Lexem angelegte Aufforderung in der Propositon wiederholt wird (z. B. Die Freiheit muss verteidigt werden). Was in der Aussagenlogik als überflüssig oder gar fehlerhaft empfunden werden mag, dient in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung den „semantischen Kämpfen“8. Eine weitergehende Differenzierung des Schlagwortbegriffs wird schließlich auch durch die Kategorien der Bezeichnungskonkurrenz und der Bedeutungskonkurrenz möglich (z. B. Klein 1989, 17 ff.). Im Falle der Bezeichnungskonkurrenz geht es um die Frage, welche von mehreren Bezeichnungen für ‚ein und denselben‘ Gegenstand die angemessene ist (z. B. sozial-liberale Koalition vs. Linkskoalition). Bedeutungskonkurrenz dagegen liegt in der Auseinandersetzung über die ‚korrekte‘ semantische Bestimmung ein und desselben Ausdrucks (z.B. Familie, Gerechtigkeit). In diesen Fällen ließe sich von ideologischer Polysemie reden (Dieckmann 1975, 70 ff. u. Hermanns 1989, 79). Löst man die semantische Verdichtung von Schlagwörtern auf, dann erhält man eine „rudimentäre, in einem Wort komprimierte argumentative Struktur“ (Klein 1989, 13; Hervorhebung im Original). Klein erläutert dies am Beispiel des Wortes Funktionärsherrschaft, das im bundesdeutschen politischen Diskurs der 1970er und 80er Jahre deontisch negativ besetzt war und zum deontisch positiv besetzten Ausdruck Demokratisierung der Wirtschaft in Bezeichnungskonkurrenz stand. „Systematisch auseinandergefaltet“, so Klein, laute die argumentative Struktur von Funktionärsherrschaft so: „‚Weil die Erweiterung der Mitbestimmung die Entscheidungsgewalt in Unternehmen auf Gewerkschaftsfunktionäre verlagert, ist die Erweiterung der Mitbestimmung abzulehnen‘“ (Klein 1989, 13 f.; Hervorhebung im Original).
8
Z. B. Klein 1989; die Formulierung wird u. a. in Felder 2006 aufgegriffen.
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3.3. Toposanalyse Was Klein hier beschreibt, deutet den Übergang von der Schlagwort- zur Toposanalyse an. Der ihr zugrunde liegende Toposbegriff ist nicht der in der Literaturwissenschaft gängige, wo Topos ein hochgradig konventionalisiertes Motiv meint (z.B. Topos vom ‚unglücklichen Reichen‘). Vielmehr handelt es sich bei der Toposanalyse um eine Argumentationsanalyse. In ihrem Zentrum steht das Enthymem, ein Schlussverfahren, das seinerseits an den klassischen Syllogismus angelehnt ist, der aus zwei Prämissen einen Schluss erlaubt: 1. Alle Blumen haben Blüten – 2. Die Rose ist eine Blume → Die Rose hat Blüten. Im Unterschied zum Syllogismus, der in der formalen Logik Verwendung findet, dient das Enthymem dem alltagspraktischen Argumentieren. Die mit seiner Hilfe gewonnenen Schlüsse sind nicht zwingend logisch ableitbar, da die in ihm angesetzten Prämissen nicht, wie im Syllogismus, aus sich selbst heraus verständlich sind, sondern erst vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wissens, gesellschaftlicher Überzeugungen Bestand haben. Das Enthymem ist dreigliedrig und besteht aus einer strittigen Behauptung, die durch ein Argument gestützt werden soll. Gelingt dies, besitzt die strittige Behauptung den Status einer anerkannten Konklusion. Das Gelingen hängt von der Akzeptanz einer Schlussregel ab, die Argument und Konklusion verbindet: Strittige Aussage/Konklusion: X ist ein liberaler Katholik. Argument: X hat sich gegen den Zölibat ausgesprochen. Schlussregel: Wenn sich jemand als Katholik gegen den Zölibat ausspricht, ist er liberal.
Es ist offensichtlich, dass über die Gültigkeit der Schlussregel nicht aufgrund logischer Gesetzmäßigkeiten entschieden wird, sondern auf der Basis allgemeiner Erfahrungen, die in den Bereich des gesellschaftlichen Lebens fallen. Das Enthymem erlaubt daher „quasi-logische oder alltagslogische Schlussverfahren, die auf Wahrscheinlichkeiten, auf Plausibilitäten zielen“ (Wengeler 2003, 178). Dabei muss die Schlussregel keineswegs explizit ausformuliert werden, und in der Regel ist das auch nicht der Fall. Die in ihr zum Ausdruck kommenden Inhalte sind als sedimentiertes gesellschaftliches Wissen im Bewusstsein des Angesprochenen präsent, bzw: Nur in dem Maße, in dem sie präsent sind und als gültig anerkannt werden, überzeugt die Argumentation. Dieses Wissen liefert das, was Stephen Toulmin in seiner Bearbeitung der Argumentationsstruktur als „backing“, als Stützung der Argumentation bezeichnet (Toulmin 1969, 101 f.), vor deren Hintergrund die Schlussregel formuliert wird. Dabei ist der Begriff des Wissens in einem sehr umfassenden Sinne zu verstehen, weil es auch Meinungen und Überzeugungen einschließt. Eben deshalb sind Argumentationsanalysen im Rahmen textsemantischer Analysen so ergiebig: Sie erlauben einen Zugriff auf das in Texten oft nur Implizierte, stillschweigend Mitgemeinte, auf die „Tiefensemantik“ der Texte, wo „das Nicht-Gesagte, nicht offen Ausgesprochene, nicht in den lexikalischen Bedeutungen
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explizit artikulierte Element von Satz- und Textbedeutungen“ (Busse/Teubert 1994, 23) angelegt ist. Für Analysen dieser Art ist es am sinnvollsten, die Schlussregel mit dem Topos gleichzusetzen.9 Im Sinne von Aristoteles’ Unterscheidung zwischen allgemeinen und besonderen Topoi hat sich eine Differenzierung in kontextabstrakte und kontextbasierte (auch: kontextspezifische) Topoi durchgesetzt. Kontextabstrakte Topoi sind allgemeiner Natur und geben Argumentationsmuster an, die in den unterschiedlichsten Zusammenhängen begegnen. Ein solcher allgemeiner Topos ist etwa der von Ursache und Wirkung. Er lässt sich so ausformulieren (Ottmers 2007, 96): „Wenn eine Ursache vorliegt, tritt eine damit zusammenhängende Wirkung ein.“
Ein stark kontextbasierter Topos wäre dagegen: „Wenn Papst Benedikt XVI. durch Maßnahmen wie die Aufhebung der Exkommunikation erneut Entgegenkommen gegenüber der Piusbruderschaft zeigt, wird die katholische Kirche weiter an Einfluss in liberalen Kreisen verlieren.“
Der Satz stellt eine der möglichen Realisierungen des Topos von Ursache und Wirkung dar. Deutlich wird nicht nur, dass unbegrenzt viele Realisierungen möglich sind, sondern auch, dass ein und derselbe kontextabstrakte Topos gegenteilige Realisierungen zulässt: „Wenn Papst Benedikt XVI. durch Maßnahmen wie die Aufhebung der Exkommunikation erneut Entgegenkommen gegenüber der Piusbruderschaft zeigt, wird dies viele durch Neuerungstendenzen verunsicherte Christen zur Kirche zurückführen.“
Da völlig kontextabstrakte Topoi für die textsemantische Analyse nahezu nichtssagend sind, stark kontextbasierte Topoi wiederum keine Aussagen allgemeinerer Art erlauben, zwischen den Texten eines Corpus keine vergleichenden analytischen Aussagen und keine Aussagen zu übergeordneten Mustern und inhaltlichen Schwerpunkten der Argumentation ermöglichen, bieten sich für textsemantische Analysen Topoi eines mittleren Abstraktionsgrades an. Sie könnten etwa so aussehen: „Wenn die katholische Kirche weiterhin konservative Positionen unterstützt, wird sie weiter an Einfluss in liberalen Kreisen verlieren.“
Noch allgemeiner formuliert: „Wenn eine Institution Positionen bestimmter weltanschaulicher Art unterstützt, verliert sie an Einfluss in Kreisen, die diese Positionen nicht teilen.“
Der Grad der Kontextbasiertheit bzw. -abstraktheit hängt von der Fragestellung des Analysierenden ab. Auch bei der Formulierung von Topoi, wie bei allen textsemanti-
9
In der rhetorischen Fachliteratur wird Topos keineswegs einheitlich bestimmt. Zur rhetorischen Argumentationstheorie s. Kopperschmidt 1989 u. 2000 sowie Kienpointner 1992 u. 2008. Anwendungen in der Sprachwissenschaft finden sich in Wengeler 2003 u. Eggler 2006.
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schen Analyseverfahren, ist der hermeneutische Charakter des analytischen Urteils nicht hintergehbar.
3.4. Metaphernanalyse Textsemantisch ähnlich ertragreich wie eine Begriffs-/Konzept- oder eine Toposanalyse ist eine Analyse von Metaphern. Was den Metaphernbegriff selbst angeht, so hat sich seine Sicht in den letzten Jahren und Jahrzehnten stark gewandelt, von einem Element rhetorischen Schmucks zu einer epistemologischen Kategorie. Bereits 1976 hat Harald Weinrich darauf hingewiesen. Weinrich verwendet den Metaphernbegriff im umfassenden Sinne, „für alle Formen des sprachlichen Bildes“ (Weinrich 1976, 277). Dabei geht er von der Existenz ganzer Metaphernfelder aus, die er als Bildfelder bezeichnet und analog zum Wortfeld definiert: „Im Maße, wie das Einzelwort in der Sprache keine isolierte Existenz hat, gehört auch die Einzelmetapher in den Zusammenhang ihres Bildfeldes“ (Weinrich 1976, 283). Vor allem als Teile von Bildfeldern vermögen Metaphern einen „Denkzwang“ (Weinrich 1976, 289) zu bewirken.10 In ähnliche Richtung zielt auch der Begriff des Kollektivsymbols, den Link und Link-Heer in die Textanalyse eingebracht haben. Danach ist das kollektive Wissen einer Gesellschaft maßgeblich „durch stereotypische ‚bildliche‘ Vorstellungen geprägt. Die Gesamtheit solcher kulturspezifischer, kollektiv-stereotyper ‚Bildlichkeit‘ wird im Folgenden als Kollektivsymbolik bezeichnet“ (Link/Link-Heer1994, 44). Neben Metaphern zählen Link/Link-Heer auch andere Bildformen wie Metonymien, Gleichnisse und Sprichwörter zu den Kollektivsymbolen. Eine ganz zentrale Rolle spielt die epistemologische Qualität von Metaphern im kognitivistischen Ansatz von George Lakoff und Mark Johnson: „We have found […] that metaphor is pervasive in everyday life, not just in language but in thought and action. Our ordinary conceptual system, in terms of which we both think and act, is fundamentally metaphorical in nature.“ (Lakoff/Johnson 1980, 3.)
Die Omnipräsenz von Metaphern in Sprache und Denken belegen Lakoff/Johnson, indem sie auf ihre konzeptuelle Qualität hinweisen. Danach findet sich in jeder Sprachund Kulturgemeinschaft eine bestimmte Menge konzeptueller Metaphern, die strukturierend auf das Denken der Mitglieder dieser Gemeinschaft wirken. Wir sind gewohnt, über bestimmte Sachverhalte in einer Weise zu sprechen, die von einer jeweiligen konzeptuellen Metapher ‚geleitet‘ wird. In Texten begegnen nicht die konzeptuellen Metaphern selbst, sie sind die types, den die tokens als Realisierungen gegenüberstehen. So erkennen Lakoff/Johnson etwa für das Konzept des ‚Argumentierens‘ vier konzeptuelle Metaphern, die jeweils wiederum in unterschiedlichen sprachlichen tokens realisiert 10
Mit dem Metaphernbegriff Weinrichs arbeitet etwa Stukenbrock 2005. Umfassend zur Perspektivierung durch Metaphern Köller 2004.
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werden: 1. ‚Argumentieren ist Krieg‘: eine Ansicht verteidigen, eine Behauptung angreifen, mit einem Argument auf etwas zielen, in einer Diskussion schwere Geschütze auffahren usw.; 2. ‚Argumentieren ist eine Reise‘: zum nächsten Punkt kommen, sich argumentativ im Kreis drehen, zu einer Schlussfolgerung gelangen usw.; 3. ‚Argumentieren ist ein Gebäude‘: eine Argumentation hat eine solide Basis, ist sorgfältig aufgebaut/strukturiert, ist grundlos usw.; 4. ‚Argumentieren ist ein Behälter‘: ein Argument beinhaltet einen bestimmten Gedanken, es ist leer usw. Dabei werden nach Lakoff/Johnson bekannte Eigenschaften eines Quellbereichs (‚Krieg‘) auf einen Zielbereich (‚Argumentieren‘) übertragen. Möglich ist das deshalb, weil es zwischen den Bereichen hinreichend Gemeinsamkeiten gibt, eben dasjenige, was in der klassischen Metapherntheorie als tertium comparationis bezeichnet wird und bei Lakoff/Johnson „mapping scope“ heißt. Dieses mapping scope lässt sich als ein Satz von Beschränkungen vorstellen, der die Übertragung nur bestimmter Eigenschaften zulässt. Welche das sind – bei ‚Krieg‘ in Bezug auf das ‚Argumentieren‘ z. B. das Angreifen oder Verteidigen – sagt Entscheidendes über die Art und Weise aus, wie wir den metaphorisch bezeichneten Sachverhalt kollektiv wahrnehmen. Der Ansatz von Lakoff/Johnson wurde von Gilles Fauconnier und Mark Turner durch ihre Theorie des Conceptual Blending (u. a. 1994 u. 2002) erweitert. Sie besagt, dass es bei metaphorischer Sprachverwendung nicht einfach um eine Übertragung bestimmter Eigenschaften eines Quellbereichs in einen Zielbereich geht, sondern dass aus beiden Bereichen Eigenschaften in einen dritten Bereich einfließen, eine Sichtweise, die die Emergenz von Metaphernbedeutungen betont.
3.5. Frame-Analyse Ein Produkt kognitivistischer Semantiktheorie ist auch die Kategorie des Frame, des Wissensrahmens. 1975 hatte Marvin Minsky den Frame-Begriff in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht (Minsky 1975, 212): „When one encounters a new situation […] one selects from memory a structure called a Frame. This is a remembered framework to be adapted to fit reality by changing details as necessary. A frame is a data-structure for representing a stereotyped situation“ (Minsky 1975).
Frames sind demnach kognitive Einheiten, in denen stereotypes Wissen über Sachverhalte und Situationen gespeichert ist. Sie dienen der Orientierung in der Welt und können unter anderem durch Wörter und Propositionen in Texten aufgerufen werden.11 Zugleich sind sie Teil eines „huge network of learned symbolic information“ (Minsky 1975, 214), „Ausschnitte aus einem globalen konzeptuellen Netzwerk, die dadurch gekennzeichnet sind, dass jeweils ein zentrales, sozusagen ‚thematisches‘ Konzept in 11
Als kognitive Einheiten können sie auch durch andere Faktoren aufgerufen werden, etwa durch Visualisierungen, durch Geräusche, Gerüche etc.
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ihrem Zentrum steht“ (Konerding 2005, 14). Die Binnenstruktur eines Frames besteht aus sog. slots, konzeptuellen Leerstellen, die sich durch einen Satz von Fragen zu dem betreffenden Frame feststellen lassen. Diese Leerstellen werden durch Angaben (fillers) gefüllt, in Texten durch diejenigen Ausdrücke, die einen bestimmten Frame aufrufen. Ergänzt werden die Angaben durch Standardwerte (default values), d. h. durch solche Angaben, die mit einem bestimmten Frame prototypisch verbunden sind. Als Beispiel seien zwei Sätze aus einer Beschreibung des Ablaufs eines Kindergeburtstages gegeben: „Mirko lädt zu seinem Geburtstag ein. Nachdem er die Geschenke ausgepackt und die Kerzen ausgeblasen hat, gibt es Limonade und Kuchen.“12
Mit diesen in Propositionen und grammatische Konstruktionen eingebundenen Ausdrücken wird schlagartig eine ganze Szene evoziert. Was wir zu dieser Szene sagen können, geht weit über die Informationen der einzelnen Ausdrücke und Propositionen hinaus. So können wir ungefähre Angaben über das Alter des einladenden Kindes machen, können uns das Spektrum der Geschenke vorstellen, haben Vermutungen über die Zahl und Platzierung der Kerzen, ebenso über die Tageszeit der Feier etc. Jedes der Elemente, die den Frame ‚Kindergeburtstag‘ bilden – im Grunde würde bereits das Wort Kindergeburtstag als solches ausreichen, um den Frame zu evozieren –, bildet seinerseits wieder einen Frame. So umfasst ein durch den Ausdruck Geschenk aufgerufener Frame Wissen über unterschiedliche Anlässe des Schenkens und Arten des Geschenks, enthält Informationen über Geburtstagsgeschenke ebenso wie z. B. über Staatsgeschenke. Dass im Textbeispiel im Zusammenhang mit Geschenk ausschließlich diejenigen Wissenselemente relevant sind, die sich auf Geschenke im Kontext von Kindergeburtstagen beziehen, hängt damit zusammen, dass der übergeordnete Frame ‚Kindergeburtstag‘ den untergeordneten Frame (sub-frame) ‚Geschenk‘ insofern bestimmt, als durch den übergeordneten Frame die konzeptuellen Leerstellen des untergeordneten Frames festgelegt werden: Nur bestimmte Geschenke passen in den Wissensrahmen ‚Kindergeburtstag‘. Damit wird einerseits die relative Stabilität dieser Wissensrahmen deutlich, gleichzeitig eine gewisse Varianz, da zwar ein bestimmtes Spektrum für die Art des Geschenks vorgegeben ist, innerhalb dieses Spektrums aber mehrere Optionen möglich sind (als Geschenk im Sinne eines Standardwertes ausgeschlossen ist z. B. eine Gesamtausgabe der Werke Kants, nicht festgelegt ist dagegen, ob ein Kinderbuch, ein Spielzeugauto o. Ä. geschenkt werden). Deutlich wird auch, dass Frames gesellschaftlich-kulturell spezifisch sind, was sie für eine textsemantische Analyse so attraktiv macht. Der textsemantischen Analyse, die an kognitivistischen Fragestellungen nicht per se interessiert ist, dient die Kategorie ‚Frame‘ als Analysewerkzeug, und der Framebegriff stellt aus ihrer Perspektive, etwas vereinfacht, einen stark erweiterten Bedeutungsbegriff dar. Wir eignen uns die Welt nicht durch die Rezeption von Sprach- und Bildzei12
Das Beispiel nach Ziem 2008a.
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chen an, die einen bestimmten Satz semantischer Merkmale isoliert in sich tragen, sondern dadurch, dass durch Sprach- und Bildzeichen Ausschnitte aus der Wirklichkeit in Form ganzer Inhaltskomplexe evoziert werden. Die Vernetzung der Komponenten von Frames untereinander macht es allerdings schwer zu entscheiden, welche inhaltlichen Komponenten zu einem bestimmten Frame gehören. Dasselbe Problem stellt sich allerdings auch dann, wenn man nicht mit dem Framebegriff arbeitet, sondern von Wortbedeutungen her denkt. Sucht man etwa für das Wort „Kindergeburtstag“ so etwas wie ‚die‘ langue-Bedeutung des Wortes, wird man im Duden-Universalwörterbuch den Eintrag „Für Kinder veranstaltete Geburtstagsfeier anlässlich des Geburtstags eines Kindes“ finden. Eine Aussage wie Wir feiern morgen Kindergeburtstag wird man mit dieser Information verstehen. Die Information versetzt einen Rezipienten jedoch nicht in die Lage, zwischen der Plausibilität der sich an diese Feststellung möglicherweise anschließenden folgenden Aussagen zu entscheiden: Ich muss noch ein Geschenk kaufen vs. Ich muss noch Wein kaufen.13 Dass bei einem Kindergeburtstag Geschenke übergeben und Kerzen ausgeblasen werden, dass gespielt wird, dass jedoch den Kindern kein Wein angeboten wird (jedenfalls nach Maßgabe der unserer Kultur entsprechenden Standardwerte), ist allerdings ebenso systematisch mit der Ausdrucksseite von Kindergeburtstag verbunden, wie die Tatsache, dass es sich um eine Feier handelt, jedenfalls bei all jenen Sprechern des Deutschen, die die Folgeäußerung Ich muss noch ein Geschenk kaufen problemlos verstehen, während sie auf die Äußerung Ich muss noch Wein kaufen mit einem gewissen Unverständnis reagieren. Daher wäre es auch wenig ergiebig, die Informationen Geschenke übergeben, Kerzen ausblasen, essen und (kindgerechte Getränke) trinken in den Bereich des Sachwissens (oder Weltwissens, enzyklopädischen Wissens) zu übertragen, die Information, dass es sich um eine Feier handelt, dagegen dem Sprachwissen zuzuschlagen. Denn das würde bedeuten, dass man eine Äußerungssequenz wie Wir feiern morgen Kindergeburtstag. Ich muss noch ein Geschenk kaufen nicht aufgrund seiner Sprachkenntnis verstehen kann, obgleich die allermeisten Sprecher des Deutschen das Merkmal Geschenke übergeben systematisch mit dem Ausdruck Kindergeburtstag verbinden werden. Auch ein Vorwurf an den Duden, er hätte noch weitere Merkmale in die Bedeutungsangabe aufnehmen sollen, wäre wenig fruchtbar, denn an irgendeinem Punkt hätte man die Aufzählung schon aus Umfangsgründen abbrechen müssen, aber ohne ein Kriterium an der Hand zu haben, wo die Grenze zwischen Merkmalen des Sprachwissens und solchen des Sachwissens genau verlaufen solle.14 13
14
Auch die Bedeutungsangabe zu Kind im Duden-Universalwörterbuch würde hier nicht weiterhelfen: 1. „[…] Neugeborenes“, 2. „von jmdm. leiblich abstammende Person […]“. Natürlich bedeutet das nicht, dass jedes Merkmal, das von einem beliebigen Sprecher genannt wird, automatisch als systematisch mit dem Ausdruck verbunden gelten kann. Würde man anhand von Urteilen der Sprecher eine Entscheidung über die Systematizität semantischer Merkmale fällen wollen, müsste man im Falle von Frame-Bestimmungen nicht anders verfahren, als man in jedem analogen Fall auch verfahren müsste: Man müsst zunächst festlegen, welche Voraussetzungen bei
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So formuliert, könnte der Eindruck entstehen, dass textsemantische Analysen, die ohne die Kategorie ‚Frame‘ arbeiten, in ihren Erklärungen zu kurz greifen. Das ist nicht der Fall, da begriffs- oder konzeptanalytische Arbeiten, wenn sie gelungen sind, genau auf diejenigen Bedeutungsaspekte zugreifen, die in den Texten ihrer Corpora relevant sind, jenseits jeder Begrenzung durch eine kleinteilige Semantik, die mit der Vorstellung knapp berechneter und scharf konturierter Merkmalsätze operiert. Es sind stets die verstehensrelevanten Aspekte (das „verstehensrelevante Wissen“, Busse 2008, 57), diejenigen, die auch in einer Frame-Analyse relevant sind. Die Frage nach Sprach- oder Weltwissen stellt sich dabei nicht, was immer die Analyse an Befunden zutage fördert, wird an sprachliche (oder bildliche) Zeichen zurückgebunden, wird als von ihnen evoziert betrachtet. Die Urteile, die dabei gefällt werden, sind nicht weniger und nicht mehr hermeneutisch gebunden und kompetenzgestützt als im Falle von Frame-Analysen. Ein Vorzug der Frame-Analyse kann darin liegen, dass die Bestimmung der Bedeutungskomponenten eines Frames bis zu einem gewissen Grad methodisch geleitet verläuft. Klaus-Peter Konerding hat mit dem Verfahren der Hyperonymtypenreduktion (Konerding 1993) eine Methode entwickelt, die es erlaubt, jede nominale Einheit des Deutschen einem sog. Matrixframe zuzuordnen. Dazu wurden Substantive des Deutschen auf der Basis des Duden so untersucht, dass in den Bedeutungsangaben das Hyperonym (genus proximum) unter seinem Lemmaeintrag nachgeschlagen wurde, von dort ausgehend erneut das Hyperonym verfolgt wurde, solange, bis die Bestimmung zu keinem weiteren Hyperonym führte und zirkulär wurde. Für Hund z. B. ergibt sich so eine Kette Säugetier – Tier – Lebewesen – Organismus. Organismus bildet einen von insgesamt zwölf Matrixframes, andere sind Gegenstand, soziale Gruppe/Institution, Ereignis, Zustand etc. Die konzeptuellen Leerstellen eines Matrixframe übertragen sich auf seine untergeordneten Frames und entsprechen seinem Prädikatorenschema. „Geburtstagsfeier“ z. B. ist dem Matrixframe Ereignis zugeordnet15, der insgesamt 19 Prädikationstypen bietet: zur Charakterisierung der Entstehungsumstände des Ereignisses; der Funktionen, die das Ereignis in einem übergeordneten Zusammenhang erfüllt; der wesentlichen Phasen, die das Ereignis erfüllt; der wesentlichen Mitspieler, die in dem Ereignis eine Rolle spielen; der typischen Dauer des Ereignisses; der Bedeutung, die das Auftreten des Ereignisses für den Menschen hat etc. (Konerding 1993, 435 ff.). Auf der Basis dieser Prädikationstypen lassen sich nun sinnvolle Fragen stellen, die die Leerstellen des betreffenden Frames erkennen lassen: Wie kommt es zu der Geburtstagsfeier? Welche Funktion hat sie? Aus welchen Phasen besteht sie? Wer ist daran beteiligt? Wie lange dauert sie? Welche Bedeutung hat die Feier für die einzelnen Mitspieler? etc. Nicht sinnvoll dagegen wäre z. B. eine Frage nach den physikalischen Eigenschaften einer Geburtstagsfeier, eine Frage, die allerdings im Zusammenhang mit
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einer Person gegeben sein müssen, um als ‚kompetenter Sprecher des Deutschen‘ zu gelten, müsste anschließend eine repräsentative Gruppe zusammenstellen und schließlich entscheiden, wo quantitativ die ‚Systematizitätsgrenze‘ verlaufen soll. Vgl. Ziem 2008, 104.
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dem Matrixframe Gegenstand durchaus eine Rolle spielt. Das Verfahren ist aufwändig und lässt sich daher in einer Analyse nur mit zentralen Frames durchführen, aber es hilft, den Umfang eines Frames einigermaßen kontrolliert anzugeben. In einer Welt mit perfekten Wörterbüchern würde man mit diesem Vorgehen dasselbe Ergebnis erhalten wie aufgrund einer statistisch aufgearbeiteten Befragung einer repräsentativen Gruppe kompetenter Sprecher des Deutschen nach denjenigen Merkmalen, die sie z. B. mit dem Ausdruck Kindergeburtstag verbinden. Das Ergebnis wäre in beiden Fällen die umfangreichste Bedeutungsangabe, die für den Ausdruck möglich wäre.
3.6. Bildanalytische Verfahren Abschließend sei die Erweiterung der Analysemethoden in den Bereich der Bildanalyse angesprochen. In den letzten Jahren hat es in der Sprachwissenschaft im Zuge ihrer Öffnung zu anderen Medien vermehrt Ansätze zu einer Beschäftigung mit semiotisch komplexen Texten gegeben.16 Was die oben angesprochenen Analysemethoden betrifft, so lassen sie sich alle auch zur Bild- bzw. Text-Bild-Analyse einsetzen (zum Folgenden vgl. Klug [demn.]). Voraussetzung ist ein Textbegriff, der es erlaubt, ihn auch auf Bilder anzuwenden. Wenn dabei die Rede davon ist, Bilder wie Texte zu lesen, ist dieses „wie“ erklärungsbedürftig. Zwar kann dem Bild eine Syntax und Semantik zuerkannt werden, die die Kohäsion und Kohärenz seiner Komponenten garantiert, doch ist klar, dass sich die Begrenztheit und Wohldefiniertheit des sprachlichen Zeichen- und Regelinventars im Inventar, das Bildsyntax und -semantik zugrunde liegt, nicht wiederfindet. Um dennoch einen Beschreibungsapparat an die Hand zu bekommen, hat es immer wieder Versuche gegeben, Kategorien der Sprachsyntax auf die Bildsyntax zu übertragen. Konstituenten von Bildern wie Punkten, Linien und Strichen wurden je nach Ausführung bildsyntaktische Qualität zuerkannt. Bildliche Zeichen mit geringem Komplexitätsgrad wurden z. B. als „Formeme“, solche mit höherem Komplexitätsgrad als „Grapheme“ kategorisiert; im Bereich der Bildsemantik wurden Bildzeichen, die z. B. „einzelne Personen oder die jeweiligen Umfelder konstituieren“ der „Status von Morphemen bzw. Wörtern im linguistischen Modell“ zugesprochen (Langner 1985, 91). Das Hauptproblem der verdichteten Information und der geringeren Regelhaftigkeit der Komposition von bildlichen Elementen im Gegensatz zu sprachlichen ließ sich aber so letztlich nicht lösen. Eine adäquate bildsyntaktische und bildsemantische Beschreibung scheint aber dann möglich, wenn in der Analyse nicht von den kleinsten Bedeutungseinheiten des Bildes ausgegangen wird, sondern „vom größtmöglichen bildlichen Zeichen, dem Bildganzen als komplexem Bildtext“ (Klug [demn.], Kap. 2.1.1.1.). Die unterhalb des Bildganzen angesiedelten Bildzeichen können dann in ihren unterschiedlichen Graden der Komplexität – ohne dass die terminologisch unterschieden werden müssen – mittels Kategorien 16
U. a. Stöckl 2004; Schmitz 2000; Fix 2001; Eckkrammer/Held 2006; Janich 2003; Felder 2007.
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analysiert werden, die auch in der Sprachwissenschaft geläufig sind. So lässt sich z. B. die Peircesche Trias von Ikon, Index und Symbol auf Bildzeichen übertragen (Klug [demn.], Kap. 2.1.2. ff.). Der Hauptakzent wird dabei auf ikonischen Zeichen liegen, die bei formrealen Bildern meist eine gewisse spontan-assoziative semantische ‚Füllung‘ durch den Betrachter erlauben, auch wenn sie weniger eindeutig ist als bei den symbolischen Sprachzeichen. Aber auch symbolische Zeichen, deren ikonographische Bedeutung hochgradig konventionalisiert ist, begegnen in Bildern, man denke nur an zahlreiche Darstellungen in der religiösen Kunst. Indexikalische Zusammenhänge schließlich können durch indexikalische Bildzeichen imitiert und damit ikonifiziert werden, um zu kausalen Interpretationen durch den Betrachter anzuregen. Als Sonderformen indexikalischer Zeichen lassen sich z. B. deiktische Bildzeichen dazu verwenden, das Bild syntaktisch und semantisch zu strukturieren, z. B. durch Zeigegesten von Personen oder die Ikonifizierung von Blickrichtungen. Jenseits des Einzelbildes spielen Faktoren wie bildliche Intertextualität bzw. Interbildlichkeit für seine semantische Analyse eine besondere Rolle. Und auch die Pragmatik von Bildern lässt sich mit sprachwissenschaftlichen Analysekategorien erfassen, auch Bildtexte lassen sich z. B. informativ, explikativ oder appellativ verwenden, Bildhandlungen entsprechen Sprachhandlungen.
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KATJA LEYHAUSEN-SEIBERT
Semiotik der historischen Aussage
1. Vorbemerkung 2. Einleitung: Semiotik als Methode der Interpretation historischer Aussagen 3. Die historische Aussage in den Sprachgeschichten des Deutschen 4. Semiotik der historischen Aussage 5. Aufgabenbereiche und Textbeispiel 6. Zusammenfassung 7. Zitierte Literatur
1. Vorbemerkung Ein wichtiges Anliegen Oskar Reichmanns ist es, historische Texte nach kommunikativen Gesichtspunkten zu klassifizieren und sie als Textkorpus derart vorstrukturiert einem Lesepublikum zugänglich zu machen. Vorgeschlagen wurde (nicht nur von ihm), sich dabei am Grice’schen Kommunikationsideal einer Verständigung durch Einsicht in die Absicht zu orientieren und danach zu fragen, welche kommunikative Intention der Textproduzent im Text zu erkennen gibt (Reichmann/Wegera 1988, XI f.)1. Welches auch immer der praktische Zweck sein mag, den man mit einer solchen Textgliederung verfolgt − Voraussetzung ist doch dafür, dass man das kommunikative Hervorbringen sprachlicher Zeichen im Wesentlichen durch eine intentionale (gewissermaßen strategische) Handlungsrationalität bestimmt sieht. Allerdings wurden schon bei Grice (1957; 1993) und auch bei Searle (z. B. 2002, 83 f.) unterschiedliche Ausprägungen von Intentionalität nicht deutlich genug unterschieden: Dass man nämlich eine sprachliche Äußerung bewusst und willentlich hervorbringt, heißt nicht, dass man ihr jeweils eine scharf umrissene Absicht mitgibt. Intentionen werden oft, ähnlich wie Bedeutungen in der Semantik, zu Inhalten oder Begriffen bzw. Ideen hypostasiert, dabei sind sie nur ein heu1
„Die kommunikative Intention ist diejenige auf einen bekannten oder antizipierten Rezipienten bzw. eine bekannte oder antizipierte Rezipientengruppe gerichtete Handlungsabsicht eines Textproduzenten, die ihn zur schriftlichen Formulierung und Bekanntgabe eines Textes veranlasst, und zwar in der Weise, dass der Text die Absicht zu erkennen gibt.“ (Reichmann/Wegera 1988, XI)
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ristisches Werkzeug zur Interpretation. Wenn man im Nachhinein erläutern will, wie man eine Äußerung verstanden hat, spricht man darüber, was der Betreffende wohl gemeint haben mag. Aber es gibt noch andere Wege zum Verstehen. Solche Wege sind etwa von der französischen Moralistik formuliert worden, die sich damit gegen die (neostoizistische) Vorstellung vom willensbestimmten, autonom handelnden Individuum gewendet hat. Während die Sprechakttheorie beispielsweise vollständig geklärt hat, was wir meinen, wenn wir ein Versprechen geben, erkennt der Moralist: „Wir versprechen nach Maßgabe unserer Hoffnungen und halten unsere Versprechen nach Maßgabe unserer Befürchtungen“ (La Rochefoucauld 1662; 1987, 21). Ein Versprechen zu verstehen heißt also nicht nur, dass man die Absicht versteht, der andere wolle sich verpflichten, das Versprochene zu tun. Man versteht ebenso gut, dass der andere Nebenabsichten hat, dass das Versprechen bestimmten emotionalen und sachlichen Bedingungen unterliegt und dass es nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit seiner Einlösung gibt.2 Ja, vielleicht versteht man sogar, dass der andere sich überhaupt nicht dazu verpflichten will, etwas Bestimmtes zu tun. Der bewusste Umgang mit Sprache hat nicht im Wesentlichen eine Rationalität des (intentionalen) Meinens, sondern eine Rationalität des Verstehens, die auch solche Elemente integrieren muss, die aus handlungslogischer Sicht völlig irrational sind. Ich möchte mich der negativen Anthropologie der französischen Moralistik anschließen: Menschen bringen ihr Vertrauen auf rationales Handeln in das soziale und sprachliche Miteinander ein, aber „wir haben nicht genug Kraft, unserer Vernunft ganz zu folgen“.3 Dies, so meinen die Moralisten, schafft eine zwischenmenschliche Gemeinsamkeit, deren Akzeptanz und positive Würdigung erst recht zu gelungener Kommunikation führen kann.
2. Einleitung: Semiotik als Methode der Interpretation historischer Aussagen Ich habe vor Jahren das Ziel verfolgt, die Sprachgeschichten des Deutschen (Monographien mit gleichlautendem Titel) linguistisch auf ihre Autorintention hin zu untersuchen und ein Korpus von 15 Texten unterschiedlichster Provenienz nach diesem Kriterium zu ordnen (Leyhausen 2005). Der Zweck einer solchen Untersuchung bestand vor allem 2
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Reichmann und Wegera äußern sich dazu: „In vielen Fällen muss einem Text nicht eine einzige Intention zugrunde liegen; das Vorhandensein mehrerer Intentionen gehört zu den Regelfällen von Kommunikation. Dann muss eine der Intentionen dominant sein; die anderen sind entweder unteroder beigeordnet“ (Reichmann/Wegera 1988, XII). Die Häufung des Modalverbs deute ich in der Weise, dass der angestrebten Gliederung nach Intentionen ein Kommunikationsideal zugrunde liegt. Ich glaube nicht, dass kommunikative Absichten im Rahmen einer handlungslogischen Hierarchie ineinander aufgehen. „Nous n’avons pas assez de force pour suivre toute notre raison“ (La Rochefoucauld 1662; 1987, 20).
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darin, diese Texte einmal nicht als informative Texte zu lesen, mit denen an Universität und Schule die Sprachgeschichte des Deutschen vermittelt wird, sondern als Texte, mit denen im weitesten Sinne kommunikativ gehandelt wird. Eine Wissenschaftskritik, die im Sinne Oskar Reichmanns das Verhältnis von Zweckfreiheit und Zweckorientierung der Sprachgeschichtsschreibung zum Gegenstand hat (Reichmann 1998, bes. 26–30), wäre ganz selbstverständlich damit verbunden. Allerdings habe ich bereits damals stillschweigend vorausgesetzt, dass die Sprachgeschichten des Deutschen – in meinem Textkorpus: von Jacob Grimms Geschichte der deutschen Sprache (1848) bis heute – eine einzige Textsorte bilden und dass für ihre Textstruktur zuallererst die Textsortenspezifik maßgeblich ist, noch vor der Autorintention. Hier wende ich mich nun ausdrücklich dieser Textsorte zu, um ein Textbildungsverfahren zu problematisieren, das zu ihrer Einheitlichkeit wesentlich beiträgt. Dazu ziehe ich nicht die Sprechakttheorie oder die (mehr oder weniger daran orientierte) pragmatische Textlinguistik heran, sondern die Semiotik. Die Semiotik von Charles Sanders Peirce, die ich hier mit einem Ausschnitt aus seinem Frühwerk anwenden will4, hat nicht weniger als den Zusammenhang von Erkennen und Handeln zum Gegenstand. Diesen Zusammenhang hat Oskar Reichmann für die Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen in einem einschlägigen Aufsatz thematisiert, in dem er hinsichtlich der Beschäftigung mit Sprachgeschichte die „Idee von Sprachgeschichte“ einerseits und die „Verwirklichung (einer Idee) von Sprachgeschichte“ in der Forschungspraxis andererseits unterscheidet (Reichmann 1998). Der Zusammenhang zwischen beidem ist zwiegestaltig. Zum einen geht die Idee der Forschungspraxis logisch voraus, denn „die forschungspraktische Feststellung objektsprachlicher Veränderungen [...], ihre Darstellung, Interpretation, Gewichtung und Ordnung“ sowie „ihre Weitergabe an Rezipientengruppen erfolgen „nach den Vorgaben einer Idee von Sprachgeschichte“ (eines „Bild[es] von der Herkunft, der Gegenwart und der Zukunft einer Sprache“). Zum anderen aber werden Forschungsinstitutionen eingerichtet, damit „Ideen von Sprachgeschichte“ produziert werden (ebd. 1 f.). Ideen gehen also dem forschungspraktischen Handeln voraus und entstehen zugleich durch dieses Handeln. Diesen Zirkel theoretisch zu durchdringen ist nicht das Anliegen in Reichmanns Aufsatz.5 Die Peirce’sche Semiotik bietet Ansätze, das Verhältnis aufzuklären: Was für Reichmann eine Idee, ein Bild, ein Erinnerungsbild ist, ist für Peirce ein Zeichen, und seine Semiotik zielt darauf ab zu zeigen, wie man mit Zeichen andere Zeichen generiert. Ich bringe hier die sprachtextliche Materialität der „Verwirklichung von Sprach4
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Gemeint sind seine Texte aus der Zeit von 1868–1871, die noch vor der Entstehung des Pragmatismus anzusiedeln sind, insbesondere vor den beiden klassischen Texten (Apel: den „Geburtsurkunden“) des Pragmatismus The Fixation of belief (1877) und How to make our ideas clear (1878), vgl. Apel 1967, 40; 43 ff. Reichmann bekennt sich zum Konstruktivismus und stellt deshalb zunächst einmal fest, dass Sprachgeschichte, ihre Idee und ihre Verwirklichung lediglich analytisch voneinander zu unterscheiden sind (Reichmann 1998, 2).
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geschichte“ in den Sprachgeschichten in Anschlag und frage, ob diese sprachtextliche Wirklichkeit forschungspraktischen Handelns nicht Rückschlüsse darauf zulässt, inwiefern die Historiographen im Prozess der sprachlichen Gestaltung einer Sprachgeschichte mit Zeichen neue Zeichen generieren. Thema des vorliegenden Aufsatzes sind daher nicht die üblicherweise untersuchten Textsortenmerkmale (makrostrukturelle Gliederung, Thema, Stil usw.). Vielmehr mache ich die historische Aussage zum Gegenstand, um sie mit Peirce semiotisch zu beschreiben. Ich beginne mit einem unspektakulären Beispiel für Geschichtsvermittlung im Fernsehen. Am 15. Februar 2011 berichtete die Tagesschau in einer äußerst kurzen Meldung: „Im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt in Dessau wird zur Zeit ein Band der kostbaren Cranachbibel ausgestellt. Dieser Band des 470 Jahre alten Werks war seit Ende des Zweiten Weltkrieges verschollen und wurde erst kürzlich wiederaufgefunden. Die Cranachbibel gilt als bedeutendes Zeugnis der Reformation.“6 Abgesehen von den Fernsehaufnahmen des Prachtexemplars war dies bereits die ganze Nachricht. Im Wesentlichen ging es hier darum, einem optisch und sprachlich (mit Eigennamen und Zeitangabe) identifizierten historischen Dokument eine Aussage über seine geschichtliche Bedeutung zuzuordnen, die dazu angetan ist, seine Wiederentdeckung zu einem öffentlichen Ereignis zu machen. Die Aussage über die geschichtliche Bedeutung des Dokuments (Die Cranachbibel gilt als bedeutendes Zeugnis der Reformation) nenne ich die historische Aussage. Sie bildet hier den abschließenden Höhepunkt der Nachricht, sie könnte aber genauso gut am Beginn einer längeren Dokumentation stehen. Die auffällige Positionierung der historischen Aussage im Textverlauf kommt dadurch zustande, dass sie das Auffassungs- und Erinnerungsvermögen des Rezipienten in besonderer Weise in Anspruch nimmt. Sie setzt eine (gut memorierbare) Erkenntnis ins Werk. Da man sie jederzeit ergänzen kann und hinsichtlich bestimmter Elemente auch ergänzen muss (z. B. mit der raum-zeitlichen Situierung des wiederentdeckten Bandes der Cranachbibel), wirkt sie in den Text hinein. Meine Hypothese ist deshalb, dass man, wenn man die Struktur der historischen Aussage versteht, man ebenso gut den im Text organisierten Prozess der auf Sprachgeschichte abzielenden sprachlichen Erkenntnis überhaupt versteht. Dazu sei das dynamische Zeichenmodell von Peirce herangezogen7: „Zeichen. Alles, was etwas anderes (seinen Interpretanten) bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird, und so weiter ad infinitum“ (Peirce 1901 f.; 2000, 375).
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Vgl. die Informationen in www.tagesschau.de/kultur/cranachbibeln100.html (30.6.2011). Die historische Aussage zitiere ich aus dem Gedächtnis. Ich zitiere hier eine Definition, die Peirce erst spät publiziert hat (in Baldwin’s Dictionary of Psy chology and Philosophy von 1901/1902), die aber an seine frühe Theorie vom Gedankenzeichen inhaltlich anschließt.
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Das Zeichen wird von Peirce nicht dadurch bestimmt, was es ist, welche Materialität (sprachlich, begrifflich, bildlich)8 oder welche (z. B. bilaterale oder monolaterale) Struktur es hat. Zeichen ist dagegen „alles, was“ eine bestimmte Funktion hat. Diese Funktion (ist nicht die Stellvertreterfunktion, sondern) lässt sich am besten veranschaulichen mit der Funktion eines einzelnen Gedankens im Prozess der Assoziation: Jeder Gedanke kann hier zum Zeichen werden, sofern er einen weiteren Gedanken auslöst, der ihn selbst (in etwas anderer Weise) wiederholt, übersetzt oder interpretiert. Das gilt für das Zeichen generell: es ist Zeichen, sofern es eine (gleichfalls nicht weiter festgelegte) Übersetzung bzw. Interpretation hervorruft (bei Peirce: einen Interpretanten), und zwar derart, dass es diese Interpretation (seinen Interpretanten) „bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird, und so weiter ad infinitum“. Im Prozess der Assoziation löst ein Gedanke einen weiteren Gedanken aus nur unter der Voraussetzung, dass er (der auslösende Gedanke) an einen früheren Gedanken anknüpft, und indem er dies alles tut, bewirkt er, dass der ihm folgende Gedanke den ihm vorausgehenden repräsentieren kann wie er selbst. Dieser (auf Textualität in einem weiten Sinne beruhende) dynamische Prozess sei knapp erläutert am Beispiel der Fernsehnachricht: Nach der Tagesschau vom 15. Februar 2011 behalten wir in Erinnerung, dass es dort um ein Zeugnis der Reformation ging ebenso wie um die Cranachbibel (bzw. einen Band davon). Der Meldung gelingt es, dass in unserem Bewusstsein an die Stelle des Eigennamens der mit der Interpretation sprachtextlich gebildete historische Wert (ein Zeugnis der Reformation) treten kann. Mit seiner Zeichentheorie will Peirce klären, wie so etwas gelingt. Seine Antwort lautet: Die eine Größe kann für die andere stehen, nicht weil sie ein Zeichen dafür ist, sondern weil sie in der (textuellen) Zeichenverwendung zum Zeichen gemacht wird. Es gibt eine dritte Größe, die zwischen diesen beiden Größen vermittelt: zunächst in der Weise, dass der Interpretant ein Zeugnis der Reformation überhaupt entsteht, dass der Autor also überhaupt in die Lage versetzt wird, etwas Weiterführendes über die Cranachbibel zu sagen, und dann auch derart, dass der Interpretant stellvertretend für den Eigennamen die Cranachbibel stehen und in diesem Sinne zum Zeichen werden kann, sich in unserem Bewusstsein als Zeichen festsetzen kann. Zieht man wiederum das assoziative Denken als Beispiel für den semiotischen Prozess heran, dann wird deutlich, dass Zeichen, wie Gedanken, bewusst gedacht werden oder unbewusst wirken können. Für sprachliche Zeichen vervielfältigen sich die Möglichkeiten: Sie können explizit geäußert oder implizit sein, und wenn sie implizit blei8
Materialität ist allerdings eine notwendige (keine hinreichende) Voraussetzung dafür, dass etwas als Zeichen aufgefasst werden kann: Jedes Zeichen hat „materielle“ Eigenschaften, d. h. Eigenschaften, „die an sich zu ihm gehören“ und die es uns erlauben, es von anderen Größen zu unterscheiden, insbesondere vom vertretenen Objekt (suppositum). Gedanken sind in dem Sinne materiell, dass uns „irgendein Gefühl, ein Bild, ein Begriff [...] gegenwärtig ist“ − ihre Zeichenhaftigkeit ist damit jedoch nicht erfasst (Peirce 1868b; 1967, 198 [5.283]).
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ben, können sie dem Autor und/oder dem Leser bewusst sein oder auch nicht.9 Dasjenige Zeichen, das den mit der historischen Aussage verbundenen Erkenntnisprozess ins Werk setzt, wird meistens – in der historischen Aussage selbst − nebenbei geäußert. Diese hat nämlich mehrere Lesarten: Wir verstehen nicht nur die explizit gemachte Aussage (Die Cranachbibel gilt als ein bedeutendes Zeugnis der Reformation), sondern wir mitverstehen, dass es um einen Gegenstand geht, der bedeutend ist für die Reformation. Wir mitverstehen einen Gesichtspunkt, unter dem das historische Dokument bewertet wird.10 Wenn die Fernsehmeldung dieses Zeichen nicht setzen würde, wie beiläufig sie dies auch tut, dann würden wir die Nachricht über das wiederaufgefundene Dokument schnell wieder vergessen oder ihr erst gar keine Aufmerksamkeit widmen. Es ist die Perspektivierung, die ausdrückliche Hinordnung des besprochenen Gegenstandes auf die Reformation, die einen Erkenntnisprozess in Gang setzt und ohne die es keinen Interpretanten gäbe, der zum Zeichen für die Cranachbibel werden kann. Typisch für geschichtsvermittelnde Texte ist nun, dass der perspektivierende Ausdruck (die Reformation) selbst nicht explizit interpretiert wird. In der Fernsehnachricht blieb keine Zeit zu erläutern, was die Reformation war; es wird, wie meistens in der historischen Aussage, vorausgesetzt, dass der Rezipient ohne Weiteres irgendwie selbst dazu in der Lage ist. Will man dazu den Text heranziehen, so kann man nur fragen, ob sich hier weitere Zeichenprozesse durchführen lassen. Mir scheint auch die Schönheit der gezeigten Bilder ein Zeichen zu sein, das zu übersetzen ist mit der Aussage, dass die Cranachbibel wichtig ist für die Kunst- und Kulturgeschichte. Es gibt also nach meinem Verständnis der Nachricht zwei Perspektiven, die möglicherweise in einen Zusammenhang gebracht werden können, vielleicht in dem Sinne, dass die Reformation wichtig war für die Kulturgeschichte. Die Cranachbibel ist dann also bedeutend für die Reformation, die ihrerseits wichtig ist für die Kulturgeschichte. Sie ist wichtig für die Reformation als kulturgeschichtliches Ereignis. Und auch der gewählte Interpretant ermöglicht dem Rezipienten Rückschlüsse auf die Perspektive des Autors: Wenn die Cranachbibel ein Zeugnis dafür ist, dann heißt das nichts anderes, als dass sie ein Zeugnis ist für diejenigen, die die Reformation als etwas Bedeutendes ansehen und sich dafür interessieren. Die Reformation ist deshalb als Element des Wissens bzw. als Gegenstand der geschichtlichen Neugierde interpretierbar, nicht als unmittelbares Ereignis. Wie weit man diesen Weg der Durchführung semiotischer Prozesse auch gehen will: Ich gehe davon aus, dass die in den Sprachgeschichten formulierten historischen Aussagen bewusst und willentlich genauso formuliert sind, wie man sie in den Texten liest. Der Textgestaltungswille macht das forschungspraktische Handeln eines Sprachhisto9
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Bei Peirce gelten auch unbewusste Geisteszustände als Zeichen, darunter nicht nur Begriffliches, sondern auch Emotionales. Voraussetzung dafür ist, dass sie die semiotische Funktionalität aufweisen. Weil wir das mitverstehen, würden wir uns überhaupt nicht wundern, wenn die historische Aussage syntaktisch anders lautete: Die Cranachbibel ist ein bedeutendes Zeugnis für die Reformation (siehe unten).
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riographen in einer Sprachgeschichte aus. An der syntaktischen Struktur der historischen Aussage wird allerdings deutlich, dass dieses Handeln im Rahmen der gewählten Textsorte geradezu dazu zwingt, Perspektivierungen nebenbei zu äußern. Man kann deshalb, abgesehen von Einzelfällen, den Perspektivierungen weder Bewusstheit noch Unbewusstheit nachweisen (auch keine kommunikative Absicht). Perspektivierungen bleiben in einem Zwischenbereich; und deswegen plädiere ich dafür, Textstrukturen und nicht Autorintentionen zum Gegenstand der Wissenschaftskritik zu machen.
3. Die historische Aussage in den Sprachgeschichten des Deutschen 3.1. Beispiele Ich möchte zunächst einen Eindruck der Vielfalt der historischen Aussagen in der genannten Textgruppe geben: (1) Diese „Malbergischen Glossen“ bilden wegen ihrer Altertümlichkeit eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte, deren Ausnützung leider dadurch erschwert wird, dass das deutsche Wortmaterial durch romanische Schreiber stark entstellt wurde. (Sperber 1926, 39.) (2) atürlich hat bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung der große Krieg, der Unmengen von fremden Truppen ins Land brachte, einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt, vor allem dadurch, dass er den ursprünglich nur in den höheren Kreisen der Gesellschaft heimischen Fremdwörtern bis tief in die unteren Volksschichten hinein Eingang verschaffte. (Sperber 1926, 102.) (3) Ein unmittelbar wirksamer Anstoß für den Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre war – nach folgenlosen Versuchen weniger anderer an anderen Universitäten seit Paracelsus – der spektakulär inszenierte Sprachenwechsel des Leipziger Privatdozenten Christian Thomasius im Jahre 1687. (v. Polenz II, 1994, 55.) (4) Die indogermanische Betonung ist für unsern ganzen Sprachstamm eine der wichtigsten Einzelentdeckungen. [...] Jede Tonstellung und Tonverschiebung muss immer Sprachveränderungen nach sich ziehen. Die Mehrzahl der idg. Sprachen hat durch Tonverschiebung viele wesentliche Umformungen erfahren. Die neuere Forschung erschließt durch vergleichende Arbeit auch in dieser Richtung den vielfach verlassenen Urzustand. (Kluge 21925, 26.) (5) Ein zweiter, für die Sprachstruktur viel wichtigerer Vorgang war der germanische Akzentwandel. Trotz einiger Parallelen im Italischen und Keltischen ist er durch seine Folgen zu einem Wesensmerkmal der germanischen Sprachen geworden. (v. Polenz 1978, 17.)
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Die zitierten Textpassagen mit den hervorgehobenen historischen Aussagen (in jeweils einem Satz oder Teilsatz)11 befinden sich an einem Absatzbeginn, abgesehen von (1), die mitten im Absatz steht, und von (2), die sogar an den Beginn eines Kapitels gesetzt wurde (in der Rezeption bei von Polenz 1978 an den Absatzanfang). Sie sind also mit dem Vortext durchaus verbunden, markieren aber in der Regel eine Umbruchstelle im Text, die den Leser nicht selten zunächst in eine gewisse Verlegenheit stürzt: Er versteht, ähnlich wie der Leser meiner Zitate, zunächst einmal nicht viel; der Leser der Sprachgeschichten versteht aber sehr genau, dass hier geschichtsvermittelnd auf ihn eingewirkt wird. Diese Aussagen sind, wie die Fernsehnachricht, direkt an den Leser adressiert; sie strukturieren weniger den Text als das Auffassungs- und Erinnerungsvermögen des Lesers. Zitiert sind die Beispielsätze aus vier unterschiedlichen Sprachgeschichten von drei Autoren und mit einem jeweils anderen historischen Hintergrund der Entstehung. (4) und (5) stammen aus der sog. Vorgeschichte des Deutschen12 − (4) aus einem Kapitel Die indogermanische Sprachgemeinschaft; (5) aus einem Teilkapitel Das Germanische − (1) aus der vorliterarischen Entwicklung der deutschen Sprache sowie (3) und (4) aus dem Themenkomplex des fremdsprachigen Einflusses auf das Deutsche (im 17. Jh.) und seiner Gegenbewegungen. Auch wenn ich die statistische Repräsentativität dieser Auswahl nicht überprüft habe, halte ich es doch für symptomatisch, dass dieser auf Satzund Teilsatzebene nachvollziehbare Aussagetyp häufig bei der Behandlung der Themenbereiche „Vor- und Frühgeschichte des Deutschen“ sowie „Fremdsprachiger Einfluss im Deutschen“ vorkommt: Diese Themen waren Schwerpunkte einer Sprachgeschichtsschreibung, die vor allem der nationalen Identität zugute kommen sollte. Bis in die 1970er Jahre hinein waren sie deshalb in vielen Sprachgeschichten nützlich (Leyhausen 2005), heute sind sie aus demselben Grund überall brisant. Die Sprachhistoriographen haben deshalb schon immer (mehr oder weniger bewusst) das Problem gesehen bzw. übernommen, an diesen Stellen die Textrezeption besonders anzuleiten, den Erkenntnisprozess (auch ihren eigenen) mit einem spezifischen Formulierungsaufwand zu strukturieren. Ich habe die Textbeispiele nicht thematisch oder gar chronologisch angeordnet, sondern in der Weise, dass ich zunächst die Syntax und die Satzsemantik der darin vorkommenden historischen Aussagen sinnvoll diskutieren kann. Mit dieser Analyse thematisiere ich, bevor ich in den abstrakten semiotischen Prozess einsteige, den textsortenspezifischen Umgang der Autoren mit dem sprachlichen Material. Mit der Deutschen Satzsemantik von Peter von Polenz (1988) nutze ich dabei das bilaterale Zeichenmodell, das von ihm pragmatisch anverwandelt wurde. Peter von Polenz geht davon aus, dass in der Semantik der Sätze eines Textes das zum Ausdruck kommt, was 11
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Sätze und Teilsätze beinhalten Aussagen. „Aussagen“ sind, mit Peter von Polenz (1988) gesprochen, Teil des signifiés von Sätzen/Teilsätzen. Die historische Aussage ist demnach ein Aussagebzw. Satzinhaltstyp. Vgl. dazu Reichmann 1998, 4.
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der Autor sagen und was er schließlich damit tun und bewirken wollte. Nun zeigt sich schon bei dieser Analyse, dass die historische Aussage die handlungsrationale kommunikative Funktionalität, die sie zweifellos hat, durch Widersprüchlichkeiten gleich wieder aufhebt. Dies soll im zweiten Teil des Aufsatzes erklärt werden, indem ich den Textgestaltungswillen des Autors semiotisch erläutere und zeige, wie die historische Aussage den durch die Textsorte vorgegebenen Prozess der historischen Erkenntnis selbst zum Ausdruck bringt.
3.2. Syntax der historischen Aussage Allgemein lässt sich vorausschicken: Die historische Aussage ist eine explizite Prädikation, bei der allerdings die aus satzsemantischer Sicht immer mögliche „Entsprechung zwischen Satzausdruck und Satzinhalt“ (zwischen Syntax einerseits, Semantik und Pragmatik andererseits) außerordentlich „verschoben“ ist (v. Polenz 1988, 88). Das liegt an ihrem Nominalstil. Syntaktisch haben wir es mit Sätzen zu tun, die im Kern ein Nominalprädikat haben, gebildet mit der Kopula oder einem anderen Nominalverb (v. Polenz 1988, 85) in unterschiedlichen Tempusformen sowie mit einer (mehr oder weniger) komplexen Nominalgruppe als Nominalprädikat. Satzsemantisch (und -pragmatisch) gesehen, ist dieser Satztyp eine komprimierte Aussage, eine hochverdichtete Aussage, die auch mehrere pragmatische Elemente vereint. Bei der folgenden syntaktischen und semantischen Analyse berücksichtige ich zunächst nur den die historische Aussage umfassenden syntaktisch unabhängigen Satz, nach dem terminologischen Vorschlag von Peter von Polenz (1988). (1) Diese „Malbergischen Glossen“ bilden wegen ihrer Altertümlichkeit eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte, deren Ausnützung leider dadurch erschwert wird, dass das deutsche Wortmaterial durch romanische Schreiber stark entstellt wurde. (Sperber 1926, 39.) (5) Ein zweiter, für die Sprachstruktur viel wichtigerer Vorgang war der germanische Akzentwandel. Trotz einiger Parallelen im Italischen und Keltischen ist er durch seine Folgen zu einem Wesensmerkmal der germanischen Sprachen geworden. (v. Polenz 1978, 17.)
Kern des 1. syntaktisch unabhängigen Satzes, des Teilsatzes Diese „Malbergischen Glossen“ bilden [...] eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte [...] ist ein einwertiger Prädikatsausdruck, der als komplexes Nominalprädikat realisiert wird (mit dem Nominalverb bilden und dem Prädikativ eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte). Der Kern der prädikativen Nominalgruppe Quelle hat zwei Attribute: das Adjektivattribut wichtig sowie das präpositionale Attribut für die deutsche Sprachgeschichte. Interessant an diesem Satz ist diese attributive Struktur. Ich will sie vergleichen mit der Attributstruktur des Prädikativs in (5): Ein zweiter, für die Sprachstruktur viel wichtigerer Vorgang war der germanische Akzentwandel. Hier wird gesprochen über einen Vorgang, der für die Sprachstruktur viel wichtiger war. Attribuiert
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mit der präpositionalen Nominalgruppe wird hier das Adjektiv wichtig, nicht etwa Vorgang. Ein für die Sprachstruktur wichtiger(er) Vorgang steht also eine[r] wichtige[n] Quelle für die deutsche Sprachgeschichte gegenüber. Es schließt sich die Fragestellung an, welche satzsemantische Funktion das Attribut wichtig in der historischen Aussage hat. Kann man den 1. Satz – analog zu (5) – auch in der Weise verstehen, dass die „Malbergischen Glossen“ eine Quelle [bilden], die wichtig ist für die deutsche Sprachgeschichte, bzw. (5) – analog zu (1) – in der Weise, dass der germanische Akzentwandel ein [...] Vorgang für die Sprachstruktur war? Es gilt zu berücksichtigen, dass „die Satzgliedkategorie ‚Attribut‘ oft nur rein formal, nicht inhaltlich als eine ‚Hinzufügung‘ zum ‚Nomen‘ zu verstehen ist“ und „die Attribuierungsstrukturen des Nominalstils [...] diejenige Satzbauform [sind], in der die syntaktische Struktur sich am weitesten von der Satzinhaltsstruktur entfernt“ (v. Polenz 1988, 90; 105 und 247 ff). Unter einem pragmatischem Gesichtspunkt könnte man meinen, in der historischen Aussage werde diejenige Handlung vollzogen, die oft von den Sprachhistorikern selbst bei der Reflexion ihres Tuns herausgestellt wird, nämlich „gerade das Wichtigste und Bezeichnendste herauszuheben“ (so Sperber 1926, 129). In der konkreten Textarbeit kommt dieses absolut Wichtigste allerdings so gut wie nie vor. Wichtig, bedeutend, bedeutsam, bezeichnend usw. wird nur ganz selten als einziger und alleiniger Prädikatsausdruck verwendet. Stattdessen haben wir historische Aussagen in Form von Sätzen wie (1) und (5), in denen wichtig Teil einer hierarchischen attributiven Struktur ist. Ich möchte zunächst den Satzgliedstatus der präpositionalen Nominalgruppe untersuchen: (1) Diese „Malbergischen Glossen“ bilden wegen ihrer Altertümlichkeit eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte, deren Ausnützung leider dadurch erschwert wird, dass das deutsche Wortmaterial durch romanische Schreiber stark entstellt wurde. (Sperber 1926, 39.) (2) atürlich hat bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung der große Krieg, der Unmengen von fremden Truppen ins Land brachte, einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt, vor allem dadurch, dass er den ursprünglich nur in den höheren Kreisen der Gesellschaft heimischen Fremdwörtern bis tief in die unteren Volksschichten hinein Eingang verschaffte. (Sperber 1926, 102.) (3) Ein unmittelbar wirksamer Anstoß für den Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre war – nach folgenlosen Versuchen weniger anderer an anderen Universitäten seit Paracelsus – der spektakulär inszenierte Sprachenwechsel des Leipziger Privatdozenten Christian Thomasius im Jahre 1687. (v. Polenz II, 1994, 55.) (4) Die indogermanische Betonung ist für unsern ganzen Sprachstamm eine der wichtigsten Einzelentdeckungen. [...] Jede Tonstellung und Tonverschiebung muss immer Sprachveränderungen nach sich ziehen. Die Mehrzahl der idg. Sprachen hat durch Tonverschiebung viele wesentliche Umformungen erfahren. Die neuere Forschung erschließt durch vergleichende Arbeit auch in dieser Richtung den vielfach verlassenen Urzustand. (Kluge 21925, 26.)
In Satz (1) ist der Satzgliedstatus der präpositionalen Nominalgruppe unproblematisch: Wir haben es hier offensichtlich mit einem Attribut zu tun, das „notwendig und konsti-
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tutiv [ist], weil [es] von der Valenz des Kern-Substantivs der Nominalgruppe abhängig ist“ (v. Polenz 1988, 258). So, wie man im Wald auf eine Quelle für die Tiere stoßen kann, so kann man im Archiv eine Quelle für die deutsche Sprachgeschichte finden. Die deutsche Sprachgeschichte ist hier ein Bezugsstellen-Ausdruck zum Prädikatsausdruck Quelle, genauso wie diese „Malbergischen Glossen“. Durch das präpositionale Attribut wird Quelle zu einem zweiwertigen Prädikatsausdruck. Von Polenz plädiert dafür, ein solches Attribut als syntaktisch notwendige (konstitutive) „Ergänzung“ zum Kern-Nomen, und eben nicht als „Attribut“ zu bezeichnen (ebd. 112). Wie auch immer man sich in dieser Frage verhält, die präpositionale Nominalgruppe für die deutsche Sprachgeschichte ist aufgrund der regulären Bildung mit für und des direkten Kontakts zum Nomen direkt abhängig von diesem Nomen Quelle (wie übrigens auch das Attribut wichtig, das mit seiner Flexion diese Abhängigkeit deutlich macht). In Satz (2) wird dann allerdings deutlich, wie prekär der Satzgliedstatus der präpositionalen Nominalgruppe sein kann: Dort ist zu lesen, der große Krieg (laut Überschrift: der Dreißigjährige Krieg) habe einen bedeutenden Einfluss bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung ausgeübt (gemeint ist hier im Grunde alles, was im 16. und 17. Jh. mit dem Anwachsen des französischen Einflusses zu tun hat). Der Satz ist, wie Satz (1), mit einem nominalen Prädikatsausdruck gebildet: die präpositionale Ergänzung des Funktionsverbgefüges, sofern es eine solche im Satz gibt, ist von der Valenz des Substantivs Einfluss abhängig und nicht vom Verb ausüben. In diesem Sinne wäre hier die Präposition auf zu erwarten. Es sollte also heißen, der große Krieg habe einen bedeutenden Einfluss auf diese ganze sprachliche Bewegung ausgeübt)13. Die Präposition bei, die der Autor stattdessen wählt, scheint mir nun nicht auf sprachliche Unbefangenheit zurückzuführen zu sein, aufgrund derer der Autor eine lapidare Mündlichkeit in Kauf nehmen würde. Vielmehr macht sich der Autor die Möglichkeiten einer „eher“ mündlichen, nämlich lockeren, unbestimmten Syntax zu eigen, um die spezifische satzsemantische Funktion der präpositionalen Nominalgruppe zu signalisieren. Die Nominalgruppe bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung ist nicht präpositionale Ergänzung zu einen Einfluss ausüben im Sinne der Valenz des Prädikatsausdrucks. Dagegen spricht auch das Tempus: Diese historische Aussage steht nicht im Präteritum; hier soll nicht erzählt werden, dass der Dreißigjährige Krieg einen [...] Einfluss auf diese ganze sprachliche Bewegung hatte. Die Aussage steht im Perfekt, nach Harald Weinrich (62001) in einem Tempus der besprochenen Welt. Außerdem steht die präpositionale Nominalgruppe nicht im Kontakt mit dem Prädikatsausdruck, sondern in Distanzstellung. Man neigt deshalb dazu, bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung als adverbiale Angabe zu bewerten. Allerdings handelt es sich um eine Angabe, die notwendig ist und nicht weggelassen werden kann, insofern man nicht sagen kann, dass etwas einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt hat; diese Aussage wäre unvollständig. 13
Vgl. einen Einfluss haben auf; einen Einfluss erzwingen auf, einen Einfluss verhindern auf etwas usw.
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Die Lesart, dass es sich bei der Nominalgruppe doch um eine Ergänzung handelt, ist also nicht ausgeschlossen. Man muss hier eine syntaktische Ambivalenz feststellen, die zunächst satzsemantisch aufzuklären ist. Noch etwas anders stellt sich die Syntax in der historischen Aussage von Satz (3) dar: (3) Ein unmittelbar wirksamer Anstoß für den Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre war – nach folgenlosen Versuchen weniger anderer an anderen Universitäten seit Paracelsus – der spektakulär inszenierte Sprachenwechsel des Leipziger Privatdozenten Christian Thomasius im Jahre 1687. (v. Polenz II, 1994, 55)
Wenn man die Valenz des substantivischen Prädikatsausdrucks Anstoß klären will, dann muss man sich fragen, inwiefern der syntaktische Anschluss hier überhaupt grammatikalisiert ist. Als Alternative zu für den Übergang vom Latein zum Deutsch [...] wäre ein verbaler (bspw. infinitivischer) Anschluss geeignet oder, im Rahmen des Nominalstils, ein Genitivattribut bzw. ein präpositionales Attribut mit zu. Es könnte also über den […] Sprachenwechsel […] gesagt werden, dass er ein unmittelbar wirksamer (= ein wichtiger) Anstoß des Übergangs vom Latein zum Deutsch […] / ein [...] Anstoß zum Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre gewesen wäre oder ein [...] Anstoß (dafür / dazu), vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre überzugehen / dass man vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre übergehen solle. Hier profitiert der Autor von einer beachtlichen syntaktischen Variabilität des Kern-Nomens. Er scheint sie stilistisch zu nutzen, der Ursprung der Entscheidung für die Präposition für ist allerdings in der gleichen Weise satzsemantisch zu bestimmen ist wie die für die Präposition bei in (2). Schließlich kommen wir zu Satz (4) mit der den heutigen Leser auch syntaktisch befremdenden Aussage: Die indogermanische Betonung ist für unsern ganzen Sprachstamm eine der wichtigsten Einzelentdeckungen. Wegen ihrer Distanz zum Kern-Nomen Einzelentdeckung ist die präpositionale Nominalgruppe wie in (2) als adverbiale Angabe zu bewerten, allerdings wie in (2) nur unter der Voraussetzung, dass die attributive Lesart nicht ganz ausgeschlossen werden kann: Eine Entdeckung kann im Sinne der Valenz durchaus eine Entdeckung für, beispielsweise, eine Person sein oder für eine Gruppe von Personen oder für einen die Gruppe definierenden Wert. Geht man der Deutung als adverbiale Angabe nach, dann müsste diese als ein Zusatz zur ganzen Aussage semantisch expliziert werden können, etwa als modaler, spezifizierender oder metakommunikativer Zusatz (v. Polenz 1988, 253 f.). Mir scheint nun diese präpositionale Nominalgruppe in Satz (2) und (4) ein metakommunikativer Zusatz zu sein, den man zunächst einmal textpragmatisch als Verfahren der Kohärenzbildung erläutern kann. Dazu gehe ich zurück zu Satz (2): (2) $atürlich hat bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung der große Krieg, der Unmengen von fremden Truppen ins Land brachte, einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt, vor allem dadurch, dass [...]. (Sperber 1926, 102.)
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Im Rahmen des linearen Textaufbaus hat die Nominalgruppe bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung am Beginn des Teilkapitels über den Dreißigjährigen Krieg eine klare textpragmatische Funktion: Der ganze Satz ist mit diesem anaphorischen Ausdruck in einem Maße rückbezüglich, wie es von einer Schulstilistik für einen Kapitelbeginn nicht empfohlen werden würde. Das liegt an dem anaphorischen Artikelwort diese, aber mehr noch an der lexikalischen Gestaltung der anderen Teile der Nominalgruppe: sprachliche Bewegung ist semantisch vage, kann sich deshalb auf vieles rückbeziehen und hat offenbar gar keine andere Funktion als den Rückbezug. Durch die Attribuierung mit ganze wird diese Funktion nochmals verstärkt. Meine Hypothese bezüglich der satzsemantischen Funktion der Nominalgruppe lautet deshalb: Es handelt sich um eine komprimiert formulierte perspektivierende Zusatzaussage, die mit der folgenden satzsemantischen Umformulierung ausgedrückt werden kann: Wenn es uns (hier) darum gehen soll, diese ganze sprachliche Bewegung (nochmals) in den Blick zu nehmen, dann muss man natürlich sagen, dass der große [der Dreißigjährige] Krieg dabei einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt hat. Die Funktionalität dieser metakommunikativen Zusatzaussage liegt in der Perspektivierung der Ereignisdarstellung. Der Autor benennt damit diejenige Perspektive, unter der er das Ereignis der große (der Dreißigjährige) Krieg behandeln will, bzw. den Zusammenhang, in den er das Ereignis einordnen will. Auch die Nominalgruppe in (4) ist rückbezüglich. Bei Kluge (21925) ist (im Kapitel „Die indogermanische Sprachgemeinschaft“) mehrfach von unserm Sprachstamm die Rede. Im Rahmen der historischen Aussage interpretiert er die idg. Betonung unter diesem Gesichtspunkt, so wie er in anderen historischen Aussagen (im gleichen Kapitel!) andere Sachverhalte unter dem Gesichtspunkt des Deutschen (der deutschen Sprache) darstellt. Die satzsemantische Umschreibung für (4) lautet: Wenn wir (hier, jetzt, nun – wie auch an anderen Stellen schon) etwas über unsern ganzen Sprachstamm sagen wollen/wenn wir uns (hier, jetzt, nun) unserm ganzen Sprachstamm zuwenden wollen, dann können wir sagen, dass die indogermanische Betonung eine der wichtigsten Einzelentdeckungen dafür ist, bzw. dann ist die indogermanische Betonung eine der wichtigsten Einzelentdeckungen dafür. Auch hier wird das syntaktische Verfahren der Perspektivierung und Kontextualisierung zur textuellen Kohärenzbildung genutzt, dieses Mal nicht mit einer durchgehenden Perspektive, sondern mit unterschiedlichen Perspektiven. Eine analoge Lesart weisen die Sätze (3) und (1) auf. Die genannte satzsemantische Paraphrasierung ist hier zwar nicht notwendig, aber immerhin möglich: Wenn es uns (hier) darum gehen soll, den Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre (nochmals) in den Blick zu nehmen, dann war der spektakulär inszenierte Sprachenwechsel […] ein unmittelbar wirksamer Anstoß dafür.14 Man muss sagen, dass diese „Malbergischen Glossen“ [...], wenn wir sie mit Blick auf die deutsche Sprach14
Von Polenz (II, 1994) nimmt hier explizit Bezug auf den vorausgehenden Textabschnitt (Der Übergang vom Gelehrtenlatein zum Deutsch als Wissenschaftssprache war mühsam und langwierig, ebd. 54).
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geschichte bewerten wollen, eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte bilden. In Beispiel (1) ist die präpositionale Nominalgruppe im unmittelbaren Textzusammenhang überhaupt nicht rückbezüglich. Man könnte sagen, sie nimmt den Titel des ganzen Textes wieder auf. Viel interessanter als dieser kohärenzstiftende Aspekt scheint mir allerdings zu sein, dass Sperber (1926) bei der Darstellung der Vor- und Frühgeschichte des Deutschen die überlieferten Dokumente (z. B. die Malbergischen Glossen) ausdrücklich daraufhin auswertet, was sie für die deutsche Sprachgeschichte (für die wissenschaftliche Arbeit und ihr Erkenntnisobjekt) erbringen können. Bei der Darstellung späterer Epochen ist das nicht mehr der Fall.15 Zusammenfassend: Die präpositionale Nominalgruppe in der historischen Aussage zeigt, dass die Sprachhistoriker eine lockere und mindestens zweideutige nominale Syntax pflegen. Der Satzgliedstatus der präpositionalen Nominalgruppe changiert: Sie kann einerseits als (mehr oder weniger) konstitutives Attribut zum Kern-Nomen der Aussage gewertet werden, andererseits als adverbiale Angabe mit der Funktion eines metakommunikativen Kommentars (v. Polenz 1988, 254). Die wichtigsten Argumente dafür sind die prinzipiell recht freie Stellung der präpositionalen Nominalgruppe im Satz sowie der präpositionale Anschluss selbst (die gewählte Präposition). Im Grunde wird keine dieser beiden syntaktischen Lesarten ganz und gar ausgeschlossen. Aus dieser syntaktischen Zweideutigkeit ergibt sich, dass in der satzsemantischen Umschreibung (also in einer Umschreibung, die die Aussagenstruktur des Satzes deutlich machen soll) eine Verdoppelung der präpositionalen Nominalphrase erfolgen muss. Insofern ist es für die Satzsemantik unerheblich, ob in (1) steht, diese „Malbergischen Glossen“ bilden [...] eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte, oder ob dort steht, diese „Malbergischen Glossen“ bilden [...] für die deutsche Sprachgeschichte eine wichtige Quelle“ oder sogar Für die deutsche Sprachgeschichte bilden diese „Malbergischen Glossen“ eine wichtige Quelle. In einem Text der hier untersuchten Textsorte soll immer verstanden werden: ›Man muss sagen, dass diese „Malbergischen Glossen“ [...], wenn wir sie mit Blick auf die deutsche Sprachgeschichte bewerten wollen, eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte bilden.‹ Und auch mit Blick auf (5) (Ein zweiter, für die Sprachstruktur viel wichtigerer Vorgang war der germanische Akzentwandel) wäre die alternative Formulierung möglich: Ein zweiter, viel wichtigerer Vorgang für die Sprachstruktur war der germanische Akzentwandel. In jedem Falle drücken die von den Autoren favorisierten Präpositionen für und bei eine Perspektivierung aus. Man bekommt den Eindruck, die Autoren hätten die Variationsmöglichkeiten, die ihnen bei der Wahl der Präposition grundsätzlich zur Verfügung stehen, manipuliert. So ergibt sich der Eindruck einer unbestimmten Syntax, die die perspektivierende Zusatzprädikation anzeigt.
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Damit ist Sperber (1926) selbstverständlich nicht allein.
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3.3. Satzsemantik der historischen Aussage Mit diesen einführenden Überlegungen ist aber die semantische und auch pragmatische Komplexität der historischen Aussage noch nicht bewältigt. Wenn man die lockere Syntax in der historischen Aussage erklären will, dann muss man auf die Funktion von wichtig zu sprechen kommen. Auch wenn sein syntaktischer Wert unumstritten ist (siehe oben), so ist es doch von der veruneindeutigenden Manipulation der Syntax betroffen. Es ist, wie die präpositionale Nominalgruppe, mehrfach funktional. Es hat mindestens zwei prädikative Funktionen, und beide Funktionen sind aufs Engste mit der genannten Perspektivierung der ganzen Aussage verquickt. Meine Hypothese einer ersten prädikativen Funktion lautet, zunächst bezüglich (4): Über die indogermanische Betonung wird auch deswegen gesagt, sie sei für unsern ganzen Sprachstamm eine der wichtigsten Einzelentdeckungen, weil damit gesagt sein soll: die indogermanische Betonung ist wichtig für unsern ganzen Sprachstamm. In (2) heißt es, bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung habe der große Krieg einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt, weil gesagt sein soll: Der große Krieg war von großer Bedeutung bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung. (3) Der spektakulär inszenierte Sprachenwechsel […] wird deswegen als unmittelbar wirksamer Anstoß für den Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre bezeichnet, weil mitverstanden werden soll: Der spektakulär inszenierte Sprachenwechsel […] war wichtig / bedeutend für den Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre. Und schließlich mitversteht man ohne Probleme auch bei der Formulierung in (1) diese „Malbergischen Glossen“ bilden [...] eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte, sie seien wichtig für die deutsche Sprachgeschichte. Die von den Autoren favorisierten Präpositionen für und bei sowie der ambivalente Satzgliedstatus der von ihnen eingeführten Nominalgruppe findet auch in dieser mitzuverstehenden Aussage eine Erklärung. Die oben genannte satzsemantische Paraphrasierung kann deshalb präzisiert werden: Wenn es uns (hier) darum gehen soll, diese ganze sprachliche Bewegung (nochmals) in den Blick zu nehmen, dann muss man (natürlich) sagen, dass der große Krieg von großer Bedeutung bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung war […]. Man muss sagen, dass diese „Malbergischen Glossen“ [...], wenn wir sie mit Blick auf die deutsche Sprachgeschichte bewerten wollen, wichtig dafür waren […]. Wichtig/bedeutend usw. ist also, unabhängig von seiner syntaktischen Realisierung, auf satzsemantischer Ebene ein eigenständiges zweistelliges Prädikat. In der historischen Aussage ist immer mitgesagt: Ein Ereignis/eine Person/ein Dokument war bzw. ist wichtig/bedeutend/bezeichnend usw. für oder bei etwas.16 Der mit für oder bei einge16
Nach dem Muster von Peter von Polenz kann man diesen Prädikationstyp satzsemantisch formalisiert ausdrücken als wichtig(x, y), zu lesen als: Über x (ein Ereignis/ein Dokument/eine Person/ein Sachverhalt) und y (die perspektivierende Größe) wird das Prädikat wichtig ausgesagt (v. Polenz 1988, 80). Dieser Prädikationstyp wird zuweilen auch explizit ausgeführt, z. B. in „Die Durchführung der germ. Akzentverschiebung ist offenbar von größter Wichtigkeit für die Entstehung jener
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leitete zweite Bezugsstellen-Ausdruck gibt diejenige Größe an, die in den Blick genommen werden muss, wenn man über das Ereignis/die Person/das Dokument sagen will, es sei wichtig; und diese Größe stimmt mit der im metasprachlichen Kommentar genannten, die ganze Aussage perspektivierenden Größe überein. Die mitzuverstehende Prädikation, ein Ereignis/eine Person/ein Dokument war bzw. ist wichtig/bedeutend/bezeichnend usw. für oder bei etwas, strukturiert dann alles Weitere, denn sie ist eine inhaltlich leere Aussage, die im unmittelbaren Kontext erläutert werden muss. Diese Erläuterung erfolgt im Kern-Nomen der ganzen Wortgruppe; hier wird die geschichtliche Wirksamkeit des historischen Sachverhalts schlagwortartig auf einen Begriff gebracht. Die Paraphrasierung muss deshalb ergänzt werden: Wenn es uns (hier) darum gehen soll, diese ganze sprachliche Bewegung (nochmals) in den Blick zu nehmen, dann muss man (natürlich) sagen, dass der große Krieg von großer Bedeutung bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung gewesen ist, insofern er dabei einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt hat. Wenn es uns (hier) darum gehen soll, unsern ganzen Sprachstamm in den Blick zu nehmen, dann kann man sagen, dass die indogermanische Betonung äußerst wichtig dafür ist, insofern sie eine der wichtigsten Einzelentdeckungen dafür ist. Wir haben also, neben dem metasprachlichen Kommentar, hier eine Nebenordnung von zwei (nicht syntaktisch, aber satzsemantisch) gleichberechtigten Aussagen, von denen die eine die andere erläutert.17 Die wesentliche semantische Funktion der zweiten Aussage ist es, eine geschichtliche Interpretation des historischen Sachverhalts zu liefern. Dies gelingt (mit Einschränkungen) in den Sätzen (1) bis (4), nicht aber in (5). Die Aussage Ein zweiter, für die Sprachstruktur viel wichtigerer Vorgang war der germanische Akzentwandel kann man nicht umformulieren zu Der germanische Akzentwandel war wichtig für die Sprachstruktur, insofern er ein Vorgang dafür war. Weder wird mit der zweiten Aussage die erste Aussage erläutert noch bekommt der Sachverhalt der germanische Akzentwandel damit eine geschichtliche Interpretation. Dies wird erst durch das Folgende gewährleistet: Der germanische Akzentwandel war wichtig für die Sprachstruktur (= für die Sprachstruktur [...] der germanischen Sprachen), insofern er durch seine Folgen zu einem Wesensmerkmal der [der Sprachstruktur der] germanischen Sprachen geworden ist. Satz (5) ist also, unter semantischem Gesichtspunkt, keine historische Aussage. Sie ist eine pseudo-historische Aussage, weil ihr prädikatives Kern-Nomen Vorgang die semantischen Anforderungen des prädikativen Kern-Substantivs der historischen Aussage nicht erfüllt.
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Kunstform, die uns bei allen germanischen Stämmen begegnet [...]: des Alliterationsstils“ (Sperber 1926, 18) oder in „Zwei Wirkungen der Hallensischen Lehranstalten sind hervorzuheben: Für die Regelung der dt. Orthographie war ihre Tätigkeit von großer Bedeutung [...] (v. Polenz 1978, 112). Eine Nebensache bei dieser satzsemantischen Analyse bleibt, dass der Autor auf der Ebene der expliziten Aussage auch explizite Erläuterungen und Übersetzungen dazu liefert, inwiefern die Quelle an sich wichtig ist: wegen ihrer Altertümlichkeit.
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Um diese Anforderungen zu klären, muss man sich der Pragmatik der historischen Aussage zuwenden. Die Aussage, etwas sei wichtig für etwas anderes, ist eine Behauptung, die (mit der zweiten Aussage) gerechtfertigt werden muss. Ich würde sogar sagen, diese Aussage ist ein indirekter deklarativer Sprechakt. Sie bildet eine versachlichte Variante des Sprechakts: Ich erkläre (mit Blick auf eine „höhere“ Perspektive, mit Blick auf eine weiter gefasste Größe allgemeineren Interesses) einen bestimmten historischen Sachverhalt für bedeutend und wichtig. Mit dem einigermaßen unscheinbaren Attribut wichtig und seinen Ausdrucksvarianten wird dem angesprochenen Sachverhalt eine Relevanz zugesprochen, die er vor dem Sprechakt nicht hatte. (So kann man verstehen, dass dieser Sprechakt im Rahmen der Textbildung häufig dazu genutzt wird, einen historischen Sachverhalt in den Text einzuführen, ihn also zu thematisieren, z. B. in (2) und (3)18). Autorität und institutionelle Normativität (die Autorität des Sprachhistorikers und die Einbindung der Sprachgeschichten in die schulische bzw. universitäre Ausbildung) sichern diesen deklarativen Sprechakt ab. Nichtsdestoweniger enthält die vollständige Relevanzdeklaration zusätzlich immer auch eine Stützung, eine Rechtfertigung, eine Plausibilisierung ihrer selbst. Die Erläuterung und Übersetzung der Aussage, etwas sei wichtig für etwas anderes, ist also pragmatisch gesehen eine Angabe der Bedingungen, unter denen der deklarative Sprechakt vollzogen wird. Sie muss effektiv sein: knapp und überzeugend, sogar feierlich. Damit ist gesagt: Die Semantik des Kern-Substantivs der prädikativen Nominalgruppe muss die pragmatische Potenz haben, die Wichtigkeits-Behauptung zu rechtfertigen, die Thematisierung des jeweiligen Sachverhalts im Text zu plausibilisieren und in diesem Sinne die normative Relevanz-Deklaration feierlich zu vervollständigen. Die Beispiele zeigen, dass dazu gerne solche Substantive genutzt werden, die einen Anschluss mit für oder bei ermöglichen: Diese Substantive können nämlich bedeuten, dass die vom historischen Sachverhalt entfaltete geschichtliche Wirksamkeit der übergeordneten perspektivierenden Größe zugute gekommen ist. Das prädikative Kern-Substantiv in der historischen Aussage muss in irgendeiner (syntaktischen) Weise ein Benefaktiv geschichtlicher Wirksamkeit mit sich bringen. Mit dem Ausdruck Benefaktiv beziehe ich mich auf die gleichlautende Kategorie der Satzsemantik bei Peter von Polenz (1988, 171), die ich allerdings textsortenspezifisch definiere. Das Benefaktiv ist dort eine semantische Rolle in der einfachen Prädikation und regelhaft verbunden mit einem Handlungsprädikat, welches aussagt, dass jemand (ein Agens) jemandem (dem Benefaktiv) einen Vorteil verschafft. Von Polenz (1988, 171) definiert es als „Person, 18
Die Thematisierung kann man mit folgenden Paraphrasen verdeutlichen: (2) Wenn es uns (hier) darum gehen soll, diese ganze sprachliche Bewegung nochmals in den Blick zu nehmen, dann muss man (natürlich) über den großen Krieg reden, der von großer Bedeutung bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung war […]. (3) Wenn wir uns hier nochmals dem Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre zuwenden wollen, dann müssen wir über den Leipziger Privatdozenten Christian Thomasius reden, der im Jahre 1687 [...].
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zu deren Nutzen/Vorteil oder Schaden/Nachteil eine Handlung ausgeführt wird“. Die idealtypische Aussage mit Benefaktiv lautet also: Jemand nützt jemandem/jemand schadet jemandem, indem er eine bestimmte Handlung ausführt. Ich erweitere diese Aussage: Etwas (ein historisches Dokument/ein historischer Sachverhalt/eine historische Person oder ein historisches Ereignis) nützt/schadet einer übergeordneten Größe, indem er/ sie/es eine bestimmte geschichtliche Wirksamkeit (in einem Vorgang oder in einer Handlung oder als Exemplar irgendeiner Gattung) entfaltet/entfaltete/entfaltet hat.19 Die Präpositionen für und bei haben die Funktion zu signalisieren, dass die von ihnen eingeleitete, die Darstellung des historischen Sachverhalts perspektivierende Größe (die deutsche Sprachgeschichte, diese ganze sprachliche Bewegung, der Übergang [...], unser ganzer Sprachstamm), für die der jeweilige historische Sachverhalt wichtig ist/war, zu einem Benefaktiv von dessen geschichtlicher Wirksamkeit (als Quelle, als Einfluss, als Anstoß, als Einzelentdeckung) geworden ist. Einem historischen Sachverhalt Bedeutung zuzuschreiben heißt immer, einer übergeordneten Größe einen geschichtlichen Nutzen (im weitesten Sinne) gutzuschreiben. (1) Die Malbergischen Glossen bilden demnach eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte in dem Sinne, dass sie eine wichtige Quelle bilden, die für die deutsche Sprachgeschichte genutzt werden kann/nützlich ist für die deutsche Sprachgeschichte. (4) Die indogermanische Betonung ist für unsern ganzen Sprachstamm eine der wichtigsten Einzelentdeckungen in dem Sinne, dass sie eine (Einzel-)Entdeckung ist, die unserm ganzen Sprachstamm zugute kommt. Ich komme zur abschließenden Paraphrasierung der historischen Aussagen: (1) Man muss über diese „Malbergischen Glossen“ sagen, wenn man sie mit Blick auf die deutsche Sprachgeschichte bewerten will, dass sie wichtig dafür waren, insofern sie eine Quelle bilden, die von den Sprachhistorikern zur Erforschung der deutschen Sprachgeschichte (im Rahmen des Wissenschaftsbetriebs) genutzt werden kann, die also der deutschen Sprachge-
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Bei Peter von Polenz selbst zeigt sich die Problematik einer schlüssigen Klassifizierung der semantischen Rollen: Als Prädikate des Begünstigens bzw. Schädigens verstehe ich beispielsweise Varianten von geben und nehmen. Das Benefaktiv ist in meiner Interpretation dieser Rolle zunächst eine Person, der ein materieller Vor- oder Nachteil verschafft wird durch jemanden. Der materielle Nutzen oder Schaden, der dabei jemandem zuteil wird, wird – laut v. Polenz – in einem Bezugsausdruck mit der Rolle des Additiv/des Hinzugefügten bzw. des Privativ/des Entfernten ausgedrückt. Bei v. Polenz erstrecken sich diese beiden semantischen Rollen, die ja deutlich mit der Rolle des Benefaktiv zusammenhängen, allerdings auf weit mehr Prädikationen als nur auf die idealtypischen Aussagen: „Jemand gibt jemandem etwas − zu dessen Vor- oder Nachteil/jemand nimmt jemandem etwas − zu dessen Vor- oder Nachteil.“ Das Additiv ist ihm zufolge „etwas, das bei einer Handlung zu einer Person oder Sache hin bewegt wird, sodass es danach in einer Teil-, Besitz- oder Verfügungsbeziehung dazu steht“ (v. Polenz 1988, 171). Die semantische Rolle des Benefaktiv kann also in diesem Aussagetyp auch durch eine Sache ausgefüllt werden. Das Privativ wird sogar noch weiter definiert als „etwas, das bei einer Handlung oder einem Vorgang aus einer Teil-, Besitz- oder Verfügungsbeziehung zu einer Person oder Sache entfernt wird“ (ebd.). Ein Benefaktiv kann hier also ebenso eine Person oder Sache sein und kann im Zusammenhang nicht nur mit Handlungs-, sondern auch mit Vorgangsprädikaten auftreten.
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schichte zugute kommt; eine Quelle zumal, die eine hohe Altertümlichkeit aufweist / die sehr alt ist. (2) Natürlich muss man, wenn man sich hier nochmals dieser ganzen sprachlichen Bewegung (= dem Anwachsen des französischen Einflusses) zuwenden will, über den großen Krieg reden, der bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung von großer Bedeutung war, insofern er dabei einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt hat, will sagen: insofern er Unmengen von fremden Truppen ins Land brachte und dadurch den ursprünglich nur in den höheren Kreisen der Gesellschaft heimischen Fremdwörtern bis tief in die unteren Volksschichten hinein Eingang verschaffte. Das alles war bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung insofern von Nutzen, als dass […sie dadurch gestärkt wurde/eine größere soziale Basis erlangte?]. (3) Wenn wir uns hier nochmals dem Übergang vom Latein zum Deutsch in der Universitätslehre zuwenden wollen, dann müssen wir über den Leipziger Privatdozenten Christian Thomasius reden, der im Jahre 1687, indem er die Sprache wechselte und dies so inszenierte, dass er spektakuläres Aufsehen erlangte, für diesen Übergang wichtig geworden ist, insofern er anderen einen (unmittelbar wirksamen) Anstoß dafür gab, ebenfalls vom Latein zum Deutsch überzugehen, insofern er also mit unmittelbarer Wirksamkeit etwas für diesen Übergang getan hat. (4) Wenn wir uns hier unserm ganzen Sprachstamm zuwenden wollen, dann müssen wir sagen, dass die indogermanische Betonung dafür äußerst wichtig ist, insofern sie eine der wichtigsten Einzelentdeckungen dafür ist, d.h. insofern sie ein Entdeckung ist, die – zusammen mit anderen Entdeckungen − unserm ganzen Sprachstamm zugute kommt [insofern die Mehrzahl der idg. Sprachen durch Tonverschiebung viele wesentliche Umformungen erfahren hat und die neuere Forschung durch vergleichende Arbeit auch in dieser Richtung den vielfach verlassenen Urzustand (dieser idg. Sprachen) erschließt?]. (5) Wenn wir uns hier ein weiteres Mal der Sprachstruktur zuwenden wollen, dann müssen wir über einen dafür viel wichtigeren Vorgang reden, über den germanischen Akzentwandel. Darüber ist zu sagen, dass er, trotz einiger Parallelen im Italischen und Keltischen für die (Struktur der) germanischen Sprachen wichtig geworden ist, insofern er durch seine Folgen zu einem Wesensmerkmal dieser Sprachen geworden ist und ihnen dadurch zugute gekommen ist.
Beim Abgleich dieser Formulierungen mit den obigen Aussagen fällt dann natürlich auf, dass nicht nur der markierte Satz (5) pseudo-historisch ist, sondern in einer gewissen Weise auch die Markierung in Satz (2). Man kann schlecht umformulieren: Wenn es uns (hier) darum gehen soll, diese ganze sprachliche Bewegung (nochmals) in den Blick zu nehmen, dann muss man (natürlich) sagen, dass der große Krieg von großer Bedeutung bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung war, insofern er dabei einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt hat, der dieser sprachlichen Bewegung zugute gekommen ist. Einfluss kann, muss aber nicht positiv konnotiert sein. Es ist gewissermaßen ein historisches „Plastikwort“ (von denen es mehrere gibt). Ob man solche Sätze mit Einfluss oder anderen „Plastikwörtern“ als historische oder pseudo-historische Aussage bewertet, hängt vom Kotext ab, also davon, ob die Stützung des deklarativen Sprechakts in den folgenden Aussagen „nachgereicht“ wird. Dies ist der Fall in (5): Dort bringt der zweite Satz zum Ausdruck, dass die Sprachstruktur der germanischen Sprachen mit dem germanischen Akzentwandel ein Wesensmerkmal bekommen hat. Erst diese Erläuterung macht die Textpassage zu einer historischen Aussage, nicht schon das Substantiv Vorgang (das die erforderliche positive Konnotation nicht hat und kein Be-
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nefaktiv als Ergänzung mit sich bringen kann), sondern das folgende interpretierende Substantiv Wesensmerkmal. In Satz (2) und (5) wird deutlich, dass es offenbar einen textpragmatischen Zwang zur Bildung historischer Aussagen gibt. Dabei können im Textverlauf zunächst pseudo-historische Aussagen angeboten werden, die dann aber im Folgetext so ergänzt werden, dass – nach einer gewissen Zeit − doch noch eine historische Aussage zu erkennen ist. Das Prinzip, historische Aussagen zu bilden, bleibt also auf der Ebene des ganzen Textes wirksam. Auch der Umkehrschluss ist möglich: Falls der Autor einer Sprachgeschichte mit expliziten komplexen historischen Aussagen geizt, dann muss das nicht heißen, dass er auf ihre perspektivierenden, deklarativen und interpretierenden Elemente verzichtet. In einem solchen Fall muss man diese Elemente in einer anderen Verkleidung suchen; und sollte man sie tatsächlich nicht finden, dann – ist es keine Sprachgeschichte. Zusammenfassend: Die historische Aussage umfasst drei (bis vier) Teilaussagen, anhand des Beispiels (1): 1. Wir wollen uns der deutschen Sprachgeschichte zuwenden. 2. Dafür/für die deutsche Sprachgeschichte sind diese Malbergischen Glossen wichtig. 3. Sie sind ein Dokument für die deutsche Sprachgeschichte, d. h. ein Dokument, von der die deutsche Sprachgeschichte profitiert, und zwar in der Weise, in der etwas von einer Quelle profitiert, d. h.: Sie sind eine Quelle für die deutsche Sprachgeschichte. 4. (Die geschichtliche Wirksamkeit der Malbergischen Glossen ist gesteigert, insofern sie keine beliebige Quelle, sondern eine besonders alte Quelle ist.)
Bei 1. handelt es sich um eine Zusatzprädikation (um einen perspektivierenden metasprachlichen Kommentar)20, bei 2. und 3. um Hauptprädikationen. Die Hauptprädikationen werden, wie die Zusatzprädikation, vor allem durch die präpositionale Nominalgruppe mit den favorisierten Präpositionen für und bei ausgedrückt. Mit meiner Analyse der Satzsemantik der historischen Aussage verbinde ich die Überzeugung, dass ihr Nominalstil wie der Nominalstil der Sprachgeschichten überhaupt nicht etwa vermeintlichen Erfordernissen der Sprachökonomie oder bloßen stilistischen Usancen geschuldet, sondern dass er in einem anderen Sinne textsortenspezifisch ist: Er dient dazu, mehrere aufeinander bezogene Handlungen miteinander zu verschränken, allerdings nicht mit einer präzisen Absicht, sondern im Zusammenspiel mehrerer unterschiedlicher Absichten und Bedingtheiten, widerstrebender Hoffnungen und Befürchtungen. Dafür spricht etwa die erstaunliche Tempusvariabilität, die in den Kontext der „lockeren“ Syntax gehört: Die historische Aussage kann in einem Tempus der besprochenen Welt (Präsens und Perfekt) abgefasst sein und ebenso gut in einem Tempus der erzählten Welt (Präteritum). Zur Paraphrasierung einer historischen Aussage braucht man in jedem Fall ein Tempus des Besprechens, oft ergänzt durch ein Tempus des Erzählens21. Deshalb denke ich, die Autoren „wollen“ beides: Wenn es dem Autor bei20 21
Mit Attributen werden oft „Zusatzprädikationen“ gemacht (v. Polenz 1988, 90; 105 und 247 ff.). Auch wenn die historische Aussage in ihre einzelnen Elemente zerlegt und auf mehrere Sätze bzw. Teilsätze verteilt wird, dann harmonieren Tempora des Besprechens und Tempora des Erzählens
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spielsweise darum geht, diese ganze sprachliche Bewegung (i. e. das Anwachsen des französischen Einflusses) – hier und jetzt − nochmals in den Blick zu nehmen, und er natürlich sagen muss, dass der große [der Dreißigjährige] Krieg bei dieser ganzen sprachlichen Bewegung einen sehr bedeutenden Einfluss ausgeübt hat, insofern er nämlich Unmengen von fremden Truppen ins Land brachte, dann erzählt und bespricht er quasi gleichzeitig. Sperber legt sich nicht fest: er hat die Befürchtung, dass sich der Leser etwas erzählen lassen will, obwohl er selbst den Sachverhalt lieber besprechen möchte. Er hat die Hoffnung, dass der Leser sich zu einer Besprechung hinreißen lässt, obwohl er doch eine Erzählung erwartet. Oder er erzählt anstatt zu besprechen, obwohl ihm die gespannte Haltung des Lesers (wie seine eigene) durchaus bewusst ist. Die Autoren nehmen eine ganz unbestimmte Haltung zu dem ein, was sie in der historischen Aussage tun und tun wollen. Dies ist ein textsortentypisches Kennzeichen der Sprachgeschichten, das sich aber in der vagen Syntax und den verschiedenen semantischen Lesarten der historischen Aussage viel deutlicher zeigt als in vielen anderen Aussagen. In diesem Sinne hat die historische Aussage eine sehr komplexe Funktionalität, die sich nicht durch die Formulierung einer Autorintention erfassen lässt. Sie ist Zeichen für einen semiotischen Prozess, den sich die Autoren gar nicht intentional aussuchen können, weil es einen textsortenspezifischen Zwang dazu gibt. (Diesem Zwang kann man zwar ausweichen, damit bestätigt man ihn aber ex negativo; außer Kraft setzen kann man ihn nicht.) Die historische Aussage kann zur kommunikativen Beeinflussung genutzt werden, ihre Struktur und ihre Rolle im Textganzen wird aber, weder im Allgemeinen noch im Besonderen, durch eine spezifische kommunikative Intention (vollständig) erklärt. Vielmehr treibt der in der historischen Aussage fassbare textsortenspezifische Sprachgebrauch die Erkenntnis voran und gibt eine Struktur vor, innerhalb derer intentional und kommunikativ gehandelt werden kann. Aber unter Umständen hat ein Autor einfach „nicht genug Kraft, seiner Vernunft ganz zu folgen“ (siehe oben) und die nebenbei ausgedrückten Perspektivierungen sich und dem Leser deutlicher ins Bewusstsein zu heben oder einfach durch andere zu ersetzen.
4. Semiotik der historischen Aussage 4.1. Charles Sanders Peirce: Gedankenzeichen Ich will in die Peirce’sche Theorie der Zeichenbeziehungen einführen, indem ich seine Erläuterungen zum Prozess des Denkens wiedergebe und einige erkenntniskritische Implikationen derselben nenne. Das Modell vom Gedankenzeichen zeigt die Pointe des problemlos miteinander. Von diesem Befund ist die These Harald Weinrichs betroffen, nach der „in der überwiegenden Mehrzahl der mündlichen oder schriftlichen Texte der deutschen Sprache“ und in jedem inhaltlich konsistenten Textabschnitt eine Tempusgruppe (des Besprechens oder Erzählens) dominiert (Weinrich 1964; 62001, 30ff.).
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triadischen Zeichenmodells sehr viel deutlicher als das von anderen Zeichentheoretikern in der Regel rezipierte semiotische Dreieck. Peirce vertritt nicht einfach eine Variante der Vorstellung, dass ein Zeichen (z. B. ein Wort) nicht direkt für einen (exophorisch nachweisbaren) Gegenstand stehen kann, sondern sich zunächst auf einen Begriffsinhalt bezieht (z. B. bei Trabant 1976, 23). Er hat eine Theorie darüber, in welche Beziehungen Zeichen mit Zeichen geraten, und das kommt in dem landläufig rezipierten semiotischen Dreieck überhaupt nicht zum Ausdruck. Laut Peirce haben Gedanken nicht per se eine Semantik. Sie haben eine Semantik, die über den jeweiligen Einzelgedanken hinausweist, insofern Gedanken nur als assoziative Kette im Zeitverlauf existieren und „das Denken nicht in einem Zeitpunkt zustande kommen kann“ (Peirce 1868a; 1967, 175 [5.253]). „In der unmittelbaren Gegenwart“ gibt es keinen Gedanken, Gedanken folgen in der Zeit aufeinander − und dieses „Axiom“ kann man semiotisch ausdrücken: Jeder Gedanke muss durch einen folgenden Gedanken interpretiert werden. Da die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Interpretation eine Funktionseigenschaft von Zeichen ist, sind Gedanken Gedankenzeichen. Die Frage, „ob wir ohne Zeichen denken können“ verneint er: „Da jeder Gedanke durch einen anderen interpretiert werden muss“, geschieht „alles Denken in Zeichen“ (ebd.). „Wenn nach irgendeinem Gedanken der Strom der Ideen weiterfließt, folgt er dem Gesetz der geistigen Assoziation. In diesem Fall gibt jeder frühere Gedanke dem Gedanken, der ihm folgt, etwas zu verstehen, d. h. er ist für den letzteren das Zeichen von etwas“ (Peirce 1868b; 1967, 199 [5.284]).
Dass Peirce die Interpretierbarkeit des Zeichens als primäres semiotisches Kriterium anerkennt, unterscheidet ihn von der traditionellen Theorie des Aliquid-stat-pro-aliquo. Das Gedankenzeichen ist primär nicht ein Zeichen, das stellvertretend für etwas anderes steht, sondern ein Zeichen, das den Anlass gibt für einen weiteren Gedanken. Es ist Anlass für eine Operation des Denkens, aus der der folgende Gedanke hervorgeht. Ohne den früheren Gedanken (das Gedankenzeichen) könnte der spätere nicht entstehen. Der semiotische Prozess ist allerdings nicht auf die Interpretation beschränkt: der frühere Gedanke muss dem folgenden Gedanken auch „etwas zu verstehen geben“, sonst kann dieser ihn nämlich nicht interpretieren. Hier kommt als weiteres semiotisches Merkmal die Stellvertreterfunktion des Zeichens hinzu: Die Interpretierbarkeit des Gedankenzeichens ist an die Bedingung geknüpft, dass es für etwas anderes (für sein suppositum) steht. Im assoziativen Gedankenstrom ist dieses suppositum der jeweils frühere Gedanke: ein Gedanke nimmt einen früheren wieder auf; er ist ein Platzhalter für diesen früheren Gedanken und insofern ein Zeichen für ihn. Das Gedankenzeichen ist daher „erstens ein Zeichen in Relation zu einem Gedanken, der es interpretiert“ und „zweitens ein Zeichen für ein Objekt, für das es jenem [folgenden K. L.] Gedanken gleichbedeutend steht“ (Peirce 1868b; 1967, 198 [5.283], Hervorh. dort). Die Pointe der Theorie vom Gedankenzeichen ergibt sich nun aus der Verbindung dieser zwei semiotischen Kriterien. Seine spezifische Funktion, die Repräsentation bzw.
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Darstellung ergibt sich aus dem Zusammenwirken von Interpretation (auch: Übersetzung, Wiederholung) und Stellvertretung. Sie kommt zustande durch die Aufeinanderfolge dreier Gedanken, die in einer vom Gedankenzeichen vermittelten triadischen Beziehung zueinander stehen. Nur weil das Gedankenzeichen einen früheren Gedanken repräsentiert, veranlasst und ermöglicht es eine Interpretation. Und umgekehrt wird der interpretierende Gedanke in diesem Prozess selbst zum Zeichen, insofern er nun seinerseits für das suppositum des Zeichens stehen kann. Er interpretiert das Zeichen und bezieht sich dadurch auf dessen Objekt. Das Modell von den drei Gedanken kann deshalb beliebig erweitert werden. Die triadische Beziehung hat die unendliche Assoziation als unendliche Semiose zur Konsequenz.22 Im Rahmen der Erkenntniskritik entspricht der vom Gedankenzeichen bezeichnete Gedanke einem Element des Vorauswissens; er ist ein bereits bekannter Gedanke. Der auf das Gedankenzeichen folgende Gedanke ist ein neuer Gedanke, eine „neue Erfahrung“ (Peirce 1868b; 1967, 199 [5.284]). Das Gedankenzeichen verursacht, dass eine neue Erfahrung sich auf dasselbe Vorauswissen rückbezieht, wie es selbst. Ich zitiere dazu ein Beispiel von Peirce selbst, ein Beispiel, das man als bloßen Syllogismus auffassen könnte: Die Gedankenfolge Toussaint war ein $eger. Dieser $eger war ein Mensch versteht Peirce als Zeichenprozess, denn „der folgende Gedanke Mensch bezieht sich auf die äußere Sache [zunächst auf den Eigennamen Toussaint, K. L.], indem er von dem vorhergehenden Gedanken $eger ausgesagt wird, den man über diese Sache hatte“ (Peirce 1868b; 1967, 200 [5.285]). Zum Stellenwert der Regel, dass jeder, der dunkler Hautfarbe (ein $eger) ist, ein Mensch ist, äußert sich Peirce hier nicht. Ein Erkenntnisgewinn wäre mit der Anwendung einer solchen Regel nicht verbunden. Aber genau darum geht es ihm, und er erläutert: Weil man „ihn [Toussaint, Hervorh. K. L.] zuerst als einen Neger denkt“, denkt man ihn in der Folge als einen Menschen. Unter der Voraussetzung, dass das Prädikat $eger für (ein Wissen über) die historische Person steht, eben für Toussaint, der als Schwarzer erfolgreich gegen die Sklaverei gekämpft hat23, gibt es dem folgenden Gedanken etwas zu verstehen und generiert den 22
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Für die Assoziationskette gilt: „Unser Gedankengang kann [...] zwar unterbrochen werden. Aber wir müssen bedenken, dass es neben dem Grundelement des Denkens in jedem Augenblick hundert Dinge in unserem Verstand gibt, denen nur ein geringer Bruchteil von Aufmerksamkeit oder Bewusstsein zuteil wird. Es folgt daher nicht, dass, weil ein neues konstituierendes Denkelement die Überhand gewinnt, der Gedankengang, den es verdrängt, plötzlich abgebrochen wird. Im Gegenteil [...] Das Gesetz, dass jedes Gedankenzeichen in einem anderen, das auf es folgt, übersetzt oder interpretiert wird, hat [...] keine Ausnahme“ (Peirce 1868b; 1967, 199 [5.284]). Toussaint L’Ouverture (1743−1803), selbst Sohn eines aus Afrika verschleppten Sklaven, schloss sich 1791 dem Kampf gegen die Sklaverei in Saint-Domingue an. Er kämpfte ab 1793 vom spanischen Teil der Insel (Santo Domingo) aus gegen die Franzosen. Nach der Abschaffung der Sklaverei durch die französische Revolutionsregierung (1793) wechselte er zur französischen Revolutionsarmee, wo er in den Rang eines Brigadegenerals aufstieg. Im anschließenden Bürgerkrieg setzte er sich gegen die freien Farbigen durch, die selbst Sklaven hielten und weiterhin halten wollten. Er erließ 1801 eine Verfassung für Saint Domingue und rief sich selbst zum Gouverneur aus. So ließ Na-
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Interpretanten Toussaint war ein Mensch. Dieser Interpretant kann nun seinerseits für Toussaint L’Ouverture stehen, nimmt also im weiteren Gedankenfluss dessen Platz ein und bringt seinerseits wieder einen neuen Interpretanten hervor. Wenn man danach beispielsweise denkt Dieser Mensch war ein General, dann ist durch das Zeichen (war) ein Mensch ein Interpretant entstanden, der von dem Zeichen (war) ein $eger möglicherweise nicht hervorgebracht worden wäre. Ein eigenes Beispiel: Angenommen, Finns Eltern leben getrennt, er lebt bei seiner Mutter und kennt seinen Vater kaum. Er denkt im Alltag meistens an seine Mutter. Nun unterläuft es ihm, dass er wieder einmal an seine Mutter denkt, dabei jedoch − ganz gegen die Regel − anschließend an seinen Vater. Dies lässt sich möglicherweise damit erklären, dass beide Gedanken durch ein Gedankenzeichen vermittelt wurden. Er hat daran gedacht, dass seine Mutter ja (geschlechtlich, vielleicht auch sozial und sogar institutionell sanktioniert) als Frau mit einem Mann zusammengewesen sein muss, der sein Vater ist und seinerseits der Mann seiner Mutter war. Der (abgekürzte) Gedanke Frau (meines Vaters) ist hier per Stellvertretung Zeichen für meine Mutter und bewirkt zugleich einen neuen Gedanken, den Gedanken an den Vater. Wenn Finn nun denkt, dass sein Vater Ingenieur war, dann bezieht er sich auf den Gedanken an seine Mutter zurück und gelangt zugleich zu einer neuen Interpretation dieses Gedankens: Finns Mutter war die Frau eines Ingenieurs. Wenn Finn kaum etwas weiß über die Vergangenheit seiner Eltern, dann ist er dankbar für diesen semiotisch vermittelten „Einbruch einer neuen Erfahrung“. Gleichermaßen emanzipativ und aufklärerisch muss man sich angesichts der rechtlichen Stellung der amerikanischen Schwarzen im Jahre 1868 den Peirceschen „Einbruch der neuen Erfahrung“ vorstellen, dass Toussaint L’Ouverture als „$eger“ ein Mensch war und sein Sieg im Kampf gegen Sklaverei und Kolonialwirtschaft der Sieg eines Generals einer veritablen Armee.24 Peirce nimmt also für den Assoziationsprozess wie für den – in der linearen Zeitfolge veranschaulichten − semiotischen Prozess überhaupt retrospektive und prospektive Beziehungen an, mit einschlägigen erkenntniskritischen Konsequenzen: Bei der Beantwortung der Frage, wie man zu neuen Erkenntnissen gelangt, spielt die Semantik der Stellvertretung eine große Rolle, denn diese bewirkt eine unendliche prospektive Determinierung des Denkens durch das Denken. Aus der zeitlogischen Aufeinanderfolge der Gedanken ergibt sich, dass neue Erfahrungen ohne Vorauswissen nicht möglich sind. Gedankenzeichen ermöglichen die neue Erfahrung, insofern sie
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poleon 1802 wieder einmarschieren, setzte den Code $oir wieder in Kraft und Toussaint L’Ouverture in Pontarlier gefangen. 1804 erlangte Saint-Domingue unter dem Namen Haiti dann endgültig die Unabhängigkeit (http://de.wikipedia.org/wiki/Haitianische_Revolution vom 25. Juni 2011). Die Abschaffung der Sklaverei als Folge des Amerikanischen Bürgerkriegs und auch die sog. Gleichbehandlungsklausel im 14. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten (von 1868!) führten bekanntlich noch lange nicht zu einer rechtlichen Gleichstellung der Farbigen. Im amerikanischen Bürgerkrieg mögen dafür Generäle gekämpft haben, die sich am Beispiel Toussaints orientierten und wie dieser nationale und menschliche Interessen gleichermaßen durchzusetzen suchten. Man kann das Beispiel durchaus als Ehrenbezeugung und als politische Aussage verstehen.
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Bekanntes wiederaufnehmen. Dieses Vorauswissen muss allerdings im konkreten Denkprozess gar nicht selbst „anwesend“ (bewusst) sein, da es ja im Gedankenzeichen per Stellvertretung repräsentiert wird. Einer neuen Erfahrung gehen (dem Modell entsprechend) zwei Gedanken zeitlich voraus, die sie, zwar in anderer Weise, aber doch in gleichem Maße bestimmen. Wir finden demnach nie einen neuen Gedanken ex nihilo (Peirce: nie intuitiv25), wir fangen nie an mit dem Denken und Erkennen (etwa, indem wir uns einem Gegenstand direkt zuwenden), sondern wir beziehen uns immer mehrfach auf etwas früher Gedachtes, auch wenn uns die jeweilige Kette der Interpretationsauslöser nicht bewusst ist.26 Der „Einbruch einer neuen Erfahrung [...] ist ein Ereignis, das Zeit braucht und in einem kontinuierlichen Prozess abläuft“ (Peirce 1868b; 1967, 199 [5.284]). Bei der Beantwortung der Frage nach dem Stellenwert einer neuen Erkenntnis im Denken überhaupt, spielt das Verfahren der Interpretation die Hauptrolle, denn die notwendige Interpretation des Gedankenzeichens bewirkt eine retrospektive Determinierung der Assoziationskette: Eine neue Erkenntnis findet prinzipiell dort statt, wo ein Gedanke einen vorhergehenden Gedanken (das Gedankenzeichen) interpretiert/(in abgewandelter Weise) wiederholt/übersetzt. Von dieser Interpretation ist aber nicht nur das Gedankenzeichen betroffen, sondern auch der durch das Gedankenzeichen vertretene Gedanke. Dieser wird vom interpretierenden Gedanken indirekt mitinterpretiert. Das heißt: Wir können nie etwas endgültig wissen, sondern auch das, was wir sicher zu wissen glauben, erfährt neue Interpretationen, die uns – wegen des semiotisch vermittelten Bezugs der Gedanken − durchaus nicht immer bewusst werden müssen. Fortschritt im Denken ist nicht Gedankenzuwachs (kein quantitativer Prozess des Wissenserwerbs), sondern die fortlaufende retrospektive Veränderung dessen, was wir bereits zu wissen glauben (ein qualitativer Prozess). Es liegt auf der Hand, dass diese semiotische Theorie des Gedankenflusses fruchtbar gemacht werden kann für eine Theorie des (syntaktisch-semantisch) linearen und zugleich lückenhaften Sprachflusses in Texten überhaupt − für eine Theorie der Textbildung. Vorläufig möchte ich die Peirce’sche Theorie der Gedankenzeichen nutzbar machen für ein semiotisches Verständnis der historischen Aussage und ihrer Integration in den Textzusammenhang einer Sprachgeschichte.
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„Wir werden in dieser Abhandlung den Terminus Intuition durchgehend als Bezeichnung für eine Erkenntnis verstehen, die nicht durch eine vorhergehende Erkenntnis desselben Gegenstandes bestimmt ist und daher durch etwas außerhalb des Bewusstseins so bestimmt wurde.“ (Peirce 1868a; 1967, 157 [5.213].) So wendet sich Peirce (wie weit zuvor die Moralisten) gegen Descartes: „Wir können nicht mit völligem Zweifel anfangen. Wir müssen mit all den Vorurteilen beginnen, die wir wirklich haben [...] Diese Vorurteile sind nicht durch eine Maxime zu beseitigen, denn es handelt sich bei ihnen um Dinge, bei denen wir gar nicht auf den Gedanken kommen, dass wir sie in Frage stellen könnten. Also wird dieser Von-Vornherein-Skeptizismus eine bloße Selbsttäuschung sein und kein wirklicher Zweifel“ (Peirce 1868b; 1967, 184 [5.265]).
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4.2. Semiotik der historischen Aussage Sprachgeschichtsschreibung ist, mit dem semiotischen Blick von Peirce, im Wesentlichen Interpretation, funktioniert aber nicht ohne den Bezug auf historische Dokumente. Für das Dokument oder einen (selbst bereits zeichenhaft) daraus abgeleiteten historischen Sachverhalt muss in der Geschichtsschreibung ein Zeichen gefunden werden, das seinerseits einen Interpretanten auslöst, mit dem sich der Sprachhistoriker wieder auf das Dokument/den Sachverhalt beziehen kann, das aber einen semantischen Mehrwert – den „Einbruch einer neuen Erfahrung“ – mit sich bringt. Man könnte diesen Ansatz auch zu einer Theorie der sprachgeschichtlichen Erkenntnis ausbauen. Beruft man sich auf Peirce, dann wird man anerkennen müssen, dass dem Erkenntnisprozess die Existenz des vertretenen Gegenstandes (des überlieferten Dokuments) vorgeordnet ist. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass ein (gedankliches, sprachliches, bildliches ...) Zeichen für den realen Gegenstand stehen und ihn vertreten kann. Allerdings wird dieser Gegenstand erst durch diesen Prozess der Stellvertretung zum Gegenstand einer Interpretation. Was nicht zeichenhaft vertreten wird, kann auch nicht interpretiert werden; was also nicht zeichenhaft vertreten ist, kann gar keinen Erkenntnisprozess anregen oder gar durchlaufen. Und die Erkenntnis ist ihrerseits so strukturiert, dass sie sich zuerst auf das Zeichen richtet und nur indirekt (durch Zeichenvermittlung) auf den von ihm vertretenen Gegenstand. Der Gegenstand kann also in seiner primären Existenzweise nicht erfasst werden. So kann man mit Peirce vermitteln zwischen dem erkenntnistheoretischen Realismus, der historische Fakten abzubilden, und dem Konstruktivismus, der Fakten als Ideen hervorzubringen vermeint (vgl. Reichmann 1998, 2). In einer Sprachgeschichte treten nun keine überlieferten Gegenstände auf, sondern – ganz im Sinne von Peirce − Zeichen davon: Zitate, Abbildungen, Graphiken und Eigennamen, die den jeweiligen Gegenstand oder Sachverhalt identifizieren sollen. In einer Sprachgeschichte geht es darum, diese identifizierenden Zeichen wiederum durch solche Zeichen vertreten zu lassen, die geeignet sind, Interpretanten zu generieren, welche den zuvor jeweils bezeichneten historischen Gegenstand oder Sachverhalt in das Licht „einer neuen Erfahrung“ rücken. Darin liegt die Aufgabe der sprachhistorischen inventio. Und diese inventio ist kein Zubrot zur historischen Erkenntnis, sondern sie ist die historische Erkenntnis selbst. In der historischen Aussage wird dieses Verfahren greifbar, wenn man die oben herausgearbeiteten Teilaussagen (nicht Wörter usw.) semiotisch aufeinander bezieht. Aus praktischen (Darstellungs-) Gründen habe ich in den Paraphrasierungen der Beispielsätze die in der Aussage satzsemantisch enthaltenen Existenzpräsuppositionen zunächst außer Acht gelassen. Im semiotischen Prozess sind sie aber sehr wohl von Belang: Mit einem Eigennamen (diese Malbergischen Glossen, der große Krieg, die idg. Betonung usw.) wird ein historischer Gegenstand oder Sachverhalt als existent oder als den Eingeweihten (im Prinzip) bekannt vorausgesetzt (präsupponiert). Das typische Zeichen für dieses „Objekt“ (die Präsupposition) bildet eine Perspektivierung im Rahmen einer Re-
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levanzbehauptung. Die Aussage Diese Malbergischen Glossen sind wichtig für die deutsche Sprachgeschichte (der wir uns hier eigentlich zuwenden wollen), weil die deutsche Sprachgeschichte davon profitiert nimmt die Existenzpräsupposition wieder auf und ersetzt sie (im Text wie im Bewusstsein) zeichenhaft. Dieser Akt der Stellvertretung ist allerdings nur die Voraussetzung dafür, dass die Perspektivierung (im Rahmen der Relevanzbehauptung) einen Interpretanten generiert und beispielsweise gesagt werden kann: Die Malbergischen Glossen sind (oder bilden) eine (wichtige) Quelle für die deutsche Sprachgeschichte. Dies ist eine akzeptable Aussage, weil sie – durch die semiotisch vermittelnde Wirkung der Perspektivierung − die Existenzbehauptung vertritt und dieser eine interpretative Erweiterung hinzufügt27. Perspektivierung und Relevanzbehauptung sind in der Regel nebenbei formuliert: Aus Gründen der Textsortenspezifik und der üblichen forschungspraktischen „Verwirklichung von Sprachgeschichte“ treten sie nicht in den Vordergrund. Dennoch entfalten sie ihre semiotische Wirksamkeit, denn sie bringen einen Interpretanten hervor, der sich ohne die spezifische Perspektivierung gar nicht eingestellt hätte. Wenn sich der Autor mit seinem Bezug auf die sog. Malbergischen Glossen im Prinzip der deutschen Sprachgeschichte zuwenden will, in dem Sinne, dass er den Nutzen erfassen will, den die sog. Malbergischen Glossen dafür erbringen, dann gelangt er zu der (metaphorischen) Aussage, sie bilden eine wichtige Quelle für die deutsche Sprachgeschichte. Dieses Verfahren ist, wie man mit Peirce sagen kann, eine semiotisch vermittelte Interpretation: Nur, weil dieses Zeichen (ist wichtig für x) für den (beispielsweise) mit einem Eigennamen identifizierten historischen Gegenstand oder Sachverhalt steht, kann es interpretiert werden. Der Interpretant ist also keinesfalls beliebig, sondern hat das überlieferte Material wirklich als Voraussetzung und auch die beispielsweise im Eigennamen greifbare Tradition der Bewertung dieses Materials durch die Sprachhistoriker. In der Folge wird der Interpretant selbst zum Zeichen, das den jeweiligen Gegenstand/Sachverhalt repräsentiert, und kann neue Interpretationen auslösen. Das ist zunächst einmal nur die Annahme einer formalen Bewegung, die natürlich am Text belegt werden muss. Vorausschicken möchte ich noch eine geschichtstheoretische Überlegung: Paul Veyne (1971; 1990) hat beobachtet, dass in der Geschichtsschreibung die Wichtigkeit eines „Ereignisses“ systematisch mit der Bedeutung derjenigen „Serie“ „verwechselt“ wird, in die der Historiograph das Ereignis integriert. Die Affäre Landru ist im Rahmen der politischen Geschichte völlig unbedeutend, im Rahmen einer Verbrechensgeschichte hingegen ist sie „von allergrößter Wichtigkeit“. Da wir aber die politische Geschichte für bedeutender halten als die Verbrechensgeschichte, halten wir auch die Affäre Landru normalerweise für unbedeutend (ebd. 26). Will man sie zum Gegenstand historiographischer Reflexion machen, dann muss man sie 27
Insofern die Prädikation x ist wichtig für y das vermittelnde Zeichen zwischen der Existenzpräsupposition und der Interpretation bildet, bildet sie die Hauptaussage im Satz. Darin, dass sie nebenbei geäußert wird, kann man deshalb eine Umkehrung der Kategorien Haupt- und Nebenaussage sehen (vgl. v. Polenz 1988, 248).
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zunächst als relevant für eine an sich bedeutende Größe (Serie) erklären, d.h. für eine Größe, die über den Interpretationsvorschuss, wichtig zu sein, bereits verfügt. Alles Weitere findet sich dann schon.
4.3. Perspektivierung als Zeichen Paul Veyne geht vom Erzählcharakter eines historiographischen Textes aus und beobachtet deshalb, dass hier „Ereignisse“ ihre Bedeutung aus derjenigen „Ereignisserie“ beziehen, in die sie vom Historiographen hineingestellt werden. Eine Sprachgeschichte muss man allgemeiner bestimmen, weil hier nicht nur Ereignisse dargestellt werden, sondern allerlei historische Gegenstände und Sachverhalte, und weil diejenige Größe, die diese historischen Gegenstände und Sachverhalte jeweils zeichenhaft repräsentiert, indem sie sie perspektiviert, eine Ereignisserie umfassen kann (Beispiel 3, neben anderem auch in 1 und 2), aber überhaupt nicht umfassen muss (in 4 und 5). Es gibt meiner Erfahrung nach ein anderes gemeinsames Merkmal der perspektivierenden Größen im Sprachgeschichtstext: Sie bietet die Möglichkeit der Solidarisierung oder der Identifizierung. Ich komme auf den General Toussaint L’Ouverture zurück. Die semiotische Kritik von Peirce an der Interpretation Toussaints umfasst leider nicht (nicht ausdrücklich) eine Kritik der spezifisch historiographischen Interpretation Toussaints und seiner Rolle im Haitianischen Unabhängigkeitskampf. Ich will dies nachholen. Toussaints geschichtliche Rolle kann man interpretieren, indem man etwa formuliert, er habe durch militärischen Widerstand die endgültige $iederlage der Franzosen und den Sieg der Schwarzen auf Haiti vorbereitet. Derartige geschichtliche Interpretanten müssen auch noch nach der französischen Revolution und nach dem amerikanischen Bürgerkrieg große Teile des amerikanischen und des europäischen Kontinents gegen ihn aufgebracht haben, da ein Sieg für die Schwarzen und eine $iederlage für die (weißen) Franzosen von vielen als Affront aufgefasst wurde. Vermutlich ist dies für Peirce ein Grund, das historische Phänomen Toussaint L’Ouverture erkenntniskritisch zu würdigen. Satzsemantisch ist die Beziehung zwischen den Prädikaten Sieg und $iederlage eine konverse Beziehung (v. Polenz 1988, 181 f.)28: Wenn die Franzosen gegen die Schwarzen verloren haben, dann haben die Schwarzen gegen die Franzosen gewonnen. Die Perspektivierung gibt den Ausschlag für die geschichtliche Interpretation: Will man die Franzosen in den Blick nehmen, dann endete die Auseinandersetzung mit einer $iederlage für die
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Von Polenz versteht Konversen als „Wortpaare, die nur scheinbar einen semantischen ‚Gegensatz‘ bezeichnen und gleichbedeutend füreinander verwendet werden können in zwei Sätzen, in denen die satzsemantische Perspektive jeweils derart umgekehrt wird, dass die Bezugstellen eines Prädikats vertauscht werden. [...] Es wird ein Prädikat P (x, y) in ein Prädikat P’ (y, x) umgekehrt“ (v. Polenz 1988, 181).
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Franzosen. Will man hingegen die Schwarzen in den Blick nehmen, dann muss man sagen, dass der Kampf mit einem Sieg für die Schwarzen endete. Dabei sind die Prädikate Sieg und $iederlage keine rein sachlichen Prädikate; sie haben vielmehr starke Konnotationen − ein Sieg ist etwas Positives, eine $iederlage nicht. An diesen Konnotationen können der Historiograph und der geschichtsinteressierte Laie nicht vorbei. Will man beispielsweise primär über die Franzosen reden und, weil man sich mit ihnen solidarisiert oder sich gar selbst über das Französischsein identifiziert, etwas Positives darüber sagen (sagen, inwiefern die Franzosen als Benefaktiv von diesem Kampf profitiert haben) dann gerät man in eine große Verlegenheit. Es bleibt einem kaum ein andere Wahl als den Interpretanten $iederlage abzuschwächen. Leicht ist es bei dieser Redeweise hingegen, sich mit den Schwarzen zu solidarisieren und ihren Sieg sogar zu einem Triumphzug zu steigern. Selbstverständlich hat man auch immer die (theoretische) Möglichkeit, sich bei der Verwendung des Prädikats Sieg mit dem Gegner zu freuen, also einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. (Nicht ohne Grund werten militärische Siege diejenigen auf, die sie erfochten haben und denen sie nützen. Sie schaffen nämlich einen Anlass dafür, dass man, was man nie vermutet hat, gerne einmal in der Haut des anderen stecken würde.) Schwierig ist es hingegen, keine Solidarisierung auszudrücken. Jedem Historiographen, der die Interpretanten Sieg und $iederlage verwendet, wird eine Solidarisierung unterstellt werden. Peirce zeigt den Weg, wie man als seriöser Historiker aus dem Dilemma herauskommt: Man solidarisiere sich nicht mit einer der Kriegsparteien, sondern man versuche, den Einbruch einer neuen Erfahrung voranzutreiben, indem man den historischen Sachverhalt anders perspektiviert. Man suche eine irgendwie zeitgemäße Perspektive, die andere Solidarisierungen ermöglicht, vielleicht, wie Peirce, sogar eine (kriegs-)parteienübergreifende Solidarisierung. Man erkläre den Sachverhalt in angemessener Weise als relevant dafür und probiere aus, welche Interpretanten sich aus diesem Verfahren ergeben. Selbstverständlich redet man mit dieser Empfehlung nicht einer ideologisch ausufernden Geschichtsschreibung das Wort, da die Interpretanten ja nicht unabhängig von dem bezeichneten historischen Gegenstand oder Sachverhalt gebildet worden sind und sich schließlich auch wieder auf ihn zurückbeziehen (müssen). Aber ebenso selbstverständlich ist, mit Peirce betrachtet, jede Geschichtsschreibung gemäßigt ideologisch. Peirces aufgeklärt ideologische Entgegnung auf die seinerzeit übliche national- und rasseideologische historiographische Einordnung der Person scheint deshalb zu lauten: Die historische Bedeutung von Toussaint L’Ouverture (eine Zeichenbedeutung!) erschließt sich nicht allein durch den Gedanken/die Aussage, dass er als Schwarzer („$eger“) für die Schwarzen und gegen die Weißen gesiegt hat. Nein: Er hat als Mensch für die Menschen gesiegt, und dies müssen selbst diejenigen positiv würdigen, die als Franzosen oder als Weiße eine $iederlage empfunden haben, sofern sie sich nämlich selbst als Menschen klassifizieren und sich mit Menschen solidarisieren. Im Grunde kann hier „nur“ in metaphorischem Sinne von einem Sieg die Rede sein, denn niemand (außer vielleicht ein Unmensch) löst die konverse Beziehung ein, eine $iederlage erfahren zu
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haben. Will man ganz auf diese Interpretanten verzichten, dann kann man abstrakter formulieren: Toussaint hat den Humanismus gefördert. Oder: Seine Aufhebung der Apartheitsgesetze war ein entscheidender Durchbruch für die Ideen der Aufklärung/für die Ideen der Aufklärung ein entscheidender Durchbruch. (Hat man diese Gedankenfolge durchlaufen, dann muss man den späteren Sieg Napoleons gegen die Haitianer, wegen seiner neuerlichen Einführung des Code Noir (metaphorisch) als $iederlage einstufen, als $iederlage für jeden, der sich als Mensch unter Menschen fühlt.) Aus dieser Analyse eines virtuellen Textstückes folgt für die Perspektivierung in der Textsorte Sprachgeschichte: Perspektivierende Größen wie die deutsche Sprachgeschichte, diese ganze sprachliche Bewegung, der Übergang vom Latein zum Deutsch [...], unser ganzer Sprachstamm, die Sprachstruktur der germanischen Sprachen sind nicht irgendwelche Textthemen unter anderen, sondern es sind Größen mit einem spezifischen Potential der Solidarisierung oder Identifizierung – auch wenn man es ihnen nicht ansieht, weil sie kaum Konnotationen aufweisen. Deshalb fordern sie geschichtliche Interpretanten heraus (wie Sieg, $iederlage, Quelle, Anstoß usw.), die zum Ausdruck bringen, dass ihnen geschichtlich etwas Gutes widerfahren ist oder widerfährt. Dieses Gute ist in den Sprachgeschichten sehr vielseitig: eine Quelle bringt einen Erkenntnisgewinn, eine Einzelentdeckung ebenso, ein Wesensmerkmal trägt etwas zur Entwicklung eines spezifischen Charakters bei und ein Anstoß bringt überhaupt eine positive Entwicklung in Gang. So erklärt es sich, dass eine Sprachgeschichte nicht nur erzählenden Charakter haben kann, sondern auch besprechen muss, in welcher Weise die perspektivierende Größe geschichtlichen Nutzen erfahren haben mag (beispielsweise welcher Erkenntnisgewinn, welcher Charakter, welche Entwicklung gewonnen wurde und inwiefern das ein Gewinn ist). Das Solidarisierungsvermögen der nebenbei geäußerten Perspektiven muss bei der Analyse und Kritik der Sprachgeschichten einkalkuliert werden. Dies heißt aber nicht, dass man sie von vornherein in die Schublade eines ideologischen Wissenschaftsbetriebes mit heteronomer Erkenntnisbildung stecken muss. Ganz im Gegenteil: Der Erkenntnisgewinn einer Sprachgeschichte hängt davon ab, wie ausbaufähig die sprachlichen Prädikate sind, mit denen der Sprachhistoriker sozialisiert wurde, und wie flexibel er sie (unter Bezugnahme auf die Überlieferungsgegenstände) handhabt. Es geht also gerade nicht darum, Ideen als „Vor-Urteile“ in die forschungspraktische Verwirklichung von Sprachgeschichte mit einzubringen (Reichmann 1998, 26), sondern darum, die Forschungspraxis durch perspektivische Wendungen überhaupt zu gestalten. Den jeweiligen sprachlichen Einsatz kann der Historiograph durchaus aus einem Gefühl heraus wagen. Würde er dabei immer strategisch handeln, würde er das Erkenntnispotential der sprachlichen Semiotik weitgehend ungenutzt lassen.
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5. Aufgabenbereiche und Textbeispiel In der historischen Aussage werden historische Dokumente und Sachverhalte mit Blick auf eine interessierende Größe thematisiert und mit Blick auf diese Größe so interpretiert, dass man erfährt, in welcher Weise ihr der historische Sachverhalt zugute gekommen ist/zugute kommt. Es ist sinnvoll, eine Textanalyse von Sprachgeschichten an dieser Struktur der historischen Aussage auszurichten. Die mehrfache Lesbarkeit der historischen Aussage soll dabei den Ausgangspunkt bilden. Die Textanalyse wird als Textlektüre vollzogen, bei der man sich in die Haltung des Fragenden begibt, der wissen will, wie es dazu kommt, dass die präsupponierte Aussage über die Existenz eines historischen Dokuments (oder über die Tatsächlichkeit eines damit zeichenhaft verbundenen Sachverhalts) ersetzt werden kann durch die jeweilige Aussage über dessen Bedeutung. Für den Rezipienten scheint mir dieses Verfahren lohnenswert. Hat man die Perspektivierung nicht verstanden, wird man sich schwer damit tun, die (nicht selten metaphorische!) Interpretation eines historischen Sachverhalts nachzuvollziehen. Ziel der Textlektüre ist es daher, die jeweilige historische Aussage nach dem Muster des semiotischen Prozesses umzuformulieren sowie Erweiterungen und Lücken zu zeigen. (Gerade aus der historischen Distanz heraus ist damit zu rechnen, dass nebenbei geäußerte Perspektivierungen nicht mehr verstehbar sind. Es ist sinnvoll, solche Interpretationslücken zunächst einmal deutlich herauszuarbeiten anstatt sie voreilig zu schließen.) Dazu muss der Blick von der einzelnen historischen Aussage auf den Kontext erweitert werden. Man fragt nach dem Zusammenhang mit anderen Perspektiven und Interpretanten, und thematisiert die Rückwirkung von Perspektivierung und Interpretation auf die Auswahl und die Darstellung der präsupponierten Sachverhalte. Bei der Untersuchung der historischen Aussage von Friedrich Kluge (21925) in (4) soll gefragt werden, was damit gesagt sein könnte, dass die indogermanische Betonung für unsern ganzen Sprachstamm eine der wichtigsten Einzelentdeckungen ist, inwiefern also die indogermanische Betonung [...] unserm ganzen Sprachstamm zugute kommt. Es gilt, die Perspektivierung zu verstehen, ebenso wie den spezifischen Interpretanten, mit dem unserm ganzen Sprachstamm bescheinigt wird, dass er von der Geschichte profitiert. Gerade diese beiden Aspekte der historischen Aussage über die indogermanische Betonung verstören ja den heutigen Leser. Man könnte die Aussage zunächst so verstehen: Dass jemand (die Sprachhistoriker?) die idg. Betonung entdeckt hat, kommt unserm ganzen Sprachstamm zugute [...]. Allerdings wird das nomen actionis (der Ausdruck eines Handlungsprädikats) durch den Bezug auf die idg. Betonung zum nomen acti – die (Einzel-)Entdeckung wird aufgefasst als ein Ergebnis des Forschens (unter anderen), als eine Art Produkt, das unserm ganzen Sprachstamm zugute kommt. Diese Verdinglichung der idg. Betonung wirkt heute befremdend, und fast muss man sich bei der Rezeption fragen, welchen dinglichen oder materiellen Nutzen unser ganzer Sprachstamm daraus bezieht. Geschichtliche Abläufe rücken in dieser historischen Aussage ganz in den Hintergrund. Meine Hypothese ist, dass man zunächst einmal Kluges Per-
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spektivierung erläutern muss, wenn man diese verdinglichende Interpretation der idg. Betonung verstehen will. Verstörend wirkt auch, dass in dieser historischen Aussage die indogermanische Betonung nicht als relevant für das Indogermanische oder irgendetwas Indogermanisches erklärt wird. Es wird in der Aussage präsupponiert, dass es in idg. Zeit in der Sprache (in der idg. Grundsprache) eine spezifische Betonung gab. (Später wird erläutert: die Betonung war damals nicht auf eine bestimmte Silbe im Wort festgelegt, sondern „frei“29.) Obwohl dieser Betonung offenbar ein epochenspezifischer Eigenname zugeordnet wird (die idg. Betonung), wird sie doch an dieser Stelle nicht mit Blick auf etwas Indogermanisches bewertet und interpretiert, sondern mit Blick auf unsern ganzen Sprachstamm. Es liegt vielleicht nahe, sich als Leser von Kluges Formulierung zu lösen und anzunehmen, er sage zwar nicht unser ganzer idg. Sprachstamm, er meine dies aber. Er wolle also sagen, die idg. Betonung sei von Bedeutung für den idg. Sprachstamm. Er erwartet, dass der Rezipient genau dies versteht. Und indem er dieses – historisch spezifizierende − Verständnis erwarten kann, ergänzt er es lediglich durch das Possessivpronomen unser, mit dem er den Leser irgendwie einbezieht und anspricht. Diese Perspektivierung wäre dann aber keine Hinordnung auf die (abgeschlossene) idg. Epoche der Sprachgeschichte, sondern auf eine zeitübergreifende oder sogar zeitenthobene Größe. Das Bild vom Sprachstamm spricht die Vorstellungskraft des Lesers an: Man sieht etwas Zeitenthobenes, das (wie ein Baumstamm) eher der Geschichte trotzt, als dass es sich mit der Zeit veränderte. Wie also ließe sich der Sprachstamm als idg. historisch spezifizieren, wenn nicht durch Einordnung in die entsprechende geschichtliche Epoche? Durch Verwendung der üblichen (Sprach-)Gruppenbezeichnung indogermanisch? Kann man hier verstehen, die idg. Betonung sei von Bedeutung für die idg. Sprachgruppe, also für das Ganze all derjenigen Einzelsprachen, die aufgrund struktureller Ähnlichkeiten (früherer Sprachstufen) miteinander vergleichbar sind und denen man deswegen traditionell unterstellt, sie hätten eine gemeinsame Herkunft und seien über diese Herkunft für immer miteinander verbunden (weil man die Herkunft nicht verlieren kann)?30 Man sollte sich zunächst einmal über Kluges wörtliche Formulierung Klarheit verschaffen und feststellen, dass er hier im Textverlauf offenbar eine perspektivische Erweiterung vornimmt: Spricht er hier von unserem ganzen Sprachstamm, so muss er zuvor von einem Teil dieses Sprachstamms gesprochen haben. Selbst wenn man die historische Spezifizierung idg. irgendwie mitversteht, dann hat man mit diesem Verständnis doch noch nicht diese perspektivische Erweiterung verstanden. Nimmt man Kluge beim Wort, dann geht es hier nicht um die Hinordnung der idg. Betonung auf einen klar identifizierbaren Sachverhalt (auf diesen oder jenen bestimmten Sprachstamm, vgl. auch v. Polenz 1988, 144), sondern um die Hinordnung auf etwas, das umfassender 29
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„Wir begnügen uns hier mit der Feststellung: die idg. Grundsprache kannte eine wechselnde Betonung, die die erste oder die letzte Wortsilbe treffen konnte“ (Kluge 21925, 28; vgl. auch 27). Zur historischen Einordnung dieser Sprachgruppe vgl. Seebold 1998, 966.
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ist als eine zuvor angebotene Perspektive. Man muss also, anders als in anderen historischen Aussagen – als z. B. in (1) –, hier unbedingt den Vortext heranziehen. Die Darstellung der indogermanischen Betonung ist integriert in eine mehrere Abschnitte umfassende Textpassage, die sich beschäftigt mit „dem Ablaut“31 (Kluge 2 1925, 24 ff.). „Der Ablaut“ wird eingeführt als „eine Lauterscheinung, die im Deutschen eine sehr große Rolle spielt, aber erst sehr langsam und allmählich als eine hohe Altertümlichkeit in unserm Sprachbau erkannt worden ist [...]“ (ebd.). Kluge wird sich später mit „Ursprung und Begründung des Ablauts“ (ebd., 25 f.) beschäftigen und feststellen, dass „die Betonungsverhältnisse [in der idg. Grundsprache] einen [...] Perfektablaut hervorgebracht haben“, dass also die idg. Betonung am Ursprung des Ablauts steht. Es gibt demnach eine perspektivische Überlappung: Die idg. Betonung ist wichtig, insofern sie den Ablaut hervorgebracht hat und dieser Ablaut „im Deutschen eine sehr große Rolle spielt“. Die idg. Betonung ist also letztlich wichtig für das Deutsche. Kluge gibt ausdrücklich zu verstehen: „Der deutsche Ablaut ist nicht, wie man lange angenommen hat, eine sprachliche Eigenart von uns und ein Sonderbesitz. Er ist allerdings eine starke Macht und ein hervorstechender Zug für die Bildsamkeit unserer Sprache, indem er die Formengebung der Zeitwörter (binden, band, gebunden) wie die der Hauptwörter (Binde, Band, Bund) und das Verhältnis von singen und springen zu den Hauptwörtern Sang und Sprung gleichmäßig bedingt“ (ebd., 24). Er präzisiert also, noch bevor er sich mit den Fragen der Herkunft beschäftigt, an Beispielen (binden, band, gebunden), was der Ablaut im Deutschen ist, und bildet mehrere historische Aussagen über die Bedeutung des Sachverhalts im Deutschen. Dabei wird die Perspektive klarer: Er präzisiert, der Ablaut sei zwar „nicht eine sprachliche Eigenart von uns“ und „ein Sonderbesitz“ (von uns!), aber er ist in verschiedenen Weisen wichtig für unsere Sprache (für die Bildsamkeit unserer Sprache), wie auch (oben) für unsern Sprachbau. Die idg. Betonung, die wichtig geworden ist für den Ablaut, war also letztlich wichtig für uns, die wir deutsch sprechen. Es geht Kluge in seinem Kapitel Die idg. Sprachgemeinschaft um den deutschen Ablaut im Deutschen, um unsere (deutsche) Sprache und besonders um uns, die wir deutsch sprechen. Deshalb muss die von Kluges Kapitelüberschrift vorgegebene Perspektive der indogermanischen Sprachgemeinschaft in Richtung auf uns als Deutsche verschoben und sogar verzerrt werden. An keiner Stelle im Text sagt Kluge, der Ablaut sei wichtig für die idg. Sprachgemeinschaft. Er müsste eigentlich sagen [...] für das Lateinische, für das Griechische, für das Russische, für das Englische oder für die idg. Einzelsprachen. (Er könnte fortsetzen: Weil dies so ist, können wir, mit Blick auf das Deutsche folgende Schlussfolgerungen ziehen […].) Aber diese Aussage wird bei ihm keineswegs als Relevanzdeklaration ausgestaltet, sondern nur als Implikatur mitgeliefert: Wenn er interpretiert, der Ablaut ist „nicht eine sprachliche Eigenart von uns“ und „ein Sonderbesitz“ (von uns), ergänzt der Leser: Er ist 31
„Ablaut: [...] Von J. Grimm [...] verwendeter Begriff zur Bez. des regelmäßigen, (im Ggs. zum Umlaut) nicht kontextbedingten, ursprüngl. akzentbedingten [...] Vokalwechsels bei etymolog. zusammengehörigen Wörtern bzw. Wortformen in den idg. Sprachen“ (Glück 1993, 4).
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auch ein Besitz von anderen. Eine historische Aussage, die die idg. Sprachgemeinschaft in den Blick nimmt, ist ihm dieser Zusammenhang nicht wert. Vor diesem Hintergrund muss man es als ein Zugeständnis an die anderen idg. Sprachen und ihre Sprecher verstehen, wenn er den Ablaut (wie später die idg. Betonung) als relevant für unsern Sprachstamm erklärt. Die Ausführungen zur Herkunft des Ablauts (die Ausführungen zur idg. Betonung), mit denen letztlich dargestellt werden soll, wie wir als Deutsche in den Besitz des Ablauts gelangt sind, werden mit der Frage eingeleitet: „Aber wie ist unser Sprachstamm zu der verbreiteten Erscheinung gelangt, die wir unter dem Schlagwort Ablaut zusammenfassen?“ (Kluge 21925, 26). Hierbei handelt es sich nicht um eine historische Aussage (es ist keine explizite Prädikation). Aber die Frage präsupponiert „Unser Sprachstamm ist zu der verbreiteten Erscheinung gelangt, die wir unter dem Schlagwort Ablaut zusammenfassen“, und diese Präsupposition hat Elemente der historischen Aussage. Ich formuliere diese aus: Für unsern Sprachstamm, dem wir uns jetzt und hier zuwenden wollen, ist das, was wir unter dem Schlagwort Ablaut zusammenfassen, wichtig geworden, insofern unser Sprachstamm damit zu einer verbreiteten Erscheinung gelangt ist. Unser Sprachstamm bildet dabei eine deutliche Perspektive, die durch die Formulierung allerdings nicht sehr begünstigt wird (sie ist zu einer verbreiteten Erscheinung gelangt). Der Ablaut nimmt die Position des historischen Sachverhalts ein, allerdings ohne dass er als ein solcher gekennzeichnet würde. Vielmehr wird er als Schlagwort eingeführt (das Schlagwort Ablaut). Man kommt in der Textinterpretation nicht weiter, wenn man behauptete, Kluge meine hier so etwas wie den idg. Ablaut (den Ablaut in idg. Zeit oder den Ablaut in den idg. Sprachen), denn ebenso wenig wie der Ablaut hier als relevant für das Indogermanische erklärt wird, d. h. als relevant für eine identifizierbare Zeit oder Sprachgruppe, wird er selbst historisch eingeordnet. Er wird sogar als Schlagwort abgewertet. In dieser Aussage zeigen sich perspektivische Verzerrungen, die sich auf die Darstellung des historischen Sachverhalts auswirken und die den von mir angenommenen semiotischen Prozess bestätigen: Die (in Frageform) nebenbei ausgedrückte Perspektivierung, der Ablaut (bzw. das, was man so bezeichnet) sei wichtig für unsern Sprachstamm, bringt einen unpräzise quantifizierenden Interpretanten hervor: er ist eine (in unserm Sprachstamm) verbreitete Erscheinung, also eine (in unserm Sprachstamm) häufige Erscheinung. Hier steht einmal nicht, wie in vielen historischen Aussagen, ein metaphorischer Interpretant (Quelle, Anstoß usw.). Sondern hier steht ein Interpretant, dessen Bedeutung darin liegt, dass er die in einem Geschichtstext eigentlich notwendige raum-zeitliche (also historische) Einordnung des Sachverhalts explizit ausspart. In der Sprachgeschichte von Kluge finden sich, abgesehen von Beispielen (aus dem Lateinischen, Altgriechischen, aus dem Altindischen) tatsächlich keine Angaben zur Verbreitung des Ablauts. So bleibt der Ablaut (bzw. das, was man so bezeichnet) als eine irgendwie (aber wie?) verbreitete Erscheinung etwas ganz und gar Unhistorisches. Ich denke, er wird ganz folgerichtig nicht als idg. eingeordnet, weil die am Ursprung der Aussage stehende Hinordnung des Sachverhalts auf unsern Sprach-
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stamm nicht interpretiert werden kann als Ausrichtung auf eine historisch als idg. konkretisierte Größe. Zugleich distanziert sich Kluge und macht das, was andere Sprachhistoriker als historische Tatsache verstehen, zum bloßen Schlagwort. Wenn Kluge hingegen darstellt, dass der Ablaut relevant ist für das Deutsche und für uns als deutsch Sprechende, dann gibt es keine Distanzierung mehr: Wohl thematisiert er diesen Zusammenhang mit den bescheidenen Worten, „der Ablaut“ sei „eine Lauterscheinung, die im Deutschen eine sehr große Rolle spielt [...]“ (Kluge 21925, 24). Allerdings gibt er schon im nächsten Satz unmissverständlich zu verstehen: „Der deutsche Ablaut ist nicht, wie man lange angenommen hat, eine sprachliche Eigenart von uns und ein Sonderbesitz […]“ (siehe oben). Die Hinordnung auf das Deutsche und auf uns als Deutsche bewirkt also durchaus, dass der Ablaut hier auch als deutsch markiert wird. Insofern es Kluge mit „dem Ablaut“ um etwas geht, das „im Deutschen eine sehr große Rolle spielt“, das er also als relevant für uns erklärt, für uns, die wir deutsch sprechen, bezeichnet er ihn als deutsch (mit der Gruppenbezeichnung). Kluge lässt keinen Zweifel daran, dass das historische Phänomen, das er im Kapitel „Die indogermanische Sprachgemeinschaft“ darstellen will, der deutsche Ablaut ist, d. h. der Ablaut von uns Deutschen. Weil dem so ist, kann er den Ablaut nicht einer anderen Gruppe zuordnen. Er will darstellen, inwiefern der Ablaut uns Deutschen zugutekommt, und vermeidet jede Aussage darüber, inwiefern die idg. Sprachgemeinschaft oder irgend jemand anderes davon profitiert. Es gibt hier bei Kluge eine Systematik in der Vermeidung von perspektivierendem indogermanisch, eben weil dies als Gruppenbezeichnung verstanden werden und theoretisch Solidarisierungen auslösen könnte. Dass Kluge diese präzise Perspektivierung vermeidet und in Übereinstimmung damit den Ablaut gerade nicht als idg. bezeichnet, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass er sich in Vertretung der Deutschen den Ablaut aneignen kann. Das einzige Zugeständnis, das Kluge den anderen Sprachen und ihren Sprechern (auch dem kritischen Leser und vielleicht sich selbst) macht, ist die Hinordnung des Schlagworts auf unsern Sprachstamm sowie der idg. Betonung, die „einen Perfektablaut hervorgebracht hat“, auf unsern ganzen Sprachstamm. In diesem Zugeständnis wird die perspektivische Verschiebung deutlich: Wir haben den Ablaut zwar als deutschen Ablaut, aber wir haben ihn nicht allein, sondern irgendwie zusammen mit anderen in unserm (ganzen) Sprachstamm. Im Hintergrund versteht man (mitversteht man irgendwie) einen Bezug auf eine größere, aber sehr vage Gruppe von Sprachen und Sprechern, und im Vordergrund versteht man den Bezug auf uns als Deutsche, den man vorher auch schon verstanden hat. Wenn Kluge uns also in unsern (ganzen) Sprachstamm einordnet, dann erweitert er seine Perspektive nicht, sondern er pauschalisiert. Er nutzt zur Verschiebung der Perspektive von unserer Sprache und von uns Deutschen hin zu unserm (ganzen) Sprachstamm eine Teil-Ganzes-Relation. Die persuasive Funktionalisierung von Teil-Ganzes-Relationen wird von der satzsemantischen Sprachkritik beobachtet: In persuasiven Texten nutzt man sie, indem „übertreibend pauschalisiert [wird]“, indem also „mit Quantifizierungsausdrücken Gesamtmenge oder Gesamtheit
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nahegelegt wird, wo sprachkritisch auch Teilmenge verstanden werden kann“ (v. Polenz 1988, 150, Hervorhebungen dort). Bei Kluge wird nicht übertreibend pauschalisiert, sondern hier wird pauschalisiert, damit seine Perspektive trotz notwendiger Verschiebung (von deutsch hin zu idg.) auf uns ausgerichtet bleiben kann. Er verunklart und verschleiert, was auch konkret benannt werden könnte. Und diese Verunklarung macht es möglich, dass Kluge vom „deutschen Ablaut“ sprechen kann. Die Interpretation, unser Sprachstamm sei „zu einer verbreiteten Erscheinung gelangt“, ist nur die Konsequenz aus der pauschalisierend verunklarenden Perspektivierung. Selbst die lexikalische Gestalt der perspektivierenden Größe (Sprachstamm), so behaupte ich, ist dieser Pauschalisierung geschuldet. Kluge bedient sich hier der pflanzlichen Metaphorik, um historische Grenzen verwischen zu können; der Sprachstamm trotzt der zeitlichen Veränderung und besonders der historischen Einordnung in Zeit, Raum oder Gruppe. Kluge gibt mit dieser Perspektivierung eine bildliche und zugleich abstrakte Größe vor, die einen allgemeinen und vagen Zusammenhang schafft, in den wir uns integriert fühlen sollen.32 Der Sachverhalt wird damit auf eine perspektivierende Größe hingeordnet, die nicht intellektuell-begrifflich, sondern ausschließlich emotional aufgefasst werden soll. Und damit man auch ja nicht von der Solidarisierung mit etwas Deutschem abgelenkt werde, wird sie nicht mit einem Eigennamen versehen. Unser ganzer Sprachstamm als zeitübergreifende Sprachgruppen- und Gruppenidentität ist und bleibt für Kluge etwas Virtuelles. Und auch die deutsche Sprache bleibt in diesem Zusammenhang eine vage Größe. Präzise ist Kluge nur darin, dass es sich um unsere Sprache, um die Sprache von uns Deutschen handelt.33 Es liegt überhaupt nicht in der Logik eines derart strukturierten Erkenntnisprozesses, am Sachverhalt des (idg.) Ablauts der idg. Sprachen entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge von der idg. Frühzeit bis hin zu den modernen idg. Sprachen, besonders hin zur deutschen Gegenwartssprache, aufzuarbeiten.34 Damit ist bereits dargelegt, wie diese Perspektivierung im Text als Zeichen für die Präsupposition fungiert, es gäbe etwas, das „wir unter dem Schlagwort Ablaut zusam32
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Immer wieder spricht Kluge, ohne historische Einordnung und übertreibend, von „der großen idg. Sprachgemeinschaft“ (Kluge 21925, 7), vom „großen Zusammenhang der idg. Sprachgemeinschaft“ (ebd., 14). Wenn er später im Zusammenhang mit dem Urvolk (!) auch die Grundsprache (!) datiert, suggeriert er wieder, es gehe um Urvolk und Grundsprache von uns Deutschen (ebd., 30 f.). Als solche werden Urvolk und Grundsprache ebenfalls als Benefaktive behandelt. Zum schwierigen Verhältnis der gegenwärtigen, standardisierten deutschen Sprache und der angenommen idg. Grundsprache sowie zum Problem eines übergreifenden Begriffs von Sprache vgl. Seebold 1998, 963. Kluge reflektiert dies sogar, mit Blick auf die – nicht immer idg. genannte – Grundsprache: „Unsere geschichtliche Sprachbetrachtung kann sich nicht auf eine Darstellung des ganzen Formenreichtums einlassen, den die vergleichende Sprachwissenschaft erschlossen hat. Denn nicht alles kommt der Geschichte unserer Muttersprache zugute; endlos viel ist auf dem langen Wege von der gemeinindogermanischen Urzeit bis zum Beginn unseres Schrifttums verlorengegangen oder vollständig verdunkelt worden“ (Kluge 21925, 17 f.). „Zugute kommen“ muss hier durchaus in seinem Doppelsinn verstanden werden: „Der Geschichte unserer Muttersprache“ kommt nicht zugute, was „verlorengegangen“ ist, aber auch nicht das, was uns nicht vor den anderen auszeichnet.
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menfassen“. Welches Zeichen bildet sie aber, wenn sie die Präsupposition wiederaufnimmt, es gäbe „die idg. Betonung“? Das triadische Zeichenmodell von Peirce besagt Folgendes: Indem die Nebenbei-Aussage, die idg. Betonung ist wichtig für unsern ganzen Sprachstamm, im Text für diese Präsupposition steht, sie vertritt bzw. wiederaufnimmt, generiert sie den Interpretanten die idg. Betonung ist eine der wichtigsten Einzelentdeckungen dafür. Indem die Perspektivierung wichtig für unsern ganzen Sprachstamm für einen anderen Sachverhalt steht, entsteht auch ein anderer Interpretant (Einzelentdeckung, und nicht verbreitete Erscheinung). Man muss sich fragen, ob und gegebenenfalls wie dieser Interpretant zu verstehen gibt, dass unser ganzer Sprachstamm von der idg. Betonung profitiert. (Der Nutzen aus dem, was „wir unter dem Schlagwort Ablaut zusammenfassen“, war ja nicht sehr groß.) Bei einem linearen Verlauf der Textlektüre geht man zunächst davon aus, dass mit der wiederholten Perspektivierung auch über die idg. Betonung gesagt sein soll, dass sie wichtig ist für uns Deutsche, die wir irgendwie in einen großen (vagen) Zusammenhang integriert sind, und nicht, für die idg. Sprachgruppe und ihre Einzelsprachen. Zum Verständnis des Interpretanten in der historischen Aussage gehe ich deshalb wiederum den Umweg über den deutschen Ablaut. Ich frage, wie der deutsche Ablaut uns Deutschen (in einem vagen Sprachzusammenhang) nützt, um damit anzuschließen, wie die idg. Betonung uns Deutschen (in einem vagen Sprachzusammenhang) nützt. Kluge hatte den Ablaut eingeführt als „eine Lauterscheinung, die im Deutschen eine sehr große Rolle spielt, aber erst sehr langsam und allmählich als eine hohe Altertümlichkeit in unserm Sprachbau erkannt worden ist [...]“ (Kluge 21925, 24 ff.). Hier zeigt sich bereits das Verfahren der perspektivierenden Verunklarung: er lässt offen, ob er den Ablaut als eine hohe Altertümlichkeit dem (Sprachbau des) Deutschen oder unserm ganzen Sprachbau zuschreibt. Aber wie auch immer: Der Ablaut kommt uns (!) als eine hohe Altertümlichkeit zugute, als solche ist er erkannt worden und als solche ist er − wie die idg. Betonung – eine Entdeckung für uns. Kluge will deutlich darauf hinaus, dass vom Ablaut allein das Deutsche profitiert: Er bedauert, dass „der Ablaut [...] kein Charakteristikum des Deutschen oder des Germanischen [ist]“ (Kluge 21925, 25); er bedauert, dass „der deutsche Ablaut [...] nicht eine sprachliche Eigenart von uns und ein Sonderbesitz [ist]“. Diesen vermeintlichen Mangel kompensiert er damit, dass er anhand des irgendwie allgemeinen, aber für uns Deutsche reklamierten Ablauts zeigt, dass wir damit eine hohe Altertümlichkeit haben. „Ist der Ablaut aber kein Charakteristikum des Deutschen oder des Germanischen, so zieht die Frage nach dem Alter dieser Spracherscheinung zugleich die Frage nach ihren Gründen und Ursachen nach sich“ (ebd.). Die idg. Betonung wird demzufolge nicht primär behandelt, um das Ur-Idg. zu beschreiben oder entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge. Die idg. Betonung ist nicht als Ursprung einer verbreiteten Erscheinung in unserm Sprachstamm von Bedeutung (als Ursprung einer solchen Erscheinung kann sie gar nicht wirklich wichtig sein), sondern sie ist von Bedeutung für das Deutsche, insofern sie „ein besonders hohes Alter hat“ (ebd. 28) und beweist, dass wir mit dem
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Ablaut eine hohe Altertümlichkeit in unserem Besitz haben. Damit wird der Mangel ausgeglichen, dass „der Ablaut kein Charakteristikum des Deutschen oder des Germanischen“ ist. So kommt man auch der vermeintlichen Namengebung auf die Spur. Kluge bezeichnet die Betonung als idg., obwohl ihn ihre Bedeutung für die idg. Ursprache oder für die idg. Sprachgruppe nicht interessiert. Der Erfolg der idg. Sprachwissenschaft (in meinem Verständnis: derjenigen Sprachwissenschaft, die sich im Wege des Sprachvergleichs mit der angenommenen idg. Grundsprache als Ursprung aller idg. Sprachen beschäftigt35) wird von ihm so definiert: „Die idg. Sprachwissenschaft [hat sich] immer mehr davon überzeugt, dass der deutsche und germanische Ablaut ein viel höheres Alter beansprucht und in eine sehr weit zurückliegende Vergangenheit reicht“ (Kluge 21925, 25). „Der deutsche und germanische Ablaut“ hat also „ein viel höheres Alter“ als nur das deutsche und germanische Alter, und er reicht „in eine sehr weit zurückliegende Vergangenheit“, nicht nur in die deutsche und germanische Vergangenheit“, sondern in eine „fernere Vergangenheit“. Er ist durch „eine älteste vorgermanische Betonungsweise“ entstanden (ebd. 26), die von Kluge auch „die idg. Betonung“ oder „die idg. Urbetonung“ genannt wird (ohne konkrete Zeitangabe). Idg. ist demnach eine von mehreren Altersbezeichnungen. Der Name rührt zwar von der Einordnung in eine Epoche (die Epoche der idg. Grundsprache) her; die Namengebung an dieser Stelle soll aber nicht die Epochenspezifik des Sachverhalts verdeutlichen, sondern sein Alter. Der Eigenname indogermanisch wird von Kluge zu einem geschichtlichen Qualitätsprädikat umfunktioniert, welches gleichbedeutend ist mit ›uralt‹. An diesem Punkt der Auseinandersetzung mit dem Text von Kluge zeigt sich, wie folgenreich die perspektivische Verzerrung mittels Pauschalisierung ist. So wie er das, was „wir unter dem Schlagwort Ablaut zusammenfassen“ für das Deutsche vereinnahmt, vereinnahmt er auch die idg. Betonung. Anstatt zu sagen, dass der (idg.) Ablaut für viele idg. Sprachen relevant ist (dass sie sehr alt sind, dass sie mit dem Ablaut eine besondere morphologische Qualität und Schönheit haben oder dass sie eine faszinierende Vergangenheit haben), hält er den Ablaut uns Deutschen zugute: Wir haben darin etwas besonders Altes, und das kann man mit seinem Ursprung in einer uralten Beto35
Es ist bekannt, dass Friedrich Kluge (1856–1926) zum Kreis der Junggrammatiker gehörte, deren Arbeitsprogramm „die Ordnung und Erklärung der beobachteten Lautentsprechungen innerhalb der idg. Einzelsprachen“ umfasste (Putschke 1998, 486). Kluge wird von manchen sogar zur Kerngruppe der Junggrammatiker gezählt (Putschke 1998, 474); jedenfalls studierte er in Leipzig zu Zeiten der „junggrammatischen Revolution“ (1876), und seine Arbeiten zur historischen Grammatik sowie das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache (1883) gehören in dieses Umfeld. Die für das junggrammatische Arbeiten notwendige Annahme, dass alle idg. Sprachen (mindestens strukturell) gleichwertig sind, hat Kluge hier aus den Augen verloren. Es bedarf auch einer Erklärung, dass er das Schleicher’sche Stammbaum-Modell der Sprachentwicklung hier wiederbelebt, das ja bereits von denjenigen Junggrammatikern, die sich überhaupt für ein Modell der Sprachentwicklung interessierten (besonders Johannes Schmidt und August Leskien), als überholt angesehen wurde (Putschke 1998, 488).
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nungsweise beweisen. Lediglich implikativ (als Implikatur) verstanden wird, dass dieses Alter auch den anderen idg. Sprachen (der idg. Sprachgemeinschaft) irgendwie zugute kommt. Kluges Kapitel mit dem Titel die idg. Sprachgemeinschaft gestaltet sich in dieser Weise über weite Strecken und in empörendem Ausmaß als eine Plünderung und Ausbeutung anderer Sprachen und ihrer Geschichte. Dass andere Sprachen auch den Ablaut haben oder in ihrer Vergangenheit hatten, wird nicht diesen Sprachen zugute gehalten, sondern dem Deutschen. Sie werden zu einer Art Steinbruch, aus dem er sich (als Deutscher) Beweise für das hohe Alter (und für andere Qualitäten) des Deutschen aneignet. Dies kann man nicht damit rechtfertigen, er habe eben eine Sprachgeschichte der deutschen Sprache geschrieben. Man kann in einem solchen Text die historischen Sachverhalte durchaus mit Blick auf die deutsche Sprache bewerten und andere Sprachen trotzdem zu ihrem Recht kommen lassen. Kluges Text verkörpert demgegenüber einen wissenschaftlich verbrämten Akt expansiver Kriegsführung. Er thematisiert Struktureigenschaften und ordnet sie in historischen Aussagen entweder direkt auf uns Deutsche hin oder auf irgendetwas von uns (auf unsere Sprache, unseren Sprachstamm, unseren Sprachbau), um schließlich zu sagen, was wir als Deutsche damit gewonnen und wie einen Besitz in unserer Verfügung haben. Mit der historischen Aussage (4) über die idg. Betonung räumt er ein: Natürlich profitieren (in unserm ganzen Sprachstamm) irgendwie alle davon, dass die idg. Betonung entdeckt wurde (sie ist eine [...]entdeckung), weil damit der Ursprung des Ablauts entdeckt wurde. Aber während dies der idg. Grundsprache und auch unserem Sprachstamm nicht viel genützt hat – denn unser Sprachstamm ist mit dem Ablaut zu nichts weiter als zu einer verbreiteten Erscheinung gelangt – hat es uns Deutschen wirkliche Vorteile verschafft. Genau dies soll mit der merkwürdigen Verdinglichung der idg. Betonung ausgedrückt werden. Sie ist im wörtlichen Sinne ein Erkenntnisgegenstand, der uns Deutschen unsere nationale Identität veranschaulicht. Allgemein sagt Kluge über solche Erkenntnisgegenstände: „Die Sprache ist der Spiegel einer Nation [...] Schauen wir in diesen Spiegel, so tritt uns darin ein großes, herrliches Bild von uns selbst entgegen“ (Kluge 21925, 1). Die idg. Betonung ist, wie ein Spiegel, eine sprachliche [...]entdeckung in doppeltem Sinne: sie wurde selbst (wie ein archäologisches Fundstück) entdeckt, und indem wir sie nun in der Hand haben wie einen Spiegel, können wir uns damit beschäftigen, um etwas über uns Deutsche (als Teil unsers ganzen Sprachstamms) zu erfahren. Wir profitieren von der idg. Betonung, weil wir uns Deutsche darin erkennen.36 Indem mit ihr die Herkunft des Ablauts geklärt werden konnte, haben wir den „Ablaut“ als eine hohe Altertümlichkeit in unserm Sprachbau erkannt [...]“ (Kluge 21925, 24 ff.). Und diese 36
Kluge entwickelt eine regelrechte Erkenntniseuphorie, in solchen Formulierungen wie „[...] wir sind auch in der glücklichen Lage, manche urälteste Wörter einwandfrei deuten zu können“ (Kluge 2 1925, 13). Er interpretiert Sachverhalte als „Rätsel unseres Sprachlebens“ (ebd., 5); diese sind für ihn nichts Unerforschliches, sondern, im Gegenteil, etwas durchaus Beherrschbares, das den größten Erkenntnisgewinn für uns sichert.
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Altertümlichkeit, wenn sie auch irgendwie ein Merkmal eines größeren Sprachenverbandes sein sollte, ist doch vor allem eine spezifische Qualität der deutschen Sprache und muss den Deutschen zugute gehalten werden.37 Dies alles muss präsent sein, wenn man die historische Aussage in ihrem direkten Kontext verstehen will: Die indogermanische Betonung ist für unsern ganzen Sprachstamm eine der wichtigsten Einzelentdeckungen. Steht doch in allen Sprachen aller Zeiten Wort und Satz von jeher unter bestimmten Betonungsverhältnissen, und es gibt nirgendwo ein Wort oder einen Satz, der in dieser Hinsicht zu Bemerkungen keinen Anlass gäbe. Jede Tonstellung und Tonverschiebung muss immer Sprachveränderungen nach sich ziehen. Die Mehrzahl der idg. Sprachen hat durch Tonverschiebung viele wesentliche Umformungen erfahren. Die neuere Forschung erschließt durch vergleichende Arbeit auch in dieser Richtung den vielfach verlassenen Urzustand. (Kluge 21925, 26)
Durch die Entdeckung der idg. Betonung, sehen wir im Allgemeinen und Besonderen, dass es einen Urzustand gab, den wir verlassen haben, den wir vielfach verlassen haben (denn eine Einzelentdeckung steht neben anderen). Unser ganzer Sprachstamm, in den wir Deutsche irgendwie integriert sind, profitiert von dieser Entdeckung, indem wir erkennen, dass die Mehrzahl der idg. Sprachen sich wesentlich verändert hat. Das kann heißen: Die Mehrzahl der idg. Sprachen hat in gleicher Weise den Urzustand verlassen (durch die ursprünglich freie Betonung und durch den dadurch bedingten idg. Ablaut). Oder: Die Mehrzahl der idg. Sprachen hat sich wesentlich verändert, aber jede einzelne in jeweils anderer Weise. Diese Veruneindeutigung gehört zu Kluges historiographischem Programm. Man kann die Aussage durchaus folgendermaßen verstehen: Die idg. Betonung begründet uns, dass unsern ganzen Sprachstamm nicht nur ein idg. Urzustand eint (die freie Betonung), sondern auch die daraus abgeleiteten sprachlichen Veränderungen (z.B. der Ablaut), die zu Differenzen in unserm ganzen Sprachstamm geführt haben (zum deutschen Ablaut, der etwas anderes ist als der gemeine Ablaut). Die idg. Betonung ist eine Entdeckung für uns, weil sie uns zeigt, dass uns in unserm ganzen Sprachstamm die Differenz eint, so dass wir als Deutsche uns deutlich daraus hervorheben38. 37
So ist „der deutsche Ablaut [...] eine starke Macht und ein hervorstechender Zug für die Bildsamkeit unserer Sprache“ (ebd. 24). Kluge sagt später, dass „die Bildsamkeit des Germanischen eine Schöpferkraft ist, wie sie nicht überall angetroffen wird“ (ebd. 29). Auch hier wird deutlich, dass wir als Deutsche und Germanen die Bildsamkeit unserer Sprache und den deutschen Ablaut in besonderer Weise haben. Man gewinnt den Eindruck, wir hätten mit dem deutschen Ablaut (wie mit der idg. Betonung und der Bildsamkeit des Germanischen) zwar keinen Sonderbesitz (keinen alleinigen Besitz), aber doch einen besonderen Besitz (ein Alleinstellungsmerkmal). 38 Hier knüpft Kluge an die Stammbaumtheorie August Schleichers an, mit dem dieser „das Prinzip der Divergenz, der Auseinander-Entwicklung“ der idg. Sprachen verabsolutiert und spätere Kontakte und Gemeinsamkeiten ausgeschlossen hat (Seebold 1998, 968). Er übernimmt dieses veraltete Modell, weil er die Darstellung geschichtlicher Abläufe der Darstellung des historischen Profits für uns Deutsche unterordnet.
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Zusammenfassend: Die Perspektivierung ist bedeutend für unsern ganzen Sprachstamm leitet lediglich eine defiziente semiotische Bewegung ein, insofern unser ganzer Sprachstamm kaum von den dargestellten Sachverhalten profitiert. Mit Blick auf das Deutsche (kaum abgegrenzt vom Germanischen) kommt der Prozess hingegen in Gang. Das, was „wir unter dem Schlagwort Ablaut zusammenfassen“ wird unter expliziter Hinordnung auf das Deutsche und auf uns (Deutsche) zum dt. Ablaut, und es wird mit mehreren Interpretanten gezeigt, wie positiv dieser Sachverhalt für uns Deutsche ist. Die idg. Betonung wird dabei im Wesentlichen als Beweis für diesen historischen Profit (für ein hohes Alter) behandelt. In der zitierten historischen Aussage kommen Textcharakteristika der Sprachgeschichte von Kluge zum Ausdruck: Eine (Einzel-)Entdeckung zu sein, ist kein Prädikat, das dem historischen Sachverhalt Seinsqualitäten verleiht (insbesondere kein Prädikat des Geschichtsverlaufs), sondern ein Prädikat darüber, wie man historiographisch mit ihm verfährt. Deshalb kommt man Kluges Text nicht sehr nahe, wenn man etwa fragt, welchen Geschichtsverlauf er mit der Metaphorik vom Sprachstamm und seinen Zweigen hier entwickelt, welche Epochen er unterscheidet usw. Kluge tritt auf der Stelle, denn er ordnet die historischen Sachverhalte nur selten auf konkrete Epochen oder konkrete Sprachen hin. Der Geschichtsverlauf (als Abfolge von Strukturen und Ereignissen) ist ihm einigermaßen egal. Er entnimmt der Geschichte solche Sachverhalte, die er mittels perspektivischer Verzerrung der vagen Gruppe von uns Deutschen gutzuschreiben weiß, und stellt interpretativ dar, in welcher Weise unsere Identität davon profitiert. Wer auch immer sich mit der Bezeichnung deutsch bzw. germanisch (bei Kluge auch: deutsch und germanisch) in seiner Gruppenzugehörigkeit angesprochen fühlt, soll in diesem Zugehörigkeitsgefühl gestärkt werden. Man sollte die historischen Aussagen des Autors ganz ernst nehmen und die historiographische Qualität des Textes problematisieren. Trotz formaler Epochengliederung ist Kluges Sprachgeschichte ist viel weniger ein Geschichtstext als ein Text der Selbstbespiegelung. Er operiert eigentlich nicht auf der ersten Metaebene, sondern auf der zweiten Metaebene, indem er zeigt, wie man sich als Deutscher die Geschichte aneignen kann. Voraussetzung dafür muss im Übrigen ein jämmerliches Selbstbild der Deutschen gewesen sein: Wir wissen nichts von uns, wir haben nichts, wir fühlen uns klein, wir wollen uns durch Vergleich mit den anderen profilieren, und deswegen eignen wir uns die Vergangenheit wie die Gegenwart, die wir eigentlich mit anderen teilen müssen, wie einen Besitz an. Auf diesem Wege gelangen wir zu unserer Identität, „zu einem großen Bild von uns selbst“. Wie viel Handlungsrationalität kann man bei einem solchen Selbstbild erwarten?
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6. Zusammenfassung Gegenstand des Aufsatzes ist eine Aussagenstruktur, die typisch ist für die Textsorte Sprachgeschichte und konstitutiv für die „Verwirklichung von Sprachgeschichte“ in dieser Textsorte. Durch ein semiotisches Verständnis historischer Aussagen wird deutlich, wie man als Textrezipient zur Akzeptanz einer „Idee von Sprachgeschichte“ gelangt (oder auch zu einer Distanzierung davon). Ich unterstelle, dass der Textproduzent diesen Weg auf seine Weise geht. Er behauptet oder präsupponiert die Tatsächlichkeit eines bestimmten historischen Sachverhalts (eines Dokuments, eines Strukturphänomens, eines Ereignisses, einer Epoche, einer Person) und bezieht ihn in einem ganz konkreten Sprechakt auf einen bekannten Gegenstand allgemeineren Interesses, d. h. auf einen Gegenstand, der (in einer bestimmten Gruppe von Menschen) bereits als Wert akzeptiert ist (die deutsche Sprache, unser Deutschtum, wir, die Entstehung der nhd. Schriftsprache, die Schriftkultur, die Sprache der Öffentlichkeit, die Geschichte der Dialekte, europäische Sprachkontakte usw.). Dieser Sprechakt kann bewusst oder unbewusst vollzogen werden; er wird in der Regel nebenbei geäußert. Für den Prozess des Schreibens und für das Vorantreiben der sprachhistorischen Erkenntnis ist er unabdinglich, denn dieser Sprechakt legt die weitere sprachtextliche Behandlung des Sachverhalts fest, indem er zunächst zur inventio eines Interpretanten führt, der ausdrückt, auf welche Weise dem Wertgegenstand in der Geschichte Gutes widerfahren ist. Wenn man beispielsweise, wie Kluge, historische Sachverhalte (den idg. Ablaut, die idg. Betonung) als relevant für uns Deutsche erklärt und wenn man diese unsere Gruppe dabei zugleich konstituiert sieht durch so unterschiedliche und zugleich vage Größen wie durch uns, unsere Sprache, unseren Sprachbau, und sogar durch (Differenzen in) unserm Sprachstamm, wenn also diese Gruppe ein völlig unkritisch behandeltes amorphes Gebilde ist, das seine Identität aus nichts als der Bezeichnung deutsch bezieht, dann wird man die historischen Sachverhalte auch nicht als in Raum, Zeit und Gruppe konkretisierbare Phänomene interpretieren. Man bekommt keinen Geschichtsverlauf (re)konstruiert, wenn man so verschwommen perspektiviert. Insofern verwundert es gar nicht, dass der polyseme Ausdruck Vorgeschichte des Deutschen als epochenspezifischer Interpretant in vielen Sprachgeschichten nicht monosemiert wird (Reichmann 1998, 4), dass „der Umbruch von Vordeutsch zu Deutsch“ oft „unterbetont“ wird (ebd.) und dass die Interpretanten für Sachverhalte „objektivistische Konstanzvorstellungen“ zum Ausdruck bringen (ebd. 5). Es kommt häufig nur darauf an, dass, wie in der Bezeichnung der Perspektive, auch in der Bezeichnung der historischen Sachverhalte der Gruppenname deutsch (bzw. germanisch) untergebracht und das Solidarisierungspotential dieser Bezeichnung ausgeschöpft werden kann. In einer derart auf uns als Deutsche bezogenen Sprachgeschichte werden solche Interpretanten gesucht, die besagen, wie wir als Gruppe von einem bestimmten historischen Sachverhalt profitieren, wie wir uns also über diesen Sachverhalt als Gruppe definieren und von anderen Gruppen unterscheiden. Kluge wählt Interpretanten der dinglichen Aneignung; der deutsche Ablaut ist nicht ein
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Sonderbesitz (von uns), aber eine (als Besitz aufgefasste) Altertümlichkeit in unserm Sprachbau, die idg. Betonung ist eine Entdeckung für uns, d. h. ein Gegenstand, den wir uns (wie den als deutsch bezeichneten idg. Ablaut) aneignen können, wenn wir sie nur interpretativ für uns zu nutzen wissen. Andere Perspektiven sind für Kluge ganz ausgeschlossen. Auch deshalb kann er nicht die Entwicklung des idg. Ablauts darstellen, denn dann müsste er zwangsläufig Aussagen der Art formulieren, das etwa auch das Russische (und damit die Russen) von diesem Gang der Entwicklung profitiert haben, insofern es offenbar genauso alt ist wie das Deutsche, vergleichbar schön (bildsam) usw. Das Textbeispiel zeigt, dass die historischen Sachverhalte in den Sprachgeschichten nicht an sich interessant und von Bedeutung sind. Man muss nicht so weit gehen wie Kluge, der durch perspektivische Verzerrung die historischen Sachverhalte selbst bis zur Unkenntlichkeit entstellt. (Was ist denn nun der idg. Ablaut eigentlich?) Der Entwurf einer Sprachgeschichte beinhaltet aber zwangsläufig ein semiotisches Programm der Perspektivierung und Interpretation, das in den historischen Aussagen zum Ausdruck kommt. Ein Mangel (an Wissenschaftlichkeit) ist dies nicht: Der Sprachhistoriograph strukturiert damit für sich und die Leser (bewusst oder unbewusst) den Prozess der historischen Erkenntnis. Er bedient sich dabei des wichtigsten Werkzeuges, das er zur Verfügung hat: der Sprache im Text. Unter Umständen gelingt es ihm dabei (absichtlich oder unabsichtlich), den einen oder anderen sprachgeschichtlichen Sachverhalt zu einem Ereignis allgemeinen, vielleicht öffentlichen Interesses zu machen. Eine solche Sprachgeschichte ist ein Glücksfall für die Sprachgeschichte. Allerdings hat Peirce deutlich gemacht: Für die Ausarbeitung eines solchen Textes braucht es, wie für jeden Einbruch einer neuen Erfahrung, eine Zeitdauer, nicht einen bürokratisch vorgegebenen Zeitpunkt.
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Sprachgeschichte als Gewaltgeschichte Ein Forschungsprogramm
1. Einführung 2. Was hat Sprache mit Gewalt zu tun? Annäherungen an das Verhältnis zweier schwieriger Begriffe 3. Sprachgeschichte als Gewaltgeschichte: Ansätze eines diachronen Forschungsprogramms 4. Sprachgeschichte als Geschichte verbaler Gewaltausübung: Perspektive und Ausblicke 5. Zitierte Literatur
1. Einführung Dantons Tod von Georg Büchner, 3. Akt. MERCIER. Nicht wahr, Lacroix, die Gleichheit schwingt ihre Sichel über allen Häuptern, die Lava der Revolution fließt, die Guillotine republikanisiert! Da klatschen die Galerieen, und die Römer reiben sich die Hände; aber sie hören nicht, daß jedes dieser Worte das Röcheln eines Opfers ist. Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden. – Blickt um euch, das alles habt ihr gesprochen; es ist eine mimische Übersetzung eurer Worte. Diese Elenden, ihre Henker und die Guillotine sind eure lebendig gewordnen Reden. Ihr bautet eure Systeme, wie Bajazet seine Pyramiden, aus Menschenköpfen. DANTON. Du hast recht – man arbeitet heutzutag alles in Menschenfleisch. Das ist der Fluch unserer Zeit. Mein Leib wird jetzt auch verbraucht.
In Körpersprache übersetzte Worte; Worte, die das Röcheln eines Opfers sind, Phrasen, die verkörpert werden, Bilder, die jemand gesprochen hat, und Reden, die zu vollstreckenden Henkern personifiziert werden ebenso wie zu deren Tötungsinstrument Guillotine. Wenn G. Büchner durch Mercier warnt: „Geht einmal Euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden“, so setzt er wie selbstverständlich voraus, dass Sprache verletzen kann, mehr noch, dass sie durch ihre Verkörperung zur tödlichen Waffe wird.1 Auch Ch. S. Peirce nutzt die Metaphorik der Strafjustiz, wenn er schreibt, dass 1
Doch er spricht in seiner expliziten, gerade auch an den Leser gerichteten Aufforderung von dem abwertenden Wort Phrase, was man im Sinne von ›abgegriffene, nichts sagende Aussage‹ lesen könnte. Bei diesem Verständnis warnt er also vor leerem Geschwätz, was nichts anderes impliziert, als dass er politisches Sprechen als ein solches abqualifiziert.
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ein Wort „mit dem Urteil eines Gerichts verglichen werden [kann]. Es ist nicht selbst der rechte Arm des Sheriffs, doch ist es fähig, sich einen Sheriff zu schaffen und seinem Arm den Mut und die Energie zu verleihen, die ihn wirksam werden lässt“ (In: Phänomen und Logik der Zeichen; PLZ 66). Wörter bzw. Phrasen, gezielter: Wörter und Phrasen, ihre Verkörperungen als Gewalt, damit ihre gewaltsamen Wirkungen sind das Thema dieser Ausführungen. Ob sie während einer Revolution im Chaos und Terreur einer Willkürherrschaft gesprochen werden oder im institutionell geordneten Rahmen eines stabilen politischen Systems, ob sie öffentlich oder zwischen Menschen im privaten Kreise fallen, sie durchbrechen mit ihren Wirkungen die Mauer der Leiblichkeit, dringen ein und treffen so den gesamten Menschen. Man tropisiert nicht zufällig: Man kann mit Worten verletzen, man hat schlagende Argumente, führt einen verbalen Schlagabtausch oder ficht einen Standpunkt aus. Hin und wieder wirft man jemandem etwas an den Kopf oder explizit militärisch ausgedrückt: fährt man schweres Geschütz gegen jemanden auf. Und wenn das alles nicht ausreicht, sprechen am Ende nicht mehr nur die Kontrahenten, sondern die Waffen. Dann haben Worte den Verstand vergiftet oder tödlich getroffen. Nun könnte man fragen, ob all das nicht nur ein Schub von Katachresen, von Verlegenheitsmetaphern sei, weil es in der Sprache an Worten für die psychische Verletzung fehle, für den mit Worten durchgeführten Angriff auf die Seele, die zwar als Angriffsziel offensichtlich angreifbar, aber als Objekt unsichtbar und damit auch sprachlich nicht oder höchstens katachretisch greifbar sei. Aber vielleicht ist es auch ganz anders. Vielleicht zeigt der Sprachgebrauch schon lange, was erst jüngst ernsthaft in die wissenschaftliche Diskussion geraten ist. Wenn Sprechen gleich Handeln ist, und wenn man den so zum Orientierungszentrum der Linguistik geadelten Handlungsbegriff nicht unter der Hand wieder in Richtung auf ‚abgehoben/bloß/nur/lediglich/symbolisch‘ gegenüber einem vorgegebenen Realen relativiert, dann sind Sprache und Gewalt ebenso wenig trennbar wie Körper, Geist und Seele, dass wenn der Körper Gewalt erfährt, auch unsere Seele leidet und umgekehrt. Aggressives Sprechen ist dann eben ‚nicht nur‘ verbalsymbolisch aggressiv, der ‚Angriff‘ verbleibt nicht im Rahmen des ‚bloß‘ Sprachlichen als des von den Realitäten der Existenz Abgehobenen, sondern dann republikanisiert die Guillotine, und Phrasen werden verkörpert. Wenn nun aber Sprache und Gewalt phänomenologisch zusammengehören, müsste ihr Verhältnis zueinander einen der relevanten zentralen Untersuchungsgegenstände nicht nur der gegenwartsbezogenen, als Gesellschaftswissenschaft verstandenen Sprachwissenschaft, sondern auch einer gesellschaftswissenschaftlich orientierten Sprachgeschichtsschreibung bilden. Dies ist jedoch nur begrenzt der Fall. Man findet zwar Einzelanalysen zur Rhetorik und Stilistik z. B. im Nationalsozialismus, zur Manipulation in politischer Rede, zur sexistischen Sprache, vielleicht auch zur sprachlichen Stigmatisierung einzelner Menschen bzw. Gruppen. Es gibt jedoch keine umfassende Darstellung über gewaltinhärierendes Reden und Schreiben in Geschichte und Gegenwart und kein Konzept zu ihrer theoretischen Begründung. Dies hat seine Gründe.
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Der erste Grund ist zugleich seine Prämisse. Das Verhältnis von Sprache und Gewalt kann nicht sprachsystematisch im üblichen Sinne von Systemlinguistik verstanden werden. Das Sprachsystem ist kein Gewaltsystem. Man muss zwischen der Sprache als Langue/System (einerseits), der Sprache als Parole, als Sprechen/Schreiben/Verstehen (andererseits) und (drittens) der Sprachnorm als den Üblichkeiten des Sprechens (usw.) unterscheiden. Während die Sprache als System nicht nur das Mittel zur Abrichtung ist, wie Wittgenstein sagt (PU 5), sondern vor allem auch die Voraussetzung für das Verstehen und damit für jedwedes Miteinander, können das Sprechen (als Sprache in actu) wie auch dessen Üblichkeiten leicht die Ursache für das Gegeneinander, gar das Instrument und die Seinsform von Gewalt werden. Nicht die Sprache übt dann also Gewalt aus, vielmehr sind es die Sprecher, die – sprachlich handelnd – Gewalt vollziehen, in derselben Sprache übrigens, mit der sie auch trösten, berühren und heilen können. Damit sind nicht nur die sozio- und pragmalinguistischen Weichen gestellt. Es wird auch deutlich, dass wir keine langueartige, relativ feststehende ‚Grammatik‘ des gewaltsamen Sprechens haben und dass wir dieses daher nicht in derselben Weise beschreiben können wie z. B. das Konsonanten- oder das Flexionssystem des Deutschen z. B. im 14. Jahrhundert. Was wir jedoch beschreiben können, sind typische sprachliche Weisen und Muster, mit denen Sprecher sich jeweils zeitspezifisch (d. h. auch sozialtypisch) gegenseitig verletzen, schmähen, entehren, gegeneinander aufhetzen, mit denen sie individuell wie kollektiv gewaltsam handeln. Hätten wir diese nicht, wäre dieses sprachliche Handeln nur selten erfolgreich, da es ja nicht als solches verstanden würde. Die gemeinten Muster sind keine Erfindungen des Nationalsozialismus, wie man manchmal aufgrund der Konzentration auf dieses Thema meinen könnte. Sie sind über die gesamte Sprachgeschichte des Deutschen und natürlich nicht nur des Deutschen zu beobachten. Sie sind in ihrer jeweiligen Fassung ein Faktor einzelsprachlicher Sozialund Kulturgeschichte, die es über jede Punktualität hinaus als Gesamtheit einer Beziehungsgeschichte zu betrachten gilt. „Von Schimpfnamen, Verwünschungsformeln und gewissen idiomatischen Ausdrücken einmal abgesehen, gibt es also kein ‚Lexikon‘ verletzender Rede. Und dies bedeutet: Einer einzelnen Äußerung ist (zumeist) ihre verletzende Kraft gar nicht abzulesen; ihre Semantik bleibt opak gegenüber dem ihr eigenen Kränkungsgehalt. Erst die Pragmatik einer Äußerung, wer also zu wem unter welchen Umständen was und vor allem: wie gesagt hat, kann die Verletzungsdimension einer Rede enthüllen. Verletzende Worte sind nicht einfach Bestandteil der Sprache als System, sondern sie sind ein Phänomen des kulturell eingebetteten Sprachgebrauches.“ (Krämer 2007, 35.)
Die Aufgabe besteht also darin, ein Forschungsprogramm zu konstituieren, in dem Sprachgeschichte als Beziehungsgeschichte verstanden wird, im Einzelnen als Geschichte von Heilung (die aber in diesem Artikel nicht zur Debatte steht) oder aber eben als Gewaltgeschichte untersucht wird. Im Focus stünde dann das Gewalt inhärierende und anwendende, damit Gewalt festschreibende und potentiell neu konstituierende historische Sprechen in seinem jeweiligen zeitgenössischen Gewordensein, seiner gewaltsamen Wir-
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kungsweise, seiner kulturhistorischen Einbettung, seinen Anwendungsfrequenzen, seinen zeit- und sozialtypischen Erfolgen, nicht zuletzt auch seinem Scheitern. Die jeweiligen Ausdrucksformen und -muster sind abhängig von den spezifischen sozialkommunikativen Bedingungen, von den historischen Diskursen, die sie konstituieren und durch die sie konstituiert werden. Und sie sind immer zugleich Konstituente und Ausdruck derselben. Es sollte zumindest einen Versuch wert sein, eine ganze ‚Grammatik‘ textlicher Gewalt- und Exklusionshandlungen zusammenzutragen, die linguistisch zwar nicht auf der gängigen Symbolgrammatik beruhen kann, aber in der Nähe bzw. in der radikalen Fortsetzung der von P. Eisenberg (1995, 26) skizzierten Kontextgrammatik steht und sich zur übereinzelsprachlichen Stilistik öffnet. Ein Abriss eines solchen Versuches soll im zweiten Teil dieses Artikels vorgeführt werden. Der zweite Grund für das Fehlen einer soziopragmatischen Darstellung der Ausübung sprachlicher Gewalt liegt in den gängigen sprachüblichen Begriffen. Wie kann man ‚Gewalt‘ definieren? Wann ist sprachliche Gewalt überhaupt Gewalt? Wann und wie übt man sprachliche Gewalt aus? Auf wen? Ein kurzer Exkurs soll die Dimension des Themas ‚Sprache und Gewalt‘ beleuchten.
2. Was hat Sprache mit Gewalt zu tun? Annäherungen an das Verhältnis zweier schwieriger Begriffe 2.1. Sprache und Gewalt, eine Annäherung Das Verhältnis von Sprache und Gewalt ist oft diskutiert worden. Üblich ist die positive Vorstellung, Gewalt herrsche nur dann, wenn noch nicht oder nicht mehr miteinander gesprochen wird. So schreibt Jacques Derrida, „das gesprochene Wort sei bereits eine erste Niederlage der Gewalt“ (Derrida 1976, 178). Für Sigmund Freud findet der Mensch in der Sprache „ein Surrogat für die Tat, mit dessen Hilfe der Affekt nahezu ebenso ‚abreagiert‘ werden kann“ wie mit der Tat (Freud, GW I, 87). Und Wolfgang Bergsdorf hofft (1983, 27): „Sobald und solange die Sprache als Medium der politischen Auseinandersetzung angenommen ist, besteht die Chance, auf andere Mittel wie zum Beispiel Gewalt zu verzichten.“ Häufig findet man auch die Vorstellung von Sprache als gewaltfreiem Raum: „wo gesprochen wird, da schweigen die Waffen, und umgekehrt beginnen die Waffen scheinbar erst dort zu sprechen, wo nicht mehr miteinander gesprochen wird“ (Herrmann/Kuch 2007, 11). Hier ist schließlich auch der von J. Ha-
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bermas2 angenommene herrschaftsfreie Diskurs anzusiedeln. In all diesen Aussagen und Entwürfen gibt es eine Trennung von Sprache (im Sinne von ›Sprechen‹) und Gewalt, die mit G. Büchners Danton-Text nicht zu vereinbaren ist. In seinem Traktat über die Gewalt fingiert Wolfgang Sofsky den Ursprungsmythos der Gesellschaft: „Als alle Menschen frei und gleich waren, war niemand vor dem anderen sicher. Das Leben war kurz, die Angst grenzenlos. Kein Gesetz bewahrte vor Übergriffen. Jeder mißtraute jedem, und jeder mußte sich vor dem anderen schützen. Denn noch der Schwächste war stark genug, den Stärksten zu verletzen, zu töten, durch eine Hinterlist oder eine Absprache mit einem Dritten. So schlossen die Menschen einen Bund zur gemeinsamen Sicherheit. Nach langwierigen Beratungen unterzeichneten sie einen Vertrag, der allen vorschrieb, was sie zu tun und zu lassen hatten. Die Erleichterung war groß, für einen Augenblick schien die Angst verflogen. Dennoch war die Gefahr nicht gebannt. Jeder wußte, daß man ihm, solange er am Leben war, immer noch etwas antun konnte. Manche hatten nur zögernd zugestimmt, andere warteten nur die nächstbeste Gelegenheit ab. Argwohn und Angst griffen erneut um sich. Da entschlossen sich die Menschen zu einem folgenschweren Schritt. Sie legten alle Waffen nieder, die sie mit der Zeit angefertigt hatten, und übergaben sie einigen Wortführern, die zuvor aus ihrer Mitte gewählt worden waren. Diese sollten im Namen aller für Sicherheit sorgen und gegen jene vorgehen, die sich nicht einfügten.“ (Sofsky 2005, 7.)
Am Anfang waren also Chaos, Misstrauen und Angst, gar Todesangst. Ihnen entgegengestellt wird das Miteinander-Sprechen als Ordnungs- und Kultivierungshandlung zur Eindämmung, Kontrollierung und Beseitigung von Gewalt. Ganz im Sinne der oben zitierten Autoren wird durch kommunikatives Aushandeln, durch Beratungen ein sprachlicher Entscheidungsprozess in Gang gesetzt, an dessen Ende nicht nur ein Vertrag steht, sondern eine Gemeinschaft, ein Bund mit Gesetzen und Vorschriften. In diesem Sinne schreibt auch Friedrich Müller (2008, 77): „Nur durch Sprache also, […], kann Gewalt erträglich eingehegt werden.“ Man kann sich die Versprachlichung der Welt, besser die durch Sprache geschaffene und als Sprache konstituierte soziale Welt in dieser Szenerie gut vorstellen: Menschen kommen zusammen, Meinungen werden artikuliert, beraten und ausgehandelt, mündlich wie schriftlich fixiert. Wortführer werden gewählt und erfahren dadurch eine Heraushebung aus der Masse, da sie zu deren Repräsentanten werden, fortan als Einzelne für alle stehen. Damit ist auch, und das ist entscheidend, der Anfang jeglicher Hierarchisierung gemacht. Aus und mit der Machtab- und Machtübergabe werden Machtungleichgewicht und Machtkonzentration erst geschaffen. Die Instrumente zur Ordnungsherstellung werden als Produkte des auch symmetrisch denkbaren Aushandelns ihrerseits zu effektiven Instrumenten der Macht über alle Betroffenen, sowohl über diejenigen, die als primäre Adressaten zuvor zum ersten Mal geordnet, eingegliedert und hierarchisiert wurden, als auch über diejenigen, die die Mittel geschaffen haben, in denen dies erfolgt. 2
Vgl. auch Habermas 1995. Für Habermas gilt die von Vernunft und Argumentation geprägte Sprache als der Gewalt entgegengesetzt. Nur mit ihr ist Konsens und damit die friedliche Koexistenz möglich. Auch wenn sie zur Gewalt dienen kann, ist ihr Telos die Vernunft.
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Nach der vermeintlich freiwilligen Unterwerfung unter das Wahlergebnis, unter das von der Mehrheit beschlossene Gesetz und Regelsystem, folgt konsekutiv für nachfolgende Generationen die Unterwerfung unter festgelegte Regeln und eine entsprechende Erziehung, wobei auch diese Erziehung wieder sprachlich in die nächste Generation implementiert wird. Aus dem kommunikativ erworbenen Schutz wird kommunikativ durchgesetzter institutionalisierter Zwang, aus der Freiheit Unfreiheit. „Mit Eifer und Gründlichkeit machten sich die Schutzherren an die Arbeit. Sie erließen Gesetz um Gesetz, verzeichneten die Abweichungen und holten im ganzen Lande Nachrichten ein. Wer nicht reden wollte, der wurde an geheimen Orten dazu gezwungen. Wer auffiel oder sich nicht einpaßte, wurde vertrieben oder vor aller Augen bestraft. Immer kamen viele Zuschauer zusammen, wenn die Wohnviertel durchsucht, die Irrgläubigen gejagt oder ein Gesetzloser hingerichtet wurde. Unzählige Gehilfen warb man an, die man zu Exekutoren der Ordnung ernannte. [...] Unterdessen schritt die Arbeit der Ordnung zügig voran. Ein Gesetz folgte dem anderen, eine Verordnung der anderen. Endlos war dieses Werk der Regeln. Denn jede Vorschrift rief neue Verstöße, jede Regel neue Ausnahmen hervor, die wiederum neue Regeln und neue Vorschriften nach sich zogen. Wie die Fangarme eines Ungeheuers umklammerte die Ordnung das Leben.“ (Sofsky 2005, 7 f.)
Ein Blick auf die konstitutiven Sprechakte dieser effizierenden Arbeit der Ordnung ist vielsagend. Das zentrale ZUSTIMMEN, das am Anfang des Gesellschaftsvertrages steht, ist ein kommissiver Sprechakt, mit dem sich der Sprecher zu einer künftigen Handlungsweise verpflichtet. Er hat damit seine Handlungsmöglichkeiten mehr oder minder freiwillig eingeschränkt. Im Falle unseres Mythos unterwirft er sich mit dieser Zustimmung einer Reihe daraus resultierender Beschränkungen, die durch direktive Sprechakte wie VORSCHREIBEN, GESETZE ERLASSEN usw. ausgedrückt und institutionalisiert werden, eine übergeordnete Gewalt bzw. eine asymmetrische Beziehung schaffen und diese schließlich für die Zukunft als Handlungsgewalt voraussetzen. In und mit den deklarativen Sprechakten, die die unmittelbaren Veränderungen der derzeitigen Zustände/Wirklichkeit bewirken (ERNENNEN/VERKÜNDEN) und häufig von komplizierten außersprachlichen Institutionen abhängen, wird dann deutlich, dass die Unterwerfung unter die neu geschaffene Macht vollkommen ist. Nur diese hat nunmehr das Recht, solche direktiven Sprechakte, die das damit geschaffene Unterordnungskollektiv betreffen, durchzuführen. Der letzte Satz des Zitats lässt dann das schon wacklige Gefüge des sprachlich-kommunikativen Zurückdrängens von Gewalt in eine eigene Form von Gewalt kippen. Aus Friedensschaffung und Angstbewältigung wird ein bedrohliches Gefangensein. Aus Freiwilligkeit wird Zwang. Jetzt herrscht auf der einen Seite monströse, sich selbst reproduzierende, ja sogar ihren Sinn in sich selbst findende Ordnung, auf der anderen Seite gefangenes/unfreies Leben. Wie es weitergeht, kann man sich denken. Es kommt zur Revolution, zunächst zum phrasenhaften Aufbegehren gegen die bedrängende Ordnung, dann zu „lebendig gewordnen Reden“, die in ihrer „mimischen Übersetzung“ zum „Röcheln der Opfer“ führen, zuletzt in „Menschenfleisch gearbeitet“ werden. Und wieder beginnt der Kreislauf, die Arbeit der Ordnung, von vorne.
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Was Sofsky in seiner Fiktion vorführt, bedeutet im Hinblick auf die Sprache, dass diese nicht nur ein fait social, also ein Produkt von Sozialität ist, sondern dass sie selbst die Voraussetzung des sozialen Miteinanders ist. In der Artikulation der Meinungen, als Mittel und Produkt des Beratens, Aushandelns, Wählens, Entscheidens und Vertragschließens, als reglementierendes Mittel gegen die Gewaltsamkeit des Menschen konstituiert und schafft Sprache Gemeinschaft und Ordnung. Ohne Sprache gäbe es keinen Gesellschaftsvertrag und damit keine Gesellschaft. Und was nicht vergessen werden darf: Ohne Sprache gäbe es eben auch keine Erkenntnis über Sprache, keine Reflexion über das Sprechen. Aber ohne Sprache gäbe es auch keinen Herrschaftsvertrag und damit keine Herrschaft, keine Herren und Knechte, keine Überordnung und Unterordnung, also keine Unterwerfung des Einen unter den Anderen als ersten Schritten zur Gewalt. Zum Gewaltbegriff gehören immer zwei Bezugsgrößen, eine, die die Verfügungsmacht über die Gewalt hat und eine, die von ihr betroffen ist. Um diese Art der Gewalt über die Gewalt dreht sich letztlich der oben beschriebene Zyklus. Mit der Sprache entwickeln sich Wortführer/sprachliche Vorreiter/Rederechteroberer, in ihr werden machtvolle Asymmetrien in Form von Gesetzen, Regeln und Normen konstituiert, dokumentiert, archiviert und vor allem legitimiert.3 Schnell wird das Sprechen selbst zum Mittel der Gewaltausübung, in dem es durch das Erzwingen des Einhaltens von Ordnung Freiheitsbeschränkung, Konformitätserzwingung und Überwachung möglich macht, indem es aufhetzt und manipuliert und nicht zuletzt indem es im alltäglichen Kategorisieren und Benennen das Exkludieren der Abweichenden vollzieht. Wir leben also nicht nur in einer sprachlich verfassten Welt, wir leben in einer Welt, in der Menschen, indem sie Sprache gebrauchen, Gewalt ausüben, und in der Menschen, indem sie wissen, dass Sprache konstitutiv mit der Ausübung von Gewalt verbunden ist (wie natürlich auch zu anderen Handlungen) sprachliche Mittel einsetzen, um vorhandene Gewalt zu steigern. Die Bandbreite der Möglichkeiten reicht von befreiender, friedensstiftender Gewalt bis hin zur Tötung.
3
Müller 2008, 31: „Der Rechtsstaat ist, wie jeder Staat, wie jede Organisation menschlicher Gruppen eine Form von Gewalt – ihrer Regulierung, Anwendung, Rechtfertigung; und damit auch ihrer Begründung: nicht als Gewalt in ihrer Tatsächlichkeit, sondern eben als regulierter und gerechtfertigter „Macht“ („Staatsgewalt“). Das Besondere an der rechtsstaatlichen Form von Gewalt liegt vor allem darin, im Ansatz (a) Gewalt möglichst weitgehend zu entpersonalisieren; sie (b) in ihrer Regulation (Voraussetzungen, Durchführung, Begrenztheit) möglichst weitgehend auf generalisierbare Weise sprachlich zu umschreiben: und das heißt auch, sie durch wissenschaftliche Methodik tendenziell beherrschbar und vorhersehbar zu machen; und schließlich in dem Maß, in dem (a) und (b) tatsächlich verwirklicht werden, Gewalt durch gleichfalls rechtsstaatlich formalisierte Kontrollgewalt zu begrenzen.“
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2.2. Was ist Gewalt? Vielleicht findet man eine Antwort, wenn man die ontologistische Formulierung mittels ist in eine linguistische übersetzt und fragt: Was bedeutet das Wort Gewalt? Man könnte nun eine Reihe soziologischer, philosophischer oder juristischer Definitionen anführen4, würde dabei schnell feststellen, dass die jeweiligen Bestimmungen je nach Disziplin, Zweck und schließlich auch je nach Intention des Definierenden variieren können. Dies zeigt anschaulich der Aushandlungsprozess des Gewaltbegriffs im Rechtskontext, wie ihn D. Busse 1991, E. Felder 2003 und F. Müller 2008 vorgeführt haben5: Nicht nur die soziale Welt wird durch Sprache geschaffen, auch die Sprache wird im Schaffen der sozialen Welt als deren Teil fortwährend mit- und umgeschaffen, im beziehungsaushandelnden Sprechen immer wieder neu konstituiert. Es wird deutlich, dass Gewalt kein fachsprachliches Wort im Sinne der Wüster’schen6 Fachsprachenterminologie sein kann, das – sobald es einmal definiert ist – eine klar abgegrenzte Semantik und eine dieser vorangehende Existenz in der Realität besitzt. Grundlegend für eine Sprachgeschichte als Gewaltgeschichte wäre die Beschreibung der Gebräuche des Wortes Gewalt (und der zugehörigen onomasiologischen Felder) vom Althochdeutschen bis zur Gegenwart. Sehr verkürzt ausgedrückt wäre dies z. B. eine Geschichte, die etwa vom mächtigen, sinnstiftenden Walten eines existierenden Gottes über rechtfestsetzendes Walten der Menschen bis zum phänomenal Bösen und willkürlich Zerstörerischen der Nationalsozialisten (im 20. Jh.) und des Terrorismus (21. Jh.) führen würde, die aber auch ganz anders konstruiert werden könnte, zum Beispiel schon dann, wenn man ‚Gott‘ als Teil von menschlicher Machtbildung konzipierte. Einen Einstieg dazu bietet das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch mit dem von O. Reichmann verfassten Artikel Gewalt. Der Wortgebrauch innerhalb einer bestimmten Zeit spiegelt nicht nur die im Spiel befindlichen Rollen, also Gewalthaber und Gewaltunterworfene, er spiegelt das gesamte Ordnungssystem einer Zeit aus den Quellen heraus. Betrachtet man das semasiologische Feld mit seinen 11 angesetzten Bedeutungen, kann man die intensionale wie die pragmatische Weite des Gewaltbegriffs am frnhd. Sprachgebrauch des Wortes Gewalt ausloten. Die höchste ‚Gewalt‘instanz im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit ist der über allem thronende zwar dreifaltige, aber doch eher als Vater und Sohn gedachte Gott; die zweithöchste mit dem Walten Gottes letztlich zusammenhängende Gewalt ist die unberechenbare Natur. Gott und Natur greifen willkürlich oder gnädig immer wieder in die von ihnen geschaffene und reproduzierte Welt ein, ohne dass sich die Menschen dafür oder dagegen aussprechen könnten. Was sie auf religiös-universaler Ebene tun können, ist beten und bitten, aber dies alles ohne Macht 4 5
6
Zur Auswahl: Arendt 2003; Galtung 1975; Heitmeyer/Soeffner 2004; Gerstenberger ²2006. Vgl. dazu Busse 1991, 259–275; Felder 2003, 180–189. Felder zeigt am Beispiel juristischer Rechtsarbeit, wie der Gewaltbegriff im juristischen Aushandlungsprozess semantisiert und umsemantisiert wird. Vgl. auch umfassend: Busse 1991; Müller 2008. Wüster 1934.
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und Gewähr. Die Allmacht der himmlischen Gewalten präsupponiert die Ohnmacht der Menschen. „,Vater allmechtiger‘: Damit wirdet verstanden daz er alles vermügen hab [...] also daz chain creatur sey [...], si sey seiner gewalt ain vnderwurff.“ (Baptist-Hlawatsch, U. v. Pottenst. 101 [moobd., A. 15. Jh.])
Doch in der sozialen Welt können nicht nur Götter, sondern auch Menschen faktische Macht ausüben, vor allem wenn sie als von Gott legitimierte Rechts- oder Strafinstanz auftreten (Bed. 4 und 5). „‚Dem geb ich, [...], | Gewalt dort ober die diet, | Daz her uber sie richte | [...] | Mit yseriner gerte.‘ | Dise gewalt ist herte | Zu doln den argen wichten.“ (Helm, Heinrich von Hesler. Apokalypse 4174 [nrddt., 14. Jh.]; dem bezieht sich auf den Gegensatz zum argen, auf denjenigen, dem laut Vers 4177 die gerte gegeben ist.)
Diese Machtinstanzen treten auch unter den bedeutungsverwandten Bezeichnungen auf: herlichkeit, herschaft (mehrfach), herschung, macht, oberkeit, ordnung, regierung, regiment und reich. Sie bilden die rechtsnormierende, gesetzgebende oder exekutierende Gruppe (gewalt des schwerts) und können metonymisch ebenfalls als Gewalt bezeichnet werden. Ist deren Handlungsmacht (Bedeutungsansatz 4) akzeptiert oder hat sich eine bestimmte Gruppe im Aushandlungskampf durchgesetzt, besitzt sie die faktische Macht über Personen, Sachverhalte oder Sachen, dann hat sie das Recht, Vollmachten, Machtbefugnisse (ebenfalls mit dem Wort Gewalt in den Bedeutungen 6 und 7 ausgedrückt) und als Besitzer auch die vollen Verfügungsrechte (Bed. 10). Agiert eine Person außerhalb der Herrschaftsordnung, so ist sie gewaltsam, das heißt, sie handelt unrecht. Dann ist ihr Handeln eine Gewalttat. Sie ist schädigend und verletzend für den von ihr Betroffenen (Bed. 9). Gewalt, der/die.7 1. ›(einem) Gott, einer Gottheit, einem gottähnlichen Wesen, einer übermächtigen Instanz zugeschriebene Allmacht, unbegrenzte Macht und Wirkungsmöglichkeit‹; im einzelnen: a) auf Gottes Allmacht (den Vater, Sohn, Heiligen Geist) bezogen. […]. b) [...]. c) [...]. 2. ›Gewalt, Macht der Natur oder natürlicher Gegebenheiten, auch bestimmter Zeiten‹. […] 3. ›religiös oder natürlich begründete Kraft; Wirkung‹; anschließbar an 1; 2. […] 4. ›faktische Macht einer meist herrschaftlichen, politischen, militärischen Instanz, einer Person oder eines personal gedachten Wesens (z. B. des Todes, des Teufels, damit Nähe zu 1b, 1c), einer abstrakten Entität (wie der Minne, der Schönheit), daraus resultierende, über das übliche Maß hinausgehende Handlungsfähigkeit, Handlungspotenz, Verfügungsgewalt‹; im einzelnen z. B. auch: ›Heeresmacht‹; dazu metonymisch: ›Heer, Truppe‹; ›Selbstbeherrschung, Eigenkontrolle‹; ›Verführungsmacht‹; im Unterschied zu 9 ist die Machtanwendung im Unrechtssinne nicht notwendigerweise impliziert, nach Ausweis der überwiegend negativen Bewertung aber latent und drohend als Möglichkeit angelegt. […]. 5. ›rechtlich und/oder religiös begründete, dem Recht unterworfene, in feststehenden Formen ausgeübte weltliche oder geistliche Herrschaft, Obrigkeit, Regiment, Regierung in allen hier-
7
FWB Bd. 6, Lfg. 4, bearb. von Oskar Reichmann, Sp. 1784–1803: s. v. gewalt.
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6.
7.
8.
9. 10.
11.
archischen Stufen vom obersten Herrschaftsträger (auch Gott) bis hin zu den unteren Rängen der weltlichen, kirchlichen, gerichtlichen Administration hin‹; in einer Reihe tropischer (meist metonymischer) Verwendungen auch: ›Organ der Herrschaftsorganisation‹; ›Verwaltung‹; ›Strafgewalt‹; ›Polizei‹; ›Ordnungsgewalt‹; ›Gerichtsherrschaft›; ›beherrschtes Volk‹. […]. ›Recht, Verfügungsgewalt, Handlungsbefugnis, die eine Person oder Instanz nach geltendem Recht, aufgrund natürlicher, sozialer oder religiös begründeter Ordnung im Hinblick auf eine Sache oder Person hat‹; im einzelnen für sehr unterschiedliche Sachverhalte in verschiedensten Handlungsbereichen gebraucht, z. B. für die kirchliche Berechtigung zur Absolution, für die elterliche Gewalt über die Kinder, die dem Mann über die Frau zugebilligte Gewalt, die Macht des Herren über das Gesinde, des Besitzers von Wirtschaftseinheiten über die Sachgüter, des Inhabers von Ämtern über Amtsangelegenheiten. […]. ›Vollmacht, jm. übertragene Machtbefugnis, Ermächtigung, in js. Auftrag, an js. Stelle zu handeln, Recht auf freie Hand im Sinne des Vollmachtgebers‹; als Metonymien: ›Auftrag‹; ›Dokument mit der Vollmacht, Brief‹. […]. ›von jm. in unterschiedlichen Handlungsbereichen (Herrschaftsorganisation, Administration, Rechtswesen, Kirchenorganisation, Eich- und Münzenwesen) mit Handlungsvollmacht Ausgestatteter, Bevollmächtigter, Stellvertreter‹. […]. ›verletzend gegen e. S. oder P. gerichtete, nur vereinzelt zugunsten e. S. (z. B. des Friedens) eingesetzte Macht; Nötigung; Gewaltanwendung; einzelne Gewalttat‹; […]. ›faktischer Besitz, faktische Verfügung, freie Hand über Sachen unterschiedlichster Art (z. B. über ein Gut, ein Herrschaftsgebiet, Handelswaren, Anrechte, Kleingegenstände, auch Abstrakta wie den Willen, die Seele) sowie über Personen‹; der Besitz kann rechtlich begründet sein und dann in die Nähe von Rechtsbefugnis (s. 4; 6) kommen oder auf Unrecht beruhen und dann in offenem Übergang zu 9 stehen; er kann rechtskonform im Sinne von ›wirtschaftliche Nutzung‹ und widerrechtlich gehandhabt werden; bei Bezug auf Personen Tendenz zu ›Geiselhaft, Gewahrsam‹. […]. ›Nachdruck, Entschiedenheit, Ernst‹. […].
Schon durch die Erklärungssprache des Lexikographen zeigt sich, dass ›Gewalt‹ eng mit ›Macht‹ verschwistert ist, dass sie Asymmetrien impliziert und konstituiert (Bed. 4; 5; 6), Legitimationen aller Art braucht (Bed. 7; 8; 10), aber auch, dass sie eine sozial notwendige, rechtmäßige Seite hat und eine schädigende, verletzende, eben eine unrechtmäßige (Bed. 9). Im Hintergrund steht die alte Unterscheidung zwischen ausgeübter Gewalt und verübter Gewalt, zwischen lat. potestas und lat. violentia. Als ausgeübte Gewalt im Sinne von potestas ist sie im Idealfall das Produkt des von Sofsky beschriebenen Gesellschaftsvertrags. Sie kann sich auf die Amts- und Verfügungsgewalt einer Obrigkeit beziehen, auch auf deren Verwaltung. In der Regel tritt sie bezeichnenderweise als subjektlose, das heißt: als von einem menschlichen Träger abgelöste, in sich selbst existente Gewalt auf.8 Hier geht es um gesellschaftliche Regeln und Konventionen, letztlich um kontrollierte, rationalisierbare Gewalt, die sich in die Funktionsmuster von Macht und Herrschaft eingliedern lässt. Sie umfasst das Gebot, an der Ampel stehen bleiben zu sollen, weil diese ‚rot‘ zeigt, das Verbot, einen Anderen 8
So auch der Titel des Buches von Heide Gerstenberger (²2006): Die subjektlose Gewalt. Linguistisch gesprochen handelt es sich hier um einen Subjektschub.
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ohne legalen Anstrich und Begründung töten zu dürfen, aber auch das in einer Staatsform ausgehandelte Verhältnis der unterschiedlichen Gewalten Exekutive, Legislative und Jurisdiktion zueinander. Sie kippt vom positiv konnotierten Begriff hin zur Schreckensherrschaft, wenn die Zustimmung und damit die Legitimation durch den Bund, der den Vertrag geschlossen hat, schwindet, aber auch, wenn der Gewaltausübende per se als Gewalttäter identifiziert ist, so beim Teufel als der Verkörperung des Bösen. Dann wird sie leicht zur violentia, zur verübten Gewalttat, zur zerstörerischen Kraft, welche sich gegen die Mitglieder des Bundes richtet, diese dabei schädigt und verletzt. Im Frühneuhochdeutschen könnte man diesen dicht belegten Wortgebrauch s. v. gewalt 9 nachlesen (s. o.). Andere Ausdrücke für verletzende Gewalt wären im Frnhd. aufrur 2, dorst, enterung, frevel, mishandlung, mutwille, notzwang, überdrang, unleidlichkeit, unrecht, vergewältigung. Der Gegensatz heißt recht. Diese Form der Gewalt erleidet man als Opfer, sie geschieht zum Beispiel dem knecht oder einer frauen. Man kann ein ganzes land mit gewalt überziehen, ein Schloss oder eine Stadt mit gewalt gewinnen, mit gewalt ein dorf brennen. Sie wird von jm. an jm. geübt, jm. (an)getan, an jm. begangen. Man muss ihr wiederfechten, da sie unwillen verursacht. Schon damals konnte man einem Menschen mit gewalt das maul stopfen, sich mit gewalt in ein ampt dringen, in das regiment setzen. Man prädizierte Gewalt als grausam / gros / raublich / unrecht / unzuständig und musste die Menschen vor ihr beschirmen und schützen. Gewalt umfasst dann „alle einzelnen und kollektiven Übergriffe auf die Eigenexistenz von Personen, Einrichtungen, Verhältnissen, darunter Diebstahl, körperliche Misshandlung, Notrecht, Rechtsbeugungen, militärische Angriffe; betroffen sind alle Rechts-, Wirtschaftsund Sozialbereiche.“ Man möchte hinzufügen: Betroffen ist der ganze Mensch, sein Körper ebenso wie seine Psyche. „Verletzende Gewalt ist eine asymmetrische Interaktion, konstituiert durch die Bipolarität einer Täter- und einer Opferrolle. Jemand tut einem anderen etwas an. In diesem Sinne ist Gewalt immer ‚persönlich‘; sie geht aus von Personen“, auch wenn diese in der Maske einer Institution auftreten, und sie richtet sich gegen Personen. Nach Sybille Krämer (2007, 32) unterminiert und durchkreuzt verletzende Gewalt funktionale Ordnungen, sie partizipiert am Phänomen des Bösen, geschieht oft um ihrer selbst willen, ist frei von Teleologie und Funktionalität, wird mithin als ‚irrational‘ begriffen. Sie gilt sogar als das Nichtdomestizierbare, womit man sie in früheren Zeiten, z. B. im Frühneuhochdeutschen, oft genug in den Machtbereich des Teufels rückte, seinerseits insofern ein gewaltbegründender Akt, als man einen Gegenpol braucht. Gewalt hat demnach viele Seiten. Aber anders als Jan Philipp Reemtsma in seinem Vortrag Die Gewalt spricht nicht 9 behauptet, ist sie nicht nur der stumme Schatten der Macht. 9
Reemtsma 2002, 10. Vgl. auch ders. 2008, 106. Reemtsma unterscheidet dort drei Typen von Gewalt, die lozierende, die raptive und schließlich die autotelische Gewalt. Während die Intention des Gewalttäters bei der lozierenden Gewalt darin besteht, sein Gewaltopfer aus dem Weg zu räumen (z. B. Mord), bei der raptiven, Macht über den anderen Körper auszuüben (z. B. Vergewaltigung),
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„Gewalt ist nicht stumm. Sie wird meistens durch Sprache begleitet: Sie wird geplant und beschlossen, erzählt und kommentiert, gerechtfertigt oder legitimiert. Und darüber hinaus wird sie durch die Sprache und in der Sprache vollzogen: in den direkten Formen der Beleidigung, der Drohung, der Erpressung und anderen gewaltsamen Sprechhandlungen, in der nicht angreifenden, aber nicht weniger verletzenden Form des Ausschlusses aus der Gemeinschaft der Sprechenden, und auch indirekt, zum Beispiel durch die Rechtfertigung von Gewalt, die selber eine Form sprachlicher Gewalt gegen diejenigen ist, von denen behauptet wird, dass sie zu Recht Gewalt erleiden.“ (Delhom 2007, 229)
Hinsichtlich des Verhältnisses von Sprache und Gewalt lassen sich mindestens folgende Funktionen des Sprechens resümieren: 1. Sprache als Gesellschaftskonstituens, mit dem legitime Gewalt im Sinne von potestas positiv zur Ordnungsherstellung, Friedenssicherung und Angstbewältigung eingesetzt wird. In diesem Sinne dient sie der Herstellung kommunikativer Beziehungen zwischen dem individuellen Ich, dem individuellen Du und dem Wir bzw. den Anderen; sie ist folglich Aushandlungsinstanz der Ich-Du-Grenzen wie der Ich-Sie-Grenzen, bildet Gruppen und Zugehörigkeiten, Bindungen und Trennungen, letztlich die Kultur. Aus der kommunikativen Auseinandersetzung mit dem Anderen bildet sich zudem die individuelle wie die kollektive Identität von Personen und Gruppen, wobei Individuen sowohl individuelle wie kollektive Anteile in sich tragen. 2. Sprache speziell als Herrschaftskonstituens, mit dem Machtasymmetrien hergestellt werden, die zum Teil positiv wirksam im Sinne von 1 sind, die aber auch zur Ohnmacht führen und damit negativ gewaltsam sein können. Allein mit dem Akt sprachlichen Kategorisierens, den man als einen wichtigen Teil des Ordnens nicht umgehen kann, sind oft genug bereits Diskriminierung und Hierarchisierung verbunden. Die Psychologen Carl Friedrich Graumann und Margret Wintermantel (2007, 146) verstehen unter Diskriminierung die „Ungleichbehandlung von Personen auf kategorialer Basis, also in der Regel ohne Berücksichtigung individueller Eigenschaften oder Verdienste“. Diskriminierung ist dann eine kategorisierende (einteilende) und bewertende Handlung, die soziale, mentale und sprachliche Erscheinungsformen umfasst und in ganz unterschiedlicher Weise realisiert. Sie bedeutet nicht zwangsläufig, aber häufig Hierarchie und diese ein Unten und ein Oben. 3. Sprache als Mittel zur Narration und Reflektion (letztlich als Erkenntniskonstitutiv), mit dem Gewalt reflektiert, erkannt, als solche beschrieben und hinterfragt wird (Sofskys Erzählung des Mythos), letztlich als Ort, an dem man Wort- und Begriffsgeschichte betreiben kann. Hier ist sie auch der Ort, an dem Gewalt „erträglich eingehegt“ (Müller 2008, 77), verändert, zurückgenommen, oft sogar geheilt werden kann (siehe Psychoanalyse). 4. Sprache als direktes Mittel zur Ausübung verletzender Gewalt im Sinne von violentia. entspricht die autotelische, die „auf die Zerstörung der Integrität des Körpers“ zielt (ebd., 116) dem Nichtdomestizierbaren bei Krämer. Sie geschieht nicht intentional, sondern um ihrer selbst willen.
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Während die ersten drei Funktionen durchaus neutral konnotiert sein können oder im institutionellen Rahmen des Gesellschaftsvertrages eingefasst sind, wird die vierte Funktion als die eigentlich gewaltsame Seite der Gewalt angesehen. Sie soll im Weiteren in ihrer sprachlichen Fassung als verbale Gewalt bezeichnet und gleichsam als Speerspitze der in den Funktionen 1 bis 3 angelegten Phänomene verstanden werden. ‚Verbale Gewalt‘10 ist nach Krämer (2007, 35): „ein Sprechen, das in seinem Vollzug zugleich eine Form der Gewaltausübung ist.“ Sie ist in der Regel in individuelle und kollektive Ausgrenzungs- und Abgrenzungsprozesse eingebettet.
3. Sprachgeschichte als Gewaltgeschichte: Ansätze eines diachronen Forschungsprogramms Man kann Sprachgeschichte in unterschiedlicher Weise betreiben. Für eine Geschichte der sprachlichen Gewalt kommen folgende Größen als theoretischer Rahmen in Frage: „Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte“ (Hermanns 1995), „als Kulturgeschichte“ (Gardt/Haß-Zumkehr/Roelcke 1999), als „Gesellschaftsgeschichte“ (von Polenz 2002), speziell als „Geschichte der Textsorten, Kommunikationsbereiche und Semantiktypen“ (Steger 1998), nicht zuletzt als Begriffs- und Diskursgeschichte.11 Es handelte sich demnach nicht um eine systembezogene, sondern um eine soziopragmatisch orientierte Sprachgeschichtsschreibung, die zwar die meisten hierarchischen Ränge der Sprache angeht, ihrer Gewichtung nach aber vor allem als Sprachgebrauchs- und Kommunikationsgeschichte zu gelten hätte. Thematisiert werden müssten darin alle sprachlichen Phänomene, mit denen verbale Gewalt verübt werden kann, was nicht bedeutet, dass dies systematisch auch so sein muss. Ein Wort wie Esel ist im Lexikon zunächst einmal die Bezeichnung eines Tieres, es kann aber als Schimpfwort gebraucht und damit zum Mittel verbaler Gewalt werden (so auch im Duden lexikalisiert). Es hat dann zwar keine Auswirkung auf das Gesellschaftssystem, kann aber die personale Identität einer einzelnen Person erheblich verletzen. Pronominalisierungen (mittels wir, ihr, sie, ich, du, er) gehören zu den wichtigsten textgrammatischen Kohärenzmitteln. Für sich genommen 10
11
Vgl. auch die Definition von Martin Luginbühl (1999, 83): „wenn eine Person eine Sprechhandlung vollzieht, die, sei es intentional und feindlich oder nicht, eine am Gespräch teilnehmende Person in deren durch die Textsorte gewährtem konversationellem Spielraum in einer dramatischen Weise einschränkt und so diese Person in ihrer Integrität, ihren Einflussmöglichkeiten und ihrer sprachlichen ‚Funktionsfähigkeit‘ schädigt, einschränkt oder gefährdet, wobei eine Gefährdung infolge der trialogischen Kommunikationssituationen relevant sein dürfte. Sind Sprechhandlungen mit derartigen Folgen durch Sprachnormen oder durch konversationelle Rechte und Möglichkeiten einer Rolle begründet oder – wenigstens vordergründig – legitimiert, so liegt strukturelle verbale Gewalt vor. Personale Gewalt liegt dann vor, wenn eine am Gespräch teilnehmende Person derartige Sprechhandlungen vollzieht, dabei aber die Rechte und Pflichten ihrer Rolle klar überschreitet.“ Busse/Hermanns/Teubert 1994. Vgl. auch: Lobenstein-Reichmann 2008.
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haben sie in erster Linie die Funktion, Gesprächsrollen abzustecken.12 Unter sozialkommunikativer Perspektive jedoch können sie manipulativ und gewaltsam eingesetzt werden, um Menschen zu inkludieren, aber auch um sie zu exkludieren. Geschieht dies systematisch von Seiten einer bestimmten Gruppe gegenüber einer anderen, fungiert dieses einfache textgrammatische Mittel gesellschaftskonstitutiv eingreifend. Es schafft und spiegelt Machtasymmetrien. Diese Ausführungen deuten ein Programm an, das in seinen Einzelheiten und seinem Ausmaß noch nicht exakt abzusehen ist. Sein Gegenstand müsste von der individuellen sprachlichen Verletzung im Zweiergespräch bis hin zur politischen Manipulation reichen, von der individuellen Beleidigung zur Ausgrenzung ganzer Gruppen. Was im jeweiligen historischen Einzelfall als verbale Gewalt zu gelten hat, kann der Historiker nur kontextspezifisch beurteilen. Hinsichtlich der Ausgrenzenden wird man die Herrschafts- und Sozialstruktur als als Bedingungsgefüge für Intentionen in Betracht ziehen müssen; hinsichtlich der von der Ausgrenzung Betroffenen gilt es mindestens zu unterscheiden, ob die Ausgrenzung explizit, in unübersehbaren Mengen von Texten, erfolgte, oder ob sie als so natürlich galt, dass man nicht über sie redete, ob sie langfristig erfolgte oder nur eine Epochenerscheinung war. Bezüglich der sprachlichen Mittel, in denen man ausgrenzte, stellt sich die Frage, welche Teile des Inventars einer Sprache und der grammatischen Systemmöglichkeiten ausgrenzend genutzt wurden, wie langfristig dies geschah, ob es dabei historische Traditionen bis hin zu Konstanten gab, ob sie in den verschiedenen Varianten einer Sprache (Dialekten, Fachsprachen, Hochsprache) gleich oder verschieden instrumentalisiert wurden. Hier stellt sich die Frage nach der Verbindbarkeit der herrschenden Systemlinguistik mit ihrer Konzentration auf Morpheme, lexikalische Einheiten, Wort-, Satz- und Textbildung einerseits und der hier vorgeschlagenen Pragmagrammatik und Pragmasemantik andererseits. Sind die beiden Ansätze überhaupt verbindbar? Wie immer man zu dieser Prinzipienfrage auch stehen mag, so sind doch einige Hinweise auf die textlichen und symbolgrammatischen Orte zu geben, deren pragmagrammatische und -semantische Affinität unmittelbar einsichtig sein dürfte: 1. Auf der Text- und Diskursebene wäre die Frage nach „gewaltsamen“ Diskurstypen und Textsorten zu stellen, auf der textgrammatischen Ebene die Frage nach dem Gewaltpotential von Anredeformen, Deixis, Pronominalisierungen, Sekundärstigmatisierungen, Sprechhandlungen (von Verleumdungen und Denunziationen bis hin zu Verfluchungen). 2. Auf syntaktischer und satzsemantischer Ebene müsste das Augenmerk auf Erscheinungen fallen wie: Subjektschübe, Passivierungen, semantische Aggregationen und Prädikationen, den kollektiven Singular, Präsuppositionen und Sekundärstigmatisierungen; ferner auf stereotype Kollokationen, Phraseme, Sentenzen, Sprichwörter (letztere unter dem Aspekt der Perpetuierung volkstümlicher Ausgrenzungsweisheiten). 12
Vgl. Lobenstein-Reichmann 2012a.
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3. Auf der Ebene der Lexik bzw. lexikalischen Semantik kämen in Betracht: Benennungen aller Art, Benennungsmotive (im Wortbildungsbereich), Auf- und Abwertungen, der Metapherngebrauch, diskriminierende Polysemierungen, Wortbildungen, onomasiologische Vernetzungen, Namensgebungen in Form von Schimpf- und Scheltausdrücken, aber auch der bewusste Namensentzug usw. 4. Auf medialer Ebene stünde zur Diskussion, inwiefern sich sprachliche Gewalt in der Geschichte in verschriftlichter Form anders ausgedrückt hat als in mündlicher. Damit verbunden sind nicht nur Fragen nach den situativen Stilen, nach den Formen der Höflichkeit durch die Jahrhundert hindurch, sondern auch nach der Nähevarietät Dialekt (zumindest seit der frühen Neuzeit) und seiner spezifischen Andersartigkeit, verbale Gewalt auszuüben. 5. Im Hinblick auf Formen konversationeller Gewalt13 müssten auf gesprächsanalytischer Ebene historisch gewachsene Redekonventionen zusammengestellt und damit gezeigt werden, wer wann ein Rederecht hatte und wer nicht. Gemeint ist nicht nur die Möglichkeit, den eigenen Anliegen im einzelnen Gespräch Gehör verschaffen zu können. Es geht auch darum, dass es Zeiten gab, in denen nur bestimmte Personen zeugnisfähig waren. Die Wertigkeit eines Sprechens, die Glaubwürdigkeit und gesellschaftliche Relevanz der Sprecher durch die Geschichte wäre ein Thema einer solchen Darstellung. Hinzu käme auch der große Blick auf die verschriftlichte Geschichte selbst. Allein die Auflistung all derjenigen, die durch ihr Schweigen mehr als durch ihr Sprechen auffallen, über die in der Geschichte immer nur geschrieben wurde, ohne dass sie selbst dabei zu Wort gekommen sind (z. B. die Zigeuner, männliche und weibliche Homosexuelle), wäre ein Gewinn.
3.1. Mindestprogramm einer solchen Sprachgeschichtsbetrachtung Einige der genannten Aspekte sollen im Folgenden mit Beispielen aus dem Frühneuhochdeutschen veranschaulicht werden: 1. Was fehlt, ist eine Sprachgeschichte der exkludierenden Ordnungsdiskurse. „Diskurse bewegen sich nach Foucault in einem ‚Zwischenbereich‘ zwischen den Worten und den Dingen, wo diese eine kompakte Materialität14 mit eigenen beschreibbaren Regeln darstellen, um auf diese Weise die gesellschaftliche Konstruktion der Dinge zu steuern wie dem sprechenden Subjekt einen Ort zuzuweisen, an dem sich sein Sprechen und seine Sprache erst entfalten können.“ (Sarasin 2003, 34.) 13
14
„Konversationelle Gewalt lässt sich […] definieren: Ein Teilnehmer hindert einen anderen daran, seine konversationellen Rechte und Möglichkeiten wahrzunehmen.“ (Burger 1995, 102) Dies gelingt u. a. durch Missachtung des Rederechts oder durch das Ausüben von Themenkontrollen. Sie führt zu Image- bzw. Face-Verlust der Betroffenen, Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten, Destruktion ihrer verbalen Funktionsfähigkeit, im schlimmsten Fall zu kommunikativer Ohnmacht. Zur Materialität der Diskurse: „1. Diskursordnung, 2. Eigenlogik der entsprechenden Medien, 3. die sprachliche Natur der Diskurse“ vgl. Sarasin 2003, 37.
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Gegenstand einer Sprachgeschichte als Geschichte verletzenden Sprechens wären die jeweils zeitspezifischen Ideologisierungs-, Diskriminierungs- oder Kriminalisierungsdiskurse. Hinzu kämen vor allem für das Frühneuhochdeutsche die Verketzerungsdiskurse gegen alle religiös anders Denkenden, die nicht zuletzt der Buhlschaft mit dem Teufel bezichtigt und zur Bedrohung für das immanente wie das transzendente Seelenheil der Gesamtgemeinschaft erhoben werden. Gefragt werden muss unter linguistischen Gesichtspunkten: Wer sind die Träger solcher Diskurse? Wer die Betroffenen? In welcher sprachlichen Form werden sie von wem zu welchem Zweck verbreitet? Wie werden sie gesellschaftlich geführt, implementiert, rezipiert, vielleicht auch zurückgenommen? In welchen diskurskataphorischen und diskursanaphorischen Zusammenhängen stehen sie zueinander?15 Was besagen die zeitspezifischen Diskurse über die jeweilige Gesellschaft? Im Unterschied zu bisherigen Diskursanalysen könnte eine solche Diskursgeschichte, die über einen langen Zeitraum geführt wird und die tragenden Diskurse einer bestimmten Zeit zusammen- und nebeneinanderstellt, nicht nur diskursive Linien, Entwicklungen, Brüche und Kontinuitäten nachzeichnen, sondern vor allem auch Parallelen, Reziprozitäten der einzelnen Diskurse untereinander. Welche Diskurstypen16 gibt es zu welcher Zeit? Welche Diskurse sind Universaldiskurse, also anthropologische ‚Dauerbrenner‘ wie der Menschenbilddiskurs? Welche sind gleichsam perennealistische Wiedergänger, die je nach Zeit und Ort ihres Erscheinens in unterschiedlichen Verkleidungen und Gestalten auftreten? Welche sind Modeerscheinungen? Als bekanntester ausgrenzender Ordnungs- und darum auch Wiedergängerdiskurs wäre der antijudaistische bzw. der ihn seit dem 19. Jahrhundert fortsetzende antisemitische Diskurs mit dem Rassediskurs als einer Parallele zu nennen. Obwohl Gegenstand zahlreicher historischer Darstellungen, gibt es keine zusammenfassende sprachwissenschaftliche Darstellung über die sprachlichen Formen und medialen Träger, in denen der antijudaistische Diskurs über 2000 Jahre hindurch verlaufen ist. In welchen Textsorten wurde er geführt? Mit welchen semantischen, pragmatischen oder gesamtsemiotischen Wandelprozessen ging er einher? In welche anderen Diskurse war er eingebettet? Zu welchen Zeiten hatte er seine Hochphasen, warum und wie lange? Die Verschärfung des Antijudaismus im 16. Jahrhundert ist z. B. nicht zu denken ohne seine Einbettung in die innerkonfessionellen Abgrenzungs- bzw. die Reformationsdiskurse. „Die Frage nach dem Antijudaismus im 16. Jahrhundert ist die Frage nach der Rolle desselben im alles beherrschenden innerchristlichen Glaubenskampf. Welche Rolle spielt das Judentum für die Reformation, für die Konfessionalisierung? Für das 16. Jahrhundert konstatieren Historiker eine Perfektionierung der sozialen Ausgrenzung der Juden, eine Popularisierung des Antijudaismus, seine Ökonomisierung und seine Indienstnahme für die Glaubensspaltung.“ (Battenberg 2001, 84.)
Zu diskutieren wäre z. B. die Rolle des zum ersten Male öffentlich ausgetragenen Reuchlin-Pfefferkorn-Streites und seiner diskursiven Wirkungen auf die mediale Festlegung 15 16
Lobenstein-Reichmann 2008, 440. Lobenstein-Reichmann 2008, 449 f.
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antijüdischer Stereotype und Topoi. Dieser Streit, der nie mit Juden (als Kommunikationspartnern), sondern immer über sie (als Rede‚objekte‘) geführt wurde, hatte am Ende eine Verschlimmerung ihrer Lage zur Folge, obwohl er in seinem eigentlichen Focus gar nicht um sie ging, sondern um den konfessionellen Gegner.17 Ähnliche Fragen wären für andere Ausgrenzungsdiskurse zu stellen, so für den Diskriminierungsdiskurs der sogenannten ‚Zigeuner‘ seit dem 15. Jahrhundert oder den Kriminalisierungsdiskurs der Bettler und Fahrenden spätestens seit dem 14. Jh., der ebenfalls mit der Reformation einen Höhepunkt erlebte. Wichtigster Textzeuge hierzu wäre der liber vagatorum, den Luther, der ihn neu ediert hatte, im Vorwort seiner Edition zudem zur Sekundärstigmatisierung der Juden nutzte. Mit welchen diskursiven Strategien wurden (seit der Antike und der Bibel) die Aussätzigen ausgegrenzt oder die psychisch Kranken18? Wie wird ‚Ausgrenzung‘ gruppenüberspannend sprachlich und strukturell vollzogen? Nur im Vergleich aller Ausgegrenztengruppen (zu denen eben auch Zigeuner und Juden gehörten) können systematisch zeitspezifische Parallelen aufzeigt werden. Es werden vor allem die übergreifenden Muster der Diskurse in den Blick geraten, die gegenseitige Beeinflussungen und die allzu häufig damit verbundenen reziproken kommunikativen Radikalisierungen. 2. Diskurse vollziehen sich in Texten. Mit welchen Texten und Textsorten wird zu welcher Zeit vorzugsweise welche Art von verbaler Gewalt ausgeführt? Betrachtet man Texte unter dem Aspekt ihres Gewaltpotentials, so ergeben sich Einsichten, die nicht nur von der manipulativen Ketzerpredigt, der politischen Propaganda-Rede über das kriegshetzerische Flugblatt hin zum Gewalt legalisierenden und sogar normativ festlegenden Rechtstext reichen. Auch Textsorten, denen man auf den ersten Blick wenig bis kaum Gewaltpotential einräumt, stehen dann im Focus, so das stereotypenfestlegende Wörterbuch (etwa G. Henisch) oder die fiktionale, unter anderem auch Streitkompetenzen vorführende Höhenkammliteratur. Das berühmteste literarische Werk des Frühneuhochdeutschen ist das $arrenschiff Sebastian Brants, in dem nicht nur Bettler in höchst kunstvoller, aber eben auch Gewalt prädisponierender Weise geschmäht und verhöhnt werden. Es zeigt sich also, dass die üblichen Bestimmungen von Textsorten Kriterien unterliegen, die quer zur Fragestellung nach den Gewaltaspekten von Texten stehen. Während das verbale Gewaltpotential agitierender Texte erwartbar scheint, ist dasjenige erbaulicher Texte auf den ersten Blick weniger wahrscheinlich, was aber nicht bedeutet, dass man nicht gerade in ihnen effektiv verbale Gewalt ausüben kann. Zu den erbaulichen Texten lässt sich z. B. auch das geistliche Spiel bzw. das volkssprachliche geistliche Drama rechnen. Hier wurden publikumswirksam und vor allem publikumserreichend biblische Themen des Alten wie des Neuen Testamentes in OsterWeihnachts-, Himmelfahrts- und Passionsspielen19 dramatisch inszeniert. Diese Art von Inszenierung hatte neben den religiös erbaulichen aber vor allem moraldidaktische Funk17 18 19
Lobenstein-Reichmann 2012b; Battenberg 2001, 83. Vgl. Foucault 1995. Vgl. dazu Wenzel 1992; Bartholdus 2002.
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tionen. Das didaktisch-epische Theater machte nicht nur das biblische Heilsgeschehen für jedermann anschaulich und führte in die dogmatischen Grundprinzipien des christlichen Lebens ein. Vor allem das Passionsspiel war der Ort gewaltsamen und auch diskriminierenden Sprechens. Der polarisierende Gegensatz zwischen Juden und Christen wird dabei genauso hetzerisch inszeniert wie die altbekannten antijüdischen Stereotype z. B. von der Ritualmordlegende, der Hostienschändung oder den Brunnenvergiftungen tradiert wurden (übrigens wiedergängerische Teildiskurse des Antijudaismus). So belehrte man z. B. im Donaueschinger (nach 1470) wie im Frankfurter Passionsspiel (1493) die Zuschauer über die religiöse Blindheit und Verstocktheit der Juden, über den verbrecherischen Wucher, und brachte den Gottesmord sowie die angeblichen jüdischen Gottesmörder in besonders grausamer Inszenierung auf die Bühne. Den auf diese Weise ohnehin bereits aufgewühlten Christen ruft die im Streitgespräch mit der Synagoga stehende Christiana am Ende zu: „o ir schwestern vnd brüder min, helffent mir rechen dise tat an dem falschen jüdischen rat die in so schantlich getötet hand! Pfüch, ir iuden, der grossen schand, das ir vff erd ie wurdent geborn: des müssent ir ewenclich sin verlorn!“20
Die Frage nach den Textsorten ist die nach dem „Sitz im Leben“ der gemachten Aussagen. Da z. B. das Ausgrenzungsmotiv ‚Armut‘ ein Phänomen ist, das sowohl säkulare wie theologische Dimensionen hat, wird es in nahezu allen üblichen Textsorten vom religiösen Erbauungsschrifttum zu literarischen Texten über das pädagogisch-moralische hin zum normativen Schrifttum behandelt. In der Textwelt der Religion lassen sich Predigten (von der Homilie zur Moraldidaxe), Kirchenpostillen, Kirchenordnungen, Andachts- und Erbauungsbücher (von der Bibelparaphrase bis zur Heiligenlegende, vom Gewissenspiegel über die Beichtbücher bis zum Sterbebüchlein), katechetische Schriften, religiöse Spiele21/Osterspiele und natürlich die Bibel aufzählen. In den säkularen Text- und Sinnwelten des Alltags, des Rechtes, der Unterhaltung sind es vor allem Wörterbücher, Chroniken, Rechtsbücher (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel), Stadtrechte, Kleiderordnungen, Polizeiordnungen, Bettelordnungen (seit 1350 massenweise), Rechnungsbücher, Strafbücher und Zuchtbücher, Achtbücher, Gerichtsprotokolle22, die berühmten Halsgerichtsordnungen (Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507, Constitutio Criminalis Carolina von 1532), Zunftverfassungen, Handwerkerordnungen, Flugblätter,
20 21
22
Zitiert nach Bartholdus 2002, 141. Vgl. Cramer 2000. Zum geistlichen Spiel schreibt Cramer (ebd., 22): „Vom 14. bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert ist das geistliche Spiel neben der volkssprachigen Predigt ohne Zweifel das wirksamste Mittel religiöser Massenbeeinflussung.“ Vgl. hierzu Lindorfer 2009, 263–286; Macha et al. 2005.
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Flugschriften23 und nicht zuletzt die unterschiedlichen Arten literarischer Texte, vor allem die Satire, die Märe oder die Schwänke, die zur Ausgrenzung von Personen innerhalb der Gesellschaft beigetragen haben. Für die Moderne kämen die je entsprechenden Textsorten in ihren unterschiedlichen medialen Ausprägungen von der Presse bis hin zu Internetforen hinzu. Es wird deutlich, dass verletzendes Sprechen zwar in allen Textsorten vorkommen kann, sich aber gewisse Verteilungstendenzen aufweisen lassen. Es wäre daher nachzufragen, in welcher speziellen Weise verletzendes Sprechen textsortenspezifisch geschieht, ob die textgrammatische Inklusion und Exklusion durch Pronominalisierung oder die textsemantische Isotopienverteilung in allen Textsorten gleich verläuft, ob es textsortenspezifische Unterschiede oder gar Brüche gibt. Wieder bezogen auf das Frühneuhochdeutsche könnte vermutet werden, dass zum Beispiel der antijudaistische Aushandlungsdiskurs in der propagandistischen Streitschriftkultur verstärkt ausgetragen und ausgebreitet worden ist und in der Reformation einen seiner Höhepunkte hatte. Die Beobachtung, dass es in diesen Texten selten wirklich um die Juden, dafür aber umso intensiver um den Kampf mit dem christlichen konfessionellen Gegner ging, ist vielsagend. Es zeigt neben thematischen Gewichtungen vor allem auch Sekundärstigmatisierungen auf. So schreibt Johannes Eck zwar ausführlichst in seinem Judenbüchlein, welche Schandtaten die Juden begangen hätten und wie verbrecherisch sie seien; seine eigentliche Intention ist es jedoch, seinen wirklichen konfessionellen Gegner, die Protestanten in der Person Osianders als judenfreundlich anzuprangern und diese damit zu verketzern bzw. in die Nähe der Ketzerei zu stellen. Auf der Textebene wären zudem die Handlungsrollen zu klären. Im Unterschied zur körperlichen Gewalt, die in der Regel evidente Spuren, medizinisch und damit forensisch nachweisbare Verletzungen hinterlässt, und klar definierten juristischen Sanktionen (durch die Staatsgewalt) unterworfen ist, lässt sich sprachliche Gewalt aufgrund ihrer Körperlosigkeit nur schwer greifen. „Denn anders als bei physischer [Gewalt] macht sich bei sprachlicher Gewalt weder jemand die Finger schmutzig noch werden sichtbare Wunden hinterlassen“ (Herrmann/Kuch 2007, 8). Dennoch gibt es Täter und Opfer. Man unterscheidet mindestens drei Handlungsrollen: Die eine nimmt der Täter ein. Indem er spricht/schreibt, hat er die aktive, initiierende Rolle des Ausführenden. Ihm gegenüber steht das passive, betroffene Opfer, das entweder in der face-to-faceKommunikation anwesend ist, direkt und konfrontativ angesprochen wird und sich auch in derselben Weise zur Wehr setzen kann. Es gibt aber auch noch das ebenfalls anwesende Opfer, dessen Verletzung bereits darin besteht, dass man nicht mit ihm spricht, sondern nur in verdinglichender Weise über es. Zuletzt das abwesende Opfer, das erst in anderer Weise von der Verletzung erfahren wird, und sich schon deshalb nicht wirklich wehren kann, weil man ebenfalls nicht mit ihm gesprochen hat, sondern nur über es
23
Dazu: Schwitalla 1983; ders. 2010.
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und es daher nicht wirklich weiß, in welcher Weise die Verletzung geschehen ist. Das Ungewisse kann hierbei eine Form des verletzenden Gewaltpotentials sein. „Die dritte Person ist in der Sprache eine Nicht-Person, wie Emile Benveniste schreibt, da Menschen, über die in der dritten Person gesprochen wird, weder selbst sprechen noch angesprochen werden. Dass sich jemand in der dritten Person adressiert fühlt, das heißt sprachlich in den Status einer Nicht-Person versetzt wird, ist für ihn eine Form der erlittenen sprachlichen Gewalt.“ (Delhom 2007, 240.)
Zu diesen „echten“ Handlungsrollen kommen die mehr oder minder unbeteiligten Beobachter, die man auch als Publikum bezeichnen könnte. Dieses war zu allen Zeiten das „Tribunal der öffentlichen Meinung“.24 Doch die mit einer solchen Rollenverteilung vollzogene Schuld- und Unschuldsverteilung muss aufgebrochen werden. Der Täter kann unbewusst oder aus Unwissenheit handeln, unschuldig zum Täter werden, das Richtige wollen, das Falsche erreichen. Das Opfer wiederum hat nicht immer, aber oft eine ganze Reihe von Freiheiten und Handlungsmöglichkeiten, so dass es gar nicht zum Opfer werden muss bzw. nicht wirklich als passives Objekt angesehen werden darf. Wenn es sich verteidigt, kann es sogar selbst zum Täter werden. Auch der Beobachter ist in seiner Rolle nicht festgelegt. Er kann durch „teilnehmende Beobachtung“, indem er mitfühlt, zum Betroffenen werden, oder aber er wird zum Kollaborateur, wenn er z. B. beim diskriminierenden spöttischen Reden über den Anderen, so beim Erzählen von rassistischen Witzen, mitlacht. Häufig besteht die Verletzung eben nicht darin, zu jemandem, sondern über jemanden zu sprechen, was letztlich eine Adressatenverschiebung darstellt, da der Adressat nicht der Beleidigte ist, sondern ein unbeteiligtes Publikum. Es geht in solchen Fällen um indirekte Kränkungen, um das Lächerlichmachen vor einem Publikum, um Zynismus und bissigen Humor. Übliche Textsorten dazu sind der Witz, die Comedy oder die Parodie. Tatsächlich birgt ein Gutteil unseres Lachens auch eine aggressive Komponente und bewirkt eine „Anästhesie des Herzens“ (Kiener 1983, 84). Gerade Schadenfreude arbeitet dem Triumphgefühl der eigenen Stärke zu, Komik entmachtet ihren Gegenstand und verkleinert ihn bis zur Lächerlichkeit. 3. Die Frage nach den Handlungsrollen öffnet insgesamt den Blick auf die jeweiligen Sprechhandlungen selbst. Man müsste eine zusammenfassende Geschichte der kommunikativen Handlungen, vor allem derjenigen Sprechakte schreiben, mit denen Menschen einander verbal verletzen können.25 Solche illokutionären Rollen könnten z. B. sein: (den Sozialstatus angreifend) BLOßSTELLEN, EHRVERLETZEN, HÄNSELN, DEMÜTIGEN, HERABSETZEN, VERHÖHNEN, VERSPOTTEN, BELEIDIGEN, KRÄNKEN, BESCHIMPFEN, VERFLUCHEN, DENUNZIEREN, VERRATEN, VERLEUMDEN, BEDROHEN, ERPRESSEN, BEFEHLEN. Bezogen auf gesellschaftliche Exklusionshandlungen wären zu nennen: STIGMATISIEREN, DISKRIMINIEREN, DISKREDITIEREN usw. In welcher Zeit wird welche illokutionäre Rolle wie ausgeführt? Kann man einen mittel- bzw. frühneuhochdeutschen Menschen mit 24 25
Bourdieu 1976, 25. Einzeldarstellungen liegen natürlich vor, z. B. zum Fluchen, Denunzieren usw.
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denselben Ausdrücken beleidigen wie einen neuhochdeutschen? Welche Ausdrucksformen gibt es zu welchen Zeiten? Bei der Untersuchung solcher Fragestellungen ergäben sich u. a. onomasiologische Felder wie das zu VERLEUMDEN. Anders formuliert: Die illokutionäre Rolle des Verleumdens wird im Frnhd. mit folgenden Verben26 bezeichnet: abbeissen 2, abbrechen 14, abheben 4, abschneiden 11, abzeisen 2, abziehen 21, äfern 7, affrontieren, afterklaffen, afterreden, aftersprechen, ächten 3, anfallen 8, ankreiieren, anleugen, 2 anliegen 1, anreden 7, antaschen 1, anziehen 17, anverliegen, ärgern 1, aufgehen 24, aufziehen 16, ausatzeln, ausbutzen 5, ausfegen 2, ausfenstern, ausfilzen, ausgehen 14, aushippeln, aushippen, aushippenbuben, ausholhippen, ausklaffen, auskünden 1, ausmären, ausrufen, ausschelten, ausschreien, ausspitzen 4, austragen 9, auswaschen 3, balgen 2, balmunden, befehen, behüren 2, beissen 7, beklaffen, beklaffern, beklagen 3, beklicken, bekreischen, belästern, belästigen 4, beleidigen 2, beleumden 1, 2beliegen 2, bereden 3, berichten 15, berüchten 1, berüchtigen 2, berufen 5, berüsseln, besagen 5, beschädigen 2, beschalken 1, beschämen 3, beschreien 5, beunfugen, bezeihen, bezichtigen, diffamieren, enteren, gelästern, geschänden 1, hinterklaffen, hinterreden, infamieren, injurieren, klaffen 3, klappen, klappern, kränken, lästern 2, 3, maledeien, nachreden, raunen, schelten, schimpfieren, schmähen, schnitzen, schumpfieren, schwätzen, stechen 7, sudeln, tadeln, uneren, verachten, verleumden, verletzen, verleumden, vermären, verrüchtigen, verschreien, verschwätzen, verspotten, verunglimpfen, wiederschwätzen u. v. m.
Während das Verfluchen heute kaum noch Effekte hervorruft, konnte es in Zeiten Luthers oder der Hexenverfolgung die völlige Auslöschung der sozialen Person zur Folge haben, vorausgesetzt, es erfolgte in ritualisierter Weise mit einem Verfluchenden, einer ihm zustehenden Verfluchungskompetenz, einer rechtsgültigen Form und dem bestimmten Status des Betroffenen. Aber nicht nur das Verleumden oder das Verfluchen, sondern auch ein Großteil der anderen verletzenden Verben, spiegeln die gesamte gesellschaftliche Rollenverteilung, das gesamte Rechts- und Sozialsystem, die allgemeinen und spezifischen Handlungsräume, darunter die herrschenden Handlungsasymmetrien. Die Betrachtung der verbalen Ausdrucksformen, der damit verbundenen Valenzen wie der onomasiologischen Beziehungen, sofern greifbar auch der perlokutiven Effekte solcher Handlungen durch die Geschichte hindurch gehörten zur Aufgaben einer Sprachgeschichte als Gewaltgeschichte. Denn gerade auch die perlokutiven Effekte sind Symptome der kulturgeschichtlichen bzw. gesellschaftsgeschichtlichen Einbettung verbaler Gewalt. „In der Öffentlichkeit vollzogene aggressive Sprechakte – Beleidigungen, Herabsetzungen, regelrechte Vernichtungen – geschehen nicht einfach so, nur aus einem psychischen Impuls heraus, sondern sie bauen immer auch auf sozialen Stereotypen auf, sie tradieren symbolische Formen und bewegen sich innerhalb gesellschaftlich zugelassener Grenzen von Direktheit und Indirektheit, Tabuisiertem und Erlaubtem.“ (Schwitalla 2010, 98.)
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Die nachgestellten Zahlen beziehen sich auf die entsprechenden Bedeutungspositionen im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch.
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Ausgehend von der Sprechakttheorie müssten in entsprechender Weise auch die Handlungsweisen in Form von propositionalen Akten, also die Referenz- und Prädikationsakte im Focus einer solchen Untersuchung stehen. Wer bezeichnet wen in welcher Weise mit welchen Ausdrücken und zu welchem Zweck? Welche Wertungen werden damit vorgenommen? Wie sind diese in den kulturhistorischen Kontext eingebettet? Welche Folgen können sich in einer bestimmten historischen Gesellschaft ergeben? Welche Machtverhältnisse spiegeln sich darin? Wie kann mit Referenz- und Prädikationshandlungen verbale Gewalt ausgeübt werden? Gewaltsame Benennungshandlungen betreffen die Lexik. 4. Der Wortschatz einer Sprache ist und spiegelt in seiner ausdrucksseitigen wie in seiner inhaltsseitigen Komplexität das Bewertungs-, und damit auch das Gewaltpotential einer Sprache. Demzufolge ist auf lexikalischer Ebene bei einer Sprachgeschichte als Gewaltgeschichte die systematische Betrachtung aller funktional-deontischen Benennungshandlungen (Hermanns 1995) zu leisten. Auf der Inhaltsseite müssten semantische Wandelerscheinungen, wie z. B. pejorativer Bedeutungswandel oder kriminalisierende bzw. diskriminierende Polysemierungen nachgezeichnet werden. Das Hauptaugenmerk sollte jedoch im Sinne Judith Butlers insgesamt auf der Benennungshandlung liegen, da mit ihr die soziale Identität (S. Krämer27) einer Person konstituiert wird und damit auch in besonderer Weise geschädigt werden kann. Benennungen sind vielfältiger Natur. Sie beginnen mit der Namensgebung nach der Geburt eines Menschen, mit dem dieser seinen Ort in der Welt erhält, sie gehen über zu den klassifikatorischen Zuordnungen und Einordnungen und reichen zur Dislokation durch verletzendes Sprechen. Benennungen sind Referenzhandlungen, ohne die keine Sprache funktioniert. Ich greife mit ihnen sprachlich auf die Welt zu. „Die grelle, sogar schreckliche Macht der Benennung erinnert anscheinend an die ursprüngliche Macht des Namens, die sprachliche Existenz zu eröffnen und aufrechtzuerhalten und Einzigartigkeit in Raum und Zeit zu verleihen. Auch nachdem das Subjekt einen Eigennamen erhalten hat, bleibt es der Möglichkeit unterworfen, erneut benannt zu werden. In diesem Sinne 27
Krämer 2007, 36: „Dieser [Eigenname] wird uns – übrigens in einer Situation vollständiger Passivität – gegeben und er prägt unsere Identität auf eine unverwechselbare Weise noch vor aller biologischen und psychologischen Besonderungen unserer Individualität. Der Eigenname stiftet unsere Unverwechselbarkeit; er verleiht eine soziale Identität, indem mit ihm ein bestimmter Ort im öffentlichen Raum der Gemeinschaft verbunden ist. So dass wir also sagen können: Nicht nur der physische Körper nimmt im Hier und Jetzt seines Gegebenseins eine Stelle im physischen Raum ein, sondern auch der symbolische Körper hat einen durch den Namen markierten Ort im Netzwerk des sozialen Raums. Die Doppelnatur dieses Ortsprinzips macht Personen in ihrer Stellung zweifach angreifbar: Sie können sowohl leiblich wie auch symbolisch verdrängt, verrückt und vertrieben werden. In diesem ‚Verdrängt-werden-Können‘ liegt übrigens der Grund für unser Insistieren auf einem dezidiert körperlichen Kern und Verständnis der symbolisch-sozialen Dimension: Denn die Minimalbestimmung alles Körperlichen ist es, eine wohl bestimmte Stelle in Raum und Zeit einzunehmen. Wenn aber Körperlichkeit in letzter Instanz als das ‚an einer Stelle sein‘ begriffen wird, dann zielt jede verletzende Gewalt auf die Verdrängung von eben dieser Stelle. Und diese Verdrängung kann durch physische Verletzung ebenso erfolgen wie durch eine symbolische.“
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stellt die mögliche Verletzung durch Benennung eine fortwährende Bedingung des sprechenden Subjekts dar. Man kann sich vorstellen, jemand müßte alle Namen zusammentragen, mit denen er jemals benannt wurde. Käme da nicht seine Identität in Verlegenheit? Würden nicht manche Namen den Effekt anderer auslöschen? Müßte er entdecken, daß er grundlegend auf eine widersprechende Zusammenstellung von Namen angewiesen ist, um daraus sich selbst abzuleiten? Wenn wir uns selbst in den Namen wiederfinden, die sozusagen von anderswo an uns gerichtet werden, stoßen wir dann auf unsere Selbstentfremdung in der Sprache?“ (Butler 2006, 53.)
Jede Referenzierung ist eine solche Benennungshandlung, doch nicht jede Benennung ist ein verbaler Gewaltakt. Gibt es bestimmte Benennungen mit erhöhtem Gewaltpotential, wie ist dieses einzuordnen? Wie sieht das Benennungssystem des Deutschen im Hinblick auf sein Gewaltpotential aus? Wie wirken solche Benennungen? Wer hat zu welchen Zeiten welches Recht zu benennen? Die Handlungsmacht des Benennens ist aussagekräftig, macht sie doch die Asymmetrie aus. Ich spreche, benenne, beherrsche. „Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, daß man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäußerung der Herrschenden zu fassen: sie sagen ‚das ist das und das‘, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz“ (Nietzsche 1999, 257 ff.).28
Im Focus stehen müssten der Schimpfwortgebrauch, das kulturwissenschaftliche Labeling, vor allem aber Metaphoriken aller Art (z. B. Dehumanisierungsmetaphoriken), dann der spezielle Einsatz von Wortbildungen. Hinzu kämen der Namensentzug, die damnatio memoriae, Namensstrafen und Namenstabuisierungen. Am Beispiel des Schimpfwortgebrauchs kann die Frage diskutiert werden, ob Schimpfwörter sich durch die Zeiten hindurch mit gleichbleibender Iterabilität durch die Teilnehmer einer Sprachgesellschaft und zwar genau mit derselben ritualisierten Illokution zum Zweck des Beleidigens behauptet haben. Es geht dabei letztlich auch um die Frage, in welcher Weise man Schimpfwörter als kondensierte Geschichtlichkeit betrachten kann, insofern der Sprechakt des Beleidigens „ein Effekt vorgängiger und zukünftiger Beschwörungen der Konvention ist, die den einzelnen Fall der Äußerung konstituieren und sich ihm zugleich entziehen“ (Butler 2006, 12). Tatsächlich gibt es zu jeder spezifischen Epoche besonders frequent gebrauchte Schimpfwörter, deren Verwundungspotential kulturell bedingt und konventionalisiert ist. Während im Frühneuhochdeutschen 28
Die machtvolle Handlung des Benennens sei schon in der Schöpfungsgeschichte der Ausdruck der von Gott dem Menschen verliehenen Macht. Bergmann 2000, 123: „Benennen heißt Erschaffen, Befehlen, Inbesitznehmen – Zuhören heißt Befolgen, Gehorchen, sich Unterwerfen.“ Das Nutzen von Sprache hat in diesem Verständnis viel mit Macht und Ohnmacht zu tun. Schweigen als Ohnmacht gegenüber dem Anderen, Hören als Unterwerfung unter den Anderen. Doch hier sei einmal auf die andere Seite des Sprechens verwiesen. Denn ich kann auch schweigen, um mich dem Anderen in einem Akt aktiven Widerstands zu verweigern, ich kann zuhören, um mich ihm zu öffnen, mich ihm zu nähern. Das Zuhören als wichtiger Teil der Psychoanalyse hilft den Anderen in seiner Seelennot aufzubauen, ihn machtvoll zu heilen, oft von den Wunden sprachlicher Gewalt. Und für Lévinas ist das Zuhören überhaupt die einzig adäquate Antwort auf Gewalt.
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zum Beispiel das Schimpfwort Hund zu den wirkkräftigsten Beleidigungen gehörte, ist das Beleidigungspotential dieses Tieres gegenwärtig sicher in den Hintergrund getreten. Die Mehrzahl der beleidigenden Ausdrücke im Frühneuhochdeutschen sind Wortbildungen, deren Bestandteile aus den Bildbereichen Pflanzenwelt, Tierwelt, Alltagssachwelt oder aus den Bereichen Sexualität, Fäkalsprache, Theologie, Beruf oder Stand entnommen sind. Besonders die Bezeichnungen von Außenseitern wie den Fahrenden, Gauklern oder Spielleuten mussten zum Beschimpfen ehrbarer Bürger herhalten. aschenblaser, gagerweib, gartenkrieger, gaukler, kolenmörder, landrupfer, tagdieb. Mit direktem Bezug zu Betrug und Diebstahl: bösewicht, bube 3, dieb, gaukelprediger, fabelsager, fresser, gecke, heiligenräuber, heilingdieb, halbe, keibe 2, henker, hofierer, hoflecker, hundsfot, junkerecke, laf, lauer, lautenschlager, lecker, leckersböswicht, leicher, leise(n)trit, leistreter, liebknaller, lotter, lotterbube, ludrer, märensager, maulaffe, nascher, peiniger, schalk, schelm, schlüffel, schmeichler, schwätzer, täuscher, tischgenosser, totengräber, traumprediger, umläufer, verlaufener, zutütler usw.
Mit jedem Gebrauch als Schimpfwort wurde nicht nur der so Benannte beleidigt. Es wurde auch das Beleidigungspotential des Wortes perpetuiert, womit die zur Beleidigung dienende Gruppe von Menschen gleichzeitig immer auch sekundärstigmatisiert wurden.29 Die Beleidigung eines Dorfbewohners als Zigeuner, machte eine positive Betrachtung der durchreisenden „Zigeuner“ unmöglich. Mit der vorgenommenen Formulierung ist ein Aspekt angesprochen, der zur Aufgabe einer solchen Sprachgeschichte gehören müsste, nämlich die Differenzierung zwischen dem Schimpfwortgebrauch als Bewertungshandlung gegenüber allen möglichen Bezugsgrößen und der mit dem Wort motivationell bzw. etymologisch verbundenen Referenzierung. Man konnte schon in frühneuhochdeutscher Zeit jemanden als einen Juden beschimpfen, ohne dass dieser zur religiösen Gruppe der Juden gehörte. Die diskriminierende Polysemierung des Wortes Jude funktionierte doppelt imageschädigend. Zum einen unterstellte man dem so Beschimpften, dass er ein Wucherer ist, zum anderen verketzerte man ihn. Während der (Sprach)historiker diese referenz,lose‘, allein auf den pragmatischen Gehalt der Beschimpfung ausgerichtete Verwendungsweise in der Regel schnell kontextualisieren kann, ist dies mit der Beschimpfungshandlung als hure in den Quellen oft nur bedingt möglich. Beschimpfte man die Männer eher als unehrlich oder kriminell, griff man bei Frauen bevorzugt deren Tugendhaftigkeit und Sexualmoral an und nannte sie Hure, Diebshure usw., oft mit entsprechenden Zusatzattributen wie abgefeimte, ausgestaupte, gebrandmarkte, ausgestrichene Hure, bezeichnenderweise oft Ableitungen bzw. Formen von Verben, die die Tatsache der Züchtigung (ausstaupen, brandmarken, ausstreichen) in Richtung auf eine Charakterbestimmung instrumentalisieren. Wurde eine Frau einmal als hure bezeichnet, hatte sie oft genug bereits ihre Ehre verloren, was vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kultur- und mentalitätshistorisch völlig anders zu bewerten ist als heute. Wirklich gefährlich wurde es in bestimm29
Zum Terminus Sekundärstigmatisierung vgl. Lobenstein-Reichmann 2008, 256.
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ten Zeiten, wenn man Frauen als Hexe oder Zauberin beschimpfte, da damit der argwon geweckt, das heißt der Anfangsverdacht geäußert war, und die juristische Verfolgung nicht mehr lange auf sich warten ließ. „Wann nun ein Ertzverb=ster Landtbub etwan ein Wort hat lassen fahren / oder sonst etwa ein b=ses Geschrey / Fber ein arme alte verachtete Gaja (dann andere indicia oder famam probatam hat man nimmermehr) er gehet / so muß die Alte dran / vnd die erste, werden.“ (Oorschot, Spee/Seifert. Proc. 482, 12 [Bremen 1647].)
5. Mit einem Beispiel zwischen Semantik und Pragmatik soll die Auflistung geschlossen werden. Gibt es zeittypische Präsuppositionen? Präsuppositionen sind nach Stalnaker (1978, 321) das, was vom Sprecher als gemeinsamer Hintergrund der Gesprächsteilnehmer, als ihr gemeinsames oder wechselseitiges Wissen betrachtet wird. Sie meinen „etwas voraussetzend mit“. Textlinguistisch dienen Präsuppositionen der Textkohärenz und der Textkonsistenz (Petöfi/Franck 1973, 37), diskurssemantisch sind sie eingebettet in ein bestimmtes Diskursuniversum, das sie sowohl mitkonstituieren wie spiegeln. Betrachtet man die berühmte Bambergische Halsgerichtsordnung, so findet man eine außerordentlich interessante Präsupposition: „Straff der notzucht. Jtem so yemant einer vnverleymbten Eefrawen, witwe oder junckfrawen mit gewalt vnd wider jren willen jr junckfrewlich oder frewlich ere neme, derselbig vbeltetter hat das leben verwFrckt und sol […] mit dem schwert vom leben zum tode gericht werden.“ (Bambergische Halsgerichtsordnung, Art. 144, Bl. 40r [1507].)
Ein moderner Leser wird sofort die Frage nach den „verleumbten Frauen“ stellen. Was bedeutet die rechtsrelevante Einschränkung für Frauen, deren Leumund in Frage gestellt wird? Zunächst präsupponiert die Adjektivattribuierung die Existenz zweier Frauentypen wie die gesellschaftliche Differenzierung zwischen unverleumdeten, ehrenhaften Frauen und ehrlosen. Schutz und Schirm wird also nur unter bestimmten Bedingungen gewährt. Wer diese Bedingungen nicht erfüllt, fällt aus dem Ordnungssystem heraus, wird nicht mehr durch das System geschützt und letztlich für vogelfrei erklärt. Aber dürfen diese Frauen dann tatsächlich nach der in diesem Artikel festgelegten Ordnungsnorm straflos vergewaltigt werden? Was besagt eine solche Aussage? Mit dieser Präsupposition wird ein Einblick in das Ehrsystem, das heißt auch in das Diskursuniversum einer Zeit gewährt, das nicht nur Verbrecher für vogelfrei erklären kann, sondern mit wenigen sprachlichen Mitteln auch eine bestimmte Gruppe von Frauen ehrlos und rechtlos macht. Wer im Einzelfall zu der einen Kategorie, wer zu der anderen gehört, ist dann ebenfalls wieder ein situationsspezifischer sprachlicher Aushandlungsprozess. Denn schon der willkürliche Schimpfwortgebrauch des Wortes hure, gesprochen im Affekt, vielleicht von einem wütenden Ehemann unter der Zeugenschaft eines unbeteiligten Publikums kann die soziale Identität einer ehrbaren Frau transformieren. Es ist das neue Benanntwerden, das Umbenannntwerden das den sozialen Ort eines Menschen im wahrsten und körperlichsten Sinne des Wortes verrückt, das neben der Seele eben auch den Körper trifft:
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„Der Eigenname stiftet unsere Unverwechselbarkeit; er verleiht eine soziale Identität, indem mit ihm ein bestimmter Ort im öffentlichen Raum der Gemeinschaft verbunden ist. So dass wir also sagen können: Nicht nur der physische Körper nimmt im Hier und Jetzt seines Gegebenseins eine Stelle im physischen Raum ein, sondern auch der symbolische Körper hat einen durch den Namen markierten Ort im Netzwerk des sozialen Raums. Die Doppelnatur dieses Ortsprinzips macht Personen in ihrer Stellung zweifach angreifbar: Sie können sowohl leiblich wie auch symbolisch verdrängt, verrückt und vertrieben werden. In diesem ‚Verdrängtwerden-Können‘ liegt übrigens der Grund für unser Insistieren auf einem dezidiert körperlichen Kern und Verständnis der symbolisch-sozialen Dimension: Denn die Minimalbestimmung alles Körperlichen ist es, eine wohl bestimmte Stelle in Raum und Zeit einzunehmen. Wenn aber Körperlichkeit in letzter Instanz als das ‚an einer Stelle sein‘ begriffen wird, dann zielt jede verletzende Gewalt auf die Verdrängung von eben dieser Stelle. Und diese Verdrängung kann durch physische Verletzung ebenso erfolgen wie durch eine symbolische.“ (Krämer 2007, 36.)
4. Sprachgeschichte als Geschichte verbaler Gewaltausübung: Perspektive und Ausblicke In der Sprachphilosophie, der Soziologie oder der Sprach- und Literaturwissenschaft beschreibt man die Versuche, Sprache, Physis und Psyche in einen Handlungszusammenhang zu setzen, bezeichnenderweise mit Worten wie inscription (Butler 1990), inskribieren/einschreiben (Hirsch 2001, 35ff.), verkörpern (Büchner, s. o.), Inkorporierung (Bourdieu 2005, 64), Inkarnation (Hirsch 2001, 35) internalisieren (Schaff 1980, 3630) bzw. Internalisierung, „das heißt buchstäblich […] Einverleibung“ (Berger/Luckmann 2004, 65). Die verwendeten Metaphern spiegeln die Nichttrennbarkeit der Physis von der Psyche, die eben nicht nur als Gast in ihr wohnt. Schon die Oralität des körperlichen Einverleibens geht mit der Oralität des Sprechens parallel, was wiederum sprachlich dadurch zum Ausdruck gelangt, dass griechisch glossa, lateinisch lingua und deutsch Zunge nicht nur die Zunge als das leibliche Geschmackswerkzeug bezeichnen, sondern eben auch die Sprache, mit der Menschen zu anderen Menschen in körperliche wie geistige Beziehung treten. Das Verb inskribieren im Sinne von ›etw. auf etwas schreiben‹ bzw. ›sich selber wo einschreiben‹ meint in eigentlicher Verwendung eine Handlung mit Schreibstoffen. Gebraucht man inskribieren für ›etwas in die Seele einschreiben‹, so wird diese zu einer mit einem Blatt Papier in eins gesetzten Bezugsgröße, zu einem Gegenstand, in den man seinen Stempel eindrückt. Auch hier wird eine Beziehung hergestellt, ein Eindruck hinterlassen, der mehr oder minder nachhaltig den Be30
Schaff 1980, 36: „daß nämlich das Individuum die Stereotypen als gesellschaftlich vermittelte Gegebenheiten internalisiert, wobei diese Internalisierung sich über die Erziehung in der Gesellschaft vollzieht, die aber nicht anders erfolgen kann als mittels der Sprache. Diese Erziehung ist natürlich nicht identisch mit dem Erlernen der Muttersprache, aber sie erfolgt durch deren Vermittlung, und zwar von dem Augenblick an, da das Kind diese Sprache zu erlernen beginnt.“
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schreibstoff maßgeblich verändern kann. Das Verb verkörpern setzt bei eigentlichem Gebrauch Nicht-Leiblichkeit voraus, in der Übertragung besagt das Verb gezielt die Verleiblichung von Nicht-Leiblichem, was eine bloße Materialisierung sein kann, aber auch eine Art Verlebendigung mit bedrohlicher, nicht kontrollierbarer Selbständigkeit des so zum Leben Erwachten; internalisieren bedeutet ›impliziert aufnehmen‹ und kann auch als geistiges Inkorporieren gedacht werden. Will man das Gewaltsame des Sprechens besonders hervorheben, gewinnt die Metapher eine neue Rolle; sie reicht bis zur pharmazeutisch-medizinischen ‚Intextuation‘ als ‚Intoxination‘ (Hirsch 2001, 16) oder in der modernen Rhetorik zu toxischer Kommunikation und Exekutionsrhetorik. Sprachliche Gewalt verleiblicht sich im Individuum als Einzelwesen, als Teil einer Gruppe, als Kollektiv. Sie wird ebenfalls leiblich ausgeübt durch Individuen als Einzelwesen, durch Gruppen oder Kollektive, aber auch durch namenlose Institutionen und deren Vertreter. Dann unterwirft Gewalt „das der Macht sich Entgegensetzende und richtet es zu nach dem Maßstab und als Aufweis der herrschenden Normativität. Ursprünglicher und bevorzugter Austragungsort von Gewalt in solcher normsetzender-normbestätigender Funktion ist der menschliche Körper als die leibliche Subjektrepräsentanz. Indem die Gewalt sich in den Körper einschreibt, zerstört sie ihn als das Widerständige und stellt ihn aus als Symbol der geltenden Machtverhältnisse.“ (Nieraad 1994, 31; hier zitiert nach Hirsch 2001, 35.)
Es wird, so hoffe ich, deutlich geworden sein, dass die Beschäftigung mit der Sprache mehr ist als die Auseinandersetzung mit Orthographiereformen, Majuskelgebräuchen oder Verbstellungsschwankungen. Was hier zur Diskussion steht, ist der Mensch in seinen individuellen sozialen Beziehungen, seinen konkreten Lebenswelten und seinen gesellschaftlichen Bedingungen. „Man stiftet Menschheit, wenn man Gesellschaft stiftet; aber man stiftet Gesellschaft, wenn man Zeichen austauscht“, schreibt Umberto Eco (2002, 108). Zeichen sind daher für ihn „gesellschaftliche Kräfte“ und „nicht nur Hilfsmittel zur Widerspiegelung der gesellschaftlichen Kräfte“. Mit unserer ansozialisierten, von der zeitspezifischen Kultur geprägten und diese prägenden Sprache lernen wir nicht nur die uns umgebenden Zeichen in ihren Systemhaftigkeiten zu begreifen, wir eignen uns durch unsere Benennungen die Welt an, machen sie uns pragmatisch vertraut und zähmen damit nicht nur uns selbst, sondern auch die uns umgebenden Beziehungsgefüge. Letztlich konstituieren wir erst durch Sprache unsere Sichtweise auf die Welt und schreiben uns selbst wiederum immer wieder aufs Neue in diese ein. „Es ist eben die Sprache, vorkommend in den Texten jeweiliger sozialer Sinnwelten, in der dem Heranwachsenden Gliederungen vorgegeben, Differenzierungen, Unterscheidungen, vor allem auch Wertungen vermittelt werden, in der – zusammengefasst – die Sinngebung vollzogen wird, die für das Leben notwendig ist.“ (Lobenstein-Reichmann 2009, 252). Man müsste nun hinzufügen: in denen der Mensch der sprachlichen Gewalt ausgeliefert ist, sie aber immer wieder auch für sich zu nutzen oder sich gegen sie zu wehren lernt. Sprache wird nicht nur von Menschen gesprochen. Sie wird auch von Menschen gemacht. Somit kann sie auch durch den Menschen reflektiert und in ihrem verletzenden
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Potential verändert werden. Gewaltsames Sprechen und damit der Mensch im Zeichen der individuellen wie der strukturellen Gewalt muss endlich zum Gegenstand der Sprachwissenschaft, vor allem aber auch der Sprachgeschichte werden.
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MARCUS MÜLLER
Geschichte als Spur im Text
1. Einleitung 2. Sprachgeschichte, Diskursgeschichte, Realgeschichte 3. Drei Geschichtstexte und wie sie gemacht sind 4. Spuren im Geschichtstext 5. Schluss 6. Zitierte Literatur
1. Einleitung Dieser Aufsatz hat in doppelter Hinsicht einen sprachhistorischen Gegenstand, und zwar im Sinne des Titels dieses Bandes: Einerseits beschäftigt er sich mit Texten, die in der Vergangenheit produziert wurden, andererseits handelt es sich dabei um Texte, die ihrerseits die Vergangenheit zum Thema haben. Mir geht es in Folgenden um das Verhältnis von Geschichtstexten verschiedener Art zu ihrem Gegenstand, der Geschichte. Dabei werde ich exemplarisch an drei Texten betrachten, wie in ihnen der jeweils präsentierte historische Prozess modelliert wird, nämlich an einem auf die politische Geschichte, einem auf die Diskursgeschichte und einem auf die Sprachgeschichte bezogenen Text. Im Anschluss diskutiere ich die Ergebnisse in einem Rahmen, den Reichmann (1998) in seinem Aufsatz Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung gesetzt hat. Reichmann (1998, 1) bespricht darin das Verhältnis dreier virulenter Bedeutungen des Ausdrucks Sprachgeschichte, der nämlich zur Bezeichnung einer „Entität“, einer „Idee“ oder derer „Verwirklichung“ verwendet werden kann. Er unterscheidet zwei „Metatheorien“, in denen das Verhältnis dieser drei Konzepte von Sprachgeschichte untereinander beschrieben werden kann. Die erste Metatheorie bezeichnet Reichmann (ebd.) als „metaphysischen Realismus“, die zweite als „Konstruktivismus“: „Unter ersterem soll hier die Auffassung verstanden werden, daß Erkenntnis ein Finden, Entdecken und darauf folgend ein möglichst exaktes Darstellen, Beschreiben, Wiedergeben, Nachzeichnen von etwas vor jeder Erkenntnisoperation und unabhängig von ihr auf irgendeine Weise Vorhandenem, meist von etwas als objektiv Vorausgesetztem, ist. Der Konstruktivismus ver-
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steht menschliches Handeln und mit ihm wissenschaftliche Erkenntnis demgegenüber als soziomorphen, ausschließlich in sprachlicher Gestalt existenten Entwurf fiktiver Welten mit gesellschaftlicher Funktion als Existenzmöglichkeit“ (Reichmann 1998, 2).
Im ersten Fall würde der Geschichtstext als eine abbildende Nachzeichnung der Vergangenheit verstanden, die entweder wahr oder falsch sein kann, während im zweiten Fall ‚Geschichte‘ als ein Textsinn modelliert wird, von dem es weder darauf ankommt noch sich sagen lässt, inwiefern er mit tatsächlich Gewesenem übereinstimmt – vielmehr wird seine Herstellung wie auch seine Geltung ausschließlich aus den Bedingungen der Gegenwart heraus erklärt. Hinsichtlich des referentiellen Status, welcher dem sprachhistorischen Text zugesprochen wird, wählt Reichmann sogar das geschichtstheoretische Reizwort „fiktiv“. Wenn im Eingang des Aufsatzes beide erkenntnistheoretische Modelle als gleichberechtigt eingeführt werden, so nimmt Reichmann im weiteren Verlauf des Aufsatzes, wie auch in weiteren Äußerungen zum Thema (Reichmann 2011), ganz eindeutig die konstruktivistische Position ein. So heißt es in Reichmann 2011, 34: „Ich tendiere – gerade als Linguist – dazu, die fiktionale Leistung, die auch dem alltäglichen Sprachgebrauch eigen ist, gegenüber jeder Form des Abbildgedankens besonders zu betonen: Indem wir sprechen und schreiben, bauen wir ‚Welten‘, Realitäten‘ auf, stellen sie her, wir ersprechen, ertexten, konstituieren, bilden, schaffen, gestalten fortwährend Neues und je Anderes, wir tun das in Anknüpfung und in kritischer Auseinandersetzung mit der Weise, wie man das in der Gruppe schon immer getan hat und selbst dann, wenn man das an den Dingen überprüfen kann und tatsächlich überprüfen würde, nicht primär erkenntnis-, sondern interessegeleitet.“
Die folgenden Beispielanalysen werden vordergründig eine Bestätigung dieser Position in Bezug auf Geschichtstexte dreier verschiedener Richtungen ergeben. Im zweiten Teil dieses Beitrags will ich aber versuchen zu zeigen, dass der „semiologische Konstruktivismus“ (Krämer 2005, 157) der diskursiven Formierung historischer Textgestalten nicht vollends gerecht werden kann. Dazu werde ich den epistemologischen Leitbegriff der ‚Spur‘ einführen (s. u., Abschnitt 3).
2. Sprachgeschichte, Diskursgeschichte, Realgeschichte Die oben diagnostizierte Mehrdeutigkeit des Kompositums Sprachgeschichte lässt sich auf semantische Verhältnisse seines Grundworts Geschichte zurückführen. Die drei von Reichmann im Titel seines zitierten Aufsatzes angeführten Bedeutungen sind dabei nicht die einzigen (vgl. Grimm 5, 3863 f.; Duden 3, 1480; Bracher 1978, 29; Müller 2007, 10; Haß: in diesem Band). Im Folgenden verwende ich Geschichte im Wesentlichen im Sinne von ›Zugriffsweise auf die Vergangenheit, die mehr oder weniger institutionalisiert sein kann‹. Ich verwende zur Differenzierung die Ausdrücke Sprachgeschichte, Diskursgeschichte und Realgeschichte und meine damit also drei verschiedene histori-
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sche Zugriffe, die sich zum einen – jeweils mit großen Überschneidungen – in der Gegenstandsbildung unterscheiden und zum anderen tendenziell durch den theoretischen und methodischen Zugriff auf ihre Gegenstände. Mit Realgeschichte meine ich hier das von Fachhistorikern verfolgte Programm, das sich erstens im Kern auf Handlungen und ihre Folgen statt auf Texte, Bilder oder Musik bezieht und in dessen Rahmen man zweitens davon ausgeht, dass es die Gegenstände, über die man forscht, in der behaupteten Form auch tatsächlich gegeben hat und zwar unabhängig von der sprachlichen Form ihrer Darstellung. Dem realhistorischen Vorgehen liegt demnach grosso modo das Erkenntnismodell des „metaphysischen Realismus“ zugrunde. Die Diskursgeschichte ist keinem einzelnen Fach zugeordnet, sondern sie ist ein Forschungsprogramm, das wenn nicht interdisziplinär, so doch mindestens überdisziplinär verfolgt wird (vgl. die Beiträge in Eder 2006). Ich will hier nur zwei Merkmale nennen: Gegenstände werden untersucht, indem man die soziokommunikativen Bedingungen ihrer semiotischen Konstitution analysiert; je nach Fach und Schule stehen dann im Zentrum entweder die Zeichenformen in ihrer Serialität oder die gesellschaftlichen Bedingungen der Zeichenbildung (mit Hilfe der Kategorien ‚Kultur‘, ‚Macht‘, ‚Institutionen‘, ‚Diskursregeln‘) oder die konstituierten Gegenstände selbst in ihren Nuancen, Variationen und ihrem Wandel. Von den Gegenständen und Sachverhalten jenseits ihrer Formierung in Zeichen wird entweder gesagt, dass es sie nicht gebe (z. B. von Ideen und Begriffen) oder sie werden in ihrer nackten vorsemiotischen Existenz ignoriert und mehr oder weniger deutlich als uninteressant ausgewiesen (z. B. Flüsse, Landschaften oder menschliche Zellgebilde im Mutterleib). Die Diskursgeschichte wäre demnach ein konstruktivistisches Projekt.1 Sprachgeschichte schließlich kann diejenige Sprachforschung genannt werden, die entweder auf den Wandel von sprachlichen Phänomenen oder Systemen abzielt oder ihren Gegenstand in irgendeiner Weise als historisch kennzeichnet. Oft wird eine „innere“ von einer „äußeren“ Sprachgeschichte abgehoben – die „innere“ beschäftige sich demnach mit dem Wandel von Sprachsystemen, die äußere mit dem Verhältnis der Sprache zu gesellschaftlichen und geschichtlichen Größen aller Art. Insbesondere in der historischen Semantik sprachwissenschaftlicher Prägung, z. B. der historischen Lexikographie, verschwimmt aber diese Grenze, in dem sprachliche Bedeutungen einerseits als sprachstrukturelle Größen angesprochen werden, andererseits in vielen Arbeiten und Darstellungen aber auch als kultur- und sozialhistorisch wirksame Phänomene ausgewiesen sind. Daraus erwächst eine Position, die zuletzt in Aufsätzen von Oskar Reichmann (2011) und Anja Lobenstein-Reichmann (2011) dargelegt wurde und die für Historiker schwer verdaulich ist. Sie besagt, dass geschichtliche Gegenstände aller Art uns 1
Es ist hier nicht möglich und nicht intendiert, die komplexen und auch im Wandel begriffenen Verhältnisse innerhalb der historischen Schulen der ‚Historischen Semantik‘, ‚Begriffsgeschichte‘, ‚Ideengeschichte‘ und ‚Diskursgeschichte‘ zu erörtern, auch und gerade was die epistemologischen Grundanschauungen angeht.
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letztlich immer und ausschließlich in historisch gelagerten kontingenten Perspektiven gegeben sind, die ihre innere Strukturierung in jeweils einem Sprachsystem und auf jeweils einer Sprachstufe erfahren. Ein angemessener Zugang zu historischen Gegenständen setze demnach eine sprachliche Analyse des Geflechtes aufeinander bezogener Ausdrücke in einer Sprache und einer Epoche voraus. Diese Position läuft darauf hinaus, dass es Geschichte ohne Sprachgeschichte eigentlich gar nicht geben könne. Alle drei historischen Zugriffe, ‚Sprachgeschichte‘, ‚Diskursgeschichte‘ und ‚Realgeschichte‘, aber beschäftigen sich – mehr oder weniger ausdrücklich und offensichtlich – mit soziokommunikativen Verhältnissen. Insofern lässt sich erstens fragen, welche Aspekte des gesellschaftlichen Miteinander-Handelns jeweils betont werden, zweitens auf welche Weise das geschieht und drittens, welche Folgen die jeweilige Arbeitsform auf die Gegenstandskonstitution hat.
3. Drei Geschichtstexte und wie sie gemacht sind Es ist offenkundig, dass die Exemplarität der folgenden Beispielanalysen hier nur behauptet werden kann. Die Textauswahl und die im Folgenden herausgehobenen Aspekte spiegeln den Leseeindruck des Verfassers in den drei zur Rede stehenden Disziplinen wider. Der Vergleichbarkeit halber sind meine Beispiele jeweils auf denselben Gegenstandsbereich, nämlich die Weimarer Republik, bezogen.2 Sie sollen also drei Zugriffsweisen auf die Vergangenheit illustrieren. Die Beispieltexte sollen im Folgenden abseits der Frage, ob, inwiefern und wofür sie repräsentativ sind, dazu dienen, bestimmte Aspekte herauszuarbeiten, die mir dann als Leitlinien für die anschließenden Überlegungen dienen sollen.
3.1. Klaus Schwabe, Der Weg der Republik vom Kapp-Putsch 1920 bis zum Scheitern des Kabinetts Müller 1930 (1987) Der erste Aufsatz ist ein realhistorischer und bezieht sich – so der Titel – auf den Weg der Republik vom Kapp-Putsch 1920 bis zum Scheitern des Kabinetts Müller 1930. Er ist 1987 in dem bekannten Sammelband Die Weimarer Republik erschienen. Es handelt sich um einen Überblicksaufsatz zu einer bestimmten Periode, aus dem ich drei kurze Passagen gebe: 1 2 2
[S.102:] Kein anderes Ereignis während der Amtszeit Wirths hat das deutsche Volk so aufgewühlt wie der Mord an Rathenau. Er bildete den Höhepunkt einer Serie
Die folgenden Textanalysen entstammen im Kern einem Vortrag mit dem Titel Sprachgeschichte, Diskursgeschichte, Realgeschichte – Überlegungen zu ihrem Verhältnis, den der Verf. im Juni 2011 auf dem Arbeitstreffen des interdisziplinären Forschungsprojektes Demokratiegeschichte der frühen Weimarer Republik am Institut für Zeitgeschichte in München gehalten hat.
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von Attentaten, deren Hintermänner in den ehemaligen Freikorps und rechtsradikalen Geheimorganisationen zu suchen waren, die den Haß gegen die deutschen „Erfüllungspolitiker“ schürten. Opfer dieser rechtsradikalen Terroranschläge wurden u. a. Mathias Erzberger (gest. am 26. August 1921), der USPD-Abgeordnete Otto Gareis (gest. am 10. Juni 1921), Philipp Scheidemann (der überlebte) und zuletzt, am 24. Juni 1922, Walther Rathenau, der profilierteste Kopf im Kabinett Wirth. Der Zusammenhang der Morde mit der antirepublikanischen Hetzkampagne der radikalen Rechten war offenkundig. [...] [S.102:] Die Vorlage [Gesetzesvorlage, die u. a. republikfeindliche Agitation unter Strafe stellen wollte] sollte sich, wie Wirth betonte, ausschließlich gegen den Feind von rechts richten. Damit löste er den Protest Bayerns aus, das seine eigenstaatlichen Rechte – vor allem seine Verwaltungshoheit – geschmälert sah, ein gegen Republikfeinde von rechts und links zielendes Gesetz verlangte und den Vollzug des Gesetzes verweigerte. [...] [S. 103:] Bedenken hatte Wirth auch hinsichtlich der Richtigkeit seiner offenbar erfolglosen Erfüllungspolitik. Er entschloß sich Ende Oktober 1922, das Ruder herumzuwerfen und von einer vorbehaltlosen Erfüllung der alliierten Reparationsforderungen künftig ausdrücklich Abstand zu nehmen.
Der Ausschnitt steht exemplarisch für den gesamten Text. In ihm wird Geschichte im Rückgriff auf alle verfügbaren historischen Kategorien erzählt. Thematisiert werden in dem Text: Handlungen (sprachliche und nichtsprachliche) z. B. Mord an Rathenau (Z. 2), Wirth betonte, die Vorlage solle sich ausschließlich gegen den Feind von Rechts richten (Z. 12 f.), Empfindungen und mentale Zustände (individuelle und kollektive) z. B. Wirth hat Bedenken (Z. 17), der Mord an Rathenau hat das deutsche Volk aufgewühlt (Z. 1 f.) Intentionen z. B. Wirth entschloß sich, das Ruder herumzuwerfen (Z. 18 f.) kausale Zusammenhänge z. B. Zusammenhang der Morde mit der antirepublikanischen Hetzkampagne (Z. 9 f.), Wirth löste mit etw. den Protest Bayerns aus (Z. 13)
Das historische Personal wird in das so beschaffene Prädikationsgefüge integriert, indem Mitspieler-Rollen als Handelnde, Erleidende und Empfindende von zwei Denotatsklassen besetzt werden,3 nämlich von Individuen – z. B. Josef Wirth (Z. 1 u. ö.), Rathenau (Z. 2) Kollektiven – das deutsche Volk (Z. 1), Bayern ›die bayrische Regierung‹ (Z. 13)
Der sprachliche Zugriff erfolgt mit drei Verfahren: 3
Zu diesem Verfahren in der Kunsthistoriographie vgl. Müller 2007, 229 ff.
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1. Mit realistischen Behauptungssätzen. z. B. Erzberger; Gareis, Scheidemann und Rathenau wurden Opfer rechtsradikaler Terroranschläge (Z. 5 ff.) Diese Behauptung ist dann eindeutig im Sinne der Falsifizierbarkeit auf die historische Datenlage zu beziehen, solange wir stabile Gebrauchsregeln der Ausdrücke rechtsradikal, Terroranschlag und Opfer für Autor und Leser annehmen können. 2. Mit rhetorischen Weiterentwicklungen von Wahrheitsaussagen mithilfe von Totalitätsbegriffen4, deren genaue referentielle Basis unklar bleibt und die daher auch nicht falsifizierbar sind, wie der Satz etw. hat das deutsche Volk aufgewühlt (Z. 1 f.). Um diesen Satz beurteilbar zu machen, muss klar sein, erstens, wer alles unter die Extension des Ausdrucks das deutsche Volk fällt, und zweitens – gesetzt den wahrscheinlichen Fall, es handele sich um eine Metonymie – welche Teilmenge die Basis der metonymischen Verschiebung bildet (z. B. die politisch Interessierten, die Öffentlichkeit oder vielleicht alle Erwachsenen mit entsprechender Urteilskraft). 3. Mit Interpretationen, die plausibel oder unplausibel sein können. z. B. Der Zusammenhang der Morde mit der antirepublikanischen Hetzkampagne der radikalen Rechten war offenkundig. (Z. 9 f.) Dass diese Aussage keinen Wahrheitsanspruch im engeren Sinne hat, sondern auf Plausibilität abzielt, verrät schon die Formulierung etw. war offenkundig. Da die Aussage im Präteritum formuliert ist, wird nicht ganz klar, wem eigentlich hier etwas offenkundig war – anders gesagt, das Präteritum bewirkt eine Überblendung einer epistemisch abgetönten Aussage vom Sehepunkt des Historikers aus mit einer deskriptiven Aussage, welche die Perspektive in die Erzählzeit verlegt.
In der gesamten Passage wechseln Erzählposition und Beschreibungssprache zwischen einer auktorialen Position, die metasprachlich formuliert ist und einer verschoben perspektivierten Position mit Anleihen aus der Objektsprache.5 Am deutlichsten wird das bei der Behandlung des Wortpaares Erfüllungspolitiker (Z. 5)/Erfüllungspolitik (Z. 18): Zuerst wird „Erfüllungspolitiker“ als Stigmawort der radikalen Rechten mit Distanzmarkern eingeführt, dann wird die Ableitungsbasis „Erfüllungspolitik“ wieder aufgenommen, diesmal offensichtlich als metasprachlicher, unmarkierter Ausdruck. Im nächsten Satz wird dann das Bestimmungswort Erfüllung in der Konstruktion vorbehaltlose Erfüllung der alliierten Reparationsforderungen wieder aufgenommen. Diese Formulierung dient offensichtlich dazu, einen Entschluss Josef Wirths perspektivisch in einer Art erlebten Rede wiederzugeben – der Ausdruck „Erfüllung“ bleibt zwar in der Meta4 5
Zum Terminus ‚Totalitätsbegriff ‘ vgl. Hermanns 1999, 356 ff. Dieses Phänomen in historischen Texten hat Oskar Reichmann seit vielen Jahren immer wieder, v. a. mündlich, hervorgehoben. Diese Beobachtung bildete auch den Ausgangsimpuls für die diskursanalytische Beschäftigung des Verf. mit kunsthistorischen Texten, die v. a. in Müller 2007 dokumentiert ist. – Die Ausdrücke a) Objektsprache und b) Metasprache gebrauche ich hier ohne weitere Reflexion zur Bezeichnung für a) ›sprachliche Ausdrücke samt ihrer Gebrauchsregeln zur erzählten Zeit des Geschichtstextes‹ und b) ›sprachliche Ausdrücke samt ihrer Gebrauchsregeln zur Erzählzeit des Geschichtstextes‹.
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sprache, wird nun aber zur Versprachlichung einer historisch verschobenen Erzählposition verwendet.
3.2. Vera Viehöver, Diskurse der Erneuerung nach dem Weltkrieg. Konstruktionen kultureller Identität in der Zeitschrift „Die neue Rundschau“ (2004) Der Text der Literaturwissenschaftlerin Vera Viehöver ist schon im Titel als ein typischer Vertreter der Gattung ‚historische Diskursanalyse‘ erkennbar. Im Folgenden sind vier kurze Passagen daraus abgedruckt: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25
[S. 121:] Von der ersten Minute an, dies wird in der historischen Forschung zu Recht immer wieder hervorgehoben, war der Erste Weltkrieg ein perfekt organisierter Propagandakrieg. Das zeigt sich nicht nur in den beeindruckenden öffentlichen Inszenierungen, […], sondern auch in einer gigantischen Produktion von Plakaten, Photographien, Karikaturen und Pamphleten, […]. Mit militärischen Mitteln allein, das war den Kriegsstrategen auf beiden Seiten der Grenze bewusst, war der Sieg nicht zu erringen, […]. […] [S. 122:] Robert Musil erinnert sich später an die Augusttage als einen Rauschzustand, in dem nationale Gemeinschaft geradezu physisch spürbar wurde: […] [...] [S. 128:] Den im Weltkriegsschrifttum omnipräsenten mythischen Bildern des Krieges setzt er [Walter Benjamin] die Vision einer durch den Krieg verwüsteten Geschichtslandschaft entgegen, in der der Mensch, auf seine physische Existenz zurückgeworfen, seiner Sterblichkeit inne wird: Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper. Die Erfahrung des Bruches, die Benjamin hier in ein apokalyptisches Bild faßt, findet nach dem Krieg nicht nur in den Schriften erklärter Kriegsgegner Ausdruck, sondern wird auch und gerade von denjenigen artikuliert, die den Krieg als einen um höherer kultureller Ziele willen notwendigen Reinigungsprozeß begrüßt hatten. […] [S. 178:] Die Untersuchung exemplarischer zeit- und kunstkritischer Rundschau-Beiträge aus den ersten Jahren der $achkriegszeit hat gezeigt, dass gemeinsame Grundtendenzen in der kritischen Bewertung der künstlerischen Produktion unübersehbar sind. […]
An der Passage von Z. 1–7 soll hier nur festgestellt werden, dass sie nach ganz ähnlichen Gestaltungsprinzipien funktioniert wie der oben besprochene Text von Klaus Schwabe. Insbesondere werden durch den Wechsel von evaluierenden Attributen aus dem Sehepunkt der Erzählzeit (perfekt organisiert (Z. 2) beeindruckend (Z. 3) und perspektivisch verschobenen Evaluationen in erlebter Rede (Z. 8 f. bzgl. Robert Musil) wieder
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die zeitlichen Perspektiven von Gegenstandssphäre und Untersuchungssphäre ineinander verwoben. Der im engeren Sinne diskursanalytische Hauptteil der Arbeit funktioniert wie die Passage in den Zeilen 10–21. Die Darstellung ist grob nach thematischen Diskursen und fein nach Diskurspositionen geordnet. Die einzelnen Positionen werden meist in dreiteiligen Textfiguren präsentiert, in deren Zentrum ein wörtliches Zitat steht. Das Zitat wird nicht sprachlich, rhetorisch oder inhaltsanalytisch diskutiert, sondern es führt komplementär zur metasprachlichen Erzählung die Themenentfaltung der Passage fort. Die Passagen davor und danach sind jeweils in einer Perspektive versprachlicht, die sich zunehmend zum im Zitat eingenommenen Sehepunkt hin verschiebt bzw. wieder davon wegführt. So ergibt sich für jede dieser Passagen gleichsam ein Perspektivierungstrichter, in dessen Zentrum die direkt wiedergegebene objektsprachliche Perspektive steht, im Beispiel also die Walter Benjamins. Es folgen an den Randpassagen synthetisierende Aussagen wie in den Zeilen 22–25. Den Schluss des Buchs bildet eine recht knapp gehaltene synthetische Zusammenschau von Diskurspositionen. Viehövers Buch ist schon dem Titel nach in den in der Diskursgeschichte kanonischen konstruktivistischen Rahmen gestellt, was der (überaus knapp gehaltene) Methodenteil der Arbeit bezeugt, in die entsprechende Identitätsdebatte mit Verweis auf die Foucault-Adaption durch Jürgen Link als „diskursive Formation“ ausgewiesen wird (Viehöver 2004, 24). Arbeiten dieser Art finden sich nicht nur in literatur- und kulturgeschichtlichen Diskursanalysen, sondern auch etwa in der Geschichte der Kunst, Musik, Politik und Gesellschaft. Linguistische Diskursanalysen legen erstens meist ein stärkeres Augenmerk auf die sprachlichen Gestaltungsmittel von Diskursen, zweitens ist der Zugriff eher ein schematisierend strukturierender, der von übernommenen oder induktiv gewonnenen Analysekategorien ausgeht, z. B. Wengeler 2003, Müller 2007, Spieß 2011.
3.3. Wilhelm Schmidt, Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium (82000) Als ein Beispiel aus der Sprachgeschichte will ich die sehr erfolgreiche Darstellung von Wilhelm Schmidt bemühen und daraus nur eine kurze Passage zitieren: 1 2 3 4 5 6 7
[S. 154:] Erst seit der 2. Hälfte des 19. Jh. nimmt der Einfluss des Englischen auf die politische Sprache zu. Die schon seit dem Ende des 19. Jh. kritisierte „Engländerei“ wurde mit Beginn des 20. Jh. kontinuierlich verstärkt. Für die politische Sprache wurde besonders Lexik aus dem Bereich der politischen Demokratie sowie des (parlamentarischen) Kampfes übernommen: „Parlament“, „Präsident“, „Opposition“, „Debatte“, „Adresse“, „Interview“, „lynchen“, „Boykott“, „Streik“.
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Das Buch ist zweiteilig aufgebaut. Im ersten Teil werden sprachstrukturelle Befunde mit sozial- und ereignisgeschichtlichen Mitteln präsentiert. Es ist gemacht, wie hier in dem Ausschnitt zu sehen. Der Text funktioniert wiederum wie derjenige von Schwabe, nur dass hier Individuen im Personal fehlen: Vorgangs- und Handlungsprädikate integrieren Totalitäts- und Sammelbegriffe wie das Englische (Z. 1), die politische Sprache (Z. 3), Lexik aus dem Bereich der politischen Demokratie (Z. 4 f.). Menschliche Handlungen werden in Passivkonstruktionen präsentiert, ohne dass eine Extension für die passivisch ausgesparte Gruppe an Handlungssubjekten angegeben werden kann (Z. 3, 4). Auch hier findet sich ein fließender Übergang zwischen Objekt- und Metasprache, nämlich in Zeile 2, wo der objektsprachliche Ausdruck „Engländerei“ in den beschreibenden Satz integriert ist und sich damit eine Perspektive der erzählten Zeit in den Erzählerstandpunkt mischt. Der zweite Teil des Buches besteht dann aus jeweils synchronischstrukturalistisch präsentierten grammatischen Phänomenen, gegliedert nach Sprachstufen.
3.4. Zwischenresümee Diese Beobachtungen möchte ich im Hinblick auf das Verhältnis der drei historischen Zugriffe folgendermaßen resümieren: Der narrativ organisierte Zugriff auf die Vergangenheit ist in allen drei Textpassagen tendenziell denselben Regeln unterworfen. Er ist ganz offensichtlich unabhängig von einer wie auch immer gearteten erkenntnistheoretischen Rahmung, sei sie nun realistisch oder konstruktivistisch. Mindestens wenn ein Überblick über eine historische Entwicklung gegeben werden soll, ist das Gestaltungsmittel immer dasselbe: Das prädikative Gerüst der Texte bilden Handlungen, Vorgänge, Empfindungen und mentale Zustände, die aus der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des menschlichen Nähebereichs gewonnen sind. Sie dienen zur textlichen Integration des historischen Personals, das sich aus Individuen, Kollektiven und Abstrakta zusammensetzt. Durch die sprachliche und damit auch perspektivische Integration von Erzählzeit und erzählter Zeit wird eine Kontinuität zwischen der Gegenstandssphäre und der Untersuchungssphäre hergestellt. Diese ereignisgeschichtliche Erzählung kann durch synthetisierende Zugriffe komplementär begleitet werden, wie es z. B. Haslinger (2009, 45) für die historische Diskursanalyse vorschlägt, der neben die „situativ-narrative Schicht“ der Untersuchung eine „generalisierend-projektive Schicht“ stellt. Die Sprachgeschichte allgemein, wie auch die deskriptive linguistische Diskursanalyse, tendieren dazu, diesen synthetisierenden Passagen zulasten der Geschichtlichkeit der Darstellung sehr viel Raum zu geben. Die Form der ahistorischen Synthese ist natürlich nicht auf die linguistische Perspektive beschränkt, sie lässt sich in der Linguistik – ausgehend von der Strukturidee der Sprache – nur besonders gut anwenden.
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4. Spuren im Geschichtstext Die Beobachtung eines gemeinsamen Funktionsprinzips der drei historischen Zugriffsweisen hat eine Pointe, welche auf die jeweils zugrunde liegende Erkenntnistheorie zielt. Es geht dabei um das Dreierverhältnis von Untersuchungssprache, untersuchter Sprache und den sprachlich repräsentierten Sachverhalten: Wenn in der Diskursgeschichte gesagt wird, Gegenstände seien grundsätzlich sprachlich vermittelt, dann schwingt oft ein doppelter erkenntnistheoretischer Boden mit. Die Objektsprache wird als sozial geregeltes Mittel der Konstruktion arbiträrer Gegenstände angesprochen, die Metasprache aber als unbestechliche Lupe auf den Diskurs. Es werden also auf der einen Seite für die eigene Sprache Faktizitätsansprüche geltend gemacht und für den Diskurs der Anderen sprachliche Relativität diagnostiziert. Darauf hat für die Diskursanalyse z. B. Gardt (2007, 33) hingewiesen. In Texten wie den vorgeführten von Klaus Schwabe und Wilhelm Schmidt dagegen wird ein gesicherter Zugang von der Sprache zu den historischen Sachverhalten präsupponiert. Der kann aber verunklart werden erstens durch die doppelte Historizität von Metasprache und Objektsprache und deren systematische Verschmelzung im Text und zweitens durch die rhetorischen Eigenheiten von Formulierungstraditionen innerhalb der jeweiligen historischen Disziplin. Will man diesen Problemen begegnen und gleichzeitig nicht jeglichen grundsätzlichen Geltungsanspruch aufgeben, müssen die Bedingungen beschrieben werden, unter denen sprachliche Ausdrücke entweder stabil auf Sachverhalte verweisen oder aber eben ihre referentiellen Eigenschaften verändern.
4.1. ‚Spur‘ als epistemologischer Terminus Ein methodischer Leitbegriff eines solchen Programms kann die alte Historikeridee der Spur sein, die Sybille Krämer (1998; 2005; 2007) mit Berufung auf u. a. Carlo Ginzburg für die Kulturwissenschaft wiederentdeckt und weiterentwickelt hat. Der Terminus ‚Spur‘ hat in der jüngeren Debatte besondere Aufmerksamkeit erfahren, da er drei viel diskutierte Dimensionen von Kommunikation miteinander verbindet: a) Materialität „Spuren“, schreibt Krämer (2007, 15), „treten gegenständlich vor Augen; ohne physische Signatur keine Spur.“ Spuren sind immer und notwendigerweise Konfigurationen des Materiellen in der Welt, sie verweisen erstens auf ein der Wahrnehmungsgegenwart vorgängiges physisch-körperliches Ereignis und zweitens auf den biophysischen Wahrnehmungsprozess selbst: Spuren müssen gesehen, ertastet, gehört, gerochen werden. Beschreibt man Medien in kommunikativen Prozessen als Spuren, so tritt diese unvor-
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greifliche Materialität der Kommunikation offen zutage. Diese aber ist ein zentraler Gegenstand der aktuellen Medialitätsdebatte. b) Semiotizität Spuren werden erst zu Spuren, wenn sie als solche gedeutet werden. Das erfordert eine Reihe von Bedingungen: Es muss ein als rekonstruierbar geltendes Ereignis als Ursache der Spur angenommen werden; es braucht eine Person, die willens und in der Lage ist, eine spezielle materielle Konfiguration als Spur zu deuten und es muss ein Deutungskontext existieren, in dessen Rahmen man die Beziehung zwischen dem der Spurhaftigkeit verdächtigen Konfigurat und einem für ihn ursächlichem Ereignis annehmen kann. c) Kontextualität Spuren verweisen mindestens in einem Sinne auf soziale Praktiken, nämlich auf diejenigen, derer es bedarf, um die Spur als Spur zu erkennen und zu deuten. Werden Medien in Gefügen kommunikativer Handlungen als Spuren gedeutet, wird außerdem das Verursacherereignis als soziale Praktik ausgewiesen. Daneben verweist der Ausdruck Spur darauf, dass die Deutung des materiellen Konfigurats als Spur vom Verursacher eben nicht intendiert wurde: „Spuren werden nicht gemacht, sondern unabsichtlich hinterlassen. […] Und umgekehrt: Wo etwas als Spur bewusst gelegt und inszeniert wird, da handelt es sich gerade nicht mehr um eine Spur“ (Krämer 2007, 16; so auch Kogge 2007, 118). Dass auch dort, wo Zeichen intentional produziert werden, immer auch nicht-intendierte Nebeneffekte ausgelöst werden, die ihrerseits eine wichtige Rolle in Deutungsverfahren spielen und in Gesprächen und Diskursen auch interaktiv bedeutsam werden, darauf hat die Kontextualisierungstheorie nachdrücklich aufmerksam gemacht (Gumperz 1983; Müller 2012). Auf der Basis dieser Allgemeinplätze haben sich in den letzten Jahren zwei Deutungslinien der Ausdrucks Spur entwickelt: Die eine betont im Besonderen den Semiotizitätsaspekt von Spuren. Die entsprechenden Positionen sind v. a. durch Derridas (1983, 107 f.) radikalhermeneutische Deutung des Spurbegriffs inspiriert. In den entsprechenden Darstellungen geht es darum, mittels des Spurbegriffs das Materielle der Kommunikation begrifflich dingfest zu machen, nur um es in einem pansemiotischen Weltbild dem Semiotischen gleichsam zu unterwerfen. Neben der in diesem Sinne programmatischen Derrida-Lektüre von Wetzel (2005) ist hier vor allem ein Aufsatz von Erika Linz und Gisela Fehrmann zu nennen (Linz/Fehrmann 2005), in dem dieser antiessentialistische Spurbegriff in Ludwig Jägers Transkriptionstheorie eingebettet wird: „Differenzgenerierend verfährt die Spurenlektüre somit nicht nur in Bezug auf die Deutung der Spur, sondern auch mit Blick auf die Spur als Deutungsmaß, deren originärer Zustand ebenso uneinholbar bleibt wie ihr vermeintlicher Ursprung. Insofern beide, Spurendeutung
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und Spur, gleichermaßen Effekte eines Transkriptionsprozesses sind, kann jede Spur nur wieder zu einer Spur der Spur führen.“ (Linz/Fehrmann 2005, 93 f.)
Der begriffliche Rahmen, in den der Terminus ‚Spur‘ hier eingebettet wird, ist Ludwigs Jägers (2002) Modell der Transkriptivität sprachlicher Zeichen. Jäger selbst (2001) verwendet den Spurbegriff in dieser Weise. Ich gebe hier die luzide Paraphrase Stetters (2005, 201) von Jägers Position in der Diktion der Peirce’schen Zeichentheorie: „Was uns als Erkenntnis von etwas erscheint, ist je schon durch Zeichen, nämlich Indizes, wenn man so will: durch Spuren von etwas vermittelt, ist insbesondere durch die Informationen verarbeitenden Prozesse unserer Sinne und neuronalen Organisation hindurchgegangen. Und Erkenntnis-für-uns kann dieses uns so oder so Gegebene nur dadurch werden, dass es in uns verständliche Zeichen gefasst wird, namentlich in Ausdrücke unserer Sprache, auf die wir uns dann, diese interpretierend, beziehen können. Schon der für uns ‚erste‘ Akt, etwas uns etwa sinnlich Gegebenes, ein plötzlich in uns entstehendes Gefühl etwa, sprachlich zu fassen, ihm einen Namen in unserer Sprache zu geben, wäre damit schon als eine Art von Transkription zu begreifen […].“
Eine andere Deutungslinie dagegen rückt den Materialitätsaspekt der Spur ins Zentrum. Sie orientiert sich an der Begrifflichkeit, die Emmanuel Lévinas eingebracht hat, in dem er den Terminus ‚Spur‘ ausdrücklich von demjenigen des ‚Zeichens‘ abhebt. Dessen Position wird von Ze’ev Levy folgendermaßen skizziert: „Die Aufgabe des Zeichens ist es, Vorhandenes in der Welt zu bezeichnen, das gegenwärtig abwesend ist. Es bezeichnet eben dessen Abwesenheit. Die Spur ist das genaue Gegenteil, nämlich sie bezeichnet etwas, das nicht mehr in der gegenwärtigen Welt vorhanden ist.“ (Levy 2007, 145.)
Krämer (2005, 163) kommentiert Lévinas Programm folgendermaßen: „In einer paradoxen Weise durchbricht die Spur, die als Spur nur da ist, weil das, wovon sie Spur ist, darin abwesend und unerreichbar ist, das Muster aller Semiosis. Mehr noch: Sie durchbricht auch das Schema von Vermittlung. Für Lévinas gehören Spuren nicht der Dimension von Mittelbarkeit, vielmehr einer Modalität von Unmittelbarkeit an. Das aber, was unmittelbar gegenwärtig wird in der Spur, Lévinas spricht hier sogar von einer ‚Epiphanie‘, ist die unauflösliche Andersartigkeit, auch Unverfügbarkeit des Anderen, kurzum: Es ist der Andere als Entzug.“
Während also das Zeichen konstruktiv ist, in dem Sinne, dass es das Abwesende, seine Bedeutung, im semiotischen Raum vergegenwärtigt, formiert sich in der Spur als konfiguriertem Material die unmittelbare Anwesenheit des unwiederbringlich Vergangenen. Durch ihre wahrnehmbare Präsenz bilden Spuren das materielle Substrat jeder Zeichenhandlung: „Gegenüber Ansätzen eines semiologischen Idealismus kann gezeigt werden, dass symbolische Ordnungen auf Texturenbildung durch Medien angewiesen sind. Keine Zeichen also ohne sinnlich sichtbare, materiale, äußerliche Spur.“ (Krämer 2005, 155.) Für Krämer (ebd., 156) ist dabei entscheidend, dass das kommunikativ konfigurierte Material im Gebrauch „einen Überschuss über das Schema“, also das verstehens-
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relevante semantische Regelwissen, birgt. Krämer nennt das die „Maxime der performativen Orientierung“: „Indem Medien aisthetisieren, wird das Semiotische nicht nur konstituiert und befördert, sondern zugleich auch überschritten und unterminiert. Die Materialität, Körperlichkeit und Ereignishaftigkeit des Medialen birgt einen Überschuß gegenüber jeder semiotischen Ordnung, die in ihr zur Geltung kommt. […] Es gibt also ein Außerhalb des Semiosis, und das sind unsere medial gebundenen Verkörperungspraktiken.“ (Krämer 2005, 157.)
Den phänomenalen Überschuss des Medialen exemplifiziert Krämer am Medium der Stimme und an den körperlichen performativen Praktiken im Gespräch. Aber auch das Medium der Schrift erzeugt einen sinnlichen Überschuss z. B. dadurch, dass Grapheme in der Performanz jeweils in individuellen „Inskriptionen“ (Stetter 2005, 199) artikuliert werden, die durch analoge, bildliche Differenzbildung zu anderen Inskriptionen als visuelle Gestalten wahrnehmbar sind, aber erst durch digitale Differenzbildung gegenüber anderen Graphemen zu symbolischen Zeichenkonstituenten werden. Das Erkennen eines Graphems und damit dessen Semiotisierung wäre also einem doppelten Reduktionsprozess unterworfen: Zum einen wird der sinnlich reiche Wahrnehmungseindruck zur Bildgestalt und zum anderen das Bild zum Allographen eines Graphems reduziert. Die Semiotisierung des Schriftzeichens als Symbol bedeutet in dieser Perspektive ein systematisches Absehen von der phänomenalen Fülle seiner Materialität. In diesem Sinne lassen sich etwa auch die Arbeiten Spitzmüllers (z. B. 2010) zum Kontextualisierungspotenzial der Typographie verstehen. Nun wird insbesondere diejenigen, deren Grundideen zur Semiotik sich an Charles Peirce orientieren, die Gegenüberstellung von ‚Spur‘ und ‚Zeichen‘ nicht überzeugen. Schließlich wurde oben auf die Deutungsbedürftigkeit als zentraler Aspekt des Spurbegriffs verwiesen. Mit Peirce selbst gesprochen kann die Zeichenqualität von Spuren zuvorderst als indexikalisch angegeben werden. Aber hier ist zu beachten, dass Peirce das Indexikalische – im Gegensatz zum Symbolischen und Ikonischen – sehr nah an der vorsemiotischen Materialität ansiedelt: „An Index is a sign which refers to the Object that it denotes by virtue of being really affected by that Object.“ (Peirce, CP 2.247.) Das programmatische „really“ in der Definition macht dies deutlich. Wirth (2007, 56) verweist darauf, dass für Peirce indexikalische Zeichenrelationen immer „einen Wirklichkeitsbezug“ eröffnen: „Die Motivierung des Indexzeichens beruht für Peirce in der Annahme einer ‚existential relation‘ (CP 2.283) zwischen Zeichen und Objekt. Existenzielle Relationen sind entweder Kausalitätsrelationen, die auf korrespondierende Fakten, (CP 1.1558) oder aber Kontiguitätsrelationen, die auf Assoziationen gründen. (CP 2.306) So wird das Symptom als Wirkung einer unsichtbaren Ursache interpretiert, die jedoch inferentiell, durch einen abduktiven Rückschluss, rekonstruiert werden kann.“ (Wirth 2007, 61.)
Das Indexzeichen, so zitiert er Peirce (CP 3.361), „marks the junction between two portions of experience“. Allerdings – auch darauf verweist Wirth (2007, 58 f.) – sind die drei Zeichenrelationen bei Peirce als Aspekte phänomenaler Zeichen zu verstehen:
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„Peirce zufolge wäre es schwierig, wenn nicht unmöglich, einen ‚absolutely pure index‘ zu finden, ebenso wie es unmöglich wäre, irgendein Zeichen zu finden ‚absolutely devoid of the indexical quality‘. […] Die Interferenz von Zeichenaspekten ist also ihrerseits Teil eines inferentiellen Prozesses, der das Wachstum unseres Wissens bewirkt: ein Wissen, das in symbolischen Formen gespeichert bzw. zwischengespeichert wird, etwa als Buch oder als digitale Datei, um bei Gelegenheit inferentiell mit neuen ‚portions of experience‘ verknüpft werden kann.“
Derjenige Zeichaspekt, der dabei das materielle Fundament der Semiosis bildet, wird von Peirce als „genuine Indexikalität“ (CP 2.283) ausgewiesen. Dazu Wirth (2007, 62): „Die epistemologische Pointe genuiner Indices besteht in der doppelten Unterstellung, dass sie Bestandteil einer sowohl kausal motivierten als auch nicht-intentionalen Relation sind. Diese existenzielle Relation zu einem Objekt ist die Voraussetzung dafür, dass man Symptome als ‚natürliche Anzeichen‘ deutet.“
Das Symbolische dagegen wäre die am weitesten in das Verweisungssystem der Zeichenrelationen eingesponnene, in ihr entwickeln sich in der Kommunikationsgeschichte auf der Basis der motivierten indexikalischen und assoziativen ikonischen Objektrelationen die konventionelle Zeichenbeziehung als Bedeutungsraum: „Symbols grow“ (CP 2.30.2, vgl. Wirth 2007, 57 f.).
4.2. Sprachliche Zeichen als Spuren sozialer Praktiken Sprachliche Zeichen als Spuren zu begreifen, bedeutet also, erstens ihren indexikalischen Verweischarakter gegenüber ihrem symbolischen Bedeutungspotenzial zu betonen und zweitens ihre Materialität und die Leiblichkeit ihrer kommunikativen Genese. Damit rückt die an Bourdieu (1987) orientierte Idee des Sprachgebrauchs als Habitus in den Blick: Als Habitus bezeichnet Bourdieu (1987, 105) einen generativen Mechanismus, der in sozialen Praxisgemeinschaften tradiert und im Individuum als prozessuales Wissen, als Körpergedächtnis, wirksam wird. Habitus ist „Spontaneität ohne Wissen und Bewusstsein“ (Bourdieu 1987, 105; vgl. Krais/Gebauer 2002, 5). Bourdieu betont mit dem Begriff also insbesondere die Unbewusstheit und Körperlichkeit sozialer Praxen. Sie seien nicht etwa im Sinne einer bewussten Aneignung und kognitiven Kontrollierbarkeit gelernt, sondern vielmehr durch die Akteure im Sozialisationsprozess einverleibt (vgl. Bourdieu 1987: 105; Krais/Gebauer 2002: 5). Für die Praktiken, die der Habitus hervorbringt, finden Krais/Gebauer (2002, 5 f.) den treffenden Ausdruck „regelhafte Improvisationen“. Mit ‚Habitus‘ werden also sprachliche, gestische, mimische, kinetische, proxemische, aber auch auf die Lebensform bezogene Ausdruckspräferenzen von Individuen (Kleidung, Musik, Kunst, Einrichtung, Wahl von Bildungseinrichtungen usw.) beschrieben. Sie erfahren ihre Genese in performativen Praxen sozialer Gruppen (vgl. dazu auch Konerding 2008, 83 ff.). Die Idee von Sprache als Spur führt damit weg vom strukturalistischen Arbitraritätsgedanken und damit auch vom sprachlichen Relativismus, denn sie eröffnet die Möglichkeit, sprachliche Zeichen als Indices für die sozialen Kontexte ihrer Produktion zu
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begreifen. Dabei kommt es im Kern nicht darauf an, was die Zeichen symbolisch bedeuten, sondern auf welche Gebrauchskontexte sie indexikalisch verweisen. Semiotische Kontinuitäten dieser Art bilden sich nicht nur in der Sprache, sondern genauso in architektonischen Konstellationen, Kunstwerken und Bekleidungstraditionen.
4.3. Spurenlesen als dritter Weg Die Verfahrensmetapher des Spurenlesens ist hier also deshalb von Interesse, weil sie eine Präzisierung in der festgefahrenen Debatte um Konstruktivismus und Realismus in den historischen Wissenschaften verspricht, und zwar indem sie dem erkenntnistheoretischen Dualismus, in denen sowohl Konstruktivismus als auch Realismus verfangen sind, mit einem Weg der kontrollierten und reflektierten Involviertheit und Verstrickung des Forschers mit seinem Gegenstand begegnen. Kogge (2007, 182 f.), der den Spurbegriff in diesem Sinne als epistemologischen Leitterminus vorschlägt, legt dar, wie sich der erkenntnistheoretische Dualismus von Erkennendem und Zu-Erkennendem auf die Hintergrundmetaphorik der visuellen Wahrnehmung zurückführen lässt, die auf einer systematischen Differenz zwischen visuellem Stimulus und wahrgenommenem Bild beruht. Kogge (2007, 190) führt an, „dass die visuelle Wahrnehmung eine Distanz zum Gegenstand impliziert, also einen Raum mit zwei Orten eröffnet, einem Hier und einem Dort. Das Gesehene steht gegenüber.“ Dieser – nach Kogge irreführenden – Hintergrundmetaphorik seien sowohl Realismus als auch Konstruktivismus verhaftet. Kogge schlägt nun eben den Terminus ‚Spur‘ als Leitbegriff eines epistemologisch ‚dritten Wegs‘ vor – einer Wissensgenerierung der Nähe, welche auf der Involvierung des Erkennenden in den zu erkennenden Sachverhalt beruht. Kogge (2007, 192) nennt vier Hauptmerkmale des wissensgenerierenden Spurenlesens: „1) Nicht-Definiertheit der wahrgenommenen Aspekte bei Nicht-Präsenz des intendierten Wissensobjektes, 2) Unübersichtlichkeit, 3) Inklusion des Wahrnehmenden ins Wahrnehmungsfeld und 4) der Spannung zwischen der Distanzlosigkeit von Praxis und Gespür und der Abwesenheit des intendierten Objekts, auf das das Wahrgenommene referiert.“
Das Moment der Involviertheit bedingt demnach also gleichzeitig die potenzielle Entgrenzung und die faktische Unordnung des Untersuchungsfeldes. Die symbolischen Praktiken, welche Kogge allgemein „Kulturtechniken“ nennt, begünstigten die Suggestion, die Abgeschlossenheit und Ordnung der wissenschaftlichen Darstellung in den Gegenstand hinein zu verlagern. Ebenso legten sie nahe, in ihrer fortschreitenden Beherrschung durch den Forscher eine wachsende Distanzierung vom Untersuchungsgegenstand zu sehen, gleichsam der Demiurgenperspektive entgegen. Dieser Annahme entgegengesetzt legt Kogge (2007, 193) dagegen gerade die zunehmende Expertise und Kennerschaft des Forschers als wachsende Involvierung in seinen Gegenstand aus:
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„Das forschende, spurenlesende Subjekt schält sich mit wachsender Beherrschung seiner Materie nicht etwa aus ihr heraus, bringt sich nicht in die Position des Gegenübers, des äußeren Beobachters, vielmehr verwebt es seine Virtuosität immer fester und effektiver mit ihr. Anders gesagt: Die Wissensgenerierung im Forschen entsteht nicht in einer Verringerung oder Überwindung von Involviertheit, sondern in deren Vertiefung und Verstärkung.“
Kogge versteht seinen Beitrag als allgemeine Abhandlung zur Theorie der Wissensgenerierung, er exemplifiziert seine Position anhand der Forschungspraxis im Bereich Molekularbiologie – das Moment der wachsenden Involvierung des Forschers in seinen Gegenstand wird wohl nirgends greifbarer als im Feld der Geschichtswissenschaft: Je souveräner der Historiker seinen Gegenstand beherrscht, je großflächiger der historische Zugriff erfolgt, umso stärker wird die gegenseitige Durchdringung und Verwicklung von historischer Sphäre und Historikersphäre bemerkbar, und zwar in der Aneignung und Integration des historischen Wortmaterials zur Sinnkonstitution; der oben gezeigte Umgang Klaus Schwabes mit dem Ausdruck Erfüllungspolitik mag hier als Beispiel dienen. Allgemeiner ausgedrückt: Im historischen Akt der Aneignung sprachlicher Zeugnisse der Vergangenheit sind Objektsprache und Metasprache immer ineinander verwoben. Mit der unvermeidlichen Verwicklung der Sprachen des Forschers und der von ihm erforschten Sphäre ist aber eine Grundbedingung der Rede von der „Geschichte als Konstruktion“ nicht erfüllt: Es gibt keine Trennung der Beobachtungsebene von der Beschreibungsebene – der Historiker ist immer schon in seinen Gegenstand verstrickt. Das heißt im Sinne unserer Fragestellung, dass erkenntnistheoretisch gesehen die Geschichte nur in dem Sinne konstruiert sein kann wie es der Historiker selbst ist. Insofern sich der Historiker eine leibhaftige Existenz zugesteht, welche die materielle Basis des sozialen Netzes an Selbst- und Fremdzuschreibungen bildet, kraft derer er sich z. B. als Historiker erfährt, kommt diese leibhaftige Existenz auch der Geschichte zu.
4.4. Geschichte als Spurenlesen Ich will nun im Folgenden die drei bereits analysierten Beispieltexte einer weiteren Analyse unterziehen, diesmal im Paradigma des Spurbegriffs. Im ersten Teil der Analyse habe ich versucht zu zeigen, dass die jeweils in den Texten konstituierte Sinnwelt sich aus semantischen Grundfiguren wie Handlungen, Empfindungen und Kausalrelationen zusammensetzt, die als Mitspielerrollen jeweils empirische Individuen, mit Totalitätsbegriffen implementierte Kollektive und Abstrakta vergeben. Diese waren jeweils im textsemiotischen Schema der Narration miteinander verknüpft. Ein textlinguistischer Kommentar zu den Geschichtswissenschaften könnte sich damit zufrieden geben. Fragt man aber nun – ausgehend von den derart analysierten Texten – nach deren Verhältnis zu ihrem Gegenstand, der Geschichte, dann ergäben sich aus einer symbolfixierten Perspektive eben die von Reichmann skizzierten Möglichkeiten: Wir können entweder postulieren, die Texte bildeten die Geschichte in ihrem Lauf eben so gut wie möglich
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ab, Gradmesser für deren Richtigkeit sei also die historische Realität. Ohne hier auf die vielfach gegen diese Position geäußerten Einwände eingehen zu wollen und zu können, sei schlicht jeweils eine Aussage aus den drei Passagen zitiert, welche eine solche Deutung ausschließen: a) Kein anderes Ereignis während der Amtszeit Wirths hat das deutsche Volk so aufgewühlt wie der Mord an Rathenau. (Schwabe 1987, 102.) b) Mit militärischen Mitteln allein, das war den Kriegsstrategen auf beiden Seiten der Grenze bewusst, war der Sieg nicht zu erringen. (Viehöver 2004, 121.) c) Die schon seit dem Ende des 19. Jh. kritisierte „Engländerei“ wurde mit Beginn des 20. Jh. kontinuierlich verstärkt. (Schmidt 82000, 154.)
Alle drei Sätze enthalten Zuschreibungen, die ganz offensichtlich nicht als Abbildung der historischen Realität gelten können: Wer gehörte aus welchem Grund zum „deutschen Volk“? Wurden tatsächlich alle damit angesprochen Personen „aufgewühlt“? Wie wäre das zu untersuchen? Auf welcher Datengrundlage wird die Aussage gemacht? Welches ist die Extension von ‚Kriegstrategen‘? War ihnen allen tatsächlich dasselbe bewusst? Wie erforscht man posthum die Bewusstheit einer historischen Gruppe über einen Sachverhalt? Wieviele Kritiker der „Engländerei“ muss es geben, damit „Engländerei“ als „kritisiert“ gelten darf? Welche Zuwachsrate ist „kontinuierlich“, welche diskontinuierlich? Es bleibt also die konstruktivistische Variante: Die Texte greifen Daten aus dem „ungeheuren, chaotischen Strom von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt“ (Weber 1968, 214), heraus und präsentieren sie durch die lexikalischen, satzsemantischen und textuellen Deutungsmuster als Geschichte. Dabei stellen sich allerdings folgende Fragen: Könnte man im entsprechenden diskursiven Kontext statt Mord an Rathenau auch Beförderung Schmidts sagen? Könnte man mit denselben historischen Ansprüchen statt der Aussage in Satz b) auch die Kriegsstrategen wollen eigentlich lieber Tulpen züchten schreiben? Oder, statt c), der englische Wortschatz verschwand zu Beginn des 20. Jahrhunderts völlig aus der deutschen Sprache? Der semiologische Konstruktivist könnte nun mit der Schulter zucken und auf die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens verweisen: Es reiche doch, einen Kontext zu denken, in denen die entsprechenden Gebrauchsregeln für sprachliche Ausdrücke gelten. Hier aber setzt der Gedanke von Geschichte als sozialer Praxis an: Die Traditionen des Mit- und Gegeneinanderhandelns in der Gesellschaft konstituieren nicht nur den Gegenstand der Geschichte, sondern auch das Zeicheninventar, in der sie darstellbar ist. Insofern sind Zeicheninventar und soziale Praxis nicht nur in einem symbolischen, sondern auch in einem indexikalischen Verhältnis aufeinander bezogen: Die Rekonstruktion sprachlicher Bedeutungen ist immer ein hermeneutischer Akt nach den Strukturregeln des Sprachsystems in dem fundamentalen Sinne, dass bereits jede historische paroleBedeutung ein Konstrukt aus wechselseitigen Zuschreibungen des Meinenden und Verstehenden ist, damit immer einen Hang zum Ambivalenten aufweist und sich dieser
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Hang zum Ambivalenten in der historischen Aneignung durch die Interferenz der verschiedenen Zeitdiskurse noch verstärkt. Die Produktion des materialen (parole-)Zeichens im historischen Handlungsvollzug dagegen ist ein eindeutiges Faktum in dem Sinne, dass sie hinsichtlich Zeit, Raum und Modus eindeutige Koordinaten hat. Diese Koordinaten der Produktion historischer Quellen sind zwar in allen Aspekten ihrer Lebensfülle des historischen Abstands wegen sowie aus allgemeinen geschichtslogischen Gründen, wie sie Arthur Danto dargelegt hat6, positiv weder rekonstruier- noch angebbar, das Wissen um ihre historische Eindeutigkeit garantiert aber den auf Rekonstruktion und Wahrheitsfindung bezogenen Gestus des historischen Schreibens (und Lesens). Untersucht man z. B. das Verhältnis des historischen Ereignisses, das ursächlich zum Tod Walther Rathenaus geführt hat, zu der Nominalphrase Mord an Rathenau, dann wird klar, dass der gewählte Ausdruck Mord eine – wenn auch zeitgenössisch (gerade noch) dominante – Bezeichnungsmöglichkeit unter mehreren darstellt. Der damalige Reichskanzler Joseph Wirth hat ihn in seiner berühmten Rede (1994, 330) gewählt, zitiert aber auch einen an ihn adressierten Brief, in dem von einer Hinrichtung die Rede ist (1994, 333). Dass sich die heutige Metasprache Wirths Sprachgebrauch anschließt, ergibt sich natürlich nicht aus dem Sachverhalt an sich, sondern vielmehr aus der geteilten demokratischen Gesinnung von Produzent der historischen Quelle und Historiker. Dass die Ausdrücke Mord und Hinrichtung in ihrer Bedeutung bzw. ihrer rechtslinguistischen Prägung seit 1922 stabil geblieben sind (oder besser gesagt: sich wieder bis zur Stabilitätsfiktion hin angenähert haben), ist dem sprachhistorischen Zufall und vor allem dem geringen historischen Abstand geschuldet. Als Spur aber führt der Ausdruck Mord (wie auch der konkurrierende Ausdruck Hinrichtung) zu einem historischen Ereignis (hier: der Parlamentsrede Wirths) und einem kausal damit in Verbindung stehenden Vorereignis, deren Faktizität im Sinne ihrer Singularität im historischen Koordinatensystem jenseits der Frage nach ihrer Benennbarkeit zu bestreiten im wissenschaftsideologischen Diskurs unserer Zeit nur dann ein sinnvoller Sprechakt wäre, wenn belastbare Indizien 6
Danto (1980, 214 f.) betont das Moment der Selektion als vordringlichste Aufgabe des Historikers: „Jede Darstellung [...] muß ihrem Wesen nach manches auslassen, und in der Historie wie überall sonst ist es ein Kennzeichen dafür, daß es jemand verstanden hat, einen Gegenstand zu organisieren, wenn er weiß, was er ausscheiden muß, und wenn er sich zutraut, zu behaupten, daß einige Dinge wichtiger sind als andere. Angenommen, ich wünschte zu wissen, was in einer Gerichtsverhandlung geschehen ist. Ich könnte meinen Informanten bitten, nichts auszulassen, mir alles zu erzählen. Doch sicherlich wäre ich bestürzt, würde er mir zusätzlich zu seiner Wiedergabe der Rede der Anwälte, zur Schilderung der emotionalen Haltung der Prozessführenden und des Verhaltens des Richters auch noch erzählen, wie viele Fliegen im Gerichtssaal waren, und mir anhand einer komplizierten Grafik zeigen, in welcher Flugbahn sie genau umherkreisten. [...] Was immer auch der Fall sein mag, ich begehre zu wissen: was hatte es mit dieser Fliege auf sich? Doch wenn es ‚nichts damit auf sich hat‘, wenn es lediglich ‚Teil dessen ist‘ was während der Gerichtsverhandlung geschah, dann gehört es ganz und gar nicht in einen Prozeßbericht. Wenn ich demnach sage: „Erzähl mir die ganze Geschichte und laß nichts weg“, dann muß man (und muß ich) das so verstehen: laß nichts Bedeutsames aus: was immer in die Geschichte gehört, ich möchte es erfahren.“ [Alle Hervorhebungen im zitierten Originaltext, M. M.].
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dafür angeführt werden könnten. Der Eigenname Rathenau zeigt seine Spurqualität noch wesentlich deutlicher: Es ist unsinnig, über die Angemessenheit des Ausdrucks Rathenau als Referenzträger der in Frage stehenden empirischen Person zu diskutieren, ohne gleichzeitig über biographische Aspekte der Person selbst zu verhandeln. Schwieriger wird es mit dem Ausdruck Volk: Auch hier findet sich eine historisch vorgängige Verwendung im demselben Kontext, nämlich der Parlamentsrede Wirths (1994, 330): Aber, meine Damen und Herren, ich bin der Rede des Herrn Abgeordneten Dr. Hergt mit steigender Enttäuschung gefolgt. Ich habe erwartet, daß heute nicht nur eine Verurteilung des Mordes an sich erfolgt, sondern daß diese Gelegenheit benützt wird, einen Schnitt zu machen gegenüber denen, gegen die sich die leidenschaftlichen Anlagen des Volkes durch ganz Deutschland erheben.
Auch wenn im strengen Sinne nicht angenommen werden kann, dass die Extensionen der parole-Bedeutungen des Ausdrucks Volk bei Wirth und Schwabe annähernd identisch seien (das wird man auch nie wissen können) und auch wenn weder die eine noch die andere Verwendung sich dazu eignet, als Argument einer Wahrheitsaussage zu fungieren, erweist sich auch Volk als eine Spur in die zeitgenössischen Ereigniszusammenhänge.
5. Schluss Die historische Quelle als sprachliche Grundlage der Geschichtsschreibung ist also beides: Symbol und Spur. Die Sprache als Zeichensystem ist immer in die Gegenwart dessen, der sie gerade wahrnimmt, verflochten. Selbst die Inschrift aus längst vergangenen Zeiten offenbart sich dem modernen Leser nur als Inschrift, indem sie das von ihr bezeichnete vergegenwärtigt – aber eben als semiotisches Sinnkonstrukt im Zeichenraum der aktuellen Kommunikation. Die Verzeichnung (Fehrmann 2004) des Sprachzeugnisses beinhaltet also in jedem Fall seine Kontextualisierung mit den semiotischen Verhältnissen des Wahrnehmungszeitpunktes. Auf der anderen Seite sind die Gegenstände historischer Forschung immer Spuren in dem Sinne, dass sie Hinterlassenschaften konkreter – leibhaftiger – gesellschaftlicher Praktiken bilden. Der Historiker verwendet die sprachlichen Zeugnisse in letzter Instanz nicht, um sie im Sinne des Kommunikationsmodells zu verstehen, sondern um sie zu erklären. Historische Forschung bedeutet in diesem Sinne die institutionalisierte Aufkündigung des kommunikativen Vertrags. Das Verstehen, das dazu erforderlich ist, ist ein anderes als das Sprachverstehen des primären Kommunikationspartners. Im forensischen Paradigma der Spurensuche verliert also der symbolische Aspekt des sprachlichen Zeichens gegenüber dem indexikalischen an Bedeutung. Jeder historische Zugriff wäre demnach ein Zwitterverfahren, das sowohl forensische als auch hermeneutische Anteile hat: Der forensische Teilzugriff fokussiert sich auf das verfügbare historische Material und versucht – immer selektiv und systematisch defizient –, über indexikalische Schlussverfahren die
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Rekonstruktion der historischen Ordnung. Der hermeneutische Teilzugriff dagegen nimmt dasselbe Material in seiner Zeichenqualität wahr und kontextualisiert es im latent ahistorischen Verstehensprozess. Wie ich versucht habe zu zeigen, bildet die Sprache in den Texten von Historikern selbst eine Spur, die in die Vergangenheit führt, da sie als eine geschichtliche Zeichenform die Kontinuität zwischen Gegenstandssphäre und Untersuchungssphäre konstituiert. Natürlich ist die Materialität des historischen Ausdrucks, der dem Historiker in den Quellen begegnet, im gedruckten Geschichtstext durch das Transkriptionsverfahren der Geschichtsnarration nur durch Verweisverfahren wie die Anführungszeichen im symbolischen Raum andeutbar, aber dennoch befindet sich genau in dieser Spurqualität des historischen Ausdruck, in der Präsenz des „Anderen als Entzugs“, für den Historiker der Verbindungspunkt zur historischen Wahrheit. Hier müssen Beurteilungskriterien für historische Texte ansetzen. Wohlgemerkt: Die Wahrheit im Sinne der historisch singulären Existenz sozialer Praktiken findet sich nicht in den symbolischen Bedeutungen der Zeichenräume, sie findet sich aber im Skelett der sie konstituierenden Leiblichkeit: Geschichte, auch Sprachgeschichte wie die Linguistik im Allgemeinen haben es immer zuvorderst mit vorgefundenem Material zu tun: Geschichte ist kein Geisterreich, in dem sprachliche Bedeutungen in kontingenter Weise fata-morgana-artige Welten erzeugen. Sinnkonstitution hat immer eine materielle Basis. Historischer Sinn konstituiert sich im Geschichtstext gerade durch die leibliche Anwesenheit seiner Quellen in der Produktionsgegenwart. Die historischen Quellen sprudeln nicht, sie bieten dem Historiker aber den materiellen Überschuss, an dem die narrative Konstruktion der Vergangenheit sich messen lassen muss. Geschichtsschreibung ist dann eben nicht einfach interessengeleitete Vergangenheitskonstruktion, sondern – mindestens, wenn sie nach der momentan geltenden Wissenschaftsideologie geschrieben wird – ein beständiges Ringen mit den Pertuberanzeffekten im Grenzbereich zwischen hermeneutischen Zeichenhandeln und forensischer Spurensuche. Oder, wie Pape (2007, 40) in einer Fußnote zum Spurbegriff resümiert: „Die besondere Leistung der Spur besteht eben darin, dass weder die Raum-Zeit, in der die Spur aufgewiesen wird, noch die Spur selbst durch ihr Lesen erzeugt werden. Die Tatsachen, die für uns zu Spuren werden, existieren unabhängig von unserer Deutung als Spuren. Die erkenntnistheoretische Bedeutung und die konkrete Ästhetik der Spuren werden durch diese Balance zwischen Unabhängigkeit und interpretativer Bestimmtheit erst möglich. Die harte Materialität der Diskurse von der Foucault spricht, wird durch den Begriff der Spur singulär, auf die individuelle Konkretheit der Welt ausgelesen: Anhand der Spuren erspüren wir die Wirkung der Welt auf unser Verstehen.“
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Junktionsprofile aus Nähe und Distanz Ein Beitrag zur Vertikalisierung der neuhochdeutschen Grammatik
1. Ziel 2. Junktion 3. Junktionsprofile 4. Fazit: Vertikalisierung 5. Zitierte Literatur
1. Ziel Grammatiktheorien befassen sich mit kategorialen und relationalen Systemen natürlicher Varietäten. Wenn sie sich mit Grammatikwandel auseinander setzen, sind sie traditionell eher semasiologisch ausgerichtet, d. h., sie fragen nach dem Wandel (Entstehung, Ausbau, Umbau und Abbau) von grammatischen Kategorien, Kategorisierungen und Relationen.1 Begriffe wie z. B. ‚Numerusprofilierung‘, ‚Abbau des Objektgenitivs‘ oder ‚Herausbildung von Stellungsfelderstrukturen‘ spiegeln diese semasiologische Herangehensweise wider. Wird die semasiologische Herangehensweise, wie in den Grammatikalisierungstheorien, typologisch motiviert und dominiert, können Vernetzungen im Wandel von grammatischen Kategorien, Kategorisierungen und Relationen herausgearbeitet werden (fürs Deutsche vgl. Nübling 2006). So entstehen Beschreibungs- oder Erklärungsformate wie z. B. ‚Tendenz zur Analytisierung‘, ‚Wandel von einer Silben- zu einer Wortsprache‘ oder generell der ‚Ausbau von Grenzmarkierungen‘ (ebd., 261 f.). Der Weg von semasiologisch induzierten Vernetzungen kann zu onomasiologischen Deduktionen führen, indem ausgehend von etablierten Beschreibungs- oder Erklärungsformaten Fragestellungen wie z. B. ‚Gibt es aktuelle Analytisierungs-, Wort- oder Grenzmarkierungstendenzen?‘ möglich werden. Neben onomasiologisch deduzierten Beschreibungen und Erklärungen sind auch onomasiologisch induzierte möglich und wünschenswert. Solange jedoch onomasiologische Untersuchungen von der Blickrichtung ‚Inhalt > Form‘ ausgehen und (durchaus wichti1
Nicht weniger interessant sind Fragen nach dem Nichtwandel, s. Ágel 2010a.
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ge) Fragestellungen wie z. B. ‚Wie wird Temporalität/Kausalität/Höflichkeit/Aufforderung in der Varietät X ausgedrückt‘ formulieren, bleiben sie methodisch anfechtbar. Der vorliegende Beitrag stellt einen Versuch dar, einer onomasiologisch induzierten Fragestellung nachzugehen, ohne die Blickrichtung ‚Form > Inhalt‘ methodisch umzukehren: Wie ist ein grammatisch relativ wohl definiertes ‚Feld‘ strukturiert und welche Inhalte werden durch dieses Feld realisierbar bzw. in Texten realisiert?2 Während die Fragen nach der Strukturiertheit und Realisierbarkeit die Beschreibung des grammatischen Feldes (und dessen Wandels) betreffen, betrifft die Frage nach der Realisierung in Texten die Möglichkeit, komplexe – sowohl formal-semantische als auch semantisch-formale – Textprofile bezüglich des grammatischen Feldes zu entwerfen. Während Ersteres in den Bereich einer onomasiologischen Theorie der Grammatik (und des Grammatikwandels) gehört, kann der Vergleich komplexer Textprofile diverser, darunter historischer, Varietäten als ein Beitrag zu einer diadimensionalen, darunter historischen, onomasiologischen Textgrammatik gewertet werden. Das grammatische Feld, dem der vorliegende Beitrag gewidmet ist, ist die Junktion (Kap. 2). Ziel des Beitrags ist es, die textgrammatischen Möglichkeiten des Junktionsfeldes am Beispiel von drei Texten auszuloten. Da es sich dabei um einen Nähe- und einen Distanztext aus dem 17. Jh. (Bauernleben I vs. Thomasius I) bzw. um einen Nähetext aus dem 19. Jh. (Zimmer V) handelt, wird es möglich sein, das Junktionsprofil eines Nähetextes mit dem eines Distanztextes zu vergleichen und diese Profile zu dem eines um 200 Jahre jüngeren Nähetextes in Beziehung zu setzen (Kap. 3).3 Das Ergebnis der Untersuchung stellt ein starkes empirisches Argument für die Vertikalisierungstheorie von Oskar Reichmann (1988, 1990 und 2003) dar, nach der im Zuge der zunehmenden Orientierung an der sich herausbildenden Leitvarietät eine mehrdimensionale Umschichtung eines bis zum beginnenden 16. Jh. horizontal gelagerten Varietätenspektrums erfolgt ist (Kap. 4).
2 3
Zu einer onomasiologischen Herangehensweise in der Grammatik s. Ágel 2010a. „Bauernleben I“ und „Zimmer V“ entstammen dem im Aufbau befindlichen Nähekorpus des Nhd. Ein Korpustext umfasst 12 000 Wortformen. Die Standardlänge eines Korpustextes wurde in Anlehnung an die Standardlänge der Texte des frnhd. Bonner Korpus bestimmt. Für die zeitliche Indizierung des Korpus wurde der Zeitraum 1650–2000 in sieben Abschnitte à 50 Jahre (I = 1650– 1700; II = 1700–1750 ... VII = 1950–2000) eingeteilt. Der jeweilige Entstehungsabschnitt ist den Zitierformen der Korpustexte zu entnehmen. „Bauerleben I“ ist demnach ein Nähetext aus der Zeit zwischen 1650 und 1700, „Zimmer V“ einer aus der Zeit zwischen 1850 und 1900. „Thomasius I“, der ebenfalls 12 000 Wortformen umfasst, ist ein sog. Distanzkontrolltext aus der Zeit von „Bauerleben I“ (mehr zum Korpus in Kap. 3.2). Vorliegende Überlegungen und Analysen sind im Rahmen des Projekts „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen. Pilotprojekt zu einer Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen“ (2007–09) entstanden. Geleitet wurde das Projekt von Mathilde Hennig und mir. Mitarbeiter waren Anja Voeste, Anna Volodina, Dániel Czicza und Isabel Buchwald-Wargenau. Zum Projekt s. Ágel/Hennig (2007). Zum KAJUK (= Kasseler Junktionskorpus) vgl. www.uni-giessen.de/kajuk (29. 4. 2011)
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
183
2. Junktion Unter ‚Junktion‘ wird in Anlehnung an Wolfgang Raible (1992) die universale Dimension der sprachlichen Darstellung von Inhaltsrelationen zwischen zwei Sachverhalten verstanden. Während Raibles Junktionstheorie auf diejenigen Verknüpfungen von Sachverhaltsdarstellungen fokussiert, die explizit sind, d. h. durch eine reguläre Realisierung von Sprachzeichen erfolgen, wurden im Rahmen des erwähnten Projekts (Anm. 3) auch diejenigen berücksichtigt, die elliptisch sind, d. h. durch eine reguläre Nichtrealisierung von Sprachzeichen erfolgen. Auf diese Weise wurde die im Projekt herausgearbeitete Junktionstheorie (und Operationalisierung) in zwei Teiltheorien (und zwei Operationalisierungsverfahren) unterteilt: Theorie (und Praxis) (a) der expliziten und (b) der elliptischen Junktion.4 Diese Teiltheorien und deren Operationalisierung wurden in jüngeren Publikationen vorgestellt.5 Im vorliegenden Beitrag geht es ausschließlich um die explizite Junktion. Da die Theorie der expliziten Junktion in den in Anm. 5 genannten Arbeiten ausführlich vorgestellt, begründet und operationalisiert wurde, sollen hier – ohne ausführliche Begründung – lediglich diejenigen Formrelationen der expliziten Junktion genannt werden, die bei der Untersuchung der Junktionsprofile relevant sind. Die Formrelationen der expliziten Junktion wurden (a) in Junktionsklassen, diese (b) in Junktionsgrundtechniken, diese wiederum (c) in Junktionstechniken unterteilt. Die einzelnen Formrelationen innerhalb von (a), (b) und (c) wurden – ähnlich der Junktionstheorie von Raible – zwischen maximaler Aggregation und maximaler Integration verortet.6 Relevant für die vorliegende Untersuchung sind (a) und (b). Zu unterscheiden sind vier Junktionsklassen: ‚Koordination‘, ‚Subordination‘, ‚Inkorporation‘, und ‚Unifikation‘. Folgende Beispiele sollen die einzelnen Klassen − nach zunehmender Integrativität (= nach abnehmender Aggregativität) − exemplifizieren: Koordination: (1) Peter geht nicht zur Schule. Er ist nämlich krank.
4
5
6
Die weder explizite noch elliptische Technik der Juxtaposition, die in Raibles Junktionstheorie berücksichtigt wird, spielt in unserer Theorie keine Rolle, wurde jedoch bei den praktischen Analysen mit erfasst. Bei der Juxtaposition (z. B. Peter geht nicht zur Schule. Er ist krank.) handelt es sich um Sachverhaltsdarstellungen, die formal nicht verknüpft sind. Ob zwischen ihnen eine inhaltliche Verknüpfung hergestellt wird, bleibt daher dem Rezipienten überlassen. Zur Theorie und Praxis der elliptischen Junktion s. Hennig 2009; 2010; 2010a; zur Theorie und Praxis der expliziten Junktion s. Ágel/Diegelmann 2010 und Ágel 2010b. Da es in der germanistisch motivierten Theorie der expliziten Junktion mehr und teils andere Formrelationen gibt als in Raibles Theorie, wird hier mit einer detaillierteren Aggregations-/IntegrationsSkala gearbeitet. Bezüglich der Beschreibung der Inhaltsseite der Junktoren haben sich die 15 Inhaltsrelationen der Satzsemantik von Peter von Polenz (1985) bewährt.
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Vilmos Ágel
Subordination: (2) Weil Peter krank ist, geht er nicht zur Schule. Inkorporation: (3) Wegen seiner Erkrankung kann Peter nicht zur Schule gehen. Unifikation: (4) Seine Erkrankung ist der Grund dafür, dass Peter nicht zur Schule gehen kann. Primäres Unterscheidungskriterium ist die Anzahl (0 bis 2) der vom Junktor (in den Beispielen kursiviert) regierten Konnekte.7 Je mehr Konnekte der Junktor regiert, desto stärker sind die Konnekte (über den Junktor) integriert. Während koordinierende Junktoren kein Konnekt regieren, regieren unifizierende Junktoren, die selber Prädikatsausdrücke sind (vgl. in (4) den Junktor ist der Grund dafür), beide Konnekte. Um die Klassen ‚Subordination‘ und ‚Inkorporation‘, deren Junktoren jeweils ein Konnekt regieren, unterscheiden zu können, wurde als sekundäres Kriterium die Art − verbal oder nominal (= nominalisiert) − des regierten Konnekts eingeführt. Der Unterschied zwischen ‚Subordination‘ und ‚Inkorporation‘ besteht darin, dass das regierte Konnekt der Subordination verbal und damit noch relativ selbstständig ist, während das regierte Konnekt der Inkorporation eine nominalisierte Sachverhaltsdarstellung repräsentiert und daher syntaktisch voll in das andere Konnekt eingegliedert ist. Inkorporierende Junktoren sind Adpositionen, die regierten Konnekte Nominalgruppen, die eine Sachverhaltsdarstellung komprimiert ausdrücken. Die Junktionsklassen ‚Koordination‘, und ‚Subordination‘ können in Junktionsgrundtechniken unterteilt werden.8 Auch diese sind innerhalb der jeweiligen Klasse nach zunehmender Integrativität angeordnet: Koordination: 1. Konjunktion: Koordination durch Konjunktoren; 2. AP-Junktion: Koordination durch AP-Junktoren. Subordination: 1. infinite Subordination ohne zu: Infinitivkonstruktion ohne zu; 2. infinite Subordination ohne zu: Partizipialkonstruktion; 3. Subordination durch V2-Einbetter (= Verbzweitsatzeinbetter); 4. Subordination durch Subjunktorersatz; 5. Subordination durch Subjunktor; 6. infinite Subordination mit zu. 7
8
In Anlehnung an das HdK spreche ich im technischen Sinne von Konnekten, d. h. von zu jungierenden oder jungierten syntaktischen Strukturen, die jeweils Sachverhaltsdarstellungen repräsentieren. ‚Inkorporation‘, und ‚Unifikation‘ repräsentieren jeweils eine Grundtechnik, weshalb sie an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden.
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
185
Viele dieser Techniken sind aus der Grammatiktradition bekannt, daher sollen im Folgenden nur die weniger bekannten bzw. terminologisierten Techniken exemplifiziert werden: Koordination: AP-Junktion: Koordination durch AP-Junktoren9: (1) Peter geht nicht zur Schule. Er ist nämlich krank. Subordination: Infinite Subordination ohne zu: Infinitivkonstruktion ohne zu: (5) Als ich nacher Ambsterdam kam, ließe ich eine Dockaten w=xlen, darmit die Statt besichtigen. (Güntzer I: 84r) Subordination durch V2-Einbetter: (6) Vorausgesetzt, er ist krank, geht er nicht zur Schule. Subordination durch Subjunktorersatz: (7) Mir kam es vor, als hätte ich ewig gewartet. (8) Ist es hier ungemütlich, können wir auch woanders hingehen. Beleg (5) zeigt, dass im Nhd. neben Infinitivkonstruktionen mit zu auch noch die infinite Grundtechnik ohne zu präsent ist. Hinsichtlich der Aggregations-/Integrations-Skala relevant sind auch die im HdK eingeführte Kategorie ‚V2-Einbetter‘ (vgl. (6)) und die unter ‚Subjunktorersatz‘ subsummierten Techniken der Subjunktor-Reduktion (mit Verb-Erst). Man vergleiche (7) und (8) mit den komplementären Subordinationen durch Subjunktoren: (7a) Mir kam es vor, als ob ich ewig gewartet hätte. (8a) Wenn es hier ungemütlich ist, können wir auch woanders hingehen.
3. Junktionsprofile 3.1. Gegenstand von Junktionsuntersuchungen Durch die Operationalisierung der Junktionstheorie lassen sich Texte entlang der Aggregations-/Integrations-Skala aus drei Perspektiven einordnen: 1. Junktionswert; 2. Junktionsintensität; 3. Junktionsprofil. 9
Das HdK spricht hier von Adverbkonnektoren. Im Rahmen des Projekts „Explizite und elliptische Junktion in der Syntax des Neuhochdeutschen“ wurde dafür der Terminus ‚AP-Junktor‘ (= Adverbund Partikeljunktor) eingeführt, da nicht alle Adverbkonnektoren Adverbien sind.
186
Vilmos Ágel
Der Junktionswert orientiert grob über die syntaktische Kohäsion der Texte. Seine Berechnung beinhaltet drei Schritte: 1. Analyse des einzuordnenden Textes: Identifizierung der Form- und Inhaltsrelationen. Dies setzt auch die Identifizierung der Konnekte (Sachverhaltsdarstellungen) voraus. 2. Punktgebung; 3. Berechnung des Junktionswertes: Inbeziehungsetzen der Punktzahl des einzuordnenden Textes zu den Punktzahlen der als Tertia Comparationis definierten protoaggregativen und proto-integrativen Texte. Misst man in einem Text den Anteil der jungierten Konnekte an der Gesamtzahl der Konnekte, bekommt man ein Bild darüber, wie ‚intensiv‘ in einem Text jungiert wird. Die entsprechenden Prozentwerte beziffern also die Junktionsintensität eines Textes.10 Die Erstellung von Junktionsprofilen basiert auf Schritt 1 der Berechnung des Junktionswertes. Nach der Identifizierung aller Junktoren und der Beschreibung von deren Form- und Inhaltsmerkmalen (Form- und Inhaltsrelationen) werden sowohl die FormInhalts- als auch die Inhalt-Form-Junktionsprofile der Texte erstellt (vgl. Kap. 3.3).
3.2. Korpus Das Korpus des erwähnten Junktionsprojekts umfasst acht Texte: jeweils vier Texte aus dem 17. und 19. Jh., von denen jeweils drei Texte nähesprachlich sind. Der vierte Text ist ein Distanzkontrolltext.11 Text
Nähetexte
Distanztext Nähetexte
Distanztext
Güntzer I Bauernleben I Söldnerleben I Thomasius I Zimmer V Koralek V Briefwechsel V Nietzsche V
Textsorte
Lebensbericht Chronik Lebensbericht Abhandlung Tagebuch Tagebuch Privatbriefe Abhandlung
Dialektraum
Nähewerte Mikro
Makro
Gesamt
obd. md. nd. – obd. md. nd. –
28,8 26,2 24,2 3,3 14,7 14,7 41,8 4,9
48,3 44,4 62,7 2,0 43,2 63,2 36,7 3,4
38,6 35,3 43,4 2,6 29 39 39,3 4,1
Tabelle 1: Korpus Junktionsprojekt 10
11
Wie Junktionswerte und -intensitäten zu berechnen sind, wurde in Ágel/Diegelmann 2010 und Ágel 2010b an verschiedenen Nähe- und Distanztexten gezeigt. Zur Berechnung der Nähewerte s. Ágel/Hennig 2006a und 2006b. Die Redeweise von Nähewerten (statt von Distanzwerten) ist reine Konvention. Distanzwerte stellen den ‚Negativabdruck‘ der Nähewerte dar. Beispielsweise ist ein zu 30 % nähesprachlicher Text zu 70 % distanzsprachlich (und umgekehrt). Wie man den obigen Werten entnehmen kann, ist ein historischer Nähetext nur verglichen mit einem historischen Distanztext ‚nähesprachlich‘.
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
187
Die Textbasis der aktuellen Untersuchung bilden die in der Tabelle kursivierten Texte. Kostproben: Bauernleben I: Marpurg die Stadt ward mit Sturm ingenomen und auch geplündert, aber das Schloß konten sie nicht erobern, dan es lagen im Schlos und in der Schantzen wie auch in der Cantzeley und im Renthoff sieben Compageny zu Fuß gutt Volk von Unterhessische[n]. Thäten großen Schaden an den Kayserischen, dan sie hatten allen Vorteill inen und hatten auch uff die 2 Jahr darin gelegen, also musten die Kayserischen weichen und musten inen das Schloß lassen, dann es war im Winter. Es ward der Jenneralquartirmeister da todt geschossen, wie auch der Jenneralfeltmarschalk gar hart verwund. Vielle Offezirer und Soldaten musten da ihr Leben lasen. (S. 68 f.) Thomasius I: Weil dannenhero so wenig allgemeine Liebe gefunden wird / diese aber die Thüre zu der absonderlichen Liebe und Freundschafft ist; so ist leichte zu erachten / daß auch wenig wahre Freundschafft unter denen Menschen in Schwange gehe. Der Grund vernünfftiger Liebe und Freundschafft / die Hochachtung tugendhaffter Leute ist ein fast unbekantes Wesen/ indem die Tugend verachtet und ausgelachet / und im Gegentheil die offenbaresten Laster / oder zum wenigsten die Schein-Tugenden æstimiret und vorgezogen werden; (Erstes Hauptstück, Abschn. 11) Zimmer V es waren mehrere Gräber da, diese Intianer begraben ihre Thoden auf die Ebene Ehrte legen sein ganzes hab und gut auf und über Ihn, dann legen sie ringsherum Steine und bilden ein förmliches gewölb über dem Thoden lassen aber an beithen seyten eine kleine Öfnung warscheinlich als zuglöcher, ich fant dort einen zimlich gepleichten Schädel, ohnweit von diesem Platz machten wier halt und schlugen unser Lager auf nahe an dem Neoscha Räwer indem wier uns an diesem Räwer immer hinmaschirthen wier hatten diesen Tag 17 Meilen gemacht am Abent kahmen sehr fühle Intianer inn unser Lager welche sehr freindlich wahren, auch zwey Heuplinge waren dabey welche sich sehr aus zeignethen durch ihre Bunthe tracht die sie an hatten und hoch zu Pferthe sasen mit rothe hosenbeine und eine mänge Rünge in den Oren auch das Tamahack fehlte nicht, währent die übrügen zu Fus wahren die gegent war schön das Wetter regnerisch auch wahren unsre Lebensmüttel knap. (S. 19)
188
Vilmos Ágel
3.3. Nähe im 17. Jh. vs. Distanz im 17. Jh. vs. Nähe im 19. Jh. Der Vergleich der Junktionsprofile soll in vier Schritten erfolgen: Vergleichende Beschreibung I. II. III. IV.
der Formrelationen, der Inhaltsrelationen, der Form-Inhalt-Relationen und der Inhalt-Form-Relationen.
I. Formrelationen im Vergleich12: Formrelationen (%) JUNK/JUXTAPOS13 KOORD/SUBORD/INKORP14 Konjunktor/AP-Junktor Inf–zu/Subjunktor/Inf+zu
Bauernleben I 98/2 77/22/1 69/31 20/76/4
Thomasius I 99/1 65/29/6 55/45 19/77/3
Zimmer V 98/2 73/26/1 59/41 10/62/2715
Tabelle 2: Formrelationen im Allgemeinen im Vergleich (%) Grundtechniken Konjunktor AP-Junktor Partizipialkonstr. Infinitiv ohne zu V2-Einbetter Subjunktorersatz Subjunktor Infinitiv mit zu Inkorporation Summe
Bauernleben I 53 % (421) 23 % (185) 0 % (0) 5 % (35) 0 % (0) 0 % (0) 17 % (135) 1 % (7) 1 % (11) 100 % (794)
Thomasius I 36 % (486) 29 % (392) 0 % (0) 6 % (76) 0 % (1) 0 % (2) 22 % (301) 1 % (11) 6 % (74) 100 % (1343)
Zimmer V 43 % (330) 30 % (225) 0 % (3) 3 % (20) 0 % (0) 0 % (0) 16 % (123) 7 % (53) 1 % (7) 100 % (761)
Tabelle 3: Grundtechniken im Vergleich (in Klammern die absoluten Zahlen) 12
13
14 15
Um den Vergleich optisch zu erleichtern, werden statistisch relevante Datengruppen, soweit sie bei zwei Texten ähnliche Werte zeigen, hervorgehoben. Auf diese Weise kann man Tabelle 2 u. a. entnehmen, dass sich hinsichtlich der Relation ‚Konjunktor/AP-Junktor‘ der Distanztext des 17. Jhs. und der Nähetext des 19. Jhs. ähneln. Wenn in einer Zeile keine paarweise Hervorhebung erfolgt ist, sind die Werte disparat oder in allen drei Texten ähnlich oder statistisch irrelevant. Relation von expliziter Junktion und Juxtaposition. Wie in Anm. 4 angedeutet, ist die Interpretation von Juxtapositionen rezipientenabhängig und kann nicht operationalisiert werden. Bei den nachfolgenden Daten spielt die Juxtaposition keine Rolle mehr, alle statistischen Angaben beziehen sich auf die explizite Junktion. Relation der Junktionsklassen (ohne Unifikation, die in den Texten nicht belegt ist). 1 % Partizipialkonstruktion.
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
189
Hinsichtlich der absoluten Werte ist auffallend, dass der Distanztext wesentlich intensiver jungiert als die Nähetexte: In den Nähetexten kommen um 40–43 % weniger Junktionen vor als im Distanztext (794 vs. 1343 vs. 761). Hinsichtlich der relativen Werte können auf Grund von Tabelle 2 folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt werden: 1. Die Nähetexte nutzen etwas mehr die Junktionstechnik der bloßen Juxtaposition (2 % vs. 1 % vs. 2 %). 2. Hinsichtlich der Relation der Junktionsklassen stehen sich die Nähetexte näher als dem Distanztext. Sie koordinieren mehr und inkorporieren weniger als der Distanztext. Die Subordination im Nähetext des 19. Jhs. erhöht sich allerdings auf Kosten der Koordination. 3. Die Inkorporation ist in den Nähetexten generell irrelevant (1 % vs. 6 % vs. 1 %); 4. Hinsichtlich der Relation Konjunktor/AP-Junktor nähert sich der Nähetext des 19. Jhs. dem Distanztext des 17. Jhs. Er nutzt die integrativere Koordinationstechnik der APJunktion viel stärker als der Nähetext des 17. Jhs. (31 % vs. 45 % vs. 41 %). 5. Innerhalb der Subordination hebt sich der Nähetext des 19. Jhs. von beiden anderen Texten ab, was vor allem dem hohen Wert der Infinitivkonstruktionen mit zu zu verdanken ist (4 % vs. 3 % vs. 27 %). Der enorme Unterschied zwischen den Texten des 17. Jhs. und dem Text des 19. Jhs. legt den Verdacht nahe, dass die Grammatikalisierung der Infinitivkonstruktionen mit zu zulasten der Infinitivkonstruktionen ohne zu im 18./19. Jh. und unabhängig von Nähe/Distanz erfolgt ist. Tabelle 3 ist nicht weniger aufschlussreich: 1. Bei Konjunktoren steht der Nähetext des 19. Jhs. ziemlich genau zwischen dem Nähetext des 17. Jhs. und dem Distanztext (53 % vs. 36 % vs. 43 %); 2. Hinsichtlich der AP-Junktoren erreicht der Nähetext des 19. Jhs. den Wert des Distanztextes und unterscheidet sich somit deutlich vom Nähetext des 17. Jhs. (23 % vs. 29 % vs. 30 %); 3. Hinsichtlich der Subjunktoren – so wie hinsichtlich der Inkorporation – steht Nähe gegen Distanz (17 % vs. 22 % vs. 16 %). 4. V2-Einbetter und Subjunktorersatz kommen in den Nähetexten nicht vor, sind allerdings im Distanztext auch marginal. Immerhin könnte die Hypothese riskiert werden, dass Subordinationen durch V2-Einbetter und Subjunktorersatz distanzsprachliche Grundtechniken sind. 5. Partizipialkonstruktionen kommen nur im Nähetext des 19. Jhs. vor, sind aber auch da statistisch irrelevant (drei Belege). 6. Bezüglich der Infinitivkonstruktionen legt auch Tabelle 3 nahe, dass die Grammatikalisierung unabhängig von Nähe/Distanz erfolgt ist.
190
Vilmos Ágel
konzessiv
final
komparativ
explikativ
instrumental
komitativ
metakommunikativ
restriktiv
Kombinationen
75 106
9
78
14
16
20
0
2
0
0
2
0
24
794
51
73
47
85
59
5
88
20
30
16
17
14
74
1343
144 134
0
24
0
4
51
6
11
5
4
2
14
21
761
Kombinationen
Summe
229
Summe
konditional
75
konsekutiv
266
disjunktiv
Zimmer
temporal
Bauern349 99 leben Thoma370 165 sius
adversativ
kausal
kopulativ
II. Inhaltsrelationen im Vergleich:
16
konditional
konzessiv
final
komparativ
explikativ
instrumental
komitativ
metakommunikativ
restriktiv
0
0
0
0
0
0
3 100
4
5
4
6
4
0
7
2
2
1
1
1
6 100
35 10 19 18
0
3
0
0
7
1
1
1
0
0
2
3 100
44 13
9 13
Thomasius
28 12 17
Zimmer
disjunktiv
3
Bauernleben
temporal
2
adversativ
2
kausal
1 10
kopulativ
konsekutiv
Tabelle 4: Inhaltsrelationen im Vergleich (absolute Zahlen)
Tabelle 5: Inhaltsrelationen im Vergleich (%)
Dass, wie erwähnt, der Distanztext wesentlich intensiver jungiert als die Nähetexte (794 vs. 1343 vs. 761), hat zur logischen Konsequenz, dass in den Nähetexten auch um 40– 43 % weniger Inhaltsrelationen vorkommen als im Distanztext. Dies wiederum bedeutet, dass die Sachverhaltsdarstellungen in den Nähetexten eher einen Aggregatraum darstellen, da sie oft „gleichsam als eigenständige Monaden“ (Köller 1993, 21) in Erscheinung treten. 16
Unter ‚Kombinationen‘ sind nicht eindeutige Inhaltsrelationen (wie z. B. ‚temporal-konditional‘) zu verstehen.
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
191
Auf Grund der Tabellen 4 und 5 können folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede festgestellt werden: 1. Im Distanztext sind alle Inhaltsrelationen präsent, sechs davon (‚final‘, ‚explikativ‘, ‚instrumental‘, ‚komitativ‘, ‚metakommunikativ‘ und ‚restriktiv‘) sind allerdings statistisch irrelevant. Im Nähetext des 17. Jhs. sind 11 von 15 Inhaltsrelationen vorhanden (es fehlen: ‚komparativ‘, ‚instrumental‘, ‚komitativ‘, und ‚restriktiv‘), fünf weitere (‚konditional‘, ‚konzessiv‘, ‚disjunktiv‘, ‚explikativ‘ und ‚metakommunikativ‘) sind statistisch irrelevant. Im Nähetext des 19. Jhs. sind 13 von 15 Inhaltsrelationen vorhanden (es fehlen: ‚disjunktiv‘, und ‚konditional‘), sieben weitere (‚konzessiv‘, ‚komparativ‘, ‚explikativ‘, ‚instrumental‘, ‚komitativ‘, ‚metakommunikativ‘ und ‚restriktiv‘) sind statistisch irrelevant. 2. Insgesamt typisch ist ein zeitübergreifender Nähe-Distanz-Kontrast: Planungsintensivere Relationen wie ‚disjunktiv‘, ‚konditional‘, ‚konzessiv‘ und ‚komparativ‘ spielen in den Nähetexten keine Rolle, kopulative und temporale Relationen überwiegen. 3. Hinsichtlich der adversativen und konsekutiven Relationen stehen sich der Distanztext und der Nähetext des 19. Jhs. nahe (9 % vs. 17 % vs. 19 % bzw. 10 % vs. 4 % vs. 3 %). 4. Bei ‚kopulativ‘ steht der Nähetext des 19. Jhs. zwischen dem Distanztext und dem Nähetext des 17. Jhs. (44 % vs. 28 % vs. 35 %). 5. Bei ‚kausal‘ gibt es zwar keine relevanten Unterschiede (13 % vs. 12 % vs. 10 %), doch hinter den inhaltlichen Gemeinsamkeiten verbergen sich große Formunterschiede. Wie auch der Kostprobe in 3.2 zu entnehmen ist, wird im Nähetext des 17. Jhs. Kausalität vorzugsweise durch den weniger planungsaufwendigen Konjunktor dan(n) ausgedrückt (vgl. hierzu die Beschreibung der Inhalt-Form-Relationen unten). 6. Prozentual gesehen gibt es doppelt so viele Kombinationen (= nicht eindeutige Inhaltsrelationen) im Distanztext als in den Nähetexten (3 % vs. 6 % vs. 3 %). Da die Mehrheit der Kombinationen temporal-konditionale Relationen sind, verstärken sie im Bereich der Konditionalität den eh vorhandenen Nähe-Distanz-Kontrast.
192
Vilmos Ágel
III. Form-Inhalt-Relationen im Vergleich17:
konditional
konzessiv
final
Anzahl Belege
konsekutiv
0,5
2,2
1,4
0,5
0,2
0,5
0
0
0
0
0
0 418
39
4,5
21
28
0
2,2
1,7
1,1
0
0
1,1
0
0
0,5
0 179
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
8,6
0
71
0
2,9
17
0
0
0
0
0
0
35
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0,8
2,4
0
41
0
29
7,3
9,8
9,8
0
0
0
0
0
0 123
0
0
0
0
0 100
0
0
0
0
0
0
0
0
0
7
0 100
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
8
0
Summe
restriktiv
disjunktiv
metakommunikativ
temporal
8,9
komitativ
adversativ
19
explikativ
kausal
67
komparativ
kopulativ Konjunktor APJunktor Partizipialkonstr. Infinitiv ohne zu V2Einbetter Subjunktorersatz Subjunktor Infinitiv mit zu Inkorporation
instrumental
Bauernleben I
770
Tabelle 6: Form-Inhalt-Relationen Bauernleben I (%)
17
Bei der Darstellung der Form-Inhalt- und Inhalt-Form-Relationen werden die Kombinationen nicht mehr berücksichtigt.
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
193
100%
restriktiv metakommunikativ komitativ instrumental explikativ komparativ final konzessiv konditional konsekutiv disjunktiv temporal adversativ kausal kopulativ
90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%
Ko nj un kt or AP -J un Pa kt rti or zip ia lk o ns In fin tr. itiv oh ne zu V2 -E in Su be bj tte un r kt or er sa tz Su bj un kt In or fin itiv m it zu In ko rp or at io n
0%
Kon0 13,6 0 0 1,86 0 59 6,19 15,9 junktor AP0 21,9 6,27 36,8 7,31 1,83 6,27 1,31 6,27 Junktor Partizi0 0 0 0 0 0 0 0 pialkon0 str. Infinitiv 0 13,2 1,47 5,88 0 17,6 27,9 4,41 5,88 ohne zu V2-Ein0 0 0 0 0 0 100 0 0 better Sub0 0 0 0 0 0 0 0 junktor0 ersatz Sub0 28,3 2,39 5,98 0 4,38 21,5 8,76 0 junktor Infinitiv 0 45,5 0 9,09 0 0 9,09 9,09 9,09 mit zu Inkor0 38,2 5,88 4,41 0 0 7,35 0 0 poration Summe
Tabelle 7: Form-Inhalt-Relationen Thomasius I (%)
0 0,62
Anzahl Belege
restriktiv
metakommunikativ
komitativ
instrumental
explikativ
komparativ
final
konzessiv
konditional
konsekutiv
disjunktiv
temporal
adversativ
kausal
Thomasius I
kopulativ
Diagramm 1: Form-Inhalt-Relationen Bauernleben I (%)
0
0 2,68 0,21 485
4,96 2,09 2,35
0 1,04 1,57 383
0
0
16,2 4,41
0
0
0
0
0
0 1,47
0 1,47
68
0
0
0
0
0
0
1
100
0
0
0
0
0
2
21,9 2,39 1,99
0
0 2,39 251
9,09
0
0
0
11
0 22,1 22,1
0
0
68
0
0 9,09
1269
194
Vilmos Ágel 100%
restriktiv metakommunikativ komitativ instrumental explikativ komparativ final konzessiv konditional konsekutiv disjunktiv temporal adversativ kausal kopulativ
80%
60%
40%
20%
K
on ju nk to r AP -J un Pa kt rti or zip ia lko ns In fin tr. itiv oh ne zu V 2E i n S be ub tte ju r nk to re rs at z Su bj un kt In or fin itiv m it zu In ko rp or at io n
0%
konditional
konzessiv
final
explikativ
instrumental
0
0 0,3
0
0
0
0 0,6
0
AP-Junktor Partizipialkonstr. Infinitiv ohne zu V2-Einbetter Subjunktorersatz Subjunktor
25 4,5
36
25
0 1,4
0
0
0
0 4,1 0,9 0,9
0 1,8
0 0,6 0,3
Anzahl Belege
konsekutiv
19
restriktiv
temporal
14
komitativ
adversativ
65
komparativ
kausal
Konjunktor
Zimmer V
disjunktiv
kopulativ
metakommunikativ
Diagramm 2: Form-Inhalt-Relationen Thomasius I (%)
328 220
0
67
0
0
0
0
0
0
0
0
0
33
0
0
0
3
0
5
0
20
0
40
0
10
10
5
0
0
0
0
10
20
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
10 0,9
0
Infinitiv mit zu
0
0
Inkorporation
0
57
64
0 9,2
0 1,8 3,7 4,6
0 1,8 1,8
0 1,8
109
0 3,8
0 3,8
0
0
85
0
0
0
0
0 7,5
53
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
29
0
Summe
Tabelle 8: Form-Inhalt-Relationen Zimmer V (%)
14
7 740
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz 100%
195 restriktiv metakommunikativ komitativ instrumental explikativ komparativ final konzessiv konditional konsekutiv disjunktiv temporal adversativ kausal kopulativ
90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%
Ko nj un
kt or AP -J u Pa nk rti to zip r ia lk o ns In fin t r. itiv oh ne zu V2 -E i nb Su et bj te un r kt or er sa tz Su bj un kt In or fin itiv m it zu In ko rp or at io n
0%
Diagramm 3: Form-Inhalt-Relationen Zimmer V (%)
Bei den Form-Inhalt-Relationen geht es nicht mehr um Belegung und Häufigkeit der einzelnen Formen, sondern um die Frage, wie viele und welche Inhaltsrelationen die einzelnen Techniken ausdrücken. Die Visualisierungen (Diagramme 1 bis 3) der Tabellen 6 bis 8 machen sowohl die quantitative und qualitative semantische (Nicht-)Variabilität der einzelnen Junktionsgrundtechniken als auch das Fehlen von Formen besonders deutlich. 1. Was die Junktionsklassen anbelangt, gibt es bei Koordination und Inkorporation mehr Inhaltsrelationen im Distanz- als im Nähebereich (11 vs. 13 vs. 10 bzw. 1 vs. 6 vs. 3), wobei die Inkorporation im Nähebereich generell irrelevant ist. Bei der Subordination steht der Nähetext des 19. Jhs. dem Distanztext etwas näher als dem Nähetext des 17. Jhs. (7 vs. 12 vs. 10). 2. Bezüglich der Junktionsklassen fällt generell auf, dass der Distanztext inhaltlich variabler ist als die Nähetexte. 3. Bei den Grundtechniken der Koordination gibt es bei der Konjunktion keinen relevanten Unterschied im Nähe- und Distanzbereich (9 vs. 8 vs. 7). Dagegen zeigt bei der AP-Junktion der Distanztext eine deutlich stärkere inhaltliche Variation als die Nähetexte (9 vs. 13 vs. 9). 4. Bei den integrativeren Techniken nimmt die Variablität sowohl im Nähe-DistanzKontrast als auch zeitlich zu (Infinitiv ohne zu: 4 vs. 11 vs. 7; Subjunktion: 7 vs. 10 vs. 10; Infinitiv mit zu: 1 vs. 7 vs. 4). Der Nähetext des 19. Jhs. steht hier zwischen
196
5.
6.
7.
8.
9. 10.
Vilmos Ágel
Distanz und Nähe des 17. Jhs. oder erreicht gar – bei der Subjunktion – die DistanzVariabilität. Konjunktion: Relevant in den Nähetexten sind kopulative, kausale und adversative, im Distanztext kopulative, kausale, adversative und disjunktive Relationen. Der Ausdruck der Disjunktivität durch Konjunktion scheint also ein distanzsprachliches Merkmal zu sein. AP-Junktion: Relevant in den Nähetexten sind kopulative, adversative und temporale, im Distanztext kopulative, kausale, adversative, temporale, konsekutive, konzessive und komparative Relationen. Der Ausdruck von Kausalität, Konsekutivität, Konzessivität und Komparation durch AP-Junktion scheint also ein distanzsprachliches Merkmal zu sein. Infinitivkonstruktion ohne zu: Relevant in allen drei Texten ist der Ausdruck der Konsekutivität. Relevant im Nähetext des 17. Jhs. ist darüber hinaus die finale, im Nähetext des 19. Jhs. die temporale Relation. Relevant im Distanztext sind über Konsekutivität hinaus kausale, konditionale und komparative Relationen. Der Ausdruck von Kausalität, Konditionalität und Komparation durch Infinitivkonstruktionen ohne zu scheint also ein distanzsprachliches Merkmal zu sein. Subjunktion: Relevant im Nähetext des 17. Jhs. sind temporale und konsekutive, im Distanztext kausale, konditionale und komparative, im Nähetext des 19. Jhs. im Grunde nur temporale Relationen. Obwohl in jedem Text mehr Inhaltsrelationen belegt sind und obwohl keine der Relationen ausschließlich nähe- oder distanzsprachlich ist, fällt auf, dass Subjunktionen im Nähebereich in der Regel andere Inhaltsrelationen ausdrücken als im Distanzbereich. Infinitivkonstruktion mit zu: Die Grundtechnik ist im 17. Jh. noch generell irrelevant, relevant im 19. Jh. ist der Ausdruck der finalen Relation. Inkorporation: Relevant ist lediglich Kausalität im Distanztext.
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
197
IV. Inhalt-Form-Relationen im Vergleich:
adversativ
temporal
disjunktiv
konsekutiv
konditional
konzessiv
final
komparativ
explikativ
instrumental
komitativ
metakommunikativ
restriktiv
Konjunktor
80
81
49
1,9 100
7,7
14
6,3
10
0
0
0
0
0
0
AP-Junktor
20
8,1
51
48
0
5,1
21
13
0
0 100
0
0 100
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
2,8
0
32
0
6,3
30
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0,3
3
0
47
0
46
64
75
60
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
9
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
8,1
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
349
99
75 106
9
78
14
16
20
0
2
0
0
2
0 770
kopulativ
leben I
Partizipialkonstr. Infinitiv ohne zu V2-Einbetter Subjunktorersatz Subjunktor Infinitiv mit zu Inkorporation
Tabelle 9: Inhalt-Form-Relationen Bauernleben I (%)
Inkorporation
100%
Infinitiv mit zu 80%
Subjunktor 60%
Subjunktorersatz
40%
V2-Einbetter
20%
Infinitiv ohne zu Partizipialkonstr. restriktiv
komitativ
explikativ
final
konditional
disjunktiv
adversativ
kopulativ
0%
AP-Junktor Konjunktor
Diagramm 4: Inhalt-Form-Relationen Bauernleben I (%)
Summe
kausal
Bauern-
Konjunktor
77,3 18,2 33,6
0 90,4
0
0 15,3
AP-Junktor 22,7 14,5 61,6 54,9 9,59 51,1 5,88 40,7 Partizipial0 0 0 0 0 0 0 0 konstr. Infinitiv 0 5,45 0,44 7,84 0 25,5 22,4 5,08 ohne zu V20 0 0 0 0 1,18 0 0 Einbetter Subjunk0 0 0 0 0 0 0 0 torersatz Subjunktor 0 43 2,62 29,4 0 23,4 63,5 37,3 Infinitiv mit 0 1,96 0 0 1,18 1,69 0 3,03 zu Inkorpora0 0 5,88 0 0 15,8 1,75 5,88 tion 370 165 229 51 73 47 85 59
0
0
15
0
0 76,5 7,14
0 21,6
40
30
0 23,5 42,9
0
0
0
80 12,5
15
0
0
0
0
0 7,14
0
0
0
0
0
0
0 2,27
0
0
0
0
0
0 62,5
30 16,7
0
0 42,9
20 1,14
0 3,33
0
0
0
50 93,8
0
0
0
0
0
5
88
20
30
16
17
100% Inkorporation Infinitiv mit zu
80%
Subjunktor Subjunktorersatz
60%
V2-Einbetter 40%
Infinitiv ohne zu
20%
AP-Junktor
Partizipialkonstr.
Konjunktor kt iv
re st ri
ita t iv
ko m
lik at iv
ex p
f in al
ad ve rs at iv di sj un kt iv ko nd it i on al
0% at iv
Diagramm 5: Inhalt-Form-Relationen Thomasius I (%)
Summe
0
0 6,25
Tabelle 10: Inhalt-Form-Relationen Thomasius I (%)
ko pu l
restriktiv
metakommunikativ
komitativ
instrumental
explikativ
komparativ
final
konzessiv
konditional
konsekutiv
disjunktiv
temporal
kausal
Thomasius I
adversativ
Vilmos Ágel
kopulativ
198
14 1269
konzessiv
final
komparativ
explikativ
0
0 4,2
0
0
0
0
18
0
56
42
0
13
0
0
0
0
82
40
50
0
29
Partizipialkonstr.
0 2,7
0
0
0
0
0
0
0
0
0
20
0
0
0
Infinitiv ohne zu
0 1,3
0
3
0
33
0
50 3,9
17
0
0
0
0
14
V2-Einbetter
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
Subjunktorersatz
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
Subjunktor
0
15
0,7
52
0
42
0
50 7,8
83
0
40
50
0
14
Infinitiv mit zu
0
0
0
1,5
0 8,3
0
0
88
0
0
0
0
0
29
Inkorporation
0 5,3
0
1,5
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0 7,1
75 144 134
0
24
0
4
51
6
11
5
4
2
266
0 100 7,1
14 740
Tabelle 11: Inhalt-Form-Relationen Zimmer V (%)
100% Inkorporation Infinitiv mit zu
80%
Subjunktor Subjunktorersatz
60%
V2-Einbetter 40%
Infinitiv ohne zu Partizipialkonstr.
20%
AP-Junktor Konjunktor
ex pl ika tiv ko m ita tiv re st rik tiv
fin al
ko pu l
at iv ad ve rs at iv di sj un kt iv ko nd iti on al
0%
Diagramm 6: Inhalt-Form-Relationen Zimmer V (%)
Summe
konditional
44
13
restriktiv
konsekutiv
63
20
komitativ
adversativ
80
AP-Junktor
disjunktiv
kausal
Konjunktor
temporal
kopulativ
Zimmer V
metakommunikativ
199
instrumental
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
200 Inhaltsrelationen (Anzahl der Techniken) kopulativ (3 vs. 2 vs. 2) kausal (4 vs. 6 vs. 6) adversativ (2 vs. 5 vs. 3) temporal (4 vs. 5 vs. 4) disjunktiv (1 vs. 2 vs. 0) konsekutiv (5 vs. 3 vs. 5) konditional (3 vs. 6 vs. 0) konzessiv (4 vs. 5 vs. 2) final (3 vs. 2 vs. 3) komparativ (0 vs. 5 vs. 2) explikativ (1 vs. 4 vs. 2) instrumental (0 vs. 4 vs. 3) komitativ (0 vs. 2 vs. 2) metakommunikativ (1 vs. 2 vs. 1) restriktiv (0 vs. 4 vs. 6)
Vilmos Ágel Bauernleben I
Thomasius I
Zimmer V
80 KONJ, 20 AP
77 KONJ, 23 AP
80 KONJ, 20 AP
81 KONJ, 8 AP, 8 INKORP, 3 SUBJ 50 KONJ, 50 AP
43 SUBJ, 18 KONJ, 16 INKORP, 15 AP 62 AP, 34 KONJ
63 KONJ, 15 SUBJ, 5 INKORP 56 AP, 44 KONJ
48 AP, 47 SUBJ
55 AP, 29 SUBJ
52 SUBJ, 42 AP
nur neun Belege
90 KONJ
–
46 SUBJ, 32 INF–zu
42 SUBJ, 33 INF–zu
64 SUBJ
51 AP, 26 INF–zu, 23 SUBJ 64 SUBJ, 22 INF–zu
–
75 SUBJ
41 AP, 37 SUBJ
nur vier Belege
60 SUBJ
nur fünf Belege
88 INF+zu
–
63 SUBJ, 22 AP
nur sechs Belege
nur zwei Belege
40 AP, 30 SUBJ
82 AP
–
50 INKORP, 30 AP
nur fünf Belege
–
94 INKORP
nur vier Belege
nur zwei Belege
76 KONJ
nur zwei Belege
–
43 AP, 43 SUBJ
29 AP, 29 INF+zu
Tabelle 12: Vergleich der Verteilung der relevanten Techniken auf die Inhaltsrelationen (%)
Spiegelbildlich zu den Form-Inhalt-Relationen geht es bei den Inhalt-Form-Relationen um die Frage, durch wie viele und welche Techniken die einzelnen Inhaltsrelationen ausgedrückt werden. Auch hier machen die Visualisierungen (Diagramme 4 bis 6) der Tabellen 9 bis 11 sowohl die quantitative und qualitative formale (Nicht-)Variabilität der einzelnen Inhaltsrelationen als auch das Fehlen von Inhaltsrelationen besonders deutlich. Tabelle 12 fasst die wichtigsten Daten zusammen. 1. Bei Kopulativität gibt es keine relevanten Unterschiede, es existieren nur die beiden koordinativen Grundtechniken. 2. Kausalität wird im Nähetext des 17. Jhs. fast nur konjunktional, im Distanztext überwiegend subjunktional ausgedrückt. Der Nähetext des 19. Jhs. steht dazwischen. 3. Adversativität wird im Distanztext integrativer ausgedrückt (überwiegend AP-Junktion), während sich im Nähetext des 17. Jhs. Konjunktion und AP-Junktion die Waage halten. Der Nähetext des 19. Jhs. steht auch hier dazwischen.
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
201
4. Temporalität wird im Nähetext des 17. Jhs. – auf den ersten Blick – integrativer ausgedrückt als im Distanztext: Im Nähetext des 17. Jhs. halten sich Subjunktion und AP-Junktion die Waage, im Nähetext des 19. Jhs. überwiegt sogar die Subjunktion, während im Distanztext die AP-Junktion überwiegt. Hierzu muss man allerdings zweierlei sagen: (a) Temporalität spielt im Distanztext eine untergeordnete Rolle (51 Belege), im Nähetext des 17. und 19. Jhs. dagegen eine überragende Rolle (trotz weniger Junktoren: 106 bzw. 134 Belege); (b) Statistisch relevant unter den Kombinationen ist, wie erwähnt, nur die temporal-konditionale Relation (im Distanztext 29 Belege, von denen 28 subordinierend sind). Rechnet man diese Belege (auch) zur Temporalität, erhält man für den Distanztext insgesamt 80 temporale Belege, die sich wie folgt verteilen: 49 % Subjunktion, 36 % AP-Junktion, 10 % Infinitivkonstruktion ohne zu. M. a. W., auch Temporalität wird – alles zusammengenommen – im Distanztext integrativer ausgedrückt. Der Nähetext des 19. Jhs. steht insgesamt dem Distanztext näher als dem Nähetext des 17. Jhs. 5. Disjunktivität, Konditionalität, Konzessivität und Komparativität spielen nur im Distanztext eine statistisch relevante Rolle. 6. Konsekutivität spielt im Nähetext des 17. Jhs. eine viel wichtigere Rolle (78 Belege) als im Distanztext (47 Belege). Sie wird im Nähetext des 17. Jhs. integrativer ausgedrückt (Subjunktion dominiert, im Distanztext dagegen die AP-Junktion). Im Nähetext des 19. Jhs. spielt Konsekutivität eine untergeordnete Rolle (24 Belege), die Verteilung der Techniken bleibt jedoch wie im Nähetext des 17. Jhs. 7. Finalität ist im Nähetext des 17. Jhs. (20 Belege) überwiegend subjunktional. Im Nähetext des 19. Jhs. ist sie deutlich präsenter (51 Belege) und wird überwiegend durch Infinitivkonstruktionen mit zu ausgedrückt. Im Distanztext ist Finalität irrelevant.
4. Fazit: Vertikalisierung Vertikalisierung als solche gehört nicht zu den historischen, sondern zu den generellen Bedingungen des Sprachwandels, weil sie in einem kognitiv-kulturgeschichtlichen Kontext erfolgt, die jede Sprachgemeinschaft auf dem Wege zur Standardsprache begleitet (Ágel 2007). Diese generellen kognitiv-kulturgeschichtlichen Bedingungen des Sprachwandels stellen erworbene Eigenschaften des kognitiven Systems dar, die an großformatige kulturhistorische Entwicklungen gebunden sind (Scheerer 1993, Ágel 2003). Als zentrale Vertikalisierungsdimensionen kommen nach Reichmann (2003, 38 ff.) die folgenden sechs in Betracht: (a) (b) (c) (d)
sprachsoziologische Umschichtung; mediale Umschichtung; strukturelle Umschichtung (Vertikalisierung als Strukturwandel); sprachgebrauchsgeschichtliche Umschichtung;
202
Vilmos Ágel
(e) sprachbewusstseinsgeschichtliche Umschichtung; (f) sprachkontaktgeschichtliche Umschichtung. Relevant für die vorliegende Untersuchung sind (a) bis (c): Ad (a): Die horizontal-polyzentrische Varietätenorganisation weicht einer vertikalunizentrischen, die sich an der Prestigevarietät (Leitvarietät) orientiert. Während Sprachwandel bis ins 15. Jh. vornehmlich im geographischen Raum stattfand, findet ab dem 16. Jh. kein großflächiger Sprachwandel mehr statt, da durch die sprachsoziologische Umorientierung die horizontalen Varietätenkontakte geschwächt werden. In Bezug auf die Textbasis des Beitrags bedeutet dies, dass sich die tendenziell privaten und von sog. einfachen Leuten verfassten Texte Bauernleben I und Zimmer V in der diastratischen Dimension von der Leitvarietät weiter entfernt sind als Thomasius V. Das erklärt die zahlreichen zeitübergreifenden Nähe-Distanz-Junktionskontraste, von denen zusammenfassend die folgenden hervorzuheben sind: 1. Der Distanztext jungiert wesentlich intensiver als die Nähetexte. Folgerichtig werden im Distanztext Inhaltsrelationen wesentlich häufiger versprachlicht. 2. Die Nähetexte koordinieren mehr und inkorporieren weniger als der Distanztext. Die Inkorporation ist in den Nähetexten irrelevant. 3. In den Nähetexten kommen Subjunktoren seltener, V2-Einbetter und Subjunktorersatz-Strukturen überhaupt nicht vor. 4. Inhaltlich typisch ist, dass die planungsintensiveren Relationen ‚disjunktiv‘, ‚konditional‘, ‚konzessiv‘ und ‚komparativ‘ in den Nähetexten keine Rolle spielen, während kopulative und temporale Relationen überwiegen. 5. Bezogen auf die einzelnen Junktionsklassen ist der Distanztext inhaltlich variabler als die Nähetexte. Ad (b)–(c): Bei der medialen Umschichtung geht es um die Nähe-Distanz-Dimension. Vertikalisierung ist nicht nur eine soziologische Umschichtung, „sondern auch (möglicherweise sogar: eher noch) eine Entwicklung aus der nicht nur medialen, sondern auch konzeptionellen Mündlichkeit heraus in die konzeptionelle Schriftlichkeit als sprachkulturelles Orientierungszentrum hinein“ (Reichmann 2003, 42). Die strukturelle Umschichtung, d. h. Vertikalisierung als Strukturwandel, wird von Reichmann als Folge der medialen Umschichtung beschrieben. Reichmanns lange Liste aus der Syntaxgeschichte der nhd. Schriftsprache (Reichmann 2003, 47) enthält zum Großteil Phänomene, die einer integrativen Umparametrisierung der Leitvarietät zuzuordnen sind. Infolge der medialen und strukturellen Umschichtung nähern sich die tendenziell aggregativen Nähetexte, wenn auch zeitversetzt, den tendenziell integrativen Distanztexten strukturell an. Es findet eine „Reorganisation des Nähebereichs“ (Koch/Oesterreicher 1990 und 2007) statt, die im 19. Jh. durch die „Kodifizierung und Generalisierung“ der Leitvarietät (Mattheier 1997) verstärkt wird. Dies erklärt, warum sich der Nähetext des
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
203
19. Jahrhunderts bezogen auf die Junktionsdimension dem Distanztext des 17. Jahrhunderts insbesondere in den folgenden Bereichen angenähert oder ihn gar ‚eingeholt‘ hat: 1. Der Nähetext des 19. Jhs. nutzt die integrativere Koordinationstechnik der AP-Junktion viel stärker als der Nähetext des 17. Jhs. 2. Auch bei Konjunktoren steht der Nähetext des 19. Jhs. zwischen dem Nähetext des 17. Jhs. und dem Distanztext. 3. Hinsichtlich der adversativen und konsekutiven Inhaltsrelationen stehen sich der Distanztext und der Nähetext des 19. Jhs. nahe. 4. Folgerichtig ist auch die unterdeterminierte kopulative Relation im Nähetext des 19. Jhs. schwächer ausgeprägt als im Nähetext des 17. Jhs. Somit steht der jüngere Nähetext zwischen dem älteren und dem Distanztext. 5. Zwar ist der Distanztext, wie oben erwähnt, bezüglich der Junktionsklassen inhaltlich variabler als die Nähetexte, doch nimmt bei den integrativeren Techniken die Variabilität nicht nur im Nähe-Distanz-Kontrast, sondern auch zeitlich zu. Der Nähetext des 19. Jhs. steht somit zwischen Distanz und Nähe des 17. Jhs. oder erreicht sogar – bei der Subjunktion – die Distanz-Variabilität. 6. Bezüglich des Ausdrucks von Kausalität, Adversativität und Temporalität nutzt der Nähetext des 19. Jhs. integrativere Techniken stärker als der Nähetext des 17. Jhs. und nähert sich somit dem Distanztext an. Abschließend sollte vorsichtshalber betont werden, dass die Textbasis der aktuellen Untersuchung keinen Generalisierungsanspruch erheben kann – nicht nur wegen der geringen Quantität, sondern auch deshalb nicht, weil bei Nähe-Distanz-Untersuchungen naturgemäß weder die textsortenspezifischen noch die individuellen Unterschiede zwischen den Texten eliminiert werden können. Methodisch sollte dieses Manko das zugrunde gelegte Nähe-Distanz-Modell (vgl. Anm. 11 und Tabelle 1 in 3.2), das eine operationalisierte Vergleichsbasis für Nähe- und Distanztexte bietet, ausgleichen. Empirisch wird es durch die unabhängigen Ergebnisse zur elliptischen Junktion (Hennig 2010 und 2010a), die analoge Vertikalisierungstendenzen zeigen, wettgemacht.
5. Zitierte Literatur 5.1. Quellen Bauernleben I = (1636–67/1998): Bauernleben im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Die Stausebacher Chronik des Caspar Preis 1636–1667. Hrsg. v. Wilhelm A. Eckhardt und Helmut Klingelhöfer. Mit einer Einführung von Gerhard Menk. Marburg/Lahn (Beiträge zur Hessischen Geschichte 13), 38–69 und 93–101.
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Vilmos Ágel
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5.2. Sekundärliteratur Ágel, Vilmos (2003): Prinzipien der Grammatik. In: Neue historische Grammatiken. Zum Stand der Grammatikschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen und anderer Sprachen. Hrsg. v. Anja Lobenstein-Reichmann/Oskar Reichmann. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik 243), 1– 46. Ágel, Vilmos (2007): Was ist „grammatische Aufklärung“ in einer Schriftkultur? Die Parameter „Aggregation“ und „Integration“. In: Was heißt linguistische Aufklärung? Sprachauffassungen zwischen Systemvertrauen und Benutzerfürsorge. Hrsg. v. Helmuth Feilke/Clemens Knobloch/Paul-Ludwig Völzing. Heidelberg (Wissenschaftskommunikation 1), 39–57. Ágel, Vilmos (2010a): +/−Wandel. Am Beispiel der Relativpartikeln so und wo. In: Kodierungstechniken im Wandel. Das Zusammenspiel von Analytik und Synthese im Gegenwartsdeutschen. Hrsg. v. Dagmar Bittner/Livio Gaeta. Berlin/New York, 199–222. Ágel, Vilmos (2010b): Explizite Junktion. Theorie und Operationalisierung. In: Historische Textgrammatik und Historische Syntax des Deutschen. Traditionen, Innovationen, Perspektiven. Hrsg. v. Arne Ziegler/Christian Braun. Bd. 1: Diachronie, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch. Bd. 2: Frühneuhochdeutsch, Neuhochdeutsch. Berlin, 897–936. Ágel, Vilmos/Carmen Diegelmann (2010): Theorie und Praxis der expliziten Junktion. In: Nähe und Distanz im Kontext variationslinguistischer Forschung. Hrsg. v. Vilmos Ágel/Mathilde Hennig. Berlin/New York, 347–396. Ágel, Vilmos/Mathilde Hennig (Hgg.) (2006): Grammatik aus Nähe und Distanz. Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650–2000. Tübingen.
Junktionsprofile aus $ähe und Distanz
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206
Vilmos Ágel
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ANNA VOLODINA / EDGAR ONEA
Am Anfang war die Lücke1
1. Einleitung 2. Grammatische Bestimmung des Phänomens 3. Variationslinguistische Beschränkung des Phänomens 4. Ein pragmatischer Analyseansatz 5. Zusammenfassung 6. Zitierte Literatur
1. Einleitung Deutsch gehört zu der eher kleineren Gruppe der europäischen Sprachen, die keine systematische Weglassung von Argumenten des Verbs zulassen. Während es also beispielsweise im Rumänischen möglich ist, das Subjekt in Sätzen wie (1.1) wegzulassen, ist die deutsche Entsprechung ohne Subjekt ungrammatisch, wie in (1.2) gezeigt. (1.1)
Ion e obosit, pentru ca a muncit mult. Ion ist müde weil dass hat gearbeitet viel ‚Ion ist müde, denn er hat viel gearbeitet.‘
(1.2)
Ion ist müde, denn *(er) hat viel gearbeitet.
RUM
Die Regel, dass Argumente des Verbs im Deutschen nicht weggelassen werden können, erklärt beispielsweise, warum das semantisch leere Expletivum es in Sätzen wie (1.3a.) obligatorisch ist, obwohl dies in vielen anderen Sprachen – wie zum Beispiel dem Russischen (1.3b) – nicht nötig ist.
1
Wir bedanken uns in erster Linie bei dem Jubilar, unserem Doktorvater, der uns ermutigt hat, eigenen Ideen mehr Freilauf zu lassen. Den Herausgebern danken wir für die Einladung, bei der Festschrift mitzuwirken. Des Weiteren geht unser Dank an Helmut Weiß, der unseren Aufsatz kommentiert hat. Einige Teile des Aufsatzes gehen auf die Zusammenarbeit zwischen Anna Volodina und Helmut Weiß zurück. Zuletzt bedankt sich Edgar Onea bei dem Courant Forschungszentrum „Textstrukturen“ der Universität Göttingen für die Finanzierung seines Anteils an dieser Forschungsarbeit durch Mittel aus der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder.
208 (1.3)
Anna Volodina / EdgarOnea a. *(Es) wurde hell. b. Stalo svetlo. wurde hell ‚Es wurde hell‘
RUS
So einleuchtend diese Regel angesichts der Beispiele scheinen mag, es gibt eine ganze Reihe von Fällen, in denen sie offenkundig nicht stimmt. Hierbei gibt es zwei Klassen von Gegenbeispielen. Die erste Klasse enthält Beispiele, in denen das „weggelassene“ Argument gar nicht vorkommen darf. Die zweite Klasse enthält Beispiele, in denen das Argument optional weggelassen werden kann. Zur ersten Klasse gehören beispielsweise Imperativsätze, vgl. (1.4), wobei das weggelassene Subjekt in der 2. Person Singular nur mit starker Fokusbetonung vorkommen kann. (1.4)
Komm her! / Komm *(du) her! / Komm DU her!
Zur zweiten Klasse gehören mehrere Kategorien: (i) Das sogenannte unpersönliche Passiv, vgl. (1.5); (ii) Dativkonstruktionen mit expletivem Subjekt (1.6). (1.5)
a. Heute wird getanzt. b. Es wird heute getanzt.
(1.6)
a. Es ist mir kalt. b. Mir ist kalt.
Es gibt noch eine ganze Reihe von solchen und weiteren ähnlichen Phänomenen, die in der Forschungsliteratur ausführlich diskutiert wurden (vgl. Lenerz 1985; Cardinaletti 1990; Reich 2009). In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit einem zwar verwandten, aber dennoch klar abgrenzbaren Phänomen: mit der Weglassung sowohl semantisch als auch syntaktisch obligatorischer Argumente des Verbs, die in der Regel in der Schriftsprache „verboten“, in der gesprochenen Sprache aber Gang und Gäbe sind. (Man beachte zum Beispiel, dass Expletiva zwar syntaktisch obligatorisch sein mögen, semantisch aber auf keinen Fall!) Ein paar authentische Eingangsbeispiele, die das Phänomen verdeutlichen, sind in (1.7)–(1.10) zu finden. Die Leerstelle wird mit dem Symbol ø markiert. (1.7)
(1.8)
(1.9)
51 UU: [… ] *3* ø hab geschdern owend n linker brief kriegt 52 UU: aus amerika […] (SMALLTALK AM KIOSK, 46) AB /ich werd immer müder AA ø gehst immer zu spät schlafen (ALLTAGSGESPRÄCHE (III), 74 f.) 57 M1: kenne=se 58 BB: # ø weiß ich nicht genau # 59 #HOCHDEUTSCHE AUSSPRACHE# 60 M1: meine frau ↑ […] ‚M1: Kennen Sie meine Frau? BB: Weiß ich nicht genau‘
Am Anfang war die Lücke
209 (SMALLTALK AM KIOSK, 60)
(1.10)
AA ( Hanna ) willst du nicht noch n Käsebrot ? AB ø war jetzt nich schlecht (ALLTAGSGESPRÄCHE (III), 77 f.)
Das Phänomen, das wir untersuchen, ist in der Forschungsliteratur unter den Namen „pro-Drop“ (vgl. 1.1), „Topik-Drop“ (vgl. 1.9; 1.10), „Diary-Drop“ (vgl. 1.7) und weiteren Bezeichnungen bekannt, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Weglassung bezeichnen. Wir werden hier auf die Details nicht eingehen, halten aber fest, dass es sowohl historische Untersuchungen als auch Versuche, das Phänomen im heutigen Deutsch zu erklären, gibt (vgl. Fries 1988; Fuß 2004; Schlachter 2010; Axel/Weiß 2011; Trutkowski 2011; Volodina 2011) und dass die bisherigen Versuche im Wesentlichen syntaktisch argumentieren. In diesem Aufsatz werden wir uns hauptsächlich mit kontext-gebundenen ArgumentWeglassungen im Sinne von Sigurðsson/Maling (2008) (also mit Topik- und DiaryDrop) befassen. Wir werden versuchen, dieses Phänomen aus einer ganz anderen Perspektive zu beleuchten und eine pragmatische Theorie von Argument-Weglassungen im Deutschen zu liefern. Der Grund, weshalb wir glauben, dass eine neue Analyse erforderlich ist, ist dieser: In der Literatur werden unterschiedliche Klassen von Argument-Weglassungen auseinandergehalten, wozu auch die oben genannten Begriffe eingeführt wurden. Diese Unterklassen bekommen jeweils unterschiedliche Erklärungen. Wir glauben aber, dass es im Deutschen durchaus möglich ist, eine einheitliche Erklärung für dieses Phänomen zu geben. Diese wird im Kern besagen, dass sich die Argument-Weglassungen aus der kommunikativen Ökonomie ergeben, und mithilfe von Standardbegriffen der Pragmatik, als Theorie der erfolgreichen Kommunikation, bis ins größte Detail vorhersagen lassen. Dabei sagen wir natürlich nicht, dass diese Weglassungen an sich kein syntaktisches Phänomen sind – wir behaupten lediglich, dass das heutige Deutsch pragmatisch sehr transparente Regeln grammatikalisiert. Die Struktur des Aufsatzes ist wie folgt: In Abschnitt 2 grenzen wir das Phänomen anhand konstruierter Beispiele ein und erklären, wieso die meisten Fälle, in denen Weglassungen ungrammatisch sind, bei Weglassung geradewegs zu kommunikativem Misserfolg führen würden. In Abschnitt 3 wenden wir uns einem anderen Aspekt der Eingrenzung des Phänomens zu, und zwar wollen wir varietätenlinguistisch und sprachgeschichtlich klären, um was für eine Art Phänomen es sich handelt: Konkret werden wir behaupten, dass Argument-Weglassung im Vorfeld ein Phänomen ist, das zwar in Dialekten und im gesprochenen Standard weit verbreitet ist aber in der Schriftsprache als ungrammatisch und daher als „verboten“ gilt. Dies wird erklären, warum einige Beispiele auf den ersten Blick vielleicht weniger akzeptabel wirken. Darüber hinaus werden wir zeigen, dass das Phänomen kein Zeichen von Sprachverfall oder Sprachkontakt ist, sondern durchaus in der Geschichte des Deutschen fortwährend präsent ist. Schließlich wird in Abschnitt 4 unsere pragmatische Analyse präsentiert, die für diesen Aufsatz zentral ist.
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Anna Volodina / EdgarOnea
2. Grammatische Bestimmung des Phänomens Das erste, was wir brauchen, um das Phänomen analysieren zu können, sind sogenannte empirische Generalisierungen; d. h. wir müssen die empirischen Regeln angeben, nach denen Argumente im Deutschen weggelassen werden können. Dabei werden wir drei Arten von Generalisierungen angeben, die die folgenden drei Fragen beantworten: Was kann weggelassen werden? Wo genau in der syntaktischen Struktur finden die Weglassungen statt? Welche weiteren Beschränkungen gibt es?
2.1. Was kann weggelassen werden? Es handelt sich bei den Weglassungen, die wir in diesem Kapitel betrachten, um sowohl syntaktisch als auch semantisch notwendige Argumente des Verbs. Was also nicht berücksichtigt wird, sind Expletiva und Adjunkte unterschiedlicher Art (temporal, lokal, modal etc.). Was übrig bleibt, sind im weitesten Sinne Nominalphrasen und Satzargumente, etwa für Verben des Sagens, Glaubens etc. Wir werden dabei die Kategorisierung nach dem Kriterium der Definitheit anfangen und innerhalb dieser Kategorie unterschiedliche Arten von Realisierungen unterscheiden, wie volle Nominalphrasen vs. Pronomina. Zunächst werden wir ein paar einführende Worte zu unserem Verständnis von Definitheit und Indefinitheit sagen. Definitheit und Indefinitheit verstehen wir als sogenannte referentielle Kategorien. Unter einer referentiellen Kategorie verstehen wir die Art, wie ein Ausdruck seinen Referenten bezeichnet. Unter einem Referenten verstehen wir eine Entität (welcher Art auch immer), über die gesprochen wird und die mit irgendeinem Ausdruck bezeichnet wird. (Wir hätten statt referentielle Kategorie auch Bezeichnungsarten sagen können, aber wir verbleiben beim eingebürgerten Begriff.) Ein Ausdruck ist indefinit, wenn mit ihm eine Entität bezeichnet wird, die nicht (in einem relevanten Kontext) vorerwähnt bzw. dem Hörer bekannt ist. Indefinita führen also gewissermaßen neue Referenten in einen Diskurs ein. Diese Behauptung können wir leicht testen, indem wir das Beispiel (2.1) betrachten. Der erste Satz führt einen „neuen“ ‚Mann‘ in den Diskurs ein. Nun wäre es zwar naheliegend, dass der gerade in den Diskurs eingeführte ‚Mann‘ derjenige ist, um den es auch im zweiten Satz geht. Allerdings führt die zweite Verwendung von ‚ein Mann‘ einen zweiten, neuen Diskursreferenten ein. Mithin ist die Interpretation, wonach es sich in beiden Sätzen um einund denselben Mann handelt, blockiert. (Dies heißt natürlich nicht, dass man quasi als rhetorischen Effekt eine Fortsetzung wie ‚Es handelt sich um ein- und denselben Mann‘ nicht haben könnte – jedoch ist dies eine Identitätsaussage zwischen zwei Diskursreferenten, die rein grammatisch eingeführt worden sind.)
Am Anfang war die Lücke (2.1)
211
Ein Mann steht vor der Tür. Ein Mann pfeift.
Ein Ausdruck ist dagegen dann definit, wenn mit diesem Ausdruck ein Referent bezeichnet wird, der bereits im Diskurs präsent ist. Man spricht in diesem Fall von Familiarität (vgl. Heim 1982). Dies sehen wir am Beispiel (2.2): Die definite Kennzeichnung ‚der Mann‘ erlaubt die Annahme, dass es sich in beiden Sätzen um denselben Mann handelt. (2.2)
Ein Mann steht vor der Tür. Der Mann pfeift.
Es gibt noch eine zweite Verwendung von definiten Kennzeichnungen, verdeutlicht am Beispiel (2.3). In diesem Fall ist es nicht erforderlich, dass der Präsident der Vereinigten Staaten im Diskurs bereits vorerwähnt ist. Es ist eher so, dass unser Weltwissen uns sagt, dass es genau einen Präsidenten der Vereinigten Staaten gibt, dies rechtfertigt die Verwendung einer definiten Kennzeichnung und wird durch die pragmatische Unangemessenheit von (2.4) – derselbe Kontext wie in (2.3) vorausgesetzt – verifiziert: Da wir wissen, dass in den USA jeder Bundesstaat zwei Senatoren entsendet, und es daher nicht den EINEN Senator von Texas gibt, muss der Senator vorerwähnt sein, damit der Satz akzeptabel ist. Diese pragmatische Inakzeptabilität markieren wir mit dem Symbol #. (2.3)
Der Präsident der Vereinigten Staaten kommt nach Deutschland.
(2.4)
#Der Senator von Texas kommt nach Deutschland.
Aus unserer Sicht bietet das gemeinsame Merkmal der Einzigkeit und Familiarität, dem Hörer die Möglichkeit, den Referenten eindeutig zu identifizieren: Familiarität ist sodann nichts Weiteres als Einzigkeit im Kontext. Mit anderen Worten, wenn genau ein Senator in den Diskurs eingeführt wurde, dann ist (2.4) akzeptabel, weil der Hörer den Senator als den im Diskurs einzigen Senator identifizieren kann. Bei neuen Referenten im Diskurs muss die Beschreibung so sein, dass eine Identifikation in der Welt möglich ist. Sowohl definite als auch indefinite Kennzeichnungen können sowohl als Pronomina2 als auch als ganze Nominalphrasen vorkommen. Wir betrachten dabei Eigennamen als vollständige Nominalphrasen. Wir bemerken als Abschluss dieser kurzen begrifflichen Erörterung, dass sowohl definite als auch indefinite Kennzeichnungen auch in sogenannten generischen Verwendungen vorkommen können. Der Unterschied zwischen Definitheit und Indefinitheit ist in diesem Fall weniger durchsichtig. Zwei Beispiele dürften dies verdeutlichen, vgl. (2.5) und (2.6):
2
(2.5)
Der Löwe ist ein Tier.
(2.6)
Ein Löwe ist ein Tier.
In diesem Abschnitt beschränken wir uns auf die Diskussion von Pronomina in der 3. Person, weil für Pronomina in der 1./2. Person Diskursparameter, die hier diskutiert werden, keine Rolle spielen.
212
Anna Volodina / EdgarOnea
Bis auf bestimmte Ausnahmen (vgl. dazu Cardinaletti/Starke 1999), die in diesem Aufsatz nicht weiter diskutiert werden, ist es unmöglich, Pronomina generisch zu verwenden. Wir werden im Weiteren sehen, dass dadurch die Frage nach der generischen Verwendung ihre Relevanz verliert. (i) Indefinita Keine indefinite Kennzeichnung kann im Deutschen weggelassen werden. Darüber hinaus können indefinite Kennzeichnungen auch in anderen Sprachen nicht weggelassen werden. Dies bezieht sich sowohl auf volle Nominalphrasen wie ‚ein Sprachwissenschaftler‘ (vgl. 2.7) als auch auf Indefinitpronomina wie jemand oder niemand. (2.7)
Ein Sprachwissenschaftler hat Jubiläum.
Um zu erklären, warum eine solche Weglassung nicht möglich ist, müssen wir wissen, was die Funktion von Indefinita ist. Indefinita jeder Art führen einen neuen Diskursreferenten ein, und zwar mit einer gewissen Beschreibung. ‚Ein Sprachwissenschaftler‘ führt in den Diskurs einen Referenten X ein und versieht den Hörer mit der Information, dass X ein Sprachwissenschaftler ist. Darüber hinaus kann der Hörer erschließen, dass diese Beschreibung auf keinen Fall reichen kann, um den Referenten aufgrund seines Weltwissens oder des bisherigen Diskurses eigenständig zu identifizieren, da man ja sonst eine definite Kennzeichnung verwendet hätte. Wenn wir also einen Satz wie (2.7) äußern, dann sagen wir damit auf jeden Fall mehr, als dass irgendein Diskursreferent, auf den wir in Zukunft mit ‚das Geburtstagskind‘ referieren könnten, eben einen runden Geburtstag hat: Wir sagen auch, dass es sich um einen Sprachwissenschaftler handelt. Würde der Sprecher diese Information weglassen, könnte der Hörer sie nicht rekonstruieren, und wir hätten es mit einem kommunikativen Fehler zu tun. Angenommen, andererseits, wir hätten den ‚Sprachwissenschaftler‘ bereits früher in den Diskurs eingeführt, beispielsweise in einer Frage, wie in (2.8) gezeigt. Nun gibt es zwei Lesarten der Frage. Es kann sich um einen bestimmten Sprachwissenschaftler handeln, so dass A konkret von einer ihm bekannten Person redet, der Hörer aber nicht unbedingt weiß, um wen es sich handelt. In diesem Fall wird der ‚Sprachwissenschaftler‘ notwendig mit einer definiten Kennzeichnung in der Antwort wieder aufgenommen. Wenn nun also etwas weggelassen wird, dann nicht etwas Indefinites. Es kann sich aber auch um Sprachwissenschaftler im Allgemeinen handeln, wie das in der Antwort von C in (2.8) deutlich wird – in dieser Interpretation hatte A keinen konkreten Sprachwissenschaftler im Sinn, und in der Antwort ist es nun möglich, die indefinite Kennzeichnung wieder zu verwenden. Diese Erklärung hierfür ist, dass die Frage von A keinen Diskursreferenten einführt, da es nicht klar ist, ob überhaupt ein Sprachwissenschaftler gesehen wurde, ja – rein sprachlich – nicht einmal, ob es überhaupt Sprachwissenschaftler gibt. (Es gibt sie aber!) Insofern ist die Rolle des Indefiniten in der Antwort von C die übliche Einführung eines neuen Diskursreferenten. Nun
Am Anfang war die Lücke
213
würde es aber nicht unmittelbar zu einem kommunikativen Problem führen, wenn C, wie in (2.9) gezeigt, antworten würde, denn A könnte sich durchaus denken, was ergänzt werden muss. Wir werden eine Erklärung für die Unmöglichkeit dieser Weglassung in Abschnitt 4 dieses Aufsatzes geben. (2.8)
A: Wer hat einen (bestimmten) Sprachwissenschaftler gesehen? B: Jochen hat ihn gesehen. C: Jochen hat einen Sprachwissenschaftler gesehen.
(2.9)
C: *ø hat Jochen gesehen.
Ebenfalls nicht weglassbar sind indefinite Pronomina wie jemand, irgendjemand und niemand. Dies ist auf den ersten Blick erstaunlich, da für ein an sich außerhalb eines geeigneten Kontextes ungrammatisches Beispiel wie (2.10) durchaus die Interpretation ‚Irgendjemand schläft‘ naheliegt. (In einer anderen Interpretation ist das Beispiel (2.10) in bestimmten Kontexten akzeptabel.) Aber dieses Scheinargument basiert auf einem Missverständnis, und zwar dass irgendjemand ein semantisch völlig leeres Argument sei. Wenn nämlich nun irgendjemand nicht semantisch völlig leer ist, dann kann der Sprecher genau das, was es bedeutet, nicht von sich aus rekonstruieren. Wenn es aber semantisch leer wäre, dann würde es sich um ein Expletivum handeln, und die richtige Ergänzung wäre die völlig unpersönliche Interpretation von (2.11). Dass das Deutsche das Weglassen von Expletiva aber blockiert, ist bekannt und ist daher nicht Gegenstand unserer Untersuchung. (2.10) *ø schläft. (2.11) Es schläft.
Wir beobachten darüber hinaus auch in anderen Sprachen, dass weggelassenes Material niemals als Indefinitum interpretiert wird, mehr noch: Wenn eine unpersönliche Interpretation mithilfe eines Expletivums denkbar wäre und die Sprache keine Expletiva erlaubt, wie etwa das Rumänische, dann stellen wir fest, dass gerade für solche Fälle die unpersönliche Interpretation eine spezielle Markierung (beispielsweise mit einem Reflexivpronomen) erfordert, die u. a. in keiner Sprache weggelassen werden können: (2.12) Doarme. RUM Schläft ‚Er/Sie/Es schläft‘ (2.13) Se doarme. RUM REFL schläft ‚Es wird geschlafen.‘
Wir halten zusammenfassend fest, dass Indefinita niemals weggelassen werden können. Die einfache Erklärung, dass dadurch wichtige Information verloren ginge, ist für fast alle Fälle hinreichend. Das Beispiel (2.9) scheint eine Ausnahme zu sein und muss in Abschnitt 4 erklärt werden.
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(ii) Definita Im Falle von Definita sind Argument-Weglassungen nur dann möglich, wenn diese durch Pronomina realisiert werden. Um dies zu erläutern, wollen wir uns zunächst den Unterschied in der Verwendung von definiten Pronomina und vollen definiten Nominalphrasen vor Augen führen. Dabei fangen wir mit Beispiel (2.2) an, das wir hier als (2.14) wiederholen: (2.14) Ein Mann steht vor der Tür. Der Mann pfeift.
Über diese Sequenz lässt sich einerseits sagen, dass sie genau das gleiche ausdrückt wie (2.15), wobei (2.15) eindeutig die unmarkierte Variante von (2.14) ist. (2.15) Ein Mann steht vor der Tür. Er pfeift.
Bis dato ist die erfolgreichste Strategie die Verwendungsunterschiede zwischen vollen definiten Nominalphrasen und Pronomina zu erfassen, diejenige, die auf sogenannte Aktivierungshierarchien und auf ein Prinzip der Ambiguitätsvermeidung zurückgreift. Die Grundidee ist diese: Ein Referent kann unterschiedlich stark in unserem Kopf aktiviert sein. Wenn der Sprecher einen Referenten einführt, ist er zunächst maximal aktiviert, im Laufe der Zeit lässt aber diese Aktivierung nach. Je „aktiver“ nun ein Referent ist, desto wahrscheinlicher ist seine Wiederaufnahme durch ein Pronomen, und je weniger „aktiv“ er ist, desto eher ist die Aufnahme durch eine vollständige Nominalphrase erforderlich. Wenn nun aber mehrere Referenten gleichzeitig hoch aktiviert sind, dann führt die Verwendung von Pronomina (je nach Genus und Numerus) möglicherweise zu Ambiguitäten, weshalb die Verwendung von vollen Nominalphrasen zur Disambiguierung vorzuziehen ist. Diese zwei Prinzipien widersprechen sich bisweilen. In solchen Fällen kann sich der Sprecher zwischen der ökonomischeren Lösung, ein Pronomen trotz möglicher Ambiguitäten zu verwenden, und der klareren (aber weniger ökonomischen Lösung) entscheiden, eine volle Nominalphrase zu gebrauchen. Wir verdeutlichen dies an zwei Beispielen: (2.16) Ein Mann kam hinein. Es war kalt draußen aber drinnen war es warm und feucht. Die Großmutter saß am Kamin und trank Tee. Sie bemerkte den Mann erst spät und erkannte ihn wegen seiner beschlagenen Brillengläser zunächst gar nicht. (2.17) Ein Student traf einen Professor. Er begrüßte ihn fröhlich.
In (2.16) sehen wir, dass zunächst ein Referent mit ‚ein Mann‘ eingeführt wird. Nachher wird über etwas anderes gesprochen, und obwohl keine anderen männlichen Referenten eingeführt werden, daher also ‚er‘ nicht ambig ist, wird der Referent aufgrund der durch die Distanz bedingte Deaktivierung mit der vollen Nominalphrase ‚den Mann‘ aufgenommen. Bei der nächsten Erwähnung ist der Referent aber im Diskurs hoch aktiviert, damit ist das Pronomen ‚ihn‘ hinreichend, um sich darauf zu beziehen. In (2.17) hingegen führt der erste Satz gleich zwei männliche Referenten ein. Beide sind hoch aktiviert, daher kann der Sprecher auf beide mit Pronomina referieren. So entsteht aber eine gewisse Ambiguität, auch wenn die Interpretation, wonach der Stu-
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dent den Professor (und nicht umgekehrt) begrüßte, etwas prominenter zu sein scheint. (Nicht ambig wäre die Verwendung des anaphorisch verwendeten Demonstrativums der, das in einigen Dialekten das entsprechende Personalpronomen verdrängt.3) Entscheidend ist, dass in (2.17) statt Pronomina auch volle Nominalphrasen verwenden werden könnten. Die Beobachtung ist also, dass man genau dann Pronomina verwendet, wenn es unmittelbar klar ist, auf welchen Referenten sie sich beziehen. Hier darf einen die Tatsache nicht täuschen, dass Pronomina auch demonstrativ verwendet werden können. Die demonstrative Verwendung lässt sich aber in der Regel intonatorisch identifizieren und braucht uns zunächst nicht zu interessieren, wir kommen darauf aber in Abschnitt 4 dieses Aufsatzes zurück. Aus der Diskussion der Beispiele wird aber auch deutlich, dass volle Nominalphrasen genau dann verwendet werden, wenn das deskriptive Material in der Nominalphrase erforderlich ist, um den Referenten zu identifizieren. Deshalb könnte der Hörer bei Weglassung von vollen Nominalphrasen den Referenten möglicherweise nicht korrekt identifizieren. Allerdings muss man dabei noch Folgendes bedenken: Pronomina haben in der Regel einige distinktive Merkmale wie Numerus, Genus und Person. Im Deutschen gibt es keine Genuskongruenz zwischen Verb und Argument (wie teilweise im Französischen); es gibt zwar wenige Synkretismen im verbalen Flexionssystem, aber doch hinreichend viele, um allgemein sagen zu können, dass selbst die Person- und NumerusInformationen teilweise bei Weglassung verloren gehen können. Damit wird die Anzahl möglicher Ambiguitäten zusätzlich erhöht. Das heißt, selbst für Pronomina gilt, dass ihre Weglassung in vielen Situationen dazu führen könnte, dass der Referent vom Hörer nicht mehr zuverlässig identifiziert werden kann. Die allgemeine Regel, die wir daraus ableiten wollen, ist, dass nur definite Pronomina weglassbar sind, und dass die notwendigen Bedingungen hierfür die hinreichende Aktivierung des Referenten im Diskurs und fehlende Ambiguität sind. Die weiteren Bedingungen haben nichts mit der Wahl der referentiellen Kategorie zu tun.
2.2. Wo in der syntaktischen Struktur finden die Weglassungen statt? Weglassungen von semantischen und syntaktisch erforderlichen Argumenten des Verbs können im Deutschen ausschließlich im Vorfeld eines Matrixsatzes erfolgen. In diesem Abschnitt werden wir nicht versuchen, eine Erklärung für dieses Faktum zu geben, da eine syntaktische Analyse des Phänomens nicht im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht. Wir werden stattdessen nur einige der Folgerungen aus dieser Generalisierung darlegen. Die wichtigste Folgerung ist, dass in subordinierten Nebensätzen, die kein Vorfeld haben, keinerlei Weglassungen möglich sind. Darüber hinaus sind Weglassungen auch im sogenannten Vor-Vorfeld von Matrixsätzen nicht möglich. 3
Darauf (und auch auf einige weitere Details) hat uns Helmut Weiß hingewiesen.
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Etwas problematischer ist die Situation mit Imperativa und Fragesätzen. Diese haben zwar kein Vorfeld, eine Weglassung scheint aber dennoch möglich, wie etwa in (2.18a). Allerdings zeigt bereits (2.18b), dass diese Weglassungen nicht wirklich systematisch sind. Es handelt sich lediglich um Weglassungen des Subjekt-Pronomens in der 2.SG. (2.18) a. Kommst zur Party? b. *Liebt ø-3SG Maria wirklich?
Wir glauben, dass diese Weglassung keine pragmatische, sondern eine phonologischsyntaktische Erklärung hat, da es sich hier um ein enklitisches Subjekt-Pronomen handelt und damit gar keine echte Subjekt-Weglassung vorliegt. Dies wird auch an KorpusBeispielen deutlich, in denen das enklitische Subjekt durch die ste-Endung angezeigt wird. (2.19) AC / ich ich mach alles mit Zetteln ,+ was mir einfällt +, auf n Zettel AB ( ja ) ( mhm ) . AC f> des -ff vergeß ich sonst AB auch zuhaus . AC und ich weiß dann hinterher s* zwei Teile f+ wollste -ff besorgen +s . oder zwei fallen eim noch ein (ALLTAGSGESPRÄCHE (III), 58)
Wir bleiben jedoch hinsichtlich der syntaktischen Analyse dieses Phänomens in Anbetracht der Tatsache, dass in Dialekten eine Vielzahl von Varianten vorkommt, neutral (weiterführend fürs Bairische vgl. Weiß 1998).
2.3. Welche weiteren Beschränkungen gibt es? In Abschnitt 2.1 haben wir festgestellt, dass nur Pronomina weggelassen werden können, wenn sie im Diskurs hinreichend aktiviert sind und wenn es keinerlei Ambiguitätsmöglichkeiten in Bezug auf bereits im Diskurs etablierten Referenten gibt. In Abschnitt 2.2 haben wir zudem festgestellt, dass die Weglassung von Pronomina im Vorfeld stattfindet und damit notwendigerweise auf Matrixsätze beschränkt ist. In diesem Abschnitt werden wir ein paar weitere Beschränkungen aufzeigen. Erstens können nur unbetonte Pronomina weggelassen werden. In (2.20a) muss beispielsweise er kontrastiv betont werden (der Grad der Betonung ist freilich variabel), wodurch die Interpretation entsteht, dass die im ersten Satz in den Diskurs eingeführte ‚Frau‘, auf die sich er aufgrund seiner Genus-Beschränkung nicht beziehen kann, nicht pfeift. In diesem Fall kann das Personalpronomen im Vorfeld nicht weggelassen werden. Selbiges gilt auch für die 1.SG, wie in (2.20b.) gezeigt. (2.20) a. Ein Mann und eine Frau stehen vor der Tür. *(ER) pfeift. b. Ich stehe mit einem Mann vor der Tür. *(ICH) pfeife.
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Die Erklärung für dieses Phänomen ist relativ einfach: Pronomina können genau dann betont werden, wenn die minimalen semantischen Informationen, die sie tragen – beispielsweise die Genus-Information – in der Interpretation relevant sind. In (2.20.a.) disambiguiert die Genus-Information zwischen dem vorhin eingeführten ‚Mann‘ und der ‚Frau‘. Darüber hinaus muss für die Betonung noch ein weiteres Merkmal vorliegen: Das Prädikat des betonten Pronomens darf den durch die minimale semantische Information ausgeschlossenen Referenten nicht gelten. Wenn in der Realität sowohl der Mann als auch die Frau pfeifen würden, wäre (2.20.a.) mit betontem er stark irreführend bis falsch, wohingegen die Akzeptabilität mit unbetontem er deutlich erhöht wird. Wir stellen also fest, dass Kontrastivität die Weglassung von Pronomina blockiert. Eine weitere empirische Beobachtung ist folgende: Der Referent des weglassbaren unbetonten Pronomens muss explizit genannt werden. Dies werden wir an zwei Beispielen erläutern: (2.21) A: Hast du Marcus gesehen? B: (Er) ist im Haus. (2.22) A zeigt auf Marcus’ Portrait. B: *(Er) ist im Haus.
In (2.21) haben wir einen klaren Fall, in dem das Personalpronomen er weggelassen wurde. Im gesprochenen Deutsch ist das Beispiel (2.21) völlig akzeptabel, wahrscheinlich sogar die unmarkierte Antwort auf die Frage. Dagegen haben wir in (2.22) eine fast ähnliche Situation, nur dass diesmal ‚Marcus‘ nicht explizit genannt wurde. Wird nun in (2.22) das Personalpronomen er weggelassen, wird die Situation überhaupt nicht ambig, denn der einzige andere mögliche Referent wäre ‚das Portrait von Marcus‘, und das Portrait ist nun offenbar nicht im Haus, sondern direkt vor den Augen von A und B, da A darauf zeigt. Dennoch ist die Weglassung nicht möglich. A würde sich über die Antwort von B zu Recht wundern. Jedoch wäre in (2.22) das nicht weggelassene er in einer demonstrativen Verwendung. Wir werden in Teil 3 der Frage nachgehen, warum Demonstrativa nicht weggelassen werden können. Ein weiterer Aspekt ist, dass für die Weglassung die Nennung des Referenten unmittelbar vor der Weglassung geschehen muss. Es reicht nicht, wenn es einige Sätze vorher geschah, selbst wenn dies nicht zu Ambiguitäten führt. In (2.23) führen die Sätze wie ‚Es regnet und es blitzt und es donnert‘ überhaupt keine neuen Referenten ein, aber dennoch ist die Weglassung des Personalpronomens im Vorfeld (siehe die Antwort von B) ungrammatisch. Die Erklärung hierfür scheint die nicht hinreichende Aktivierung zu sein. Für die Weglassung eines Pronomens ist eine noch höhere Aktivierung erforderlich, als für die Verwendung eines Pronomens überhaupt. (2.23) A: Hast du Marcus gesehen? Es regnet und es blitzt und es donnert so sehr. B: *(Er) ist im Haus.
Eine weitere Beobachtung ist, dass Personalpronomina in der 2.SG und insbesondere in der 1.SG leichter weggelassen werden können, als Personalpronomina in der 3.SG/PL.
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Dies wird ausführlich in Trutkowski (2011) diskutiert. Zum Teil kann dieses Phänomen dadurch erklärt werden, dass im Deutschen Personalpronomina der 1. und 2.SG/PL keine Genusmarkierung haben und mithin die denkbaren Grade der Ambiguität geringer sind. Ein weiterer Aspekt, der hiermit zusammenhängt, ist die systematische Weglassung des Personalpronomens in der 1.SG/PL in Textsorten, die stark an Tagebücher erinnern, wie in (2.24) gezeigt. Diese Fälle werden üblicherweise als Diary-Drop bezeichnet (vgl. Haegeman 1990 und Haegeman/Ihsane 2001 für das Englische). (2.24) ø Bin zur Zeit noch zu Hause und habe gerade etwas mehr Luft ;-) (Beleg aus dem E-Mail-Korpus von Klug 2010)
In der Literatur wird normalerweise angenommen, dass Diary-drop daher anderen Gesetzmäßigkeiten folgt und eine andere Erklärung hat, als die anderen Fälle von ArgumentWeglassungen im Vorfeld. Wir werden in Abschnitt 4 aber zeigen, dass diese Annahme nicht erforderlich ist und eine einheitliche Erklärung durchaus möglich ist. Nicht zuletzt beobachten wir, dass die Argument-Weglassung im Vorfeld typischerweise direkt am Turnwechsel in einem Gespräch geschieht. Eine überwältigende Mehrzahl der Belege ist von dieser Art. Dies kann beispielsweise an (1.8) in der Einleitung, hier als (2.25) wiederholt, verdeutlicht werden: (2.25) AB /ich werd immer müder AA ø-2SG gehst immer zu spät schlafen (ALLTAGSGESPRÄCHE (III), 74 f.)
Es scheint sogar, dass in einem Dialog das weggelassene Argument die erste Konstituente nach dem Turnwechsel sein muss. (Antwortpartikeln wie ‚ja‘ und ‚nein‘, sowie möglicherweise typische Antwortkonstruktionen wie ‚keine Ahnung‘, sind nicht eingerechnet.) So ist in (2.26), die Antwort B perfekt akzeptabel, die Antwort D komplett inakzeptabel, und die Akzeptabilität von C ist fraglich. (2.26) A: Ist Daniel zu Hause? B: Nein, ø ist einkaufen. C: ?Keine Ahnung, ø ist vielleicht einkaufen. D: *Wenn ich mir das gut überlege: ø ist einkaufen.
Weitere Beobachtungen: Während 1. und 2.SG/PL stets auf Personen ohne anaphorischen Bezug referieren und deswegen aufgrund des vorausgesetzten Textsortenwissens nicht extra „eingeführt“ werden müssen, müssen Argument-Weglassungen in der 3SG/PL nicht zwangsläufig personenbezogen sein, wie in (3.5) und (3.6) gezeigt. Subjekte werden generell häufiger weggelassen, direkte Objekte in der 3.SG/PL wegzulassen ist aber auch möglich: (2.27) Kein Mensch weiss warum, denn die Spanier verdienen sogar viel weniger, als die Deutschen (ø-OBJ Hat mir meine Lehrerin erzaehlt, die hat einige Jahre in Deutschland gelebt). (Beleg aus dem E-Mail-Korpus von Klug 2010)
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Die Weglassung von Objekten in der 1. und 2.SG/PL ist insofern nicht möglich, dass sie, wenn sie im Vorfeld realisiert werden, eine markierte Stellung aufweisen und daher aufgrund ihrer Fokussierung nicht weggelassen werden können: (2.28) a. *(Mich) wirst du nie loswerden. b. Er ist so anhänglich. (ø-OBJ) Wirst du nie loswerden.
In Abschnitt 4 dieses Aufsatzes werden wir auch dieses Phänomen diskutieren und eine Erklärung dafür suchen, weshalb beispielsweise bei Diary-Drop ein Turn-Wechsel nicht erforderlich zu sein scheint. Im nächsten Teil müssen aber zunächst teils aus methodologischen Gründen ein paar Bemerkungen zu Phänomenen der gesprochenen Sprache gemacht werden, sowie in diesem Zusammenhang auch die historische Kontinuität des Phänomens aufgezeigt werden.
3. Variationslinguistische Beschränkung des Phänomens Argumentweglassungen im Deutschen sind ausschließlich ein Phänomen der gesprochenen, nicht der geschriebenen Sprache. In der gesprochenen Sprache gilt folgendes Prinzip: W o e i n A r g u m e n t i m V o r f e l d w e g g e l a s s e n w e r d e n k a n n , wird es (nicht zuletzt aus Ökonomiegründen) auch in der Tat wegg e l a s s e n . Je normativer aber die Gesprächsorte desto weniger ist dieses Prinzip sichtbar. Die Erklärung dafür ist einfach. Die Weglassung von Argumenten steht im Widerspruch zu den Regeln der normbasierten Schulgrammatik, deren Einfluss auf die mündliche Form der Standardsprache nicht zu unterschätzen ist. Dies erklärt auch, warum Argument-Weglassungen in Dialekten viel häufiger auftreten und auch zum Teil anderer Natur sind: Sie sind ein fester Bestandteil der natürlich erworbenen Dialektgrammatik – siehe Weiß (1998; 2005). Darauf kommen wir am Ende dieses Kapitels zurück, nachdem zunächst das Phänomen als Bestandteil der gesprochenen Sprache isoliert wird. Der Begriff gesprochene Sprache hat sich vor allem in der Opposition zur Schriftsprache etabliert. Letztere galt in der deskriptiven Sprachwissenschaft Jahrzehnte hinweg als der Untersuchungsgegenstand, nicht zuletzt aufgrund einfacherer Zugänglichkeit, die durch ihre schriftliche Fixierung gegeben ist. Dadurch blieben einige Phänomene, die auf bestimmte Register der Mündlichkeit beschränkt sind, außer Acht. Mit der Verbreitung der neuen Medien ist die Relevanz von Untersuchungen gesprochener Sprache in der neueren linguistischen Forschung neuerdings deutlich gestiegen, was sich unter anderem in einer Vielzahl unterschiedlicher methodischer Ansätze zeigt: von gesprächsanalytischen und konstruktionsgrammatischen (Deppermann 2007; Deppermann/Fiehler/Spranz-Fogasy 2006; Günthner/Imo 2006) bis hin zu Ansätzen einer Grammatik der gesprochenen Sprache (Fiehler et al. 2004; Duden 2005, 1174–1256; Hennig 2006). Das Ziel dieses Aufsatzes ist nicht einen Beitrag zu den unterschiedlichen mitein-
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ander konkurrierenden Theorien und Terminologien der Gesprochene-Sprache-Forschung zu leisten, sondern ein Phänomen der gesprochenen Sprache aus einer grammatischen und pragmatischen Perspektive zu untersuchen. Die Betrachtung des Forschungsgegenstands gesprochene Sprache wird dabei deshalb notwendig, weil (wie jedes andere sprachliche Phänomen) auch die Weglassung von semantisch erforderlichen Argumenten im Vorfeld eine bestimmte empirische Basis für die Entwicklung einer Theorie braucht. Im Falle der gesprochenen Sprache ist aber aufgrund unterschiedlicher, hier zu nennender Faktoren diese empirische Basis schwer zu bestimmen. Im Einzelnen geht es darum, dass durch die Unschärfe des Begriffes gesprochene Sprache eine empirische Untersuchung methodologisch an ihre Grenzen stößt: Solange wir die Grenzen gesprochener Sprache nicht bestimmt haben, können wir unsere Thesen weder bestätigen noch falsifizieren. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass gesprochene Sprache nicht so leicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist: Unterschiedliche Gesprächssituationen weisen sehr unterschiedliche Merkmale auf, so dass die gesprochene Sprache in ihren unterschiedlichen sozialen, regionalen, situativen usw. Varianten sehr vielfältig und als Ganzes nicht erfassbar ist. Außerdem ist gesprochen nicht immer gleich synonym zu mündlich zu verstehen. Mündlichkeit ist im Sinne der neueren Forschung ein komplexes Phänomen, so dass nicht jeder phonisch realisierte Sprechakt als gesprochensprachliche Kommunikation gelten kann: So liegt der entscheidende Unterschied zwischen der (primär schriftlichen) Chat-Kommunikation und dem (primär mündlichen) vorgelesenen Plenarvortrag nicht in ihrer medialen Realisierung, sondern in den unterschiedlichen situativen Kontexten, in denen die Interaktanten zu dem der konkreten kommunikativen Situation angemessenen Sprachmittel greifen. Der Einfluss außersprachlicher Faktoren auf das Erscheinungsbild der Sprache – wie z. B. Spontaneität des Sprechaktes, Ungezwungenheit des Sprechaktes, direkte Beteiligung der Sprecher am Sprechakt wurde früh erkannt (Steger et al. 1974; Schank/Schoenthal 1976). Sie dienten in den Anfängen der Forschung in erster Linie der Abgrenzung der Umgangssprache von der Schrift- bzw. Standardsprache. In der neueren Forschung betrachtet man solche Merkmale aber keineswegs mehr als genaue Abgrenzungskriterien, sondern eher als skalare, graduelle Größen, die zur Differenzierung unterschiedlicher Gesprächssituationen dienen. Sie werden als grundlegende Charakteristika der sogenannten konzeptionellen Mündlichkeit angesehen, die die gesprochene Sprache eben wegen der Bindung an solche Merkmale nicht mehr als eine bestimmte Varietät ansieht. Der Begriff konzeptionelle Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit, der von Koch/Oesterreicher (1985) in Anlehnung an Ludwig Söll geprägt wurde, zielt auf Aspekte der sprachlichen Variation, „die in der Forschung häufig unscharf als ‚Umgangssprache/Schriftsprache‘, ‚informell/formell‘, ‚Grade der Elaboriertheit‘ erfaßt werden“ (Koch/Oesterreicher, 1994, 587). Koch/Oesterreicher (1985, zuletzt 2007) unterscheiden zwischen konzeptioneller und medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit, indem sie neben der klaren und genauen medialen Abgrenzung der Realisierungsformen der Sprache eine zweite, weniger scharfe
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Trennung einführen. Mit deren Hilfe gelingt es ihnen einerseits, die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen gesprochener und geschriebener Sprache wenn nicht zu lösen, so doch zu institutionalisieren. Mündliche Sprache wird also nicht eindeutig und strikt von schriftlicher getrennt, vielmehr entstehen zwei Pole, die das gesamte Feld sprachlicher Kommunikation umspannen und die Eingliederung der einzelnen Gesprächs- bzw. Textsorten nach bestimmten Kriterien ermöglichen. So kann die methodisch schwer durchführbare Gegenüberstellung von geschriebener einerseits und gesprochener Sprache andererseits zugunsten des Vergleichs unterschiedlicher Textsorten aufgehoben werden (vgl. auch Hennig 2000, 108). Bezogen auf die optionale Weglassung von Subjekt- und Objektpronomina im Vorfeld eines finiten Satzes im heutigen Deutsch lässt sich festhalten, dass diese nur in sehr eingeschränkten Kontexten möglich ist: Am häufigsten sind solche Argument-Weglassungen im mündlichen informellen Diskurs belegt, der durch „kommunikative Nähe“ (Vertrautheit und hoher Bekanntheitsgrad der Kommunikationspartner, referenzielle Nähe usw.) gekennzeichnet ist (siehe Beispiele (1.7–1.10) aus der Einleitung). In den Textsorten mit höherem Grad der Offizialität wie „Beratungsgespräche im universitären Bereich“ sind Argument-Weglassungen zwar deutlich seltener, sind aber der gleichen Natur wie die bereits erwähnten, was schließlich Inhomogenität solcher Gespräche hinsichtlich des Grades „kommunikativer Nähe“ untermauert. (3.1) 186 BR: also- * ich hab das bisher mache diese 187 BR: bescheinigungen is ja so: amt des direktors das mach 188 BR: ich erst seit einer woche- * ø is mir also 189 BR: |nich be|kannt ja
[...] (Beleg aus dem IDS-Korpus BERATUNGSGESPRÄCHE, Diskurs: 1400.05 Transkript: magister-lehr2)
Außerdem finden sich solche Strukturen auch in einigen „konzeptionell mündlichen“ nicht an die Öffentlichkeit gerichteten Textsorten wie Privatbrief, E-Mail, Chat, Tagebuch oder Chronik, in denen die 1.SG. vom Leser eindeutig mit dem Autor assoziiert wird. (3.2) Sorry, ø-1.SG wollte eigentlich gleich antworten, aber dann ist wieder so viel dazwischen gekommen... (3.3) ø-1.PL Müssen dann halt kucken wie die Bahnen so fahren. (3.4) ø-2.SG hattest's mir ja erklärt ;-) ø-3SG finde ich absolut ok! (3.5) Wenn Du magst kann ich Dir ja auch mal das dazugehörige Buch ausleihen – ø-3.SG hat auch nicht so viel Seiten – allerdings brauch ich es die nächsten Tage noch. (3.6) Marcus hat die zwei Dinger gestern noch besorgt. ø-3.PL Haben pro Stück 12,90 gekostet. (Belege aus dem E-Mail-Korpus von Klug 2010)
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Eine morphologische Beschränkung für Subjekt-Weglassungen gibt es nicht. D. h., im Vorfeld können Subjektpronomina aller Personen und Numeri weggelassen werden, unabhängig davon, ob das Antezedens in der 3.SG/PL belebt oder unbelebt – wie in (3.5) – auftritt. (Hiermit sei auf Kapitel 1 dieses Aufsatzes hingewiesen, in dem die Distribution ausführlich beschrieben wurde.) Die Weglassung von Argumenten im Vorfeld ist kein Sprachwandelphänomen. Strukturen, die dies belegen, finden sich selbst im Althochdeutschen: (3.7) Gilóubist thu ... \ thiu minu wórt ellu? „ø sint, druhtin“ quad si, \ „fésti in mines hérzen brusti …“
(OTFRID III 24,33 f.)
‚Glaubst du an alle meine Worte? „(Sie) sind, Herr“, sprach sie, „fest in meinem Herzen“‘
In den älteren Sprachstufen des Deutschen (vgl. Beleg (3.8a) für das FNHD und Beleg (3.8b) für das frühe NHD) konnten Subjekte nicht nur im Vorfeld eines Matrix-Satzes, sondern auch im Mittelfeld weggelassen werden (vgl. dazu Held 1903). An (2.8.a) wird außerdem gezeigt, dass die Weglassung des Subjektes anderes als im heutigen Deutsch auch in Nebensatz-Strukturen vorkommt. (3.8) a. ich solt auf das haws vnd solt versueehen, ob ø ier kran vnd ander ir klainat mocht hinab zu ier bringen […] (KOTTANERIN, 13,13f) ‚ich sollte in das Haus und sollte versuchen, ob (ich) ihre Krone und ihre anderen Kleinodien zu ihr hinab zu bringen vermöchte‘ b. auch ginge ø zum tritten fihr deß obern schultzißen hauß
(GÜNTZER, f. 104 v.)
‚auch ginge (ich) zum dritten Mal zu dem Haus des oberen Schultheiß‘
Wie im älteren Deutschen können auch in einigen Dialekten Subjekte im Mittelfeld eines Matrixsatzes optional weggelassen werden (vgl. 3.9a). Ist die subordinierende Konjunktion dagegen wie das Verb flektiert, kann das pronominale Subjekt auch in einem Verbletztsatz fehlen, wie in (3.9b) gezeigt. (3.9) a. I glaub, morng sads ø wieder gsund. b. Wennsd ø af Minga kimsd.
(Belege zit. nach Weiß 1998: 125)
Solche Fälle wie in (3.7)–(3.9) stehen nicht im Mittelpunkt unserer Untersuchung, sie zeigen aber, dass das Phänomen gewisse historische Kontinuität aufweist (vgl. dazu Axel/ Weiß (2011), Volodina (2011)) und daher auch aus dieser Sicht ein lohnenswertes, bisher stark vernachlässigtes Forschungsdesiderat ist.
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4. Ein pragmatischer Analyseansatz Im Folgenden präsentieren wir einen rein pragmatischen Analyseansatz für das Phänomen der Weglassung semantisch notwendiger Argumente im Vorfeld deutscher Matrixsätze. Wir erklären unter anderem, • warum die Weglassungen nur im Vorfeld stattfinden können; • warum nur bestimmte unbetonte Pronomina weggelassen werden können; • warum die Weglassungen typischerweise nur am Turn-Anfang stattfinden können; • warum in Tagebüchern oder in tagebuchähnlichen Texten das Pronomen in der 1.SG/PL häufiger weggelassen werden kann; • warum in einigen Fällen indefinite Nominalphrasen nicht weggelassen werden können, obwohl ihre Weglassung aus dem Kontext rekonstruierbar wäre.
Wir werden dabei wie folgt vorgehen: Zunächst werden wir in 4.1 einige Begriffe einführen, die für die Analyse notwendig sind und zwar im Rahmen eines sogenannten Fragebaum-Modells (Leser, die mit der Theorie der QUD beispielsweise aus Roberts (1996) vertraut sind, können diesen Abschnitt überspringen.). Anschließend werden wir in 4.2 die Funktionsweise unseres Ansatzes an einigen Beispielen erklären und schließlich werden wir in 3.3 die noch offenen Aspekte der oben genannten Fragen diskutieren. Zunächst aber unsere These: (4.1) Ein unbetontes Pronomen kann genau dann weggelassen werden, a. b. c. d.
wenn es in einer direkten Antwort auf eine Frage vorkommt, so dass der Referent des Pronomens in der Frage als Topik vorkommt und in der Frage kein anderes Topik vorhanden ist und das wegzulassende Pronomen in der Antwort nicht in einer Fokusdomäne vorkommt.
Diese Beschreibung folgt nicht aus formalen Prinzipien der Pragmatik. Dies kann gar nicht anders sein, denn sonst müsste in allen Sprachen der Welt genau das Gleiche gelten, ändert sich doch von Sprache zu Sprache die Pragmatik nicht oder jedenfalls nicht in diesen Hinsichten. In der Analyse müssen daher auch syntaktische Besonderheiten des Deutschen eine Rolle spielen: Unser zentraler Punkt ist nicht, dass die Syntax bei den Weglassungen keine Rolle spielt, sondern dass das Prinzip, welches das heutige Deutsch zu grammatikalisieren scheint, gewissermaßen transparent auf allgemeinere pragmatische Prinzipien zurückführbar ist. Diese zwei allgemeinen pragmatischen Prinzipien sind in (4.2) und (4.3) festgehalten. (4.2)
Sei ökonomisch!
(4.3)
Vermeide Ambiguitäten!
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4.1. Das Fragebaum-Modell Denken wir uns zwei Personen, A und B, die miteinander reden wollen. Sie können damit ganz unterschiedliche Ziele verfolgen: A möchte B vielleicht beeindrucken, vielleicht möchte er von ihm etwas erreichen, er möchte ihn demütigen, loben etc. Aber außer in ganz seltenen Fällen hat sprachliche Kommunikation zumindest zusätzlich zu den anderen Zielen, die Menschen mit ihr verbinden, auch eine Informationsmaximierungsfunktion. Anders gesagt: A und B wollen durch die Kommunikation ihr Wissen erweitern. Eines der typischen Szenarien dabei ist, dass sie nicht nur an sich auf die Meinung des jeweils anderen neugierig sind, sondern zusätzlich ein Wissen maximieren wollen, das als gemeinsam gelten kann, sprich, sie wollen sich einigen. Das gemeinsame Wissen von zwei Personen in einer bestimmten Kommunikation modellieren wir zunächst als die Menge derjenigen Propositionen, die diese Personen in den Diskurs eingebracht haben und die von dem jeweils anderen akzeptiert wurden. Im Beispiel (4.4) teilt A mit, dass der Hund Hunger hat. B akzeptiert diese Aussage, was in erster Linie durch die Verwendung von ‚auch‘ sichtbar wird, das die Aussage von A quasi als Präsupposition akzeptiert, mithin wird die Aussage von A Teil des gemeinsamen Wissens. B teilt A zusätzlich mit, dass der Hund Durst hat, A akzeptiert diese Aussage nicht, also wird sie nicht Teil des gemeinsamen Wissens. A begründet dies damit, dass der Hund vor kurzem getrunken habe: In dieser Phase des Gesprächs wissen wir noch nicht, ob B das Gegenargument von A akzeptiert, wenn aber ja, dann würde dies und die Proposition, dass der Hund keinen Durst hat, Teil des gemeinsamen Wissens. (4.4)
A: Der Hund hat Hunger. B: Und Durst hat er auch. A: Nein, er hat doch vor kurzem was getrunken.
Eine Stufe abstrakter betrachtet ist Wissensmaximierung immer die Schließung von Wissenslücken – im konkreten Fall die Schließung von Lücken im gemeinsamen Wissen. Diese Lücken könnte man auch als offene Fragen auffassen. Daher können wir sagen, das Ziel menschlicher Kommunikation ist, offene Fragen zu beantworten. Zwar ist das für die Belange der vorliegenden Arbeit nicht weiter relevant, aber man kann der Auffassung sein, dass hinreichend abstrakt betrachtet das einzige Ziel menschlicher Kommunikation die Beantwortung von Fragen sei. Denn auch Befehle, Lob und andere sprachliche Handlungen können immer in propositionale Inhalte umgewandelt werden, die dann Fragen vom Typ ‚Was befiehlt A?‘ beantworten: A befiehlt, dass B schlafen geht. Die Besonderheit solcher Handlungen wäre, dass eine Einigung nicht erforderlich ist, sie machen sich quasi durch ihren Vollzug wahr. Gehen wir also von einem Diskursmodell aus, in dem jeder einzelne sprachliche Beitrag dem übergeordneten abstrakten Ziel des Diskurses, eine Frage zu beantworten, dient. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass dies für Aussagesätze trivialerweise wahr ist, aber ein einfaches Beispiel in (4.5) verdeutlicht, dass dies nicht der Fall ist. Die Frage in (4.5) erfordert möglicherweise eine sehr lange und komplizierte Antwort,
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die möglicherweise niemals vollständig beendet werden kann. Typischerweise muss man dafür einer gewissen Strategie folgen, wie dies beispielsweise in Nachrichtensendungen geschieht. Eine solche Strategie unterteilt die viel zu große Ausgangsfrage in Subthemen, die dann einfacher zu beantworten sind. Eine solche Strategie findet sich in (4.6) und wäre in Nachrichtensendungen oder in Zeitungen statt mit Fragen mit Rubriktiteln sichtbar gemacht. Wir nennen solche Strategien Fragebäume: (4.5) kann als der Stamm, wohingegen die Fragen in (4.6) als die Äste konzeptualisiert werden. (4.5)
Was geschah gestern in der Welt?
(4.6)
Was geschah in der Politik? Was geschah in der Innenpolitik? Was geschah in der Außenpolitik? Was geschah in Europa? Was geschah im Rest der Welt? Was geschah in der Wirtschaft? Was haben die Promis gemacht? Was geschah im Sport? Was geschah im Fußball? Was geschah bei der Leichtathletik-WM?
Die allgemeine Rolle von Fragen ist also die Strukturierung eines Diskursthemas und die allgemeine Rolle von Aussagen ist, nicht notwendig auf die allgemeine Frage des Diskurses direkt zu antworten, sondern auf die strukturierenden Sub-Fragen. Mehr noch: Man kann die These vertreten, dass jede einzelne Aussage eine Subfrage oder die Subfrage einer Subfrage (etc.) einer allgemeinen Frage direkt beantwortet. Unter einer direkten Antwort verstehen wir eine Antwort wie B aber nicht C in (4.7). Eine genauere Definition folgt. (4.7)
A: Wo ist Peter? B: Peter ist zu Hause. C: Ich habe ihn auf dem Markt gesehen.
Nun könnte eingewendet werden, dass in einem dialogisch aufgebauten Diskurs zwar Fragen vorkommen, aber es ist doch eindeutig nicht so, dass jede Aussage eine direkte Antwort auf eine Frage ist, und schon gar nicht ist sichtbar, dass die wenigen gestellten Fragen unmittelbare Subfragen vorher gestellter Fragen wären. Ein monologischer oder gar schriftlicher Text, wie etwa in einer Zeitung oder eine Nachrichtensendung scheint dem noch weniger gerecht zu werden. Die Antwort auf diese Frage, die in Fragebaumtheorien üblich ist, ist dass man zwischen sogenannten impliziten und expliziten Fragen unterscheiden muss. Jede Äußerung beantwortet sodann genau eine Frage direkt, aber manchmal ist die Frage implizit, sprich, man tut nur so, als ob sie da wäre. Für die „Existenz“ von impliziten Fragen gibt es starke grammatische Evidenz. Betrachten wir zunächst den Kontrast zwischen (4.8) und (4.9), wobei die Wörter in Großbuchstaben mit einem Fokusakzent versehen sind, sprich, sie tragen den Hauptakzent im Satz. Die entscheidende Beobachtung ist nun, dass die Antwort von B in (4.8) zwar
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als Antwort auf die Frage von A in (4.8) wohlgeformt ist, aber für die Frage in (4.9) als Antwort nicht akzeptabel ist. Ebenso ist die Antwort in (4.9) mit der Frage in (4.8) nicht kompatibel. Diese Generalisierung ist, dass eine fokussierte Konstituente in einem Aussagesatz dem Fragewort einer Frage entspricht, die der Satz beantwortet. (4.8)
A: Was hat Peter mit dem Hund getan? B: Peter hat den Hund GEFÜTTERT.
(4.9)
A: Wer hat den Hund gefüttert? B: PETER hat den Hund gefüttert.
Nun beobachten wir, dass die „Antwort“ von B in (4.8) auch ohne die Frage in (4.8) vorkommen kann, beispielsweise in einem Text wie (4.10). Im Text ist zwar keine explizite Frage vorhanden, wir können aber rekonstruieren, dass dasjenige, worüber der Sprecher oder Schreiber hier zwei Alternativen abwägt, allesamt Handlungen sind, die Peter dem Hund gegenüber hätte ausführen können. Dieses Abwägen von Alternativen setzt genau jenes Unwissen als Ausgangspunkt voraus, das wir abstrakt als offene Frage bezeichnet haben. In (4.10) ist also die offene Frage, die einer Antwort zugeführt wird, genau die gleiche wie in (4.8). Ein analoges Beispiel für (4.9) lässt sich leicht bilden, wie in (4.11) gezeigt. Die entscheidende Beobachtung ist nun, dass die zwei Sätze mit unterschiedlicher Betonung genauso wenig austauschbar sind wie in (4.8) und (4.9). Offene Fragen, die beantwortet werden, spielen bei der Markierung der Prosodie eine ähnliche Rolle, wie explizite, im Diskurs gestellte Fragen. (4.10) Es ist eine völlig falsche Annahme, dass Peter den Hund vergiftet hätte, er hat ihn GEFÜTTERT. Was ist daran bloß so schlimm? (4.11) Es ist eine völlig falsche Annahme, dass John den Hund gefüttert hätte. PETER hat den Hund gefüttert. John war gar nicht in der Stadt.
Wir sagen also in einer ersten Annäherung: Jeder Satz beantwortet genau eine Frage direkt, und diese Frage lässt sich so rekonstruieren, dass wir die fokussierte Konstituente mit einem Fragewort ersetzen. Ein denkbares Gegenargument ist, dass explizite Fragen oft indirekt beantwortet werden, genau so, wie dies in der Antwort von C in (4.7) zu sehen ist. In diesem Fall sagen wir aber, dass es sich um eine rhetorische Strategie handelt, die weitere implizite Sub-Fragen voraussetzt. Beispielsweise könnte man für (4.7) folgende Strategie – explizit in (4.12) – rekonstruieren (Dabei ist das implizite Material in Klammern.): (4.12) A: Wo ist Peter? A: (Weißt du, wo Peter jetzt ist?) C: ($ein) A: (Was weißt du über Peters Aufenthaltsort?) C: (Ich habe ihn gesehen) A: (Wo hast du ihn gesehen?) C: Ich habe ihn auf dem Markt gesehen.
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Diese Strategie entspringt aus zwei Annahmen, erstens, dass die implizite Frage, die die Aussage von C beantwortet, nach dem oben angegebenen Schema abzuleiten ist, und mithin ‚Wo hast ihn gesehen?‘ lauten kann, und zweitens aus der Annahme, dass alle Fragen, die in der Strategie vorkommen, Sub-Fragen der jeweiligen Ober-Frage sein müssen. Die Strategie ist deshalb nützlich, weil die impliziten Antworten auf die impliziten Fragen ebenfalls in den Diskurs eingehen und unmittelbar die Implikatur ergeben, dass C nicht weiß, wo Peter jetzt ist, was genau die richtige Interpretation seiner Antwort ist. Nachdem wir festgehalten haben, dass jede Äußerung in einem Diskurs entweder eine direkte Antwort auf eine explizite oder implizite Frage ist, oder aber eine Frage stellt, die eine Unter-Frage der impliziten oder expliziten aktuellen Frage ist, müssen wir das Schema revidieren, nach dem wir die Fragen rekonstruieren können, die Aussagesätze beantworten. Der Satz (4.13) kann mit der gleichen Betonung mehrere Fragen beantworten, wie in (4.14) gezeigt. (4.13) Peter arbeitet mit SCHWEREM GERÄT. (4.14) a. Womit arbeitet Peter? b. Was tut Peter? c. Was ist der Krach da draußen?
In der Literatur wird für dieses Phänomen von Fokusprojektion gesprochen. In Zimmermann/Onea (2011) wird argumentiert, dass man dies am besten als Unterspezifikation der Schnittstelle zwischen Prosodie und Fokus verstehen kann. Zwar ist nur die Präpositionalphrase betont, aber wenn die Aussage als Antwort auf (4.14b) gilt, dann ist der Fokus ‚arbeitet mit schwerem Gerät‘ und für die Frage (4.14c) ist der Fokus auf den ganzen Satz zu erweitern. Unser Schema muss also auf den Fokus und nicht nur auf die betonte Konstituente bezogen werden: Ersteres kann eine größere Konstituente sein. Im Weiteren werden wir statt von Fokusprojektion von Fokusdomänen sprechen, um einige weitere Aspekte mit zu erfassen, die aber für die vorliegende Diskussion irrelevant sind. Es gibt in der Literatur ziemlich gut erforschte Prinzipien für die Berechnung von Fokusdomänen, die uns hier nur in einer einzigen Hinsicht zu interessieren haben: Ein Topik ist niemals Teil einer Fokusdomäne. Der Begriff Topik ist dabei als dasjenige zu verstehen, worum es geht, und ist weitgehend mit dem traditionelleren Begriff Thema vergleichbar. Da wir davon ausgehen, dass jede Aussage eine Frage beantwortet, ist damit das Topik einer jeden Aussage – abstrakt betrachtet – die Frage selbst. Sie ist das, worum es für die konkrete Aussage geht. Der Topik-Begriff hat aber auch einen grammatischen Reflex: Und zwar kennen wir dies beispielsweise als Vor-Vorfeld-Besetzung, wie in (4.15) oder als diejenige Stelle im Mittelfeld, die unmittelbar vor den Satzadverbien steht, vgl. Frey (2004). (4.15) Der Peter, den habe ich schon lange nicht mehr gesehen. (4.16) Ich habe den Peter wahrscheinlich nie gesehen.
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Wir unterscheiden hier zwischen zwei Arten von Topiks: dem kontrastiven Topik und dem Satztopik.4 Diese Begriffe werden wir mit Verweis auf die Fragen definieren, die eine Aussage beantworten: Der Satztopik ist ein nichtfokussierter Teil der Frage, wohingegen der kontrastive Topik der fokussierte Teil einer Frage ist. Generell gilt, dass Vor-Vorfeld-Besetzungen kontrastive Topiks sind, wohingegen Topiks im Vorfeld oder im Mittelfeld sowohl kontrastive Topiks sein können als auch Satztopiks. Wir zeigen den Unterschied an den Sequenzen (4.17) und (4.18): In (4.17) ist ‚Peter‘ in der Frage nicht besonders akzentuiert. In der Antwort ist ‚Peter‘ auch nicht extra prosodisch hervorgehoben, ‚Peter‘ kommt aber sowohl in der Frage als auch in der Antwort vor, also handelt es sich um ein Topik. Eine Vor-Vorfeld-Besetzung durch ‚Peter‘ ist in diesem Zusammenhang pragmatisch nicht wohlgeformt. In (4.18) stattdessen haben wir eine „größere“ Frage, in der es um zwei Personen geht. Wenn nun die Antwort ein kontrastives Topik enthält (mit einer steigenden Intonation markiert), dann wird dadurch die Präsenz einer impliziten Zwischenfrage angedeutet, in der dieses Topik fokussiert ist. Das in der Frage fokussierte Topik deutet auf eine Entscheidungsfrage hin: ‚Von wem reden wir, von Peter oder Max?‘ Da nun durch die Verwendung des kontrastiven Topiks angedeutet wird, dass diese Entscheidungsfrage relevant ist, wird implizit angedeutet, dass für Max die Antwort, die für Peter gilt, nicht gilt. Diese Interpretation bekommen wir unmittelbar aus der rekonstruierten Fragebaumstruktur. Eine ähnliche Auslegung finden wir in Büring (2003). (4.17) A: Wo ist Peter? B: Peter ist zu Hause. C: ?Der Peter, der ist zu Hause. (4.18) A: Wo sind Peter und Max? A: (Von wem reden wir, von Peter oder von Max?) A: (Wo ist PETER?) B: Der Peter, der ist zu Hause. C: Peter ist zu Hause. A: (Wo ist MAX?) B: ($icht zu Hause.)
Also, ein kontrastives Topik deutet an, dass in der Frage das kontrastive Element fokussiert ist und mithin kein Topik sein kann. Damit fallen kontrastive Topiks nicht unter die These in (4.1). Stattdessen müssen wir noch herausfinden, was es heißt, in einer Frage Topik zu sein. Die Antwort erweist sich aber als simpel: In einer Frage ist etwas genau dann topikal, wenn es bereits in der Oberfrage, zu der die Frage eine Unterfrage ist, vorhanden war. Ausgenommen sind natürlich Fälle, in denen die entsprechende Konstituente fokussiert 4
Feingliedrigere Unterscheidungen wurden in der Literatur vorgeschlagen und erwiesen sich in der Diskussion als nützlich (Bayer 2001; Breindl 2008), aber in diesem Aufsatz können wir die ganze Vielfalt von Topiks nicht behandeln und überlassen die Erweiterung weiterer Forschung.
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ist. Dies sehen wir am Beispiel (4.19). In (4.19b) ist ‚Max‘ bzw. ‚er‘ deshalb topikal, weil es bereist unfokussiert in der Oberfrage vorkommt. (4.19) a. Was ist mit Max? b. Was hat er getan?
Wenn wir nun diese Begrifflichkeiten im Hinterkopf behalten, können wir im nächsten Abschnitt zeigen, wie unser Analyseansatz in (4.1) im Einzelnen funktioniert.
4.2. Wie die Analyse funktioniert Im Folgenden werden wir die zentralen Voraussagen unserer Analyse darstellen. Wir beginnen mit der Frage, warum Weglassungen von semantisch relevanten Argumenten im Deutschen nur in Matrixsätzen vorkommen können. Hierzu betrachten wir folgende zwei Beispiele: (4.20) A: Wo ist Peter? B: ø Geht nicht ans Telefon. (4.21) A: Warum ist Peter vereinsamt? B: Weil *(ø) geht nicht ans Telefon./ weil *(ø) nicht ans Telefon geht.
Unsere These ist, dass ein Pronomen genau dann weggelassen werden kann, wenn es bereits in der Frage, zu der der Satz, in dem es vorkommt, als Antwort fungiert, als Topik vorkommt (4.1a, b). Sowohl in (4.20) als auch in (4.21) ist dies offenbar der Fall. Natürlich muss man für (4.20) noch mitbedenken, dass die Antwort von B keine direkte Antwort auf die Frage von A ist, aber die rekonstruierten impliziten Fragen werden ‚Peter‘ nach wie vor als Topik haben, so dass die Bedingung erfüllt ist. Dennoch ist die Weglassung nur (4.20) akzeptabel. Der relevante Unterschied ist, dass in (4.21) die Weglassung in einem Nebensatz stattfindet. Die Erklärung für die Ungrammatikalität von Argument-Weglassungen in Nebensätzen ist folgende: Nebensätze können entweder keine Frage direkt beantworten (Klasse 1), wie beispielsweise da-, denn-, oder obwohl-Sätze, oder aber sie bilden die Antwort als ganze Fokusdomäne (Klasse 2)5. Für die Klasse 1 gilt, dass die Grundbedingung, dass die Konstituente bereits in der Frage, die der Satz direkt beantwortet, topikal sein muss, unmöglich erfüllt werden kann (4.2). Für die Klasse 2 gilt, dass Weglassungen in Fokusdomänen nicht möglich sind, wie in (4.1d) spezifiziert. Es ist einzusehen, dass für (4.20) dagegen sämtliche Bedingungen für eine mögliche Argument-Weglassung erfüllt sind: ‚Peter‘ ist in der Frage topikal (4.1b), da es in der Frage offenbar um Peter geht. Es handelt sich zudem um die einzige topikale Konstituente in der Frage (4.1c) und in der Antwort ist das weggelassene er nicht Teil der Fokusdomäne (4.1d). 5
Warum ist Peter glücklich? Weil/*da er verliebt ist.
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Die zweite Frage ist, warum die Weglassungen stets im Vorfeld stattfinden und nicht beispielsweise im Mittelfeld.6 Die Erklärung hierfür ist (wenig überraschend) eine Kombination syntaktischer und pragmatischer Faktoren: Schließlich gibt es das Vorfeld überhaupt nur in vergleichsweise wenigen Sprachen. Unsere Erklärung setzt eine einfache Annahme voraus: Im Deutschen werden Topiks in Matrixsätzen soweit wie möglich nach vorne bewegt, sprich: Es ist nicht möglich, dass das Vorfeld mit einem NichtTopik besetzt ist, im Mittelfeld dafür aber ein Topik steht. Dies sehen wir beispielsweise an (4.22), wo das expletive es auf keinen Fall ein Topik sein kann. (4.22a) ist zwar an sich akzeptabel, als Antwort auf (4.22a) ist (4.22b) aber stark markiert, weil es andeutet, dass es sich um eine Antwort auf eine andere Frage handelt. (4.22c) mit topikalem Vorfeld ist wesentlich besser. (Natürlich kann ‚bei der Hochzeit‘ auch weggelassen werden). (4.22) a. Was ist bei der Hochzeit passiert? b. #Es wurde bei der Hochzeit viel getanzt. c. [Bei der Hochzeit] wurde viel getanzt?
Wenn nun also im Mittelfeld nur dann ein Topik stehen kann, wenn auch im Vorfeld ein Topik steht, dann folgt daraus, dass sowohl das Topik aus dem Mittelfeld als auch das Topik im Vorfeld in der Frage vorgekommen sein muss, die der jeweilige Satz beantwortet. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder beide sind in der Frage selbst schon topikal, was die Bedingung verletzt, dass die weggelassene Konstituente in der Frage das einzige Topik sein muss (4.1c), oder aber eines der beiden ist in der Frage Teil der Fokusdomäne. In diesem Fall gilt für das Deutsche, dass das in der Frage vorkommende topikale Element im Deutschen im Vorfeld stehen muss – dieses Element kann weggelassen werden. Wenn in der Frage das zweite Element aber fokussiert ist, dann gilt der Fall, dass eine Weglassung im Vorfeld nicht möglich ist, wenn das Vor-Vorfeld besetzt ist. Davor wenden wir uns einer anderen Bemerkung zu: Im Deutschen sind Weglassungen im Vor-Vorfeld nicht möglich. Im Vor-Vorfeld haben wir kontrastive Topiks, die in der Frage selbst fokussiert sind, was wiederum die Bedingung (4.1b) verletzt, da wir wissen, dass fokussierte Elemente nicht topikal sein können. (Jedenfalls nicht in der hier verwendeten Terminologie.) Was noch erklärt werden muss, ist, warum im Deutschen keine Weglassungen im Vorfeld möglich sind, wenn das Vor-Vorfeld besetzt ist, wie an einem Korpusbeispiel in (4.23a) und in (4.23b, c) und (4.24) an konstruierten Beispielen gezeigt: (4.23) a. die eine Hose die/ *(ø) geht ja auch nich gleich kaputt. (Beleg, zit. nach ALLTAGSGESPRÄCHE (III), 75) b. *Der Peter, ø-3SG-NOM hat John gesehen. c. Der Peter, der hat John gesehen. 6
Sowohl im älteren Deutschen als auch in einigen Dialekten besteht die Möglichkeit der Subjektweglassung im Mittelfeld, was allgemein als pro-drop bezeichnet wird. Die Erweiterung unserer Analyse auf solche Fälle überlassen wir künftiger Forschung. Unsere Analyse bezieht sich ausschließlich auf den heutigen gesprochenen Standard.
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(4.24) Haben Peter und Max den John gesehen? a. *Der Peter, ø-3SG-AKK hat er gesehen. b. Der Peter, den hat er gesehen.
Die Erklärung hierfür ist wieder zweifach7: Entweder das Weggelassene bezeichnet den gleichen Referenten wie das kontrastive Vor-Vorfeld-Topik, wie in (4.23b, c) oder es bezieht sich auf einen anderen Referenten, wie in (4.24). Im ersten Fall ist trivial, weshalb die Weglassung unmöglich ist: Der Referent des Pronomens ist in der Frage, die der Satz beantwortet, notwendig fokussiert, mithin nicht topikal (verletzt also 4.1b) – dafür sorgt die Kontrastivität. Im zweiten Fall könnte man aber durchaus erwarten, dass eine Weglassung möglich ist. Es gibt aber eine von unserem pragmatischen Prinzip unabhängige Erklärung: Wenn ein kontrastives Topik im Deutschen vorkommt, dann kann im Vorfeld kein anderes Topik stehen. Im Vorfeld steht dann entweder das resumptive Pronomen, mit dem das kontrastive Topik wieder aufgenommen wird, oder irgendein anderes fokussiertes Element. Fokussierte Elemente aber können nicht weggelassen werden. Als nächstes wird in diesem Kapitel erklärt, warum Argument-Weglassungen typischerweise am Turn-Anfang stattfinden, warum also die Antwort D in (2.26), hier wiederholt als (4.25) nicht akzeptabel ist: (4.25) A: Ist Daniel zu Hause? B: Nein, ø-3SG ist einkaufen. C: ?Keine Ahnung, ø-3SG ist vielleicht einkaufen. D: *Wenn ich mir das gut überlege: ø-3SG ist einkaufen.
Dass im Deutschen generell Argument-Weglassungen nur am Turn-Anfang stattfinden können, ist keine allgemeingültige Regel. Es handelt sich eher um eine statistische Häufung. Diese statistische Häufung lässt sich damit erklären, dass die Rolle von expliziten und impliziten Fragen im Diskurs am Turn-Wechsel von besonderer Bedeutung ist. Wann jedoch ein Argument an einem Ort im Diskurs oder in einem Text, das nicht als Turn-Wechsel fungiert, nicht weggelassen werden kann, muss jeweils gesondert erklärt werden. Konkret gilt für die Antwort von D in (4.25), dass der durch einen wenn-Satz eingeleitete Matrixsatz niemals eine direkte Antwort auf eine Frage sein kann. Mithin ist (4.1a) verletzt. Denn laut (4.1a) kann ein unbetontes Pronomen genau dann weggelassen werden, wenn es in einer direkten Antwort auf eine Frage vorkommt. Die Diskursfunktion von wenn-Sätzen ist, neue Subfragen in den Diskurs einzuführen, die dann die direkte Beziehung zwischen der Antwort im Konsequens und der vorangegangenen Frage blockieren: Ein wenn-Satz deutet an, dass zunächst geklärt werden müsste, ob das Antezedens stimmt, und erst danach ob das Konsequens als Antwort aufgefasst werden kann. 7
Wir legen der nachfolgenden Erklärung eine solche syntaktische Analyse zugrunde, in der das Vorfeld typischerweise mit Topiks besetzt ist. Es gibt aber auch andere syntaktische Analysen, in denen Topiks nie im Vorfeld, sondern im Vor-Vorfeld stehen können, sodass das Vorfeld leer bleibt.
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Zuletzt wird eine Klasse von Beispielen diskutiert, die in Trutkowski (2011) zu finden sind. Trutkowski beobachtet zu Recht, dass (4.26a) grammatisch ist, während im selben Kontext (4.26b) ungrammatisch ist. Daraus schließt sie, dass die Weglassung von Personalpronomina in der 1.SG anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als die Weglassung von Personalpronomina in der 3.SG. (4.26) Hans und ich haben den Film schon gesehen. a. ø-1SG Komme deshalb später. b. *ø-3SG Kommt deshalb später.
Nach unserem Prinzip gilt: Da ‚Hans‘ und ‚ich‘ koordiniert sind, bilden sie gleichermaßen das Topik für die Frage, die der erste Satz beantwortet, beispielsweise: ‚Habt ihr – Hans und Du – den Film schon gesehen?‘. Der zweite Satz in (4.26a) beantwortet aber natürlich eine andere Frage, nämlich ‚Was folgt daraus in Bezug auf dich?‘ und (4.26b) versucht die Frage zu beantworten, was daraus in Bezug auf Hans folgt. Nun ist die Fragesequenz ‚Habt ihr – Hans und Du – den Film schon gesehen?‘ und ‚Was folgt daraus in Bezug auf dich?‘ aber eindeutig mit einem Topikwechsel verbunden (ebenso wie die Parallelsequenz): Es scheint, als wäre die zweite Frage eine Art Versuch, den Bogen zu einer älteren, übergeordneten Frage wiederaufzunehmen. Ein Topikwechsel garantiert aber, dass die neue Frage nicht an das alte Topik anschließt, mithin kann weder ‚Hans‘ noch ‚ich‘ in der aktuellen Frage topikal sein. Daraus folgt, dass qua Verletzung von (4.1b) sowohl (4.26a) als auch (4.26b) laut unserer Theorie als inakzeptabel gelten müssen. Und in der Tat, selbst wenn ‚Hans‘ allein als Topik vorkommt, wie in (4.27), ist der Diskurs inakzeptabel: (4.27) *Hans hat den Film schon gesehen. ø-3SG kommt deshalb später.
Wenn nun (4.26a) akzeptabel ist, so ist dies das Explanandum und nicht, dass (4.26b) inakzeptabel ist. Wir werden das Problem unter dem Begriff Diary-Drop im nächsten Abschnitt diskutieren. An dieser Stelle fassen wir zusammen, dass wir in den Beispielen oben alle relevanten Komponenten unserer Analyse aufgezeigt haben. Wir wollen diesen Abschnitt mit einer Erklärung abschließen, wie das in (4.1) angegebene Prinzip aus den allgemeinen pragmatischen Prinzipien (4.2) und (4.3) folgt. Unsere These ist, dass die Weglassung von Argumenten an sich eine ökonomische Lösung ist: Nicht zu sprechen ist immer ökonomischer als zu sprechen. Die Elemente unserer Theorie in (4.1) stellen eher sicher, dass dadurch keine Ambiguitäten entstehen: a) Dadurch, dass das weggelassene Element das einzige Topik in der Frage ist, wird eine maximale und konkurrenzlose mentale Aktivierung gewährleistet. b) Dadurch, dass das Wegzulassende nicht Element einer Fokusdomäne ist, wird sichergestellt, dass im Diskurs keine Alternativen zu diesem Element in Frage kommen. Mithin ist die mögliche Ambiguität stark reduziert.
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4.3. Weitere Aspekte In diesem finalen Abschnitt werden zwei weitere Phänomene diskutiert, die wir bisher nur angedeutet haben, und zwar Diary-Drop und die Unmöglichkeit von Weglassungen von bestimmten vollen indefiniten Nominalphrasen. Zunächst wenden wir uns dem Diary-Drop zu. In tagebuchartigen Texten, kann das Subjekt in der 1.SG viel häufiger und scheinbar nach anderen Prinzipien weggelassen werden. Dies gilt beispielsweise sogar für das Englische, obwohl im Englischen Argumente des Verbs viel seltener weggelassen werden können als im Deutschen. Das entscheidende Merkmal von Diary-Drop ist, dass es ausschließlich Subjekte betrifft, während die meisten anderen Weglassungen, von denen hier die Rede war, auch für Objekte und andere semantisch notwendige Argumente gelten. Dass es sich in (4.26a) um eine Instanz von Diary-Drop handelt, ist aufgrund dieses Merkmals leicht gezeigt. In (4.28) haben wir das wegzulassende Pronomen mit einem Objektpronomen ersetzt. Die Weglassung ist völlig ungrammatisch. Damit zeigen wir, dass es sich hier nicht um die klassische topikalitätsbasierte Weglassung handelt, die wir bisher untersucht haben. (4.28) Hans und ich haben den Film schon gesehen. * ø-1.SG-AKK hat deshalb John nicht eingeladen.
Diary-Drop folgt aber scheinbar nicht demselben pragmatischen Prinzip in (4.1), denn das Prinzip sagte für (4.26b) Ungrammatikalität voraus, das Beispiel (4.26a) ist jedoch akzeptabel. In der Tat ist aber Diary-Drop durchaus mit dem Prinzip vereinbar. Die Annahme, die wir dazu brauchen ist diese: Diary-Drop setzt den Mangel eines Turnwechsels voraus. D. h., es handelt sich um einen (kurzen oder langen) Text bzw. Monolog, in dem der Sprecher über sich redet. Die Oberfrage eines solchen Textes kann unterschiedlich sein: ‚Was habe ich getan?‘, ‚Was habe ich gedacht?‘, ‚Was habe ich erlebt?‘, ‚Wo war ich?‘ etc. Wir nehmen nun an, dass solche Texte in kurze Segmente strukturiert sind (typischerweise von einer Äußerung oder einem Absatz) und diesen Segmenten jeweils eine Frage beantwortet wird, die ein einziges Topik hat, und zwar den Sprecher. Natürlich kann es sein, dass innerhalb des Segmentes Sub-Fragen entstehen, die dann weitere Topiks haben, aber am Anfang eines solchen Segmentes erwarten wir deshalb die Möglichkeit der Weglassung des ich-Pronomens. In Teilen dieser Segmente, wo weitere Topiks auftauchen, ist die Weglassung dann entsprechend blockiert. Dies führt zu zwei Voraussagen: Diary-Drop geschieht niemals in Nebensätzen, und Diary-Drop geschieht niemals in Segmenten, in denen es explizit um etwas geht, das nicht der Sprecher, seine Handlung oder seine Gedanken sind. In (4.29) beispielsweise sehen wir einen solchen Fall.8 8
In der Interpretation von (4.29), wobei der letzte Satz das neue Segment anfängt und es sich nicht mehr um John, sondern um die Eindrücke des Sprechers handelt, ist die Weglassung des Pronomens im Vorfeld akzeptabel. Diese zwei Interpretationen auseinander zu halten ist schwierig und daher muss der Kontrast experimentell überprüft werden, was wir der künftigen Forschung überlassen wollen.
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(4.29) Ich habe gestern John getroffen. John, der ist ein Baum von einem Mann. Er kann alleine einen Ochsen umbringen. *ø-1.SG habe nie einen größeren Mann gesehen.
Zum Vergleich die Erklärung für das Beispiel in (4.26a), dass anders als (4.29) in unserer Interpretation akzeptabel ist: Durch den Adverbkonnektor deshalb wird ein neues Segment angefangen, in dem es um den Sprecher geht und um nichts anderes. Als zweites Phänomen möchten wir hier noch, wie in Abschnitt 2 angekündigt, die Inakzeptabilität des Beispiels (2.9) als Antwort auf die Frage in (2.8) erklären. Wir wiederholen das relevante Beispiel als (4.30). (4.30) A: Wer hat einen Sprachwissenschaftler gesehen? C: *(Einen) hat Jochen gesehen.
Dies ist ein Fall, in dem eine indefinite Nominalphrase nicht-spezifisch verwendet wird. In der Forschungsliteratur wurde überzeugend gezeigt, dass nicht-spezifische indefinite Nominalphrasen niemals Topiks sein können, vgl. Endriss 2009. Daraus folgt aber, dass ihre Weglassung dem Prinzip (4.1b) widerspricht – eine nicht-spezifische Verwendung von indefiniten Nominalphrasen kann auch in einer Frage kein Topik sein. Wir werden hier die Erklärung, weshalb nicht-spezifische indefinite Nominalphrasen, ob pronominal oder durch volle Nominalphrasen ausgedrückt, nicht topikal sein können, nicht im Detail diskutieren, wichtig ist nur, dass dies unmittelbar die Unmöglichkeit ihrer Weglassung erklärt. Daraus folgt aber auch, dass die Generalisierung, dass nur Pronomina weggelassen werden können, zwar gilt, unser Prinzip (4.1) basiert aber nicht darauf: Es verhindert auch andere Weglassungsphänomene, die nicht gegen das übergeordnete Prinzip (4.3) verstoßen: Vermeide Ambiguität!
5. Zusammenfassung Das Phänomen der Argument-Weglassung im Deutschen, das wir hier in einigen Details untersucht haben, ist hiermit noch lange nicht erschöpfend analysiert. Sowohl historisch als auch synchron verbleiben Lücken, die vor allem tiefergehende empirische Analysen erfordern. Beispielsweise müssen eine Reihe von Daten nicht nur korpusbasiert, sondern auch experimentell validiert werden. Zudem müssen die Weglassungen von Argumenten in den unterschiedlichen Sprachstufen der deutschen Sprachgeschichte tiefergehend untersucht werden, und ebenso in Dialekten. In diesem Aufsatz haben wir versucht, eher einen theoretischen Punkt zu vertreten: Die pragmatische Dimension von Argument-Weglassungen im Deutschen wurde weitgehend ignoriert. Die Forschungsliteratur sprach zwar von „Topik-Drop“ (vgl. Fries 1988), es war aber immer schon klar, dass Topikalität alleine für eine Argument-Weglassung nicht ausreicht – die weiteren pragmatischen Puzzlestücke wurden nichtsdestoweniger häufig ignoriert. Unser Beitrag zeigt, dass die systematische Weglassung von
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semantisch notwendigen Argumenten im Deutschen stärker als bisher vermutet mit pragmatischen Prinzipien zusammenhängt. Wir haben hier einen konkreten Vorschlag unterbreitet, wie dieser Zusammenhang im Einzelnen aussehen kann. Eine Reihe von Fragen ist aber noch offen. So muss beispielsweise diskutiert werden, wie sich unsere pragmatische Erklärung zur Weglassung semantisch nicht notwendiger Argumente und Adjunkte verhält, ob und wie sie sich auf andere Sprachen übertragen lässt. Zudem müsste in einer größeren Korpusstudie die Validität unserer These überprüft werden.
6. Zitierte Literatur 6.1. Quellen ALLTAGSGESPRÄCHE = Grundstrukturen: Freiburger Korpus; Texte gesprochener deutscher Standardsprache I, II, III. Erarbeitet vom Institut für deutsche Sprache. Forschungsstelle Freiburg im Breisgau. (= Heutiges Deutsch I, 1 1971; II, 2 1974; III, 3 1975). München. GÜNTZER = Güntzer, Augustin (1657/2002): Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert. Ed. und komm. v. Fabian Brändle/Dominik Sieber. Unter Mitarbeit v. Roland E. Hofer und Monika Landert-Scheuber, Köln/Weimar/Wien. KOTTANERIN = Kottanerin, Helene: Denkwürdigkeiten, Wien 1445–1452. Quelle: Text 113: Bonner Korpus URL: http://www.korpora.org/Fnhd/FnhdC.HTML/113.html OTFRID = Otfrids Evangelienbuch, herausgegeben von Oskar Erdmann. Sechste Auflage besorgt von Ludwig Wolff. Tübingen 1973 (Altdeutsche Textbibliothek; Nr. 49), 1–270. URL: http://titus.unifrankfurt.de/texte/etcs/germ/ahd/otfrid/otfrit.htm SMALLTALK = Maurer, Silke/Reinhold Schmitt (1994): Small talk, Klatsch und aggressive Spiele: ein Textband zum kommunikativen Tagesgeschehen in einem Kiosk. Tübingen.
6.2. Sekundärliteratur Axel, Katrin/Helmut Weiß (2011): Pro-drop in the History of German. From Old High German to the modern dialects. In: Null pronouns. Hrsg. v. Peter Gallmann/Melanie Wratil: Berlin/New York, 21–52. Bayer, Josef (2001): Asymmetry in Emphatic Topicalization. In: Audiatur Vox Sapientiae. Hrsg. v. Caroline Féry/Wolfgang Sternefeld. Berlin, 15–47. Breindl, Eva (2008): Die Brigitte nun kann der Hans nicht ausstehen. Gebundene Topiks im Deutschen. In: Erkenntnisse vom Rande. Zur Interaktion von Prosodie, Informationsstruktur, Syntax und Bedeutung. Zugleich Festschrift für Hans Altmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Eva Breindl/ Maria Thurmair. Deutsche Sprache 01/2008, 27–49. Büring, Daniel (2003): On D-trees, beans, and B-accents. In: Linguistics and Philosophy 26, 511–545. Cardinaletti, Anna (1990): Subject/Object Asymmetries in German Null-Topic Constructions and the Status of SpecCP. In: Grammar in Progress. Hrsg. v. Joan Mascaró/Marina Nespor. Dordrecht, 75–84.
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Am Anfang war die Lücke
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Anna Volodina / EdgarOnea
TILMANN WALTER
Der Sexualwortschatz im Frühneuhochdeutschen
1. Gang der Untersuchung 2. Theologische Texte 3. Dichtung 4. Medizinische Fachprosa 5. Bezeichnungen für den Geschlechtsverkehr 6. Schluss 7. Zitierte Literatur
Es scheint an dieser Stelle überflüssig, die enorme sprach- und kulturwissenschaftliche Bedeutung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs (FWb) nochmals hervorzuheben, das von Oskar Reichmann mitinitiiert, in der Exzerptionsphase verantwortlich geleitet und über weite Strecken eigenhändig bearbeitet wurde. Erwähnung verdient aber, dass die Exzerptionsarbeiten für das FWb den Mitarbeitern auch Gelegenheit für lexikologische Forschungsarbeiten geboten haben. So konnte der Verfasser dieses Beitrags seine Zeit als geprüfte Hilfskraft für die Abfassung seiner Dissertation über frühneuzeitliche Sexualdiskurse nutzen. Die Bedingungen in der Arbeitsstelle des FWb waren für ein solches Unternehmen vorbildlich: Jederzeit stand leicht greifbar ein umfängliches und ausgewogenes Korpus aus zeitgenössischen Drucken und modernen Handschrifteneditionen zur Verfügung. Die Exzerptionstätigkeit ermöglichte eine extensive Quellenlektüre und bot dadurch Gelegenheit, in zahlreichen höchst unterschiedlichen und oft abgelegenen Texten an unerwarteter Stelle Zufallsfunde zu machen. Zu den eher unglücklichen Umständen der Veröffentlichung meiner Dissertation, die Oskar Reichmann im Rahmen der Reihe Studia Linguistica Germanica ermöglicht hat, gehörte es, dass ihr Verfasser nicht mehr den langen Atem aufbrachte, das sehr ausführliche Kapitel über den frühneuhochdeutschen Sexualwortschatz mit über 500 Fussnoten für den Druck einzurichten. (Auch das Lektorat befürwortete seinerzeit diese Kürzungsmaßnahme.) Dieses Desiderat bietet freilich die willkommene Gelegenheit, den Jubilar zu ehren, indem dies mit dem vorliegenden Beitrag nachgeholt wird. Während die kultur- und sozialhistorische Erforschung der Geschichte der Sexualität seither einen un-
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Tilmann Walter
erwarteten Aufschwung erlebt hat1, ist die systematische Untersuchung des frühneuzeitlichen Sexualwortschatzes noch immer in den Anfängen begriffen.2
1. Gang der Untersuchung Die folgende Untersuchung des frühneuhochdeutschen Wortfeldes zur Benennung sachlicher Zusammenhänge, die heute als „Sexualität“ bezeichnet werden, geht von den Grundüberlegungen meiner 1998 erschienenen Dissertation aus3: Als in geistes- und sozialhistorischer Hinsicht bedeutsamster Diskurs, im Rahmen dessen Aussagen zu Fragen der Gestaltung der Sexualität getroffen wurden, muss im christlichen Europa die spätmittelalterliche Theologie gelten. Vertreter der Kirche nahmen für sich in Anspruch, mit uneingeschränkter Autorität normative Urteile über das Sexualleben von Christen fällen zu können.4 Vordergründig wurde ihnen diese Autorität auch kaum je abgesprochen. Die Deutungsmacht der Theologen hatte grundsätzlich auch Bestand, als sich die Vorkämpfer der Reformation in Fragen der Ehe anders zu diesem Thema äußerten. Wie in meiner Dissertation die eingehende Betrachtung der Inhalte zweier weiterer Diskurse – nämlich von medizinischer Fachprosa und Werken der Dichtung – gezeigt hat, wurden dort Inhalte und implizite moralische Botschaften formuliert, die mit der pastoraltheologischen Verkündigung keineswegs deckungsgleich waren. Beispielsweise galt in der medizinischen Wissensliteratur, die auf dem geistigen Fundament des Hippokratismus aufbaute, der sexuelle Verzicht, den die Kirche als in möglichst vielen Fällen einzuhaltende Norm propagierte, als gesundheitlich schädlich: Ohne sexuelle Betätigung, die das Ausführen schlechter Säfte aus dem Körper bewirken sollte, müsse ein erwachsener Mensch sterben, da die flüssigen Stoffe andernfalls im Körper verdürben und ihn vergifteten.5 (Zu den Besonderheiten der Überlieferung des antiken Wissens im monastischen Kontext gehörte es, dass dieser manifeste Widerspruch zu moral1
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Verwiesen sei etwa auf Borris/Rousseau 2007; Bruns/Walter 2004; Clark 2008; Classen 2008; Crawford 2007; Godard 2003; Hergemöller 22000; Karras 2005; Lochrie/McCracken/Schultz 1997; Nardizzi/Guy-Bray/Stockton 2009; O’Donnell/O’Rourke 2006; Puff 2003; Sautman/Sheingorn 2001; Schnell 2002. In ihrem Materialreichtum unübertroffen ist die ältere Arbeit von Kratz 1949; vgl. weiterhin Beutin 1990a, 106–116; 1990b; Bosselmann-Cyran 1997; Filzeck 1933; Gloning 2003, 168–171; Heidemann 1991; Hoven 1978, 328–342; Melzer 1932; Müller 1988; Radtke 1990. Walter 1998. Den beherrschenden Einfluss eines bestimmten kulturellen Zusammenhangs auf das Lexikon bezeichnet Gloning 2003 als „Organisation“ eines historischen Wortschatzes. Er führt zu kulturspezifischen – oder genauer: kulturhistorisch spezifischen – Formen lexikalischer Gebrauchsregeln und unterliegt dem historischen Wandel: vgl. übereinstimmend ebd., 35, 115 f., 125–130. Diesen sozial und kulturell bedingten Wandel wie Gloning mit der biologischen Metapher der „Evolution“ zu benennen, erscheint mir dagegen fragwürdig – und misst man Konzepten biologischer Evolution, wie sie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bestehen, inhaltlich Bedeutung zu, sogar irreführend. Vgl. dazu Crawford 2007, 100–142; Jacquart/Thomasset 1985.
Der Sexualwortschatz im Frühneuhochdeutschen
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theologischen Vorstellungen sogar innerhalb der Werke einzelner mittelalterlicher Autoren nie aufgelöst wurde.) Auch in der Dichtung, von der angenommen werden kann, dass sie in höherem Maße als Schriften aus der Feder von Theologen Einstellungen gewöhnlicher Christen widerspiegelt6, erscheint die sexuelle Betätigung oft als unverzichtbar. Vor allem die Schwankliteratur berichtet von sozialen Zusammenhängen, in denen die vor- oder außereheliche „Buhlschaft“ als ein durch interne Normen strukturiertes, aber – im Widerspruch zur religiösen Norm – eher unproblematisches alltägliches Verhalten empfunden wurde. Die im medizinischen und literarischen Diskurs implizit oder explizit vertretenen Normen standen somit im Widerspruch zu den theologischen Festlegungen, ohne dass dieser inhaltliche Widerspruch in den allermeisten Fällen als solcher hervorgehoben worden wäre. Ausgehend von diesen kurz gefassten Vorüberlegungen soll im weiteren Verlauf der Untersuchung zunächst der Wortschatz betrachtet werden, den katholische und protestantische Theologen für sexuelle Zusammenhänge verwenden (2). Danach wird der lexikalische Gebrauch in der Dichtung (3) und der medizinischen Wissensliteratur (4) dazu in Beziehung gesetzt. Aus allen drei Textsorten werden im nächsten Abschnitt (5) Bezeichnungen für den Geschlechtsverkehr zusammengetragen. Textgrundlage für die Analyse ist ein Korpus aus gedruckten Werken sowie modernen Editionen von Handschriften, das mit dem Beginn des Druckzeitalters einsetzt und bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts reicht: Von den 72 sehr unterschiedlich langen Quellentexten fallen 12 ins 15. Jahrhundert, 59 ins 16. Jahrhundert und einer in beide Jahrhunderte. 29 davon sind der Theologie, 24 der Dichtung und 19 der Medizin zuzuordnen. Hinsichtlich der Textsorte lassen sich spezifizieren: Neun Ehepredigten oder Ehedidaxen, acht proreformatorische und fünf katholische Streitschriften, sechs Schwanksammlungen, sechs Werke zur Frauenheilkunde und Geburtshilfe, fünf katholische und vier protestantische Katechismen, vier Fastnachtspiele oder deren Sammlungen, vier Gesundheitsregimen, drei Abhandlungen zur wundärztlichen Behandlung (auch der Syphilis) sowie drei Werke aus dem Bereich der Versepik.7 Andere Textsorten (u. a. Kräuterbücher, Anatomien, Lied- und Sprichwörtersammlungen, Chroniken) sind mit einem oder zwei Exemplaren vertreten. Mein Vorgehen bei der Wortschatzanalyse, das hier nicht näher erläutert werden soll, stützt sich auf die grundlegenden methodischen Überlegungen Oskar Reichmanns zu Lexikologie und Lexikographie.8 In den bisherigen Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Sprache über sexuelle Zusammenhänge hat vor allem die stark ausgeprägte Metaphorik Aufmerksamkeit gefunden. Deshalb soll im fünften Abschnitt meines Beitrags auch die Frage der Bildhaftigkeit des frühneuhochdeutschen Sexualwortschatzes näher in den Blick genommen worden. Diese Betrachtung leitet über zu abschließenden Über6 7
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Vgl. Röhrich 1987; Schaefer 1994; Wenzel 1995. Für Vorschläge zu einer Gliederung frühneuzeitlicher Textsorten vgl. Hoffmann/Wetter 21987, XVIII f.; Reichmann/Wegera 1988, IX–XII. Vgl. Reichmann 1976; 1983; 1986; 1989; Goebel/Lemberg/Reichmann 1995.
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Tilmann Walter
legungen (6) hinsichtlich des weiteren Fortgangs der Sprachgeschichte für den Gegenstandsbereich Sexualität.
2. Theologische Texte Die christliche Theologie hat in dem bewussten Bestreben, ein geistig geschlossenes Deutungssystem bereit zu stellen und auf dieser Grundlage eine durchsetzungsfähige pastorale Verkündigung zu ermöglichen, eindeutige Begriffe zum Zusammenhang von Sexualität und Sünde entwickelt9, von denen ausgehend sich im folgenden die Unterschiede im literarischen und medizinischen Sprachgebrauch aufzeigen lassen. Für die lexikologische Analyse sind die systematisch argumentierenden und das Wortfeld semantisch strukturierenden katechetischen Texte des Spätmittelalters von besonderer Bedeutung: Definitionen und Attributionen des Substantivs unkeusche oder unkeuschheit mit seinen Synonymen, Hyponymen, Hyperonymen oder Antonymen bilden dabei als sprachliche Matrix den gedanklichen Ausgangspunkt, von dem ausgehend sich die positiven und negativen Bewertungen der Sexualität in anderen Diskursen analytisch – im Zusammenhang der frühneuzeitlichen Mentalitätsgeschichte aber auch mit empirischer Berechtigung10 – sinnvoll aufzeigen lassen. So kann das Substantiv unkeuschheit als zentraler Begriff der christlichen Vorstellungswelt über Sexualität am Ausgang des Mittelalters verstanden werden: In der katholischen Sündenlehre wird die unkeuschheit als eine der sieben Todsünden bestimmt. Hyperonym oder in der Bedeutung übergeordnet sind die Ausdrücke sünde oder todsünde11, untugend12 und laster13. Synonym zu unkeuschheit werden im Kontext katechetischer Texte die Substantive geilheit14, unlauterkeit15, unreinigkeit16 und unsaubrigkeit17 gebraucht. In ähnlicher Bedeutung, aber ohne den Charakter eines feststehenden
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Vgl. dazu Bleibtreu-Ehrenberg 1970; Brown 1988; Brundage 1987; ders. 1993; Bullough/Brundage 1996; Cancik 1976/1988; Doherty 1966; Flandrin 1986; Lutterbach 1999; Meeks 1993; Payer 1993. Vgl. Hermanns 1995; weiterhin Beutin 1993; Dinzelbacher 1986; Peters 1987; Thum 1986. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 167, 223; auch belegt bei Luther 1522/1907, 292; Thoma 2 2009, 150. Von Alveldt 1524/1926, 29; Dietenberger 1537/1881, 73. Von Alveldt 1524/1926, 29; Grosser Preisz 1521/21863, 90. Gengenbach ˹vor 1517/1856˺, 169. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 223, 271. Nach Albrecht von Eyb (1472/1982, [46v]) wird der Mensch „empfangen in vnlawterkeit […und] geboren in trawern vnd schmertzen“. In der Rezeptliteratur sollte eine Zubereitung dazu dienen, „Zu Er wecken die vnlautrikeit der vnkeuschheit“ (Kruse 1996, 342). Dietenberger 1537/1881, 52, 54; Gropper 1557/1881, 271; Helding 1557/1881, 389; von Maltiz 1542/ 1881, 224; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 193. Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 169; unsauberkeit später bei Mathesius 1567/1897, 33.
Der Sexualwortschatz im Frühneuhochdeutschen
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Terminus technicus erscheinen weiterhin bösheit 18, unzucht 19, wollust 20 und Fügungen wie fleischlich begierd 21, fleischlich gelust 22 und leiblich lust 23. In der medizinischen Wissensliteratur ist zudem das zu unkeuschheit gebildete Verb unkeuschen24 (›koitieren‹) belegt. Als Antonym zu unkeuschheit wird in Katechismen das Substantiv reinheit oder reinigkeit 25 gebraucht; reinheit oder reinigkeit kann gelobt oder zerstört werden26. Stets schwingt bei diesem bildhaften Sprachgebrauch die Bezugsgröße ›körperliche Reinlichkeit‹ mit, weshalb im Kontext auch weitere Ausdrücke aus diesem Wortfeld zur Beschreibung sexueller Gegenstände dienen: So bezeichnen die Fügungen lauter lieb27 (als Gegensatz zur gemaliget lieb28), unsauberkeit29, unreine oder unlautere träume30, unbemakelter leib31, jemandes fleisch verunreinen32 sexuelle Empfindungen oder Verhaltensweisen, durch die jemand seine seele verunreinen33 könne. Auch Martin Luther spricht später von unreinen flüssen34, die den menschlichen Geschlechtsteilen entsprin18
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Bei Albrecht von Eyb (1472/1982, [10v]) erscheinen als Synonyme: „poßheit[,] unkeusch und wollust“. Bei Marcus von Weida (1487/1972, 20) erscheint der Ausdruck unzucht offenbar in dieser weiten Bedeutung: „Darauß ehbrechrey vnd ander swere sünden der vnzucht, an alle schande obyr hant nehmen“. Nach Loetz (2009, 564) hat unzucht die Bedeutung von ›außerehelichem Geschlechtsverkehr‹ überhaupt. Cochlaeus 1582, 300; Gengenbach 1521/1856, 141; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 169; Helding 1557/ 1881, 389; von Maltiz 1542/1881, 223; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 168. Die Bedeutung des Wortes wollust kann schwanken. Oft ist unklar, ob ein ›real vollzogener Geschlechtsakt‹ oder lediglich ›sexuelle Gedanken‹ gemeint sind: siehe die Belege bei Albrecht von Eyb 1472/1982, [10v], und Johann Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 169. Wollust kann sich auch auf jegliches irdische Vergnügen (wie Zechen, Jagen oder Spazierengehen) beziehen: siehe Belege bei Albrecht von Eyb 1472/1982, [15v] f.; Lindener 1558/1883, 100; Murner 1519/1931, 89 f.; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 168. Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 169; weiterhin belegt sind leiblich begier: Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 208; unrein begier: ebd., 223; begierde unziemliches wollusts: Helding 1557/1881, 389 und begierden zur wollust des fleisches: von Maltiz 1542/1881, 223. Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 192; von Maltiz 1542/1881, 224; weitere Belege im FWb 6, 790 f. Belegt ist auch frucht des fleisches: von Maltiz 1542/1881, 225. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 226; belegt ist auch bös lust: Dietenberger 1537/1881, 85. Konrad von Eichstätt 1523/1965, [BIIIIr]; Konrad von Megenberg 1475/21971, 124, 162 u. ö. Marcus von Weida 1487/1972, 15; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 224. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 224; vgl. dazu Angenendt 1993; Gloning 2003, 168 f.; Lutterbach 1999, 234–267. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 224; ähnlich bei Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 167. Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 242. Ebd., 169. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 193. Von Maltiz 1542/1881, 226 f. Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 17). Ebd., 192. Luther 1522/1907, 293.
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gen, wohingegen der lutherische Theologe Johannes Mathesius (1505–1565) die Metapher gegen die Altgläubigen ins Feld führt, wenn er die „vnsauberkeit der schlammigen Hurengeister“ im katholischen Klerus beklagt.35 Synonyme zu reinheit oder reinigkeit – mit der besonderen Nuance der spirituell bedeutsamen asexuellen Qualität einer Person – sind in katholischen Texten jungfrauschaft 36, magdtum37 und stand der unschuld 38 sowie – dezidiert im Hinblick auf die katholische Geistlichkeit – der zölibat 39. Johannes Pauli (um 1455–zw. 1530 und 1533) schreibt sogar explizit von drei Priestern, die noch jungfrauen40 waren. In der Übersetzung von Michael Heldings (1506–1561) katholischem Katechismus wird exemplifiziert, es sei sündhaft, „wann jemandt, nach gethaner gelübde keuschheyt zu erhalten, unreynigkeyt wircket, oder Einer die keuschheit nimpt, welche ewige Jungfrawschafft durch gelübde-sprechen verheissen hat“.41 Der Status der priesterlichen Weihen und der Keuschheitsgelübde galt im Hinblick auf die Bewertung des Vergehens als bedeutsam, sie zu verletzten erschwerte die Sünde. Als Terminus technicus für das zölibatäre Leben erscheint jungfrauschaft und jungfraustand 42 noch bei Luther, der den Zölibat als Theologe freilich ablehnte. Hyponym oder in der Bedeutung untergeordnet werden in den katholischen Sündenlehren zu unkeuschheit folgende Begriffe gebraucht: vermaligung43 (wohl: ›Selbstbefriedigung‹), hurerei44, ledige unkeusche45 oder unzucht46 (alle drei Wörter bezeichnen sexuelle Handlungen unter Unverheirateten), schänden47 (›notzüchtigen ‚vergewaltigen‹), schwächen48 oder jungfräuliche zerstörung49 (›Verführung einer unbescholtenen Frau 35 36 37 38 39
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Mathesius 1567/1897, 33. Von Alveldt 1524/1926, 46; Cochlaeus 1582, 163; Gropper 1557/1881, 271; Pauli 1522/1924, 55. Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 17). Marcus von Weida 1487/1972, 15. Cochlaeus 1582, 167; Gropper 1557/1881, 271. Denotiert wird mit diesem Lehnwort nicht der spirituelle Status, der auch Jungfrauen und Witwen zukam, sondern die rechtlich bindenden Keuschheitsgelübde: Cochlaeus verwendet als Synonyme auch enthaltung: Cochlaeus 1582, 166; jungfrauschaft: ebd., 163 und keuschheit: ebd., 162. Bei Marcus von Weida (1487/1972, 15) beziehen sich reinigkeit, keuschheit und stand der unschuld dagegen auf sämtliche ehelos lebenden Menschen. Pauli 1522/1924, 55; ähnlich Cochlaeus 1582, 167. Helding 1557/1881, 389. Luther 1522/1907, 280, 302; Ders. 1529/1910, 160. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 194, 226); zur Sache vgl. Laqueur 2003. Dietenberger 1537/1881, 52; Gropper 1557/1881, 271; von Maltiz 1542/1881, 225; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 223. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 223. Dietenberger 1537/1881, 102. Murner 1519/1931, 170. Im Spiegel des sünders (nach 1475/1976, 270) wird dies so wiedergegeben: „Hast du eyn frawen oder iunckfrawen zů der sünd genötet mit gewalt oder überrungen“. Dietenberger 1537/1881, 53; Helding 1557/1881, 389; auch bei Cochlaeus 1582, 300; Folz ˹E. 15.– A. 16. Jh./1961˺, 192); Murner 1519/1931, 226. In der Übersetzung des Katechismus von Michael Helding (1557/1881, 389) erscheint auch nötigung in dieser Bedeutung. Die Übergänge zwischen
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ohne Gewaltanwendung‹), befleckung50 oder blutschande51 (›inzestiöses Verhalten‹), ehebrecherei52 oder ehebruch53 und kirchenbruch54, sacrilegium55, verdammte unkeuschheit56 oder weihbruch57 (diese vier Wörter bezeichnen die Entweihung geheiligter Orte, Zeiten oder Personen durch sexuelles Verhalten). Sünden wider die natur58 oder unnatürliche sünden59, sodomia / sodomie60, stinkende, unmenschliche oder vergiftete sünden61 bezeichnen vor allem sexuelle Handlungen unter Männern oder von Menschen an Tieren, die als gegen Gott gerichtet verstanden und nach weltlichem Recht mit dem Tod bestraft wurden.62 Die Bedeutung der zuvor aufgezählten Ausdrücke war durch Theologie und Kirchenrecht festgelegt, konnte aber vom einzelnen Autor noch spezifiziert werden: Hinsichtlich der vermaligung (›Befleckung‹ durch nächtliche Pollutionen) differenziert der spätmittelalterliche Spiegel des Sünders (gedr. nach 1475) bei der Frage, ob der Träumende dabei Lust empfunden habe oder nicht.63 Auch bei der hurerei nimmt der Trakat Unterscheidungen der Umstände halber vor:
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den Verben schänden und schwächen sind, etwa innerhalb der Dichtung, fließend: vgl. Kratz 1949, 2, 356. Die Versuche der Theologen, eine klare begriffliche Unterscheidung durchzusetzen, blieben nach Lage der Belege ohne Wirkung auf den sonstigen Sprachgebrauch: vgl. dazu auch Burghartz 1999; Loetz 2009. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 223 f. Helding 1557/1881, 389; wohl nur hier in dieser engen Bedeutung. Dietenberger 1537/1881, 53. Marcus von Weida 1487/1972, 20. Gengenbach 1521/1856, 117, 140, 151; Gropper 1557/1881, 270; Helding 1557/1881, 389; von Maltiz 1542/1881, 224; Pauli 1522/1924, 10, 146; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 223 f. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 224. Helding 1557/1881, 389; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 224; Beleg bei Thoma 22009, 150. Helding 1557/1881, 389. Beleg bei Thoma 22009, 150: Johann Geiler von Kaysersberg differenziert in einer Predigt an dieser Stelle das sakrilegische Verhalten weiterhin danach, ob es von Mönchen und Nonnen, Weltgeistlichen, Beichtvätern oder Laien vollzogen wird, sowie nach Zeit und Ort des Vergehens. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 267; weitere einschlägige Belege bei Guggenbühl 2002, 34, 264; Puff 2003, 17 f. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 267); belegt ist auch das Syntagma unnatürliche weise gebrauchen: Dietenberger 1537/1881, 53. Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 192; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 224. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 267 f. Vgl. hierzu Brinkschröder 2006; Godard 2003; Hergemöller 22000; Jordan 1997; Puff 2003; Reinle 2 2009; Spreitzer 1988. Zur Bestrafung sexueller Handlungen an Tieren vgl. Belege bei Guggenbühl 2002, 205, 226, 228–231, 244, 249, 253 f. u. ö. „Widernatürlicher“ heterosexueller Verkehr wurde als „Sodomie“ ebenfalls gerichtlich verfolgt: vgl. Guggenbühl 2002, 304–310; Hergemöller 22000, 151–153. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 226).
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„Merectricium das ist hůrerei die geschicht in zweyerley weiß. Die ein durch fliegend begird mit manigen ledigen weiben sich vermischend. Die ander mit vermischunge alleyn mit offen weibern vmb dz gelt.“64
Dagegen stellt Johann Dietenberger (um 1475–1537) in seinem Katechismus von 1537 die Begriffe „bulerei und hurerei und andere unzucht“ als Synonyme nebeneinander; die höhere Frequenz und Aussagekraft der Belege für buhlerei / buhlschaft in der weltlichen Literatur (siehe unten) lässt hierbei an eine Entlehnung aus der literarischen Begrifflichkeit denken.65 Im Spiegel des Sünders wird sogar explizit auf Verhaltensweisen Bezug genommen, die in der höfischen und schwankhaften Dichtung breite Darstellung fanden, wenn es heißt: „Item hastu geschriben heyssen schreiben bůlbrieff oder die zů den liebhabern vnd menschen getragen mit wissen es ist dir tödtlich.“66
Auch Marcus von Weida (1450–1516) schildert in seinem Spigell des ehlichen Ordens ein unter „vnehlichen bulern vnd buleryn“ übliches Verhalten mit Hilfe von Topoi der späthöfischen Dichtung.67 Gegenstände oder Verhaltensweisen, auf die mit den bisher genannten Ausdrücken Bezug genommen wurde, werden in den Katechismen deshalb abgewertet, weil sexuelle Lustgefühle in der mittelalterlichen Theologie mit der erbsündhaften Belastung des Menschen in Verbindung gebracht wurden. Dementsprechend erfüllt auch das Adjektiv unkeusch die Funktion, dem Gegenstand oder der Person, auf welche es sich bezieht, Gottgefälligkeit und moralische Berechtigung prinzipiell abzusprechen: Es kann sich dabei auf ein Fühlen, Denken, Sprechen oder Handeln beziehen oder in gleicher Weise eine Person, die solches tut, als nicht gottgefällig und sündhaft abqualifizieren. Sachlich muss wegen der Vielschichtigkeit der möglichen Inhalte differenziert werden, da die Schwere sexueller Verfehlungen in der pastoralen Verkündigung von der Lebenssituation der beteiligten Menschen abhängig gemacht wurde: Berücksichtigt werden musste dabei die sexuelle Unberührtheit einer Person oder ihre Zugehörigkeit zur Geistlichkeit, das Vorhandensein einer bestehenden Ehe oder von engen verwandtschaftlichen Beziehungen, außerdem Ort, Zeit und Art des Geschehens sowie die Motivation des geübten Verhaltens. Dementsprechend wechselt auch die Bedeutung des Adjektivs unkeusch im Kontext: Keiner der Katechismen definiert, was keusches Verhalten „eigentlich“ bedeutet, vielmehr wird mit diesem Wort moralisch richtiges Verhalten in Abgrenzung vom verbotenen und sündhaften denotiert, das aber gleichfalls situations- und kontextabhängig war. Dietenberger zufolge sollte der Gläubige Gott bitten, dass er „züchtig und keuschlich
64 65 66 67
Ebd., 223. Dietenberger 1537/1881, 102; vgl. dazu auch Kratz 1949, 2, 437; weitere Belege im FWb 4, 1379. Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 227. Marcus von Weida 1487/1972, 63.
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lebe“68, wobei seine Aufforderung erst einen greifbaren Inhalt annimmt, wenn die verbotenen Verhaltensweisen im folgenden detailliert aufgezählt werden. Vor dem Hintergrund einer ex negativo gefassten Bestimmung von Sexualität als unkeuschheit ergibt sich erwartungsgemäß der Ausdruck keuschheit in den katholischen Katechismen semantisch als (positiv konnotierte) Abwesenheit von Sexualität. Als Bezugsgrößen von keuschheit / keusch erscheinen: keuschheit als Bezeichnung der ›außerweltlichen asexuellen Qualität‹ Gottes und der Gottesmutter Maria69 sowie keuschheit als geistliche reinheit / reinigkeit und kirchenrechtlicher Fachterminus für ein ›zölibatäres Leben‹, das durch geistliche Gelübde versprochen wird.70 Daneben wird keuschheit (in Bezug auf Witwen) in der Bedeutung einer ›freiwilligen und nicht lebenslangen sexuellen Enthaltsamkeit‹71, als Kennzeichnung des ›mentalen Desinteresses an sexuellen Dingen‹72 und schließlich auch im Sinne ›ehelicher Treue‹ verwendet.73 Dietenberger vereinfacht in seinem Katechismus den Zusammenhang also sehr, wenn er keuschlich leben als gleichbedeutend mit unverheiratet bleiben wiedergibt.74 Wahrscheinlich war dieser Sprachgebrauch Dietenbergers bereits durch den wachsenden konfessionellen Gegensatz motiviert, denn die Vorkämpfer der Reformation wehrten sich energisch gegen eine solche semantische Verknüpfung, die in ihren Augen von der Lebenspraxis im katholischen Klerus ad absurdum geführt wurde. Sarkastisch spottete Martin Luther über die angebliche „grosse herliche ehre der keuschen ehelosen geistlichen“, der in Wahrheit ihr ganz und gar zügelloses Treiben gegenüberstehe.75 Als Reaktion auf Luthers Lehre und Leben gebrauchte dann ein katholischer Autor wie Thomas Murner (1475–1537) das Adjektiv gelübdbrüchig76 als Antonym zum keuschen (›zölibatären‹) Leben. Als typische Syntagmen erscheinen im Glaubensstreit Wendungen wie keuschheit geloben77 und keuschheit halten78, wobei sich die katholischen und protestantischen Pamphletisten gegensätzlich über die moralische Berechtigung dieser Verhaltensweisen äußerten. Auf katholischer Seite hielt man an der moralischen Überlegenheit sexueller Enthaltsamkeit fest, was auch die Abwertung des Ehelebens impli68 69
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Dietenberger 1537/1881, 67. Grosser Preisz 1521/21863, 88; von Maltiz 1542/1881, 226; Mathesius 1567/1897, 27; Pauli 1522/1924, 135. Albrecht von Eyb 1472/1982, [6r], [49v]; Cochlaeus 1582, 258; von Gersdorff 1517, CLIIr; Murner 1519/1931, 224; Pauli 1522/1924, 14; auch belegt bei Luther 1522/1907, 277; Mathesius 1567/ 1897, 32; vgl. zur Sache Diem 2005; McNamara 1982. Albrecht von Eyb 1472/1982, [7v], [34r]; Pauli 1522/1924, 49. Dietenberger 1537/1881, 52; Murner 1519/1931, 224; belegt auch bei Luther 1529/1910, 162. Albrecht von Eyb 1472/1982, [3r], [7v]; Luther 1522/1907, 292; Mathesius 1567/1897, 20; Murner 1519/1931, 20; Ryff 1556, XXIv. Dietenberger 1537/1881, 52. Luther 1531/1910, 482. Murner 1528/1939, 45. Freiermut 1524/21863, 214; Sonnentaller 1524/1983, 403. Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 169.
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zierte. In gegenreformatorischem Geist exemplifizierte Johann Gropper (1503–1559) in seinem 1557 gedruckten Katechismus: „Ehrlicher aber und seliger [als die Ehe] ist die Jungfrawschafft. Jedoch so sie beyd mit dem gemüet und leichnam [›Leib‹] gehalten würt. Auch ist der rein witwenstat und Celibat, das ist, enthaltung der Ehe umb Gotts willen, nach entbondenem ehestandt ehrlicher, dann wider zur ehe greiffen.“79
Die eingangs dargestellten, argumentativ innig miteinander verschränkten intellektuellen und sprachlichen Konzepte um Sexualität und Sünde wurden durch die Reformation teilweise umgestoßen und entwertet. Im Rahmen eines proreformatorischen Pamphlets ließ dessen anonymer Verfasser Satan den katholischen Amtsträgern ihr Verhalten vorschreiben: „Ir sollent euch laßen bevolhen sein unser liebsten töchter Hoffart, Geitigkait, Betrügerei, Unkeuschait und die andern laster, sonderlich frauwen Simonie.“80
Hier lässt sich der Teufel selbst als Kenner der katholischen Sündentheologie erkennen! Die ins Positive gewendete protestantische Ehetheologie, die die im städtischen Bürgertum herrschende Wertschätzung des Ehelebens aufgriff und nicht zuletzt dadurch die weltgeschichtliche Bedeutung des Protestantismus mitbedingte81, entfernte sich von der Konzeptualisierung der unkeuschheit als einer der sieben Todsünden. Semantisch bestanden bei ausdrucksseitiger Kontinuität also gewichtige inhaltliche Unterschiede: Auch protestantische Theologen bezeichneten mit dem Substantiv keuschheit und dem Adjektiv keusch den ‚moralisch guten‘ Sex, mit unkeuschheit und unkeusch die negativ bewerteten Erscheinungsformen des Geschlechtslebens. Semantisch sind diese stereotyp gebrauchten Wörter aber anhand der Untersuchung protestantischer Katechismen kaum zu füllen: Diese, für die Gemeindearbeit verfassten Texte erheben explizit die Forderung, ein evangelischer Christ solle keusch leben, ohne dass dem eine ausführliche Erläuterung nachfolgte, was dies konkret bedeutet. Auch eine systematische Erörterung des Wesens oder der Ausprägungen der unkeuschheit findet sich nicht mehr: Grund war, dass das protestantische Eheverständnis geschlechtliche Akte, die im Rahmen einer Ehe stattfanden, als prinzipiell gottgewollt auffasste (im Anschluss an die auf Luther zurückgehende exegetische Überlegung, dass Adam und Eva als (Liebes-)Paar von Gott schon vor dem Sündenfall geschaffen wurden)82 und nur die außereheliche Sexualität als sündhaft verdammte. Formal wurden die Warnungen vor sexuellem Fehlverhalten nun im inhaltlichen Zusammenhang des Dekalogs erörtert, und eine ähnlich fixierte Bedeutung wie im Gedankengebäude der spätscholastischen Theologie besitzt der Ausdruck unkeuschheit generell nicht mehr. 79 80 81
82
Gropper 1557/1881, 271. Grosser Preisz 1521/21863, 90. Vgl. Dieterich 1970; Harrington 1995; Köhler 1932/1942; Lähteenmäki 1955; Ozment 1983; Puff 2003, 171 f.; Roper 1989; Safley 1984; Suppan 1971. Vgl. Luther 1529/1910, 160.
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Im Zusammenhang mit dem sechsten Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ erheben protestantische Katechismen die Forderung, die Gemeindemitglieder sollten ehrbar83, keusch84 und züchtig85 leben. Wie bemerkt, ist eine nähere inhaltliche Bestimmung dieser Adjektive aus den Kontexten nicht möglich, da keine expliziten Bemühungen unternommen wurden, den Inhalt dieser pauschalen Forderung näher einzugrenzen. Im Sinne des allgemeinen Priestertums sollte es vielmehr den Gläubigen und ihrem Gewissen überlassen bleiben, für sich selbst herauszufinden, was gemeint war. Wenn allerdings Martin Bucer (1491–1551) in seinem 1537 gedruckten Katechismus unter dem sechsten Gebot – das er für den schulischen Katechismusunterricht als „Du solt nit vnkeusch sein“ wiedergab – „zucht / scham / vnnd erbarkeit […] inn essen / drincken / kleideren / wort vnnd geperden“ forderte und überdies von den Kindern verlangte, „allen überflus / alle leichtfertige üppige wort vnd geperden vnd vor allem böse můtwillige geselschafft“ zu meiden86, dann lebte die katholische Praxis, die Sünden und ihre Umstände so vollständig wie möglich aufzuzählen, zunächst noch fort. Dennoch lässt sich die klare Festlegung, die in katholischen Katechismen unternommen wird – keusch und rein als ›vollständig fern von sexuellen Gedanken, Worten und Verhaltensweisen‹ – für die protestantischen Texte insgesamt nicht mehr nachvollziehen. Anders wäre eine Formulierung wie keusches ehebett87 bei Johannes Mathesius nicht verständlich! Das protestantische Eheverständnis war bezeichnenderweise gar keine explizite Sündentheologie mehr: Da die Ehe seit Luther als gottgewollte und prinzipiell moralisch gute Institution betrachtet wurde, erübrigte sich für evangelische Theologen jede eingehende Reflexion über die Berechtigung ehelicher Sexualität oder ausführliche Darlegungen über ihre für notwendig erachteten Beschränkungen, wie sie im katholischen Pastoral verbreitet waren. Allein sexuelle Verfehlungen außerhalb der Ehe wurden ausführlich erörtert, wobei dann die logische Systematik der Untersünden wieder der in der katholischen Sündenkasuistik üblichen entsprach: von hurerei88 oder unzucht89, schänden90, schwächen91, schmähen92 oder sodomie93 und natürlich nicht zuletzt von der 83 84 85 86 87 88
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Gretter 1528, [AVIr]. Catechismus 21575, 60; zahlreiche weitere Belege im FWb 8, 844–846. Catechismus 21575, 60; Gretter 1528, [AVIr]. Bucer 1537/1971, 52. Mathesius 1567/1897, 27 u. ö.; ähnlich Fischart 1575/1891, 96, 103. Has 1561/21863, 163; Hoppenrod 1565/1972, 178; Luther 1522/1907, 276, 292; ders. 1531/1910, 226. Bucer 1537/1971, 52; Has 1561/21863, 163; Hoppenrod 1565/1972, 178; Mathesius 1567/1897, 32, 45; Schmidt 1557/1972, 331. Bei Luther (1530/1910, 244) auch in der engeren Bedeutung ›Prostitution‹: „wo ein weib zu stelen oder zu schendlicher unzucht gezwungen würde von dem manne“. Luther 1522/1907, 293; Ders. 1530/1910, 217. Luther 1530/1910, 217. Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 164. Ebd., 189; ausführliche Belege bei Puff 2003, 140–166.
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Sünde des ehebruchs94 ist in protestantischen Texten gleichfalls die Rede. In diesem Punkt ist also kein äußerlicher Sprachwandel als Folge veränderter theologischer Vorstellungen festzustellen. Lediglich die Begrifflichkeit im Zusammenhang der Vergehen gegen den Zölibat fehlt erwartungsgemäß, da die protestantische Theologie Keuschheitsgelübde ablehnte. Als kirchenrechtlicher Fachterminus lebt keusch oder rein (im Sinne von ›zölibatär‹) in protestantischen Texten freilich fort,95 auch wenn der Eheverzicht dort nicht mehr als legitime oder auch nur menschenmögliche Lebensform beschrieben wird. Stattdessen beziehen sich die Antonyme keusch und unkeusch in der protestantischen Theologie tendenziell auf ›Sexualität innerhalb‹ bzw. ›außerhalb einer bestehenden Ehe‹, oder wie Mathesius programmatisch formuliert hat: „Im ehestand ist die höchste keuschheit“.96 Innerhalb der protestantischen Theologie gelten keusche Gegenstände und Verhaltensweisen also nicht mehr deshalb als moralisch richtig, weil dabei (wie im katholischen Pastoral) ein sexuelles Moment nach Möglichkeit ganz ausgeschlossen wird, sondern weil sie innerhalb einer Ehe stattfinden. In dem anonymen Pamphlet Weggesprech gen Regenspurg zů wird diese Überlegung zugespitzt, wenn der spätantike Theologe Paphnutius († um 360) mit den Worten zitiert wird, „der eeleute beiligin [›Geschlechtsverkehr‹] wer ein küscheit“;97 dementsprechend bedeutet in unkeuschheit fallen dann einfach: ›Ehebruch begehen‹. So bringt auch die evangelische Ehepredigt von Johannes Mathesius auf wenigen Seiten eine enorme Vielfalt von Bedeutungen oder Bedeutungsnuancen zum Ausdruck: keusch genannt werden darin Jesus Christus, ein spätantiker Bischof, die mit der Predigt angesprochenen Eheleute sowie ihr Ehebett. Als rhetorisch geschickter Prediger dekonstruierte Mathesius den gewohnten theologischen Sprachgebrauch, indem er traditionelle und neuartige Verwendungen nebeneinander stellte und sie mit den unterschiedlichsten Attributen verknüpfte. Dem Prediger gelang es dadurch, seine Hörerinnen und Hörer mittels einer ihnen vertrauten Sprache schonend an neue theologische Inhalte heranzuführen. Ebenso geschickt gebrauchte Mathesius die Metapher der sexuellen Reinheit: unsauber nannte er katholische Geistliche sowie unverheiratete Personen überhaupt, unbefleckt dagegen die Priesterehe und das Ehebett.98
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Gretter 1528, [AVIr]; Luther 1522/1907, 276; ders. 1529/1910, 160; ders. 1530/1910, 215; Schmidt 1557/1972, 331. Luther 1522/1907, 277; Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 169. Mathesius 1567/1897, 32. Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 190. Diese Belege bei Mathesius 1567/1897, 28 f., 31, 33.
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3. Dichtung Die Beschäftigung mit sexuellen Gegenständen stand auch außerhalb theologischer Schriften unübersehbar unter dem Vorzeichen ihrer Abwertung durch die spätmittelalterliche Kirche. Nicht wenige Texte stellen eine inhaltliche Verbindung zur kirchlichen Lehre sogar explizit her: Exkurse, in denen Auffassungen der katholischen Sündentheologie über die unkeuschheit mehr oder weniger ausführlich wiedergegeben werden, findet man sowohl in der Dichtung als auch in der medizinischen Wissensliteratur. Auch wird die Verwendung gerade dieses Ausdrucks in derart vielen unterschiedlichen Quellen kaum als zufällig betrachtet werden können. Nicht zuletzt durch den Umfang und die inhaltliche Vielschichtigkeit der Texte stellt sich das als richtig bewertete Sexualverhalten in literarischen Texten als ein komplexes soziales Verhältnis dar, in das auch innerweltliche Normen angemessenen Sozialverhaltens miteinflossen. Sexuelle Zurückhaltung in einem weiteren Sinne, die für gut befunden wurde, und ein Übermaß an sexueller Betätigung, das dementsprechend verurteilt wurde, finden sich unter teilweise inhaltlich veränderten Vorzeichen auch in literarischen und medizinischen Schriften einander gegenübergestellt. Dabei scheint der Gedanke des „rechten Maßes“ in sexuellen Dingen vorherrschend, wie er schon in der Medizin und philosophischen Ethik der Antike formuliert wurde. Text- oder intentionstypologisch lassen sich im Bereich der Dichtung „erbauliche“ Texte oder Textabschnitte von bloß „unterhaltenden“ abgrenzen. Grundlage der Einschätzung, dass eine „Erbauung“ intendiert wurde, ist dabei eine heute dem Verfasser zugeschriebene Absicht, zur moralischen Besserung seiner Leser beizutragen. Im besten Fall finden sich explizite Äußerungen einer solchen Absicht. Oft wirkt diese Abgrenzung aber recht willkürlich: Sollte man etwa den Text eines populären Predigers wie Thomas Murner oder Johann Pauli schon allein deshalb als „erbaulich“ verstehen, weil er von einem Theologen verfasst wurde? Bei Murner stößt der Leser auf nicht weniger sexuelle Zoten als in Dichtungen, die nicht aus der Feder eines Klerikers stammen. Viele Merkmale der Texte der beiden genannten Autoren weisen in Richtung der Schwankdichtung, und inhaltliche Entlehnungen bei anderen Schwanksammlungen sind auch eher die Regel als die Ausnahme. Den doppeldeutigen Charakter der Schwankdichtung hat Pauli mit „Schimpf und Ernst“ umschrieben. Auch wenn er in den Überschriften mit „Schimpf“ oder „Ernst“ den eher erbaulichen oder bloß unterhaltenden Charakter seiner Predigtexempel paratextlich andeutete, wirken Paulis Zuweisungen oft nicht recht nachvollziehbar.99 Andere Schwankkompilationen verzichten überdies auf solche expliziten Markierungen. Erbauliche Texte, so bliebe hinzuzufügen, stellen hinsichtlich des richtigen Verhaltens häufig nicht die Erörterung kirchlicher Lehrmeinungen, sondern innerweltliche Normen ins Zentrum. Daher können stereotyp gebrauchte, positiv konnotierte morali99
Vgl. von Ammon/Waltenberger 2010, 274 f., 278.
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sche Schlagwörter wie ehrbarkeit, ehre, frommheit, tugend auch ›Friedfertigkeit‹, ›Bemühung um Harmonie‹, ›Altruismus‹ und ›Solidarität‹ in sozialer, politischer oder ökonomischer Hinsicht bedeuten.100 Exklusiv auf das ethisch richtige Sexualverhalten (das meistens von Frauen eingefordert wird) beziehen sich in der Regel die gleichfalls durchweg positiv konnotierten Ausdrücke scham101, tugend102 und zucht103 oder ehrbarkeit104, ehre105, frommheit106 und gute sitten107. Den genauen Inhalt des damit bezeichneten Verhaltens lassen die Texte zumeist offen, weil er vom sozialen Kontext abhängig war: Durch den Gebrauch dieser Ausdrücke schien schon „alles Nötige gesagt“, und aufgrund ihrer übereinstimmenden sozialen Erwartungen werden die Leserinnen und Leser die moralische Botschaft, die damit verbunden war, auch richtig verstanden haben. Heide Wunder hat diesbezüglich das Vorhandensein eines klaren Bedeutungswandels „von weltlicher frumkeit zum religionsbezogenen Begriff Frömmigkeit“ unterstellt: Der Gebrauch des Wortes habe sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts von einem ›allgemeinen sozialen Wohlverhalten‹ hin zu dem heute üblichen religiösen Gehalt verengt.108 Wunder hat diese Entwicklung auf den Sprachgebrauch Martin Luthers zurückgeführt; tatsächlich wird das Adjektiv fromm von protestantischen Autoren im 16. Jahrhundert aber überwiegend noch in der weiteren Bedeutung verwendet. Man wird mit Recht voraussetzen können, dass das in der Dichtung als richtig empfohlene Verhalten unterschiedlich ausfiel, je nach dem, ob von Männern oder Frauen, Verheirateten oder Unverheirateten, Laien oder Geistlichen die Rede war: Kleriker109 oder unverheiratete Frauen110 bewahrten sich ihre Ehrbarkeit, indem sie sich von sexueller Betätigung ganz fernhielten – zu diesem Zweck empfahl der Wundarzt Hans von Gersdorff (um 1455–1529) in seinem Feldtbůch der Wundtartzney (Straßburg 1517) Arzneirezepte für diejenigen, „welche erberkeit vnnd frumbkeit halb begeren keusch zů leben“.111 Wenn in Bezug auf unverheiratete junge Männern vom bulen in züchten und
100
Vgl. übereinstimmend Gloning 2003, 170. Brant 1494/1962, 17, 53; Murner 1519/1931, 20. 102 Murner 1519/1931, 22. 103 Agricola 1548/1971, 194 f.; Brant 1494/1962, 17; Murner 1519/1931, 20; Luther 1529/1910, 163; Sachs ˹M. 16. Jh./1880–1887˺, 4, 9). 104 Barbaro 1536, AIIv; Brant 1494/1962, 93; von Gersdorff 1517, CLIIr; Luther 1529/1910, 163; Murner 1522/1918, 208. 105 Agricola 1534/1971, 294; Ders., 1548/1971, 195; Brant 1494/1962, 53; Folz (E. 15.–A. 16. Jh./1961, 2); Sachs ˹M. 16. Jh./1880–1887˺, 4, 9; Schmidt 1557/1972, 331. 106 Dietenberger 1537/1881, 25; von Gersdorff 1517, CLIIr; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 98; Murner 1519/1931, 135; ders. 1522/1918, 208. 107 Albrecht von Eyb 1472/1982, [36r]; Brant 1494/1962, 17. 108 Wunder 1988, 181; zur Begriffsgeschichte vgl. auch Schreiner 1992, bes. 44. 109 Vgl. Cochlaeus 1582, 226; Grosser Preisz 1521/21863, 87; Luther 1522/1907, 277; Mathesius 1567/1897, 31 f.; Murner 1522/1918, 208. 110 Vgl. von Kettenbach 1523/1983, 576; Luther 1530/1910, 222, 234; Terenz 1486/1915, 80. 111 Von Gersdorff 1517, CLIIr.
101
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ehren112 gesprochen wurde, war wohl eher die Vermeidung exzessiver oder promiskuitiver Sexualkontakte gemeint. Anhand der Belege lässt sich aber nicht klarer herausarbeiten, was genau als angemessenes Verhalten unverheirateter junger Männer angesprochen wurde. Martin Luther freilich forderte explizit, es sollten für männliche Heranwachsende dieselben strengen Normen gelten wie für die jungen Frauen: Sie alle sollten sexuell ganz enthaltsam leben und beim Überhandnehmen ihrer sexuellen Bedürfnisse eine Ehe eingehen.113 In Bezug auf Verheiratete war ebenso eindeutig ›sexuelle Treue‹ der Ehepartner die gültige Norm.114 Auch antonyme Wertbegriffe wie bösheit115, büberei116, huren- und bubenleben117, laster118, leichtfertigkeit119, schande120, schelmerei121, schimpf122, untugend123 oder üppigkeit124 bezeichnen deshalb in Abhängigkeit vom gemeinten sozialen Kontext ein weites Spektrum sozialen Fehlverhaltens. Noch deutlicher wird dies auf der Ebene der Attribution: Die dazugehörigen Adjektive (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) bübisch, frevel, hurerisch, leiblich, schandbar, unehrbar, unfur, unziemlich, verboten125, böse126, ehrlos127, falsch128, freventlich129, geil130, lästerlich131, leichtfertig, lose132, lüstig133, 112
Sachs ˹M. 16. Jh./1880–1887˺, 4, 9. Vgl. Luther 1522/1907, 300; ders. 1529/1610, 163; ähnlich Barbaro 1536, BIIIv. 114 Vgl. von Kettenbach 1523/1983, 576; Mathesius 1567/1897, 34. 115 Albrecht von Eyb 1472/1982, [10v]; von Alveldt 1524/1926, 29; Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 192; Murner 1528/1939, 50. 116 Von Alveldt 1524/1926, 29; Brant 1494/1962, 43; Has 1561/21863, 171; Luther 1530/1910, 227; Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 170; zahlreiche weitere Belege im FWb 4, 1306 f. 117 Luther 1531/1910, 482. 118 Has 1561/21863, 164; Luther 1530/1910, 222; Schumann 1559/1893, 18. 119 Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 162. 120 Agricola 1534/1971, 294; Bucer 1537/1971, 52; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 104; Luther 1530/1910, 222; Schumann 1559/1893, 18; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 356: Es trifft nicht zu, dass sich die Bedeutung von schande, wie Kratz meint, durchgehend auf ›Entjungferung‹ oder ›Notzucht‹ einschränken ließe. 121 Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 170. 122 Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 221; an dieser Stelle gebraucht im Sinne von ›sexuelle Befriedigung‹, synonym ist hier lust; ähnliche Belege in der medizinischen Fachprosa des 15. Jahrhunderts bei Kruse 1996, 270, 274; verbalisiert: mit jemandem schimpfen: Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 262; Pauli 1522/1924, 87, 130, 133; Schumann 1559/1893, 55. Die positive Konnotation, die Kratz (1949, 2, 397 f.) dieser Wendung zuspricht, kann ich nicht erkennen. 123 Luther 1530/1910, 222. 124 Pfründt marckt der Curtisanen [1521]/1983, 94; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 247. 125 Alle vorausgehenden Belege: Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 225 f. 126 Albrecht von Eyb 1472/1982, [49v]; Bucer 1537/1971, 52; Barbaro 1536, BIIIr f.; Dietenberger 1537/1881, 53; Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 243; Luther 1522/1907, 279, 292; Marcus von Weida 1487/1972, 15; Pauli 1522/1924, 91 f.; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 225 f. 127 Von Alveldt 1524/1926, 37; Slegel [1523]/1929, 49 f. 128 Konrad von Megenberg 1475/21971, 451. 129 Fischart 1578/1895, 268 f.; Rößlin 1513/1910, 62. 113
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mutwillig134, schambar135, schändlich136, schimpflich137, schlecht138, sündig139, übel140, unehrlich141, unflätig142, unfromm143, unschämig144 oder unverschämt145, unstet146, unziemlich147, unzüchtig148 oder verrucht149 können sich nicht nur auf verbotenes Sozialund Sexualverhalten, sondern ebenso auch auf Orte und Zeiten, Personen, Handlungen, Gesten, Worte, Blicke, Bewegungen, Wünsche, Gedanken, Träume, Körperteile, bestimmte Kleidungsstücke sowie viele weitere Gegenstände beziehen, die damit in einen Zusammenhang gebracht werden. Dass diese Ausdrücke fast immer in synonymen Reihungen erscheinen, zeigt die Austauschbarkeit des moralischen Wortschatzes und seine mehr konnotative Funktion an. Dementsprechend inhaltlich unscharf erscheint auch die Bedeutung der positiv konnotierten stereotypen Adjektive bieder150, ehrbar151, ehrlich152, ehrsam153, ehrbeflissen, ernsthaft154, fromm155, gut156, recht157, rechtsinnig158, rein159, schamhaft160, schämig161,
130
Brant 1494/1962, 156; Brunfels 1521, CV u. ö.; Fischart 1578/1895, 131; Gengenbach 1521/1856, 149; Ryff 1569, 4r; Terenz 1486/1915, 186. 131 Luther 1531/1910, 482. 132 Diese beiden Belege bei Cochlaeus 1582, 258; leichtfertig auch bei Bucer 1537/1971, 52. 133 Ortolf von Baierland 1479, LXVv. 134 Bucer 1537/1971, 52. 135 Brant 1494/1962, 53; Dietenberger 1537/1881, 52 f.; Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 192; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 104. 136 Dietenberger 1537/1881, 45; Pauli 1522/1924, 20; Murner 1519/1931, 197; Terenz 1486/1915, 125. 137 Liederbuch ˹16. Jh./1867˺, 96. 138 Brant 1494/1962, 50; Wickram 1555/1973, 161. 139 Cochlaeus 1582, 300. 140 Brant 1494/1962, 50; Wickram 1555/1973, 161. 141 Terenz 1486/1915, 125 f. 142 Fischart 1578/1895, 131. 143 Ryff 1556, XXIv. 144 Konrad von Megenberg 1475/21971, 46, 49, 51. 145 Luther 1531/1910, 482. 146 Konrad von Megenberg 1475/21971, 451. 147 De secretis mulierum ˹M. 15 Jh./1985˺, 111; Mathesius 1567/1897, 31; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 175; Terenz 1486/1915, 80, 159. 148 Brunfels 1521, IIII; Dietenberger 1537/1881, 54; Fischart 1578/1895, 131; Mathesius 1567/1897, 31; Murner 1522/1918, 97; Rößlin 1513/1910, 62. 149 Brant 1494/1962, 53; Mathesius 1567/1897, 31. 150 Konrad von Megenberg 1475/21971, 226. 151 Albrecht von Eyb 1472/1982, [7v]; Fischart 1578/1895, 131. 152 Konrad von Eichstätt 1523/1965, BIIIr; Mathesius 1567/1897, 36; Pauli 1522/1924, 134. 153 Rößlin 1513/1910, 13, 51. 154 Beide Belege: Fischart 1578/1895, 131. 155 Albrecht von Eyb 1472/1982, [2r], [7v], [49v]; Brant 1494/1962, 51; Brunfels 1521, CLIII; Gengenbach 1521/1856, 13; Grosser Preisz 1521/21863, 87; von Kettenbach 1523/1983, 584; Konrad
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seliglich162, stet163, tugendhaft164 oder tugendlich165, unschuldig166, zierlich167 und züchtig168. Hier lassen sich jedoch zwei inhaltliche Aspekte klar unterscheiden: Mit Bezug auf Personen außerhalb des Ehestandes (besonders aber Geistliche) bedeuten diese Adjektive ›sexuell enthaltsam‹, ›sexuell unberührt‹, ›jungfräulich‹. Wenn von Verheirateten die Rede ist, ist ›sexuell treu‹ gemeint. Stereotyp gebrauchte Wörter wie bieder, ehrlich, ehrsam, fromm, tugendhaft und züchtig können dann wiederum in weiterer Bedeutung gebraucht und als ›gottgefällig‹ oder ›sozial verantwortlich‹ verstanden werden. Wie wenig es sinnvoll erscheint, für diese diffusen Wertausdrücke exakte Inhalte angeben zu wollen, zeigt der Umstand, dass weibliche züchtigkeit sogar von Prostituierten eingefordert wurde.169 Schon den Zeitgenossen wird es nicht leicht gefallen sein anzugeben, in welcher Hinsicht eine solche Frau ihre züchtigkeit bewahren konnte. Anders als in der Theologie standen in der Dichtung hinter diesem Wortgebrauch keine expliziten Moraltheorien, sondern eher unausgesprochene Erwartungen. Dies deutet auf den eher „demokratischen“ Charakter des allgemeinen Wertwortschatzes hin, dessen Inhalte die Kirche zwar verbindlich zu definieren beanspruchte170, den aber in der alltäglichen Lebenswelt jeder Sprecher mit eigenen Bedeutungen oder Bedeutungsnuancen versehen konnte. Für die einzelne Textstelle sind diese nur mühsam und auf der Ebene des Sprachsystems gar nicht exakt wiederzugeben: Im literarischen und im medizinischen Diskurs wurde das „rechte Maß“, das moralisch Richtiges vom Falschen oder Gutes vom Schlechten trennte, aus sachlichen Gründen deshalb nicht näher bestimmt, weil es per se von Alter, Geschlecht, Komplexion und Familienstand einer Pervon Megenberg 1475/21971, 451; Mathesius 1567/1897, 32; Pauli 1522/1924, 129 u. ö.; Pfründt marckt der Curtisanen [1521]/1983, 95; Sonnentaller 1524/1983, 411. 156 Pictorius 1561, 78v. 157 Brant 1494/1962, 50; Wickram 1555/1973, 161. 158 Cochlaeus 1582, 226. 159 Albrecht von Eyb 1472/1982, [1v]; Konrad von Megenberg 1475/21971, 226; weitere Belege aus dem Wortfeld rein, sauber usw. bei Kratz 1949, 2, 359. 160 Murner 1519/1931, 23. 161 Albrecht von Eyb 1472/1982, [1v]; Ficino 1505/1980, 113; Konrad von Eichstätt 1523/1965, BIIIv; Konrad von Megenberg 1475/21971, 225. 162 Marcus von Weida 1487/1972, 18; an dieser Stelle in der Bedeutung ›sexuell unberührt‹. 163 Terenz 1486/1915, 103 – hier in der Bedeutung ›sich sexuellen Avancen gegenüber standhaft verhaltend‹ (von einer Frau gesagt); bei Konrad von Megenberg (1475/21971, 451) in der Bedeutung ›sexuell treu in der Ehe‹. 164 Pauli 1522/1924, 91 f. 165 Marcus von Weida 1487/1972, 14. 166 Von Kettenbach 1523/1983, 584. 167 Marcus von Weida 1487/1972, 14. 168 Albrecht von Eyb 1472/1982, [36r]; Mathesius 1567/1897, 27, 31; Rößlin 1513/1910, 51; Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 189. 169 Vgl. die Belege bei Köhler 1932/1942, 1, 143 f.; Schuster 1995, 135. 170 Diesen Punkt hebt Gloning (2003, 166–172) besonders hervor.
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son sowie den Umständen einer Situation abhängig gemacht wurde – allein dass man die Unmäßigkeit zu meiden hatte, war eine Forderung, die sich in aller Deutlichkeit vertreten ließ. Völlig eindeutig ist dagegen die Konnotation dieser Wertbegriffe. So wurde das Wort hurerei, mit dem in der katholischen Sündenlehre die voreheliche Sexualität verdammt wurde, auch im Rahmen minnetheoretischer Behandlungen der buhlschaft (›voroder außereheliche Beziehung‹) als Bezeichnung einer ›schlechten‹ oder ›falschen Liebschaft‹ verwendet. In der Dichtung werden davon Wendungen wie lauter lieb und minne oder reine liebe171 abgegrenzt, die wiederum im Gegensatz zu unordentlicher liebe172 stehen. Die buhlschaft kann man wegen der höheren Frequenz in der Dichtung als spezifisch literarisches Begriffskonzept verstehen. Dieser Ausdruck hat gegen Ende des 15. Jahrhunderts das Wort minne weitgehend verdrängt, ein Prozess, der sich im 16. Jahrhundert weiter fortsetzte. In der medizinischen Fachprosa, wo stets eindeutig von körperlicher Liebe die Rede ist, erscheinen im 15. Jahrhundert ebenfalls Entlehnungen aus dem Wortschatz der höfischen Dichtung wie minne173, freundschaft, liebe oder bettliebe174. Man hat vermutet, das Verb minnen sei seit Ende des 13. Jahrhunderts dementsprechend mehr und mehr als Bezeichnung für den Koitus gebraucht und daher im 15. Jahrhundert „als unanständig gemieden“ worden.175 Auch Kratz hat festgestellt, minnen und das Substantiv minne seien „ungefähr im Lauf des 16. Jh.s aus der Sprache verschwunden, weil ihre Bedeutung vergröbert wurde, bis sie sich endlich nur auf den Beischlaf bezogen, und deshalb vermieden wurden“.176 Dass im 16. Jahrhundert bestimmte Ausdrücke nur deshalb unpopulär wurden, weil sie grob anstößigen Charakter hatten, ist freilich keine Einschätzung, die man so global vertreten könnte. Wahrscheinlicher lag dieser Sprachwandel im Bedeutungsverlust der höfischen Dichtung und ihrer Gedankenwelt gegenüber den vom Humanismus und später von der Reformation geprägten literarischen Formen begründet.
171
Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 167. Albrecht von Eyb 1472/1982, [6r]; Pauli 1522/1924, 137; Schumann 1559/1893, 300. 173 Ortolf von Baierland 1479, LXIIIIv u. ö. In einer Handschrift des Pestgedichts von Hans Andree (vermutl. 2. H. 15. Jh.) heißt es – ohne die positive Konnotation –: „Mer ich dir rotten will | hut dich vor minespil“ (Beleg bei Zimmermann 1986, 129). Auch bei Johann Hartlieb erscheint minne als der gebräuchliche medizinische Fachausdruck, unkeusche und minne werden von ihm synonym gebraucht: De secretis mulierum ˹M. 15 Jh./1985˺, 111, 129, 173 u. ö.; ähnlich der Beleg bei Kruse 1996, 317. 174 Diese drei Belege: De secretis mulierum ˹M. 15 Jh./1985˺, 106; das Syntagma jemanden lieb haben kann auch als Euphemismus für ›Koitus‹ verwendet werden: Ficino 1505/1980, 123; Ryff 1556, XXv. 175 Vgl. Hoven 1978, 330 f. 176 Kratz 1949, 2, 426; ähnlich Müller 1988, 153 f. 172
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Buhlerei177 oder buhlschaft178 wird man also, mit der gebotenen Vorsicht, als einen Begriff ansehen können, der typisch für die literarische Produktion im späten 15. und 16. Jahrhunderts war (analog zu der oben getroffenen Einschätzung von unkeuschheit als frühneuhochdeutscher Kernbegrifflichkeit der theologischen Literatur). Buhlerei oder buhlschaft bezieht sich in der Dichtung durchgehend auf eine ›Liebesbeziehung unter nicht miteinander verheirateten Personen‹, synonym dazu werden in minnetheoretischen Kontexten Ausdrücke wie (hohe) minne und (hohe / rechte) liebe gebraucht.179 Auch dabei sind vielfältige semantische Bezüge erkennbar: Prinzipiell schwanken die literarischen Texte zwischen (religiös motivierter) Verurteilung und (innerweltlich geprägter) Toleranz gegenüber vorehelichen, weniger gegenüber ehebrecherischen Sexualkontakten. Eine positive Bewertung solcher erotischer Beziehungen wird man wohl bei den in ähnlichem Zusammenhang verwendeten verbalen Fügungen erfreuen180 und verbunden sein181 unterstellen können. Freilich durfte ein solches Verhältnis nach den Vorstellungen der Zeit niemals losgelöst von seinem sozialen Kontext, seinen Motiven oder Beweggründen betrachtet werden. Die Unterschiede erläuterte Hans Neidhart (um 1430–nach 1502) in seiner Terenz-Übersetzung am Beispiel des Küssens: „Wann suß [sonst; Neidhart rechtfertigt hier seine nichtwörtliche Übersetzung] wäre not zesagen von dreierlai küssen. das ain haist osculum das ist der kuß des frides und der gaistlichen. das ander haißt basium und ist der kuß der freüntschafft und rechter lieb. das drit haist suavium und ist der unkeüschen untzimlichen liebhabenden küssen.“182
Die Begriffe buhlschaft, liebe und minne erscheinen in der Dichtung zwar mit überwiegend positiver Bewertung – ob damit allerdings körperliche Liebe gemeint war, wird im Kontext in der überwiegenden Zahl der Fälle offen gelassen. Von Valentin Schumann (†1559) wird mit den Wendungen stattliche und unverkerte liebe und recht liebhaben jedenfalls eine eindeutig asexuelle Beziehung angesprochen.183 Wechselnd war also nicht allein die Konnotation – mal scheinen minne und buhlschaft etwas Gutes, mal etwas Schlechtes zu sein –, sondern auch der Gegenstandsbereich. Es bestand sogar ein produktives Austauschverhältnis zwischen der konnotativen und der semantischen Vielschichtigkeit dieser Ausdrücke: Wer minne und buhlschaft lobte, konnte sich darauf 177
Murner 1519/1931, 70; Sachs ˹M. 16. Jh./1880–1887˺, 5, 58. Agricola 1534/1971, 475; Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 384; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 93, 103; Pauli 1522/1924, 100, 130; Terenz 1486/1915, 64; belegt auch im medizinischen Zusammenhang: De secretis mulierum ˹M. 15 Jh./1985˺, 111. Bei all diesen Belegen ist ein terminologischer Gebrauch zu unterstellen: Die Autoren rufen ein beim Leser vorausgesetztes Wissen über voreheliche Flirts auf. 179 Albrecht von Eyb 1472/1982, [7v]; Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 100; Hartlieb ˹M. 15 Jh./ 1970˺, 97; Schumann 1559/1893, 297; Terenz 1486/1915, 80; zur Begriffsgeschichte der hohen minne vgl. Haferland 2000, 217–244; zur Sache weiterhin Classen 1989; Schnell 1985, 143 ff. 180 Liederbuch ˹16. Jh./1867˺, 100. 181 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 241. 182 Terenz 1486/1915, 80. 183 Schumann 1559/1893, 104 f. 178
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zurückziehen, von tatsächlich vollzogenen „Werken der Sünde“ gar nicht gesprochen zu haben! Eindeutig ist, dass die an der buhlerei oder buhlschaft Beteiligten nicht miteinander verheiratet sein durften, denn sonst war zwischen ihnen eine buhlschaft definitionsgemäß nicht möglich. Fraglich bleibt jedoch, was mit dem Ausdruck sachlich gemeint war: eine ›emotionale‹, eine ›intime‹ oder eine ›sexuelle Beziehung‹? Der spielerische Grundzug der literarischen Texte vermeidet hier jede Eindeutigkeit, durch welche die Erörterung der buhlschaft zum religiösen Ärgernis geworden wäre: dass von (sündhaften) körperlichen Intimitäten die Rede war, wurde eben nicht gesagt. Nicht nur Theologen haben hinter der buhlschaft gleichwohl eine per se sexuelle Beziehung vermutet: Das war der Grund, weshalb die Begleitumstände wie Flirten, aufreizende Blicke und Gesten für sündhaft erklärt werden. Wo sie eindeutig sexuell konnotiert ist, wird die buhlschaft aber auch in der Dichtung überwiegend als moralisches Ärgernis dargestellt.184 In solch negativer Bewertung wird die buhlschaft mit Synonymen wie büberei185 oder unzucht186, ein ehebrecherisches Verhältnis als ehebruch187 oder hurerei188 abgewertet; unzucht und ehebruch sind dabei der Diktion der Theologie entlehnt, büberei und hurerei (in der Bedeutung ›Ehebruch‹) verweisen wohl eher auf die Alltagssprache. Das weite Bedeutungsfeld, das gerade mit dem Ausdruck hurerei abgedeckt ist, zeigt allerdings, dass es hier erneut weniger um fixe Verhaltensmuster, sondern eher um eine stillschweigende ethische Übereinkunft darüber ging, was in der konkreten Lebenssituation für Männer und Frauen, Alte und Junge, Verheiratete oder Unverheiratete, Kleriker oder Laien opportun war: hurerei kann deshalb ›Ehebruch‹ sowie ›voreheliche Kontakte‹, zumal promiskuitiver Art bezeichnen,189 aber auch das ›Liebesverhältnis eines Klerikers zu einer Frau‹. Insbesondere die proreformatorischen Texte der Streitschriftenliteratur wenden sich gegen diese Art der hurerei unter katholischen Geistlichen:190 Die Geliebte eines Priesters wird dann als hure191 oder beiliegerin, beischläferin, konkubine,192 metze193 und fräulein194 bezeichnet. Als Antonym zur hurerei erscheint in den 184
Brant 1494/1962, 23; Gengenbach 1521/1856, 132; Murner 1519/1931, 70, 85, 168; zahlreiche weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 437–444. 185 Brant 1494/196), 43; Luther 1530/1910, 227; Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 170. 186 Schmidt 1557/1972, 333; Schumann 1559/1893, 300. 187 Brant 1494/1962, 51; Gengenbach 1521/1856, 140, 151; Has 1561/21863, 164; Pauli 1522/1924, 12, 131. Gleichfalls negativ bewertet erscheinen den Ehemann betrügen: Brant 1494/1962, 51; jemandem hold werden (von einer verheirateten Frau gesagt): Brant 1494/1962, 23; Pauli 1522/1924, 146. 188 Ryff 1569, 7v; zur Polysemie von hurerei vgl. Gloning 2003, 169 f.; Kratz 1949, 2, 555. 189 Luther 1529/1910, 162; Sonnentaller 1524/1983, 403; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 555. 190 Barbaro 1536, AIIr; Freiermut 1524/21863, 214; Pfründt marckt der Curtisanen [1521]/1983, 95; Sonnentaller 1524/1983, 402; Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 160. 191 Grosser Preisz 1521/21863, 87; Pfründt marckt der Curtisanen [1521]/1983, 90; Sonnentaller 1524/ 1983, 406; Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 176. 192 Alle drei Belege: Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 162. 193 Ebd., 164; Pfründt marckt der Curtisanen [1521]/1983, 95.
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protestantischen Texten das Wort ehestand195, den Gegensatz dazu bildet wiederum der geistliche hurenstand196. Erasmus Alberus (um 1500–1553) führte in seiner evangelisch gefärbten Bearbeitung der Eheschrift von Francesco Barbaro (1390–1454) zum Doppelleben katholischer Geistlicher aus: „Da kund auch keyn erbarkeyt sein / sonder eyn sewleben / ja eyn papisten vnd romanisten leben“.197 Ebenso deutlich stellte Martin Luther in seinem Großen Katechismus fest, was vom Zölibat zu halten sei: Mönche und Nonnen sollten „aus dem unkeuschen stand yns eheliche leben treten“.198 Sozialhistoriker haben bestätigt, dass in der frühneuzeitlichen Gesellschaft eine Frau mit außerehelichen, besonders aber mit promiskuitiven Sexualkontakten als hure bezeichnet wurde.199 Im Zusammenhang der Anbahnung außerehelicher Sexualbeziehungen werden buhler oder buhlerin200 und bube201 oder bübin202 für den jeweils aktiven Teil, der den Kontakt sucht, gebraucht. Als Antonym zu hure erscheint in Bezug auf Unverheiratete das Wort jungfrau203, als Synonym für die ›außereheliche Geliebte‹ metze204. Bezeichnungen für eine professionelle Prostituierte sind gemeine metze205 oder gemeines fräulein, fahrende frau, freie frau oder freie tochter, leichtfertige frau, offene dirne, offene / offenbare frau, offene sponziererin und unfertiges fräulein.206 Bei der Frage, ob eine Frau als hure zu gelten hatte, stand der finanzielle Gesichtspunkt durchaus nicht im Vordergrund: hurerei bezeichnete vielmehr einerseits ›promiskuitive sexuelle Beziehungen‹ und andererseits ›gewerbsmäßige Prostitution‹; dieser zweifache Wortgebrauch lässt sich auf den Kirchenvater Hieronymus zurückführen und die sündentheologische Vorstellung, dass die soziale Beliebigkeit der Beziehung, nicht das monetäre Interesse für die Sünde der hurerei konstituierend war.207 194
Sonnentaller 1524/1983, 414. Barbaro 1536, AIIr, AIIIv; Catechismus 21575, 60; Mathesius 1567/1897, 32; Luther 1529/1910, 162. 196 Barbaro 1536, AIIr; ähnlich: von Kettenbach 1523/1983, 582. 197 Barbaro 1536, AIIv. 198 Luther 1529/1910, 162; weitere entsprechende Belege bei Puff 2002, 333 f. 199 Belege bei: Lindener 1558/1883, 69, 78, 144 f.; Murner 1519/1931, 226; Pauli 1522/1924, 48, 72, 124; Sachs ˹M. 16. Jh./1880–1887˺, 1, 56; von Zimmern ˹M. 16. Jh./21881–1882˺, 4, 10; zur Sache vgl. Breit 1991, 245; Brundage 1987, 61; Rath 1994, 353; Roper 1989, 112; Schuster 1995, 189. 200 Barbaro 1536, EIv; Pauli 1522/1924, 10, 131, 138. 201 Von Alveldt 1524/1926, 37; Barbaro 1536, BIIr; Has 1561/21863, 171; Pauli 1522/1924, 62, 73; von Zimmern ˹M. 16. Jh./21881–1882˺, 4, 10; weitere Belege in den Fastnachtspielen bei Filzeck 1933, 25 f. 202 Von Alveldt 1524/1926, 37; Grosser Preisz 1521/21863, 88; von Maltiz 1542/1881, 225; Pauli 1522/1924, 135. 203 Albrecht von Eyb 1472/1982, [4v]; Barbaro 1536, BIIIv; Lindener 1558/1883, 70. 204 Pauli 1522/1924, 10, 72, 138; Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 190. 205 Pauli 1522/1924, 89, 93. 206 Belege bei Rath 1994, 353. 207 Vgl. Hoppenrod 1565/1972, 234; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 223; Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 162; dazu vgl. Brundage (1982) 150; Rath 1994; Schuster 1995. 195
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Lyndal Roper hat auf den Unterschied, der im Sprachgebrauch der Reformationsbewegung zwischen gemeinen Männern und gemeinen Frauen gemacht wurde, hingewiesen: Während erstere die gefeierten Helden der evangelischen Sache waren, seien letztere (nämlich die Prostituierten) durch die protestantische Agitation gegen „Pfaffenhuren“ und das politische Vorgehen gegen städtische Bordelle noch stärker marginalisiert worden.208 Im vorliegenden Korpus ist indes kein Beleg greifbar, in dem Sexualpartnerinnen von Zölibatären explizit als gemeine frauen bezeichnet würden. Das in der eben geschilderten Weise mehrdeutige Wort hure traf den gemeinten Sinn auch besser. Dennoch wirkt Ropers Einschätzung überzeugend, dass Frauen im öffentlichen Raum frühneuzeitlicher Städte aufgrund des „built-in intrinsic understanding of the political as male territory“ kaum einen legitimen Ort fanden.209 Im Falle der hurerei von Priestern genügte die Qualität einer nicht-ehelichen Verbindung für die Benennung einer Intimbeziehung als hurerei. Der soziale Degout des Ausdrucks wird aber besonders nachhaltig spürbar, wenn ›gewerbsmäßige Prostitution‹ gemeint war. Diese soziale Welt erschien Bürgerlichen unehrenhaft, religiöse und innerweltliche Normen waren dabei kaum zu trennen. Gegenüber einem Mann galten Beschimpfungen wie hurenwirtsknecht oder kuppler210 als verächtlich, gegenüber einer Frau der Vorwurf, sie komme aus dem hurenhaus211, sei ein hurenbalg212 oder eine kupplerin213. Auch weitere Bezeichnungen für Verstöße gegen sexuelle Normen wurden als Schimpfwörter gebraucht.214 Die moralischen Standards, die beleidigenden Äußerungen zugrunde lagen, lassen sich dabei nicht eindeutig der Moral der Kirche oder einem innerweltlichen Ethos zuordnen. Als Schimpfwörter, die von Verstößen gegen die Normen sexueller Treue in der Ehe und vor- oder außerehelicher Enthaltsamkeit ausgehen, sind belegt: ehebrecher215, frauenschänder216 (›Vergewaltiger‹) und jungfrauschwächer217 (›Ver208
Vgl. Roper 1987, 1 f.; zum „gemeinen Mann“ als „Idealbild für den wahren Christen“ vgl. auch Beyer 1994, 34 f. 209 Roper 1987, 19. 210 Diese beiden Belege: Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 2, 895 f. 211 Ebd., 2, 866 f. 212 Sachs ˹M. 16. Jh./1893˺, 32 f. 213 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 2, 866 f.; Sachs ˹M. 16. Jh./1893˺, 32 f.; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 573–575. 214 Archivalische Belege bei Behringer 1995; Lorenzen-Schmidt 1978; Rath 1994, 354–358; Roper 1991, 191; Schuster 1995, 298 ff.; Schwerhoff 1991, 316 f. 215 Von Alveldt 1524/1926, 37; Belege auch bei Gloning 2003, 171; Lorenzen-Schmidt 1978, 13. 216 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 2, 865; Sachs ˹M. 16. Jh./1880–1887˺, 1, 42; weitere Belege für Schimpfwörter in den Fastnachtspielen bei Filzeck 1933, 19–29. Kratz (1949, 356) hat frauenschänder als ›einer, der Schändliches von einem Weibe spricht‹ interpretiert. In der Tat wird das frauenschänden in dieser Bedeutung in der Dichtung öfters verurteilt. Hier ergibt dieses Verständnis indes wenig Sinn: als Beschimpfung wäre der Vorwurf – anders als ›Vergewaltiger‹ – kaum besonders schlagkräftig. Auch die Übereinstimmung zur Morphologie des Schimpfwortes knabenschänder dürfte dies bestätigen.
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führer‹). Vor allem die besonders schweren Sünden (im Sinne der katholischen Lehre) motivierten eine malediktische Verwendung, belegt sind in Wörterbüchern arschbrauter218 (›Arschficker‹) und arschminner219 sowie archivalisch cynaedus, ketzer, pulscherun / puseran / puseron und sodomit (›Mann, der Sex mit Männern hat‹).220 In einer Predigt prangerte Johann Geiler von Kaysersberg (1445–1510) das sündhafte Treiben der bubenketzer, kuhketzer, frauenketzer und freundschänder an.221 Als besonders ergiebige Quellen erweisen sich die protestantischen Streitschriften. Deren Verfasser dürften sich dabei im Hinblick auf die Breitenwirkung ihrer pamphletistischen Texte bewusst an den Spielregeln des alltäglichen sozialen Umgangs orientiert haben222: Belegt sind dort sodomit und knabenschänder sowie die Abstrakta greuliche sünde223, stumme sünde224 und sodomitische hurerei225. Für ein homosexuelles Verhalten unter Männern stehen weiterhin die Verben ketzern oder florenzen sowie das Syntagma ketzerei mit jemandem treiben / vollbringen.226 Diese Bezeichnungen entsprachen der feindseligen Sichtweise
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Von Alveldt 1524/1926, 37; Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 2, 865; auch belegt bei Lorenzen-Schmidt 1978, 13; jungfrauenschänder belegt bei Thoma 22009, 150; ähnlich der Vorwurf Augustin Alveldts 1524/1926, 46, Luther habe verschiedene „dirnen […] umb die junckfrawschafft bracht“. 218 Schweizerisches Idiotikon 1881 ff., 5, 1003; zum Gebrauch des Verbs brauten als ›koitieren‹ oder ›vergewaltigen‹ vgl. FWb 4, 998. 219 Schwäbisches Wörterbuch 1904–1936, 1, 330. Archivalisch belegt sind für ›einen anderen Mann anal penetrieren‹ die Verbalkonstruktionen jemandem den zebel / zers in den arsch / hintersten stechen oder jemanden in den arsch knuffen: Hergemöller 22000, 136–140. 220 Diese vier Belege bei Schneider-Lastin/Puff 22009, 86; einschlägige Belege findet man weiterhin bei Guggenbühl 2002, 178–180, 184; Hergemöller 2001, 24; ders. 2004; Puff 2002; ders. 2003. Zu pulscherun (von mlat. „bulgarus“, ital. „buggerone“) siehe FWb 4, 1481; Schweizerisches Idiotikon 1881 ff., 4, 1220. 221 Beleg bei Thoma 22009, 150. Die Bedeutungen werden im Kontext nicht näher erläutert. Gemeint sind wohl: ›Knabenschänder‹, ›Kuhsodomiten‹, ›Männer, die auf vermeintlich unnatürliche Weise sexuell mit Frauen verkehren‹ und ›Menschen, die sexuell mit nahen Verwandten verkehren‹. 222 Vgl. Beyer 1994, 83 f., 163–165; Puff 2002, 329 f.; ders. 2003, 176; Russell 1986. Der Sodomievorwurf bildete „das Ende bzw. den Höhepunkt einer Liste von Verfehlungen“ Puff 2002, 336 f.: Helmut Puff (2002 und 2003, 127–166) hat überzeugend herausgearbeitet, wie Martin Luther, besonders in seinem späten Pamphlet Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet (Nürnberg 1545) das schon im Humanismus vorhandene Zerrbild vom „sodomitischen“ Italien und der römischen Kirche verdichtet und intensiviert hat. 223 Alle drei Belege: Alberus 1542/21863, 44; zu mlat. „sodomita“ vgl. Hergemöller 22000, 20 f. 224 Luther 1522/1907, 276; Belege bei Guggenbühl 2002, 41; Hergemöller 22000, 124, 130. Hoefler (1899, 720) verzeichnet zwei Bedeutungen des Syntagmas: ›peccatum sodomiticum‹ und ›Onanie‹. Verbreitet war im späten Mittelalter und im 16. Jahrhundert nur der zuerst genannte Wortgebrauch: vgl. Hergemöller 22000, 19 f., 97, 101–104. 225 Beleg bei Russell 1986, 263 f., Anm. 57; weitere Belege bei Puff 2002; ders. 2003, 140–166. Auch katholische Chronisten unterstellten, die Evangelischen seien eine sodomitische Gemeinschaft: Beleg bei Hergemöller 2001, 29. 226 Belege im FWb 8, 839 sowie bei Hergemöller 22000, 52; ders. 2001, 16; Schneider-Lastin/Puff 2 2009, 73 f., 86. Zum Verb florenzen vgl. Hergemöller 22000, 25; ders. 2001, 19; Puff 2003, 128.
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von außen, die beteiligten Männer selbst benannten ihr Verhalten mit Worten, die sich sonst auf heterosexuelle Kontakte beziehen.227 Verfasser protestantischer Streitschriften haben ihrer Kritik am Lebenswandel katholischer Geistlicher oft auch mit Hilfe von Wortbildungen um das Morphem hure- Ausdruck verliehen: der Sohn eines Priesters sei im hurenbett geboren228, ein Zölibatär führe ein hurenleben und bubenleben229, sei verhurt230, ein hurenführer231, hurenjäger232, hurenpfaffe233, hurenwirt234 oder knecht der hurerei235. Wenn sich ein Geistlicher nach der Reformation noch scheute zu heiraten, mache er aus seinem Leib hurenglieder236, Bischöfe seien landshurenwirte, die Erzbischöfe erzhurenwirte,237 die Klöster hurenhäuser238 und der Papst sei der aller höchste vater und hurenwirt239. Auch auf abstrakte Gegenstände ließen sich solche Malediktionen beziehen: die kluge hure, die natürliche vernunft240, die erzhure, genannt die schul von Paris241, und als hure Babylon242 musste endlich die katholische Kirche in ihrer Gesamtheit gelten. Umgekehrt bezeichneten die katholischen Pamphletisten die Ehen evangelischer Geistlicher als hurerei, ihre Ehefrauen als huren243 und die verheirateten Geistlichen als hurenwirtisch244 oder verhurt245. Für katholische Theologen war dabei von zentraler Bedeutung, dass die Keuschheitsgelübde gebrochen wurden: Damit hatte die Reformation in der Sichtweise ihrer Gegner „den Geistlichen die ander Ehe [nämlich: außer der VerAuch welsche hochzeiten und welsche praktiken (Puff 2003, 127) bezogen sich auf das in Italien vermeintlich besonders häufige homosexuelle Verhalten unter Männern: vgl. hierzu ebd., 125–138. 227 Vgl. Hergemöller 22000, 23; ders. 2001, 23 f.; Schneider-Lastin/Puff 22009, 83. 228 Alberus 1542/21863, 44; die hohe Frequenz der Wortbildungen mit dem Morphem hure- hat auch Kratz (1949, 2, 556–564) betont. 229 Luther 1531/1910, 482; zur malediktischen Verwendung des Wortes vgl. FWb 4, 1299. Hier schließen sich zahlreiche Wortbildungen an – so ist etwa eine bübin eine ›Hure‹ oder ›Dirne‹: ebd., 1307. Eine bubenwirtin (ebd., 1305 f.) ist wohl eher als ›Bordellbetreiberin‹ zu verstehen. 230 Cochlaeus 1582, 258. Cochlaeus zitiert an dieser Stelle aus einer protestantischen Streitschrift. 231 Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 166. 232 Ebd., 189. 233 Barbaro 1536, EIIr. 234 Ebd., DIIIr. 235 Cochlaeus 1582, 227. Cochlaeus gibt an dieser Stelle Aussagen der konfessionellen Gegner wieder. 236 Has 1561/21863, 164. 237 Diese zwei Belege bei Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 195. 238 Thomas Murner (1522/1918, 217) lässt an dieser Stelle die Figur des „Martin Luther“ sprechen; Sonnentaller 1524/1983, 409. Umgekehrt wurden Bordelle ironisch als klöster bezeichnet: vgl. Kratz 1949), 2, 571 f. 239 Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 195. 240 Luther 1522/1907, 295. 241 Sonnentaller 1524/1983, 398. 242 Von Kettenbach 1523/1983, 584. 243 Cochlaeus 1582, 162; Murner 1528/1939, 48, 60, 81. 244 Slegel [1523]/1929, 49 f. 245 Cochlaeus 1582, 258.
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bindung mit Gott] zugelassen“.246 Die Evangelischen bewerteten dies natürlich gerade umgekehrt: Für sie war es „der bapst, der mit seim gesetz der pfaffen hůrerei erhalt, vil hůren macht, die sunst from eefrauen gern weren“.247 Die im Zusammenhang der Erörterung der Priesterehe wechselnde Bedeutung des Wortes hure – mal ist die Geliebte, mal die Ehefrau eines Geistlichen eine hure – lässt sich somit problemlos auf die jeweilige konfessionelle Position der Verfasser zurückführen. Auf Seiten der katholischen Pamphletisten bestand allerdings das Problem, dass die hurerei der Priester schon lange vor der Reformation ein verbreiteter Grund zu moralischen Klagen und nachgerade ein literarischer Topos gewesen ist. Auch in den innerkirchlichen Reformbewegungen hatten Beschwerden über das Konkubinat und die Homosexualität unter Geistlichen eine lange Tradition. Moralprediger wie Johann Geiler von Kaysersberg, Thomas Murner oder Johann Pauli verurteilten sie mit ähnlichen Worten und Argumenten wie später die Vorkämpfer der Reformation. Weil die Benennung des Konkubinats von Geistlichen als hurerei mithin schon längst eine stehende Begrifflichkeit war, war die polemische Bezeichnung der evangelischen Pfarrersehe als hurerei für eine breitere Öffentlichkeit vermutlich wenig plausibel. Und da mit hurerei zudem eine per se außereheliche Beziehung angesprochen wurde, war die Frage der Rechtmäßigkeit der Eheschließung von Geistlichen allein von der jeweiligen theologischen Position abhängig und wirkte deshalb nur für diejenigen überzeugend, die der evangelischen Lehre ohnehin ablehnend gegenüberstanden.
4. Medizinische Fachprosa Implizit, zum Teil auch explizit wird sexuelles Verhalten in medizinischen Texten der frühen Neuzeit nur innerhalb der Ehe zum Thema gemacht.248 Je nach Autor, Text oder Textabschnitt scheint dabei einmal ein religiös motiviertes Misstrauen und dann wieder die Einsicht in die humoralmedizinisch begründbare Notwendigkeit sexuellen Verkehrs im Vordergrund zu stehen. Auf die Lexik hatte dies keine unmittelbaren Auswirkungen – allein in dem 1479 gedruckten Arzneibuch Ortolfs von Baierland lässt die Unterscheidung der spirituellen Gefährlichkeit der unkeuschheit von den positiven körperlichen Wirkungen der minne an einen bewussten Sprachgebrauch denken.249 Damit verfügte die frühneuzeitliche Medizin über keinen eigenständigen Wortschatz für sexuelle Zusammenhänge: Nicht einmal die Verwendung lateinischer Lehnwörter wie koitus war notwendig mit dem Charakter einer um weltanschauliche Neutralität bemühten Fachsprache verknüpft, wie er für das 19. Jahrhundert festzustellen ist.
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Ebd., 167. Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 195. 248 Vgl. übereinstimmend Bosselmann-Cyran 1997, 156. 249 Ortolf von Baierland 1479, LXVr. 247
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Im Jahr 1533 musste sich der Arzt Alexander Seitz (um 1470–um 1544) für Äußerungen, in denen er medizinische und religiöse Argumente miteinander vermischt hatte, vor dem Rat der Stadt Basel verantworten: Seitz wurde vorgeworfen, öffentlich verkündet zu haben, dass „zwey ledige menschen zů latin Solutus cum Soluta die wärch der vnluterkeit one sünd volnbringen möchten“.250 Seitz’ Argument gründete in der Sache auf der humoralmedizinischen Vorstellung, der menschliche Körper sei auf die regelmäßige Entleerung bestimmter Körpersäfte – hier des männlichen und weiblichen Samens, der andernfalls verderbe und zu einem Gift werde – angewiesen. Für diese fachliche Aussage, die von ihm in der Sprache der katholischen Morallehre vorgebracht wurde – bei Unverheirateten seien werke der unlauterkeit aus medizinischen Gründen nicht als sünde zu bewerten, und die juristische Praxis habe sich auf diesen Sachverhalt einzustellen – wurde er dann von der weltlichen Obrigkeit einer Gemeinde verurteilt, die sich in religiösen Fragen kurze Zeit zuvor der Reformation angeschlossen hatte. Es ist wohl kaum ein dichterer Beleg für die enge Verknüpfung von religiösen, sozialen, juristischen und medizinischen Argumenten bei der Bewertung der Sexualität in der frühen Neuzeit denkbar. Ähnlich wie dem Arzt Alexander Seitz stand auch anderen Autoren keine Sprache als die der Theologen zur Verfügung, wenn sie sich gegen deren moralische Botschaft aussprechen wollten. Dies wäre auch zu den humanistisch geprägten sozialethischen Reflexionen des Juristen Johann Fischart (1546 od. 1547–1591) in seinem 1587 gedruckten Philosophisch Ehzuchtbüchlin zu sagen: Fischarts „Vernunftgemäse Ehegebott“ und seine Vorstellungen über die soziale Nützlichkeit des Sexes in der Ehe gingen ebenfalls weit über das hinaus, was die katholische Kirche zu dem Thema zu sagen hatte, und stießen wohl auch unter evangelischen Theologen nicht nur auf Zustimmung.251 Fischart transzendierte die Notwendigkeit, sich eines präexistenten Wortschatzes voller ideologischer Fallstricke zu bedienen, durch seinen subversiven Sprachwitz: Selbst mit den Mitteln der Sprache der katholischen Morallehre ließen sich so Inhalte in Worte fassen, die dieser Lehre in keiner Weise verpflichtet waren. In der medizinischen Fachprosa bedingten die Vorstellungen von der notwendigen Entleerung des Körpers von schlechten Säften und auch die funktionalen Überlegungen zur Fortpflanzung eine spezifische Bedeutungsnuance des Adjektivs keusch: In moralischer Hinsicht galt es zwar als Tugend, keusch252 zu sein, und unkeusch253 im Sinne von ›auf sexuelle Lust fixiert‹254 war eine negative Eigenschaft. Im medizinischen Kontext kann keusch aber auch als ›in psychischer und physischer Hinsicht wenig bereit zur körperlichen Liebe‹ Verwendung finden, Antonyme sind dann Ausdrücke wie mächtig 250
Zit. nach Ukena 1982, 279. Vgl. hierzu ausführlich Holenstein 1991 sowie Wunder 1992, passim. 252 Ficino 1505/1980, 113; von Gersdorff 1517, CLIIr; Konrad von Megenberg 1475/21971, 225. 253 Brunfels 1521, IIII, CV u. ö.; Konrad von Megenberg 1475/21971, 312. 254 Fischart 1578/1895, 182 f.; Hoppenrod 1565/1972, 227; Konrad von Megenberg 1475/21971, 119, 139, 295. 251
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der frauen255, freudig und wohlgerüstet256 (›potent‹). Auch bei solchen gesundheitlichen Überlegungen war der soziale Aspekt nicht zu vernachlässigen: Für einen Ehemann war es von Vorteil, in diesem Sinne freudig, mächtig oder wohlgerüstet zu sein, bei einem Mönch hätte dies ein moralisches und spirituelles Problem dargestellt. Hinsichtlich der Sprache der frühneuzeitlichen Medizin ist noch eine weitere Besonderheit hervorzuheben: Zwischen ›sexueller Erregung‹, ›sexuellem Verhalten‹ und ›sexueller Lustempfindung‹ wurde begrifflich nicht differenziert. Libidinöse Empfindungen oder sexuelle Wünsche werden von Medizinern als anfechtung257, anreizung258, begierde259, brunst260, geilheit261, gelust262 oder lust263, hitze264, kitzel265 und wollust266 bezeichnet. (Eher literarischen Charakter scheinen dagegen bildhafte Wendungen wie nachtdurst267 und nachthunger268 zu haben.) Oft ist bei so allgemeinen Begriffen wie lust, unkeusche oder wollust nicht zu entscheiden, was eigentlich gemeint ist: Erst aus dem Kontext lassen sich Bezugsgrößen, die wir heute als ›Libido‹, ›sexuelle Erregung‹, ›Koitus‹ oder ›sexueller Höhepunkt‹ bezeichnen, semantisch näher eingrenzen. Nahezu alle der genannten Wörter können in diesen Bedeutungen auftreten. In einer Handschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wird zum Beispiel unkeusche (im Sinne von ›Libido‹) von geminnen (im Sinne von ›koitieren‹) unterschieden:
Von Gersdorff 1517, LXXXVIIIv. Beide Belege Brunfels 1521, XXXVIII. 257 Von Gersdorff 1517, LIIIv. 258 Vesalius 1543, Gr. 259 Von Gersdorff 1517, CLIIr; belegt auch bei Dietenberger 1537/1881, 85; Freiermut 1524/21863, 215; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 187, 208, 223; belegt ist auch begierlichkeit und begierung: FWb 3, 608, 610. 260 Konrad von Megenberg 1475/21971, 312; auch belegt bei Luther 1530/1910, 235; Mathesius 1567/1897, 45. 261 Brunfels 1521, CLXX; auch belegt bei Fischart 1578/1895, 172; Hoppenrod 1565/1972, 185; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 247. 262 Konrad von Megenberg 1475/21971, 312. 263 Von Gersdorff 1517, CLIIr. 264 Konrad von Megenberg 1475/21971, 312. 265 De secretis mulierum ˹M. 15 Jh./1985˺, 129; auch belegt bei Luther 1522/1907, 278. 266 Ficino 1505/1980, 116; Vesalius 1543, Gr; auch belegt bei Fischart 1578/1895, 172; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 187 f., 208. 267 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 243. 268 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 100; Schumann 1559/1893, 12, 17, 267. Wendungen mit dem Morphem nacht- dienten in den Fastnachtspielen dazu, unterschiedlichste Gegenstände auf das Sexuelle zu beziehen: vgl. Filzeck 1933, 46 f. So bedeutet nachtgeschwulst ›Erektion‹: Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 244; vgl. dazu auch Kratz 1949, 1: 96 f.; Müller 1988, 105–113; Ragotzky 1991. 255 256
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„Für die vnkäwsch Jtemm wider die vnkäwsch der weiber So nym wermuett nesslen seůen paum pypos celidonia vnd räutten vnd stössz die kraütter vnd trick den saft dar aus vnd gib saft dem weib ze trinken sy wirt kaüsch […] Wer das weib nit geminen mag Jtemm wer das weib nit müg geminen der neme der rintenn des holczes da es sich zw samen fügt die mach zw pulluer vnd sol das mit wasser trinkenn oder seud haselwurz vnd trink es in dem pad.“269
Am ehesten scheint im Frühneuhochdeutschen das Wort hitze eine eindeutige Bezeichnung für die sexuelle Erregung gewesen zu sein: Eine Frau könne bei einem Mann die hitze der geblüte wüten machen oder die verborgene hitze der natur270 erwecken, jemand könne erfüllt werden durch die hitz der liebe oder inbrünstig sein von Venus hitz271. Demgegenüber lässt sich der Ausdruck begierde nur selten eindeutig auf diese Bedeutung eingrenzen, etwa wenn Hans Neidhart berichtet, es sei üblich, dass die Braut vor der Hochzeitsnacht ein Bad nehme, „umb die begird deß manns gen ir zemeren“.272 Eindeutig auf libidinöse Erregung ist auch das Wort lust in der Wendung lust zu den weibern haben273 zu beziehen. Moraltheologen galt das eheliche werk dann als schwer sündhaft, wenn es „der eeman oder eefraw allein von lust wegen volbringt“.274 Allerdings ist in diesem Beleg lust als ›libidinöse Erregung‹ von lust als ›sexuelle Befriedigung‹ nicht eindeutig abzugrenzen. Die unscharfe Bedeutung solcher Ausdrücke zwang Theologen dazu, sie zu komplexen Syntagmen wie begierde unziemliches wollusts275, begierden zur wollust des fleisches276 oder angefochten werden von der begier der unkeusche277 aneinanderzureihen, bis deutlich wurde, um was genau es ihnen ging. Die einzelnen Glieder dieser Wendungen – wollust, begierde, unkeusche – waren dabei letztlich wohl austauschbar und bezeichneten für sich allein keine distinkten Größen im Rahmen des sexuellen Erlebens. Die alltäglichen Wertmaßstäbe der frühen Neuzeit waren, wie oben gezeigt, durch ein Zusammenspiel von Argumenten – darunter religiösen, sozialen und medizinischen – geprägt. Ebenso haben die frühneuzeitliche Theologie, Dichtung und Medizin lexikalische Spuren hinterlassen: Schon im 15. Jahrhundert wurden im Gegensatz zur pessi269
Zit. nach Kruse 1996, 316 f. Albrecht von Eyb 1472/1982, [34v], [35v]. 271 Terenz 1486/1915, 57, 113; weitere Belege bei Kratz 1949, 1, 288–290; Müller 1988, 112 f. 272 Terenz 1486/1915, 102. 273 Von Gersdorff 1517, CLIIr. Ähnlich motiviert ist eine Stelle bei Georg Wickram (1555/1973, 18), an der ein Arzt von „seltzamen glüsten“ bei Frauen spricht. 274 Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 225. 275 Helding 1557/1881, 389. 276 Von Maltiz 1542/1881, 223. 277 Albrecht von Eyb 1472/1982, [3v]. 270
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mistischen Haltung der spätmittelalterlichen Kirche in der Dichtung und der medizinischen Wissensliteratur auch die positiven emotionalen, körperlichen und sozialen Folgen der Sexualität registriert.278 Bei solchen wohlwollenden Darstellungen bediente man sich nicht selten der Sprache der höfischen Dichtung. Später sollte die explizit ehefreundliche protestantische Ehetheologie und -didaktik indes weniger auf den Wortschatz der Dichtung, sondern auf die Sprache der spätmittelalterlichen Theologie zurückgreifen. Die neuen moralischen Botschaften ließen sich – anscheinend problemlos – durch eine inhaltsseitige Umgestaltung des überkommenen moralischen Sprechens vermitteln. Für den heutigen Betrachter stellt sich dies oft als ein vordergründiger Widerspruch zwischen Etymologie oder immanenter „Aussage“ eines Wortes und seinem Gebrauch dar: Negative Aussagen wurden auch über den (eher positiv konnotierten) Ausdruck minne279 getroffen und positive, wo von unkeuschheit die Rede war.280 Wie wichtig außerhalb der katholischen Morallehre die Idee des „rechten Maßes“ in sexuellen Dingen war, zeigt die Betrachtung der syntaktischen Umgebung der erwähnten Ausdrücke. Für die kleinste syntaktische Einheit, die Verbindung von Substantiv und Adjektivattribut, liefert die Dichtung folgende Belege: freventliches halsen281, übrige unkeuschheit282, unmäßlich begierd283 und unordentliche liebe284. Auch in der Medizin spielte die Einhaltung des „rechten Maßes“ im Hinblick auf gesundheitliche Aspekte eine wesentliche Rolle: übrige minne, unmäßige minne285 oder unmäßige unkeuschheit286 seien zu meiden, die minne solle man stattdessen mäßiglichen oder getemperiert pflegen287, die werke der liebe recht brauchen und sie nicht mißbrauchen288. Weiterhin ist von übriger minne289, unziemlicher minne290 und unordentlicher zeit291 des sexuellen Verkehrs die Rede. Verurteilt wurde in jedem Fall das Übermaß körperlicher Lustempfindungen. Bezüglich ihres Inhalts erscheinen indes auch diese Wendungen nicht wirklich eindeutig: Sie geben zwar an, dass das „rechte Maß“ bewahrt werden müsse, machen aber nicht deutlich, wo das vermeintliche „Unmaß“ beginnt.
278
Vgl. Schnell 2002, bes. 241–255. Belege bei Kruse 1996, 317; Zimmermann 1986, 129. 280 Ortolf von Baierland 1479, LXIIIIv. 281 Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 17; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 191. 282 Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 141; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 98. 283 Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 145. 284 Albrecht von Eyb 1472/1982, [6r]; Pauli 1522/1924, 137; Schumann 1559/1893, 300. 285 Beide Belege: Ortolf von Baierland 1479, LXVr. 286 Ryff 1569, 86r. Eine Handschrift aus dem späten 15. Jahrhundert warnt vor „vnmessig vnkeüsch […,] die gar Embsig vnd stat vnkeusch“ ist: Beleg bei Kruse 1996, 449. 287 Ortolf von Baierland 1479, LXIIIIv. 288 Pictorius 1561, 77v. 289 Ortolf von Baierland 1479, LXVr. 290 De secretis mulierum ˹M. 15 Jh./1985˺, 111. 291 Von Gersdorff 1517, LIIIr. 279
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Konzeptionelle Schwierigkeiten, die Gegenstände begrifflich zu erfassen, erklären die semantische Vielschichtigkeit der medizinischen Fachsprache. Karl-Heinz Weimann hat auf die sprachpflegerische Haltung humanistischer Mediziner als Grundlage für Bemühungen um mehr Fachsprachlichkeit hingewiesen. Zur gleichen Zeit ließen jedoch neue medizinische Konzepte (im Rahmen der paracelsischen Medizin) und die Ausweitung des empirischen Wissens (in Anatomie und Botanik) den Umfang sowie den Grad an Synonymie und Polysemie des frühneuhochdeutschen Fachwortschatzes eher noch anwachsen.292 Trotz allererster Ansätze zu einer Reflexion des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs und manch erklärter Absicht der Fachleute ist es im 16. Jahrhundert daher nie zu einer wirksamen Vereinheitlichung der Fachsprache gekommen.293 Daneben bedingte auch die von manchen Humanisten befürwortete und betriebene Übersetzung lateinischer Fachtexte in die Volkssprache294 die Entstehung neuer frühneuhochdeutscher Wortverwendungen: So kann in der medizinischen Fachprosa der Ausdruck fluß beispielsweise auch die reguläre Monatsblutung295 und die Lochien296 bei der Frau, das männliche Ejakulat297 sowie sonst jedwede Form flüssiger Ausscheidungen des menschlichen Körpers (wie Urin, Blut, Eiter oder Wundsekret) bezeichnen. Wegen der fehlenden Übereinstimmung unter den Fachleuten über die Natur der Dinge herrschte umgekehrt ein beträchtliches Maß an (partieller) Synonymie, etwa hinsichtlich der Bezeichnungen für die Nachgeburt: Otto Brunfels spricht dabei von der ander mutter298, also einer vermeintlichen ›zweiten Gebärmutter‹, die bei der Niederkunft vom weiblichen Körper ausgeschieden werde; gemeint war wohl die ›Plazenta‹. Wie schon die Betrachtung der Begrifflichkeit beweist, waren sich die Ärzte über das „Wesen“ der Nachgeburt aber uneins: Auch wenn man sie nicht phänomenologisch als afterburt299, ander geburt300, nachgeburt301 oder mit dem lateinischen Lehnwort secundia / secundina302 benannte, kamen häufig inhaltlich unspezifische Bezeichnungen wie bälgle303, bürtlein304 oder büschlein / büschelein305 zur Anwendung. Die genannten 292
Vgl. Hildebrand 1992; Reeds 1991; Stolberg 2003, 113; Williams 1991, 98–100. Vgl. Bosselmann-Cyran 1997; Hyrtl 1884; Weimann 1968, 376 f. 294 Vgl. hierzu Bosselmann-Cyran 1997, 158–160; Keil 1993; Telle 21988. 295 Brunfels 1521, IIII; Paracelsus 1536/1928, 59; weitere Belege für ›Menstruation‹ bei BosselmannCyran 1997, 156 f. 296 Konrad von Megenberg 1475/21971, 383; [Pseudo-]Ortolf von Baierland ˹um 1495/1910˺, [12]. 297 Brunfels 1521, CXIX; Rößlin 1513/1910, 16. Bei Konrad von Megenberg (1475/21971, 272) wird mit fluss das bei Hämorrhoidenleiden aus dem After austretende Blut angesprochen, welches als ›männliche Menstruation‹ verstanden wird. 298 Brunfels 1521, LXXXV. 299 Ortolf von Baierland 1479, XIIIIr; Ryff 1569, 2r u. ö. 300 Bock 1577, 4v u. ö.; von Gersdorff 1517, CLVr. 301 Brunfels 1521, C u. ö.; Rößlin 1513/1910, 15 u. ö.; Ryff 1556, VIIr. 302 Bock 1577, 4v u. ö.; Rößlin 1513/1910, 15 u. ö. 303 Bock 1577, JJJIIr [= 464r]; bei Ryff 1569, 109v: kindsbälglein. 304 Brunfels 1521, CCXI u. ö.; [Pseudo-]Ortolf von Baierland ˹um 1495/1910˺, aiiiv f.; bei Ryff 1569, 2r: kindsbürtlein. 293
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Ausdrücke treten häufig in längeren Reihungen auf, um den Inhalt für den Leser eindeutig zu identifizieren. Der Vielzahl synonymer Bezeichnungen steht bei identischem Wortvorkommen die inhaltliche Unklarheit gegenüber, was die Nachgeburt anatomisch eigentlich sei: Beschrieben wird die Nachgeburt in der Regel als eine oder mehrere Hüllen, die den Fötus umgeben. Konrad von Megenberg (1309–1374) hat Sacherläuterungen in scholastischer Manier an die Etymologie zurückgebunden, um einen Einblick in das Wesen der Sache zu geben. Balsam, heißt es in seinem Buch der $atur: „treibt […] daz tot kint auz der muoter und zeuht daz pälgel her für, da daz kindel inn ligt in der muoter, daz ze latein secundina haizt, und volgt dem kindel in der geburt, dar umb haizt ez secundina von dem wort sequor daz haizt volgen.“306
Identifiziert wird die Nachgeburt hier wohl mit der ›Fruchtblase‹ oder den ›Eihäuten‹. Darauf weisen auch Begriffe hin, die die Nachgeburt explizit als eine Hülle, die das Kind umgibt, kennzeichnen. Nach Eucharius Rößlin (1470–1526) wird der Fötus von drei fellin (Diminutivform zu fell) geschützt.307 Walter Hermann Ryff († 1548) erklärt dazu: „Vnd diß erst fellin ist genant zu latyn Secundina / vnd zu teutsch / das büschelin / oder nachgeburt.“308
Die Übersetzer der Epitome anatomica haben von deren Verfasser Andreas Vesalius (1514–1564) seine empirisch fundierte Darstellung der Frucht im Uterus übernommen. Alban Thorer (1489–1550) mochte sich bei seiner deutschen Bearbeitung aber nicht auf einen einzigen Ausdruck festlegen, während im lateinischen Ausgangstext allein das Wort membrana erscheint. In seiner Übersetzung wird deshalb ausgeführt: „Die frucht aber die inn der mutter empfangen wirt / ist mit drey windlen vmbgeben. Welcher die ein von jederman die Nachgeburt / zu Latein secundia genant wirt.“309
In der Nürnberger Übersetzung von 1551 werden die windlein / windlen, von denen bei Thorer eine mit der secundina (›Nachgeburt‹) identifiziert wird, innerhalb weniger Zeilen auch als haut oder häutlein, permentlein oder permenthäutlin angesprochen.310 Die lateinische Fachterminologie ist bis heute für den Sprachgebrauch der Medizin beherrschend geblieben, doch wurde im Zuge neuerlicher sprachlicher Normierungsbestrebungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine eineindeutige Begrifflichkeit etabliert. Dabei wurden seit der Antike überkommene Wortverwendungen im Sinne eines neuen wissenschaftlichen Bildes vom Menschen und seiner inneren Natur inhaltlich neu definiert. Genau dies macht die wortgeschichtliche Analyse älterer medizinischer FachRößlin 1513/1910, 15 u. ö.; Ryff 1556, VIIr; Vesalius 1543, Hr. Mit dem Wort büschelein wird an anderen Stellen auch das weibliche Schamhaar bezeichnet. 306 Konrad von Megenberg 1475/21971, 360. 307 Rößlin 1513/1910, 15. 308 Ryff 1556, VIIr. 309 Vesalius 1543, Gr. 310 Vesalius 1551, xviv. 305
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sprache heute schwierig: Die nach jetzigen Maßstäben wissenschaftlich exakte Benennung der mutmaßlichen Bedeutungen der frühneuhochdeutschen Termini fällt ausdrucksseitig mit diesen ineins, konzeptionell waren jedoch ganz andersartige Inhalte angesprochen! Eine konsequent eineindeutige Fachsprache der Medizin existiert im übrigen auch heute nicht: Wer etwa die Physiologie und Psychologie sexueller Lust untersucht, kommt auch sprachlich zu anderen Ergebnissen als eine physiologische Untersuchung der Fortpflanzungsvorgänge.
5. Bezeichnungen für den Geschlechtsverkehr Im bisherigen Gang der Untersuchung wurde aus dem Bereich der Theologie und Dichtung, aber auch der Medizin ein moralisch durchdrungener Wortschatz vorgestellt: Seelische Zustände, sprachliche Äußerungen oder soziale Verhaltensweisen konnten mit seiner Hilfe ebenso bezeichnet werden wie ein konkretes sexuelles Verhalten. Demgegenüber sollen im folgenden lexikalische Einheiten und Fügungen eingehender untersucht werden, die mehr oder weniger eindeutig die sexuelle Vereinigung oder den Koitus bezeichneten – wobei letztlich unklar bleibt, welche sexuelle Praktik angesprochen ist, wenn es heißt, ein Paar sündige miteinander. Dieses Verständnisproblem liegt freilich nicht allein beim modernen Interpreten, denn schon Zeitgenossen haben die Doppeldeutigkeit vieler sprachlicher Zeichen für sexuelle Zusammenhänge hervorgehoben: Die Märe Die mißverständliche Beichte von Hans Folz (1435/1440–1513) bezieht ihre Komik daraus, dass ein Mann in der Beichte sexuellen Verkehr mit Hunden, Schweinen, Ziegen, Eseln und Pferden sowie seiner Mutter, Schwester und Tochter gesteht. Als der Beichtvater ihm daraufhin heftige Vorwürfe macht, leugnet das Beichtkind lachend all diese Vorkommnisse: Der Geistliche habe lediglich seine doppeldeutigen Äußerungen missverstanden.311 Tatsächlich sind nur wenige frühneuhochdeutsche Ausdrücke wie eheliches werk als eindeutige Termini für die genitale Vereinigung anzusehen. Der theologische Wortschatz ist, wie gezeigt, im Bereich des Sexuellen sogar aus funktionellen Gründen semantisch offen, da hier nicht nur der vollzogene Geschlechtsakt als Sünde bewertet wurde, sondern auch Verhaltensweisen, die die Ebene des bloßen Gedankens oder des Traumes nicht verlassen haben mussten. Während nun hure, hurer, hurerei oder huren Ausdrücke sind, die eine negative Wertung implizieren, indem sie den Gegenstand, auf den sie sich beziehen, als sexuell (außerhalb einer gültigen Ehe) kennzeichnen, war, wie gezeigt, der Gebrauch der Wörter minne, buhlschaft und buhlerei dadurch geprägt, dass eine solche Eindeutigkeit gerade vermieden wurde. Der oszillierende Charakter zwischen sublimem Spiel und sexuellem Vollzug zeichnet einen Gutteil der literarischen Darstellung von minne oder buhlschaft aus – was auch die noch immer bestehenden 311
Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 202 f.
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Probleme bedingt, das „Wesen“ der höfischen Liebe literaturwissenschaftlich zu fassen. Natürlich können weiterhin Ausdrücke wie beiliegen oder schlafen mit jemandem auch in wörtlicher Bedeutung erscheinen. Eben diese Uneindeutigkeit wurde in der Dichtung sogar angestrebt: Wenn der Dichter erzählte, jemand habe die Nacht über bei jemandem gelegen, so hatte er noch nicht gesagt, dass das Liebespaar körperlich intim miteinander war – auch wenn man dies annehmen möchte; als Prüfung der Selbstbeherrschung des Liebhabers gehört der concubitus sine actu sogar zu den literarischen Motiven der Minnedichtung. Im 16. Jahrhundert standen sexuelle Vorgänge, sexuelle Regungen, Wünsche und Lüste im Zusammenhang mit komplexen religiösen und sozialen Erwartungen. Daher erscheint es nicht bloß zufällig, dass keine lexikalischen Mittel existierten, den Gegenstandbereich auf den Fortpflanzungsmechanismus einzugrenzen, wie dies seit dem 19. Jahrhundert mit Hilfe des Ausdrucks „Sexualität“ geschehen ist.312 Eher technisch wirken syntaktische Fügungen im Frühneuhochdeutschen, die teilweise heute noch gebräuchlich sind: einer Frau beiwohnen313, jemanden empfangen314 oder halsen315, bei jemandem liegen316 (von einer Frau gesagt), es tun317, einen Mann versehen318 oder je312
Das Substantiv „Sexualität“ erscheint zunächst – anschließend an Linnés neuartige Methode der Klassifikation des Pflanzenreiches – im Zusammenhang der Botanik: Als vermeintlicher Erstbeleg gilt August Henschels Buch Von der Sexualität der Pflanzen (Breslau 1820): vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (21993), 2, 1285. Allerdings spricht Goethe bereits im Jahr 1814 von der „Sexualität“ der Pflanzen: vgl. Deutsches Fremdwörterbuch (1913–1983), 4, 159 f. Älter ist das Adjektiv „sexuell“, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Französischen entlehnt wurde. Wie das lateinische Adjektiv „sexualis“ (und „Sexualität“ im Sprachgebrauch des frühen 19. Jahrhunderts) bezieht es sich auf die Unterscheidung zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht. Pörksen (62004, 29) hat betont, demgegenüber stehe „Sexualität“ heute im umgangssprachlichen Gebrauch für eine Vielzahl menschlicher Gefühlsregungen und Beziehungen wie ›Freundschaft‹, ›Hingabe‹, ›Leidenschaft‹, ›Liebe‹, ›Verbundenheit‹ oder ›Zärtlichkeit‹, deute diese „um in Naturvorgänge“ und mache sie alle gleich. 313 Brant 1494/1962, 52; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 343. Das Wort ist auch in der Bedeutung ›einen gemeinsamen Haushalt führen‹ belegt: Albrecht von Eyb 1472/1982, [4v] f. So wurde es in Scheidungsprozessen gebraucht, wo die Frage zerrütteter Eheverhältnisse entscheidend war: Belege bei Safley 1984, 159, Anm. 75; zum fließenden Übergang beider Bedeutungsnuancen vgl. FWb 3, 1051. 314 Murner 1522/1918, 226 f. 315 Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 17; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 191; Schumann 1559/1893, 280; weitere Belege im FWb 7, 943. Kratz (1949, 2, 310) hat halsen, umarmen, umfangen oder liebkosen als pars-pro-toto-Benennungen für den Koitus interpretiert; die genaue Bedeutung sei im Kontext aber nicht leicht zu bestimmen. 316 Von Gersdorff 1517, LIIIv; Lindener 1558/1883, 78, 90, 150; Luther 1522/1907, 284; Murner 1519/1931, 138; Pauli 1522/1924, 12; Schumann 1559/1893, 12, 36; Weggesprech gen Regenspurg zů ˹1525/21863˺, 190; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 336–339. 317 Wickram 1555/1973, 83; zu den vielfältigen Wendungen um es / die sache machen / treiben / tun etc. vgl. Kratz (1949, 2, 363–365), der solche Konstruktionen als „farblose Wörter“ klassifiziert hat.
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manden umfangen319. Häufig sind Konstruktionen um das Verb schlafen: schlafen bei jemandem320 oder jemandem beischlafen321, eine Frau beschlafen322, schlafen mit jemandem323 oder zusammen schlafen.324 Ziemlich unverbindlich wirken auch die Syntagmen mit jemandem gemeinschaft haben325, eine Frau lieb haben326, miteinander leben327 und jemanden haben328. Henry Kratz hat derartige Verbalkonstruktionen der Sprache der höfischen Dichtung zugeordnet.329 Einen ähnlichen Grad an Unverbindlichkeit scheinen auch die Syntagmen mit jemandem gesellschaft330, kurzweil331 oder labung haben332 aufzuweisen. Biblisch motiviert sind die Verben bekennen oder erkennen333 und berühren334. Diese Wendungen wurden offenbar als eher neutral verstanden, weil 318
Lindener 1558/1883, 90. Cochlaeus 1582, 300; Gengenbach ˹vor 1517/1856˺, 168; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 145; Murner 1519/1931, 222; Ryff 1556, XXIv. Auch bei der Verfolgung mannmännlicher „Sodomie“ wurde technisch von miteinander handeln, es treiben oder miteinander zu schaffen haben gesprochen: vgl. Hergemöller 2001, 24. 320 Von Gersdorff 1517, CLIIr; Liederbuch ˹16. Jh./1867˺, 83; Sachs ˹M. 16. Jh./1880–1887˺, 4, 93. 321 Murner 1519/1931, 105, 130; Ryff 1556, IIv; substantiviert als beischlaf bei Fischart 1578/1895, 167, 172; Helding 1557/1881, 289. 322 Albrecht von Eyb 1472/1982, [52v]; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 202; Konrad von Megenberg 1475/21971, 41, 183; Luther 1522/1907, 283; ders. 1530/1910, 226; Pfründt marckt der Curtisanen [1521]/1983, 94; Schumann 1559/1893, 176, 269; Wickram 1555/1973, 148, 206. 323 Konrad von Megenberg 1475/21971, 41; Murner 1519/1931, 130, 134, 173. 324 Liederbuch ˹16. Jh./1867˺, 96; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 340–343; Melzer 1932, 33. 325 Brant 1494/1962, 77; Terenz 1486/1915, 29; weitere Belege im FWb 6, 858 f. 326 Terenz 1486/1915, 153. Die Rede ist hier von einer Vergewaltigung! Gemeint ist wohl, dass der Koitus tatsächlich vollzogen wurde. 327 Schumann 1559/1893, 315: „Dise zwey liebhabenden lebten so freündtlich und holdselig die erste nacht mit einander, das die edle unnd schöne Marcebilla in der nacht schwanger warde“; mit einer Frau leben kann auch ›eine nichteheliche sexuelle Beziehung führen‹ bedeuten: Terenz 1486/1915, 201. 328 Pauli 1522/1924, 48. 329 Vgl. Kratz 1949, 2, 384 ff. 330 Konrad von Megenberg 1475/21971, 38; weitere Belege im FWb 6, 1475. Johannes Cochlaeus (1582, 226) zitiert aus der Predigt, die anlässlich der Verheiratung Andreas Bodensteins von Karlstadt gehalten worden sein soll: „Wir bitten / verleihe daß alle Priester rechtsinnige Gedancken an sich nemen / vnd seinen Fußstapffen nachuolgen / jhre Beyschläfferin von sich thun / oder diesselben ehelichen / vnd also zu einer ordenlichen Gesellschaft des Eheböths bekehrt werden.“ 331 Brant 1494/1962, 95; Lindener 1558/1883, 120, 144; auch verbalisiert als kurzweilen: Hoppenrod 1565/1972, 189. 332 Schumann 1559/1893, 17. 333 Freiermut 1524/21863, 227; Marcus von Weida 1487/1972, 18; zu dieser Bedeutung von bekennen siehe DWb 1, 1416 f.; FWb 3, 1081 f. Zu erkennen in Luthers Bibelübersetzung als Übertragung von „cognoscere feminam“ in der Vulgata vgl. Melzer 1932, 11; das DWb (3, 866) nennt 1. Mose 4,1 ff. und Matthäus 1,25 als Quellen. 334 Luther 1530/1910, 230 f. Das DWb (1, 1536) verweist auf 1. Mose 20,4, Sprüche 6,29 und 1. Korinther 7,1 als Quellen. 319
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es Theologen in der Regel für notwendig erachteten, näher zu begründen, weshalb ein solches Verhalten als sündhaft zu bewerten sei. Moralische Wertungen können nämlich schon auf lexikalischer Ebene miteinfließen, etwa bei der Wendung etwas unziemliches tun oder den von dem Substantiv heimlichkeit ausgehenden Syntagmen.335 Auch Fügungen mit dem Substantiv wille erscheinen generell eher negativ konnotiert; Beispiele sind: seinen willen vollbringen336 oder noch deutlicher abwertend: ihren mutwillen vollbringen337 (von einer Frau gesagt). Als Rechtsterminus meint seinen willen vollbringen ›notzüchtigen; vergewaltigen‹, auch theologische Ausdrücke wie schänden338 und schwächen339 werden hierfür gebraucht. Weitere Synonyme sind: eine frau beschämen340, bezwingen341 oder notzwingen342, überwinden343, verfehlen344 oder einer frau gewalt antun345. Ihren sozialen Ort hatten diese Ausdrücke in der Sprache des Rechts, die im übrigen anscheinend keine wesentlichen Abweichungen von den von mir näher untersuchten Textsorten aufweist.346 Bei sexueller Gewalt335
Murner 1519/1931, 133 bzw. Konrad von Megenberg 1475/21971, 38. Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 145; zu Syntagmen mit dem Substantiv wille vgl. auch Kratz 1949, 2, 384–391; Melzer 1932, 33. 337 Brant 1494/1962, 53. 338 Agricola 1534/1971, 475; Hoppenrod 1565/1972, 219; Murner 1519/1931, 170; Schumann 1559/ 1893, 183, 294; Wickram 1555/1973, 138; weitere Belege für ›Vergewaltigung‹ bei Kratz 1949, 2, 545–548. Wie Francisca Loetz (2009, bes. 563) gezeigt hat, entsprach der fnhdt. Sprachgebrauch nicht der heutigen juristischen Begrifflichkeit; vgl. dazu auch Burghartz 1999, bes. 336. 339 Von Alveldt 1524/1926, 37; Cochlaeus 1582, 300; Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 17; Murner 1528/ 1939, 49; Schumann 1559/1893, 294; Terenz 1486/1915, 157. Der Übersetzer Hans Neidhart gebraucht auch das Substantiv lästerung für ›Vergewaltigung‹: Terenz 1486/1915, 157. 340 Albrecht von Eyb 1472/1982, [45r]. 341 Schumann 1559/1893, 183. 342 Pauli 1522/1924, 16; Schumann 1559/1893, 184. 343 Terenz 1486/1915, 103. 344 Pauli 1522/1924, 16. 345 Murner 1519/1931, 170. 346 Ausführliche Zitate aus Rechtstexten und archivalisch überlieferten Gerichtsakten finden sich bei Safley 1984, Schuster 1992 und Schwerhoff 1992. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind dort belegt: beschlafen: Safley 1984, 100; beischlafen: Schwerhoff 1991, 381; beiwohnung: Safley 1984, 137, 157; bös lust: Schuster 1992, 118; büberei: ebd., 161, 165; buhlerin: ebd., 161; ehebrechen und ehebruch: ebd., 117; Safley 1984, 109, 113, 125; fleischlich erkennen: Safley 1984, 114; Schwerwoff 1992, 381; gemeine dirne: Schwerhoff 1991, 371; gemeinschaft leisten (›koitieren‹): Schuster 1992, 88; hure: ebd., 115, 127; das Verb huren: Safley 1984, 138 und hurerei: ebd., 125; Schwerhoff 1991, 374 f.; huren- und bubenrecht: Schuster 1992, 87; jungfrau: Schuster 1992, 84; einer Frau kummer antun (sie ›vergewaltigen‹): Schwerhoff 1991, 397; laster: Schuster 1992, 146; magdtum (›Jungfäulichkeit‹): ebd., 80; das mannsrecht holen: Safley 1984, 137; metze oder gemeine frau (›Prostituierte‹): Schuster 1992, 131; das (ehelich) werk: Safley 1984, 114, 138; Schuster 1992, 82, 120, 164; zu schaffen haben mit jemandem (im sexuellen Sinn): Safley 1984, 155; Schwerhoff 1991, 382; eine Frau schwängern: Safley 1984, 116 f., 156; sünde: Schwerhoff 1991, 374; unkeusche treiben: Safley 1984, 115; die werke der unkeuschheit pflegen: Schuster 1992, 164; unrat (›Schmutz‹ in sexueller Hinsicht): Schuster 1992, 157; unreinigkeit (dito): ebd., 113; untüchtig 336
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anwendung wurde der Mann als aktiver Teil als selbstverständlich vorausgesetzt, insofern scheinen etliche der hier versammelten Belege die aus der Sozialgeschichte bekannte Dichotomie vom aggressiven männlichen „Willen“ und der passiven weiblichen „Ehre“ zu bestätigen.347 Albrecht von Eyb (1420–1475) erklärt den Zusammenhang so: „Aber der man als etzlich menner sein als pald er der frawen willen hat erlangt so gedenckt er im also.die fraw ist nach meinem willen gewest vnd allzeit sein wirdet du wilt ausgien vogeln vnd besehen ob du ein andre auff den kloben bringen můgst.“348
Auch Hans Neidhart erläutert für den Leser in dem Kommentar zu seiner Terenzübersetzung, ein Mann, der „seinen willen mit der junckfrawen verpracht“ habe, habe diese vergewaltigt.349 Freilich war die Verwendung der Ausdrücke wille und ehre keineswegs völlig eindimensional entlang der Geschlechtergrenze ausgerichtet.350 Insgesamt machte sich die menschliche Willensfreiheit in der Vorstellungswelt der frühen Neuzeit am ehesten als Neigung zur Sünde bemerkbar. Auch wenn die Sprache des Rechts den heutigen Betrachter an eine gewisse moralische Abgeklärtheit denken lässt, sprechen die institutionellen Verhältnisse in der frühen Neuzeit gegen eine solche Vermutung: Die Verfolgung und Bestrafung von Unzuchtsvergehen durch die Gemeinden ist bis weit in die Neuzeit hinein stets auch als die Verfolgung der „Sünde“ verstanden worden351, und die Rechtsätze stellten eine Verbindung zur christlichen Morallehre explizit her. Freilich existieren auch syntaktische Fügungen zur Bezeichnung des sexuellen Verkehrs, die generell eher positiv bewertet zu sein scheinen: brauten352, liebe353 oder liebhaben354, minne355, minnespiel356, sich durch natürliche gemeinschaft vereinigen357 oder
leben: ebd., 139, 167; unzucht: ebd., 132; Schwerhoff 1991, 375 f.; eine Frau zu seinem willen zwingen (›vergewaltigen‹): Schwerhoff 1991, 397; seinen willen tun mit einer Frau (dito): ebd., 400. 347 Vgl. hierzu Burghartz 1992; Rath 1994, 355; Roper 1991. 348 Albrecht von Eyb 1472/1982, [5v]. 349 Siehe Terenz 1486/1915, 157. 350 Belege bei Cochlaeus 1582, 300; Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 316, 520, 525; Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 2, 243, 282; Liederbuch ˹16. Jh./1867˺, 83; Hoppenrod 1565/1972, 195; Lindener 1558/1883, 144; Luther 1530/1910, 238; Schumann 1559/1893, 64, 182; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 353–355, 389–392. Das Gleiche hat Hoven (1978, 329 f.) für die Sprache der Märendichtung festgestellt. Ein Gegenbeispiel wäre etwa das Syntagma beider wille vollbringen. 351 Vgl. dazu Addy 1989; Loetz 2009, 579–581; Schilling 1986. 352 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 281; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 211; weitere Belege im FWb 4, 998 und bei Kratz 1949, 2, 321. 353 Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 211. 354 Ficino 1505/1980, 123; Ryff 1556, XXv. 355 Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 211. 356 Ebd., 242; verbalisiert als mit [dem Mann] der minne spielen: Ortolf von Baierland 1479, LXVr; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 403–407; Zimmermann 1986, 129. 357 Ryff 1569, 8r.
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auch weiblich handeln358 (von einer Frau gesagt). Eine wohlwollendere Wahrnehmung kann hier unterstellt werden, weil vermittelt wird, sexuelles Verhalten stehe im Zusammenhang mit Liebe oder der Ordnung der Natur.359 Im medizinischen Kontext wird das Wort minne jedoch auch als Synonym zu unkeuschheit gebraucht, und bei Albrecht von Eyb werden „liebe vnd vnkeusche“ ebenso als synonym behandelt wie „lieben vnd beschlaffen“.360 Das theologische Mißtrauen gegenüber sexuellen Lustgefühlen macht sich vor allem bei Ausdrücken wie freude, kurzweil und lust im Kontext bemerkbar. Dabei ist allerdings auch die individuelle Einstellung des Autors zu beachten: Michael Lindener (um 1520–1562) scheint sonst überwiegend negativ konnotierte Ausdrücke positiv zu sehen, wenn er erzählt, ein Bauer, der zeitweise unter Impotenz litt, sei traurig gewesen, „dann er auch bißweylen gern ein zeitliche freüd und wollust gehabt het“.361 Vordergründig ähnlich verharmlosend, aber mit sarkastischem Unterton, formuliert Thomas Murner: „So haben die nunnen stoltze leib, Was haben sie [Mönche und Nonnen] alle beid gethon Das sie die fröden müssen lon, Da alle welt entspringt daruon?“362
Daneben muss erneut die semantische Offenheit solcher Wörter berücksichtigt werden, denn selbstverständlich verweist ein Ausdruck wie freude nicht immer nur auf sexuelle Zusammenhänge! Ebenso kann sich wollust auf jedes irdische Vergnügen beziehen: Bei Johann Hartlieb (†1468) ist lust synonym zu freude, minne und süsse liebe – welche Art sozialer Beziehungen dabei angesprochen ist, bleibt einmal mehr undeutlich.363 Klar abwertend erscheinen dagegen begierliche lust364 und böse lust365 sowie im Textzusammenhang die Wendung sich mit einer frau erlustigen.366 Dabei dürften lust, freude und kurzweil vor allem dann als moralisches Problem verstanden worden sein, wenn sie als lediglich körperliche Vorgänge empfunden wurden: von der lust zur wollust war es schon von der Wortbildung her nur ein kleiner Schritt.
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Pauli 1522/1924, 14. Vgl. übereinstimmend Kratz 1949, 2, 384; Melzer 1932, 36. 360 Albrecht von Eyb 1472/1982, [6r], [52v]; ähnlich Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 242; weitere Belege bei Kruse 1996, 317; Zimmermann 1986, 129. 361 Lindener 1558/1883, 100; ähnliche Belege bei Kratz 1949, 2, 408–412. 362 Murner 1522/1918, 145. 363 Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 211. 364 Grosser Preisz 1521/21863, 87; ähnlich Brant 1494/1962, 106, 187; Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 214, 222; De secretis mulierum ˹M. 15. Jh./1985˺, 129; Murner 1519/1931, 52; Wickram 1555/1973, 138. 365 Dietenberger 1537/1881, 85; Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 243; Luther 1522/1907, 279; ders. 1529/1910, 162. 366 Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 244. 359
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Positiv wird die sexuelle Vereinigung vor allem dann dargestellt, wenn sie auf den ehelichen Koitus eingeschränkt wird: als eheliche beiwohnung367 oder in der Wendung mit dem eheweib minne und liebe pflegen368. Typisch sind solche Fügungen und die damit verknüpfte wohlwollende Betrachtung des ehelichen Liebeslebens für das protestantische Eheverständnis. Johannes Mathesius beispielsweise beschreibt, wie ein Ehepaar „ehrlichem lust vnd begir nachkommen / vnd [sich] mit ordenlicher liebe settingen sollte“.369 Das körperliche Begehren und die sexuelle Lust, die das katholische Sündenverständnis als Ursprung der Sünde bewertet hat, werden in seinen Ehepredigten also wesentlich für die „ordentliche“ Liebe in der Ehe! Positiv bewertet erscheint Sexualität gleichfalls, wenn sie (in einer bestehenden Ehe) zum Zweck der Fortpflanzung vollzogen wird, etwa in Wendungen wie ein kind empfangen (von einer Frau gesagt)370 und kinder machen371 oder kinder zeugen372. Dass Sexualität gerade im Zusammenhang mit Ehe und Fortpflanzung positiv zu bewerten sei, ist ein moralischer Gemeinplatz, der noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein seine Gültigkeit nicht verloren hat. In der medizinischen Literatur, die die physischen Aspekte der Sexualität zum Thema gemacht hat, erscheint die Wendung das werk der liebe vollbringen373. Auch dieses Syntagma zeigt die vermeintlichen Widersprüche zwischen formalem Sprachgebrauch, gemeintem Sinn und der Bewertung des Gegenstandes, denn schließlich waren die werke einer der Kernbegriffe der spätmittelalterlichen Sünden-, Beicht- und Bußlehre: werke der Sünde oder werke der unkeuschheit brachten den Christen um sein Seelenheil, gute werke und werke der Buße versöhnten ihn wieder mit Gott. Als (partielle) Antonyme zu werk erscheinen bei der systematischen Erörterungen der Sündenlehre wort und gedanke,374 begierde375 (›lustvolle Gedanken sexuellen Inhalts‹) und unkeuschheit im herzen376 (›Wunsch nach sexueller Betätigung‹). Daneben erscheinen Fügungen wie unkeusches werk377, unkeusche tat378 oder in dem werk des ehebruchs befunden wer-
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Pictorius 1576, 4; das Wort beiwohnung ist auch mit den Bedeutungen ›soziales Zusammenleben‹ und ›Einssein mit Gott‹ belegt: FWb 3, 1054–1056. 368 Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 241. 369 Mathesius 1567/1897, 36. 370 Brant 1494/1962, 51; Murner 1519/1931, 125, 130. Auch Melzer (1932, 36) hat festgestellt, positive Konnotationen trügen diejenigen Bezeichnungen für den Koitus, die einen Zusammenhang mit Mutterschaft und Zeugung oder natürlichen Vorgängen herstellten. 371 Konrad von Eichstätt 1523/1965, BIIIv; Lindener 1568/1883, 7; Murner 1522/1918, 250. 372 Barbaro 1536, AIIIv; Luther 1522/1907, 294; Mathesius 1567/1897, 35; Schumann 1559/1893, 330. 373 Von Gersdorff 1517, LIIIr, Bl. CLIIr u. ö.; Pictorius 1561, 77v u. ö.; Vesalius 1543, Gr; belegt auch bei Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 145; Lindener 1558/1883, 120. 374 Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 188; Helding 1557/1881, 412. 375 Dietenberger 1537/1881, 59. 376 Ebd., 53. 377 Ebd., 52; Murner 1519/1931, 176. 378 Murner 1519/1931, 180.
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den379. Die Argumente, die die Reformation in der Frage der Rechtfertigung „aus den Werken“ oder umgekehrt „aus dem Glauben“ gegen die vermeintliche „Werkgerechtigkeit“ der katholischen Kirche ins Feld geführt hat, hielten die Begrifflichkeit lebendig. Martin Luther traf die Unterscheidung von bloßer Absicht und manifester Handlung in polemischer Absicht: Auch wenn sich katholische Geistliche tatsächlich sexuell enthaltsam verhielten, sei doch wenig gewonnen, denn „ob sie gleich des wercks sich enthalten, so sticken sie doch ym hertzen vol unkeuscher gedancken und böser lust“.380 Johann Fischart hat den lexikalischen Widerspruch zwischen der höheren Wertschätzung des ehelichen Sexes auf Seiten der Evangelischen und der gleichzeitigen Beibehaltung der überkommenen Begrifflichkeit ironisch vermerkt, indem er witzelte, „daß die Weiber in dem Fall [bei Streitereien] fast Lutherisch sind, lieber predigen dann Stillmeß hören, aber sonst inn anderm Bettgelübde besser Catholisch, mehr auff die Werck dann den Glauben halten“.381 Im inhaltlichen Zusammenhang mit der katholischen Ehetheologie stehen ebenso syntaktische Wendungen, die sich auf die Ableistung der ›ehelichen Pflicht‹ beziehen: Jeder Ehepartner sei schuldig, das eheliche werk zu tun oder das eheliche werk zu reichen oder zu geben382, wenn der andere Teil das eheliche werk begehrt383. Luther erläuterte hinsichtlich juristischer Fragen beim Ehebruch, dass der ehebrecherische Teil „nicht macht hab, die ehe schuld tzu foddern“.384 Im medizinischen Schrifttum nimmt die Frequenz von Wendungen wie eheliches werk385, werk der liebe386, werk der unkeuscheit387 oder werk Veneris388 nach der Reformation sogar erkennbar zu, wobei die theologische Konnotation offenbar verloren ging. Daneben erscheinen sprachlich verwandte Ausdrücke wie die lateinischen Heteronyme actio naturae389, actio Veneris390 und koitus391. Auch unkeuschheit392 wird als
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Pauli 1522/1924, 148. Luther 1529/1910, 162. 381 Fischart 1575/1891, 110. 382 Beide Belege: Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 224. 383 Pauli 1522/1924, 93; vgl. hierzu Schnell 2002, 292–305, 370–378. 384 Luther 1522/1907, 278, 284, 290; ähnlich ders. 1530/1910, 210. 385 Bock 1577, 3v, JJJr [= 463r]; Ryff 1556, IIIr. 386 Von Gersdorff 1517, LIIIr, CLIIr u. ö.; Pictorius 1561, 77v u. ö.; Vesalius 1543, Gr, Alban Thorer übersetzt dabei das lateinische Syntagma Veneris usum; zahlreiche Belege um werk nennt auch Kratz (1949, 1, 215 f.), der sie dem Bildbereich ›alltägliche Arbeit‹ zuordnet und die religiösen Bezüge bei vielen der von ihm zitierten Stellen übersieht; weitere Belege für Bezeichnungen für den Koitus in der medizinischen Fachprosa bei Bosselmann-Cyran 1997, 156. 387 Ficino 1505/1980, 128, 130; von Gersdorff 1517, CLIIr. 388 Ficino 1505/1980, 128; auch belegt bei Terenz 1486/1915, 132. 389 Paracelsus 1530/1923, 145. 390 Ebd., 147; Terenz 1486/1915, 132; belegt ist auch exaltatio Veneris: Paracelsus 1530/1923, 145. 391 Ficino 1505/1980, 130. Der antiklerikale und antiakademische Beigeschmack, den die bildhafte Verwendung fremdsprachlicher Ausdrücke in der Dichtung häufig erkennen lässt, spricht gegen die 380
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Terminus technicus für den Koitus verwendet, ohne dass der Gegenstand deshalb negativ konnotiert wäre: unkeuschheit scheint hier als konkreter körperlicher Akt und nicht als Abstraktbegriff menschlicher Schlechtigkeit in sexueller Hinsicht verstanden worden zu sein. Damit bestand in der medizinischen Fachprosa eine Quasisynonymie von unkeuschheit und werk der liebe, die aus theologischer Perspektive nur schwer nachvollziehbar war. Der metaphorische Charakter weiter Teile des frühneuzeitlichen Wortschatzes für sexuelle Zusammenhänge hat in der Sprach- und Literaturwissenschaft große Aufmerksamkeit gefunden und bisweilen Anlass zu weitreichenden psycho- oder mentalitätshistorischen Spekulationen gegeben. Hervorgehoben wurde stets die hohe Frequenz und Vielfältigkeit bildhafter Wendungen für sexuelle Gegenstände in der Dichtung.393 Karl Filzeck hat der Metaphorik in den Fastnachtspielen eine prinzipiell euphemistische Funktion zugesprochen: „Für das Sexuelle kommt in der folgenden Behandlung in erster Linie der Euphemismus in Frage. Man führte in den Fastnachtspielen die geschlechtlichen Vorgänge in der Umschreibung und Verhüllung vor“ – diese Einschätzung hat in der Forschung später allerdings wenig Zustimmung gefunden.394 Tatsächlich dürfte die bildhafte Sprache gerade in den Fastnachtspielen doch eher der Steigerung des vergnüglichen Effekts gedient haben. Dass hier eher der Wunsch der Vater des Gedanken war, zeigt sich daran, dass Filzeck weiter hervorhebt, es sei auch nötig, dass ein Mensch in diesen Dingen „Rücksichtnahme seiner Umwelt gegenüber“ entwickele.395 Über den per se verhüllenden oder aber drastischen Charakter der sexuellen Metapher scheint mithin keine Einigkeit zu erzielen zu sein, und die Funktion eines sprachlichen Bildes sollte wohl besser anhand des einzelnen Textabschnitts diskutiert werden. Dass man für sexuelles Verhalten eine potentiell unendliche Anzahl bildhafter Wendungen finden konnte, haben schon Zeitgenossen wie der Schwankdichter Michael Lindener festgestellt: „Das kindermachen hatt aber noch wunderbarliche seltzamme nammen, dann es wunder thůt und macht, als: stropurtzlen, ficken, nobisen, raudi-maudi, schriri-schriri, nullen, meuscheln,
Vorstellung, dass Fremdwörtern für sexuelle Gegenstände – wie Melzer (1932, 22 f.) annimmt – durchweg eine entschärfende Funktion zuzuschreiben ist. 392 Ficino 1505/1980, 128, 130; Ortolf von Baierland 1479, LXVr; [Pseudo-]Ortolf von Baierland ˹um 1495/1910˺, aiiv; Paracelsus 1536/1928, 55, 57; syntagmatisch als unkeuschheit treiben / vollbringen: Ficino 1505/1980, 49, 85, 87 u. ö.; Ryff 1569, 86r; verbalisiert als unkeuschen: Konrad von Eichstätt 1523/1965, [IIIIr]; Konrad von Megenberg 1475/21971, 124, 162 u. ö. 393 Das Verzeichnis von Belegstellen, die Kratz (1949, 1, 49 ff.) in der Dichtung als Metaphern gewertet hat, umfasst rund 550 Seiten! Zur sexuellen Metapher in der frühneuhochdeutschen Dichtung vgl. weiterhin Beutin 1990b; Filzeck 1933, 43–52; Hoven 1978, 334–341; Melzer 1932, 47–55; Müller 1988. 394 Filzeck 1933, 9, ähnlich Melzer 1932, 1; zu der entgegengesetzten Einschätzung kommen Hahn 1994, 485 f., Kratz 1949, 1, 9 f., und Ragotzky 1991, 430. 395 Filzeck 1933, 43.
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zůsammenschrauben, pirimini, leůß im peltz, pampeln, strampeln, federziehen, auff dem hackpret schlahen, pfefferstossen, immberreiben, fleyschlen, holtzhawen, scheiterklühen etc.“396
Gerhard Melzer hat alle in diesem Beleg genannten Wörter als Euphemismen verstehen wollen und wie Filzeck unterstellt, im Umgang mit schambesetzten Gegenständen seien grundsätzlich nur sprachliche Vermeidungsstrategien denkbar. Wie der Soziologe Norbert Elias hat Melzer dies auf eine globale Steigerung des gesellschaftlichen Schamempfindens zurückgeführt: „Das deutsche Schicklichkeitsgefühl verfeinert sich in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts […]. Den Höhepunkt erreicht diese Entwicklung in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts.“397 Seit dem Ersten Weltkrieg sei dann allerdings eine zunehmende Lockerung der Sitten oder, wie man später sagte, ein „Informalisierungsprozess“398 zu beobachten. Schon die Vorstellung, dass der kreative Umgang mit den systemeigenen Möglichkeiten der Sprache immer verhüllende Funktionen erfüllen soll (Ausnahmen hielt Melzer immerhin für möglich), erscheint fragwürdig. Wenn bei Melzer aber gerade Michael Lindeners grobianische Dichtungen wiederholt als Beispiel für euphemistisches Sprechen herhalten müssen399, kann eine solche Deutung klar zurückgewiesen werden: Die Hingabe, mit der dieser Autor sexuelle und skatologische Vorgänge in immer neue, orginell gestaltete Bilder packte und sich noch dazu über den Sprachgebrauch moralisch empfindlicherer Zeitgenossen lustig machte, spricht eher für sein vergnügtes Erstaunen über die enorme Variabilität der Sprache. Auch außerhalb der Schwankdichtungen lassen sich viele Ausdrücke für sexuelle Gegenstände als Metaphern verstehen: Unmittelbar durchsichtig erscheint dies bei biblischen Wendungen wie vermischen oder den theologischen Fachausdrücken aus dem Wortfeld lauter, rein oder sauber. Weniger offensichtlich ist der metaphorische Charakter bei den Sytagmen um schlafen, wohl vor allem deshalb, weil sie heute noch verwendet werden. Henry Kratz hat versucht, „primäre geschlechtliche Bezeichnungen“ von metaphorischen Ausdrücken abzugrenzen, aber zugleich festgestellt, bei vielen Beispielen erscheine ihm eine solche Unterscheidung unsicher.400 Auch Johannes Müller kommt zu der Einschätzung, dass „es aus heutiger Sicht kaum möglich ist, zwischen kreativer, konventioneller und verblasster Metapher zu unterscheiden“.401 Die entsprechenden Zuweisungen fallen dann bei verschiedenen Literaturwissenschaftlern auch sehr unterschiedlich aus; so wirkt es etwa kaum nachvollziehbar, wenn Heribert Hoven die Bezeichnungen glied und striegel (für den ›Penis‹) oder scham und schoß (für das ›weibliche Genital‹) für „Bezeichnungen ohne jede verhüllende Absicht“ erklärt.402 396
Lindener 1568/1883, 7. Melzer 1932, 3; zum prinzipiell euphemistischen Charakter der sexuellen Metapher vgl. ebd., 18. 398 Vgl. Elias 1989; Wouters 1999. 399 Vgl. Melzer 1932, 18, 22, 29. 400 Vgl. Kratz 1949, 1, 15, 49. 401 Müller 1988, 24. 402 Hoven 1978, 336: darin seien sie dem Ausduck fotze oder fud vergleichbar; sonstige Belege für die Benennung der weiblichen Geschlechtsteile in der Fastnachtsdichtung bei Filzeck 1933, 48 f.; 397
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Von grundlegendem Interesse wäre vielmehr die Frage, inwieweit den Zeitgenossen der uneigentliche Charakter ihrer Sprache bewusst war – eine Frage, die sich heute freilich nicht wird beantworten lassen. Man kann wohl unterstellen, dass Sprecher eine Metapher tendenziell umso weniger bewusst als sprachliches Bild wahrnehmen, je häufiger sie gebraucht wird. Recht allgemein formuliert erscheinen etwa die folgenden Bezeichnungen für den sexuellen Verkehr: es jemandem ausrichten (von einer Frau gesagt)403 oder es miteinander ausrichten404, jemanden besteigen405, bucken406, ficken407, reiben408, ringen409, schießen410, stechen411, stoßen412, vermischen413 und wenden414. Als Gegenstück zu einer solchen „abgeschliffenen“ Metapher wäre die originäre schriftstellerische Leistung eines Autors anzusehen. Hier kann sich der moderne Leser in seiner Einschätzung allerdings leicht täuschen: Scheinbar orginelle Formulierungen wie das komplet / die mette / den psalter beten / lesen / singen finden sich in zeitlich voneinander weit entfernten Texten.415 Eine bloß landschaftsgebundene Metaphorik konnte jedenfalls zu Verständigungsproblemen führen, wie der Schwankdichter Valentin Schumann in einer Erzählung verdeutlichte: „Auch so thet er wie auff ein zeyt ein Sachß; kame inn das Schwabenland zů einer würthin und hette geren zu morgen gessen, fraget, ob sie ihm wolt zů essen geben. Die würthin sprach: ‚Ja Kratz 1949, 1, 40–45; Müller 1988, 35–76; in der medizinischen Fachprosa bei Bosselmann-Cyran 1997, 154–156. 403 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 69. 404 Schumann 1559/1893, 14. 405 Lindener 1558/1883, 142: „fieng die brawt an unnd freget iren vatter, ob das der wäre, der ir iren leyb besteygen oder beklettern solt […] sagt man doch, es sey ein groß wunder, daß die leütt auff einander steygen und bedürffen keiner layttern nit“; ähnlich der Beleg bei Schumann 1559/1893, 60. 406 Murner 1522/1918, 252; bucken bedeutet ›niederbiegen, beugen‹: FWb 4, 1348. 407 Lindener 1568/1883, 7. Dem DWb (3, 1617) zufolge handelt es sich um den Erstbeleg für den Gebrauch des Wortes in dieser Bedeutung, was Kratz (1949, 1, 207) auch bestätigt hat. Nicht verzeichnet wurde in beiden Fällen ein etwa zeitgleicher Beleg in der Zimmerischen Chronik: von Zimmern ˹M. 16. Jh./21881–1882˺, 4: 10. 408 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 93, 521; Lindener 1558/1883, 63, 92; weitere Belege bei Kratz 1949, 1, 205 f.; belegt auch in der Bedeutung ›jemandem Prügel verpassen‹: Filzeck 1933, 38; Filzeck verweist auf die Verwendung des Wortes im Sinne von ›massieren‹ im Badebetrieb. 409 Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 249. 410 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 524. 411 Ebd., 436; ebenfalls belegt ist ein Mann gute stich pflegen: ebd., 521 oder stich tun: ebd., 522; zahlreiche ähnliche Belege bei Kratz 1949, 1, 202 f. 412 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 523; Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 116; Lindener 1558/ 1883, 90. 413 Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 205; Mathesius 1567/1897, 31; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 223; substantiviert als vermischung: Albrecht von Eyb 1472/1982, [27r]; Mathesius 1567/1897, 31; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 224; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 468 f. 414 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 521. 415 Belege bei Beutin 1990b; Filzeck 1933, 46; Kratz 1949, 1: 259; Wenzel 1995, 435, 539.
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wolt ihr ein guttes brülin haben?‘ Der Sachß verstůnde nicht das wort brülin (dann in seinem heymet heyßt brüen den nachthunger büssen) und sprach zů der würtin: ‚Wat brües du? Geb my to eten, darnach soll ich brüen.‘ Vermeynet, es wär der würthin umb das nächtliche arbeyten.“416
Die Doppeldeutigkeit der sexuellen Metapher brühe erscheint hier als produktives Element für eine scherzhafte Erzählung. Im Fastnachtspiel und bei weiteren Schwankdichtungen kann auch sonst jeder nur denkbare Lebensbereich als Bildspender für sexuelle Zusammenhänge herangezogen werden.417 So werden in dem Märe Die Beichte der zwölf Frauen die Nöte sexuell frustrierter Ehefrauen in sprachliche Bilder gepackt, die ihrem jeweiligen häuslichen Umfeld entnommen sind – es treten auf: die Frau eines Müllers, eine Bäuerin, die Frau eines Schusters, eines Schneiders, eines Schmieds, eines Fischers, eines Weinschenks, eines Lederers, eines Webers, eines Kürschners, eines Metzgers und eines Kaufmanns.418 Ansonsten sind in dem hier zugrundegelegten Korpus als Metaphern aus dem Bereich des bäuerlichen oder häuslichen Lebens belegt: arbeiten419, ausdreschen420 (von einem Mann gesagt), den birnbaum schütteln421, bletzen422, das fleisch anrichten423, die kleine hausarbeit vollbringen424, einer Frau einen herabhacken425, holz hauen426 oder holz tragen427, läuse im pelz haben (von einer Frau gesagt)428, löcher 416
Schumann 1559/1893, 267. Lexikologen haben Schumanns Einschätzung bestätigt: vgl. DWb 2, 224; Kratz 1949, 1, 128, 2: 321. Völlig unbekannt war die sexuelle Metaphorik um brühe zumindest im Nürnberger Raum aber nicht: Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 261; Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 274. 417 Vgl. übereinstimmend Beutin 1990b, 7; Hoven 1978, 337 f.; Müller 1988, 23 f. 418 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 520 ff. 419 Schumann 1559/1893, 267. 420 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 520; ebenfalls belegt ist schwingen (von einem Mann gesagt: ebd.); weitere Belege aus der Landwirtschaft bei Filzeck 1933, 44. Dass „eine Menge Wendungen zur Bezeichnung des Geschlechtsaktes […] von Ausdrücken für die tägliche Arbeit des Menschen entnommen“ sind, hat schon Filzeck (ebd., 43) festgestellt; Belege bei Kratz 1949, 1, 211–221; Müller 1988, 128–137. Wolfgang Beutin (1990a, 116) hat sich psychoanalytischen Überlegungen angeschlossen, wonach eine solche Symbolik anthropologisch bedingt und daher überhistorisch sein soll. Für die meisten Menschen in der westlichen Welt spielt die Landwirtschaft in ihrer Lebenserfahrung heute allerdings keine Rolle mehr. 421 Schumann 1559/1893, 279. 422 Lindener 1558/1883, 127; weitere Belege FWb 4, 608; bletzen bedeutet ›flicken‹ oder ›pfropfen‹. 423 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 260. 424 Schumann 1559/1893, 18, 64, 240. Auch ein medizinischer Text spricht davon, dass „der man siner arbeit pfligt mit der frowen“: Beleg bei Kruse 1996, 270. 425 Lindener 1558/1883, 144. 426 Ders. 1568/1883, 7. 427 Sachs ˹M. 16. Jh./1880–1887˺, 3, 116. 428 Lindener 1558/1883, 91; ders. 1568/1883, 7 – wohl eine Anspielung auf das Schamhaar der Frau; ähnlich in der Deutschen Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 436: „ich will mich an in [den Frauen] rechen | und wil wie alle stechen | in iren rauhen flek ain stich“ sowie bei Schumann 1559/1893, 266: „Welcher mägdt man yetzt sehr vil findet, die baß wüßten ein wurst auff einem rauhen teller zu bratten dann einem ein recht fußwasser zu kochen“.
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aussuppen429, den nachtgraben fegen430, eine Frau schaben431, einer Frau das wieslein mähen432, die wurst braten433 oder die wurst essen434. Metaphern aus dem Bereich des Handwerks sind: anzapfen435, leder gerben436 oder einer Frau das fell gerben437, einer Frau ein gut produkt geben438, schmieden, einen guten stich tun439 und etwas zusammenschrauben440. Metaphern aus dem Bereich von Handel und Geldgeschäften sind: bei einer Frau sein geschäft ausrichten441, in kundschaft kommen442 und einer Frau den nachtzins geben443. Metaphern aus dem Bereich der Medizin444 und anderen Gebieten der Gelehrsamkeit445 sind: einer Frau helfen446, einer Frau die arschwurzel einreiben447, die farzader schlagen448 und einer Frau ein kraut auflegen449.
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Wickram 1555/1973, 208. Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 243. 431 Murner 1522/1918, 272. 432 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 144, 260; weitere derartige Belege bei Filzeck 1933, 44; Kratz 1949, 1, 122–125; Müller 1988, 36–39. 433 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 262; Schumann 1559/1893, 266; weitere Belege bei Filzeck 1933, 45; Kratz 1949, 1, 130–134. 434 Lindener 1558/1883, 156, 160; weitere Belege zu ›Essen‹ und ›Trinken‹ als Bildspender sexueller Metaphern bei Filzeck 1933, 45, 48; Kratz 1949, 1, 60 f., 96–119, 145; Müller 1988, 42 f., 121– 128. 435 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 523; ebd. sind auch belegt dem faß einen reif geben und den zapfen in das faß stoßen. 436 Murner 1528/1939, 81; ders. 1522/1918, 129, 272, u. ö. 437 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 523. 438 Lindener 1558/1883, 114. 439 Beide Belege: Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 521 f. 440 Lindener 1568/1883, 7. 441 Sachs ˹M. 16. Jh./1880–1887˺, 4, 93. 442 Wickram 1555/1973, 83, hier deutlich in euphemistischer Funktion gesagt. 443 Schumann 1559/1893, 244, 247; auch belegt sind der Frau seinen zins geben: ebd., 17 und die werke des zehent verrichten: Belege bei Beutin 1990b, 13; Kratz 1949, 1, 265; weitere ähnliche Belege bei Filzeck 1933, 45; Kratz 1949, 1, 122 f. 444 Zur Medizin als Bildspender sexueller Metaphern vgl. Kratz 1949, 1, 240–250; Pfister 1990, 84. 445 Hierher gehört pennal (›Schreibfederbüchse‹) als Metapher für das männliche Glied: Lindener 1558/ 1883, 100; zugrunde liegt wohl ein Wortspiel mit dem lateinischen penis: vgl. DWb 13, 1541. Der Märendichter Peter Schmieher verwendet griffel (Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 94), Valentin Schumann (1559/1893, 287) schreibfeder als Bezeichnung für den Penis. Zu ›schreiben‹, ›Schreiber‹ und ›Schrift‹ als Bildbereich für sexuelle Vorgänge vgl. auch Beutin 1990a, 116; Wenzel 1995, 434–441. 446 Wickram 1555/1973, 83. 447 Lindener 1558/1883, 92. 448 Ebd., 114, vielleicht: ›Analverkehr ausüben‹; farzader bedeutet ›Enddarm‹: vgl. DWb 3, 1334. 449 Lindener 1558/1883, 147; ähnlich Schumann 1559/1893, 287. 430
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Metaphern aus dem Bereich alltäglicher Vergnügungen sind: Mann und Frau miteinander im brett spielen450, reigen springen451 und das welsche tänzlein springen452. Metaphern aus dem Bereich der Jagd sind: ein Mann nach fischen jagen453, mit dem rechten pfeil schießen454, vögeln und eine Frau den vogel fangen455. Einige Metaphern nehmen ihren Ausgangspunkt von Bezeichnungen für die weibliche Schambehaarung: der Frau ihren rauhen fleck anstechen456 und eine wurst auf einem rauhen teller457 braten. Bildhafte Wendungen ohne eindeutiges Motiv sind: eine Frau im hintern / im arsch lecken458 und ein paar hoden vor das ofenloch hängen459 und fremde haare auf dem bauch haben (von einer Frau gesagt)460.
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Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 526; es handelt sich um ein Wortspiel mit „im Bett spielen“; ähnlich motiviert erscheint minnespiel: Hartlieb ˹M. 15 Jh./1970˺, 242; auch belegt bei Zimmermann 1986, 129; verbalisiert als mit [dem Mann] der minne spielen: Ortolf von Baierland 1479, LXVr. 451 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 263; weitere Belege zur Metaphorik von Musikinstrumenten (fiedel, geige, laute, trommel) für die Genitalien: von Zimmern ˹M. 16. Jh./21881–1882˺, 4, 10 sowie bei Filzeck 1933, 46, und Müller 1988, 53–55; Metaphern aus dem Bereich von ›Musik‹ und ›Tanz‹ für sexuelle Gegenstände sind weiterhin belegt bei Kratz 1949, 1, 266–279, und Müller 1988, 137–143. 452 Lindener 1558/1883, 156, 176. Die „Welschen“ galten schon in der Frühneuzeit als Experten in Liebesdingen: eine über den Rhein führen bedeutet ›koitieren‹: Schumann 1559/1893, 51, 53; weitere Belege bei Kratz 1949, 2, 461 f.; Melzer 1932, 50 f. 453 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 523; ebd. belegt ist auch fischen. Der Kontext lässt an eine Anspielung auf den weiblichen Genitalgeruch denken. Im Fastnachtspiel erscheint der Fisch auch als Bildspender für das männliche Geschlechtsteil in der Wendung den fisch in die reußen bringen: Beleg bei Filzeck 1933, 47; zur Jagdmetaphorik für ›Koitus‹ vgl. weiterhin Kratz 1949, 1, 250–254. 454 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 524. 455 Lindener 1558/1883, 159 – womöglich eine Lehnübersetzung aus dem Italienischen, belegt etwa bei Boccaccio. Unklar ist, ob das einfache Verb vögeln (›koitieren‹) hiervon abzuleiten ist: Albrecht von Eyb 1472/1982, [5v]; Schumann 1559/1893, 276, 279. Kratz (1949, 1, 157; 2, 464) hat vögeln in diesem Sinne als Jagdmetaphorik gedeutet. Konrad von Megenberg (1475/21971, 169, 181, 192, u. ö.) benennt mit vögeln die Paarung bei Vögeln: vgl. auch DWb 26, 432. Auch sonstige fachsprachliche Ausdrücke für die Paarung von Tieren dienen zur Benennung menschlicher Sexualität: Valentin Schumann (1559/1893, 222) warnt davor, ein Mensch solle nicht rammeln „wie das unvernünfftige thier“. 456 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 436. Metaphern für das weibliche Schamhaar sind fledermaus, igel, katze oder nest: Belege bei Kratz 1949, 1, 67, 160 f., 2: 510–513. In einem Fastnachtspiel (15. Jh./1853, 1, 225) heißt es: „So wundert mich ein dink gar hart, | Warumb ein frau hat unden ein part“. 457 Schumann 1559/1893, 266. 458 Ebd., 60, 289; weitere entsprechende Belege im FWb 9, 557. Die hier zitierten Stellen bei Schumann sind eindeutig sexuell konnotiert. Ob sie auf analen Verkehr zu beziehen sind, bleibt unklar: zur metonymischen Verwendung von arsch für den Genitalbereich vgl. FWb 2, 166 f. 459 Schumann 1559/1893, 88. 460 Lindener 1558/1883, 144.
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Metaphern aus dem Bereich der Tierwelt sind: einer Frau den igel stechen461 und das gefieder anstechen462. Metaphern aus dem Bereich des höfischen Lebens sind: dem Mann den hofdienst463 oder reitersdienst tun464 und fechten mit der stangen465. Solche Metaphern des Kampfes haben einige Forscher zu psychohistorischen Spekulationen über die Sexualität in früheren Zeiten veranlasst: Johannes Müller erkennt darin den Ausdruck einer „unterschwellig gewalttätigen und sadistischen Einstellung […] zur Sexualität“466, tiefenpsychologische Zusammenhänge mit dem „Urerlebnis“ der elterlichen Sexualität auf Seiten des Kindes seien ebenfalls nicht auszuschließen. Auch Horst Wenzel glaubt an eine naturwüchsige „Einheit von männlicher Gewalt und Aggression“, weshalb dieser Bildbereich früher „besonders produktiv“ gewesen sei.467 Burkhardt Krause hat, in Anlehnung an Hans Peter Duerr, ebenfalls „anthropologische Eigentümlichkeiten“ beim Mann als Ursache der verbreiteten Kampfmetaphorik gesehen.468 Große Aufmerksamkeit hat auch die Verwendung religiöser Metaphern hervorgerufen.469 Beispiele sind: der Frau den ablaß geben, büßen470, gebet471 (›Koitus‹), gottes461
Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 259; belegt ist auch einen igel schinden: FWb 8, 17. Tiermetaphern (esel, fisch, igel, pferd, vogel) für die Geschlechtsteile nehmen im Fastnachtspiel einen prominenten Platz ein: Belege bei Filzeck 1933, 47; Kratz 1949, 1, 148–161; Müller 1988, 52 f., 90– 94. Keine rechte Erklärung konnte Kratz (1949, 1, 148 f.) für die hohe Frequenz von esel als Bezeichnung des männlichen (aber auch des weiblichen) Geschlechtsteils im Fastnachtspiel finden. Müller (1988, 90) hingegen sieht den Esel als „Symbol für sexuelle Potenz und Brünstigkeit“. Das DWb (3, 1148) kommentiert, der Esel sei „mit großem Zeugungsgliede begabt“ und gelte deshalb bereits in der Antike als Fruchtbarkeitssymbol. 462 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 521. 463 Lindener 1558/1883, 95; ähnlich einer Frau auf zwei knien dienen: Filzeck 1933, 47; oder in den Fastnachtspielen (15. Jh./1853, 2, 519): „Wir wollen und gern der jugent nieten | Domit wir frauen dinst erpieten | Unter dem gurtel und darob.“ Zum höfischen Leben als Bildbereich sexueller Metaphorik vgl. auch Beutin 1990b, 19 f. Kratz (1949, 2, 420) hat die Verwendung von Metaphern aus der höfischen Sphäre als „Verspottung der ritterlichen Dichtung und Denkweise“ gedeutet. Obwohl Filzeck (1933, 9, 62) den Bereich des Rittertums als eher ausgefallenen Bildspender eingeschätzt hat, zeigen seine Belege, dass eine Waffenmetaphorik (degen, pfeil, sper, spieß) in bezug auf den Penis keineswegs selten war: ebd., 49 f. 464 Lindener 1558/1883, 144; zu reiten für ›koitieren‹ vgl. auch Kratz 1949, 1, 280–287. 465 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 243; vgl. dazu auch Filzeck 1933, 44. Waffen als Bildspender für das männliche Geschlechtsteil erscheinen häufig in den Fastnachtspielen, es kommen aber auch harmlosere „Waffen“ wie gerte, stange oder stecken zur Sprache: vgl. ebd., 49 f. 466 Müller 1988, 146; weitere Belege für Kampfmetaphern ebd., 56–58, 79–82; Kratz 1949, 1, 182– 198. 467 Wenzel 1995, 429 f. 468 Krause 1996, 79. 469 Vgl. Beutin 1990b; Dinzelbacher 1994; Filzeck 1933, 10; Kratz 1949, 1, 257–265. Filzeck (1933, 9) hat unterstellt, „etwas entlegenere Gebiete wie Kirche und Rittertum“ würden selten als Bildspender herangezogen, weil in „primitiven“ Völkern prinzipiell „Scheu“ vor der Benennung des Religiösen bestanden habe. Kratz (1949, 1, 257) hat demgegenüber die große Zahl entsprechender Belege festgestellt und sie als Ausdruck eines verbreiteten Misstrauens gegenüber Geistlichen in-
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dienst472 (dito), die mette singen473 oder die kapelle besingen474, den komplet beten oder lesen475, den psalter lesen476 oder singen477 und den pilger einlassen478 (von einer Frau gesagt). Spätere (protestantische) Autoren wollten dies auch als symptomatisch für die „Unsittlichkeit“ der katholischen Kirche verstanden haben.479 Bei aller philologischen Begeisterung für die unverdorbene Ursprünglichkeit früherer Menschen herrschte der Ton der Rechtfertigung für die Beschäftigung mit dieser Art von Literatur vor.480 Das Gegenstück zur Verwendung religiöser Motive für sexuelle Vorgänge waren geschlechtliche Metaphern für religiöse Erfahrungen, etwa in der mystischen Literatur: Die totale Hingabe an Gott wurde häufig in das Bild zwischenmenschlicher Liebeserfahrungen gefasst (ein anderer Weg steht wohl auch nicht offen). Für psychoanalytisch argumentierende Autoren haben die Gläubigen des Mittelalters damit selbst bewiesen, dass ihr religiöses Denken und Handeln in Wahrheit von sexuellen Motiven bestimmt war; es handele sich, wie etwa Ulrich Müller meint, um „verschiedene Aspekte des im Grunde gleichen Phänomens“.481 Auch für Peter Dinzelbacher scheint eine Erklärung für eine solche sprachliche Gegebenheit nur „sexualpsychologisch“ möglich,482 womit dann freilich moderne anthropologische Konzepte, die in hohem Maße zeitgebunden sind, auf andere Zeiten projiziert werden. Eine offene Frage bleibt, ob es um die potentielle Mehrdeutigkeit alltagssprachlicher Ausdrücke im heutigen Sprachsystem grundlegend anders bestellt ist.483 Nur wenn dem so wäre, ließen sich berechtigterweise „psychohistorische“ Aussagen an die Beobachtung knüpfen, dass die Dichtung des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit gerne metaphorische Ausdrücke zur Bezeichnung sexueller Gegenstände oder Verhaltensweisen benutzt hat. Eher scheint mir diese Bildlichkeit auf etwas anderes hinzudeuten: Die Möglichkeit, jeden denkbaren Zusammenhang des Lebens sexuell zu kodieren, zeugt sowohl von der Alltäglichkeit sexueller Verhältnisse als auch vom Vergnügen an ihrer literarischen Ausgestaltung. Moralisierende Theologen und andere zeitgenössische Kriterpretiert, welches durch die Reformation noch verstärkt wurde; zu Klerikern als Zielscheibe obszöner Metaphern vgl. auch Beutin 1990b, 17 f. 470 Beide Belege: Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 520; ebd. auch paternoster für ›Penis‹. 471 Lindener 1558/1883, 156 472 Schumann 1559/1893, 234, 236, 276. 473 Ebd., 236. 474 Murner 1522/1918, 151; vgl. dazu auch Beutin 1990b, 13 f. 475 Schumann 1559/1893, 236 f. 476 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 98; Lindener 1558/1883, 79, 118; weitere Belege bei Beutin 1990b, 13; Filzeck 1933, 46; Melzer 1932, 51. 477 Deutsche Märendichtung ˹15. Jh./1966˺, 96. 478 Fastnachtspiele ˹15. Jh./1853˺, 1, 226. 479 Melzer 1932, 51. 480 Vgl. übereinstimmend Hahn 1994, 479 f.; Röcke 1987, 19–22. 481 Müller 1986, 295. 482 Dinzelbacher 1994, 20. 483 Beutin (1990b, 8), Müller (1988, 32) und Radtke (1990, 1194) widersprechen dieser Vorstellung.
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tiker haben die Absicht der Dichter, mit den Mitteln der Sprache Vergnügen zu bereiten, dann auch erwartungsgemäß streng verurteilt.484 Elaborierte Metaphern und ähnliche sprachliche Formen finden sich jedoch auch innerhalb der moralisierenden Literatur (etwa bei Brant, Murner oder Pauli) selbst und in den Streitschriften der Reformationszeit: Hier diente das sprachliche Bild nicht der Rechtfertigung des sexuellen Vergnügens, sondern vielmehr dazu, dieses sexuelle Vergnügen umso nachhaltiger zu verurteilen. Auf das Lesevergnügen musste im Sinne der didaktischen Intention jedoch nicht verzichtet werden! Da in theologischen, literarischen und medizinischen Texten ausgeprägte sprachliche Vermeidungsstrategien zu beobachten sind, die sich ebenfalls des Mittels der Metapher bedienen, lässt sich der Kunstgriff des sprachlichen Bildes wohl auch nicht als schlagendes Argument für einen generell niedrigeren „Schamstandard“ in der frühen Neuzeit heranziehen. Valentin Schumann beispielsweise verteidigte seinen Erzählstil folgendermaßen: „Ich hab inn das erst büchlein grob schnacken gesetzet, und seind ir doch auch nicht mehr als fünff darinnen, welcher historien namen von der menschwerdung ich ein wenig habe beschnitten und nicht gar teütsch gesaget.“485
Der Dichter schreibt dem sprachlichen Bild dabei eine verhüllende Funktion zu: „Ob ich schon etzliche wörter habe verkeret von der menschwerdung unnd nicht grob heraußgesetzet“. Auf die Verwendung von Lehnwörtern als sprachliche Vermeidungsstrategie in Hans Wilhelm Kirchhoffs (1525–1605) Wendunmuth hat Gerhard Melzer aufmerksam gemacht. Der Erzähler verweist an einer Stelle auf die große Zahl von Liebhabern, die eine junge Frau gehabt habe, übersetzt aber nicht die entsprechende Zahlenangabe: „wie man das auß den worten, so ich frantzösisch hieher gesetzt, darmit diese historie beschrieben, klärer mag vernemmen“.486 Kirchhoff scheint auch lateinische Lehnwörter aus Gründen größerer Dezenz verwendet zu haben, etwa wenn er schreibt, jemand „salbet auch pudenda ejus“.
484
Dietenberger 1537/1881, 54; Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 192, 195; Gengenbach ˹vor 1517/1856˺, 174; ders. 1521/1856, 118; Helding 1557/1881, 389, 412; Spiegel des sünders ˹nach 1475/1976˺, 225. 485 Schumann 1559/1893, 172, 174; ähnlich bei Folz ˹E. 15.–A. 16. Jh./1961˺, 25; zu sprachlichen Vermeidungsstrategien für sexuelle Gegenstände vgl. auch Hahn 1994, 483; Heidemann 1991, 417 f. 486 Zit. nach Melzer 1932, 38. Ähnlich motiviert erscheint die Funktion des Lateinischen in medizinischen Texten – etwa im Falle von instrument für ›Penis‹: Vesalius 1551, XVv u. ö. oder membrum virilis in der gleichen Bedeutung: Pictorius 1557, 77. Eine weitere sprachliche Vermeidungsstrategie ist die Verwendung von unbestimmten Konstruktionen wie an diesem ort oder allda: Pictorius 1557, 77. Bei einem derben Schwankdichter wie Michael Lindener (1558/1883, 75, 90) wird man Wendungen mit unten oder vorne demgegenüber kaum als Ausdruck besonderer Zurückhaltung – wie Melzer (1932, 32) meint – ansehen können; ähnlich motivierte Belege bei Kratz 1949, 2, 526– 531.
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Auch in der medizinischen Fachprosa hat das Fehlen einer geregelten deutschen Fachsprache oft zu einer für das heutige Empfinden ungewohnten und unpassenden Metaphorik geführt – wie etwa im Falle der Bezeichnungen rohr487, rute488, schwanz489 und zagel490 für den Penis. Gewiss dienen diese Wörter im medizinischen Kontext nicht der Erzeugung von Komik, auch wenn sie in der Fastnachts- und Schwankdichtung ebenfalls belegt sind.491 Und sicherlich lag den Ärzten auch nicht an der Herstellung erotisch wirksamer Texte.492 Solchen, wohl eher umgangssprachlichen Worteinheiten stehen in der Fachsprache neutralere Ausdrücke wie glied493 oder mannlich glied494 und lateinische Heteronyme wie instrumentum naturale495 sowie membrum virilis496 gegenüber. In medizinischen Texten lässt sich der Gebrauch von Metaphern auch unschwer aus dem Nichtvorhandensein einer geregelten frühneuhochdeutschen Wissenschaftssprache und dem Vorherrschen des Lateinischen als Wortschatz der Wissenschaften erklären. Echte literarische Metaphern sind demgegenüber auch in der frühneuzeitlichen Fachprosa eine Seltenheit.497 Indem die Mediziner die Termini der lateinischsprachigen Wissenschaft ins Deutsche übertrugen, wird lediglich besser erkennbar, was auch für die lateinische Fachsprache zu sagen wäre: nämlich, dass das Sprechen über Sexuelles in der Regel ein Sprechen in Bildern ist – in etymologischer Perspektive ist wohl jeder Wortgebrauch für das Geschlechtliche letztlich bildhaft.
6. Schluss Konzeptionelle Wandlungen im intellektuellen Umgang mit der Sexualität im 16. Jahrhundert – die in der befürwortenden Haltung der bürgerlichen Ehe im Renaissance-Humanismus, der moraltheologischen Aufwertung ehelicher Intimität im Protestantismus und der neuartigen Betrachtungsweise des menschlichen Körpers in der Anatomie herOrtolf von Baierland 1479, LXVr; Pictorius 1557, 78; weitere einschlägige Belege bei Bosselmann-Cyran 1997, 154. 488 Von Gersdorff 1517, CLIIIr u. ö.; Ortolf von Baierland 1479, LXVr. 489 Vesalius 1543, Ov. 490 De secretis mulierum ˹M. 15 Jh./1985˺, 225; Vesalius 1543, Ov. 491 Zu Bezeichnungen für den Penis in der Dichtung vgl. Filzeck 1933, 50–52; Hoven 1978, 334–336; Kratz 1949, 1, 33–40, 168 f., 2: 304 f.; Melzer 1932, 14 f., 48; Müller 1988, 79–101. Ähnlich ist es in der Fachprosa um Bezeichnungen wie kotfaß oder mistpforte für den ›Darmausgang‹ bestellt; auch sie finden gleichfalls in der komischen Dichtung Verwendung: Filzeck 1933, 53. 492 Vgl. übereinstimmend Bosselmann-Cyran 1997, 158. 493 Pictorius 1557, 77. 494 Ryff 1569, 4v; Vesalius 1551, XLIIr u. ö.; auch bei Lindener (1558/1883, 100) belegt. 495 Beleg bei Ukena 1982), 281. 496 Pictorius 1557), 77 u. ö. 497 So schreibt etwa Otto Brunfels (1521, XXXVIII) von dem „kampff den der her: Ada vnd Hevam leret do sye beyneinander im garten waren“. 487
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vortraten – haben sich im großen und ganzen unabhängig von einem Wandel des sprachlichen Ausdrucks vollzogen. Nur die mit der Rezeption des Humanismus in Deutschland abnehmende Frequenz des Wortes minne lässt einen solchen, kulturhistorisch erklärbaren Sprachwandel erkennen. Eine funktionelle Differenzierung des Wortgebrauchs ist ebenfalls nicht festzustellen. Allenfalls die besondere Neigung zur Verwendung von Metaphern, wie sie die Verfasser von Mären, Fastnachtspielen, Schwänken oder religiösen Pamphleten zeigen, lässt an einen genrebedingten Sprachstil denken. Veränderte moralische Aussagen über Sexualität fanden folglich eher „schleichend“ auf dem Wege eines Bedeutungswandels überkommener und durch ihren steten Gebrauch bewährter Ausdrücke statt: Indem protestantische Theologen aus der katholischen Morallehre Ausdrücke wie unkeuschheit, hurerei oder eheliches werk übernahmen, führten sie die Adressaten an ein neues theologisches Begriffsverständnis heran, das allem Anschein nach den Erwartungen ihrer Leser oder Zuhörer besser gerecht wurde, ohne sie mit einer neuen Begrifflichkeit zu konfrontieren. Veränderungen im Gebrauch einzelner solcher Wörter kann man an prominenten Stellen – etwa in Martin Luthers Großem Katechismus, wo unkeuschheit und hurerei explizit und intentional im Sinne des evangelischen Bekenntnisses neu definiert werden – durch lexikologische Analysen transparent machen. An anderer Stelle geht der lexikologische Blick jedoch ins Leere: Wo von einem frühneuzeitlichen Autor keine definitionsartigen Begriffserläuterungen mitgeliefert werden, lässt sich der „genaue“ Inhalt eines Ausdrucks oft nicht recht nachvollziehen. Von größerem Gewicht waren offenbar die positiven oder negativen Konnotationen der Wörter im Sinne der sozialen Funktion einer allgemein akzeptierten moralischen Zustimmung oder Abgrenzung. Der funktionale Sprachwandel, den die Reformation bedingte, hat sich somit am ehesten auf der Inhaltsseite des frühneuhochdeutschen Wortschatzes bemerkbar gemacht: in einer Wandlung der Denotate, nicht der mit den Wörtern verbundenen Konnotationen. Eindeutig positiv besetzte Wertbegriffe wie keusch, rein und züchtig werden weiterhin mit hoher Frequenz verwendet, wobei sich allerdings die Bezugsgrößen verschoben haben: vom keuschen ehebett war in der katholischen Morallehre nicht die Rede. Auch die hurerei als komplementäres Konzept einer negativ bewerteten vor- oder außerehelichen Sexualität hat ihre zentrale Funktion nicht verloren, wobei nun freilich der Zölibat (und nicht mehr der Verstoß gegen diese Norm) so bezeichnet wurde. Ein revolutionärer Wandel auf der Ausdrucksseite des Wortschatzes, mit dem über den sexuellen Gegenstandsbereich gesprochen wird, hat demgegenüber vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattgefunden: Mit der modernen Scientia sexualis498 kam eine schier unüberschaubare Vielfalt neuer Begriffe auf, darunter – als Ausdruck eines Anspruchs von Biologen und Medizinern auf wissenschaftlich exakte Beschreibung ihres Gegenstandes – zumeist Latinismen wie „Sexualität“499, „Homosexua498 499
Vgl. hierzu Sigusch 2008; Walter 2004. Siehe oben Anm. 312.
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lität“, „Sadismus“, „Masochismus“, „Voyeurismus“, „Exhibitionismus“, „Flagellation“ usw.500 Als symptomatisch kann der Wandel in der Sprache des Strafrechts betrachtet werden: Im Jahr 1794 stellte das Allgemeine Preußische Landrecht im § 1069 gleichgeschlechtliche Handlungen unter Männern noch als „Sodomiterey und andere dergleichen Sünden“ unter schwerste Strafe.501 In den Akten zu der im Rechtsbereich des Norddeutschen Bundes geplanten Strafrechtsreform des § 152 war bereits von der „widernatürlichen Befriedigung des Geschlechtstriebes“ die Rede.502 Das Strafrecht hatte sich mithin um die Mitte des 19. Jahrhunderts der überkommenen moraltheologischen Begrifflichkeit von sodomie und sünde entledigt und sich lexikalisch (wie auch in der juristischen Einschätzung der Strafwürdigkeit mannmännlicher Sexualität) die Haltung medizinischer Experten zueigen gemacht. Die neue medizinische Fachsprache markierte die juristischen, moralischen, sozialen oder auch ästhetischen Ausprägungen menschlicher Geschlechtlichkeit vordergründig als biologische Tatsachen.503 In genau diesem Punkt unterscheiden sich die älteren Texte von den neueren: Frühneuhochdeutsche Texte benennen sexuelle Zusammenhänge auch dann, wenn sie im Hinblick auf die körperlichen Aspekte untersucht werden, vordergründig als moralische Gegenstände. Auf lexikalischer Ebene setzte sich das biologische und medizinische Erklärungsmodell bald weithin durch – wobei mit der ausdrucksseitigen Diskontinuität oft eine Kontinuität auf der Inhaltsebene einherging: Noch lange hat etwa die „Homosexualität“ nicht die negativen Konnotationen der sodomie oder der Akte wider die natur verloren. Auch wenn sich am Ende des 19. Jahrhunderts das Bild der Natur merklich gewandelt hatte, blieb das Sprechen von der „Widernatürlichkeit“ mannmännlicher Sexualität als Legitimation für deren Sanktionierung gültig. Deshalb konnte Max Hoefler in seinem Deutschen Krankheitsnamen-Buch von 1899 auch problemlos übersetzen: „sodomitische Sünde, 1. = perverser Geschlechtstrieb, Psychopathia sexualis und dessen Folgen.“504
Es war der Grundgedanke der sexualhistorischen Arbeiten Michel Foucaults, dass die Sexualität des Menschen über sprachliche Konzepte „konstruiert“ wird505, oder dass – anders gewendet – subjektives sexuelles Erleben nicht von der umgebenden, sprachlich vermittelten Gedankenwelt unabhängig ist. So existiert beispielsweise unter den Ausdrücken, mit denen im Frühneuhochdeutschen die physischen und psychischen Begleiterscheinungen der Sexualität beim Menschen benannt werden, keiner, welcher unzweideutig den ›Orgasmus‹ oder ›sexuellen Höhepunkt‹ bezeichnen würde. Stattdessen sprachen frühneuzeitliche Seelsorger, Dichter und Ärzte über eine Lust, die eher ganzheitlich 500
Vgl. Krafft-Ebing 141912; dazu Klabundt 1994; Oosterhuis 2000; Sigusch 2008, 175–196. Zit. nach Hutter 1992, 190. 502 Zit. nach ebd., 206 f. 503 Zu der Phase des gesellschaftlichen Übergangs zwischen beiden Deutungssystemen vgl. Hull 1996. 504 Hoefler 1899, 720. 505 Vgl. Foucault 1983. 501
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gedacht wurde506: Sie nahm ihren Anfang in Situationen, Blicken und Gesten und kam zu einem Ende – sei es in Form der seelischen Erfüllung und körperlichen Erschöpfung oder der Frustration. In der Bedeutung ›Moment höchster Erregung‹ wurde das Wort „Orgasmus“ erst am Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Englischen entlehnt. Älter war der dem humoralmedizinischen Verständnis entsprechende Gebrauch als eine „Aufwallung der flüßigen Theile des menschlichen Leibes“ in Gestalt einer starken „Bewegung des Geblüts oder Saamens, mit einer Anreitzung, solchen auszuführen“ wie sie bei Fiebern oder bei Tieren in der Brunstzeit auftrete.507 Am Beginn des modernen Orgasmus-Paradigmas stand die alltägliche Wahrnehmung der psychischen Exaltation und des situativen Verschwindens der Ratio. Der Orgasmus galt als der Punkt, an dem beim Sex die Grenze der Individuation scheinbar überschritten wird: Ausgehend von diesem Gedankengang sollte sich sowohl die Festigung der ehelichen Intimität (wie sie die bürgerliche Sexualreformbewegung anstrebte) als auch die revolutionäre Umgestaltung der ganzen Gesellschaft im Sinne der „sexuellen Revolution“ bei Wilhelm Reich (1897–1957) verwirklichen lassen. Es waren mithin hohe Ziele anvisiert. Mit Hilfe dieser Begrifflichkeit gelang es der Sexualwissenschaft um die Mitte des 20. Jahrhunderts auch, die sexuelle Lust als Faktum in das biologische Denken wieder einzubinden: Biologen wie Alfred Kinsey (1894–1956) oder Behavioristen wie William Masters (1915–2001) und Virginia Johnson (*1925) konnten die Lust wieder als real akzeptieren, als es ihnen gelang, sie messbar zu machen. In Gestalt eines fest umrissenen, medizinisch definierten Momentes genitaler Erfüllung geriet die Notwendigkeit, „zum Orgasmus zu kommen“ nun ihrerseits zu einer sozialen Norm. Festzuhalten bleibt, dass der „Orgasmus“ nur ein möglicher Weg ist, sich der Lust begrifflich anzunähern. Heute wird dieses Konstrukt vielfach wieder als belastend empfunden: Auch der „Orgasmus“ gibt dem oder der Einzelnen normativ vor, wie Sexualität „richtig“ auszusehen habe.508 Zudem waren Heterosexualität, Genitalität und Unterordnung der Frau moralische Selbstverständlichkeiten, die dieses Paradigma in der Sexualwissenschaft des 20. Jahrhunderts noch für lange Zeit begleitet haben. Moralische Botschaften, wie sie die katholische Moraltheologie formuliert hat, haben also erst sehr spät ihre Gültigkeit verloren. In dieser longue durée war der theologische Gedanke von der Gottgefälligkeit und Nützlichkeit des Sexes oder der Lüste im Rahmen der Ehe, wie ihn der Protestantismus verbreitet hat, von entscheidender Bedeutung: Sein geistiges Erbe hat noch die bürgerlichen Ehereformer um 1900 geprägt und ebenso die liberale Sexualwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch spätere „postmaterielle“ Erwartungen an partnerschaftliche Sexualität folgten dem gleichen Grundmuster. Erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich dann die positive Bewer-
506
Vgl. dazu ausführlicher Walter 1999. Zedler 1740, 1870; weitere Belege bei Walter 1999, 31 f. 508 Vgl. hierzu Link 1997, 94–100. 507
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tung auch der nicht-ehelichen, der nicht-genitalen und der nicht-heterosexuellen Sexualität von den basalen moralischen Vorschriften des Christentums gelöst. Wie bemerkt, hat Foucault angestrebt, solche Wandlungen ethischer Normen auf der Ebene der „Diskurse“ zu beschreiben und sie dabei als Formen veränderten Denkens sowie Kommunizierens – und nicht notgedrungen: veränderten Verhaltens – interpretiert. Auch in der Sprache als dem Medium der Diskurse haben die diskursiven Wandlungen ihre Spuren hinterlassen: „Sodomie“ benennt tatsächlich nicht denselben Gegenstand wie „Homosexualität“ – wie Foucault gezeigt hat, entsprach dem älteren moraltheologischen Konzept niemals der programmatische „Wille zum Wissen“, wie ihn die ätiologische Suche nach den biologischen und lebensgeschichtlichen Grundlegungen des sexuellen Verhaltens in der modernen Sexualwissenschaft verkörpert hat.509 Unter dem Schlagwort der „Diskursivierung des Sexes“ und mit seiner Idee einer wissenschaftlichen Revolution im 19. Jahrhundert, durch welche der Sex als produktives Element gesellschaftlich nutzbar gemacht werden sollte, hat Foucault das Wort „Diskurs“ freilich anfangs zu eng gefasst: Als epistemisches Sprachsystem trat der „Diskurs“ über Sexualität natürlich erst zu dem historischen Zeitpunkt zutage, als sich die Wissenschaft von anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen deutlich ablöste. Dabei hatten die vordergründig neuartigen Vorstellungen der Neurologen und Psychiater, Biologen, Sozialhygieniker und Ehereformer des 19. Jahrhunderts ihre inhaltlichen Wurzeln jedoch in der älteren Zeit. Ein wissenschaftlicher Diskurs beansprucht in der Regel für sich, unbestreitbare und weltanschaulich neutrale Wahrheiten zu formulieren; dem Anspruch nach liefert er Argumente, die nicht durch das Wünschenswerte, sondern das Vorhandene diktiert werden. Einem solchen unter Experten gespielten Sprachspiel entzieht sich freilich der Umstand, dass eine ethische Entscheidung vorausgesetzt wird, wenn ausgesagt werden soll, was gut und böse, normal oder verkehrt ist. Allein mit Mitteln und Verfahren der Wissenschaft sind ethische Entscheidungen nicht zu begründen. Auch historisch spricht einiges gegen die Vorstellung einer allumfassenden gesellschaftlichen Macht der Wahrheitsmaschine Wissenschaft, wie sie Foucault anfangs vertreten hat (und wie sie dem Selbstbild der Beteiligten zweifellos schmeichelt), und dies ist vor allem die nachweisliche zeitliche Verzögerung, mit der veränderte moralische Vorstellungen von Wissenschaftlern vertreten wurden. Auch Alfred Kinsey, der mit seinen Veröffentlichungen eine besonders nachhaltig wirksame Diskussion über Sexualität in die Wege geleitet hat, hat die moralischen Prämissen seiner Arbeit – vor allem in Gestalt der Zurückweisung des sexologischen Konzepts der „Perversionen“ – nicht neu erfunden, und nichts hätte seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler vermutlich ferner gelegen.510 Kinseys Statistiken sind wohl eher als der Nachweis von gesellschaftlich schon Vorhandenem zu verstehen. 509 510
Vgl. Foucault 1983, 58. Vgl. Jones 1997.
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Später war Foucault selbst überzeugt, die ethischen Maßstäbe, die in der westlichen Welt im Bereich des Sexuellen Gültigkeit beanspruchen können, müsste man in einer viel weiter entfernten Vergangenheit suchen: in den Regulierungen der antiken Lebenskunst und den Restriktionen der mittelalterlichen Pastoraltheologie.511 Sträflich wenig Aufmerksamkeit hat Foucault allerdings bis zuletzt den moralischen Botschaften der protestantischen Theologie geschenkt, die genealogisch am Anfang des wissenschaftlichen Verständnisses des Sexes stand. Prinzipiell ist sein Eingeständnis jedoch positiv zu vermerken, dass eine „Diskursivierung des Sexes“ nicht als ein exklusives Phänomen irgendeiner Epoche gedacht werden darf, sondern sich vielmehr vollzieht, seit es Sex, Menschen und Sprache gibt. Keine bekannte Gesellschaft lässt den Lüsten unkontrolliert freien Lauf. Die Regeln der Kontrolle wurden (und werden) aber von einer Vielzahl konkurrierender Wahrheitsproduzenten formuliert. Zu keinem Zeitpunkt war es ein Diskurs allein, der sie bestimmt hat.
7. Zitierte Literatur 7.1. Quellen (vor 1600) Agricola, Johannes (1534/1971): Sybenhundert vnd Fünfftzig Teütscher Sprüchwörter / verneüwert vnd gebessert. Hagenau. ND in: Ders.: Die Sprichwörtersammlungen. Bd. I. Hrsg. von Sander L. Gilman. Berlin/New York (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), 3– 555. Agricola, Johannes (1548/1971): Fünfhundert Gemainer Newer Teütscher Sprüchwörter. Augsburg. ND in: Ders.: Die Sprichwörtersammlungen. Bd. II. Hrsg. von Sander L. Gilman. Berlin/New York (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), 3–274. Alberus, Erasmus (1541/21863): Newe zeittung von Rom / Woher das Mordbrennen kome? […]. [Wittenberg]. ND in: Oskar Schade (Hg.): Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit. Bd. 1. Hannover, 44–47. Albrecht von Eyb (1472/1982): Ob einem manne sey zunemen ein eelichs weyb oder nicht. Nürnberg. Mit einer Einführung zum ND von Helmut Weinacht. Darmstadt (Texte zur Forschung 36). Alveldt, Augustin von (1524/1926): Wyder den Wittenbergischen Abtgot Martin Luther. [Leipzig]. ND hrsg. von Käthe Büschgens. Münster (Corpus Catholicorum 11), 25–47. Barbaro, Franceso (1536): Eyn gůt bůch von der Ehe was die Ehe sei […] verdeutscht durch Erasmum Alberum. Hagenau. Bock, Hieronymus (1577): Kreütterbuch. Darin vnderscheidt / Nammen / vnd Würckung der Kreütter / Stauden / Hecken vnnd Beumen / sampt jhren Früchten / so inn Teutschen Landen wachsen / auch der selben eigentlicher vnnd wolgegründter Gebrauch inn der Artzney / fleissig dargeben / [… verdeutscht] Durch den Hochgelehrten Melchiorem Sebizium Silesium / der Artzney Doctorn zu Straßburg. Straßburg. Brant, Sebastian (1494/1962): Das Narren schyff. ND mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499, hrsg. von Manfred Lemmer. Tübingen (Neudrucke deutscher Literaturwerke 5).
511
Vgl. Foucault 31993a; Foucault 31993b. Der geplante vierte Band seiner Histoire de la sexualité mit dem Titel Les aveux de la chair (›Die Geständnisse des Fleisches‹) blieb unvollendet.
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Brunfels, Otto (1532): Contrafayt Kreüterbůch / Nach rechter vollkommener art / vnnd Beschreibungen der Alten / besstberümpten ärtzt / vormals in Teütscher sprach / der masszen nye gesehen / noch im Truck auszgangen […]. Straßburg. Bucer, Martin (1537/1971): Der kürtzer Catechismus vnd erklärung der XII stücken Christlichs glaubens / Des Vatter vnsers vnnd der Zehen gepotten. Für die Schůler vnd andere kinder zů Strasburg. Straßburg. ND in: Evangelische Katechismen der Reformationszeit vor und neben Martin Luthers Kleinem Katechismus. Hrsg. v. Ernst-Wilhelm Kohls. Gütersloh. (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 16), 35–57. Catechismus Oder Christlicher vnterricht / wie der in Kirchen vnnd Schulen der Churfürstlichen Pfaltz getrieben wirdt […] (21575). Heidelberg. Cochlaeus, Johannes (1582): Historia Martini Lutheri. Das ist / Kurtze Beschreibung seiner Handlungen vnd Geschrifften / der Zeit nach / vom M.D.XVII. biß auff das XLVI. Jar seines Ableibens […] auß dem Latein ins Teutsch gebracht Durch Johann Christoff Hueber. Ingolstadt. Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts (15. Jh./1966). Hrsg. v. Hanns Fischer. München (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 12). Dietenberger, Johann (1537/1881): Catechismus. Evangelischer bericht vnd Christliche underweisung / der fürnemlichsten stück / des waren heyligen Christlichen glaubens […]. Mainz. ND in: Christoph Moufang (Hg.): Katholische Katechismen des sechzehnten Jahrhunderts in deutscher Sprache. Mainz, 1–105. Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert (15. Jh./1853). Hrsg. v. Adalbert von Keller. 3 Bde. Stuttgart (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart XXVIII–XXX). Ficino, Marsilio (1505/1980): Das buch des Lebens Marsilius Ficinus zu Florenz / von dem gesunden und langen leben der rechten artznyen / von dem latein erst nüw zu tütsch gemacht durch Johannem adelphi Argen. Straßburg. ND in: Johannes Adelphus: Ausgewählte Schriften. Hrsg. v. Bodo Gotzkowsky. Bd. 3. Berlin/New York (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 87), 1–158. [Fischart, Johann] (1575/1891): Affenteurliche vnd Vngeheurliche Geschichtschrift Vom Leben / rhaten vnd Thaten der for langen weilen Vollenwolbeschraiten Helden und Herrn Grandgusier / Gargantoa / vnd Pantagruel / Königen inn Utopien vnd Ninenreich. Etwan von M. Francisco Rabelais Französisch entworfen: Nun aber vberschrecklich lustig auf den Teutschen Meridian visirt / vnd vngefärlich obenhin / wie man den Grindigen laußt / vertirt / durch Huldrich Elloposcleron Reznem. [Straßburg]. ND hrsg. v. A[dalbert] von Alsleben. Halle (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 65–71). Fischart, Johann (1578/1895): Das philosophisch Ehzuchtbüchlin. Oder / Des Berümtesten vnd Hocherleuchtesten Griechischen Philosophi / oder Natürlicher Weißheyt erkündigers vnd Lehrers Plutarchi Naturgescheide Eheliche Gesaz / oder Vernunftgemäse Ehegebott […] Alles auß Griechischem vnd Latinischem nun das erstmal inn Teutsche Sprach verwendet. Straßburg. ND in: Johann Fischarts Werke. Hrsg. v. Adolf Hauffen. 3. Tl. Stuttgart (Deutsche National-Litteratur. Historisch kritische Ausgabe 18, 3. Abt.), 115–332. Folz, Hans (E. 15–A. 16 Jh./1961): Die Reimpaarsprüche. [Hs.] Hrsg. v. Hanns Fischer. München (Münchener Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters 1). Freiermut, Hans Heinrich (1524/21863): Triumphus Veritatis. Sick der warheyt. Speyer. ND in: Oskar Schade (Hg.): Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit. Bd. 2. Hannover, 196–251. Gengenbach, Pamphilus (vor 1517/1856): Der pfaffen spiegel. Ein christlich biechlin deß durchlüchtigosten vnd christlichen vßlegers der prophetischen / ewangelischen / vnd apostolischen geschrifften sancti Hieronymi / dz er zů einem priester Nepotianus genant geschriben hat in dem deß presterlichen ordens / läben / ampt / vnd hochwirdigkeit beschriben wirt. [Wohl: Basel]. ND in: Pamphilus Gengenbach. SRF. Hrsg. v. Karl Goedeke. Hannover, 167–185. Gengenbach, Pamphilus (1521/1856): Disz ist die gouchmat / so gespilt ist worden durch etlich geschickt Burger einer loblichen stat Basel. Wider den Eebruch vnd die sünd der vnküscheit. [Basel]. ND in: Pamphilus Gengenbach. SRF. Hrsg. v. Karl Goedeke. Hannover, 117–152.
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Pictorius, Georgius (1557): Itinerarium peregrinantium. Das ist / Kurtzer bericht für die so da reisen wöllen inn frömbde vnbekannte land / darmit sy bey gůter gesundtheit bleyben mögen […]. Mülhausen. Pictorius, Georgius (1561): Ein gantz fruchtbare ordnung / gegenwirtige gesundtheit zů erhalten / vnd zůkünfftige kranckheit zů vermeiden / auß den hocherfarnen artzten / Hippocrate / Galeno / Auicenna / vnd anderen / nach den sechs dingen so die artzt die nicht natürlichen ding nennent. Mülhausen. Pictorius, Georgius (1576): Frauwenzimmer / Ein Nutzliches Büchlein / darauß die Schwangeren frawn mögen erlernen / wie sie sich vor / in / vnd nach der Geburt halten söllen […]. Frankfurt a. M. Rößlin, Eucharius d. Ä. (1513/1910): Der Swangern frawen vnd hebammen roszgarten. [Hagenau]. ND als: Eucharius Rösslin’s „Rosengarten“. Gedruckt im Jahre 1513. Begleit-Text von Gustav Klein. München (Alte Meister der Medizin und Naturkunde 2). [Ryff, Walter Hermann] (1556): Ein Newer Albertus Magnus. Von Weibern vnd Geburten der Kinder / sampt jhren aertzneien. […] Durch / Q. Appolinarem. Frankfurt a. M. Ryff, Walter Hermann (1569): Schwangerer Frawen Rosengarten. Gründliche nothwendige beschreibung / allerhand zůfälle / so sich mit Schwangern Frawen / vor / inn / vnd nach der geburt / manichfaltig zůtragen mögen / sampt gebürlicher haltung vnd wartung derselbigen […]. Frankfurt a. M. Sachs, Hans (M. 16. Jh./1880–1887): Sämmtliche Fastnachtspiele. In chronologischer Ordnung nach den Originalen hrsg. v. Edmund Goetze. 7 Bde. Halle (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 26–63). Sachs, Hans (M. 16. Jh./1893): Sämtliche Fabeln und Schwänke. In chronologischer Ordnung nach den Originalen hrsg. v. Edmund Goetze. Bd. 1. Halle (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 110–117). Schmidt, Niclaus (1557/1972): Von den zehen Teufeln oder Lastern / damit die bösen vnartigen Weiber besessen sind / Auch von zehen Tůgenden / damit die frommen vnnd vernünfftigen Weiber gezieret vnd begabet sind. Leipzig. ND in: Teufelbücher in Auswahl. Hrsg. v. Ria Stambaugh. Bd. 2. Berlin (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), 309–356. Schumann, Valentin (1559/1893): Nachtbüchlein […]. 2 Tle. O. O. ND hrsg. v. Johannes Bolte. Tübingen (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart. Bd. CXCVII). De secretis mulierum (M. 15. Jh./1985). [Hs.] In: Kristian Bosselmann-Cyran: „Secreta mulierum“ mit Glosse in der deutschen Bearbeitung von Johann Hartlieb. Text und Untersuchungen. Pattensen (Würzburger medizinhistorische Forschungen 36), 89–252. Slegel, Mathias ([1523]/1929): Was nützung enntspring von den falschen Luterischen Catzen / Als von Frantzen von Sicking vnd seiner Teuflischer bundtnuß / Die das heylig Ewangelium mit Raüben / Mörden / Prennen wöllen verfechten etc. [Landshut]. ND in: Flugschriften zur Ritterschaftsbewegung des Jahres 1523. Hrsg v. Karl Schottenloher. Münster (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 53), 49–51. Sonnentaller, Johann (1524/1983): VRsach / warumb der vermeint geystlich huff mit yren patronen / das Euangelion Jesu Christi nit annimpt / sunder schendet / lestert / vnd verfolget […]. [Straßburg]. ND in: Adolf Laube u. a. (Hgg.): Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518– 1524). Bd. 1. Vaduz, 397–421. Der spiegel des sünders (nach 1475/1976). [Augsburg]. ND in: Der Spiegel des Sünders. Ein katechetischer Traktat des fünfzehnten Jahrhunderts. Textausgabe und Beobachtungen zum Sprachgebrauch von M. A. van den Broek. Amsterdam. (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit XI), 153–282. Terenz (1486/1915): Ain Maisterliche vnd wolgesetzte Comedia zelesen vnd zehören lüstig vnd kurtzwylig. Ulm. ND als: Der Eunuchus des Terenz. Übersetzt von Hans Neidhart 1486. Hrsg. v, Hermann Fischer. Tübingen (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart CCLXV).
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304
Tilmann Walter
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THORSTEN ROELCKE
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik von Immanuel Kant
1. Einleitende Bemerkungen 2. Die Struktur des terminologischen Systems 3. Die Linerarisierung des terminologischen Systems 4. Die Definitionen der einzelnen Termini 5. Beispiele und Erläuterungen zu einzelnen Termini und deren Definitionen 6. Die Vernetzung der Termini 7. Exaktheit und Eindeutigkeit der Termini 8. Graphische Hervorhebung der Termini 9. Abschließende Bemerkungen 10. Zitierte Literatur
1. Einleitende Bemerkungen Der Wortschatz Immanuel Kants ist wiederholt Gegenstand wissenschaftlichen Interesses geworden; dabei stehen insbesondere lexikographische Bemühungen im Vordergrund, die Kants Terminologie einem (vornehmlich akademischen) Publikum erschließen.1 Kaum Beachtung findet demgegenüber die Art und Weise, in der Kant Fachwörter in seinen Texten einführt und damit sukzessive eine eigene philosophische Terminologie entwickelt: Die Untersuchung einer solchen Terminologisierung, also der Konstitution eines (mehrdimensionalen) Fachwortschatzes in einem linear angelegten (eindimensionalen) Text, stellt für die Fachsprachenforschung eine neue Herausforderung dar; dies gilt nicht allein hinsichtlich der Schriften Kants, sondern auch in Bezug auf andere Fachtexte aus Wissenschaft, Technik und Institutionen.2 1
2
Zur philosophischen Lexikographie, insbesondere derjenigen der kritischen Werke Kants, vgl. Roelcke 1999a; 2002. Übersicht zu Theorie und Praxis fachsprachlicher Lexik in der Zeit der deutschen Aufklärung erlauben Bär 1999, örtl.; Gardt 1994, örtl.; 1999, 158–229; Ricken 1990, 210–301; Roelcke 1999b; 32010, 192–203. Eine linguistische Skizze des Fachwortgebrauchs bei Kant findet sich mit Roelcke 2005. Ganz so neu ist diese Herausforderung indessen aus meiner Warte nicht: Hatte mich doch Oskar Reichmann in der Mitte der 1980er Jahre mit meinem Wunsch, die Entwicklung des erkenntnistheoretischen Fachwortschatzes in Kants Kritik der reinen Vernunft zu untersuchen, als Doktorand
306
Thorsten Roelcke
Im Folgenden wird die Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant aus dem Jahr 1787 untersucht; als Grundlage dient hier die Akademie-Textausgabe.3 Dieser Textabschnitt folgt auf eine „Vorrede“4 und eine „Einleitung“5 von jeweils mehreren Seiten Länge und bildet den Beginn der Transscendentalen Elementarlehre6, in der Kant sein epistemologisches und damit auch sein terminologisches System entfaltet – auch wenn er bereits auf den vorangehenden Seiten transzendentalphilosophische Überlegungen anstellt und diese in einer entsprechenden Terminologie fasst. Die transscendentale Ästhetik. § 1. Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntniß auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die A n s c h a u u n g . Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum uns Menschen wenigstens nur dadurch möglich, daß er das Gemüth auf gewisse Weise afficire. Die Fähigkeit (Receptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen afficirt werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände g e g e b e n , und sie allein liefert uns A n s c h a u u n g e n ; durch den Verstand aber werden sie g e d a c h t , und von ihm entspringen B e g r i f f e . Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (directe), oder im Umschweife (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale zuletzt auf Anschauungen, mithin bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann. Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden, ist E m p f i n d u n g . Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt e m p i r i s c h . Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt E r s c h e i n u n g . In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung correspondirt, die M a t e r i e derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, nenne ich die F o r m der Erscheinung. Da das, worin sich die Empfindungen allein ordnen und in gewisse Form gestellt werden können, nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so ist uns zwar die Materie aller Erscheinung
3 4 5 6
angenommen. Diese Untersuchung entwickelte sich jedoch in eine andere Richtung, da dieser Wortschatz zunächst einmal sprachwissenschaftlich aufgearbeitet werden musste. Dabei geriet dessen Mehrmehrdeutigkeit, also die Polysemie und Synonymie einzelner Termini, immer stärker in den Blick, bis sie selbst zum Thema wurde (vgl. Roelcke 1989; hieran anschließend beispielsweise Roelcke 1991; 2001; 2004). Vor diesem Hintergrund knüpft der vorliegende Aufsatz anlässlich des 75. Geburtstages von Oskar Reichmann an unsere ersten gemeinsamen wissenschaftlichen Gespräche an: Diesen sind seither viele weitere – auch persönliche – gefolgt, wofür ich ihm heute von ganzem Herzen danke. Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Band III, 49–51. Ebd., 7–26. Ebd., 27–46. Ebd., 47–461.
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik
307
nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber muß zu ihnen insgesammt im Gemüthe a priori bereit liegen und daher abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden. Ich nenne alle Vorstellungen r e i n (im transscendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird. Demnach wird die reine Form sinnlicher Anschauungen überhaupt im Gemüthe a priori angetroffen werden, worin alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschauet wird. Diese reine Form der Sinnlichkeit wird auch selber r e i n e A n s c h a u u n g heißen. So, wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Theilbarkeit &c., imgleichen was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe &c., absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüthe stattfindet. Eine Wissenschaft von allen Principien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die t r a n s s c e n d e n t a l e Ä s t h e t i k .*) Es muß also eine solche Wissenschaft geben, die den ersten Theil der transscendentalen Elementarlehre ausmacht, im Gegensatz derjenigen, welche die Principien des reinen Denkens enthält und transscendentale Logik genannt wird. In der transscendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit i s o l i r e n , dadurch dass wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung übrig bleibe. Zweitens werden wir von dieser noch alles, was zur Empfindung gehört, abtrennen, damit nichts als reine Anschauung und die bloße Form der Erscheinungen übrig bleibe, welches das einzige ist, das die Sinnlichkeit a priori liefern kann. Bei dieser Untersuchung wird sich finden, daß es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung als Principien der Erkenntniß a priori gebe, nämlich Raum und Zeit, mit deren Erwägung wir uns jetzt beschäftigen werden. ————— *) Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ä s t h e t i k bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst B a u m g a r t e n fasste, die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprincipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich. Denn gedachte Regeln oder Kriterien sind ihren vornehmsten Quellen nach bloß empirisch und können also niemals zu bestimmten Gesetzen a priori dienen, wornach sich unser Geschmacksurtheil richten müsste; vielmehr macht das letztere den eigentlichen Probirstein der Richtigkeit der ersteren aus. Um deswillen ist es rathsam, diese Benennung entweder wiederum eingehen zu lassen und sie derjenigen Lehre aufzubehalten, die wahre Wissenschaft ist (wodurch man auch der Sprache und dem Sinne der Alten näher treten würde, bei denen die Eintheilung der Erkenntniß in αίσϑητα και νοητα sehr berühmt war), oder sich in die Benennung mit der speculativen Philosophie zu theilen und die Ästhetik theils im transscendentalen Sinne, theils in psychologischer Bedeutung zu nehmen.
Die Frage nach der Terminologisierung gliedert sich in mehrere Teilfragen, die im Weiteren wieder aufgegriffen werden: 1. Wie ist das terminologische System, das im ersten Paragraphen der „Transzendentalen Ästhetik“ eingeführt wird, aufgebaut (Frage nach der terminologischen Struktur)? 2. In welcher Reihenfolge werden die einzelnen Termini in diesem Text eingeführt (Frage nach der terminologischen Linearisierung)?
308
Thorsten Roelcke
3. Auf welche Art und Weise werden die Termini jeweils sprachlich eingeführt (Frage nach den Typen von Definitionen)? 4. Welche weiteren Angaben werden zu den einzelnen Termini gemacht (Frage nach terminologischen Erläuterungen und Beispielen)? 5. Womit werden im Text systematische Bezüge zwischen den Termini hergestellt (Frage nach der terminologischen Vernetzung)? 6. Welche Ausmaße zeigen Vagheit, Polysemie und Synonymie sowie Metaphorik der Termini (Frage nach der terminologischen Exaktheit und Eindeutigkeit)? 7. Erfahren die einzelnen Termini eine graphische Hervorhebung (Frage nach der visuellen Unterstützung)? Dieser Fragenkatalog ist indessen noch nicht vollständig bzw. abgeschlossen: Er spiegelt vielmehr den gegenwärtigen Stand der Arbeit an der Entwicklung eines Forschungsdesigns wider, das derzeit an unterschiedlichen Texten erprobt und entsprechend weiterentwickelt wird.
2. Die Struktur des terminologischen Systems Menschliche Erkenntnis ist dem ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik zufolge ein epistemologisch (nicht psychologisch oder kognitiv) zu charakterisierender Prozess, der mehrere Etappen umfasst – stark vereinfacht: Das Rezeptionsvermögen (Sinnlichkeit) wird durch das „Ding an sich“ (Gegenstand) veranlasst, einen Sinneseindruck (Empfindung bzw. Erscheinung) gemäß bestimmter Erkenntnisprinzipien (Raum und Zeit) zu strukturieren und so einen ersten Typ von Erkenntnis zu gewinnen (Anschauung). Hieran schließt sich das Vermögen zu denken (Verstand) mit dem zweiten Typ von Erkenntnis (Begriff) an, wobei auch hier bestimmte Erkenntnisprinzipien (Kategorien) wirksam sind. Beide Erkenntnistypen weisen also eine substantielle Komponente (empirisch bzw. a posteriori) und eine strukturelle Komponente (rein bzw. a priori) auf. Die Kernidee, die sog. „kopernikanische Wende“ der Erkenntnistheorie Kants besteht dabei darin, dass (menschliche) Erkenntnis strukturellen Komponenten folgt, die nicht durch die substantielle Komponente zufällig erworben werden, sondern notwendig vorgegeben sind. Dabei besteht das Ziel von Kants Transzendentalphilosophie darin, diese strukturellen Komponenten bzw. Erkenntnisprinzipien systematisch herauszuarbeiten und auf deren eigenen Beitrag zu menschlicher Erkenntnis hin zu untersuchen; dies erfolgt im Rahmen des ersten Hauptteils der Kritik der reinen Vernunft (Transscendentale Elementarlehre), der sich seinerseits in zwei Abschnitte gliedert: zum einen
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik
309
die transscendentale Ästhetik, die sich der Sinnlichkeit, und die transscendentale Logik, die sich dem Verstand widmet.7 Das terminologische System, das Kant zu Beginn der Transzendentalen Ästhetik entwickelt, weist hierarchische, partitive und prozedurale Wortschatzrelationen auf (vgl. Abb. 1): • Als hierarchisch ist hier etwa die Unterscheidung der Kohyponyme Sinnlichkeit und Verstand als Termini für Erkenntnisvermögen sowie Anschauung und Begriff als solche für Erkenntnisarten anzusehen. • Als Partonyme haben dagegen Raum und Zeit gegenüber Principien der Sinnlichkeit oder transscendentale Ästhetik und transscendentale Logik gegenüber transscendentale Elementarlehre zu gelten. • Prozedurale Aspekte schließlich werden durch die Verben afficiren, geben und denken im Rahmen des epistemischen Fortschritts und isoliren als Ausdruck eines epistemologischen Verfahrens repräsentiert. Kants Termini zeigen kaum Besonderheiten auf der Ausdrucksseite: Es handelt sich hier meist um Simplizia und Derivata, die im philosophischen Diskurs der Zeit eingeführt sind. Allein Principien der Sinnlichkeit und Principien des reinen Denkens sowie transscendentale Ästhetik, transscendentale Elementarlehre und transscendentale Logik fallen als Mehrworttermini mit transzendentalphilosophischer Bezeichnungsmotivation ins Auge.
3. Die Linearisierung des terminologischen Systems Die knapp dreißig Termini, deren System in Abb. 1 graphisch wiedergegeben wird, werden im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik in der hier angeführten Abfolge jeweils zum ersten Mal genannt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 7
Erkenntniß Gegenstand Denken/denken Anschauung Gemüth geben afficiren Receptivität Sinnlichkeit Verstand
11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.
Begriff Vorstellungsfähigkeit Empfindung empirisch Erscheinung Materie Form a posteriori a priori rein
21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29.
transscendental Principien der Sinnlichkeit transscendentale Ästhetik transscendentale Elementarlehre Principien des reinen Denkens transscendentale Logik isoliren Raum Zeit
Zur raschen Orientierung über Kants Transzendentale Ästhetik sei hier auf Gölz 22008, 17–28, und Tetens 2006, 49–78, verwiesen; hier finden sich auch weitere Literaturhinweise, die für den transzendentalphilosophisch ambitionierten Linguisten von Nutzen sein können. Für mich persönlich noch immer lesenswert ist Strawson 1966; zur aktuellen Diskussion vgl. etwa Stolzenberg 2007.
310
Thorsten Roelcke Gegenstand afficiren
ERKENNTNISS
Empfindung
Sinnlichkeit (Gemüth, Receptivität, Vorstellungsfähigkeit) a posteriori
a priori geben
Materie
Form Principien der Sinnlichkeit Raum
transscendentale Ästhetik
Zeit
isoliren Erscheinung
empirische
transscendentale Elementarlehre
reine
Anschauung
Verstand denken Principien des reinen Denkens
transscendentale Logik
Begriff
Abb. 1: Terminologisches System im ersten Paragraphen der „Transzendentalen Ästhetik“
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik
311
Diese Reihenfolge spiegelt die komplexe Struktur des terminologischen Systems kaum wider: Die Nennung der Termini beginnt zwar oben links bei Erkenntniß bzw. Gegenstand, verläuft jedoch nicht stringent über (in Auswahl) Empfindung, Sinnlichkeit, Raum, Zeit, Erscheinung und Anschauung bis zu Verstand und Begriff sowie daneben über transscendentale Ästhetik und transscendentale Elementarlehre bis zu transscendentale Logik. – Selbst wenn die Linearisierung des terminologischen Systems also nicht dessen Struktur folgt, sondern zu springen scheint, ist sie indessen nicht willkürlich: Sie zeigt vielmehr drei (mehr oder weniger) deutlich voneinander zu unterscheidende Schritte (vgl. Abb. 2). • Sie pendelt eingangs auf der linken Seite zwischen Termini im Umfeld von empirischen Anschauungen der Sinnlichkeit einerseits und entsprechenden Begriffen des Verstandes andererseits (hellgrau unterlegt). Mit Gegenstand, Empfindung oder Erscheinung handelt sich hier also überwiegend um solche Termini, die sich (neben der strukturellen) insbesondere auf die substantielle Komponente menschlicher Erkenntnis beziehen. • Im Anschluss an den Terminus Form und die Unterscheidung zwischen a posteriori und a priori werden im Weiteren solche Termini eingeführt, mit denen nicht die substantielle, sondern ausschließlich die strukturelle Komponente menschlicher Erkenntnis zum Ausdruck gebracht wird (grau unterlegt, hierzu gehören etwa rein, Principien der Sinnlichkeit, Principien des reinen Denkens oder Raum und Zeit. • Die Einführung dieser genuin transzendentalphilosophisch verwendeten Termini wird gegen Ende des Textabschnitts schließlich durch die Nennung solcher Termini ergänzt, die transzendentalphilosophsiche Teildisziplinen benennen (dunkelgrau unterlegt); also transscendentale Ästhetik, transscendentale Elementarlehre und transscendentale Logik. Für diese Vorgehensweise Kants können wiederum mindestens drei Strategien terminologischer Linearisierung verantwortlich gemacht werden: • Strategie wachsender Entfernung: Zunächst werden solche Termini genannt, deren Bedeutungen bei Kant jeweils denjenigen in der Philosophie seiner Zeit vergleichsweise nahe stehen. Hierauf folgen genuin transzendentalphilosophisch verwendete Termini, deren Bedeutungen sich von dem allgemeinen, schulphilosophischen Sprachgebrauch in stärkerem Maße unterscheiden. • Strategie assoziativer Verflechtung: Mit Sinnlichkeit und Verstand werden zwei Erkenntnisvermögen, mit Anschauung und Begriff zwei Erkenntnisarten bezeichnet, die zwei analog strukturierte Erkenntnisbereiche repräsentieren: Diese konzeptionelle Analogie wird in einem Parallelismus zum Ausdruck gebracht, der in die Entfaltung des terminologischen Systems im Umfeld von Sinnlichkeit lediglich eingeschoben ist. • Strategie induktiver Disziplinbildung: In dem Textabschnitt werden zunächst epistemische Gegebenheiten konzeptionell entfaltet und terminologisch gefasst; im An-
312
Thorsten Roelcke
schluss daran werden die entsprechenden epistemologischen Disziplinen genannt bzw. benannt.
Gegenstand afficiren
ERKENNTNISS
Empfindung
Sinnlichkeit (Gemüth, Receptivität, Vorstellungsfähigkeit) a posteriori
a priori geben
Materie
Form Principien der Sinnlichkeit Raum
transscendentale Ästhetik
Zeit
isoliren Erscheinung
empirische
transscendentale Elementarlehre
reine
Anschauung
Verstand denken Principien des reinen Denkens
Begriff
Abb. 2: Schritte der terminologischen Linearisierung (Übersicht)
transscendentale Logik
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik
313
Die drei Schritte und die drei darin verankerten Strategien der Linearisierung des terminologischen Systems machen deutlich, dass diese Linearisierung nicht der terminologischen Struktur, sondern einer bestimmten Argumentation folgt. Sie entspricht der Assoziativität in Kants Sprache und Denken, die angesichts des philosophischen Interesses an dessen epistemologischer Argumentation und des lexikographischen Interesses an einzelnen Termini und deren Begrifflichkeit in der Forschung bislang nur unzureichend Berücksichtigung gefunden hat. Sie ist vor diesem Hintergrund als diskursiv zu charakterisieren und von solchen Linearisierungen zu unterscheiden, die demgegenüber als systematisch anzusehen sind. Eine solche systematische Linearisierung findet sich zum Beispiel in Texten, in denen eine Terminologie weniger argumentativ entfaltet, sondern mehr didaktisch aufbereitet wird. Ein gutes historisches Beispiel hierfür bildet die Einführung einer im Vergleich stark hierarchisch strukturierten lexikologischen Terminologie in Christian Gueintz’ Deutscher Sprachlehre Entwurf, mit der eine tradierte lateinische Terminologie einem breiteren akademischen Publikum in deutscher Sprache verfügbar gemacht werden soll.8 In Abb. 3 ist dieses terminologische System wiedergegeben, wobei die Reihenfolge der Nennung einzelner Termini aus deren Nummerierung zu ersehen ist.9 Im Gegensatz zu dem diskusiven Vorgehen bei Kant geht es hier ausschließlich darum, das terminologische System möglichst sauber linear abzuarbeiten, wobei wiederum drei Prinzipien erkennbar sind: • 1. Prinzip: Von oben nach unten (abstrakte Termini werden vor konkreten genannt) – etwa 1 Wortforschung vor 2 eigenschaften und 3 theilung; • 2. Prinzip: Von links nach rechts (jede unmittelbare Ebene der Hierarchie wird komplett besetzt – jedoch nicht jede Ebene als Ganze, vgl. das folgende Prinzip) – zum Beispiel 4 art / 6 ankunft und 5 gestalt sowie 11 wandelbar und 12 unwandelbar; • 3. Prinzip: Links komplettierend (nicht ganze Ebenen werden komplett besetzt, sondern jeweils die Verzweigungen nach links) – also beispielsweise einerseits 2 eigenschaften mit 4 art / 6 ankunft und 5 gestalt sowie 7 urspringlich, 8 entspringlich, 9 untheilbar und 10 theilbar, daneben andererseits 3 theilung mit 11 wandelbar und 12 unwandelbar sowie 13 eigenschaft und 14 theilung.
4. Die Definitionen der einzelnen Termini Von den knapp 30 Termini, die in deren ersten Paragraphen genannt werden, erfahren nur zehn eine Definition; die anderen werden in der Regel entweder in der Vorrede oder der Einleitung bzw. im nachfolgenden Text definiert:
8 9
Gueintz 1641, 24–27. Vgl. hierzu Roelcke [im Erscheinen].
17 eintzelne 19 eintzig
7 urspringlich
18 mehrere 20 übereintzig
15 zahl
8 entspringlich
4 art 6 ankunft
21 erste
9 untheilbar
2 eigenschaften
10 theilbar
22 andere
16 person
5 gestalt
23 dritte
28 geschlechtswort
26 nenwort
12 unwandelbar
[...]
27 vornenwort
25 mit zeit
14 theilung
24 ohne zeit
3 theilung
wörterfügung
13 eigenschaft
11 wandelbar
1 wortforschung
nähere mittel [der sprachlehre]
314 Thorsten Roelcke
Abb. 3: (Systematische) Linearisierung der lexikologischen Terminologie in Gueintz (1641, 24–27) nach Roelcke [im Erscheinen]
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik
1. 2. 3. 4. 5.
Anschauung Sinnlichkeit Empfindung empirisch Erscheinung
6. 7. 8. 9. 10.
315
Materie Form rein transscendentale Ästhetik transscendentale Logik
Die Reihenfolge der einzelnen Definitionen entspricht der Linearisierung des terminologischen Systems (vgl. Abb. 4): Zunächst werden solche Termini definiert, die Teile der substantiellen Komponente menschlicher Erkenntnis zum Ausdruck bringen (Anschauung, Sinnlichkeit, Empfindung, empirisch, Erscheinung und Materie); es folgen solche, die dem Ausdruck von Teilen der strukturellen Komponente (Form und rein), und schließlich solche, die demjenigen transzendentalphilosophischer Teildisziplinen dienen (transscendentale Ästhetik und transscendentale Logik). Damit verfolgt Kant auch hier die drei oben genannten Strategien: wachsende Entfernung (von einem allgemeinen philosophischen hin zu einem transzendentalphilosophischen Sprachgebrauch), assoziative Verflechtung (hier allerdings lediglich innerhalb des Umfelds von Sinnlichkeit und nicht zwischen diesem und demjenigen von Verstand)10 sowie induktive Disziplinbildung (wobei epistemologische Disziplinen erst nach epistemischen Gegebenheiten definiert werden)11. Kant verwendet in diesem Textabschnitt ausschließlich klassisch-aristotelische Definitionen, also solche, deren Definiens jeweils intensional aus der Angabe einer Gattung (genus proximum) und der die Art unterscheidenden Merkmale (differentia specifica) besteht (vgl. Abb. 5). Allein die Definitionen von Materie und Form zeigen einen extensionalen Charakter, indem sie sich auf den substantiellen bzw. den strukturellen Bestandteil von Erscheinung beziehen. Andere Definitionsarten wie etwa explikative, exemplarische, operationale oder synonymische Definitionen12 sind hier nicht zu finden. Dies lässt sich damit erklären, dass Kant zwar ein terminologisches System diskursiv entwickelt (und nicht systematisch darlegt), dieses dabei jedoch semantisch möglichst präzise zu erfassen versucht; daneben ist in diesem Falle sicher auch eine gewisse Tradition des Definierens in der Zeit der Aufklärung anzunehmen.
10
11
12
Ein schönes Beispiel hierfür ist die chiastische Serialisierung der Definitionen von empirisch und Materie (dazwischen von Erscheinung) einerseits sowie Form und rein andererseits. Zu Kants Abgrenzung der transzendentalphilosophischen von anderen philosophischen Verwendungsweisen des Terminus Ästhetik in der Anmerkung zum ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik vgl. hier Abschnitt 6. Vgl. Roelcke 32010, 60–68.
316
Thorsten Roelcke Gegenstand afficiren
ERKENNTNISS
3 Empfindung
2 Sinnlichkeit (Gemüth, Receptivität, Vorstellungsfähigkeit) a posteriori
a priori geben
6 Materie
7 Form Principien der Sinnlichkeit Raum
transscendentale Ästhetik 9
Zeit
isoliren 5 Erscheinung
4 empirische
transscendentale Elementarlehre
8 reine
1 Anschauung
Verstand denken Principien des reinen Denkens
Begriff
Abb. 4: Definierte Termini im terminologischen System
transscendentale Logik 10
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik Definiendum
Definitor
Anschauung
ist
Sinnlichkeit
heißt
Fähigkeit (Receptivität)
Empfindung
ist
Wirkung eines Gegenstandes
empirisch
heißt
Erscheinung
heißt
Materie
nenne ich
[Anschauung, welche sich] bezieht Gegenstand einer empirischen Anschauung in der Erscheinung das
Form
nenne ich
dasjenige [in der Erscheinung]
rein
ich nenne
transscendentale Ästhetik transscendentale Logik
nenne ich
[Vorstellungen (im transscendentalen Verstande), in denen angetroffen wird] Wissenschaft
genannt wird
Definiens genus proximum Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntniß auf Gegenstände beziehen mag
diejenige [Wissenschaft]
317
differentia specifica [diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe] unmittelbar [bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt] Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen afficirt werden, zu bekommen auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden auf den Gegenstand durch Empfindung unbestimmter was der Empfindung correspondirt welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann nichts, was zur Empfindung gehört von allen Principien der Sinnlichkeit a priori welche die Principien des reinen Denkens enthält
Abb. 5: Aristotelische Definitionen der Termini
Kant verwendet im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik sowohl Real- als auch Nominaldefinitionen; dies lässt sich aus den diversen Definitoren ablesen: • zwei Realdefinitionen (Anschauung und Empfindung mit dem Definitor ist); • vier allgemein gehaltene (intersubjektive) Nominaldefinitionen (Sinnlichkeit, empirisch und Erscheinung mit dem Definitor heißt sowie transscendentale Logik mit dem Definitor wird genannt); • vier individuell gekennzeichnete (subjektive) Nominaldefinitionen (Materie, Form, rein und transscendentale Ästhetik mit nenne ich).
318
Thorsten Roelcke
Auch dieser Befund lässt sich mit einer Strategie wachsender Entfernung erklären: Termini der substantiellen Komponente menschlicher Erkenntnis, deren kantsche Bedeutungen denjenigen in der Philosophie seiner Zeit relativ nahe stehen, werden überwiegend mit intersubjektiven Nominaldefinitionen oder mit Realdefinitionen festgelegt. Demgegenüber finden sich subjektive Nominaldefinitionen vornehmlich bei solchen Termini, deren Bedeutung sich im transzendentalphilosophischen Sinne in stärkerem Maße vom zeittypischen philosophischen Gebrauch abheben. Aristotelische Definitionen liegen insbesondere bei der Festlegung hierarchisch angelegter Terminologien nahe: Ein Terminus, der innerhalb der differentia specifica im Definiens eines hyperonymen Terminus erscheint, kann als genus proximum im Definiens eines hyponymen Terminus auftreten (und so fort). Obwohl das terminologische System in diesem Abschnitt kaum hierarchisch angelegt ist, wählt Kant diesen Typ der Definition und stellt sich damit einer definitorischen Herausforderung, da er bei der Formulierung der genera proxima und differentia specifica nur bedingt auf hierarchisch strukturiertes Wortmaterial zurückgreifen kann: • Die genera proxima zeigen dabei folgende Gestaltungsweisen: Satz (Anschauung), (allgemeinsprachliches) Hyperonym (Sinnlichkeit, transscendentale Ästhetik, transscendentale Logik), (allgemeinsprachliche) Nominalgruppe mit attributivem Genitiv (Empfindung, Erscheinung), semantisch vages Verb mit Nominalphrase (empirisch), übergeordnetes Partonym (Materie, Form), Nominalgruppe mit Attributsatz (rein). – Sie fallen semantisch tendenziell vage aus; dies zeigt sich insbesondere an den genera proxima Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntniß auf Gegenstände beziehen mag (für Anschauung), Wirkung eines Gegenstandes (für Empfindung) oder dasjenige [in der Erscheinung] (für Form). • Entsprechendes gilt für die differentia specifica. Sie finden sich jeweils in einer der folgenden Formen: Adjektive (Anschauung, Erscheinung), erweitere Infinitive (Sinnlichkeit), (teils erweiterte) Präpositionalkonstruktionen (Empfindung, empirisch, transscendentale Ästhetik), (teils erweiterte) Attributsätze (Materie, Form, transscendentale Logik), Negation in Verbindung mit einem Relativsatz (rein). – Ihre definitorische Vagheit ist etwa zu erkennen an: [diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe] unmittelbar [bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt] (für Anschauung), was der Empfindung correspondirt (für Materie) oder nichts, was zur Empfindung gehört (für rein). Der Hinweis auf Vagheit mancher genera proxima und differentia specifica ist nicht als (gebührliche oder ungebührliche) Kritik an Kants Definitionspraxis misszuverstehen: Vagheit ist vielmehr als eine relative terminologische Eigenschaft anzusehen, die der relativen Exaktheit einzelner Termini entspricht: Definitionssysteme in einer natürlichen Sprache basieren (im Gegensatz zu solchen in einer künstlichen Sprache) letztlich auf allgemeinsprachlicher Lexik (in hierarchisch angelegten Terminologien etwa an der Spitze und am Boden des Systems). Dies gilt auch für die grundlegende Terminologie, die
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik
319
Kant anfangs der Transzendentalen Ästhetik entfaltet: Sie ist an allgemeinsprachliche (wenn auch im philosophischen Diskurs der Zeit etablierte) Lexik gebunden und erlangt ihre notwendige (und dabei auch hinreichende) Exaktheit insbesondere auch durch die internen Relationen ihrer Struktur. Dieser Beitrag terminologieinterner semantischer Relationen zur Definition einzelner Termini lässt sich am Beispiel von empirisch und rein gut zeigen: Das Adjektiv empirisch wird mit den differentia specifica auf den Gegenstand durch Empfindung definiert, während bei rein hier nichts, was zur Empfindung gehört erscheint. Diese definitorische Angabe zu rein ist nicht als eine echte Verneinung zu lesen (in diesem Falle wäre die Definition fehlerhaft und unbrauchbar), sie erhält ihre Bedeutung vielmehr durch den semantischen Bezug zu den Termini Materie und Form: Während Materie als in der Erscheinung das, was der Empfindung correspondirt definiert wird, findet sich Form in diesem Zusammenhang als dasjenige [in der Erscheinung], welches macht, dass das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann: Der Ausdruck Materie bezieht sich damit auf die Substanz, der Ausdruck Form dagegen auf die Struktur einer sinnlichen Anschauung. Die Definitionen von Materie und empirisch entsprechen einander hinsichtlich correspondirt bzw. bezieht sowie Empfindung. Vor diesem Hintergrund darf nun auch eine Entsprechung zwischen den Definitionen von Form und rein angenommen werden, sodass geordnet werden der Erscheinung bei Form als strukturelle Komponente neben der fehlenden substantiellen Komponente (nichts, was zur Empfindung gehört) bei rein aufzufassen ist. Im Ganzen zeigt sich, dass Kant im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik eine diskursive Definitionspraxis pflegt: Dies zeigt sich sowohl in der Wahl und in der Reihenfolge der einzelnen Definitionen und deren Definitionsarten sowie in der vielfältigen, oft phrasenhaften Gestaltung des Definiens vieler Definitionen. An dieser Stelle liegt ein weiterer Vergleich mit Christian Gueintz’ Deutscher Sprachlehre Entwurf nahe. Bei Gueintz sind im Unterschied zu Kant drei verschiedene Definitionstypen zu finden, die sich über das hierarchische System der Terminologie mehr oder weniger konsequent verteilen: 1. Aristotelische Definitionen, in denen ein hyperonymes Definiens expressis verbis als genus proximum erscheint und um die Angabe von differentiae specificae ergänzt wird – zum Beispiel: Die Wortforschung ist ein theil der sprachlehre von eines ieglichen wortes natur (Gueintz 1641, 24). 2. Explikative Definitionen, die nicht zwischen genus proximum und differentia specifica unterscheiden, sondern lediglich unsystematisch einige Merkmale angeben oder auf andere Weise erläutern – etwa: Die erste person ist welche da redet (ebd., 27). Diese Definitionen geraten hier bisweilen in die Nähe von synonymischen Definitionen (Die entspringliche art ist / die von einem andern herkommet) oder von zirkulären (Die theilbare gestalt ist / nach welcher ein wort in Deutsche theil kann getheilet werden; ebd., 25).
320
Thorsten Roelcke
3. Exemplarische Definitionen treten allein als Beispielangaben nach anderen Definitionen auf. – Andere Arten wie etwa genetische oder operationale Definitionen erscheinen in dem Text nicht. Aristotelische Definitionen erscheinen hierbei (mit Ausnahme derjenigen von wandelbar) jeweils auf höheren (abstrakteren) Ebenen, während sich explikative Definitionen jeweils auf der untersten (konkreten) Ebene finden und eine enge Bindung an die Allgemeinsprache zeigen.
5. Beispiele und Erläuterungen zu einzelnen Termini und deren Definitionen Kant führt in diesem Textabschnitt kaum Beispiele an; zu nennen sind lediglich zwei Fälle, die für die Terminologisierung allenfalls von untergeordneter Bedeutung sind: • Substanz, Kraft und Theilbarkeit als Beispiele für die Begrifflichkeit hinsichtlich eines Körpers sowie Undurchdringlichkeit, Härte und Farbe als solche für dessen Empfindung werden im vierten Absatz anlässlich einer Erläuterung zum Terminus rein angeführt, leisten jedoch kaum einen Beitrag zu dessen näherer semantischen Bestimmung. • Raum und Zeit als Principien der Sinnlichkeit erscheinen im sechsten Absatz weniger als Beispiele, denn als extensionale Angabe zum Schluss, während Form oder Princip der Sinnlichkeit um einiges zuvor eingeführt werden. Im Unterschied hierzu gibt Kant im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik wiederholt Erläuterungen, die sich auch für die Einführung seiner Terminologie von Bedeutung erweisen (vgl. Abb. 6). Dabei finden sich drei Absätze, die jeweils Sätze mit Definitionen und Sätze mit Erläuterungen enthalten (Abs. 1, 3, und 4) sowie zwei Absätze, die ausschließlich Definitionen aufweisen (Abs. 2 und 5), und einen, der nur Erläuterungen umfasst (Abs. 6). Graphische Abbildungen wie Tabellen oder Skizzen, die ebenfalls zur Definition und Erläuterung einzelner oder mehrerer Termini beitragen können, finden sich in diesem Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft nicht. Diese Beobachtung gibt Anlass, den Vorschlag zu einem (nicht ganz) neuen textlinguistischen Untersuchungsansatz zu unterbreiten: Die Analyse der qualitativen und quantitativen Verteilung von Information in einzelnen Absätzen, Abschnitten, Paragraphen, Kapiteln usw. verspricht neue Erkenntnisse über die Exteriorisierung (wie auch Interiorisierung) von Wissen (bzw. Kenntnissen und Kompetenzen). Dabei wäre eine solche Absatzlinguistik nicht allein im fach-, sondern insbesondere auch im literatursprachlichen Bereich von Interesse.13 13
Im sprachdidaktischen Bereich ist ein solches Verfahren tatsächlich bereits ein recht alter Hut: Bei der Erfassung und Untersuchung von Texten werden einzelne Absätze mit knappen inhaltsbezogenen Annotationen versehen, um auf diese Weise den Aufbau des Gesamttextes zu erfassen.
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik Abs.
Satz
Def.
1
1
x
2 3
2
3
x x
4
x
5
x
Anschauung
Erkenntniß, Gegenstand, Denken
Anschauung
Gegenstand, geben, Gemüth, afficiren
Sinnlichkeit
Vorstellungsfähigkeit, Receptivität, Gegenstand, afficiren Gegenstand, geben, ↑ Anschauung, denken, Begriff denken, Gegenstand, geben
x
2
x
empirisch
3
x
Erscheinung
Gegenstand, Vorstellungsfähigkeit, afficiren ↑ Anschauung, Gegenstand, ↑ Empfindung Gegenstand, ↑ empirisch, ↑ Anschauung
1
x
Materie, Form
↑ Erscheinung, ↑ Empfindung,
Materie, Form
↑ Empfindung, Erscheinung, a posteriori, Gemüth, a priori transscendental, ↑ Empfindung,
1
x x
rein x
rein
4
x
[reine Anschauung]
5
x
[reine Anschauung]
3
6
Wortschatz
1
2
5
Terminus
Sinnlichkeit, [Verstand] Sinnlichkeit, Anschauung Empfindung
2 4
Erl.
321
x
1
x
2
x
reine Anschauung
1
x
2
x
3
x
transscendentale Ästhetik transscendentale Logik transscendentale Ästhetik transscendentale Ästhetik transscendentale Ästhetik
↑ Form, ↑ Anschauung, Gemüth, a priori, ↑ Erscheinung ↑ Form, ↑ Sinnlichkeit Verstand, denken, ↑ Empfindung, ↑ empirisch, ↑ Anschauung a priori, Gegenstand [der Sinne], ↑ Empfindung, ↑ Form, ↑ Sinnlichkeit, Gemüth Princip der Sinnlichkeit, a priori transscendentale Elementarlehre, Princip des reinen Denkens ↑ Sinnlichkeit, isoliren, Verstand, Begriff, denken, ↑ empirisch, ↑ Anschauung ↑ rein, ↑ Anschauung, ↑ Form, ↑ Erscheinung, ↑ Sinnlichkeit, a priori ↑ rein, ↑ Form, [sinnliche] ↑ Anschauung, Princip, Erkenntniß, a priori, Raum, Zeit
Abb. 6: Definierte (fett) und erläuterte Termini: Definitions- und Erläuterungswortschatz
Im vorliegenden Fall kommt eine solche Analyse zu dem folgenden (stark vereinfachenden) Ergebnis, wobei die definierten bzw. erläuterten Termini jeweils das Thema des betreffenden Absatzes widerspiegeln (vgl. Abb. 7):
322 Absatz 1. 2. 3.
Thorsten Roelcke Thema Sinnlichkeit – substantiell wie strukturell (Abgrenzung zu Verstand) Substantielle Komponente von Sinnlichkeit
4.
Substantielle und strukturelle Komponente von Sinnlichkeit Strukturelle Komponente von Sinnlichkeit
5.
transzendentalphilosophische Disziplinen
6.
transzendentalphilosophische Untersuchung von Sinnlichkeit
Definitionen und Erläuterungen Definitionen von und Erläuterungen zu Anschauung und Sinnlichkeit Definitionen von Empfindung, empirisch und Erscheinung Definitionen von und Erläuterungen zu Materie und Form Definitionen von und Erläuterungen zu rein bzw. reine Anschauung Definitionen von transscendentale Ästhetik und transscendentale Logik Erläuterungen zu transscendentale Ästhetik
Abb. 7: Absätze: Themen und Termini (Definitionen und Erläuterungen)
Sätze mit Definitionen und solche mit Erläuterungen wechseln in diesem Textabschnitt einander ab. Dabei folgen Erläuterungen zu einzelnen Termini bzw. deren Begrifflichkeit jeweils unmittelbar auf deren Definition (Termini, die nicht definiert werden, werden auch nicht erläutert). Diejenigen Termini, mit denen andere Termini erläutert werden, werden entweder in diesem Abschnitt definiert (und zwar stets oberhalb), oder sie bleiben hier ohne eine Definition (und werden oft an anderem Orte in der „Kritik der reinen Vernunft“ – etwa zuvor in der „Einleitung“ – definiert). Im zweiten Falle macht Kant also so etwas wie einen terminologischen Vorbehalt, der im Falle von Definitionen, die anderenorts erfolgen, aufgelöst wird. Die rechte Spalte in Abb. 6 zeigt anhand der eingefügten Pfeile, dass viele Termini, die jeweils zur Definition oder Erläuterung anderer Termini verwendet werden, wiederholt erscheinen und zuvor selbst definiert werden; hierfür drei Beispiele: • Der Terminus Anschauung wird selbst unter Gebrauch von Erkenntniß, Gegenstand und Denken definiert und erscheint seinerseits in Definitionen von empirisch und Erscheinung sowie in Erläuterungen zu Sinnlichkeit, rein bzw. reine Anschauung und transscendentale Ästhetik. • Demgegenüber wird der Terminus Gegenstand in diesem Textabschnitt nicht eigens definiert und tritt dabei jedoch in den Definitionen von Anschauung, Sinnlichkeit, Empfindung, empirisch und Erscheinung sowie in den Erläuterungen zu [reine] Anschauung und Sinnlichkeit auf. • Die wichtigen Termini Raum und Zeit kommen jeweils nur ein einziges Mal vor – am Schluss: Sie weisen selbst keine Definition auf, sondern finden sich im Rahmen einer Erläuterung zu transscendentale Ästhetik.
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik
323
6. Die Vernetzung der Termini Die Beobachtung, dass einzelne Termini im Rahmen von Definitionen und Erläuterungen wiederholt erscheinen, überrascht als solche nicht. Sie gibt jedoch Anlass zu zwei weiterführenden Fragen: • Inwiefern trägt das wiederholte Erscheinen einzelner Termini, also die lexikalische Rekurrenz, zu Kohäsion und Kohärenz des Textes bei (Frage nach der Herstellung von Textzusammenhang)? • Wie werden die systematischen Beziehungen zwischen den Termini durch deren Gebrauch in Definitionen und Erläuterungen hergestellt (Frage nach der Vernetzung des terminologischen Systems)? In der folgenden Tabelle (Abb. 8) sind die definierten Termini in Fettdruck horizontal in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Text angeführt; in der Vertikalen finden sich all diejenigen Termini (ebenfalls in der Reihenfolge ihres Texterscheinens), die im Rahmen der Definitionen und Erläuterungen der definierten Termini erscheinen (hier sind die definierten Termini ebenfalls fett gedruckt und deren horizontale Zeile grau unterlegt). Die Kreuze geben jeweils das erste Erscheinen der vertikal aufgeführten Termini an, die nach links, auf die Kreuze weisenden Pfeile deren spätere Nennungen. – Eine Auswertung der Tabelle kommt unter anderem zu den folgenden Befunden: • Einige der definierten Termini stellen vergleichsweise oft eine lexikalische Rekurrenz her und tragen somit wesentlich zur terminologischen Vernetzung bei. Hierzu zählen Anschauung, Empfindung, Erscheinung und empirisch. • Im Gegensatz hierzu leisten einige andere definierte Termini kaum einen Beitrag zur lexikalischen Rekurrenz des Textes und damit auch nur in geringem Maße zur terminologischen Vernetzung. Dies gilt insbesondere für Sinnlichkeit, Form und rein. Überhaupt keine lexikalische Rekurrenz und damit auch keine terminologische Vernetzung leistet transscendentale Logik (transscendentale Ästhetik dagegen jedoch durch wiederholte Nennung als Explikandum). • Termini, die nicht eigens definiert werden, tragen bisweilen ebenfalls zur lexikalischen Rekurrenz und terminologischen Vernetzung bei. Zu nennen ist hier allen voran Gegenstand; im Weiteren gehören auch Gemüth oder a priori hierzu. • Die stärkste terminologische Vernetzung durch lexikalische Rekurrenz zeigt rein unter den Termini, die sich auf epistemische Gegebenheiten beziehen. Von den beiden Termini, die epistemologischen Disziplinen gelten, ist transscendentale Ästhetik stark, transscendentale Logik dagegen nur schwach lexikalisch rekurrent und terminologisch vernetzt (vgl. hierzu unten). • Zahlreiche Termini sind unmittelbar rekurrent bzw. vernetzt, indem innerhalb ihrer eigenen Definitionen oder Erläuterungen Termini, die in der Definition zuvor Verwendung finden, wieder aufgegriffen werden. Dies gilt etwa für Sinnlichkeit (mit Gegenstand, denken, Anschauung, geben und afficiren).
←
← ← ← ←
transscendentale Logik
←
transscendentale Ästhetik
←
rein
←
Form
Erscheinung
← ← ←
Materie
empirisch
x x x x x x x
Empfindung
Erkenntniß Gegenstand denken Anschauung Gemüth geben afficiren Receptivität Sinnlichkeit Verstand Begriff Vorstellungsfähigkeit Empfindung empirisch Erscheinung Materie Form a posteriori a priori rein transscendental Principien der Sinnlichkeit transscendentale Ästhetik transscendentale Elementarlehre Principien des reinen Denkens transscendentale Logik isoliren Raum Zeit
Sinnlichkeit
Thorsten Roelcke Anschauung
324
←
←
← ←
← ← x x x x x
← ←
← ← ←
← ← ←
← x
← x
← x
←
←
← x
←
x x
x ← ←
← ← ←
← ←
←
←
← x x
← ← ← x
←
x x
x x x x x
Abb. 8: Terminologische Rückverflechtung in Definitionen und Erläuterungen
• Bisweilen entstehen durch eine Wiederholung unmittelbarer Rekurrenz und Vernetzung echte Rekurrenz- oder Terminologisierungsketten; so etwa bei Empfindung (mit Vorstellungsfähigkeit), empirisch (mit Empfindung), Erscheinung (mit empirisch) und Materie (mit Erscheinung). – Dies ist auch insofern bemerkenswert, als das termino-
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik
325
logische System hier nicht hierarchisch ist und somit keine Reihungen von genus proximum und differentia specifica im Rahmen aristotelischer Definitionen nahelegt. Daher ist im vorliegenden Textabschnitt von einer heterogenen und nicht von einer hierarchischen Rekurrenz- bzw. Terminologisierungskette zu sprechen. • Zwei der Termini fallen dadurch ins Auge, dass sie gegen Ende des Textes definiert und erläutert werden und dabei zahlreiche Rekurrenzen bzw. Vernetzungen zeigen – insbesondere auch zu solchen Termini, die zu dessen Beginn eingeführt werden. Es handelt sich hierbei um rein (mit Gegenstand, denken, Anschauung, Gemüth, Sinnlichkeit und Verstand und weiteren) und transscendentale Ästhetik (mit Erkenntniß, denken, Anschauung, Sinnlichkeit, Verstand, Begriff und anderen). – Hierbei drängt sich der Verdacht auf, dass Kant mit der Definition und der Erläuterung des letzten Terminus, der sich auf epistemische Gegebenheiten bezieht, und derjenigen des zentralen Terminus, der sich auf eine epistemologische Disziplin bezieht, noch einmal wichtige Termini vom Beginn des Textabschnitts nennen möchte: Hier ist daher von einer rekapitulierenden lexikalischen Rekurrenz bzw. terminologischen Vernetzung zu sprechen. Diese Befunde machen deutlich, dass die terminologische Vernetzung innerhalb des ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik ganz durchgeführt ist und dieser Textabschnitt somit eine vollständige lexikalische Rekurrenz zeigt. Offen bleibt hierbei jedoch die Frage nach der Exaktheit und der Eindeutigkeit, welche die Termini in diesem Rahmen jeweils zeigen.
7. Exaktheit und Eindeutigkeit der Termini Die Termini im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik sind relativ exakt bzw. relativ vage. Für diese Relativität der Exaktheit sind hier mindestens drei Faktoren14 verantwortlich: 1. Der Gebrauch von lexikalischen Ausdrücken innerhalb von Definitionen, die ihrerseits keine Definition aufweisen: Definitionssysteme natürlicher Sprache bleiben an ihren Rändern (bei hierarchischen Systemen etwa an der Spitze und am Boden) an Ausdrücke gebunden, die nicht eigens definiert sind und somit relative Vagheit in das betreffende System tragen. 2. Der Gebrauch von Termini in Definitionen, die selbst nicht genau in diesem Textabschnitt, sondern anderenorts definiert werden: Mit einem solchen terminologischen (oder auch: definitorischen) Vorbehalt wird die (reale oder potentielle) Exaktheit einzelner Termini nach außen verlagert. Wichtig: Auch dieser terminologische Vorbehalt ist seinerseits relativ, indem er jeweils vom Textschnitt abhängig gemacht wird.
14
Vgl. hier die Abschnitte 3 und 4 zu den Definitionen sowie Erläuterungen einzelner Termini.
326
Thorsten Roelcke
3. Die Gestaltung von Definitionen, die jeweils vom definitorischen bzw. terminologischen Kontext abhängen: Deren relative Exaktheit bzw. Vagheit hängt hier nicht (allein) von dem Gebrauch nicht oder anderenorts definierter lexikalischer Ausdrücke innerhalb ihrer selbst ab. Sie ist vielmehr bedingt durch diejenige anderer Definitionen im terminologischen Umfeld. Unabhängig vom philosophischen Diskurs zeigt sich an diesem Beispiel einmal mehr, dass Exaktheit und Vagheit relative Eigenschaften von Termini sind.15 Deren Beurteilung kann allein unter pragmatischen und kognitiven Gesichtspunkten erfolgen. Da der Textschnitt in diesem Falle verhältnismäßig eng gewählt ist (was sich insbesondere in den zahlreichen terminologischen bzw. definitorischen Vorbehalten äußert), erscheint hier eine solche Beurteilung kaum indiziert. Allein hinsichtlich der lexikalischen Rekurrenz bzw. der terminologischen Verflechtung16 kann der Terminologisierung eingangs der Transzendentalen Ästhetik ein verhältnismäßig hoher Grad an Exaktheit attestiert werden. Im Gegensatz zu der von der modernen Terminologielehre in der Folge Wüsters immer wieder postulierten Eineindeutigkeit von Termini stellen deren Polysemie und Synonymie (Mehrmehrdeutigkeit) weniger die Ausnahme als vielmehr deren Regel dar.17 Dabei ist zwischen einer terminologieimmanenten und einer terminologietranszendenten Mehrmehrdeutigkeit zu unterscheiden. Für den Terminus Sinnlichkeit sind etwa in der Kritik der reinen Vernunft mindestens fünf verschiedene Einzelbedeutungen18 zu belegen: 1. ›Vermögen, Gegenstände, die in der außersubjektiven Wirklichkeit gegeben sind, raumzeitlich wahrzunehmen‹. 2. ›raumzeitliche Wahrnehmung von Gegenständen außersubjektiver Wirklichkeit‹. 3. ›Typ raumzeitlicher Wahrnehmung von Gegenständen außersubjektiver Wirklichkeit‹. 4. ›Begehrungsvermögen‹. 5. ›Neigung‹. Die ersten drei Bedeutungen sind transzendentalphilosophischer Natur und stehen in einem metonymischen Zusammenhang: Während sich die erste Bedeutung auf ein bestimmtes Erkenntnisvermögen (im epistemologischen Sinne) bezieht, sind die zweite und die dritte Bedeutung auf entsprechende Erkenntnis bzw. auf deren strukturelle Komponente bezogen. Die vierte und fünfte Bedeutung sind allgemeinsprachlich, zeigen aber auch eine metonymische Relation zwischen Vermögen und dessen Ausprägung.
15 16 17
18
Vgl. auch Roelcke 32010, 68–70. Vgl. hier Abschnitt 5 zur Vernetzung der Termini. Vgl. Wüster 1931/31970, 85–89; Arntz/Picht/Mayer 62009, 125–131; Felber/Budin 1989, 135–138; Roelcke 1991; 32010, 70–74. Vgl. Roelcke 1989, 84–86.
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik
327
Im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik ist nun ausschließlich die erste der genannten Bedeutungen von Sinnlichkeit zu finden; die weiteren Bedeutungen erscheinen an anderer Stelle der Kritik der reinen Vernunft. Dies ist durch den engen Textschnitt bedingt, lässt für diesen Textabschnitt jedoch den Befund zu, dass hier keine terminologieimmanente Polysemie (sei sie nun metonymischen, metaphorischen oder sonstigen Charakters) herrscht. Die anderen Termini dieses Textabschnitts zeigen entsprechende Befunde, sind also terminologieimmanent monosem. Im Unterschied hierzu ist in dem vorliegenden Textabschnitt immerhin eine terminologietranszendente Polysemie zu beobachten: So wird der Terminus Ästhetik hier sowohl unter einer spezifisch transzendentalphilosophischen als auch unter einer anderen philosophischen Bedeutung verwendet. Kant zufolge bezieht sich der Terminus im transzendentalphilosophischen Verständnis (daher hier auch: transscendentale Ästhetik) auf die epistemologische Disziplin, die sich insbesondere mit der strukturellen Komponente von Erfahrung (also sinnlicher Erkenntnis) beschäftigt: Er definiert ihn als Wissenschaft von allen Principien der Sinnlichkeit a priori19. Daneben wird der Ausdruck nach Kant im philosophischen Diskurs auch unter einer anderen Bedeutung gebraucht, die an dieser Stelle als Kritik des Geschmacks20 angegeben und mit dem Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (und vermutlich dessen Werk Aesthetica)21 in Verbindung gebracht wird.22 Auch ohne weiterführende philosophische Erläuterung wird deutlich, dass hier konkurrierende Bedeutungen diskutiert werden, die verschiedenen Bereichen eines bestimmten wissenschaftlichen Bereiches zuzuordnen sind: Vor diesem Hintergrund liegt hier eine terminologietranszendente und dabei fachimmanente Polysemie vor. Solche „semantischen Kämpfe“ stellen eine bedeutsame Ursache terminologischer Polysemie dar.23 Der Ausdruck Sinnlichkeit stellt einen (wenn nicht: den) zentralen Terminus des ersten Paragraphen der „Transzendentalen Ästhetik“ dar. Und gerade dieser wird hier gemeinsam mit einigen synonymen Termini verwendet: Gemüth, Receptivität und Vorstellungsfähigkeit. Ein Blick auf den Gebrauch der Termini in der Kritik der reinen Vernunft als ganzer kommt demgegenüber zu der folgenden Liste an Synonymen: Anschauungsvermögen, Sinn, Sinnlichkeit, Vorstellungsfähigkeit, Vorstellungskraft und Vorstellungsvermögen.24 Von Sinnlichkeit und Vorstellungsfähigkeit abgesehen, weichen diese beiden Listen voneinander ab. Dieser disparate Befund lässt sich folgendermaßen erklären:
19 20 21 22
23 24
Vgl. Absatz 5. Vgl. Absatz 6. Baumgarten 1750/58. Kant selbst kritisiert, dass der Terminus hier nicht, wie es die „wahre Wissenschaft“ gebiete, „im transscendentalen Sinne“, sondern „in psychologischer Bedeutung“ einer „speculativen Philosophie“ gebraucht werde (vgl. Anmerkung zu Absatz 5). Vgl. etwa Felder 2006. Vgl. Roelcke 1989, 162–165.
328
Thorsten Roelcke
• Die synonymen Ausdrücke Anschauungsvermögen, Sinn, Vorstellungskraft und Vorstellungsvermögen, die zwar in der Kritik der reinen Vernunft, nicht aber im ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik erscheinen, werden an anderer Stelle des Werks eingeführt und sind somit für diesen Textabschnitt nicht von Relevanz. • Der Ausdruck Gemüth wird in der Kritik der reinen Vernunft in der Regel unter der Bedeutung ›Erkenntnisvermögen‹, der Ausdruck Receptivität unter ›Wahrnehmungsvermögen‹ (einschließlich einer strukturellen Komponente von Erkenntnis, jedoch unspezifisch hinsichtlich der menschlichen Komponenten Raum und Zeit) verwendet. Sie erweisen sich somit als Hyperonyme zu Sinnlichkeit unter der Bedeutung ›raumzeitliches Wahrnehmungsvermögen‹. Die Bedeutungen von Gemüth und Receptivität sind in diesem Kontext jedoch nicht entsprechend gegenüber derjenigen von Sinnlichkeit abgegrenzt, sondern stehen als Quasisynonyme unter einem terminologischen bzw. definitorischen Vorbehalt.25 Polysemie und Synonymie sind in diesem frühen Textabschnitt der Kritk der reinen Vernunft Ausdruck einer diskursiven Terminologisierung: Sowohl die Abgrenzung der transzendentalphilosophischen Bedeutung von Ästhetik gegenüber derjenigen in einem anderen philosophischen Verständnis als auch der definitorische Vorbehalt bei der Verwendung der Quasisynonyme zu Sinnlichkeit sind Erscheinungen im Rahmen der Konstitution einer Terminologie, die in diesem Textabschnitt nicht abgeschlossen ist, sondern vielmehr ihren eigentlichen Anfang nimmt.
8. Graphische Hervorhebung der Termini Obwohl eine graphische Hervorhebung von nicht unbeträchtlicher Bedeutung für das Erkennen von Termini und damit auch für die Rezeption von Fachtexten ist26, ist sie bislang nicht hinreichend untersucht worden. – In der folgenden Skizze (Abb. 9) sind sämtliche Termini, die in der Akademie-Textausgabe hervorgehoben sind, grau unterlegt. Hier ergeben sich folgende Beobachtungen: • Mit Ausnahme von transscendentale Logik zeigen all diejenigen Termini durch Sperrdruck (bei Sinnlichkeit durch Fettdruck – ggf. als besondere Hervorhebung des zentralen Terminus dieses Abschnitts) eine Hervorhebung, die definiert werden. • Hinzu kommen drei weitere Termini, die als Verben Erkenntnisprozesse (geben und denken) bzw. Forschungsmethoden (isoliren) bezeichnen. • Im Rahmen der kritischen Diskussion terminologietranszendeter Polysemie werden der Terminus Ästhetik sowie der Name Baumgarten hervorgehoben. 25
26
Diese Interpretation wird auch von der Verwendung des Ausdrucks Receptivität als synonymische Erläuterung zu Fähigkeit als genus proximum der Definition von Sinnlichkeit nahegelegt (vgl. Absatz 1). Vgl. Roelcke 2010.
Terminologisierung im ersten Paragraphen der Transscendentalen Ästhetik Gegenstand afficiren
ERKENNTNISS
3 Empfindung
2 Sinnlichkeit (Gemüth, Receptivität, Vorstellungsfähigkeit) a posteriori
a priori geben
6 Materie
7 Form Principien der Sinnlichkeit Raum
transscendentale Ästhetik 9
Zeit
isoliren 5 Erscheinung
4 empirische
transscendentale Elementarlehre
8 reine
1 Anschauung
Verstand denken Principien des reinen Denkens
Begriff
Abb. 9: Hervorhebung von Termini im Text
transscendentale Logik 10
329
330
Thorsten Roelcke
Hervorhebungen verweisen hiernach fast ausschließlich auf Termini, die (genau an dieser Stelle) definiert werden, sodass die Akademie-Textausgabe hinsichtlich der Terminologisierung eine recht leserfreundliche typographische Gestaltung zeigt.27
9. Abschließende Bemerkungen Um zusammenfassen, sei zunächst von den eingangs aufgestellten Punkten (Fragen) ausgegangen: 1. Der erste Paragraph der Transzendentalen Ästhetik in Kants Kritik der reinen Vernunft führt in die Unterscheidung einer substantiellen und einer strukturellen Komponente menschlicher Erkenntnis (Anschauung) und deren epistemologischer Untersuchung ein. Das terminologische System dieses Textabschnitts ist nicht strikt hierarchisch aufgebaut, sondern zeigt daneben auch partitive und prozedurale Wortschatzrelationen. 2. Die lineare Einführung der knapp dreißig Termini innerhalb des Textes folgt mindestens drei Strategien: a) Strategie wachsender Entfernung von (in der Philosophie der Zeit) eher geläufigen zu eher ungeläufigen Termini (im Sinne der Transzendentalphilosophie); b) Strategie assoziativer Verflechtung semantisch verwandter, aber nicht unmittelbar benachbarter terminologischer Ausschnitte; c) Strategie induktiver Disziplinbildung, wobei in einem ersten Schritt epistemische und in einem zweiten epistemologische Termini im Text genannt werden. 3. In dem Textabschnitt werden zehn Termini definiert. Die Reihenfolge der Definitionen entspricht dabei den drei genannten Strategien. Deren Definiens folgt jeweils dem klassischen, aristotelischen Muster aus genus proximum und differentia specifica. Die Definitoren von (in der Philosophie der Zeit) eher geläufigen Termini sind tendenziell als Realdefinitionen und diejenigen von eher ungeläufigen Termini (im Sinne der Transzendentalphilosophie) als (intersubjektive oder subjektive) Nominaldefinitionen gestaltet. Die (relativ vage) Gestaltung der genera proxima und differentiae specificae ist vielfältig und trägt dabei oftmals phrastische Züge. Zahlreiche definierende oder explizierende Ausdrücke tragen einen terminologischen bzw. definitorischen Vorbehalt, da sie entweder nicht oder anderenorts definiert werden. 4. Beispiele sind in dem ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik nur von untergeordneter Bedeutung. Demgegenüber weist der Textabschnitt zahlreiche Erläuterungen auf, die jeweils im Anschluss an die Definitionen der betreffenden Termini erscheinen (dabei ist über die Textabsätze eine Informationsstruktur erkennbar). Zahlreiche Termini, die (definiert oder nicht definiert) in diesen Erläuterungen Ver27
Die Meiner-Ausgabe hält an den Hervorhebungen durch Sperrdruck fest, verzichtet jedoch auf den Fettdruck von Sinnlichkeit (hier stattdessen ebenfalls Sperrung) und die Hervorhebung von Baumgarten. Kursivsatz dient hier der Kennzeichnung von Varianten erster und zweiter Auflage.
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wendung finden, erscheinen mehrfach; dabei werden definierte Termini stets nach ihrer Definition explikativ eingesetzt. 5. Das wiederholte Erscheinen einzelner Termini innerhalb von Definitionen und Explikationen trägt einerseits zur lexikalischen Rekurrenz des Textes und andererseits zur Vernetzung des terminologischen Systems selbst bei. Obwohl das terminologische System nicht hierarchisch ist, treten dabei bisweilen Rekurrenz- bzw. Terminologisierungsketten auf (die entsprechend als heterogen zu charakterisieren sind). Gegen Ende des Textes finden sich Termini, die neben ihrer Definition unter Rückgriff auf zahlreiche eingeführte Termini erläutert werden; hier liegt eine rekapitulierende lexikalische Rekurrenz bzw. terminologische Vernetzung vor. 6. Die relative Exaktheit bzw. Vagheit der Termini dieses Textabschnitts ist durch mindestens drei Faktoren bestimmt: a) Gebrauch von nicht definierten Ausdrücken in Definitionen; b) Gebrauch von andernorts definierten Ausdrücken in Definitionen (definitorischer bzw. terminologischer Vorbehalt); c) Abhängigkeit einzelner Definitionen vom definitorischen bzw. terminologischen Kontext. Polysemie und Synonymie spielen in dem kurzen Textausschnitt demgegenüber eine untergeordnete Rolle: Zu finden sind: d) terminologietranszendente Polysemie im Rahmen eines semantischen Kampfes; e) einige Quasisynonyme (unbestimmte Hyperonyme im Rahmen eines definitorischen Vorbehalts). 7. In der Akademie-Textausgabe (und anderen Ausgaben) der Kritik der reinen Vernunft werden definierte Termini konsequent graphisch hervorgehoben; daneben erfahren auch weitere Termini eine (wenn auch weniger konsequente) Hervorhebung. Im Ganzen orientiert sich die Terminologisierung innerhalb des ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik weniger an der Struktur des terminologischen Systems selbst, sondern folgt vielmehr einer verhältnismäßig komplexen diskursiven Strategie Kants, mit der dieser seine Termini argumentativ implementiert. Dieser diskursiven Terminologisierung entsprechen im Einzelnen die folgenden Verfahren: a) wachsende Entfernung (lineare Einführung der Termini, insbesondere auch der definierten Termini, sowie Wechsel von Real- zu intersubjektiven und subjektiven Nominaldefinitionen); b) assoziative Verflechtung (lineare Einführung der Termini, wiederum insbesondere auch der definierten Termini, sowie Vernetzung in Form von heterogenen Rekurrenz- bzw. Terminologisierungsketten); c) induktive Disziplinbildung (lineare Einführung von Termini im Allgemeinen und definierter Termini im Besonderen); d) unmittelbarer Einschub von Erläuterungen nach Definitionen innerhalb oder in der Folge von Absätzen (Wechselstruktur zwischen definierenden und explizierenden Textteilen);
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e) relative Vagheit bzw. Exaktheit einzelner Termini (durch definitorische bzw. terminologische Vorbehalte und Kontextabhängigkeit von Definitionen) sowie Mehrmehrdeutigkeit (jedoch nur in geringem Umfang). Die in diesem Aufsatz vorgestellten Beobachtungen zum ersten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik tragen exemplarischen Charakter. Dies gilt zum einen im Hinblick auf den Gesamttext der Transzendentalen Ästhetik oder gar der Kritik der reinen Vernunft insgesamt. Zum anderen wird derzeit anhand solcher Einzelstudien eine korpusgestützte Analyse der Terminologisierung in weiteren Fachtexten aus Wissenschaft, Technik und Institutionen sowie aus anderen fachkommunikativen Bereichen vorbereitet. Die Einzelstudien haben dabei die Funktion, schrittweise ein Forschungsdesign zu entwickeln, das schließlich als Ganzes auf ein entsprechendes Korpus angewandt werden kann. Eine solche Korpusanalyse von Terminologisierungsstrategien verspricht eine Reihe wissenschaftlicher Impulse für verschiedene linguistische Disziplinen – um hier nur einige kurz zu nennen: • Kognitive Linguistik: Das Verständnis von Terminologisierungsprozessen öffnet (über den Gebrauch von Sprache) Einsichten in das menschliche Denken – insbesondere auch in dessen Assoziativität. • Variations- und Textlinguistik: Terminologisierung geht in verschiedenen Fachbereichen und auf unterschiedlichen kommunikativen Ebenen eigene Wege – dies unter Berücksichtigung diverser Textsorten zu untersuchen (und gegebenenfalls funktional zu interpretieren), ist ein wichtiger Schritt zum besseren Verständnis fachlicher Kommunikation. • Historische Sprachwissenschaft: Die gegenwärtige Variation steht in engem Zusammenhang mit geschichtlichen Entwicklungen und Traditionen (in Barock und Aufklärung etwa zeigt Terminologisierung oft eine systematische Entfaltung, während sie in der Spätaufklärung – wie etwa bei Kant – eher diskursiven Strategien folgt). • Linguistische Pragmatik: Terminologisierung spielt eine entscheidende Rolle beim sog. „Wissenstransfer“, also bei der Exteriorisierung und der Interiorisierung von Kenntnissen und Kompetenzen – hier geht es also nicht um die kognitiven, sondern um die praktischen Aspekte fachkommunikativer Vermittlung (dies ist Grundlage für die beiden folgenden Punkte). • Terminologielehre und Terminologienormung: Die terminologische Arbeit an Normungsinstitutionen wie etwa dem Deutschen Institut für Normung (DIN), die in der Regel an ganzen terminologischen Systemen oder an einzelnen Termini ansetzt, kann im Weiteren zur Entwicklung von fachspezifischen Vorgaben zur Einführung von Terminologien beitragen. • Sprachdidaktik: Kenntnisse von Terminologisierungsstrategien ebnen den Weg für entsprechende Bedarfsanalysen und Zielvorgaben, die Entwicklung von Lehr- und Lernmedien sowie Unterrichtsgestaltung im mutter- wie im fremdsprachlichen Unterricht
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für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (den Bereichen Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache kommt hier eine besondere Bedeutung zu). • Interkulturelle Germanistik bzw. Linguistik: Der Verdacht liegt nahe, dass Terminologisierung in anderen Sprachen und Kulturen auf jeweils eigene Weise gestaltet wird (so wie dies auch bei der Höflichkeit in und bei der thematischen Organisation von Fachtexten der Fall ist – oder bei Writer- bzw. Reader-responsibility). Es spricht einiges für die Annahme, dass es inter- oder transkulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede etwa bei der Struktur terminologischer Systeme, bei der Definition von Termini oder bei der Entfaltung von Fachwortschätzen gibt. – Hierüber ist jedoch bislang so gut wie nichts bekannt: Vor diesem Hintergrund sind die bisher gewonnen Ergebnisse einmal mehr exemplarisch und stellen die Sprachwissenschaft vor weitere Herausforderungen.
10. Zitierte Literatur Arntz, Reiner/Heribert Picht/Felix Mayer (62009): Einführung in die Terminologiearbeit. 6., verbesserte Aufl. Hildesheim/Zürich/New York (Studien zu Sprache und Technik 2). Bär, Jochen A. (1999): Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Mit lexikographischem Anhang. Berlin/New York (Studia Linguistica Germanica 50). Baumgarten, Alexander Gottlieb (1750/58): Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern hrsg. von Dagmar Mirbach. Teil 1 und 2. Hamburg 2007 (Philosophische Bibliothek). Felber, Helmut/Gerhard Budin (1989): Terminologie in Theorie und Praxis. Tübingen (Forum für Fachsprachen-Forschung 9). Felder, Ekkehard (Hg.) (2006): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin/New York (Linguistik – Impulse & Tendenzen 19). Gardt, Andreas (1994): Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz. Berlin/New York (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 108 [232]). Gardt, Andreas (1999): Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland. Vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Berlin/New York (de Gruyter Studienbuch). Gölz, Walter (2008): Kants „Kritik der reinen Vernunft“ im Klartext: Textbezogene Darstellung des Gedankengangs mit Erklärung und Diskussion. 2., erw. Aufl. Tübingen (UTB M 2759). Gueintz, Christian (1641): Deutscher Sprachlehre Entwurf. Köthen. Repr. Hildesheim/New York 1978 (Documenta Linguistica). Hoffmann, Lothar/Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand in Verbindung mit Christian Galinski/Werner Hüllen (Hgg.) (1999): Fachsprachen. Languages for Special Purposes. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. An International Handbook of Special-Language and Terminology Research. Bd. 2. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.2). Kant, Immanuel (21787): Kritik der reinen Vernunft. Berlin 1968 (Kants Werke. Akademie-Textausgabe III).
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Kant, Immanuel (1956): Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu hrsg. v. Raymund Schmidt. Hamburg (Philosophische Bibliothek 37a). Ricken, Ulrich [in Zusammenarbeit mit Patrice Bergheaud/Lia Formigari/Gerda Hassler/Boris A. Ol’chovikov/Juij V. Roždestvenskij] (1990): Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution. Berlin (Sprache und Gesellschaft 21). Roelcke, Thorsten (1989): Die Terminologie der Erkenntnisvermögen. Wörterbuch und lexikosemantische Untersuchung zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik 95). Roelcke, Thorsten (1991): Das Eineindeutigkeitspostulat der lexikalischen Fachsprachensemantik. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 19, 194–208. Roelcke, Thorsten (1999a): Die deutschsprachige Fachlexikographie der Philosophie in ihrem europäischen Umfeld: eine Übersicht. In: Hoffmann u. a., 1995–2004. Roelcke, Thorsten (1999b): Das Kunstwort in der Zeit der Aufklärung: wissenschaftliche Konzeption und faktischer Gebrauch. In: Hoffmann u. a., 2420–2430. Roelcke, Thorsten (2001 [2002]): Homonymie und Polysemie in den terminologischen und terminographischen Grundsatznormen des Deutschen Instituts für Normung e.V. (DIN). In: Lexicographica 17, 92–143. Roelcke, Thorsten (2002): Wörterbücher der Philosophie im Spannungsverhältnis zwischen philosophischem Diskurs und lexikographischer Struktur. In: Lexicographica 18, 65–88. Roelcke, Thorsten (2004): Stabilität statt Flexibilität? Kritische Anmerkungen zu den semantischen Grundlagen der modernen Terminologielehre. In: Stabilität und Flexibilität in der Semantik. Strukturelle, kognitive, pragmatische und historische Perspektiven. Hrsg. von Inge Pohl/Klaus-Peter Konerding. Frankfurt a. M. (Sprache – System und Tätigkeit 52), 137–150. Roelcke, Thorsten (2005): Immanuel Kant. In: Lexikologie. Lexicology. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. An international handbook on the nature and structure of words and vocabularies. Hrsg. von / ed. by D. Alan Cruse/Franz Hundsnurscher/ Michael Job/Peter Rolf Lutzeier. Bd. 2. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 21.2), 1532–1537. Roelcke, Thorsten (2010): Woran erkennen Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe Fachwörter? In: Muttersprache 120, 135–148. Roelcke, Thorsten (2010): Fachsprachen. 3., neu bearb. Aufl. (Grundlagen der Germanistik 37). Roelcke, Thorsten [im Erscheinen]: Terminologisierung in Gueintz’ „Deutscher Sprachlehre Entwurf“ (1641). In: Von der Arznei bis zum Ziegeldach. Historische Fach- und Handwerkersprachen. 4. Deidesheimer Gespräche zur Sprach- und Kulturgeschichte. 12. bis 14. März 2010. Hrsg. von Albrecht Greule/Jörg Meier. Berlin (Germanistische Arbeiten zur Sprachgeschichte). Stolzenberg, Jürgen (Hg.) (2007): Kant in der Gegenwart. Berlin/New York. Strawson, Peter Frederick (1966): The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason. London [Reprint 1982]. Tetens, Holm (2006): Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Ein systematischer Kommentar. Stuttgart. Wüster, Eugen (1931/31970): Internationale Sprachnormung in der Technik, besonders in der Elektrotechnik. (Die nationale Sprachnormung und ihre Verallgemeinerung). 3., abermals erg. Aufl. Bonn (Sprachforum. Beiheft 2).
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„deutlich, fasslich und überzeugend“ Eigenschaften und Aufgaben der frühen Kant-Lexikographie (1786–1804)
1. Die frühe Kant-Rezeption 2. Die ersten Kant-Lexikographen 3. Philosophie und Lexikographie in den Wörterbuchvorwörtern 4. Lexikographische Praxis in den Wörterbuchartikeln 5. Das Forschungsprojekt Kantiana 6. Zitierte Literatur
1. Die frühe Kant-Rezeption Der Militärarzt Vincenzo Mantovani war in ganz Europa der erste Übersetzer, der sich traute, die Kritik der reinen Vernunft in eine Volkssprache zu übertragen. Im Vorwort des Übersetzers beschrieb er die Richtlinien seines Unternehmens und die Schwierigkeiten, die der Text ihm bereitet hatte. Als problematisch empfand er vor allem die Terminologie, denn Kant hatte „nicht nur die philosophische Fachsprache, sondern auch die Gemeinsprache sowohl an wissenschaftlichen als auch an allgemeinen Ausdrücken sehr bereichert“ (Mantovani 1820–1822, I, 7). Diese „allgemeinen Ausdrücke“ (u. a. Wissenschaft, Kunst, Gegenstand, Vorstellung) bereiteten Mantovani Kopfzerbrechen, zum einen, weil Kant ihnen eine neue semantische Ausprägung verliehen hatte, die in den einschlägigen Wörterbüchern nicht belegt war, zum anderen, weil ihre Bedeutung auch innerhalb des kantischen Werkes schwankte. Außerdem hatte Kant viele Termini aus der scholastischen Sprache übernommen, sie dabei aber mit einer eigenen, neuen Bedeutung versehen, was noch größere Verwirrung verursachte.1 So klang seine Sprache umso dunkler und schwerfälliger, vor allem im Ausland2; aber auch in Deutschland 1
2
Über die Terminologie Kants und ihre Quellen vgl. Tonelli 1987; Hinske 1974. Zu Mantovani und seiner übersetzerischen Leistung vgl. Frigo 1994; Santinello 1986; Landolfi Petrone 2004; Balbiani 2007; Duichin 2007. Die meisten Gelehrten in Italien und Frankreich waren sich darüber einig: Kants Sprache sei so eigentümlich und undurchsichtig, dass keine Übersetzung sie zuverlässig wiedergeben könne. Um sie zu beschreiben, wurden häufig die Metaphern der Finsternis, des dichten Nebels oder der schwarzen
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sei der Kritizismus, wie Mantovani behauptete, „mehr bewundert als verstanden“ worden. Als Beweis dafür führte er die zahlreichen Kommentare, Glossare und Wörterbücher an, die in Deutschland erschienen waren (als Beispiele nannte er Schmid und Mellin), um sowohl die Terminologie als auch die transzendentalen Lehren zu erklären; „nichtsdestoweniger läuft man weiterhin die Gefahr, diese Lehren gar nicht zu verstehen“.3 Ein paar Jahre nach der Drucklegung der Kritik der reinen Vernunft (1781 – weiterhin KrV) setzte tatsächlich eine Flut von Schriften ein, die sich das gleiche Ziel setzten: die KrV und danach die weiteren Werke Kants auszulegen und „deutlich, fasslich und überzeugend“ zu formulieren.4 Die ersten Kant-Anhänger bemühten sich auf unterschiedliche Weise, jene sprachlichen, stilistischen und begrifflichen Schwierigkeiten zu bewältigen, arbeiteten neue Darlegungsstrategien aus und experimentierten mit neuen textlichen Darstellungsformen. So entstanden in der Zeit von 1783 bis 1804 zahlreiche Kommentare, Handbücher und Synopsen, die zur Verbreitung und Popularisierung des Kritizismus wesentlich beitrugen – ein Phänomen, das offensichtlich schon für Mantovani sehr auffällig war, und zu den Besonderheiten der kantischen Philosophie zählt.5
3
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Wolke gebraucht, die die Begriffe umhüllen und jede gesicherte Wahrheit verschleiern; sonst betonte man den unwirklichen Charakter von Kants Denksystem, das als eine phantasievolle Schöpfung und als trügerisches Hirngespinst bezeichnet wurde. Zahlreiche Belege in Balbiani 2007. So Mantovani 1820–1822, I, 5–6: „le opere metafisiche di Kant [...] ripulsano quasi colle difficoltà e scurezze dello stesso linguaggio del criticismo. Del che fanno fede i copiosi commenti, anzi gli ampi vocabolari, che in Germania comparvero a rischiaramento sì della terminologia che delle dottrine trascendentali; e nonostante i quali si corre tuttavia rischio di non comprenderle, o di aver senza forse tal rimprovero dai propugnatori delle medesime, solchè si abbia l’aria di non ammirarle, peggio poi per chi si attentasse rilevare inesattezza od ambiguità nella prima o combattere le seconde“. Unter diesen drei Stichwörtern kann man sehr wohl die Aufgaben und die Ziele zusammenfassen, die die Tätigkeit der Kant-Schüler in der ersten Phase des Kritizismus und seiner Rezeption bestimmten. Bei Mellin, dem ich das Zitat entnehme (1797–1804, I, V), erscheinen die drei Adverbien eng in sein Programm verflochten, jeder Kant-Anhänger nuancierte sie aber auf eigene Weise. Die so genannte „frühe Kant-Kommentaristik“ ist aus historiographischem Gesichtspunkt sehr aufschlussreich. In dieser Phase wurden nämlich Themen in die europäische Diskussion über Kant und den Kritizismus eingeführt, die später nicht mehr aufgenommen wurden: die Übersetzbarkeit der kantischen Sprache, die „Endgültigkeit“ seiner Philosophie, ihre „Umsetzbarkeit“ in die Praxis. Die Reihe Aetas kantiana vom Verlag Culture et Civilisation (Bruxelles), die das Schriftenkorpus der philosophischen, kritischen und polemischen Kant-Literatur zwischen 1775 und 1845 reprographisch nachdruckt, zeigt mit ihren fast 400 Bänden, wie umfangreich das Phänomen war. Es wäre also abwegig und oberflächlich, es als ein unbedeutendes oder langweiliges Kapitel der KantRezeption schnell beiseite zu legen, wie Karl Rosenkranz es getan hatte, als er sein summarisches Urteil formulierte: Die kantische Schule leide, seiner Meinung nach, „an dem Übelstande einer ausserordentlichen Monotonie“ (Rosenkranz 1840, 286) und daher sei es verlorene Mühe, die Gedankendifferenzierungen der ersten Kantianer ausführlich zu untersuchen. Eine These, die heute noch verbreitet ist. Eine Ausnahme bietet Landolfi Petrone (im Druck b), der vorschlägt, den Begriff „frühe Kommentaristik“ als historiographische Kategorie einzuführen.
„deutlich, fasslich und überzeugend“
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Akademische Vorlesungen spielten eine bedeutende Rolle: Es waren meistens Professoren, die für ihre Studenten Lehrbücher und Grundrisse verfassten, als Unterstützung bei der Darlegung der neuen Philosophie. Bei den ersten mühsamen Versuchen zur Aufarbeitung des Kritizismus stand also ein didaktisches, propädeutisches Vorhaben im Vordergrund; erst in einem zweiten Schritt ging es darum, ihn zu verbreiten und außerhalb der Akademie bekannt zu machen. Diese Aufgabe übernahmen vor allem die Zeitschriften wie das $eue philosophische Magazin von Johann Heinrich Abicht und Friedrich Gottlob Born, dessen Zweck ausdrücklich die „Erläuterung und Anwendung des Kantischen Systems“ war. In den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erschien auf dem Druckmarkt eine Fülle von Werken, deren Überschriften Anlage und Ziel deutlich bekannt gaben: Prüfung (Schultz 1789–1792), Erläuterungen (Schultz 1784), Marginalien, Register (Mellin 1794–1795), Propädeutik (Heydenreich 1794), erläuternder Auszug (Beck 1794) usw. Die ersten Anhänger des Kritizismus fühlten sich dazu berufen, ihren Zuhörern und der Leserwelt die Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie zu erleichtern; dazu schrieben sie Kants komplizierte Formulierungen um, sie erläuterten seinen dichten und manchmal elliptischen Gedankengang6, fassten längere Abschnitte zusammen oder versahen sie mit Anmerkungen; sie prüften die innere Kohärenz des Systems und versuchten, die Grundsätze der kritischen Philosophie zu erweitern und ihre praktischen Anwendungen herauszuarbeiten. Eigentümlich und originell war das Verfahren, das kantische System in seine grundlegenden Begriffe zu zerlegen, um es wieder ‚von innen‘, durch eine semantische Analyse, zu rekonstruieren. So wurden Erläuterungen und enzyklopädische Nachschlagewerke verfasst, die durch eine alphabetische Zugriffsstruktur gekennzeichnet waren. Zuerst handelte es sich um knappe Glossare oder Wortlisten, die den Lehrbüchern und Grundrissen angehängt wurden; rasch entwickelten sie sich aber zu selbstständigen Texten immer größeren Umfangs (bis hin zu den elf Bänden von Mellins Encyclopädischem Wörterbuch). Diese bisher kaum erforschte Gruppe von Werken, die in enger Verbindung zueinander stehen und innerhalb einer kurzen Zeitspanne erschienen (im Fall der Kant-Lexika von 1786 bis 1804), fasse ich unter der Bezeichnung ‚erste‘ oder ‚frühe‘ Kant-Lexikographie zusammen, um sie von einer späteren Phase zu unterschei-
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Dem Philosophen selbst war es wohl bewußt, dass er sich wenig um Form und ausgefeilte Formulierung in seinen Werken gekümmert hatte, und dass ihre Lektüre eine ernste Herausforderung für die Ausdauer und das Verständnis der Leser darstellte. In einem Brief an Christian Garve berichtete er von der Verfassung seines Hauptwerkes und gestand dabei, eine schwierige und mühsame Aufnahme beim Publikum zu erwarten (Brief vom 7. 8. 1783. In: KGS X, 338): „Auch gestehe ich frey, daß ich auf eine geschwinde günstige Aufnahme meiner Schrifft gleich zu Anfangs nicht gerechnet habe; denn zu diesem Zwecke war der Vortrag der Materien, die ich mehr als 12 Jahre hinter einander sorgfältig durchgedacht hatte, nicht der allgemeinen Faßlichkeit gnugsam angemessen ausgearbeitet worden, als wozu noch wohl einige Jahre erforderlich gewesen wären, da ich hingegen ihn in etwa 4 bis 5 Monathen zu Stande brachte“.
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den, die nach einer langen Pause im 20. Jahrhundert im Umfeld des Neukantianismus einsetzte (Ratke, Eisler, Caygill).7
2. Die ersten Kant-Lexikographen 2.1. Carl Christian Erhard Schmid Schmid (1761–1812) zählt zu den frühesten und bedeutendsten Verbreitern des Kritizismus.8 Im Sommer 1785, als die KrV noch nicht der Star auf der philosophischen Bühne war, war Schmid einer der ersten deutschen Akademiker, der sie zum Gegenstand seiner Vorlesungen machte – und zwar an der Universität Jena. Zuerst hatte er den Studenten die Erläuterungen von Johann Schultz (1784) als Lehrbuch empfohlen, musste aber feststellen, dass sie für didaktische Zwecke ungeeignet waren. So verfasste er ein eigenes Lehrbuch (Schmid 1786), wie es im akademischen Betrieb üblich war (und ist), das als ‚Leitfaden‘ für die Studenten dienen und, durch die Einteilung in kurze, nummerierte Abschnitte, das Verständnis der neuen Lehren erleichtern sollte. Während der Arbeit sammelte und listete er für sich selbst alle Fachwörter auf und notierte sich daneben die jeweils wichtigsten Textstellen, wo Kant sie benutzt oder erläutert hatte. Dabei überlegte er, dass „es manchem andern wohl auch angenehm seyn würde, einige Bogen zu haben, worinnen die Bedeutungen iedes technischen Ausdrucks in der Kantischen Philosophie gesammelt“ sind (Schmid 1786, Vorrede [3]), und ließ das Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften als Anhang zu seinem Grundriss drucken.9 Schmid betonte seine untergeordnete Funktion, er hatte es bloß als Glossar und Hilfsmittel bei der Suche nach Textstellen konzipiert; aber so knapp es auch sein mochte, dehnte sich das „kleine Wörterbuch“ auf 130 Seiten aus. Das Lehrbuch erntete sofort großen Beifall und in den darauf folgenden Semestern hielten mehrere Dozenten Vorlesungen über die KrV auf der Grundlage von Schmids Grundriss. Besonders geschätzt wurde das angehängte Wörterbuch, was Schmid sofort dazu bewog, beide wieder in die Hand zu nehmen und eine zweite Ausgabe vorzubereiten. Die größte Neuigkeit dabei war, dass sie als zwei getrennte, selbstständige Werke gedruckt wurden. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe des Lehrbuches kündigte Schmid nämlich das bevorstehende Erscheinen des Wörterbuches als „gänzlich abgesonderte[r] Schrift mit beträchtlichen Änderungen und Zusätzen“ an (Schmid 1788b, Vorrede [2]). Die Zusätze betrafen etwa 200 neue Einträge (die zum großen Teil aus 7
8 9
Über die Geschichte der Kantlexikographie vgl. Adickes 1970; Hinske 1976; Roelcke 1989, 173– 192. Schröpfer 1993; Hinske 1976; Wallwitz 1998. Schmid 1786. Umfang: S. [6], 296; Bauteile: Vorrede (6 S.), Critik der reinen Vernunft im Grundrisse zu Vorlesungen (S. 1–164), Abkürzungen (S. 166), Wörterverzeichnis (S. 167–294); im Nachspann, Druckfehler und Verbesserungen (S. 295). Anzahl der Lemmata: 385.
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den 1786 erschienenen Metaphysischen Anfangsgründen der $aturwissenschaft stammten) für einen Umfang von nun 370 Seiten; Anlage und typographische Gestaltung wurden beibehalten.10 So sind u. a. die Einträge für ‚Naturlehre‘ und alle damit verwandten Begriffe neu, die den Schwerpunkt des neuen kantischen Werkes ausmachten. In dieser Hinsicht liefern die Änderungen ein wertvolles Zeugnis der Arbeit der Kommentatoren, die sich allmählich in die Texte einarbeiteten und sich mit den neuen Termini kritisch auseinandersetzten. Die Rezeption des Kritizismus regte eine heftige Debatte an, in deren Mittelpunkt von Zeit zu Zeit immer andere Begriffe rückten, und dementsprechend verlagerte sich auch die Aufmerksamkeit der Lexikographen. In eben diese Richtung geht der Aufsatz, den Schmid als Anhang zum Wörterbuch druckte: Er stellte den Versuch dar, einige von Seiten der Empiristen herkommenden Einwände gegen den Kritizismus zurückzuweisen.11 Der knappen Vorrede dieser zweiten Ausgabe entnimmt man, dass gerade die Terminologie nun das Hauptargument in der Diskussion für und gegen die kritische Philosophie geworden war. Nachdem Schmid bündig die Zwecke des Wörterbuchs angegeben hatte, ließ er seine ganze Empörung wegen des „äußerst beleidigenden [...] Vorwurfe[s] einer zwecklosen oder gar schädlichen Sprachneuerung“ zu Wort kommen, den man immer öfters gegen Kant formulierte. Es sei im Gegenteil „kein geringes Verdienst“, wenn er „die philosophische Sprache verbessert, fester bestimmt und vielfältig bereichert hat“, denn dadurch habe er nur sprachliche Mängel behoben und dem Denker „angemessenere und bestimmtere Zeichen“ zur Verfügung gestellt, um sich verständlich zu machen (Schmid 1788a, Vorrede [2–3]). Nun wollte Schmid durch einen „strengen Beweis“ demonstrieren, dass die philosophische Fachsprache an Reichtum, Genauigkeit und Eindeutigkeit gewonnen hatte und dass die von Kant neu geschaffenen Wörter keineswegs überflüssig waren. In den darauffolgenden Jahren kamen weitere Werke des Königsberger Philosophen in Umlauf, und gleichzeitig richtete sich die Aufmerksamkeit auf die heftige Diskussion über die vermeintliche, von Johann August Eberhard behauptete Abhängigkeit des Kritizismus von der Philosophie Leibnizens.12 Beide Ereignisse spiegelten sich unmittelbar in der dritten Ausgabe von Schmids Wörterbuch wider, die 1795, nach dem Abklingen 10
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Schmid 1788a. Umfang: S. [4], 368, 52 (Wörterverzeichnis auf S. 1–368); Anzahl der Lemmata: 585; Begleittexte: Vorrede (4 S.), im Anhang: Einige Bemerkungen über den Empirismus und Purismus in der Philosophie; durch die Grundsätze der reinen Philosophie von Herrn Selle veranlaßt (52 S.). Der Gegner, mit dem er sich konfrontierte, war der Arzt und Philosoph Christian Gottlieb Selle, eine einflussreiche Persönlichkeit der Berliner Aufklärung. In den Grundsätzen der reinen Philosophie (Berlin 1788) hatte Selle seine Bedenken gegen den Kritizismus vorgetragen, die Schmid hier zusammenfasste und in sieben Punkten bestritt. Eberhard (1739–1809) war Professor in Halle und Vertreter der Popularphilosophie; auf seine Herausforderung reagierte Kant 1790 mit der Schrift Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (KGS VIII, 185–251). Rekonstruiert und dokumentiert wird die Polemik von La Rocca 1994.
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der Diskussion, herauskam.13 Auf der einen Seite ist die Anzahl der exzerpierten Quellen wesentlich größer geworden (es sind jetzt insgesamt sieben)14, so dass die aufgenommenen Lemmata sich nun auf etwa 1000 belaufen (im Vergleich zu den 585 der vorherigen Fassung); auf der anderen Seite sind zahlreiche Begriffe mit historischen Kommentaren versehen, die sich insbesondere auf Leibniz und Locke beziehen, oft mit ausgiebigen Zitaten aus ihren Werken. Schmids Anliegen dabei war, den Kritizismus in einen historischen Kontext einzubetten und ihn als wichtige Etappe in der Entwicklung des philosophischen Denkens darzustellen. Deswegen wurden in der Darstellung der Lemmata oft historisch-philosophische Überlegungen eingeflochten, die immer häufiger nicht nur auf Kant, sondern auch auf seine Vorgänger verweisen. Es waren theoretische und methodische Fragestellungen im engeren Sinne, die nunmehr im Mittelpunkt standen und den Anschluss an die Tradition notwendig machten. Die vierte und letzte Ausgabe (Schmid 1798)15 ist die umfangreichste und stellte das Ergebnis der langjährigen und gewissenhaften Auseinandersetzung von Carl Christian Erhard Schmid mit den kantischen Schriften und ihrer Terminologie dar. Die Einträge sind jetzt fast 1500 und das zu Grunde gelegte Korpus wurde nochmal erweitert; in der Zwischenzeit waren aber auch Konkurrenzwerke auf dem Markt erschienen. Kurz davor waren nämlich die Kunstsprache der kritischen Philosophie, oder Sammlung aller Kunstwörter derselben von Georg Samuel Albert Mellin (Mellin 1798) sowie der erste Band von seinem imposanten Encyclopädischen Wörterbuch der kritischen Philosophie (Mellin 1797–1804, elf Teile in sieben Bänden) gedruckt worden. Wenn das zweite Werk für Anlage und Vorhaben völlig originell und daher mit Schmids Unternehmen nicht vergleichbar war, schien das erste ihm sehr ähnlich. So fühlte sich Schmid zur Rechtfertigung berufen und unterstrich in seiner Vorrede den seiner Meinung nach bemerkenswertesten Unterschied zwischen beiden Wörterbüchern, der in der alphabetischen Anordnung der untergeordneten Begriffe lag. Mellin hatte sie alle vereinzelt aufgenommen, jeden an seine Stelle im Alphabet; Schmid hat hingegen die Hyponyme 13
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Schmid (1795). Umfang: S. [6], 590 (Wörterverzeichnis auf S. 1–538); Anzahl der Lemmata: 983; Begleittexte: Vorrede (5 S.), Abkürzungen (1 S.) – als Anhang bleiben beibehalten: Einige Bemerkungen über den Empirismus und Purismus in der Philosophie; durch die Grundsätze der reinen Philosophie von Herrn Selle veranlaßt (S. 539–590). Schmid fokussierte sich auf die systematischen, theoretischen Werke Kants, und ließ Gelegenheitsschriften und andere, praktisch angelegte Werke beiseite. 1787 war die zweite, überarbeitete Fassung der KrV herausgekommen, die die erste überholt sein ließ; neben den Prolegomena, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die er für die erste Ausgabe (Schmid 1786) schon exzerpiert hatte, und den Metaphysischen Anfangsgründe der $aturwissenschaft (schon in Schmid 1788a) wurden nun auch die Kritik der praktischen Vernunft, die Kritik der Urteilskraft und die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft berücksichtigt. Umfang: S. [8], 668 (Wörterverzeichnis auf S. 1–616); Anzahl der Lemmata: 1428; Begleittexte: Vorrede (6 S.), Abkürzungen (2 S.) – als Anhang bleiben beibehalten: Einige Bemerkungen über den Empirismus und Purismus in der Philosophie; durch die Grundsätze der reinen Philosophie von Herrn Selle veranlaßt (S. 617–668).
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und korrelierten Begriffe nur mit einem Verweis versehen und sie dann unter dem Oberbegriff behandelt. So konnte er dadurch die systematischen Zusammenhänge zwischen den Begriffen hervorheben und die Zerlegung der Inhalte ausgleichen, die die alphabetische Anordnung zwangsläufig mit sich brachte. Aber darüber hinaus fuhr Schmid mit einem polemischen Hieb gegen seinen Rivalen Mellin weiter, der nicht zum akademischen Milieu gehörte, indem er behauptete, dass weder die kantische noch eine andere Philosophie einfach durch ein Wörterbuch gelehrt werden könne, unabhängig davon wie umfangreich es auch immer sein möge.
2.2. Samuel Heinicke Auch Samuel Heinicke (1729–1790) gehörte nicht zur akademischen Welt. Nach einer abenteuerlichen Lebensphase arbeitete er als Schulmeister in der Nähe von Hamburg. Hier tat er sich besonders in der Unterweisung gehörloser Schüler hervor, erwarb sich dadurch großen Ruhm und infolge einer Berufung vonseiten des sächsischen Kurfürsten gründete er 1778 in Leipzig die erste staatliche Taubstummenanstalt Deutschlands.16 Er verbrachte sein Leben in einem fortwährenden Kampf für die Aufklärung des Volkes und der Lehrer; so kämpfte er z. B. heftig gegen das mechanische Gedächtnislernen, dem er ein intelligentes und verstehendes Lernen an die Seite stellte. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich dem Studium der Philosophie, das ihn in seinen streitsüchtigen Vorsätzen zu befestigten schien; er verstand sich als Aufklärer im Sinne Kants und fühlte sich dementsprechend auch dazu berufen, zur Verbreitung der kantischen Philosophie beizutragen. Das tat er durch das Wörterbuch zur Kritik der reinen Vernunft und zu den philosophischen Schriften von Herrn Kant.17 Der lange Vorbericht ist ein Aufsatz zum Lob der Vernunft als vornehmstem und höchstem menschlichen Vermögen und bietet keine direkte Bezugnahme auf das Wörterbuch, dessen Eigenschaften und Bestimmung überhaupt nicht erörtert werden. Lexikographisch gesehen ist seine Leistung kaum bemerkenswert, denn weite Teile seines Wörterbuchs stimmen mit dem von Schmid (1786) wortwörtlich überein, und die seltenen Abweichungen fügen kaum etwas Neues hinzu.18 So ist diese Veröffentlichung im Falle Heinickes, bei dem sonst keine lexikographischen Interessen wahrzunehmen sind, 16
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In seiner Methode lag das Schwergewicht auf dem gesprochenen Wort (‚Lautiermethode‘), und dadurch fand er einen heftigen Gegner in dem Befürworter der Gebärdensprache Abbé de l’Epée, der 1760 das Pariser Taubstummeninstitut ins Leben gerufen hatte. Heinickes Erfolge sprachen sich schnell herum, sogar Herder bewunderte ihn und widmete ihm ein Preisgedicht (Der deutsche Taubstummenlehrer). Heute noch ist er als einer der wichtigsten Pädagogen der Zeit bekannt. Vgl. u. a. Stötzner 1870; Schumann 1927. Heinicke 1788. Umfang: S. XXIV, 135; Anzahl der Lemmata: 390; Begleittexte: Vorbericht (S. III–XXIII), Abkürzungen (S. XXIV). Der gleichen Meinung ist Adickes 1970, 106: „An almost verbal piracy of Schmid’s Wörterbuch. Only here and there occur alterations for the worse by Heinicke, or quotations from his writings“.
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eher zu seiner umfangreichen publizistischen Tätigkeit gegen die Gegner der Vernunft und der Aufklärung zu zählen, als einer ernsten, begrifflichen Beschäftigung mit dem Kritizismus zu verdanken. Er selbst bestätigte, dass es bei ihm nicht so sehr um die KrV als Werk an sich ging, sondern um die Vernunft tout court, der er zum Sieg verhelfen möchte. So schrieb er: „Man streitet daher nicht wider Kants Vernunftkritik, wenn man gegen sie zu Felde ziehen will, sondern wider die Vernunft und ihre von Kant entdeckten Natur und Denkgesetze, die man noch nicht kennt, und die man nie ändern wird, mithin streitet man wider sich selbst“ (Heinicke 1788, XIII).
2.3. Karl Heinrich Heydenreich Der Schriftsteller und Philosophieprofessor Karl Heinrich Heydenreich (1764–1801) gehörte zu den vielgelesenen Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Seine dichterischen Versuche, zuerst im Stil des Sturm und Drang, galten als ein Muster des Stils; er verlor aber noch zu Lebzeiten die Gunst des Publikums und wurde von Goethe und Schiller unbarmherzig getadelt.19 1789 erhielt er die Philosophieprofessur an der Universität Leipzig und lehrte bis 1797 vornehmlich Vernunftreligion, Natürliches und Öffentliches Recht, Ethik, Ästhetik, Logik und Psychologie. Er starb mit 38 Jahren, nachdem er 1798, von Schulden bedrängt und mit ‚Wechselarrest‘ bestraft, die Lehrtätigkeit aufgegeben hatte. Seine zahlreichen philosophischen Werke entstanden vor allem in dem Jahrzehnt, das er als geschätzter Dozent an der Universität verbrachte und spiegeln seine Verpflichtung zum kantischen Denken wider, das für seine Entwicklung bestimmend war. Unter den strengen Kantianern fand er aber viele Gegner, da er mit einem synkretistischen Ansatz an die kantischen Lehren heranging – er versuchte z. B. Kants Ästhetik mit der Empfindsamkeit in Einklang zu bringen. Unter seinen philosophischen Schriften ist die dreibändige Propaedeutick der Moralphilosophie nach Grundsätzen der reinen Vernunft in diesem Zusammenhang zu nennen (Heydenreich 1794), die auch ein „kurzgefasstes Wörterbuch der moralischen Sprache“ enthält.20 Auch in diesem Fall handelte es sich um ein Lehrbuch, das die Moralphilosophie in ihrem vollen Umfang darstellen sollte. Heydenreich selbst erklärt in der kurzen Vorrede zum ersten Band, dass es sein Ziel sei, dass das Studium „auf das zweckmässigste und glücklichste betrieben werden kann“. Dabei kam es aber „ausserordentlich viel auf den bestimmtesten Gebrauch der Wörter“ an, weswegen er sich be19
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Über Heydenreich: ADB, XII, 355–356; Schelle 1802; Wohlfarth 1802. Johann Wolfgang Goethe/Friedrich Schiller: Xenien (Goethe 1965–1978, II, 444): „Klingklang In der Dichtkunst hat er mit Worten herzlos geklingelt, In der Philosophie treibt er es pfäffisch so fort“. Heydenreich 1794; Band III besteht ganz aus dem Wörterbuch. Umfang: S. VI, 122; Anzahl der Lemmata: 289; Begleittexte: Vorrede (S. III–VI).
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müht hatte, die wichtigsten Termini zu sammeln und ihre Bedeutungen im angehängten Wörterbuch „mit Richtigkeit und Präcision zu entwickeln“. Das Autorenwörterbuch erlebte hier einen weiteren Grad der Spezialisierung, und wurde auf einen spezifischen Fachbereich beschränkt („die Kantische Sprache in der Sittenphilosophie“, Heydenreich 1794, III, V), der die Auswahl der Lemmata bestimmte. Tatsächlich führte Heydenreich einige Lemmata auf, die sonst in keinem anderen der ersten Kant-Lexika vorhanden waren, und die eng zu seinem Interessengebiet zählten (für den Buchstaben A sind es etwa 10, wie ‚Abschreckung‘, ‚Abscheu‘, ‚Abneigung‘, ‚ärgerlich‘, ‚Aufführung eines Menschen‘ u. w. m.). Das Werk seines Vorgängers, Schmid, hatte er selbstverständlich zur Hand. Heydenreich schrieb jedoch, dass er sich nicht zu stark davon habe beeinflussen lassen. Zudem wies er allgemein auf einige „Eigenthümlichkeiten“ Schmids hin, die er zwar nicht genauer belegte, aber nicht billigen konnte und nannte einige Artikel, die als Beweis für seine selbstständige Arbeitsweise gelten sollten.
2.4. Georg Samuel Albert Mellin Als evangelischer Pfarrer arbeitete Mellin (1755–1825) zuerst bei den reformierten Gemeinden von Züllichau und Brandenburg, dann wechselte er nach Magdeburg.21 Kaum angekommen, gründete er eine Gesellschaft zum Studium der kritischen Philosophie, so dass er dem Publikum als Verbreiter der Philosophie Kants galt.22 In seinem ersten Werk, den zweibändigen Marginalien und Register zu Kants Kritik der Erkenntnisvermögen (1794–1795), hatte Mellin die drei Kritiken Kants absatzweise zusammengefasst, und an dieser Stelle ist auch der erste Ansatz seiner lexikographischen Tätigkeit zu finden, denn am Schluss hatte er die Schlüsselwörter der drei Texte gesammelt und in einem Gesamtregister aufgeführt, das nicht nur die kantische Terminologie, sondern auch Personennamen und Bezeichnungen philosophischer Richtungen enthielt. Diesem Register entnahm er dann die Lemmata, um sie in seine späteren Wörterbücher zu verteilen. Mellin wollte dem Bedürfnis nach einem unmittelbaren Verständnis der Werke Kants entgegenkommen und setzte dabei den Schwerpunkt auf terminologische Klärung und Festlegung. Von den zahlreichen neuen, von Kant eingeführten Fachwörtern wurde meistens in seinen Schriften keine genaue und ausführliche Erläuterung gegeben; dazu kam, dass das durch die mühsame Lektüre überlastete Gedächtnis nicht immer alle Informationen parat halten konnte. Dieser Schwierigkeit wollte Mellin durch seine lexikographischen Unternehmungen abhelfen. Auf der einen Seite nahm er die Arbeit an seinem umfangreichen Encyclopädischen Wörterbuch der kritischen Philosophie auf, das erst 1804 abgeschlossen sein sollte; auf der anderen Seite veröffentlichte er 1798 21 22
Goldschmidt 1900; Landolfi Petrone 1990; Landolfi Petrone im Druck a. Er berichtete enthusiastisch davon in einem Brief an Kant (datiert mit dem 12. 04. 1794): Seine Gesellschaft „hat den Nutzen bewirkt, daß das Studium der kritischen Philosophie sich hier sehr ausbreitet“ (KGS XI, 498). Er beschrieb dann knapp sein Programm und nannte einige der Mitglieder.
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die handhabbare Kunstsprache der kritischen Philosophie, oder Sammlung aller Kunstwörter derselben. Die Kunstsprache war kein Auszug aus dem größeren Wörterbuch – in Mellins Intention sollte (und konnte) sie es nicht ersetzen, sondern höchstens ergänzen. Sie hatte zudem einen ganz anderen Zweck, wie der Verfasser selbst in der Vorerinnerung hervorhob: Sie sollte „Kants Erklärung einzelner Kunstwörter sämmtlich schnell auffinden“ helfen (Mellin 1798, [2]).23 Die Einträge waren überaus zahlreich (über 1200) aber sehr knapp, enthielten lediglich eine kurze Erläuterung, die den Quellen selbst entnommen war, den Verweis auf die kantischen Textstellen und manchmal ein Beispiel. Mellin entschuldigte sich, wenn die Bedeutungsangabe nicht immer systematisch war oder wenn sie der Polysemie des Lemmas nicht gebührend gerecht wurde – dafür sei das größere Werk zuständig. Ihrer Konzeption nach sollte die Kunstsprache also eine Art ‚erste Hilfe‘ für das Gedächtnis bei der Lektüre darstellen. Im Jahr 1798, als die Kunstsprache erschien, wurden aber auch zwei weitere, wichtige Schriften Kants gedruckt, und zwar die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und der Streit der Fakultäten. Mellins Bestreben nach einer umfassenden, vollständigen Sammlung „aller“ Kunstwörter wurde also sofort vereitelt, da das ausgewertete Korpus nun nicht mehr vollständig war. Während die einzelnen Teile des größeren Wörterbuchs herauskamen, exzerpierte Mellin – dem es darum ging, „so vollständig als möglich zu sammeln“ – auch die neu herausgekommenen Werke und gab 1800 einen Anhang zur Kunstsprache heraus, der sie mit über 500 neuen Lemmata bereicherte.24 Mit dem Encyclopädischen Wörterbuch hatte er hingegen vor, „die Lehren der kritischen Philosophie, in ihrem ganzen Umfange, deutlich, fasslich und überzeugend vorzutragen“.25 Das Bestreben nach Vollständigkeit schimmert immer wieder durch, aber schon beim Buchstaben A merkte Mellin, dass sein Vorhaben sich endlos ausdehnen würde, wenn er weiterhin so großzügig bei der Selektion der Lemmata verfahren würde: Im weiteren Verlauf der Arbeit wurde er daher selektiver und beschränkte sich auf die wichtigsten Termini des Kritizismus, die nicht selten in 30, 40 Seiten starken Artikeln 23 24
25
Mellin 1798. Umfang: S. [2], 314; Anzahl der Lemmata: 1228; Begleittexte: Vorerinnerung (2 S.). Mellin 1800. Umfang: S. 104 (Wörterverzeichnis auf S. 5–99); Anzahl der Lemmata: 518; Begleittexte: Erklärung der eingeklammerten Buchstaben (S. 3–4); Verbesserungen und Zusätze zu der Kunstsprache (S. 101–104). Mellin 1797–1804. Umfang: 11 Teile in 6 Bänden. Bd. I: S. XIV, 880 + 2 Abb.; Bd. II: S. 994 + 3 Abb.; Bd. III: S. 892; Bd. IV: S. 890 + 1 Ab.; Bd. V: S. 858; Bd. VI: S. 606 + 1 Ab. Anzahl der Lemmata: 1416. Begleittexte: Vorrede (Bd. I/1: S. V–XIV); Erklärung der im Texte und Register gebrauchten Buchstaben (Bd. I/1: S. 455). Bd. VI/2 besteht ausschließlich aus Verzeichnissen und Registern, die durch ein kompliziertes System von Querverweisen sowohl die Lemmata als auch die Quellentexte indexieren: Register der Artikel, nebst Berichtigung aller Hinweisungen auf andere Artikel (S. 369–391); Register, welches dient, das Wörterbuch als Commentar über Kants Schriften zu gebrauchen (S. 392–459); Register über das ganze Werk (S. 460–563); Alphabetisches Verzeichnis der lateinischen Kunstwörter (S. 564–582); Alphabetisches Verzeichnis der französischen Kunstwörter (S. 583–595); Alphabetisches Verzeichnis der Schriftsteller (S. 596–602); Alphabetisches Verzeichnis der griechischen Kunstwörter (S. 603–604); Druckfehler und Schreibfehler (S. 605–606).
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behandelt sind. Immerhin wurden aus den vier geplanten Bänden sechs, die 1416 Einträge auf insgesamt 5120 Seiten enthalten. Mellin hegte den Wunsch, den Kritizismus zu „befördern und allgemeiner [zu] machen“ und dachte dabei an erster Stelle nicht an Studenten oder an ein akademisches Publikum, sondern an eine breit aufgefächerte Leserwelt, in der sowohl derjenige, der ohne alle Vorkenntnisse war, als auch der schon philosophisch Gebildete seinen Platz hatte. Der Schwerpunkt musste seiner Meinung nach auf jeden Fall auf den Quellen liegen: Es helfe nicht, die Kommentare oder die Einführungen der Kant-Schüler zu lesen in der Hoffnung, sich dadurch einen leichteren Zugang zur kritischen Philosophie zu verschaffen; man solle gerade andersherum verfahren und sich zuerst mit den Quellen auseinandersetzen. Dazu empfahl er eine eigene Methode, die unterschiedliche Phasen vorsah und die auf der wiederholten, Absatz für Absatz durchdachten Lektüre der Schriften Kants basierte. Jede Phase hatte eigene Ansprüche, denen jeweils die von Mellin geplanten Wörterbücher gerecht wurden: Die Kunstsprache mit ihren knappen Definitionen war für das schnelle Nachschlagen beim ersten, kursorischen Lesen bestimmt, wo es um eine systematische Übersicht des Ganzen und um das wörtliche Verständnis der einzelnen Absätze ging; das Encyclopädische Wörterbuch sollte beim nächsten Schritt behilflich sein, wenn man die kritischen Schriften von Anfang an wiederaufnahm, um sie „recht eigentlich zu durchdenken“ (Mellin 1797–1804, I, VII). Ausführlich beschrieb Mellin seine Lernmethode, die für das selbstständige Lernen gedacht war und einen originellen Weg darstellte, um sich stufenweise den Texten anzunähern. Mellins Aufmerksamkeit galt unaufhörlich den kantischen Texten: Kants Werk sei selbst-evident, brauche keinen Kommentar und keine Erläuterung. Indem er sich in der Kunstsprache für Lemma, Bedeutungen, Beispiele und Zitate rigoros an die Quellen hielt, wollte Mellin beweisen, dass der Kritizismus alles ‚in sich‘ hatte: Kohärenz, Bedeutung, Geschlossenheit, Zweck, Ziele.26 Erst mit dem Encyclopädischen Wörterbuch lockerte sich das Band mit dem Korpus auf, denn hier wurden die Lemmata nicht nur textbezogen dokumentiert, sondern auch historisch und kritisch kommentiert. Es wird gezeigt, wie der Terminus durch die kantischen Werke hindurch gebraucht und weiter präzisiert wird, inwieweit Kants Auffassung eines Begriffes sich von der anderer Philosophen unterscheidet, wie Kant sich zu seinen Vorgängern verhielt u. a. m. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Im Kritizismus werden für Mellin philosophische Wahrheiten sichtbar, die eine endgültige Antwort auf alle brisanten Fragen der Zeit liefern. Seine Lexika beweisen es auf „deutliche“ und „fassliche“ Weise, weil die Kohärenz des 26
Aus dem Interesse für den ‚Wortlaut‘ der kantischen Werke entstand die Kant-Philologie, die ihrerseits auch bisher wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat. Am Schluss der Marginalien hatte Mellin nämlich eine Liste der Druckfehler der Kritik der reinen Vernunft (KrV A) verfasst, und Friedrich Grillo war ihm ein Jahr später nachgefolgt (Grillo 1795). So wurde sehr früh die Hypothese formuliert, die zweite Ausgabe der KrV (1787) sollte als die endgültige, zuverlässigere Fassung gelten, eine These, die mit Benno Erdmanns Ausgabe der KrV (Berlin 1900) offizielle Anerkennung fand.
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ganzen Systems, seine Einheit und innere Kraft keineswegs durch die alphabetische Anordnung zerrissen werden, im Gegenteil: Aus jedem Artikel leuchten die systematischen Zusammenhänge des Ganzen noch besser hervor, denn „alle die Wahrheiten, die auf den zu erläuternden Begriff Einfluss haben, [müssen] von der Seite vorgetragen werden, von welcher sie für den Begriff wichtig sind“; dadurch werden sie mehrmals wiederholt und unter allen Blickwinkeln betrachtet, so dass sie nicht nur „deutlich“ und „fasslich“, sondern noch glänzender und „überzeugender“ wirken.
3. Philosophie und Lexikographie in den Wörterbuchvorwörtern Geht man von der heutigen Auffassung eines Wörterbuchvorworts aus (wie z. B. bei Herberg 1985 und 1989 beschrieben), dann sind die Begleittexte der frühen Kant-Lexikographen wenig ergiebig. Sie sahen es nicht als ihre Aufgabe, den Benutzer „zu einem zweckgerechten Umgang mit dem Wörterbuch anzuleiten“ (Herberg 1989, 749), noch technische Angaben über Benutzung, Aufbau und Struktur der Artikel mitzuteilen. Sie konzentrierten sich oft auf Informationen, die keine evidente Bezugnahme zum Wörterbuch selbst hatten und ihre Begleittexte waren eher als Beiträge zur damaligen philosophischen Diskussion gedacht – besonders ausgeprägt war das bei Heinicke, in dessen Vorrede kein Wort über das Wörterbuch gesagt wurde. Aber auch bei Schmid und Mellin, die sich intensiver mit der lexikographischen Aufbereitung der Terminologie beschäftigten, sind explizite metalexikographische Aussagen nur selten vorhanden. Wer heute in diesen Vorreden Spuren vom metalexikographischen Problembewußtsein ihrer Verfasser sucht, bleibt daher enttäuscht. Das Anliegen der frühen Kant-Lexikographen lag auf einer anderen Ebene, war ideengeschichtlich und zugleich gesellschaftlich gelagert, und die Struktur und die Eigenschaften ihrer Werke wurden nur insofern reflektiert, als sie die Stellung ihrer Verfasser in der philosophischen Debatte bekräftigen konnten. Ihre Lexika entsprachen dem Bedürfnis nach Beweisführung, waren ein logischer Weg zur Verifizierung einer These27 oder – stärker bei Mellin – ein geeignetes Mittel zur Popularisierung des Kritizismus. Ihre Zweckorientierung war also primär außersprachlich, obwohl sich ihre Zwecke, in dieser frühen Phase der Rezeption der kritischen Philosophie, gerade durch Arbeit mit der Terminologie und Arbeit an der Sprache verwirklichen ließen.
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Durch sein Wörterbuch wollte Schmid z. B. einen „Inductionsbeweiß“ anführen und dadurch demonstrieren, dass der Vorwurf einer „zwecklosen oder gar schädlichen Sprachneuerung“, den man gegen Kant formulierte, völlig unbegründet sei (Schmid 1788a; 1795; 1798). Ganz am Anfang war in der Tat die KrV von zahlreichen Gelehrten unter dem Vorwand einer unverständlichen, verwirrenden und verwirrten Terminologie abgelehnt worden. Gegen diesen Vorbehalt wollte Schmid zu Felde ziehen.
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Über Absicht und Zweck ihrer Leistung waren sich die frühen Kant-Lexikographen im Klaren, und darüber wurde in den Vorwörtern meistens explizit reflektiert. Schmid präzisierte schon auf dem Titelblatt, dass sein Wörterbuch „zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften“ bestimmt war (Schmid 1786, 1788a, 1795, 1798); meistens wurde die didaktische Hilfsfunktion in den Vordergrund gestellt und als Auslöser anerkannt, der die Professoren-Verfasser zur lexikographischen Arbeit angetrieben hatte. Ähnlich war es bei Mellin, obwohl er sich am Rande der akademischen Welt bewegte.28 Aber schon in der Vorrede zur zweiten Ausgabe von Schmids Werk (Schmid 1788a) wird ersichtlich, dass das Wörterbuch zum festen Bestandteil des weit umfassenden Programms des Kant-Anhängers geworden war: $icht die Philosophie als Wissenschaft durch eigene Entdeckungen zu erweitern, sondern ihr Studium zu befördern; nicht, neue Begriffe mitzutheilen, sondern vorhandene zu erläutern, ihre genaue Bestimmung mehr in Umlauf zu bringen und durch eine neue Zusammenstellung verwandter Begriffe das richtige Auffassen und den Gebrauch derselben zu erleichtern; vorzüglich solche Begriffe und Behauptungen der Kantischen Vernunftcritik, die bisher häufig aus bloßem Mißverstande bestritten wurden, durch deutliche Erklärungen und bestimmte Gegensätze zu retten, und künftigen Mißdeutungen, da, wo sie leicht zu befürchten waren, vorzubeugen – dieß war der Zweck, den ich mir bey der ersten Bekanntmachung dieses Wörterbuches vorgesetzt hatte. (Schmid 1788a, Vorrede [1–2])
Durch die Gegensatzpaare hob Schmid seine Absicht noch deutlicher hervor und bekannte sich als treuer Kant-Schüler, der sich nicht als eigenständiger Philosoph zu profilieren meinte, sondern ganz im Dienste der Philosophie seines Meisters stand, die es zu erläutern, zu verbreiten und zu verteidigen galt.29 Diese Absicht entfaltete sich demzufolge in drei unterschiedliche Richtungen: Sprachlich-deskriptiv in Bezug auf den Meister, dessen Terminologie und Sprachgebrauch beschrieben und deutlich fixiert werden sollten; gesellschaftlich-normativ, denn die neuen Lehren mussten bekannt gemacht werden (Popularisierung, Didaktik) und zu diesem Zweck waren genaue Hinweise und Festlegungen nötig, damit die neuen Fachwörter richtig verstanden und korrekt gebraucht wurden; letztlich ideengeschichtlich-kritisch, denn jedes Wörterbuch verlagerte das Schwergewicht auf jeweils andere Begriffe, die in den verschiedenen Phasen der Diskussion um den Kritizismus in den Vordergrund gerückt waren und deren genaue Erläuterung also höchst aktuell war. Auch Mellin, der jahrelang unermüdlich lexikographierte, sah seine Wörterbücher als Hilfsmittel, die den Phasen einer umfassenderen 28
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Lehrbuch und angehängtes Wörterverzeichnis sollten „das Studium der Kantischen Schrifften [...] erleichtern“ (Schmid 1786) oder „als Leitfaden für akademische Vorlesungen dienen“ (Heydenreich 1794, I, [4]). Auch Mellin wies seinen Wörterbüchern eine feste Rolle in seiner Lernmethode für Autodidakten zu (Mellin 1797–1804, I, VI–VII). Schmid hob dieses Aspekt mehrmals hervor: „Philosophie als Wissenschaft kann zwar durch diese Schrift durchaus nichts gewinnen, weil Erweiterung derselben nicht ihr Zweck ist, sie kann kein neues Licht hervorbringen, aber wenn sie nur ihr Studium und das nützliche Lesen einiger ihrer wichtigsten Producte befördert, wenn sie nur hie und da zerstreute Lichtstrahlen sammelt und dem Auge sichtbarer macht, so ist meine Absicht gantz erfüllt“ (Schmid 1786, Vorrede [5–6]).
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Popularisierungsaktion untergeordnet waren: „da der Verfasser dabei verschiedene Absichten hatte, so musste er auch auf verschiedene Mittel denken, jenen Zweck zu erreichen“ (Mellin 1797–1804, I, V). Eng mit der Zielsetzung verbunden ist die Frage nach dem Publikum, an das sich die Lexikographen richteten. Schmid nannte erstens seine „Herren Zuhörer“ als möglichen Adressaten, zweitens sich selbst als Vertreter der Kategorie der Dozenten, die sich an sein Lehr- und Wörterbuch „bey dem Vortrage dieser Wissenschaft“ halten könnten. Er dachte also vorwiegend an das philosophische Publikum der Universitäten, und ähnliches galt für Heydenreich: Seine Propaedeutick der Moralphilosophie war auch als Lehrbuch konzipiert, und zwar war sie „für Anfänger bestimmt, nicht für Denker, die schon mit der Wissenschaft vertraut sind“. Mellin hatte hingegen einen breiteren Leserkreis in Sicht, der von sich aus philosophische Interessen pflegte. Zu seiner Gesellschaft gehörten Geistliche, Beamten, Lehrer, Hofmeister, Offiziere – also Kategorien, die zum großen Teil außerhalb der Akademien lebten, aber viel Wert auf ihre Weiterbildung legten. Mellin musste sich also mit einem heterogenen Publikum konfrontieren und nahm sich vor, es bei seiner Auseinandersetzung mit dem Kritizismus an der Hand zu führen; sein Hauptzweck blieb immer, das Studium dem Nichtkenner zu erleichtern, aber trotzdem konnte auch der Kenner die Artikel seines Encyclopädischen Wörterbuchs interessant finden, „so wie es dem Lehrer zum Repertorium dienen kann“ (Mellin 1797–1804, I, VII). Wie die Autoren an lexikographisch-methodische Fragen herangingen – die Zusammenstellung des Korpus, die Auswahl der Lemmata, die Abgrenzung zwischen Fachsprache und Gemeinsprache, die Behandlung der ausgeprägten Polysemie der Termini – darauf wird in den Vorwörtern kaum eingegangen. Einige Informationen kann man nur indirekt aus den Artikeln selbst erschließen, andere sind in anderen Begleittexten enthalten. Was das Korpus anbelangt, ist es beispielsweise das Abkürzungsverzeichnis, das uns darüber Auskunft gibt. Geht man davon aus, dass es sich bei den hier behandelten Werken um Autorenwörterbücher handelt, die wesentlich die Erläuterung und Verbreitung des Kritizismus zum Ziel hatten, dann erwartet man auch, dass sie alle auf dem gleichen Korpus basieren. Auf einem weitgehend einheitlichen Hintergrund sind jedoch Variationen festzustellen, die jedem Werk ein eigenes Profil verleihen. Alle Lexikographen konzentrierten sich auf die drei Kritiken und auf die philosophischen Schriften Kants, auch wenn die Auswahl nie explizit kommentiert wurde (Schmid bezog sich allgemein auf „Kantische Schriften“, meinte aber nur die philosophischen und metaphysischen). Ausgeschlossen blieben immer die vor-kritischen Schriften und die vereinzelten Aufsätze, die in den Zeitschriften veröffentlicht wurden, sowie die Traktate technisch-wissenschaftlichen Inhalts. Eine zweite Konstante ist die ständige Erweiterung des Korpus in Parallelentwicklung zur kantischen Produktion: Schmid konnte sich für seine Erstausgabe auf drei Quellen stützen (Schmid 1786), 1798 waren es aber schon zehn Texte, die die Grundlage für die letzte Ausgabe seines Wörterbuchs ausmachten. Zwei Jahre später konnte
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wiederum Mellin ein Korpus von 15 Werken exzerpieren. Mellin war bemüht, „so vollständig als möglich zu sammeln“, und daher nahm er sogar einen anonymen Text in seine Quellen auf (Mellin 1798), die Originalideen über die empirische Anthropologie (Leipzig 1796) samt nachgeschriebenen Heften, und die polemische Schrift Über eine Entdeckung, die in dem Streit zwischen Kant und Eberhard eine entscheidende Rolle gespielt hatte. Erst dem Anhang zur Kunstsprache (Mellin 1800) konnte Mellin auch die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und den Streit der Fakultäten hinzufügen. Aufsätze und kleinere Schriften Kants wurden erst dann aufgenommen, als sie gesammelt und herausgegeben wurden (Kant 1797–1798 und Rink 1800), aber nur Mellin konnte sie zeitlich berücksichtigen. Heydenreich war der einzige, der nur einen spezifischen Fachbereich der Philosophie Kants thematisierte, und zwar die Moral. Nach dieser Richtlinie erfolgte die lexikalische Auswahl, die sich vornehmlich auf die Kritik der reinen Vernunft richtete und nur die „moralische Sprache“ zum Gegenstand hatte. Das Wörterbuch ist aber vorwiegend auf das vorhergehende Lehrbuch orientiert und verweist übrigens nicht auf die kantischen Texte, sondern direkt auf die Abschnitte der Propaedeutick, in denen die entsprechenden Begriffe behandelt werden. Bei der Auswahl der aufzunehmenden Lemmata ist also Heydenreich der einzige, der nur einen Teilwortschatz innerhalb des Kritizismus thematisch aussonderte; alle anderen erklärten auf Titelblättern oder in den Vorreden ihre Intention, sämtliche Fachwörter der Texte Kants aufzunehmen. Das Streben nach Vollständigkeit durchzog alle lexikographischen Leistungen und wurde von Schmid schon 1786 betont, als er sich vornahm, „die Bedeutungen iedes technischen Ausdrucks in der Kantischen Philosophie“ zu sammeln (Schmid 1786, Vorrede [3]). Bei Mellin war er besonders ausgeprägt: Mellin wollte „alle Kunstwörter“ auflisten, „denn es soll keine Seite der critischen Schriften Kants in demselben [Wörterbuch] unerläutert bleiben“ (Mellin 1797–1804, I, VII); auf die Vollständigkeit der Sammlung hat er immer viel Wert gelegt. Nie angesprochen wird hingegen das eng mit der Auswahl verbundene Problem der Unterscheidung zwischen Fach- und Gemeinsprache, und diese fließende Grenze wurde bei der Aufnahme der Lemmata oft verschoben und erweitert, vor allem von Mellin, der von der Zwangsvorstellung der Vollständigkeit heimgesucht war. In seiner Kunstsprache ist das besonders auffällig, denn hier sind Wörter aufgenommen, die man zweifellos der Gemeinsprache zuschreiben würde: ‚ausfindig machen‘, ‚aussinnen‘, ‚Frohseyn‘, ‚Galanterie‘ u. a. m. Diesen Lemmata wird dann jedoch nur eine allgemeine Definition beigelegt, ohne Quellenangabe und ohne weiteren Kommentar. Auf diese Weise bestätigt auch die Artikelstruktur, dass es sich um keine kantischen Fachausdrücke handelt. Mitteilsamer wurden die Verfasser, wenn es darum ging, sich von den lexikographischen Arbeiten von Kollegen und Rivalen zu distanzieren bzw. sie zu bemängeln – ein Thema, das in den Vorwörtern oft angesprochen wird. Die frühen Kant-Lexikographen hatten das Gefühl, dass sie Pionierarbeit leisteten und dass keins der existierenden Wör-
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terbücher ihnen als Grundlage dienen konnte.30 Mellin (1798) war der einzige, der einen berühmten Vorgänger erwähnte, und zwar Friedrich Christian Baumeister, der mit seiner Philosophia definitiva ein (lateinisches) Autorenwörterbuch zu den Schriften Wolffs herausgegeben hatte (Baumeister 1735). Sein Werk war aber schwer mit einem Lexikon vergleichbar, denn die Begriffe waren nicht alphabetisch angeordnet, sondern „systematisch“, also nach Disziplinen gruppiert (Logik, Ontologie, Moral usw.).31 Als Anhaltspunkt blieb also nur die Arbeit der zeitgenössischen Kollegen. Obwohl 1797 unterschiedliche Kant-Wörterbücher in Umlauf waren, verzichtete Mellin darauf, dazu Stellung zu nehmen. Er hatte schon mehrmals gegen Kommentare und alle bisher erschienenen Auszüge, Grundrisse und Erläuterungen polemisiert. In zehn Jahren sei man so weit gekommen, dass die Bemühungen der Kommentatoren und Exegeten die Quelle der kritischen Philosophie völlig getrübt hatten, schrieb er 1794 empört an Kant (KGS XI, 498). Alle Vorwörter seiner Schriften sind daher ein leidenschaftliches Plädoyer für den „Buchstaben“ der Originaltexte, zu dem man unbedingt zurückkommen sollte. Diese grundlegende Ablehnung aller Interpretations- und Kommentararbeit, die von anderen Autoren als „Buchstabenphilosophie“ verspottet wurde, entfachte eine rege Diskussion, die in den Wörterbuchvorreden nur leicht durchschimmert. Heydenreich (1794) gab offen zu, Schmids Wörterbuch benutzt zu haben, ohne aber „die Rolle des Kompilators“ zu spielen – vielleicht dachte er an Heinickes Plagiat und wollte dadurch seine eigenständige Arbeitsweise betonen. In der Tat wollte sich Heydenreich auf die Erklärung der Grundsätze der Moralphilosophie beschränken und daran hielt er sich, sowohl in der Auswahl der Lemmata als auch in der Angabe ihrer Bedeutungen, die zum großen Teil originell sind. Auch Schmid, der streng genommen keine Vorgänger hatte, bekam es mit der Zeit mit Rezensenten und Konkurrenten zu tun. In der Vorrede zur dritten Ausgabe (Schmid 1795) musste er sich gegen den Vorwurf verteidigen, wichtige Begriffe missverstanden und durch seine dementsprechend ungenauen Definitionen Sprachverwirrung gestiftet zu haben.32 Schmid reagierte und beteuerte, seine Erklärungen aus den kantischen Texten wortwörtlich übernommen zu haben. Fehlbedeutungen, Zweideutigkeiten usw. seien also nicht ihm, sondern Kant selbst zuzuschreiben:
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Die lexikographischen Arbeiten der Vorgänger waren tatsächlich ganz anders angelegt: entweder übersetzungsorientiert (Deutsch/Latein, Deutsch/Griechisch) oder auf dem Gesamt(fach)wortschatz bezogen. Roelcke 1999 bietet eine Übersicht der philosophischen Lexikographie; nützlich auch Tonelli 2006, der die Wörterbücher aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert alphabetisch, chronologisch und thematisch auflistet, sowie Canone 1997. Darüber Canone (1997, 98) und Landolfi Petrone (im Druck a). Reinhold (1792) hatte in seinem achten Brief über die kantische Philosophie den Begriff ‚Freiheit des Willens‘ ausführlich behandelt. Dabei untersuchte er Schmids Definitionen, bezichtigte sie der Unrichtigkeit und behauptete, Schmid habe dadurch nur größere Verwirrung in das System gebracht. Ähnliche Bemerkungen formulierte auch Hausius in seiner Besprechung von Schmids Grundriss (Hausius 1793, I, 191–200).
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Will man also gegen die Erklärungen dieses Wörterbuchs streiten und ihre Unrichtigkeit darthun: so wende man sich mit seinen Gründen nicht an den Verfasser dieses Wörterbuchs [...], sondern an den Originalschriftsteller selbst, welchen er nur zu gewissen Absichten excerpirt hat. (Schmid 1795, Vorrede, [4])
Schmid fühlte sich für seine Angaben nicht verantwortlich und betrachtete sich selbst als einen Epitomator, der die Lehren des Meisters treu zusammenfasst und darlegt, ohne persönlich einzugreifen. Er ging also davon aus, dass das lexikographische Verfahren Sachlichkeit der Darstellung garantierte und die Perspektive des interpretierenden Subjekts gänzlich ausschloss – die traditionelle Vorstellung der Lexikographie als stumpfsinnige Sklavenarbeit, die hier zum Vorschein kommt, wusste Schmid dabei zu seinem Vorteil zu nutzen.33 Die Auffassung seiner Arbeit als mechanischen Exzerpierens wird von Schmid erst 1798 – als er sich mit Mellins Wörterbüchern konfrontieren musste – überwunden und zum Gegenstand einer metalexikographischen Überlegung. Als grundlegenden gravierenden Unterschied hob er hervor, dass die Kunstsprache nach einer rein alphabetischen Ordnung organisiert war; bei ihm sei hingegen eine fachwortschatzsystematische Perspektive ausschlaggebend, und diese Verfahrensweise sei nicht nur leserfreundlicher, sondern habe auch eine kognitiv-epistemologische Begründung, denn die correlaten Begriffe erläutern sich selbst schon durch ihre Beziehung auf einander, und eine systemartige Übersicht der Begriffe in ihren logischen Verhältnissen der Entgegensetzung, Beyordnung, Unterordnung u. s. f. giebt zu mehrern nützlichen Reflexionen Anlaß, als die für sich stehende Erklärung eines einzelnen, aus seinen natürlichen Verhältnissen herausgerissenen, Begriffes. (Schmid 1798, Vorrede [5])
Als Folge wurden bei ihm Definitionen in Verbindung mit anderen Definitionen getroffen, so dass lexikalische Bedeutungsrelationen und terminologische Vernetzungen deutlicher werden.34 Das Hauptaugenmerk war immer auf die Bedeutungserläuterungen gerichtet, denn die sprachlichen Anforderungen im engeren Sinne, denen diese Wörterbücher gerecht werden sollten, waren mit der Darstellungsfunktion der Sprache eng verbunden. Sie wurden meistens unter den Stichwörtern „deutlich“ und „fasslich“ zusammengefasst. Das dringendste Bedürfnis bestand in der Festlegung eines (nach der heutigen Definition) „möglichst adäquaten Bezug[es] zu den fachlichen Gegenständen und Sachverhalten“, woraus sich die Deutlichkeit herleiten ließ, eine sprachliche Eigenschaft, die primär am Wortschatz verankert wurde.35 Ähnliches galt für die Verständlichkeit, die „möglichst 33
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Zahlreiche Lexikographen vertraten diese Auffassung und bekundeten sie in Vorreden und Begleittexten. Dass dem jedoch gar nicht so ist, wurde von Oskar Reichmann überzeugend geklärt. Die aktive kulturelle Rolle dieser Disziplin wurde seit seiner Einleitung zum Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (Reichmann 1986) immer wieder betont und ist seitdem zum festen Bestandteil der theoretisch-methodischen Reflexion der Lexikographie geworden. Darüber auch Haß-Zumkehr (1999) und (2001). Zu den Terminologisierungsverfahren in der KrV vgl. Roelckes Beitrag in diesem Band. Deutlichkeit der Darstellung war eine der meist gepriesenen Tugenden im Zeitalter der Aufklärung. Sie betraf alle Ebenen einer Sprachhandlung, von der graphischen Gestaltung der Buchstaben zur
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fehlerfreie Vermittlung fachlicher Kenntnisse“ (Roelcke 2005, 28 und 29): Störungen beim Verständnis wurden schließlich immer einem Mangel an terminologischer Festlegung zugeschrieben. Heydenreich holte weit aus und formulierte es mit anderen Worten, kam aber sofort zum Punkt: Es ist wohl keinem Zweifel unterworfen, dass bey Untersuchungen moralischer Gegenstände auserordentlich viel auf den bestimmtesten Gebrauch der Wörter ankommt, und es wahres Bedürfnis ist, der Sprache in Rücksicht der Bedeutungen derselben eine Festigkeit zu geben, welche leichte Einsicht des Sinns und allgemeines Verständniss befördere. (Heydenreich 1794, I, [3])
Deswegen hatte er die Arbeit am Wörterbuch aufgenommen, in dem die Bedeutungen „mit Richtigkeit und Präcision“ festgelegt werden sollten. Auch Schmid erwähnte die Notwendigkeit des „richtigen Auffassens“ der kantischen Begriffe und plädierte für „deutliche Erklärungen“ und „genaue Bestimmung“ derselben, vor allem hinsichtlich der vielen Neuschöpfungen. Mellin war der einzige, der diese sprachlichen Eigenschaften auch sprachkritisch reflektierte und der sich darüber Gedanken machte, wie sie zu verwirklichen seien. Er hatte z. B. wahrgenommen, dass die Verständlichkeit systemlinguistisch nicht nur mit der Terminologie verbunden war, sondern auch mit der Syntax: In seinen Marginalien (Mellin 1794–1795) hatte er ganze Textabschnitte als (fach-) sprachliche Äußerungen behandelt, die er durch synthetische, einprägsame Umformulierungen zusammenfasste und unter einem syntaktischen Gesichtspunkt „fasslicher“ machte. In seinen Lexika fokussierte er sich auf den Wortschatz, und im Encyclopädischen Wörterbuch ging es ihm vor allem darum, „den möglichsten Grad der Fasslichkeit“ zu erreichen, „damit es auch wirklich erläutert und nicht noch mehr verdunkelt“ (Mellin 1797–1804, I, VII–VIII). Es war ihm aber bewusst, dass die Fasslichkeit eine subjektive Größe ist und dass sie deswegen nie hundertprozentig gewährleistet werden kann („da es ferner unmöglich ist, überall einem Jeden, der ohne alle Vorkenntnisse ist, fasslich genug zu seyn [...]“), aber diesem Mangel konnte die alphabetische Ordnung abhelfen. Denn dadurch wird das System zergliedert und jeder Begriff wird mehrmals, in der Erörterung unterschiedlicher Lemmata, wiederaufgenommen und kommentiert; so werden die Leitwörter des kantischen Denkens mehrmals wiederholt „und das giebt nun Veranlassung, die Hauptsätze eines Systems auf allen Seiten zu betrachten, und dadurch der Deutlichkeit der Einsicht zu Hülfe zu kommen, für die vielleicht hier und dort der erwähnte unvermeidliche Mangel an Fasslichkeit [...] ein Hindernis war“ (Mellin 1797–1804, VIII–IX). Deutlichkeit und Verständlichkeit ergänzen sich also gegenseitig. Die Fasslichkeit hatte Mellin „theils durch den Vortrag selbst“, also durch syntaktische Redemittel, „theils durch die gegebenen Beispiele zu bewirken gesucht“, also Aussprache, von der semantischen zur kommunikativen Ebene, aber vor allem war sie auf die kognitiv-logische Tätigkeit des Denkens bezogen, die sich unmittelbar in die Sprache ergoss. Über den Begriff der Deutlichkeit, der seinen historischen Bezugspunkt bei Descartes und in der Grammatik von Port Royal hat, und über seine Rolle in den Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts vgl. Reichmann 1992 und 1995; Blackall 1978, 149–177.
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durch eine kognitiv-sprachliche Strategie, die dem größeren Konkretisationsbedürfnis der nicht geschulten Leser entgegenkam. Bei der Deutlichkeit ging es aber nicht nur um die Klarheit der Formulierung, sondern auch um die logische Unterscheidung zwischen den Begriffen; sie ist also enger mit der kognitiven Tätigkeit verbunden. Dass beide Aspekte im Erkenntnisprozess grundlegend waren, hatte Descartes endgültig fixiert36, und ihm zufolge war der unmittelbare sprachliche Niederschlag dieser kognitiv-sprachlichen Eigenschaften überzeugend hervorgehoben worden. So hatte sich der philosophische Deutlichkeitsbegriff in die Sprachtheorien der Aufklärung fest eingebürgert.37 Aus diesem Grund wollte Mellin nicht nur auf die Begriffsbildung, sondern auch auf die Begriffsunterscheidung Acht geben: Ein anderes Mittel [für] meinen Zweck [...] besteht darin, dass ich sie [= die Lehrsätze der kritischen Philosophie] nicht selten mit den Lehrsätzen andrer Philosophen über denselben Gegenstand, z. B. eines Leibnitz, Hume, Wolf, Lambert usw. verglichen und das Unterscheidende gezeigt habe. (Mellin 1797–1804, IX)
Über weitere Einzelheiten und vor allem, wie die Mikrostruktur ihrer Artikel zu gestalten sei, schienen sich die Verfasser keine Gedanken zu machen, oder sie brachten ihre Überlegungen nicht offen in den Begleittexten zum Ausdruck. Lexikographische Methoden, Artikelaufbau, Form der Bedeutungsangaben, grammatische und etymologische Deskription, Behandlung der onomasiologischen Vernetzungen usw. sind also nur, wie im Folgenden angedeutet wird, aus einer vergleichenden Untersuchung der Artikel selbst herzuleiten.
4. Lexikographische Praxis in den Wörterbuchartikeln Alle Kant-Lexikographen waren sich darüber einig: Ihre Wörterbücher sollten dem konkreten Textverständnis eines gewissen Autors bzw. innerhalb der schriftlichen Produktion dieses Autors, einer bestimmten, in sich geschlossenen Gruppe von Werken dienen. Demnach handelt es sich um selektive individualsprachliche, fachwortschatzbe36
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So Descartes (2005, I, § 45): „Die Mehrzahl der Menschen erfaßt während des ganzen Lebens gar nichts hinreichend richtig, um ein sicheres Urteil über irgend etwas abzugeben. Denn für eine Erfassung, auf die sich ein sicheres und unbezweifelbares Urteil stützen kann, ist nicht nur erforderlich, daß sie klar [clara], sondern auch, daß sie deutlich [distincta] sei. Klar nenne ich jene, die dem aufmerksamen Geist gegenwärtig und zugänglich ist: Ebenso wie wir das von uns klar gesehen nennen, das, während es dem betrachtenden Auge gegenwärtig ist, es hinreichend kräftig und offenkundig erregt. Deutlich hingegen nenne ich jene, die, weil sie klar ist, von allen anderen so unterschieden und umrissen ist, daß sie schlichtweg nichts anderes als das, was klar ist, in sich enthält“. Neben einer rhetorischen Bedeutung, war die Deutlichkeit in philosophischen und sprachkritischen Texten als eine „Güteeigenschaft des begrifflich-diskursiven Denkens und des entsprechenden Sprachgebrauchs, die sich nur dann einstellt, wenn die Regeln der mathematischen Denkart und Definitionstheorie befolgt werden“ angesehen (Becker 1998, 44–47 und passim).
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zogene Wörterbücher.38 Allen gemein war weiterhin die begriffsorientierte, semasiologische, alphabetisch geordnete Struktur. Diese strukturellen Eigenschaften bestimmten den Aufbau der einzelnen Artikel und machten einige lexikographische Positionen verbindlich: Lemma, Angabe der Bedeutung(en), Textbelege; hinzu kam ein Kommentarteil, der aber nicht immer unbedingt vorhanden war. Überall wichtig war der Bezug zum Textkorpus, der sich in der die Textbelege betreffenden Position verwirklichte, und an der Reichhaltigkeit der Belegnachweise wird die Textorientiertheit der einzelnen Lexika umgehend sichtbar. Die zahlreichen textbezogenen Angaben können sich auf einfache Verweise beschränken (durch konventionelle Siglen und Seitenangaben), waren aber oft ausgiebiger und wurden durch relativ ausführliche Zitate, wörterbuchinterne Verweise und zusätzliche Quellenangaben von weiterführenden Textstellen bereichert. Einige Verfasser listeten sie kompakt als eigene Position am Artikelende auf, in längeren Einträgen wurden sie in den Erläuterungs- und Kommentarteil an verschiedenen Stellen eingehängt, damit der Leser für jede Bedeutung eines Lemmas, für jedes Beispiel die entsprechenden Textstellen nachschlagen konnte. Hinweise auf weitere Literatur, auf Texte anderer Philosophen (Hume, Locke, Leibniz sind oft erwähnt) und auf die Schriften der Kollegen bzw. Rivalen (Schultz, Beck, Feder, Herz) waren im eventuell nachfolgenden Kommentarteil zu finden. Der Textdokumentation kam also, vor allem bei der Angabe der Bedeutungen, ein besonders hoher Aussagewert zu, der im Grunde genommen bis zur völligen ‚Entmündigung‘ des sonst subjektiv eingreifenden Verfassers führen konnte und deswegen Objektivität und Exaktheit garantierte. Dies erklärte zumindest Schmid im Vorwort, in dem er seine eigenen analytisch-interpretativen Bemühungen unterschätzte. Wertvoll sind Belegschnitte weiterhin, weil sie pragmatische Informationen über den Sprachgebrauch liefern und ggf. Besonderheiten des kantischen Idiolektes veranschaulichen – in diesen ausschließlich begriffsorientierten Wörterbüchern kam sonst die kommunikativ-pragmatische Komponente überall zu kurz. In der Auswahl der Lemmata zielten alle Kant-Lexikographen auf eine umfassende Darbietung der Fachsprache des Kritizismus (mit Ausnahme von Heydenreich, der sich auf den Teilbereich der Moral beschränkte); dabei verfuhren sie begriffsorientiert, gingen aber nach eigener Einschätzung vor, was den Fachsprachlichkeitsgrad und die Relevanz der einzelnen Begriffe anbelangte. Am Anfang wurden nur die wichtigsten Termini aufgenommen, die spezifische Merkmale der kritischen Philosophie repräsentierten; dann wurden sekundäre Begriffe hinzugefügt und diejenigen, deren Neuigkeit erst bei einer genaueren Auseinandersetzung mit Themen und Inhalten der Werke Kants wahrgenommen wurde. So wurde von einer Ausgabe zur nächsten die Anzahl der Lemmata immer größer. Ihre Auswahl blieb aber weiterhin mehr intuitiv als linguistisch reflektiert oder höchstens von der Leistung Anderer beeinflusst. ‚Afficiren‘ z. B. erscheint 38
Zur Definition von Autorenlexikographie, über mögliche Typen von Autorenwörterbüchern und ihre Eigenschaften vgl. Wiegand 1984, 590–600; Roelcke 1994; Mattausch 1990 und 1991.
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bei Schmid (1788a), ‚abstrahiren‘ erst 1795; bei der ersten Erfassung der Terminologie wurden diese epistemische Prozesse darstellenden Verben offensichtlich als nicht spezifisch genug empfunden, und erst bei weiteren, ergänzenden Lektüren wurden sie als Lemma angesetzt; von da an sind beide Zeitwörter in allen Kant-Lexika belegt. Auch ‚Ansiedlung‘ und ‚Ausland‘ wurden erst in der letzten Ausgabe von Schmid aufgenommen. Der Grund dafür war aber wahrscheinlich, dass sie bei Mellin (1798) aufgetaucht waren. Ein Beispiel anderer Art ist das Lemma ‚Ding an sich selbst‘, das Schmid 1786 schon aufnahm. Der Begriff wurde Gegenstand einer heftigen und andauernden Diskussion unter den Kant-Anhängern; man musste in der Tat den wichtigen Unterschied zwischen ‚Ding‘ als ›Gegenstand der Erfahrung‹ und ‚Ding an sich selbst‘ als ›die Wirklichkeit, wie sie unabhängig von aller Erfahrungsmöglichkeit besteht‹ (die absolute Realität), klar machen. Dieser für die Transzendentalphilosophie grundlegender Begriff brachte alle bisherigen Erkenntnistheorien ins Wanken und wurde daher scharf kritisiert oder ganz und gar abgelehnt. In den folgenden Ausgaben wurde der Eintrag immer umfangreicher, seine semantischen Nuancierungen und seine weitreichenden Folgen machten eine ausführlichere Erläuterung erforderlich. Die alphabetische Auflistung galt bei allen als Anordnungsprinzip, wurde aber auf unterschiedliche Weise durchgeführt. Mellin baute sein Wörterverzeichnis auf einem rein mechanischen Prinzip auf (was Schmid kritisierte), während Schmid den Fachwortschatz nach dem Prinzip der sprachlichen Analogie gliederte, er ließ sich also vom Schottel’schen Prinzip der Stammwortlemmatisierung leiten. So erscheint ‚Weltanfang‘ bei Schmid unter A, im Anschluss an ‚Anfang‘; bei Mellin unter W. Dementsprechend ordnete Schmid Ableitungen und Kompositionen dem Stammwort unter (Affectlosigkeit unter ‚Affect‘; ästhetisch unter ‚Ästhetik‘, zusammen mit zahlreichen anderen Syntagmen: reine, transscendentale Ästhetik, ästhetische Deutlichkeit; Naturgesetz und Verstandesgesetz sind unter ‚Gesetz‘ zu finden usw.). Größere Verwirrung wurde in das alphabetische System gebracht, weil Schmid oft ganze Syntagmen als Lemma ansetzte, und in diesen Fällen verhielt er sich ganz unterschiedlich. Manchmal wurden Syntagmen unter das erste Element angeführt (‚disjunctive Urtheile‘, ‚dictum de omni et nullo‘ sind unter D behandelt, ‚faule Vernunft‘ unter F); hin und wieder wird das tragende Element, z. B. das Substantiv bei Nominalphrasen, als anordnungsbestimmend angenommen und vorangestellt (‚Gesellschaft, bürgerliche‘ unter G, oder ‚Feind, ungerechter‘ unter F) und ein anderes Mal erscheint ein Syntagma völlig willkührlich unter dem Erstbuchstaben eines seiner Elemente (‚erkennbare Dinge‘ unter D). Interne Verweise leiten den Benutzer durch diese alphabetische Verwirrung, was bedauerlicher Weise aber nicht immer systematisch geschieht. Die Tendenz zur Expansion des Lemmazeichens äußerte sich mehr oder weniger bei allen Verfassern. Nicht nur wurden Nominalphrasen und Verbalkomplexe (‚ins Gedächtnis fassen‘, ‚für wahr halten‘, ‚afficirt werden‘, ‚Herr über sich selbst seyn‘) oft als Lemma angesetzt, häufig war das Lemma selbst mit anderen lexikalischen Ausdrücken verbunden, so dass die Position zwei- bzw. mehrfach besetzt war (‚Ästhetik, Sinnenlehre, Theo-
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rie der Sinnlichkeit‘; ‚abstrahiren, absondern, abziehen, isoliren‘ – Mellin 1798). Manche der Ko-Lemmata hatte Kant tatsächlich als Synonyme zum Lemma gebraucht, manchmal waren es aber bedeutungsverwandte Wörter, die vielleicht nur mit einer der angegebenen Bedeutungen gleichzusetzen waren. Durch diese nach der heutigen Auffassung lexikographisch ungeschickte Vorgehensweise zielten die Verfasser darauf ab, das autorenspezifische Begriffssystem zu rekonstruieren; für onomasiologische Vernetzungen war aber keine feste Position vorgesehen, so wurden sie diskursiv in den Artikel eingebunden. Antonyme und partielle Gegenwörter, wenn sie zum Beispiel der Konturierung der Bedeutung dienten, wurden im Erläuterungsteil oder im weiteren Verlaufen des Artikels eingeflochten.39 Bei Schmid sind sie häufiger als bei seinen Kollegen vorhanden, weil er viel Wert auf das Wortfeld und auf die semantischen Differenzierungen des Begriffsfelds legte; deswegen hatte er wortbildungsmorphologisch verwandte Termini unter dem Hauptlemma versammelt und behandelt. Typisch für Mellin ist die Angabe von Heteronymen, die die Lemmaposition ergänzen: Entweder sofort am Anfang des Artikels oder als Einschub vor jede der Bedeutungen bei polysemen Lemmata führte Mellin das lateinische, oft auch das französische und griechische Äquivalent des Lemmas auf. Dadurch gewann der Kritizismus eine europäische Dimension und wurde im gleichen Moment mit der klassischen Terminologie in Verbindung gesetzt. Mit Lemma und Textbelegen ist die Erläuterung die dritte und letzte Position, die in allen frühen Kant-Lexika erscheint. Sie spielte eine wesentliche Rolle, denn hier verkörperte sich das Hauptanliegen der Verfasser: die korrekte Auslegung und genaue Festlegung der Fachwörter. In ihrer begriffsorientierten Auffassung stellte diese Position den Kern der lexikographischen Arbeit dar. In dem Erläuterungs- und oft unmittelbar daran anschließenden oder sogar mit ihr verwobenen Kommentarteil konnte man die Neuigkeit der neuen Lehre ins rechte Licht rücken, die kantischen Fachwörter festlegen und durch sie die schwierigen Textstellen analysieren und klären. Für die semantische Definition wurden flexible Deskriptionsverfahren angewendet, die nicht nur von Wörterbuch zu Wörterbuch stark variierten, sondern auch von Eintrag zu Eintrag innerhalb des gleichen Wörterbuchs. Insgesamt kann man feststellen, dass die Grenze zwischen darstellungsfunktionaler Bedeutungserläuterung und Kommentarteil oft verschwommen war, so dass diese Position offen blieb und nicht selten direkt in den Kommentar einfloss. Charakteristisch für die Mikrostruktur dieser Lexika war also eine Mischung aus Belegschnitten aus dem Korpus, die übrigens nicht immer deutlich abgegrenzt wurden, Erläuterungen des Bearbeiters und fachspezifischem Kommentar.
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Ein Beispiel aus Schmid 1798: Nachdem alle Bedeutungen von ‚constitutiv‘ angeführt worden sind, wird ‚regulativ‘ als gegensätzlicher Begriff erwähnt, und der zweite, umfangreichere Teil des Artikels ist dem Antonym gewidmet. Aus Mellin 1798, ‚Afterrede‘: Zuerst wird das Lemma erläutert, dann geht der Artikel mit der semantischen Abgrenzung weiter: „Sie ist von der Verläumdung darin unterschieden, dass sie nicht, wie diese, auf eine besondere Absicht gehet. Sie ist der schuldigen Achtung gegen die Menschheit überhaupt zuwider, weil [...]“.
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Dementsprechend wurde die Position, die für die Angabe der Bedeutungen vorgesehen war, ganz unterschiedlich gestaltet. Um der hohen semantischen Komplexität einiger Termini Rechenschaft zu erweisen, wurde manchmal eine hierarchisch sehr fein gegliederte Darbietung benutzt (der Eintrag ‚Caussalität‘ in Schmid (1798) ist in folgende Ordnungen gegliedert: zuerst arabische Zahlen, dann Großbuchstaben, wieder arabische Zahlen als zweite Unterordnung, dann Kleinbuchstaben und schließlich griechische Buchstaben). Für monoseme oder weniger komplexe Termini schien eine diskursive Beschreibung geeigneter zu sein – wenn zwei Bedeutungen angelegt wurden, waren sie beispielsweise durch einen disjunktiven Konnektor eingeleitet („X bedeutet entweder ... oder ...“); in Extremfällen bestand der Artikel nur aus einem Textbeleg oder einem kurzen Kommentar, ohne Definition (‚Anhörung‘ bei Heinicke 1788). Des öfteren wurde zwischen einer allgemeinen und einer fachlichen Bedeutung unterschieden („X bedeutet gewöhnlich .../bey Kant ...“; „überhaupt/insbesondere“ sind die üblichen Formeln, die eine solche Unterscheidung einleiteten), oder es wurden die semantischen Verschiebungen registriert, die innerhalb des kantischen Idiolektes gültig waren und deswegen Verwirrung und Mißverständnis verursachen könnten („X bedeutet nach dem bisher gewöhnlichen transscendentalen Realismus .../nach dem Kantischen Idealismus ...“ – Schmid 1786 und folgende Ausgaben, ‚Äusserer Gegenstand‘; „nach Des Cartes, Leibnitz und Wolff .../nach Kant ...“ – Schmid 1795, ‚Geist‘). Angaben eines speziellen Anwendungsbereichs (z. B. „moralisch“, „in sittlicher Rücksicht“) und diatechnische Markierungen sind nicht häufig, denn der Fachbereich ist relativ einheitlich, sind jedoch ggf. vorhanden, vor allem in Heydenreich (1794). Im Falle von ‚abstrahiren“ unterschied Schmid nicht nur zwei Fachbereiche, in denen der Terminus benutzt war (Chemie, Philosophie), sondern hob auch die unterschiedliche Verbvalenz und den fachspezifischen Gebrauch hervor: „Der Chemiker abstrahirt etwas/der Philosoph abstrahirt von etwas“ (Schmid 1795 und 1798, ähnlich bei Mellin 1800 ‚Absehen‘). Kommunikativ-pragmatische Zeichenwerte, denen man heute großen Wert beilegt, die aber in einer solchen begriffsgeschichtlichen Auffassung der Lexikographie keine Rolle spielten, wurden sonst kaum einbezogen. Für die Erläuterung im engeren Sinne wurden alle Definitionsarten gebraucht. Die klassische artistotelische Definition mit Angabe von genus proximum und differentia specifica, ist für die Beschreibung und Konsolidierung eines Fachwortschatzsystems besonders hilfreich. Trotzdem ist sie quantitativ nicht vorwiegend, und manchmal wird sie nicht streng durchgeführt, so dass ihre Merkmale nicht ausreichend definiert sind. Häufig sind Erläuterungen, wo das Definiens aus einigen Merkmalangaben, meistens Beschaffenheits- und/oder Funktionsmerkmalen besteht (explikative Definition), oder aus der Angabe der Verfahren, mit denen der betreffende Gegenstand hergestellt oder ermit-
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telt wird (operationale Definition).40 Es gibt sogar Definitionen ex negativo, und vertreten sind auch synonymische und wortassoziative Definitionen. Lexikographisch gesehen, sind nicht alle Definitionsverfahren gleich effizient; und für die lexikographisch nicht geschulten Verfasser dieser ersten Kant-Lexika war der Schritt vom Definieren zum Erklären nicht immer deutlich zu trennen. So war es manchmal nicht die Bedeutung, sondern der Kommentar, der den Kern des Eintrags bildete – in Mellins Encyclopädischem Wörterbuch war es sogar die Regel. Hier wurden kennzeichnende Schwerpunkte hervorgehoben, wichtige Kontextelemente berücksichtigt, die Bedeutung des Begriffs innerhalb der kantischen Lehre und in Vergleich zu anderen Denkern dargestellt; viele Begriffe hatten auch unterschiedliche Deutungen erfahren, die es kritisch aufzuarbeiten galt. Der Umfang des Kommentars wuchs mit der Zeit: In den ersten Ausgaben von Schmid (1786 und 1788a) und in Heinicke (1788) war diese Position für jede Bedeutung eines Lemmas vorgesehen; sie enthielt die Angabe von weiteren Textstellen, wo der gleiche Begriff vorkam und in welcher Beziehung, Verweise auf die Sekundärliteratur und kurze Anmerkungen zur richtigen Auslegung des Fachworts. In den späteren Ausgaben (1795 und 1798) wurde oft eine abschließende Auswertung des Begriffs hinzugefügt, wo sich Schmids Rolle als KantAusleger besser profilierte. So konnte er hier zu den Positionen der Widersacher oder zu den Besprechungen Stellung nehmen, die in der Zwischenzeit erschienen waren. Dadurch wurde die fachliche Diskussion der Zeit aufgearbeitet und vorangebracht. Bei Heydenreich (1794) waren Erläuterung und Kommentar als einzige Position aufgefasst und ergänzten sich gegenseitig; Mellin (1798 und 1800) verzichtete absichtlich auf den Kommentar und gab nur ein knappes Zitat oder ein Beispiel zur Veranschaulichung und praktischen Anwendung des Lemmas. Anders war es in seinem größeren Werk (Mellin 1787–1804), dessen Titel schon den Anspruch einer exhaustiven begriffsgeschichtlichen Darstellung und die Berücksichtigung enzyklopädischer Aspekte als primäres Anliegen kundtat. Jeder Begriff wurde dort Gegenstand nicht so sehr eines lexikographischen Artikels, sondern eher einer philosophischen Abhandlung. Dabei sind auch Lemmata vertreten, die an sich keine Fachwörter des Kritizismus waren, sondern vorwiegend historisches Interesse hatten, wie z. B. die Artikel, die unterschiedlichen Philosophen gewidmet sind (von den Klassikern Aristoteles, Plato, Anaxagoras, zu den modernen 40
Zu den unterschiedlichen Definitionsarten vgl. Roelcke 2005, 53–61. Einige Beispiele aus den Wörterbüchern: ‚Abgötterey‘: „die Religion, in der ein Idol verehrt wird“ (Mellin 1798, aristotelische Definition). ‚Hypothypose‘: „Darstellung, Versinnlichung“ (Schmid 1798, synonymische Def.). ‚Tugenden‘: „Tugenden entstehen durch Beziehung des Einen Princips der Tugend auf mehrere moralische Gegenstände“ (Schmid 1798, operationale Def.). ‚Tugend‘: „Tugend ist nicht [...] sondern [...]“ (Schmid 1798, Def. ex negativo). ‚Klugheit‘: „Fähigkeit der empirischen praktischen Vernunft, Regeln für die zweckmässigste Befriedigung des Triebes nach Vergnügen zu bilden“ (Heydenreich 1794, explikative Def.). ‚Kühn‘: „der die Gefahren wagt, ob er sie gleich kennt. Er ist von herzhaft unterschieden, welches letztere bedeutet, dass man nicht vor den Gefahren erschrickt; vom Muth aber darin, dass der, welcher ihn hat, die Gefahr mit Überlegung wagt“. (Mellin 1800, wortassoziative Def.). Mischformen sind auch oft belegt.
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Descartes, Leibniz, Locke, Berkley). Der lange Eintrag über ‚Leibnitz‘ (Mellin 1787– 1804, III, 790–867) zeigt den typischen Aufbau: zuerst eine biographische Skizze, anschließend die Auflistung der Werke des Philosophen, dann eine Darstellung seiner Rezeption im 18. Jahrhundert. Da diese im Hinblick auf die Themen erfolgte, die Kant wiederaufgenommen und weiterentwickelt hatte, nahm auch Mellin implizit Stellung im Streit gegen Eberhard und andere Wolffianer ein. In elf nummerierten Abschnitten wird dann jeweils ein Schwerpunkt der leibnizischen Philosophie erörtert, wobei von der Analyse, die Kant selbst in seinen Schriften davon gemacht hatte, ausgegangen wird. Auf diese Weise kann der Verfasser für jeden Aspekt Unterschiede, Abweichungen und Weiterentwicklungen herausstellen. Das Hauptanliegen der frühen Kantianer war also insgesamt nicht, eine lexikalische Dokumentation zusammenzustellen, sondern eine begriffszentrierte, didaktisch nutzbare Darstellung der philosophischen Inhalte des Kritizismus zu bieten.41 Sie hatten die außergewöhnliche Tragweite des Kritizismus durchschaut und wollten seine Durchsetzung fördern. Sie fühlten sich aber dem ‚Geist‘ der kritischen Philosophie, die sich übrigens noch in der Phase der Fortentwicklung befand, noch nicht ganz gewachsen, und gerade diesem Unbehagen verdanken wir die Entstehung der Kant-Lexikographie.
5. Das Forschungsprojekt Kantiana Die Kant-Anhänger versuchten die Schwierigkeiten der Interpretation zu bewältigen, indem sie sich zuerst auf den ‚Buchstaben‘ der kantischen Werke konzentrierten. So sammelten und untersuchten sie mit Geduld und Aufmerksamkeit die einzelnen Wörter in der Absicht, „zerstreute Lichtstrahlen“ einzufangen, um sie dem Auge sichtbarer zu machen (Schmid 1786, Vorrede), weil sie einhellig der Meinung waren, jede Interpretation sollte auf einer festen Textgrundlage und auf einem korrekten Textverständnis basieren. So verfassten sie über 7000 Wörterbuchartikel, deren Informationsgehalt in Bezug auf die kantische Philosophie relativ hoch ist; relativ niedrig ist er hingegen in Bezug auf den kantischen Sprachgebrauch, wie auch das Fehlen jeglicher grammatischen und kommunikativ-pragmatischen Deskription bestätigt. Nichtsdestoweniger sind diese Artikel für den Lexikographen von besonderem Interesse, da die Lexikographie hier in einer dreifachen Rolle auftritt: Sie erscheint 1. als kognitives Hilfsmittel, um sich komplexe Inhalte anzueignen; 2. als deskriptives Verfahren zur Beschreibung dieser Inhalte aufgrund ihrer konkreten Versprachlichung in einer spezifischen Terminologie 41
Untersuchungen über philosophische Wörterbücher aus unterschiedlichen Jahrhunderten zeigen, dass die lexikographische Anlage in solchen Werken immer zugunsten des philosophischen Inhalts zurücktrat (Roelcke 2002, 65 und passim): Roelcke sieht den Grund dieser Konstante darin, „dass sich gerade die philosophische Wissenschaft als eine ausgesprochen diskursive Disziplin nur sehr schwer mit einer verhältnismäßig streng strukturierten Textform, wie sie Wörterbüchern im Allgemeinen zu Grunde liegt, in Verbindung bringen lässt“.
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bzw. in einem bestimmten Idiolekt und 3. als zuverlässiges (didaktisches) Instrument zu deren Vermittlung und Popularisierung. Die Vernetzung und das ‚Spannungsverhältnis‘ dieser drei Ebenen, die sich bei jedem Verfasser und in jedem Werk anders gestalten, machen diese Wörterbuchartikel jeder für sich und aus einer vergleichenden Perspektive einer genaueren Untersuchung lohnenswert. Schwerlich kann man nun Rosenkranz zustimmen, als er die Arbeiten der ersten KantAnhänger als eintönig und langweilig brandmarkte – ein Urteil, das jene Werke der Vergessenheit preisgab. Das 2010 entstandene Projekt Kantiana setzt sich nunmehr das Ziel, die frühe Kant-Rezeption in Deutschland und in Italien zu untersuchen, um dadurch die Aufmerksamkeit auf diese auffällige Lücke der Kant-Forschung zu lenken. Das Rahmenprojekt hat dabei drei Schwerpunkte: die ersten Kant-Kommentare bis 1804, italienische Übersetzungen der kantischen Werke aus dem 19. Jahrhundert und, last but not least, die frühe Kant-Lexikographie. Zum dritten Punkt ist ein vergleichendes Wörterbuch in Vorbereitung, das alle lexikographischen Einträge aus Glossaren und Kant-Lexika berücksichtigt, die zwischen 1786 und 1804 erschienen sind.42 Als open source konzipiert und als Database strukturiert, sammelt und vergleicht es die einzelnen Artikel zum selben Lemma, die dann synoptisch dargestellt werden, so dass die verschiedenen Stufen in der Aufarbeitung der Terminologie und in der ersten Aneignung der neuen Begriffe deutlich werden. Die insgesamt 7222 Einträge, die sonst in neun Wörterbüchern verteilt sind, wurden unter etwa 2400 ‚Hyperlemmata‘ gruppiert,43 ihre Struktur und Inhalte werden schematisch in einer Tabelle zusammengefasst und nebeneinander gestellt, so dass sie auf einem Blick überschaubar sind. Ein zweifaches Lemmatisierungsverfahren hat es ermöglicht, Wörter sowohl nach der heutigen, als auch nach ihrer historischen Schreibung recherchierbar zu machen. In der Startphase von Kantiana wurden alle Korpus-Materialien (Übersetzungen, Kommentare und Lexika) digitalisiert, die dann in den entsprechenden Sektionen der Webseite zugänglich gemacht werden. Auch für das Wörterbuch ist es in der Fortsetzung des Projekts vorgesehen, dass man einen direkten Zugriff zu den Quellen bekommt: Ein Klick wird von der synoptischen Tabelle, die alle Einträge zu einem bestimmten Lemma zusammenfasst, zu den digitalisierten Seiten der betreffenden Kant-Lexika führen. Schaut man sich die Anzahl der in jedem Lexikon aufgenommenen Lemmata an (1228 in Mellin 1798 aber 1416 in seinem enzyklopädischen Wörterbuch, 1428 in der letzten Ausgabe von Schmid), und vergleicht man diese Zahl mit den neueren KantLexika (Eisler 1930 führt 1250 Lemmata auf), merkt man, dass der Grundkern der kan42
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Korpus-Beschreibung, lexikographische Richtlinien, statistische Informationen und Vorarbeiten befinden sich auf der Webseite des Projektes, das von Dr. Giuseppe Landolfi Petrone geleitet wird und von der Università della Valle d’Aosta finanziert wurde: www.kantiana.it (Sektion: Dizionario). Bisher sind Buchstaben A, C, O, Q, X und Y ausgearbeitet worden (Stand 30. 11. 2011). Das Hyperlemma ‚objektiv‘ (Adj./Adv.) sammelt zum Beispiel 8 Artikel: ‚obiectiv‘ aus Schmid (1786); viermal ‚objectiv‘ aus Schmid (1788a; 1795 und 1798) und Mellin (1797–1804); ‚obiektiv‘ aus Heinicke (1788); ‚objektiv gültig‘ und ‚objektive Realität‘ aus Heydenreich (1794).
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tischen Terminologie quantitativ von Anfang an komplett inventarisiert wurde. Was sich geändert hat, ist der Umfang der einzelnen Artikel, ihr Schwergewicht und ihre Relevanz im Hinblick auf die zeitgebundenen Interessen der Forschung in diesem Bereich. Als Autorenwörterbuch und diachronisches Wörterbuch zugleich dokumentiert das vergleichende Wörterbuch von Kantiana die langsame und nicht gerade reibungslose Durchsetzung des kantischen Denkens auf der philosophischen Szene des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In dieser Hinsicht sind die ersten Kant-Lexika ein aufschlussreiches Zeugnis: Sie zeugen von der Lebendigkeit der damaligen Kulturszene in Deutschland und ermöglichen uns, die ersten Phasen der Kant-Rezeption und die Geschichte der kantischen Terminologie zu rekonstruieren; sie zeigen, welche konzeptuellen Hindernisse bewältigt werden mussten und wie mühsam es war, „Wacken und Klötze“ aus dem Weg zu räumen, damit der Kritizismus seinen unaufhaltsamen Siegeszug durch ganz Europa antreten konnte.
6. Zitierte Literatur 6.1. Kant-Wörterbücher Eisler, Rudolf (1930): Kant Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlass. Berlin. Heinicke, Samuel (1788): Wörterbuch zur Kritik der reinen Vernunft und zu den philosophischen Schriften von Herrn Kant. Preßburg. Heydenreich, Karl Heinrich (1794): Propaedeutick der Moralphilosophie nach Grundsätzen der reinen Vernunft. 3 Bde. Leipzig. Mellin, Georg Samuel Albert (1797–1804): Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, oder Versuch einer fasslichen und vollständigen Erklärung der in Kants kritischen und dogmatischen Schriften enthaltenen Begriffe und Sätze. 6 Bde. Züllichau/Leipzig. Mellin, Georg Samuel Albert (1798): Kunstsprache der kritischen Philosophie, oder Sammlung aller Kunstwörter derselben, mit Kants eigenen Erklärungen, Beyspielen und Erläuterungen; aus allen seinen Schriften gesammelt und alphabetisch geordnet. Jena/Leipzig. Mellin, Georg Samuel Albert (1800): Anhang zur Kunstsprache der kritischen Philosophie, welcher die, in dieser Sammlung von Erklärungen noch fehlenden, hauptsächlich aber die in Kants Anthropologie und Streit der Fakultäten befindliche, Erklärungen enthält. Jena. Schmid, Carl Christian Erhard (1786): Critik der reinen Vernunft im Grundrisse zu Vorlesungen nebst einem Wörterbuche zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften. Jena. Schmid, Carl Christian Erhard (1788a): Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften nebst einer Abhandlung. Zweyte vermehrte Ausgabe. Jena. Schmid, Carl Christian Erhard (1795): Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften nebst einer Abhandlung. Dritte vermehrte Ausgabe. Jena. Schmid, Carl Christian Erhard (1798): Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften nebst einer Abhandlung. Vierte vermehrte Ausgabe. Jena.
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Laura Balbiani
6.2. Weitere Quellen Baumeister, Friedrich Christian (1735): Philosophia Definitiva Hoc Est Definitiones Philosophicae Ex Systemata celeberr. Wolfii in unum collectae. Wittemberg. Beck, Jacob Sigismund (1794): Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Herrn Prof. Kant. Riga. Descartes, René (2005): Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch-Deutsch. Übers. und hrsg. von C. Wohlers. Hamburg [Erstausgabe: Principia philosophiae. Amsterdam 1644]. Goethe, Johann Wolfgang (1965–1978): Berliner Ausgabe: Poetische Werke. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Hrsg. von einem Bearbeiter-Kollektiv unter Leitung von S. Seidel. Berlin/Weimar. 22 Bde. Grillo, Friedrich (1795): Druckfehleranzeige in den Schriften des Herrn I. Kant. In: Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes, I, 37–53. Hausius, Karl Gottlob (1793): Materialien zur Geschichte der critischen Philosophie. Leipzig. 3 Bde. Kant, Immanuel (1797–1798): Kants sämmtliche kleine Schriften. Nach der Zeitfolge geordnet. 4 Bde. Königsberg/Leipzig. KGS: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften (und Nachfolgern). Berlin, 1900 ff. Mantovani, Vincenzo (Übersetzer) (1820–1822): Critica della ragione pura di Manuele Kant, traduzione dal tedesco. 8 Bde. Pavia. Mellin, Georg Samuel Albert (1794–1795): Marginalien und Register zu Kants Kritik der Erkenntnisvermögen. 2 Bde. Züllichau. Reinhold, Carl Leonhard (1792): Briefe über die Kantische Philosophie. Zweiter Band. Leipzig. Rink, Friedrich Theodor (Hg.) (1800): Sammlung einiger bisher unbekannt gebliebener kleiner Schriften von I. Kant. Königsberg. Schmid, Carl Christian Erhard (1788b): Critik der reinen Vernunft im Grundrisse. Zweyte verbesserte Auflage. Jena. Schultz, Johann (1784): Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Kritik der reinen Vernunft. Königsberg. Schultz, Johann (1789–1792): Prüfung der Kantischen Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde. Königsberg.
6.3. Sekundärliteratur Adickes, Erich (1970): German Kantian Bibliography. Würzburg [Nachdruck der Ausgabe: 1895–1896]. Balbiani, Laura (2007): La sfida della traduzione e la „Critica della ragion pura“ in Italia. In: Rivista di Filosofia Neo-Scolastica 99, 2, 233–260. Becker, Christoph (1998): Sprachkonzeptionen der deutschen Frühaufklärung. Wörterbuch und Untersuchung. Frankfurt/M. Blackall, Eric A. (1978): The Emergence of German as a literary Language 1700–1775. Ithaca/London. Canone, Eugenio (1997): I lessici filosofici latini del Seicento. In: Il vocabolario della République des Lettres. Terminologia filosofica e storia della filosofia, problemi di metodo. Atti del convegno internazionale in memoriam di Paul Dibon (Napoli, 17–18 maggio 1996). A cura di M. Fattori. Firenze, 93–114. Duichin, Marco (2007): Tra frenologia e criticismo: Vincenzo Mantovani e la prima traduzione europea della Critica della ragion pura (1820–1822). In: Studi kantiani 20, 117–131.
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Laura Balbiani
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FRANZISKA MÜNZBERG
Einzigartigkeiten: Pluralrestriktionen im Wörterbuch Für einen einzigartigen Lehrer
1. Lücken im Paradigma und Lücken im Gebrauch 2. Pluralformen im Wörterbuch 3. Plurallesarten 4. Einzigartigkeiten: mehr Pluralfähigkeiten 5. Zitierte Literatur
Wer eine korpusgestützte Untersuchung anstellt, ist zu Recht stolz auf hohe Belegzahlen und statistische Aussagekraft. Aber auch das Seltene und das Einzigartige hat einen Reiz1, und darauf konzentrieren sich die folgenden Recherchen und Vorschläge. Selbst das Nichtvorhandene kann morgen schon belegbar sein – zum Beispiel Pluralformen zu Lemmata, die in Wörterbüchern Grammatikangaben wie „ohne Plural“ erhalten. Am Beispiel von Pluralformen besonders zu Feminina mit Derivationssuffix -heit/-(ig)keit werden unterschiedliche Möglichkeiten diskutiert, wie man mit dem Seltenen, mit dem Einzigartigen und mit dem Nichtvorhandenen oder Noch-nicht-Nachweisbaren in der Lexikografie und in sprachtechnologischen Anwendungen umgehen kann. Für Anregungen und Korrekturen danke ich herzlich Vilmos Ágel, Peter Eisenberg, Peter Gallmann, Klaus Mackowiak, Damaris Nübling, Werner Scholze-Stubenrecht, Anatol Stefanowitsch und Lutz Wind. Die Idee zu diesem Versuch gab mir die Mitarbeit an der 7. Auflage des Duden-Universalwörterbuchs, DDUW (2011), unter der Leitung von Werner Scholze-Stubenrecht, und am Vollformenprojekt meiner Kollegen aus der Duden-Sprachtechnologie.
1. Lücken im Paradigma und Lücken im Gebrauch Für die Deklination eines deutschen Substantivs sieht die Schulgrammatik traditionell acht Einträge vor – vier Kasus jeweils im Singular und im Plural. Hier eine unter vielen möglichen Notationen: 1
Vgl. Štícha 2011.
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Nom. Gen. Dat. Akk.
Singular das Gras des Grases dem Gras (evtl.: Grase) das Gras
Plural die Gräser der Gräser den Gräsern die Gräser
Weil je nach Deklinationsklasse einzelne Formen genau gleich lauten (des, dem, den, die, der, den, die Menschen), lässt sich die Tabelle auch auf weniger als acht Einträge verkleinern, vor allem wenn die Formen ohne ein zugehöriges Artikelwort notiert werden: Nom. Singular Mensch
nicht Nom. Singular Menschen
Wie auch immer geordnet und notiert wird, einzelnen Substantiven scheinen im Vergleich zu anderen Substantiven Formen zu fehlen, mit denen diese Tabellenzeilen gefüllt werden: Im Gegenwartsdeutsch gibt es keine Singularform zu Ferien oder Memoiren und (außer bei scherzhaft-kreativem Sprechen?) auch keine Singularform zu Leute, weswegen man bei solchen Pluraliatantum auch von Lücken in der Tabelle oder von einem defektiven Paradigma sprechen kann. Die Lücke oder der Defekt im Paradigma kommt nicht durch das Fehlen einer einzelnen Form zustande, sondern sie betrifft gleich alle vier denkbaren Positionen, die für den Singular vorgesehen sind. Das Gegenstück zu den Pluraliatantum scheinen sogenannte Singulariatantum zu sein, bei denen man im Wörterbuch gewöhnlich keine Pluralformen angeben würde: Wasserstoff oder Akazienhonig, Besonnenheit oder Gemütlichkeit.2 Und doch ist das typische Singularetantum nicht einfach die Umkehrung des typischen Pluraletantums.3 Menschen oder Computerprogramme können zu Akazienhonig, Besonnenheit und Gemütlichkeit mühelos Formen wie Akazienhonige, Besonnenheiten und Gemütlichkeiten bilden. Bei Wasser/Wässer ist eine zusätzliche Schwierigkeit zu überwinden: Man muss sich zwischen Pluralvarianten mit und ohne Umlaut entscheiden. Aufwendiger ist der Rückschluss von die Leute, die Ferien, die Memoiren auf der/das Leut oder die Feria/Ferie (das Ferium?), die (der/ das?) Memoire. Der Aufwand entsteht vor allem dadurch, dass dem Singular ein Genus zugeordnet werden muss; Regeln dafür zeigt Nübling (2008).4 Die „Lücken“, die sich in den Pluralzeilen der Morphologietabellen auftun, sind nicht genuin morphologische Lücken, denn an den Formen selbst ist abgesehen von etwas Varianz (wie etwa Mundschutze vs. Knieschütze im Dudenkorpus) meist nichts 2
3
4
Das DDUW (2011) gibt Wasserstoff, Besonnenheit und Gemütlichkeit ohne Plural an, Akazienhonig ist noch nicht verzeichnet. Beim Vergleich zwischen unterschiedlichen Wörterbüchern trifft man meist auf erhebliche Schwankungen; vgl. Mugdan 1983, 208. Karlsson 2000, 650: „Although there are a few absolute and exceptionless instances of defectivity (cf. 2.1 [Pluralia tantum nouns]), most defectivity phenomena are in fact just instances of special rare usage, often explicable in semantic and/or pragmatic terms.” Nübling 2008, 312, Fußnote 14.
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auffällig oder verkehrt.5 Manche Pluralformen können einfach nur schlecht nachgewiesen werden, und normalerweise liegt das an der Bedeutung des Substantivs: Zu den typischen Verwendungsweisen von Besonnenheit und Gemütlichkeit beispielsweise passt die Vorstellung der Zählbarkeit oder einer Mehrzahl weniger gut. Man stellt sich solche Abstrakta, die Eigenschaften oder Stimmungen bezeichnen, nicht als abgrenzbare Einzelstücke6 vor. Wenn etwas „gemütlicher“ wird, hat es darum in der Regel nicht ein oder zwei „Gemütlichkeiten“ mehr, sondern „mehr Gemütlichkeit“. Oder könnte zu einer „Art von Gemütlichkeit“ eine zweite „Art von Gemütlichkeit“ hinzugekommen sein? Wenn eine besondere Ausprägung von „Gemütlichkeit“ bezeichnet werden soll, wird die Verwendung der Form Gemütlichkeiten wahrscheinlicher. Mit etwas Fantasie kann man das Substantiv Gemütlichkeit auch die erste der beiden Proben für Zählbarkeit bestehen lassen, die Gallmann in der Dudengrammatik (2009, Randnummer 258) vorschlägt. Das ist die Verbindung mit dem indefiniten Artikel: eine typisch kurpfälzische Gemütlichkeit; eine Gemütlichkeit, die es so nur in der Kurpfalz geben kann; in älterer Einzelbedeutung: daher haben jene ersten (bilder) eine gemüthlichkeit ohne gleichen, weil sie unmittelbar aus der seele des groszen meisters hervortraten (Goethe, zit. nach Grimms Wörterbuch (1897), „Gemütlichkeit“; Pluralbelege sind nicht aufgeführt, genauso wenig wie im FWB zum Stichwort gemüetekeit). Und tatsächlich lässt sich der Intuitionstest durch Daten bestätigen: Für das Muster „[ word = "eine" | word = "einer"] [c = "adj"]? [word = "Gemütlichkeit"]“, so lautet eine entsprechende Suchanfrage an das Dudenkorpus, lassen sich im März 2011 54 Treffer finden. Beliebt (12 Belege) ist die Kollokation mit gewiss: eine gewisse Gemütlichkeit. Dieses gewiss prädiziert nicht, es (in)determiniert und zeigt wie die Verwendung des Plurals eine Sortenlesart an.7 An der zweiten Probe, der Verbindung mit einem Kardinalzahladjektiv, droht man zu scheitern, aber vielleicht ist sie möglich: Kulturwissenschaftler unterscheiden zwei Gemütlichkeiten, die rheinische und die nichtrheinische. Das Dudenkorpus liefert hierzu keine Belege. Beispiele nur mit indefinitem Artikel oder Kardinalzahl – also ohne weitere Attribuierung oder Quantifizierung und ohne Kontrastbetonung – wirken auffälliger: ?Hier haben wir eine Gemütlichkeit. Und in der Tat: Versucht man Fälle als Fehlbelege herauszufiltern, in denen etwas zwischen dem indefiniten Artikel und Gemütlichkeit steht oder in denen ein Attributsatz an die Nominalgruppe eine/einer Gemütlichkeit anschließt, finden sich nur noch 3 Belege. Offensichtlich kann die neue Lesart beson5
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Karlsson 2000, 650. Die Pluralbildung für Substantive im Deutschen beschreibt Gallmann im Dudenband 4 (2009, Randnummern 278–296). Beeindruckende Beispiele für Unsicherheiten bei der Form präsentiert allerdings Eisenberg 2009. Eisenberg 2006, 158–166, unterscheidet zunächst bei Konkreta und dann auch bei Abstrakta zwischen „Individualität“ – das ist hier gemeint – und „Numerusfähigkeit“ der Substantive. Einige Treffer mehr (darunter dann allerdings auch Fehlbelege, in denen der indefinite Artikel nicht zu Gemütlichkeit selbst gehört) erhält man, wenn man außer einem einzigen Adjektiv noch weitere Wortformen zwischen dem indefiniten Artikel und Gemütlichkeit zulässt. Darunter sind Belege für Gemütlichkeit in Appositionen: eine Art Gemütlichkeit.
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ders dann auf ein abgrenzbares Einzelstück oder Individuum bezogen werden, wenn man die Abgrenzung von anderen Sorten durch Attribute explizit macht.8 Die Vorhersage, dass Gemütlichkeiten sich im Dudenkorpus finden lassen würde, trifft zu. In diesem vielleicht untypischen Fall waren die 13 Pluralbelege weniger zahlreich als die Kontrollbelege mit dem indefiniten Artikel und einem Attribut. Findet man aber umgekehrt eine Pluralform zu einem Substantiv, so folgt daraus nicht unbedingt, dass sich im selben Korpus auch sinnvolle Konstruktionen mit unbestimmtem Artikel belegen lassen. Die beiden Proben sind daher wohl nur in der Richtung anwendbar, die Gallmann beschreibt. Bei der Beantwortung der Frage, ob wir bei der Suche nach Pluralformen standardmäßig auch die Artikelprobe machen sollten, könnte eine statistische Untersuchung mit Datenmaterial in der Größenordnung des Dudenkorpus helfen. Dass es mehrere Sorten Hundefutter allein schon für Welpen gibt, leuchtet vor allem Tiernahrungsherstellern und -verkäufern unmittelbar ein: Das ist ein besonders gutes Hundefutter. Wir haben zwanzig Hundefutter für Welpen getestet. Und sogar: „Wow“ kenne ich – das ist ein Hundefutter.9 Als Pendant zu einem Konkretum, das mass noun (eine Stoffbezeichnung) ist, verwendet man vor allem in Fachsprachen regelhaft eine Einzelbedeutung, die sich auf ein Individuum, nämlich auf eine Sorte der bezeichneten Substanz bezieht. Außerhalb dieser Fachsprachen klingt der sogenannte Sortenplural bei Wässern/Wassern, Futtern oder Schrotten ungewohnt, weil diese Substantive häufiger als Bezeichnungen von Substanzen bzw. Nicht-Individuen gebraucht werden (mit Wasser, Futter, Schrott handeln). Eisenberg (2006, 161) sieht hier jedoch eine historische Entwicklung: Fachsprachliche Sortenplurale gingen im Laufe der Zeit in die Gemeinsprache ein – und zwar nicht nur als Einzelfälle, sondern systematisch, denn man gehe mit Substanzen differenzierter um und man nehme sie differenzierter wahr als früher. Welcher Zeitpunkt mit „früher“ genau gemeint ist, lässt Eisenberg offen, wahrscheinlich weil eine ungebrochene Entwicklung gemeint ist. Die Einteilung nach „Individualität“ in common nouns, mass nouns, proper nouns/ names und die Einteilung nach „Numerusfähigkeit“ in Substantive mit und ohne Pluralrestriktionen nimmt Eisenberg (2006, 161; 476, Lösung zu Aufgabe 50 b) bei den Abstrakta schlüssig genau wie bei den Konkreta vor. Lässt sich nun bei den Abstrakta ein ähnlicher Sprachwandel behaupten? Die gedanklichen Operationen, die zur Sortenlesart
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Diesen Hinweis gab mir Vilmos Ágel. Adjektivattribute übernehmen oder ergänzen morphologisch (Ágel 1996, 35) und semantisch (Ágel 1996, 20) die Funktion von Determinern. 32 Trockenfutter für Hunde, darunter 25 für ausgewachsene Tiere und 7 auch für Welpen. (test 11/2010) Im Test: 89 Hundefutter in 8 Testberichten von Stiftung Warentest und anderen Magazinen. Die besten Hundefutter bei Testberichte.de. (www.testberichte.de, 15.11.2010) Im DDUW (2007) wird zu Futter in der Bedeutung „Tiernahrung“ keine Pluralendung verzeichnet (im Gegensatz zu Futter als „Stoff“); diese Eigenschaft „erben“ die Komposita, soweit dort keine eigenen Grammatikangaben gemacht werden. Im DDUW (2011) wurden Pluralangaben zu Futter nachgetragen.
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bei Hundefutter führen, gleichen schließlich denen, die zur Sortenlesart (wie Gallmann nenne ich sie bewusst nicht anders als bei den Konkreta10) bei Gemütlichkeiten führen. Eine grammatische Pluralrestriktion gibt es bei noch nicht voll lexikalisierten nominalisierten Infinitiven: „Nachvollziehbare Versehen“ sind schon deswegen verzeihlich, weil der substantivierte Infinitiv Versehen lexikalisiert ist.11 $achvollziehbare Sichbeim-Zählen-Versehen hingegen dürften genauso wenig akzeptabel sein wie unnötige Einkaufen anstelle unnötiger Einkäufe. Vom empirischen Befund her ist klar: Hat jemand in einem bestimmten Kontext eine Pluralform verwendet und wird diese von seinen Adressaten als sinnvoll akzeptiert, so ist das betreffende Substantiv im Kontext pluralfähig. Das kann daran liegen, dass es in einer bekannten Einzelbedeutung verwendet wurde, die Zählbarkeit nahelegt. Es kann aber auch daran liegen, dass es vom Autor und von den Adressaten ad hoc eine nachvollziehbare Lesart erhalten hat, die es pluralfähig macht. Wenn der Autor mit diesem Substantiv auch nur in diesem einen Kontext mit einer Pluralform etwas Zählbares nachvollziehbar bezeichnet, kann das Substantiv nicht mehr „unzählbar“ sein – jedenfalls nicht mehr „pluralunfähig“. Stößt die Pluralform bei den Adressaten jedoch auf Ablehnung oder Unverständnis (wird sie z. B. als Tippfehler gelesen), so dürfte man sie nicht als Beweis der Pluralfähigkeit werten. Insofern ist es richtig, wenn man behauptet, dass der Kontext bzw. die Übereinkunft von Autor und Adressaten die Semantik und damit die Pluralfähigkeit des Substantivs festlegt. Der Kontext, die einzelne Autorin oder die Leserschaft eines einzelnen Textes kann aber auch nur das. Im Unterschied zur „Schon-mal-Gezähltheit“ lässt sich Nichtzählbarkeit oder Pluralunfähigkeit nicht durch eine Menge an Kontexten belegen. Insofern haben Lexikografinnen kaum eine andere Wahl, als Zählbarkeit und Pluralfähigkeit wie „Eigenschaften“ von Einzelbedeutungen und Lexemen zu behandeln und sich damit abzufinden, dass die Untersuchung neuer Teilkorpora immer auch zu neuen „Eigenschaften“ einzelner Substantive führen kann: Feststellen lassen sich diese „Eigenschaften“ nicht allein durch Nachdenken (z. B. merkmalsemantische Denkspiele) und Fantasie (z. B. im Ersinnen pluralträchtiger Kontexte). Man kommt also wieder beim Kontext an, speziell: bei der endlichen Menge von Kontexten in einem Korpus und, wenn viel Geld und Zeit zur Verfügung stehen, bei den Grammatikalitätsurteilen von Probanden zu Wortverwendungen in Kontexten.
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Dudenband 4 (2009, Randnummer 262). Nach Dudenband 7, „sehen“, seit dem 17. Jh.
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2. Pluralformen im Wörterbuch Wahrscheinlich gibt es nur zwei wirklich einfache und saubere Methoden, mit denen sich Lexikografen diesen Befunden gegenüber verhalten können. Möchte man fertige Sprachdaten automatisch verarbeiten, wird man eher geneigt sein, im Lexikon oder im Morphologiemodul alle äußerlich möglichen Formen zu bilden – damit sie als Wortformen erkannt werden können, wenn sie denn einmal vorkommen sollten. Geht es jedoch um eine möglichst genaue Beschreibung des Sprachgebrauchs z. B. einer bestimmten Epoche oder möchte man möglichst unauffällige sprachliche Daten automatisch erzeugen, dann wird man schlicht diejenigen Pluralformen verzeichnen, die man in einem relevanten Textkorpus tatsächlich gefunden hat. Zur Wahl stehen dabei erstens diejenigen Formen, die als Pluralformen – oder Plurale? – identifiziert werden müssen (mit allen Wassern gewaschen; Mineralwässer), zweitens darüber hinaus auch diejenigen, die man unter Umständen als Plurale lesen könnte (eher Singular: Sie suchen Wasser aller Art und Güte). Das ist die Vorgehensweise des streng korpusbasierten FWB.12
2.1. Wörterbuchbenutzung Führt man sich die Zwecke des FWB vor Augen, so leuchtet auch schnell ein, dass diese saubere Methode für ein Wörterbuch Frühneuhochdeutsch – Gegenwartsdeutsch auch eine praktische ist. Schließlich verwendet kaum jemand das FWB, um einen frühneuhochdeutschen Text zu verfassen. Warum sollte er dann im FWB nachschlagen, um eine noch unbelegte Pluralform neu zu bilden? Das FWB hilft bei der Rezeption von Texten. Die Dudenredaktion wendet ebenfalls praktische Methoden an – genauso sauber wie die des FWB sind sie aber nicht. Dass praktisch und sauber hier auseinanderfallen, liegt daran, dass die für ein sehr breites Publikum gedachten Duden-Wörterbücher von einem Großteil der Benutzerinnen und Benutzer anders verwendet werden als das FWB. Duden-Wörterbücher verzeichnen die Varietäten, die von ihren Benutzern aktiv verwendet werden, und dienen nicht nur der Rezeption, sondern auch der Produktion, sind also Hilfsmittel beim Schreiben. Es ist durchaus denkbar, dass eine Autorin eine ihr bis dahin unbekannte Pluralform bilden möchte, weil sie eine Mehrzahl ausdrücken will (oder weil sie beim Scrabblespiel viele Punkte erreichen will). Dann wird sie sich dafür interessieren, wie diese Form nach der Meinung der Lexikografinnen lauten würde und ob man diese Form grundsätzlich für brauchbar hält. Und brauchbar ist die Pluralform sicherlich immer dann, wenn eine Einzelbedeutung vorstellbar ist, zu der die Idee der Zählbarkeit passt. Selbst in einem sehr großen und vergleichsweise ausgewogenen Kor12
FWB, Bd. I, 78. Da bei der Arbeit am FWB für morphologische Angaben keine Volltextsuchen in der elektronischen Fassung des Korpus ausgeführt werden, ist es allerdings möglich, dass tatsächlich vorhandene Formen bei der manuellen Exzerption nicht entdeckt wurden.
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pus können aber nicht alle Substantive in jeder denkbaren Einzelbedeutung vorkommen. In der Praxis bedeutet das, dass wir für flexionsmorphologische Angaben in unseren Wörterbüchern und bei der Erzeugung sprachtechnologisch verwertbarer Daten in Einzelfällen über unsere eigenen Stammkorpora hinausgehen. Mit Stammkorpora meine ich die Exzerptsammlung der Duden-Sprachkartei (gut 3 Millionen digital erfasste Belege) und vor allem das elektronische Dudenkorpus (Anfang 2011 mit 2 Milliarden Wortformen). Fehlen Dudenkorpusbelege, so ist das noch kein Beweis dafür, dass es die gesuchte Form noch nie gegeben hat (keine „Gezähltheit“) bzw. – aus der rein praktischen Sicht viel wichtiger als diese Existenzfrage – dass sie keinem Benutzer helfen würde (keine „Zählbarkeit“). So ist ein Fund beispielsweise über die Google-Buchsuche http://books.google.de/books?hl=de bzw. über http://ngrams.googlelabs.com/ oder über zufällige private Lektüre immer noch besser als das Befragen der Intuition allein. Im Dudenkorpus gibt es im März 2011 noch keine Belege für die Wortform Hundefuttern und nur 2 Belege für eine Wortform Hundefutter, der man viel gutem Willen das Merkmal Plural zugestehen könnte (ausschließlich Hundefutter; Hundefutter im Sortiment haben). Ich würde sie nicht als Pluralbelege werten. Das Dudenkorpus, das zu den größten und besten Korpora des geschriebenen Gegenwartsdeutsch gehört, ist hier immer noch zu klein (oder zu zeitungslastig) und wird deswegen auch ständig ausgebaut, was Größe und Zusammensetzung angeht. Auch hier ein grundsätzlicher Unterschied zum FWB-Korpus: Wir brauchen aktuelle Belege und aktuelle Zahlen. Künftig möchten wir alle Daten, auch morphologische Informationen über seltene Wörter, allein diesem Stammkorpus entnehmen. Andererseits will die Wörterbuchbenutzerin vielleicht nicht nur wissen, ob ihre Pluralform brauchbar ist – denn dafür ist ihr die eigene Idee, einen Plural zu bilden, schon Beweis genug. Überhaupt sind Wörterbücher niemals so zu lesen, dass es das nicht Gezeigte nicht gäbe oder dass man nicht die „Freiheit“13 hätte, es zu verwenden. Vielleicht möchte sie außerdem erfahren, ob ihr Plural standardkonform, unauffällig, in genau der gemeinten Einzelbedeutung gebräuchlich und für alle leicht verständlich ist. Dann helfen ihr zusätzliche Hinweise wie „Plural (Sorten)“, „Plural (fachsprachlich)“, „Plural selten“ oder die exakte Zuordnung von Flexionsformen zu Einzelbedeutungen anstelle der Flexionsangabe nur am Lemma. Gibt es keinen solchen zusätzlichen Hinweis, so kann man davon ausgehen, dass die Pluralformen „normal“ sind. Und hier wiederum sind wohl die Stammkorpora der zuverlässigste Maßstab.
13
Mugdan 1983, 208–209. Von Mugdans Ansicht, dass man Regelmäßiges nicht explizit abbilden müsse, gehen die Wörterbuchverlage allerdings immer mehr ab: Für Laien als Benutzerinnen und Benutzer ist nichts so selbstverständlich wie für Lexikografen, und leicht zugängliche, auch redundante Information zählt für die Benutzbarkeit mehr als lexikografische Konvention.
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2.2. Sprachtechnologische Anwendungen Nach diesen Überlegungen zur Wörterbuchbenutzung und ihren lexikografischen Konsequenzen noch einmal zurück zur Situation der Computerlinguisten: Zunächst hatte ich behauptet, dass für Zwecke der automatischen Sprachverarbeitung mehr Wortformen besser seien als wenige Wortformen. Nun kann man Texte oder Textteile nicht nur verarbeiten, sondern auch automatisch bearbeiten und erzeugen: in Übersetzungs- oder Korrekturprogrammen, in Kreuzworträtselgeneratoren oder Anagramm- und (Schüttel)reimfindern. Dann wäre es oft hilfreich, ungebräuchliche Formen zu unterdrücken oder aber mit einer Markierung wie „unwahrscheinlich“ zu versehen. Und vielleicht macht nicht nur dieses Argument mit der Textproduktion Pluralrestriktionen auch für die Computerlinguistik interessant, denn genauso ist es doch auch schon bei der Verarbeitung fertiger Wortlisten und Texte durch einen Automaten: Bei Formen wie Versehen oder Verstehen, beide äußerlich als Pluralformen möglich, wäre als Default vom Singular eines Substantivs respektive von einem substantivierten Infinitiv auszugehen, nicht vom Plural. Schließlich wäre zu diskutieren, ob bei einer automatischen Kompositazerlegung und Lemmatisierung etwa der Dudenkorpus-Belege für die Zeichenkette .*schütze am Ende einer Wortform – es sind Hunderte – die 13 Belege für Pluralformen von .*schutz genauso gewichtet werden sollten wie die viel zahlreicheren Belege für Singularformen von .*schütze oder .*geschütz: Zumindest ein Filter wäre sinnvoll. Dasselbe gilt sogar für Lexikalisiertes in Konkurrenz zu Ad-hoc-Bildungen: Die beiden Dudenkorpus-Belege für Jugendschütze gehören nicht zum Wörterbuchstichwort Jugendschutz, sondern zum Lemma Jugendschütze, das in keinem Duden-Wörterbuch zu finden ist. Werden die Texte geparst, so dürften zwar meist schon die Merkmale von Determinern ausreichen, um zu eindeutigen morphologischen Informationen zu gelangen. Auch hierbei können jedoch ambige Formen besonders von mass nouns übrig bleiben, z. B. Wasser, Futter ohne Determiner, deren Defaultmerkmal der Singular wäre. Die Wunschvorstellung ist also: – Möglichst viele Formen, die irgendwo verwendet wurden, werden als Belege gefunden und ausgewertet. Seltene Formvarianten (Kontos, Konti als Varianten zu Konten) können je nach Zweck der Wortliste unterschiedlich behandelt werden. Sogenannte Defizite oder Lücken (keine einzige auffindbare Pluralvariante) gelten jedoch zunächst als Korpuslücken, bevor „fehlende Tabellenzeilen“ im Paradigma behauptet werden. Daher werden die Suchen nach bislang unbekannten Wortformen in regelmäßigen Abständen wiederholt und Grammatikangaben bei Bedarf aktualisiert. – Akzeptiert man den Plural zu einem Kompositum wie Hundefutter, so muss auch die Pluralfähigkeit des Zweitglieds (Futter) und aller weiteren lemmatisierten Komposita mit diesem Zweitglied geprüft werden. Hier bleibt zu diskutieren, ob das Vorgehen systematisch sein soll (alle Komposita erhalten Pluralformen bzw. kein Kompositum erhält besondere Pluralrestriktionen) oder empirisch (nur belegte Pluralformen werden akzeptiert). Bei einer Entscheidung für das systematische Vorgehen sind Bedeutungsdifferenzierungen zu beachten. So handelt es sich bei den Einzelfallentscheidungen zu Komposita mit .*politik und .*recht,
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die die Dudenredaktion für das DDUW (2011) getroffen hat, nicht etwa um Inkonsistenzen, sondern um mühevolle Detailarbeit. – Es reicht nicht die Angabe der Pluralformen allein aus, sondern es wird bei Bedarf auch etwas über deren Frequenz, Auffälligkeit oder Zugehörigkeit zu einer Varietät gesagt. Das DDUW (2011) enthält beispielsweise rund 2 000-mal für Einzelbedeutungen oder auch für ganze Lemmata den Hinweis „Plural selten“, und es wäre gut vorstellbar, in weiteren Fällen anstelle einer allgemeinen Pluralrestriktion solche Verwendungshinweise zu geben. – Da über die reine Formenlehre hinaus nur die Semantik bei Vorhersagen hilft, ob und wo eine Pluralform verwendet werden kann, werden Pluralformen nicht nur dem Lemma, sondern auch Einzelbedeutungen zugeordnet. Je nach Medium können die Flexionsangaben standardmäßig bei jeder Einzelbedeutung (in elektronischen Fassungen) oder nur bei Unterschieden zwischen dem „Pluralverhalten“ der Einzelbedeutungen (in Büchern) grafisch dargestellt werden. Im DDUW (2011) gibt es über 3 000 Pluralangaben, die nur für bestimmte Einzelbedeutungen gelten; ein Ausbau ist auch hier vorstellbar. Die Besonderheiten dieser Einzelbedeutungen lassen sich allgemein recht gut unter das Gegensatzpaar abgrenzbar – kontinuierlich fassen. Im Speziellen gibt es aber viel mehr Bedeutungsnuancen als den Unterschied zwischen Stoffbezeichnung und Sortenlesart – je nachdem, was das Merkmal „zählbar“ fraglich macht. Einen Überblick über alle praxisrelevanten Pluralverwendungen bei nicht eindeutig zählbaren Substantiven und auch über den Gebrauch unflektierter (Singular)formen trotz Zählbarkeit gibt Gallmann im Dudenband 4 (2009, Randnummern 260 bis 275).
3. Plurallesarten Im Folgenden soll insbesondere eine der Gruppen herausgegriffen werden, die Gallmann behandelt: Abstrakta14 auf -heit oder -(ig)keit.
3.1. Das Perfekte gibt es nur einmal Zur Illustration der (wahrscheinlich falschen) Behauptung in dieser Überschrift stelle ich zunächst einige Gegensätze auf. Der Gegensatz betrifft die emotionale Bewertung, die die Wortform ohne Kontext meiner Vermutung nach auslösen dürfte: Gesundheit, Gesundheiten – Krankheit, Krankheiten Gesundheit, Gesundheiten – Gebrechen Lückenlosigkeit [bisher ohne Plural] – Lückenhaftigkeit, Lückenhaftigkeiten Durchsichtigkeit – Durchsichtigkeiten, Undurchsichtigkeit, Undurchsichtigkeiten Besonnenheit – Besonnenheiten, Unbesonnenheit, Unbesonnenheiten Bescheidenheit – Bescheidenheiten, Unbescheidenheit, Unbescheidenheiten 14
Dudenband 4 (2009), Randnummer 262.
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Solange man „Gesundheit“ als den einen gattungsspezifisch idealen Zustand des Stoffwechselns, Zellerneuerns, Sich-Vermehrens, der Schmerzfreiheit und Daseinsfreude usw. betrachtet, besteht keine Not, von verschiedenen Formen der Gesundheit zu sprechen. Trennt man aber die psychische von der physischen Gesundheit und beide wiederum von der sozialen Gesundheit, unterscheidet man die Gesundheit des Kindes von der eines Greises oder vergleicht man die Gesundheitszustände unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, so lässt sich sinnvoll von mehreren Gesundheiten sprechen. Möglich macht das – wie beim Plural zu Wasser oder Milch – die Sortenlesart. Die Recherche im Dudenkorpus ergibt, dass Gesundheiten im Plural über die Sortenlesart hinaus die Bedeutungsmerkmale einer speziellen Einzelbedeutung erhält („auf ganze Bevölkerungsgruppen bezogen“, „im epidemiologischen Sinn“): „Zu befürchten steht, dass es sich beim grenzübergreifenden Nichtrauchbewerb um eine Maßnahme zur Sicherung der Völkergesundheiten handelt.“ (Standard, 2004-06-01, 23.) „Was die Forschung anbelange, gebe es an der Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin vier Arbeitsgruppen für Internationale Medizin und Öffentliche Gesundheiten und weitere vier Arbeitsgruppen für Molekularbiologie und Immunologie.“ (SZ 2000-01-19, L7.)
Doch noch vor diesen fachsprachlichen Entwicklungen verzeichnet Grimms Wörterbuch (1897, „Gesundheit“, 1 d) – nicht ohne Kommentar – Pluralformen: „der plural ist im allgemeinen nicht gebräuchlich, eine ausnahme bildet gesundheit = trinkspruch, vgl. III, 3; sonst vereinzelt: der mensch habe zweierlei gesundheiten zu versorgen, die gesundheit des leibes und der seelen. Zinkgref 1, 221.“
Das FWB führt keine Pluralformen zu gesundheit auf. Während beim Plural von Gesundheit mit fachsprachlichen und anderen seltenen Lesarten experimentiert werden muss, ist der Plural Krankheiten geläufig. Es gibt viele Arten, nicht gesund zu sein. Danach suchen muss man nicht. Wenig erstaunlich ist auch, dass Gebrechen einen Plural bildet. Überraschenderweise werden aber – ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied zum Plural Gebrechen; das dokumentiert das DDUW (2011) – auch Pluralformen zu Gebrechlichkeit gebildet, genau wie zu Lückenhaftigkeit, was das DDUW (2011) noch ohne Plural aufführt. (Das positiv konnotierte Pendant, Lückenlosigkeit, das im Gegensatz zur Lücke oder Lückenhaftigkeit als absolut und unzählbar verstanden werden kann, kann im Januar 2011 weder im Dudenkorpus noch in der Google-Buchsuche im Plural nachgewiesen werden.) Die ersten Belege zu Lückenhaftigkeiten und Gebrechlichkeiten führten mich zu einer voreiligen Hypothese: Es handele sich um etwas ungemein Modernes. Lückenhaftigkeiten (keine Dudenkorpus-Belege, aber über die Google-Buchsuche auffindbar15) bezeichnet wohl kaum anderes als Lücken, aber ich meinte, es fehle immer mehr Schreibenden der Mut zum roh wirkenden Wort Lücken. Im Singular ist der Ersatz des einfachen Substantivs Lücke durch die Ableitung Lückenhaftigkeit weniger üblich; die De15
Ungefähr 103 Ergebnisse am 01. 02. 2011.
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fault-Lesart von Lückenhaftigkeit ist nicht ›Lücke‹, sondern die ›lückenhafte Beschaffenheit‹, die ›Eigenschaft, Lücken zu enthalten‹. Gebrechlichkeiten (15 DudenkorpusBelege), so dachte ich, trete nach und nach an die Stelle von Gebrechen (immerhin noch über 900 Pluralbelege im Dudenkorpus), weil man mit dem Wort Gebrechen nicht mehr recht vertraut sei und seine Morphologie dadurch problematisch werde. Vergleichende Suchen bei http://ngrams.googlelabs.com/ können nicht beide Vermutungen bestätigen: Die Verwendung dieser Pluralformen hat nach der Google-ngrams-Darstellung im Laufe der letzten zweihundert Jahre nicht zugenommen. Nach diesen ersten Recherchen wäre eher eine Pluralvorliebe im 19. Jahrhundert zu vermuten. Freilich kann das auch an der willkürlichen Auswahl der Texte in unterschiedlichen Zeiträumen liegen. Gebrechen, Anfang des 19. Jahrhunderts gut belegt, und Gebrechlichkeit werden beide insgesamt unbeliebter. Allerdings fällt die Kurve von Gebrechen, ob als Singular oder als Plural, sehr viel steiler ab. So viel scheint von den beiden Anfangshypothesen zu stimmen, dass die sinkende Frequenz von Gebrechen sich auf niedrigem Niveau der Frequenz von Gebrechlichkeit nähert.16 Das betrifft aber das Lemma überhaupt, nicht speziell den Plural. „Lückenhaftigkeit“ ist in Grimms Wörterbuch zwar aufgeführt, aber ohne Bedeutungserklärung. Unter „Gebrechlichkeit“ (1878) sind – ohne expliziten Hinweis auf die „vereinzelnde“ Bedeutung – im Unterpunkt 2 („mangelhaftigkeit, fehlerhaftigkeit“ Pluralbelege aufgeführt. Mehrdeutig ist vielleicht ein Beleg zu Unterpunkt 3 („unzulänglichkeit, unvollkommenheit überhaupt, ursprünglich im philosophischen sinne […]“): menschliche gebrechlichkeit und mängel (Schuppius17 326). Liegt hier noch der endungslose Plural vor, wie ihn das FWB im Beleg zur Einzelbedeutung 1 „Streit, Zwiespalt“ zeigt?18 Durchsichtigkeiten erhält ohne expliziten Kontext engere und möglicherweise zugleich negativere Lesarten als Durchsichtigkeit. Im Dudenkorpus gibt es allerdings nur einen einzigen Pluralbeleg (SZ 1998-03-12, 40). Für Undurchsichtigkeiten finden sich 13 Dudenkorpusbelege. Besonnenheit kann nur bei anderen klaren Zeichen von Tadel oder Ironie als Kritikpunkt verstanden werden. Besonnenheiten, auffindbar über die Google-Buchsuche, drängt ein ironisches Verständnis schon auf. Wie Unbesonnenheit und wie der Plural Unbesonnenheiten, der im Dudenkorpus belegt und bereits im DDUW (2007) dokumentiert ist, dürfte Besonnenheiten negativ konnotiert sein. Die Zahlenverhältnisse für X-heiten/-(ig)keiten im Vergleich zu Un-X-heiten/-(ig)keiten sind kein ehernes Gesetz: Bescheidenheiten ist im Dudenkorpus häufiger als Unbescheidenheiten. Beide Feminina haben im DDUW (2011) Pluralangaben erhalten.
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17 18
http://ngrams.googlelabs.com/graph?content=Gebrechen%2CGebrechlichkeit&year_start=1800& year_end=2010&corpus=8&smoothing=3 am 01. 02. 2011. Joh. Balth. Schupp, 1610 (Gießen) – 1661 (Hamburg). FWB, „gebrechlichkeit, gebrechligkeit“: das etliche gespenne und gebrechlichkeit weren zuschen burgermeistern und radt der stadt zu Mencze.
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Im FWB hat bescheidenheit wie zu erwarten keine Pluralangabe. Vielleicht gibt es eine Korrelation zwischen Pluralfähigkeit und negativer emotionaler Bewertung und eine weitere Korrelation zwischen Pluralformen und negativer emotionaler Bewertung. Wenn das der Fall sein sollte – die wenigen hier aufgeführten Fälle sind noch keine Beweise –, dann wäre dafür wohl besonders die Plurallesart verantwortlich, die im nächsten Abschnitt beschrieben wird.
3.2. Nicht nur nett: Nettigkeiten Der „Handlungsplural“, besonders der „Äußerungsplural“ (wenn man sich denn ein Etikett dafür ausdenken wollte) bei Bezeichnungen für ästhetische oder moralische Qualitäten scheint ein ähnlich breites und systematisch beschreibbares Einsatzgebiet zu haben wie der Sortenplural. Der Ausgangspunkt ist oft ein von einem Adjektiv X mit -heit oder -(ig)keit abgeleitetes Substantiv. Während der Singular X-heit dem Grundmuster nach das „X-Sein“ bezeichnet, steht der Plural X-heiten für sprachliche, musikalische usw. Äußerungen oder andere Verhaltensweisen. Neben menschlichen Verhaltensweisen werden mit Pluralformen auch Produkte menschlichen Handelns bezeichnet, die X sind, vielleicht auch nur X wirken können oder X wirken sollen. Diese Muster beschreibt der Wortbildungsartikel „-heit“ im DDUW unter der Einzelbedeutung 2 b: „bezeichnet in Bildungen mit Substantiven eine Eigenschaft oder Handlung von jmdm.“ Ob mit -heit oder mit -keit abgeleitet wird, hat keinen Einfluss auf die Bedeutung; Ausnahmen wie Kleinheit/Kleinigkeit gibt es bei -igkeit im Vergleich zu -heit.19 Die so entstandene neue Lesart kann als eigene Einzelbedeutung lexikalisiert und am Lemma selbst bereits in Wörterbüchern dokumentiert sein oder als Metonymie, also als rhetorische Figur, spontan verstanden werden. Belege lassen sich besonders häufig in Tageszeitungen finden: Vielleicht ist der Äußerungsplural mehr zeitungssprachlich als gemeinsprachlich. „Und noch ein Zitat aus der Reihe der Schlichtheiten: ‚Gewissen Dingen, Dingen, die ihren Willen in den Sternen bekundet haben, kann man einfach nicht entrinnen, es gibt niemanden, der das im Grunde seines Herzens nicht wüßte.‘“ (SPIEGEL 19/2000, 268–269.) „Reich an sprachlichen Schlichtheiten, dem Klischee und der Überzeichnung zugetan.“ (SZ 1995-05-20, 904.)
Die Tendenz zur negativen Konnotation betrifft aber hauptsächlich die Äußerungs- und Handlungsplurale im engeren Sinne, weniger die Metonymie zur Bezeichnung von Produkten. Im folgenden Beleg steht derselbe Plural Schlichtheiten für besonders schmackhafte Gerichte:
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Barz im Dudenband 4 (2009, 723–724). Klaus Mackowiak wies mich darauf hin, dass $ettheit anders verstanden würde als $ettigkeit.
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„Exzellente Schlichtheiten, oft französischer Provenienz, gern mit der Überraschung eines asiatischen Aromas.“ (SZ 2005-05-30, 40.)
Nichts unbedingt Notwendiges, aber doch bei wohlwollendem Urteil ein Nice-to-Have und jedenfalls keine Äußerung bezeichnet $ettigkeit im folgenden Beleg (die übrigen Produkt-Plurale von $ettigkeit sind eindeutiger negativ gemeint): „Sport&Style heißt die eine, kostet etwa 2000 Euro Aufpreis und bietet Nettigkeiten wie Sportsitze, 17-Zoll-Alus, viel Chrom und abgedunkelte Scheiben.“ (SZ 2007-09-22, V2/2.)
Die weitaus meisten der 639 Dudenkorpus-Belege für $ettigkeiten beziehen sich auf nichtssagende bis unehrliche Höflichkeitsfloskeln, sind also „Äußerungsplurale“. In immerhin 41 dieser Belege werden Nettigkeiten ausgetauscht, oder es findet ein Austausch von $ettigkeiten statt – die Klage über „Nettigkeiten“ scheint fast so streng formalisiert zu sein wie die Nettigkeiten selbst. Eine kleine Auswahl: „,Small Talk‘, der Austausch von Nettigkeiten, gehört in den USA zum guten Ton.“ (Handelsblatt 1998-10-22, 35.) „Der Besuch in der Sommerresidenz des Präsidenten ist kein bloßer Austausch von Nettigkeiten, kein leichtes Sommerprogramm.“ (MM 2009-08-15, 7.) „In einer Berliner Oberschule tauschen sie Nettigkeiten über Integration von Zuwanderern aus.“ (TAZ 2007-11-13, 7.) „Wir wollten zum Thema Ökologie und Kunst keine Nettigkeiten von Gutmenschen hören, sondern knallharte Diskussionen auslösen.“ (SZ 2007-04-18, 11.)
Meiner Interpretation nach ist der Äußerungsplural $ettigkeiten in keinem der Dudenkorpus-Belege eindeutig positiv konnotiert – die emotionale Einstellung der Schreibenden zum Bezeichneten scheint von neutral bis stark abwertend zu reichen. Negativ beurteilt wird meist nicht die harmlose, freundliche Äußerung selbst, sondern dass sie eingesetzt wird, um harte, ehrliche Diskussionsbeiträge über wichtige Themen zu verhindern. Auch dem Stilmittel der Ironie dient die Verwendung von $ettigkeiten – was natürlich eine ursprünglich positive Bedeutung wie „etwas Nettes“ voraussetzt, die dann ins Gegenteil verkehrt wird: „Bayreuths Anhang hatte daraufhin ‚Schieber, Schieber‘ gesungen und den Schiedsrichtern noch andere nicht druckbare Nettigkeiten hinterher geworfen.“ (SZ 2008-12-01, 32.) „Der stille Tod und andere Nettigkeiten“ (Standard 2008-05-06, 30.)
14 der 36 im Dudenkorpus nachweisbaren Korrektheiten sind, kaum überraschend, politische. Gerade die vierte Gewalt, die berechtigterweise über die Einhaltung der politischen Korrektheit im öffentlichen Diskurs wacht, reagiert genervt auf Äußerungen, die nichtssagend werden, weil sie korrekt gemeint sind. Neben Äußerungen werden mit Korrektheiten auch Handlungen oder Handlungsmaximen bezeichnet; hier ist die Entfernung zur Singularbedeutung weniger groß:
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„Von Roots-Reggae, der in gefährlicher Nähe zu Bob Marley angesiedelt ist, bis hin zu filigranen Drum and Bass-Elementen. Diese stattet er MTV-gerecht mit politischen Korrektheiten („I like Greenpeace!“) aus und lässt sie aufgabenstellungskonform rauchgrasvergiftet klingen:“ (Standard 2000-11-08, 742.) „Ihre Partys sind verkappte Arbeitstreffen, bei denen man anstandshalber ein Glas Wein trinkt – den Bobos verdankt Amerika laut David Brooks die trockenste Periode seit der Prohibition. Bobos saufen, rauchen, streiten nicht, und neben den finanziellen achten sie peinlichst auf die Einhaltung der sexuellen und politischen Korrektheiten.“ (NZZ 2001-09-05, 59.)
Ergänzend ein Beleg für Korrektheiten ohne das Attribut politisch: „Jason Reitman, Regisseur des neuen US-Kinofilms ‚Thank you for Smoking‘, hasst die Korrektheiten in seiner Heimat. Vielleicht sollte er mal an den Rand New Yorks ins sonderbare Brighton Beach reisen.“ (SZ 2006-09-02, ROM3.)
Und schließlich kann Korrektheiten logisch oder formal korrekte Äußerungen bezeichnen. Interessanterweise wird das mathematisch Korrekte wie die politisch und sozial motivierten „Korrektheiten“ über das definiert, was es nicht ist, nämlich „Wahrheit“: „[...] dass die Mathematiker glauben, mit ihrer Wissenschaft den Abhängigkeiten des politischen Umfelds entkommen zu sein. Sie vermeinen, doch nur Korrektheiten mitzuteilen; Wahrheit, gar Wahrhaftigkeit stehe auf einem ganz anderen Blatt. Sie glauben, mit ihrer Position im Abseits nie in die Gefahr zu geraten, sich die Hände schmutzig zu machen, und ahnen dabei gar nicht, in welcher Falle sie hocken.“ (NZZ 2002-07-18, 48.)
Die Kombination eines Äußerungsplurals mit dem Adjektiv angestrengt zeigt, dass die gemeinten Äußerungen bzw. Handlungen eingesetzt werden können, um X zu wirken – ohne dass dieses Bemühen vom Adressaten anerkannt werden müsste: „Hin und wieder hört man im Getümmel angestrengter Munterkeiten und pasteurisierter Ekstase eine Stimme, die tatsächlich frisch und eigenständig klingt. Jamie Cullum ist so eine Stimme.“ (NZZ 2004-03-28, 71.)
Wieder ist „Äußerung“ nicht auf sprachliche Äußerungen zu beschränken: „Das neue Stockwerk und der Aufbau für die Technik schweben wie ein Schiff in 60 Metern Höhe. Das Kapitäns-Terrässchen und der Fahnenmast gehören wohl zu den architektonischen Munterkeiten. Unter der Auskragung des neuen Stockwerkes befindet sich ein hölzernes Deck, das im Sommer als Bar und Treffpunkt dienen soll.“ (NZZ 2002-11-18, 37.)
Das DDUW (2011) verzeichnet zu Feminina auf .*eit knapp 1 000 Äußerungs- und Handlungsplurale mit eigenständiger Einzelbedeutung von Allgemeinverbindlichkeiten, Altertümlichkeiten, Angestrengtheiten und Anrüchigkeiten bis hin zu Zwiespältigkeiten. Sinnvollerweise wird eine solche Einzelbedeutung nicht in weitere Unterpunkte „a) Äußerung“, „b) Handlung“ und „c) Produkt“ untergliedert, denn das würde das gedruckte Werk sprengen. Darüber hinaus gibt es Abstrakta, deren Plural als Äußerungsoder Handlungsplural verstanden werden darf, ohne dass eine eigenständige Einzelbedeutung dafür angesetzt worden wäre.
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Wollte man nun dem Plural in diesen Belegen einen eigenständigen Beitrag zur Einzelbedeutung beimessen, dann wären es wohl – Individualisierung über Metonymie bzw. über verwandte Übertragungen – Spezifisch: Einschränkung der Bedeutung auf „Äußerung oder Handlung, die X wirkt/wirken soll“, oder auf „Produkt, das X wirkt/wirken soll“ – Häufig: negative Konnotation, Abneigung, Abwertung in der Sprecherhaltung
Grimms Wörterbuch (1899) verzeichnet zwar „Schönheit“ „in vereinzelnder anwendung“ (Unterpunkt 9) und auch schönheiten als „liebenswürdige […] worte[…]“ (9 f), aber nichts Entsprechendes zu $ettigkeit oder Schlichtheit: Schlichtheit selbst sei (anstelle von Schlichte) „erst in neuerer zeit üblich“.
3.3. Bewusste Schönheiten Schönheit und Persönlichkeit können lexikalisiert eine Person bezeichnen – im Gegensatz übrigens zur Unschönheit und zur Unpersönlichkeit. Über den Kontext, z. B. Verben, ist zu entscheiden, ob mit einem Plural wie Schönheiten ein bewusstes Wesen mit den Eigenschaften gemeint ist, die prototypisch für ein Agens (oder typisch für ein Proto-Agens) sind, oder aber etwas wie die Schönheit einer Landschaft oder einer menschlichen Hervorbringung, was zu den Äußerungs- und Produktpluralen im vorangegangenen Abschnitt gehören würde. Eine Tendenz zur negativen Konnotation ist nicht festzustellen – eher im Gegenteil. Bei Persönlichkeiten und Berühmtheiten ist die Personenlesart fest etabliert und darf bei automatischer Textverarbeitung als Default angesehen werden. Besonders über die Kombination der Metonymie mit der Ironie kann dieser Gebrauch nach dem Muster Euer Hoheit, Ihre Herrlichkeit, Seine Heiligkeit auf andere Feminina mit der Endung -heit/(ig)keit übertragen werden, und auch dadurch werden Pluralformen möglich. Im Vergleich zum Äußerungsplural ist der Personenplural allerdings nur für wenige Lemmata belegbar. Im FWB allerdings hat persönlichkeit noch eine andere Bedeutung, die von der deutschen Mystik geprägt ist; Pluralformen sind nicht belegt. Das Stichwort berümtheit fehlt. Zu herlichkeit werden die Einzelbedeutungen 6 „Obrigkeit ...“ und 7 „als Anrede ...“ angegeben, aber die Verwendung des Plurals herlichkeiten (mit Suffix -en) wird auf die Einzelbedeutungen 4 („Herrschaftsrecht ...“) und 5 („Herrschaftsgebiet ...“) beschränkt. Der endungslose Plural heiligkeit wird der Einzelbedeutung 7 („Sakrament, heilige Handlung“) zugeordnet.
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3.4. Vielheiten Bei einer kleinen Gruppe von Feminina auf -heit/(ig)keit scheint der Plural wenig zur Lesartendifferenzierung beizutragen, weil die Denotate von Singular- und Pluralformen so ähnlich sind (Vielheiten vs. Vielheit). Für Vielheiten ist einer der schönsten Dudenkorpus-Belege der folgende: „Aufs Deutsche bezogen, dürfte ‚sexy‘ das ausdrücken, was Friedrich Nietzsche meint, wenn er sagt, ‚dass ein metaphysischer Zauber, Einheiten aus Vielheiten, Einartiges aus Vielartigem zu gebären, in der Sprache liegen müsse‘.“ (SZ 2007-03-02, 1.)
Trotzdem gibt es für Vielheiten genügend wirklich moderne bzw. auf die Postmoderne (etwas nicht mehr ganz Modernes) bezogene Belege, 29 allein im Dudenkorpus, einige davon sicher oder wahrscheinlich aus dem Französischen oder Italienischen übersetzt. Die meisten davon bezeichnen eine große Gruppe unterschiedlicher Menschen, die zwar als „gemeinsam stark“, aber nicht als einheitliche Masse oder gar als „Volksmassen“ wahrgenommen wird. Der Plural hat gegenüber dem Singular Vielheit wahrscheinlich keine besonders eigenständige denotative Funktion, drückt aber das „Viele-Sein“ wie auch das „Unterschiedlichsein“ ikonisch aus: „Netzwerke ahoi, schon immer war es besser, gemeinsam und in Vielheiten stark und unabhängig zu sein.“ (TAZ 1999-04-30, 32.) „,Seid Vielheiten!‘, rief den jungen Elektronikern der Philosoph Gilles Deleuze zu.“ (ZEIT 2002-09-11, 64.) „Selbst die Organisation, die nach Ansicht einiger Zeitgeist-Auguren das Ende der postmodernen Vielheiten eingeläutet hat, ist ein Netzwerk: al-Quaida ...“ (TAZ 2002-12-21, 29.) „[...] eine Einladung an die moltitudini, an die ‚Vielheiten‘, bei den Gipfeldemos mitzutun, eine andere Welt zu imaginieren und die Kraft zum Ungehorsam aufzubringen. [...] Zur eigenen Überraschung zählten die in Genua zusammengeströmten ‚Vielheiten‘ 300.000 Personen.“ (TAZ 2002-11-19, 17.)
Neben der ikonischen Wirkung des grammatischen Merkmals „Plural“, das das Bild vom „Viel[e]sein“ verstärkt, lässt sich durch den Gebrauch einer Wortform wie Vielheiten auch die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe, einer Mentalität, einer Überzeugung ausdrücken. Daneben gibt es weitere Lesarten. Vielheiten bleibt im folgenden Beleg trotz der vereinzelnden Bedeutung abstrakter: „Der Messie leidet nicht daran, dass er zu wenig, sondern dass er zu viel hat und diese Vielheiten nicht mehr ordnen kann.“ (TAZ 2006-10-04, 21.)
Zehn Belege für Pluralitäten findet man auch im Dudenkorpus, hier zusätzlich mit dem Adjektiv zahlreich als Attribut: „Wir leben in einer Welt zahlreicher Kulturen und Pluralitäten.“ (SZ 1997-12-30, 9.)
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Die fünf Dudenkorpus-Belege für Wechselhaftigkeiten scheinen gegenüber Wechsel oder Wechselhaftigkeit nichts Spezielleres auszudrücken – aber vielleicht etwas Allgemeineres: Möglicherweise hat die Pluralform den Vorteil, viele einzelne Ereignisse (Wechsel) zugleich mit der Eigenschaft (Wechselhaftigkeit) einer Situation zu bezeichnen: „Der Ich-Erzähler berichtet von seinen Entdeckungen und Eindrücken, von den Wechselhaftigkeiten an dieser Lebensschwelle. Dafür hat Hürlimann ihm keinen Überblick verschrieben, sondern Suchen und Spekulieren [...]“ (Standard 2001-12-07, 9). „Wochen wechselnden Wetters scheinen länger zu sein als Wochen mit gleichförmigem Wetter. Wechselhaftigkeiten erregen die Aufmerksamkeit. Grau verschlossen die Wolken über der Stadt den Himmel tagelang vielleicht auch deswegen, um in den Menschen am Schreibtisch keine Neidgefühle aufsteigen zu lassen.“ (TAZ 2005-08-23, 17.)
Nach den vier Dudenkorpus-Belegen zu urteilen, ist die Form Regelhaftigkeiten vornehmlich den Geistes- und Sozialwissenschaften vorbehalten. Dabei ist schwer entscheidbar, ob der Plural noch fachsprachlicher ist als der Singular und ob es sich überhaupt um ein Fachwort handelt. Wie Regularität hat Regelhaftigkeit gegenüber dem hoch polysemen Wort Regel weniger Einzelbedeutungen, was man sich in Fachtexten zunutze machen kann. Wie bei Vielheiten könnte ein Zusammenhang mit Übersetzungen (z. B. regularities, régularités) bzw. mit dem internationalen fachsprachlichen Diskurs und seinen Europäismen bestehen. Genauso gut kann Regelhaftigkeiten aber auch analog zu einer auch im Deutschen sehr viel geläufigeren Pluralform (eben Regularitäten) gebildet worden sein. Gehört es zu den Schlüsselwörtern, die den Verfasser des nächsten Belegs zur nicht eben schmeichelhaft gemeinten Diagnose „Wissenschaftsdeutsch“ veranlassen? „In gestelztem Wissenschaftsdeutsch beweist es schon auf der ersten Seite eine für jedes Interesse tödliche Definitionsgewalt: ‚Als zweckrealisierende Systeme rechnen Wissenschaften jedenfalls den Organisationen zu und unterliegen auch den Regelhaftigkeiten und der Problemanfälligkeit dieses Typs von Sozialsystem, namentlich der Gefährdung von Qualitätskontrollen bei der Realisierung besonders anspruchsvoller Systemzwecke, hier der umfassenden wissenschaftlichen Erhellung des überaus komplexen Gegenstandes Medien‘ – um dann diesen so komplexen Gegenstand nach bewährtem Schema aufzufächern.“ (NZZ 2001-12-01, 68.) „Dafür mutet der diesbezügliche Diskus [sic!] umso vertrauter an, wiederholen sich doch jeweils bei der Dynamisierung von Mediensystemen durch neue Kommunikationstechnologien Argumentationen, aber auch die früher erkannten Regelhaftigkeiten des Verhaltens.“ (NZZ 2002-08-16, 59.) „Die Diskursanalyse, die sich mit dem Namen Michel Foucault verbindet, aber auch im deutschsprachigen Bereich ihre Repräsentanten gefunden hat (Friedrich Kittler, Jürgen Link u. a.), richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Bedingungen und Regelhaftigkeiten der Denk- und Redeweisen, der sog. ‚Diskurse‘.“ (Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart 2000.) „Wenn es gelingt, jedem Raum trotz gewisser Regelhaftigkeiten, denen Verwaltungsbauten ja nun mal unterliegen, eine gewisse Individualität zu geben – und zwar, bevor ich das Foto von meiner Frau oder meinen Kindern auf einen Schreibtisch stelle.“ (SZ 2008-03-14, V2/2.)
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In Grimms Wörterbuch fehlt das Stichwort „Regelhaftigkeit“ noch; zu „Wechselhaftigkeit“ werden keine Pluralbelege gezeigt. Dass Wechselhaftigkeiten wie Regelhaftigkeiten zunimmt, liegt wohl an der Frequenz von Wechselhaftigkeit und Regelhaftigkeit überhaupt, deren Kurve seit 1900 trotz einiger Einbrüche steil ansteigt.20 Zu „Vielheit“ wird in zwei Unterpunkten ein Plural verzeichnet. Neutral dokumentiert der Bearbeiter21 in Unterpunkt 5 („alleinstehendes“ Vielheit als das aus Einzelteilen Zusammengesetzte): im plur. (zählen) über vielheiten bestimmt denken allg. deutsche bibl. 103,510.
Dann aber sprachkritisch zu Unterpunkt 8 (Verbindung mit dem Genitiv Plural): der plur. ist eigentlich nur dann anwendbar, wenn gruppen von vielen gemeint sind, das ist aber in der folgenden stelle nicht der fall: wann man der salinen vielheiten bedencken will Thurneysser magna alchymia (1538).
3.5. Mehrere Vorkommen Zwei Pluralformen, die in diesem Text ganz unkritisch verwendet werden, sind in Wirklichkeit selbst äußerst selten: Von den 29 Treffern für Plurale oder Pluralen im Dudenkorpus sind nur 10 Belege für den Plural von Plural.22 Gemeint sind einzelne Vorkommen von Plural (Einzelbedeutung 2 im DDUW (2011), das zu Recht nicht nur den Plural von Plural, sondern auch den Plural von Vorkommen akzeptiert). Solche Plurallesarten sind typisch für Fachwörter und -texte und im Dudenkorpus sonst nur vereinzelt nachweisbar, beispielsweise bei Bezeichnungen von Krankheiten: „Noch vor wenigen Jahren war eine Versorgung mit Hörgeräten in den ersten sechs Lebensmonaten die seltene Ausnahme. Da es jetzt dank des langjährigen Engagements der Kliniken möglich ist, Schwerhörigkeiten bei Babys frühzeitig festzustellen, sind wir nun auch in der Lage, den Neugeborenen nach der Diagnose die bestmögliche Versorgung zu bieten.“ (news aktuell 2003-08-21.)
Weitere Beispiele findet man über die Google-Buchsuche, etwa Myopien oder Arbeitslosigkeiten. (Dudenkorpus-Belege fehlen jeweils). Ähnlich können mit Anwendbarkeiten einzelne Fälle von Anwendbarkeit, d. h. Anwendungsmöglichkeiten, bezeichnet werden, mit Verwertbarkeiten verschiedene Verwertungen oder Möglichkeiten, etwas zu
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http://ngrams.googlelabs.com/graph?content=Wechselhaftigkeit%2CWechselhaftigkeiten&year_start= 1800&year_end=2000&corpus=8&smoothing=3 sowie http://ngrams.googlelabs.com/graph?content= Regelhaftigkeit%2CRegelhaftigkeiten&year_start=1800&year_end=2000&corpus=8&smoothing=3, beides am 01. 02. 2011. Nach Vorwort Rudolf Meißner in seiner letzten Lieferung (Nr. 12, 1939). Die meisten Belege sind dem am Satzanfang großgeschriebenen oder substantivierten Adjektiv plural zuzuordnen.
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verwerten, und mit Zugänglichkeiten23 unter anderem auch verschiedene Zugänge oder Zugangsmöglichkeiten. Der Übergang zum Sortenplural ist fließend: „Die Entdeckung der DNA und ihrer Doppelhelixstruktur liegt noch kein halbes Jahrhundert zurück, aber heute schon haben die Life-Sciences und ihre gentechnologischen Anwendbarkeiten es möglich gemacht, dass ernsthaft pro und contra über die Manipulation menschlicher Gene nachgedacht wird.“ (ZEIT 2001-09-26, 34.)
3.6. Pluralfähig – zu einem gewissen Grad Anders als im Dudenkorpus findet man über die Google-Buchsuche Belege, in denen der Plural Durchsichtigkeiten für Grade von (fehlender) Opazität von Körpern und Substanzen24 oder für Grade von Transparenz der Farbgebung bzw. (fehlender) Farbintensität25 steht. Daneben gibt es viele weitere Lesarten, etwa „Grad der morphologischen Durchsichtigkeit“ oder „Grad der Textverständlichkeit“, auch findet sich wieder eine Metonymie, die nicht den Grad, sondern einen Gegenstand bezeichnet (Moskowiterinnen in glitzernden Durchsichtigkeiten26, also in „durchsichtigen Kleidungsstücken“). Weitaus leichter kann die Bedeutung bei Löslichkeiten eingeschränkt werden (13 Treffer im Dudenkorpus, die alle chemische Eigenschaften zum Thema haben). Das gilt aber auch schon für den Singular Löslichkeit. Im DDUW (2011) findet man eine Handvoll Feminina, deren eine Einzelbedeutung einen Grad angibt: Ausführbarkeit, Beherrschbarkeit, Berechenbarkeit, Biegsamkeit, Dringlichkeit, Leitfähigkeit, Saugfähigkeit, Stetigkeit, Übertragbarkeit, Verfügbarkeit, Verständlichkeit, Zähigkeit und Zugänglichkeit 27: „Allgemein bestimmten die Wissenschaftler im Schichtsystem höhere elektrische Leitfähigkeiten als in reinen Proben aus einem der beiden beteiligten Salze CaF2 und BaF2 (Abbildung 1). Die Leitfähigkeit war für über 50 nm dünne Einzelschichten proportional zur Anzahl der Grenzflächen“ (Physik in unserer Zeit 2/2001, 59). „Übergitter, die beide Kristallsorten enthielten, wiesen eine elektrische Leitfähigkeit auf, die um drei bis vier Größenordnungen über der Summe der Leitfähigkeiten von Gittern aus nur einer Nanokristallsorte lag.“ (c’t. magazin für computer technik 4/2007.)
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Google-Buchsuche; Anwendbarkeiten und Verwertbarkeiten sind im Dudenkorpus in dieser Lesart belegt. Vor allem in älteren Publikationen über Physik; http://www.google.de/search?tbm=bks&tbo=1&q= %22Durchsichtigkeiten%22+Physik&btnG=Nach+B%C3%BCchern+suchen. In der Malerei (wie die meisten Ergebnisse zu http://www.google.de/search?q=%22Durchsichtigkeiten %22+Farbe&hl=de&tbs=bks:1,cdr:1,cd_min:01.01.1980,cd_max:31.12.2011&ei=DnOETbryH432 sga4yom3Aw&start=10&sa=N; Einschränkung auf die Jahre 1980 bis 2011) und in der Informatik (http://books.google.de/books?id=N4V2q941AD8C&pg=PA901&dq=%22durchsichtigkeiten%22&hl =de&ei=1HCETdvAJMbzsgb2toydAw&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=4&ved=0CDcQ6 AEwAw#v=onepage&q=%22durchsichtigkeiten%22&f=false). SZ 1998-03-12, 40. Vorstellbar ist, dass diese Liste bei künftigen Bearbeitungen noch erweitert wird.
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Pluralformen lassen sich bei einigen dieser Substantive28 in fachsprachlichen Texten – also nicht unbedingt im Dudenkorpus allgemein – über einen Automatismus dieser Grad-Lesart zuordnen. Dieser Befund unterstützt die Interpretation von Ágel, den ich bei der historischen Einordnung meiner seltenen Pluralbelege um Rat gebeten hatte: Sie könnten Anzeichen einer typisch fachsprachlichen und vielleicht auch typisch modernen Monosemierungstendenz sein, wie Reichmann sie beschreibt: eine „im Laufe der Geschichte zunehmende Wohlbestimmtheit von Wortbedeutungen durch schärfere Verwendungsregeln.“29 Im Unterschied zu dem Phänomen, das Reichmann untersucht – Verwendungsregeln für ganze Lexeme –, ginge es hier um lexikalische und morphosyntaktische Verwendungsregeln für Wortformen. Für diese Hypothese ist besonders die nächste Gruppe von Plurallesarten relevant.
3.7. Wie Quantität in Qualität umschlägt: fachsprachliche Lesartendifferenzierung per Plural Bisher war von Lesarten die Rede, die meist als Übertragungen (z. B. nach dem Muster der Metonymie) verstanden werden konnten. Es gibt jedoch auch Substantive, deren Pluralformen zu einer eigenständigen Lesart gehören. Das ist der Fall bei unterschiedlich motivierten oder unabhängig voneinander verstehbaren Komposita wie Teilzeit: Teilzeit selbst kann sowohl ein Arbeitszeitmodell als auch in der Fachsprache des Sports die Zeit bezeichnen, die etwa bei einem Ski- oder Autorennen für eine Teilstrecke benötigt wurde. Keine der beiden Einzelbedeutungen kann als Übertragung aus der anderen erklärt werden. Im Dudenkorpus steht der Plural Teilzeiten in 17 von 18 Fällen für gemessene Zeiten bei sportlichen Leistungen. „Teilzeiten sind etwas, woran sich der Athlet festhält, wenn es mit den Ergebnissen nicht klappt: […]“ (SZ 2008-01-18, 28).
Der einzige Beleg, der wohl nicht dieser Einzelbedeutung zuzurechnen ist, fällt aus der Unterscheidung „Arbeitszeit – gemessene Zeit auf einer Teilstrecke“ heraus; gemeint sind wohl Teile der Zeit, in der eine Anlage genutzt wird: „Dient die Anlage auch der allgemeinen Sportausübung, sind bei der Ermittlung der Geräuschimmissionen die dem Schulsport oder der Durchführung von Sportstudiengängen an Hochschulen zuzurechnenden Teilzeiten nach Nummer 1.3.2.3 des Anhangs außer Betracht zu lassen; die Beurteilungszeit wird um die dem Schulsport oder der Durchführung von Sportstu-
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Etwa bei Stetigkeiten; http://www.google.de/search?hl=de&tbo=1&tbs=bks%3A1&q=%22Stetigkeiten% 22+mathematisch&aq=f&aqi=&aql=f&oq=. Als Gegenbeispiel oder wenigstens als Ausnahme würde ich z. B. Zugänglichkeiten werten, da mit dieser Pluralform auch Zugangsmöglichkeiten bezeichnet werden. Bei Berechenbarkeiten und Verfügbarkeiten liefert das Dudenkorpus eher Belege für „Vorkommen von X“. Reichmann 1988, 171.
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diengängen an Hochschulen tatsächlich zuzurechnenden Teilzeiten verringert.“ (Achtzehnte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes [BimSchV].)
Bei Komposita mit Zweitglied Teilzeit funktioniert diese simple Lesartendifferenzierung allerdings nicht, wie einer von 5 Dudenkorpus-Belegen für Altersteilzeiten und einer von 2 für Elternteilzeiten zeigen: „Kündigungen werde es nicht geben, sagte Pirker, sehr wohl aber ‚ein paar Altersteilzeiten‘.“ (Standard 2001-11-30, 30.) „Elternteilzeiten, Urlauber oder Kollegen, die dienstfrei haben, werden mitgerechnet – obwohl sie im täglichen Dienst nicht zur Verfügung stehen.“ (TAZ 2007-01-03, 24.)
Hier handelt es sich um die Lesart „Vorkommen von“. Auch ohne unterschiedliche Motivation von Komposita erzwingen30 manche Pluralformen eine ganz spezifische, oft fachsprachliche Lesart. Der Plural Unteilbarkeiten ist – im Unterschied zum Singular Unteilbarkeit – den Fachsprachen des (Arbeits)rechts und vor allem der Wirtschaft vorbehalten. Dem trägt das DDUW (2011) in einer eigenen Einzelbedeutung Rechnung: „(Wirtsch.) Umstand, der die Verteilung der Produktion auf mehrere Unternehmen od. Arbeitskräfte verhindert.“ „Und zweitens wenn bei den betreffenden Jobs keine Unteilbarkeiten bestehen (z. B. zwei Teilzeitbeschäftigte produzieren genauso viel wie eine Vollzeit-Person). In der Tat gibt es zahlreiche Tätigkeiten, wo solche Unteilbarkeiten bestehen. So ist es beispielsweise im Informatikbereich wegen des Koordinationsaufwands einfacher, ein Projekt mit 10 Vollzeitbeschäftigten durchzuführen als mit 20 Teilzeitarbeitskräften.“ (NZZ 2004-08-11, 49.)
Kein Beispiel für Feminina auf -heit/-(ig)keit, aber eines für Lesartenerzwingung in typischerweise fachsprachlichen Texten sind auch die 89 Dudenkorpus-Belege für Souveränitäten. All diese Belege gehören im weitesten Sinne zur DDUW-Einzelbedeutung 2, „Unabhängigkeit eines Staates“, die seit DDUW (2011) als pluralfähig ausgezeichnet ist. Gemeint sind meist Teilbefugnisse, die durch die Einbindung in überstaatliche Organisationen wie die EU beschränkt werden könnten. Bei diesen Lesartenerzwingungen in fachsprachlichen Kontexten wäre die von Ágel angeregte Einordnung in die „Vertikalisierung des Varietätenspektrums“31, wie Reichmann sie beschreibt, besonders reizvoll. Da Pluralformen aber auch schon im Frühneuhochdeutschen spezifisch für Einzelbedeutungen aus unterschiedlichen Sachgebieten sein können (das zeigt das FWB, das ja besonders viele Einzelbedeutungen aufführt32), stellt sich natürlich die Frage, wie genau ein Unterschied gemessen werden könnte. Ich kann diese Frage nicht beantworten, weil ich keine Sprachhistorikerin bin, finde solche
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Auf den Begriff der coercion, hier: „Lesartenerzwingung“, wies mich in diesem Zusammenhang Anatol Stefanowitsch hin, den ich zu ähnlichen Überlegungen in der Konstruktionsgrammatik befragt hatte. Reichmann 1988. Reichmann 1988, bes. 152.
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Überlegungen aber lohnend und hoffe, einen Anreiz für weiterführende Untersuchungen gegeben zu haben.
4. Einzigartigkeiten: mehr Pluralfähigkeiten Sicherlich hätte man andere oder schlicht mehr pluraltypische Lesarten aufführen können. Dass der Versuch, es überhaupt zu tun, gelingen kann, spricht aber dafür, dass auch Seltenes durchaus in Lexikografie und Sprachtechnologie berücksichtigt werden sollte – besonders dann, wenn es über eine Systematik beschreibbar ist. Ich plädiere dafür, „Pluralfähigkeit“ in der Lexikografie weniger restriktiv zu behandeln als bisher. Wo Raum für eine Angabe wie „Plural selten“ oder eine Lesartendifferenzierung ist (pluralfähige Einzelbedeutung wie „etw. X Wirkendes“, „Grad, in dem etw. X ist“), sollte diese dargestellt werden. Die Lesartendifferenzierung kann je nach Anforderung auch in der Sprachtechnologie genutzt werden. Bei der automatischen Annotation mehrdeutiger Formen wie .*schützen, Versehen oder Pluralen und vor allem Wasser, Futter kann es sinnvoll werden, Wahrscheinlichkeiten einzubeziehen (Lemma ist selten/häufig; Plural ist selten/häufig in nicht fachsprachlichen/einem bestimmten Fachgebiet zugeordneten Texten oder Teilkorpora). In einem Plädoyer für die Berücksichtigung von Einzigartigkeiten darf ein Beleg für Einzigartigkeiten, einer von immerhin 38 Dudenkorpus-Belegen, nicht fehlen (man beachte auch die Grants – ob es auch Grante hätte heißen dürfen?): „Es gäbe dann eine Teisendorfer Weißwurst, eine Riederinger, eine Wasserburger; von der Wenigmünchner Weißwurst, der kleine Ort liegt zwischen Starnberg und Gilching, ganz zu schweigen. Hätte die Münchner Weißwurst Schule gemacht, wäre man gezwungen gewesen, auch andere auf den ersten Blick Münchner Einzigartigkeiten mit einem Patent zu versehen. Da wäre einmal der ortstypische Grant, der sich von anderen Grants durch eine besondere Hartnäckigkeit unterscheidet.“ (SZ 2009-02-18, 37.)
5. Zitierte Literatur Ágel, Vilmos (1996): Finites Substantiv. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 24, 16–57. Barz, Irmhild: siehe Dudenband 4. DDUW (2007): Duden – Deutsches Universalwörterbuch. 6. Aufl. Mannheim et al. DDUW (2011): Duden – Deutsches Universalwörterbuch. 7. Aufl. Mannheim. Dudenband 4 (2009) – Die Grammatik. 8. Aufl. Mannheim. Dudenband 7 (2007) – Das Herkunftswörterbuch. 4. Aufl. Mannheim et al. Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 2: Der Satz. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar. Eisenberg, Peter (2009): Bürokratische und andere Plurale. In: Fremdsprache Deutsch 40, 61.
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FWB: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Begr. v. Robert R. Anderson/Ulrich Goebel/Oskar Reichmann. Hrsg. v. Ulrich Goebel/Anja Lobenstein-Reichmann/Oskar Reichmann. 13 Bde. Berlin/New York (1989 ff.). Gallmann, Peter: siehe Dudenband 4. Grimms Wörterbuch: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Nachdruck München 1984 der Erstausgabe 1854–1971. Karlsson, Fred (2000): Defectivity. In: Morphologie. Ein internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung. Hrsg. v. Geert Booij et al. Berlin/New York, 647–654. Mugdan (1983): Grammatik im Wörterbuch: Flexion. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie III. Hrsg. v. Herbert Ernst Wiegand. Hildesheim et al., 179–237. Nübling, Damaris (2008): Was tun mit Flexionsklassen? Deklinationsklassen und ihr Wandel im Deutschen und seinen Dialekten. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 75, 282–330. Reichmann, Oskar (1988; unter Mitwirkung von Christiane Burgi, Martin Kaufhold u. Claudia Schäfer): Zur Vertikalisierung des Varietätenspektrums in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen. In: Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. FS für Ludwig Erich Schmitt. Hrsg. v. Horst Haider Munske et al. Berlin/New York, 151–180. Štícha, František (2009): Kommunikativer und systembezogener Status grammatischer Phänomene mit niedriger Häufigkeit. In: Grammatik & Korpora. Hrsg. v. Marek Konopka et al. Tübingen, 473– 483.
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Zur Sprache von Sprachgeschichtsforschung und Geschichtswissenschaft. Wortschatz und usuelle Konstruktionen
1. Einführung 2. Theoretisch-methodische Basis 3. Zusammensetzung des höher frequenten Wortschatzes 4. Konstruktionen im Vergleich 5. Fazit 6. Zitierte Literatur
1. Einführung Die Erforschung nicht nur der deutschen Fach- und Wissenschaftssprache war in ihren Anfängen auf Terminologie und auf vergleichende Gegenüberstellung von Fach- bzw. Wissenschaftssprache und Gemeinsprache fokussiert. Adamzik/Niederhauser (1999) zeichnen pointiert nach, wie stark diese Fokussierung von der Sprachkritik fachlicher Laien geprägt war, für die insbesondere entlehnte Fachwörter zum herausragenden sprachlichen wie sozialen Erkennungszeichen einer Fachexperten- bzw. Wissenschaftlergemeinschaft wurden. Nachfolgend konzentriere ich mich auf Wissenschaftssprache(n) und übergehe, trotz einiger Gemeinsamkeiten, Fachsprachen. Vor allem dank der pragmatischen Wende der Linguistik seit den späten siebziger und frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts sind aber weitere Eigenschaften wissenschaftlicher Sprache in den Fokus der Forschung gerückt. Hier sind v. a. Ehlichs durchaus appellativ zu lesende Arbeiten (Ehlich 1993; 1995) zu den Schwierigkeiten ausländischer Studierender mit der deutschen allgemeinen Wissenschaftssprache zu nennen. Ehlich macht hier sehr deutlich, dass es gerade nicht der Fachwortschatz ist, von dem das Verständnis wissenschaftlicher und auch populärwissenschaftlicher Texte abhängt. Es sind vielmehr diejenigen Ausdrücke, mit denen Relationen zwischen terminologisch gefassten Gegenständen und Konzepten einer Wissenschaft hergestellt werden, also v. a. Konnektoren wie Konjunktionen, Subjunktionen, Konjunktional- und Präpositionaladverbien, aber auch Verben und Verbalsubstantive, die aufgrund ihrer Argumentstruktur den Umgang der WissenschaftlerInnen mit ihren Gegenständen spiegeln
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und an denen sich die wissenschaftsspezifische „Versprachlichung von Sprechhandlungen“, die Fandrych (2000) für Englisch und Deutsch untersucht hat, herausstellen lässt. Wissenschaftssprachen sind demnach viel weniger von Terminologien als von besonderen Gebrauchsweisen gemeinsprachlicher Ausdrücke geprägt und können damit „als Sedimentierungen [betrachtet werden], in denen sich zentrale Konzeptualisierungen des wissenschaftlichen Sprachhandelns und des Forschungs- und Erkenntnisprozesses selbst aufspüren lassen.“ (Fandrych 2002, 1.)
Wissenschaftsnovizen – und dazu zählen nicht nur Bildungsausländer an deutschen Hochschulen, sondern auch die große Masse der Studierenden – haben beträchtliche Schwierigkeiten mit dem wissenschaftlichen Schreiben. Die größere Herausforderung besteht für Studierende nicht in der Aneignung terminologischer ‚Vokabeln‘, sondern in der Übernahme wissenschaftlicher Handlungen, damit letztlich in der Annahme eines Habitus (Gruber 2006) und dem Willen zur Identifikation mit einer bestimmten scientific community. Erst die sprachliche Realisierung der wissenschafts-alltäglichen wie der disziplinspezifischen Handlungs- und Sichtweisen lässt jene Texte entstehen, die HochschullehrerInnen als gut bewerten. Ehlich unterscheidet zwischen den Ausdrücken, die er der allgemeinen, „alltäglichen“ Wissenschaftssprache zuordnet, weil und insofern sie fächerübergreifend und sogar fachextern usuell sind (wie das Beispiel bei Ehlich eine Erkenntnis setzt sich durch), und den disziplinspezifischen nicht-terminologischen Ausdrücken, die zugunsten des Sprachvergleichs zwischen deutscher und englischer alltäglicher Wissenschaftssprache bisher nicht im Fokus der Forschung stehen. Betrachtet man die nicht-terminologischen und nicht-referierenden Anteile der Wissenschaftssprache bestimmter Disziplinen, sollte neben Gemeinsamkeiten auch das spezifische Handlungsinventar einer bestimmten Disziplin in den Blick kommen. Der sprachliche Unterschied relativ nah verwandter Wissenschaftsdisziplinen ist m. W. bisher noch kaum untersucht worden und soll in diesem Beitrag durch einen Vergleich sprachhistorischer und historiografischer Texte beleuchtet werden. Tatsächlich ist dieser ‚feine‘ Unterschied hochschuldidaktisch ebenfalls relevant, denn die meisten Studierenden müssen zwei oder gar drei Fächer (z. B. Erziehungswissenschaften für Lehramt) studieren und sollen sich so mit mehreren und z. T. recht unterschiedlichen Wissenschafts- und Sprachkulturen aktiv identifizieren – ein Kunststück, mit dem sich spezialisierte Profis nicht quälen müssen. Steinhoff (2007) legt zwar Korpora mit Texten der Fächer (germanistische) Literaturwissenschaft, (germanistische) Linguistik und Geschichtswissenschaft zugrunde, tut dies aber exemplarisch und fokussiert allgemeinere Texteigenschaften bzw. Schreibstrategien in den Wissenschaften. Es geht ihm um die grundsätzlichen Schwierigkeiten, die Studierende mit deutscher Erstsprache im Verlauf ihres Studiums bewältigen müssen, nicht um eventuelle Unterschiede von Wissenschaftssprachen. In dieser Arbeit soll der Vergleich zweier historischer Geisteswissenschaften, der Sprachgeschichtsforschung und der Geschichtswissenschaft, durchgeführt und das Er-
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gebnis (ansatzweise) der allgemeinen deutschen Standardsprache gegenübergestellt werden, damit zutage tretende Differenzen im Hinblick auf die Frage ‚disziplinenspezifische Sprache oder Wissenschaftssprache?‘ eingeschätzt werden können. Unabhängig von den nicht zu leugnenden, drängenden wissenschaftsdidaktischen Problemen hat die kontrastive Untersuchung nicht-terminologischer Anteile verschiedener Wissenschaftssprachen eine eigene Motivation: Wenn und insofern sich in ihnen das spezifische Handeln einer Disziplin niederschlägt, kann die Analyse sprachlicher Realisierungsformen dieses Handelns Einsichten in das Selbstverständnis, die Methodologie und die Wissenschaftstheorie einer Disziplin fördern. Durch einen Vergleich können Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, deren Kenntnis die Chancen gelingender interdisziplinärer und auch wissenschaftsexterner Kommunikation erhöht. Ich werde in diesem Beitrag die häufigsten Konstruktionen, d. h. Lexeme und Mehrwortausdrücke, eines Korpus mit Texten aus der Sprachgeschichtsforschung und eines Korpus aus der Geschichtswissenschaft untersuchen, in ihrer Gesamtheit vergleichend skizzieren und wesentliche Konstruktionen kontrastiv und exemplarisch ausführlicher beschreiben. Der Vergleich mit der Gemeinsprache geschieht anhand des Duden-Universalwörterbuchs.
2. Theoretisch-methodische Basis Ich beziehe mich erstens auf den Konstruktionsbegriff der Konstruktionsgrammatik, die maßgebliche Impulse aus der Korpuslinguistik im Sinne der empirischen Untersuchung kollokativer Konstruktionen („collostructions“ nach Stefanowitsch/Gries 2003) erhalten hat. Zweitens setze ich Korpusuntersuchungen ein und greife drittens für die Ergebnispräsentation auf die Lexikografie zurück, indem ich die Besonderheiten einiger wesentlicher Konstruktionen der beiden Wissenschaftssprachen in Form von ‚Wortartikeln‘ mit speziell entworfener Mikrostruktur herausstelle.
2.1. Konstruktionen Konstruktionen sind in der Konstruktionsgrammatik (nach Fischer/Stefanowitsch 2008b) übereinstimmend definiert als sprachliche Zeichen, also als Form-Bedeutungspaare, deren Formseite potenziell durch alle Ebenen des Sprachsystem bestimmt sein kann und deren Bedeutungsseite ebenfalls relativ weit, d. h. unter Einbeziehung semantischer und pragmatischer Eigenschaften untersucht wird. Dabei sind unterschiedliche Ebenen der Abstraktion möglich. Aus Sicht der korpusbasierten Lexikografie erscheint die Konstruktionsgrammatik dort, wo sie anwendungsorientiert ist, außerordentlich handlich und nahezu vertraut: Der Konstruktionsbegriff schließt Morpheme in bestimmten lexi-
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kalischen Umgebungen ebenso ein wie Lexeme und komplexe mehr oder weniger idiomatische phraseologische Einheiten. Nicht zuletzt gehören in der Konstruktionsgrammatik die Argumentstrukturen ein- oder mehrwortiger Einheiten in die Charakterisierung von Konstruktionen hinein.
2.2. Korpusuntersuchung In Stefanowitsch/Gries (2003) wird die sich geradezu aufdrängende Verbindung zwischen Konstruktionsgrammatik und korpuslinguistischer Analyse geschlagen und theoretisch-methodisch begründet. Die statistische Analyse von Texten führt zu Kollokationen, die sich mit weiteren statistischen Methoden als usuell berechnen lassen und für die sich damit der Status als Konstruktion im Sinne eines Form und Bedeutung in spezifischer Weise verknüpfenden Zeichens belegen lässt. Stefanowitsch/Gries (2003) nennen solche Kollokationen collostructions. Die von Stefanowitsch/Gries (2003) vorgenommene Berechnung der gegenseitigen Attraktion von Kollokationspartnern ist einigermaßen aufwändig und kann im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden. Auch die mir zur Verfügung stehenden Textkorpora und das Interesse der Untersuchung an wissenschaftssprachlichen Besonderheiten rechtfertigen eine stärker hermeneutische Herangehensweise an diejenigen Daten, die die eingesetzte Korpusanalysesoftware AntConC 3.2.1 liefert. Die eigene Wissenschaftssprach-Kompetenz wird so weit wie möglich reflektiert, nicht ignoriert. Dies ist auch deswegen unerlässlich, weil sich die beiden analysierten Korpora in zwei relevanten Hinsichten unterscheiden und weil man bei der Einordnung der Untersuchungsergebnisse daher grundsätzlich mit mehr als einer Ursache zu rechnen hat: Das erste Korpus enthält Texte aus der Sprachgeschichtsforschung, das andere besteht aus Texten der Geschichtswissenschaft. Das erste Korpus enthält ausschließlich kürzere Beiträge der Textsorte Forschungsüberblick (über einen bestimmten Themenbereich), geschrieben von ausgewiesenen Experten und damit von Schreibern, die mit wissenschaftlichen Texten vertraut sind. Das zweite Korpus enthält ausschließlich Dissertationen und damit Schreibprodukte von ambitionierten Wissenschaftsnovizen, die die wissenschaftssprachlichen Standards ihrer Disziplin, der Geschichtswissenschaft, im Unterschied zu den Verfassern von Examens- und Abschlussarbeiten, weitestgehend beherrschen und bereitwillig befolgen. Mit mehr oder minder kreativen Abweichungen, wie man sie mitunter bei älteren und beruflich etablierten Fachvertretern findet, ist bei Dissertationen eher nicht zu rechnen. Der Korpusvergleich könnte bei den usuellen, nicht-terminologischen Konstruktionen folglich sowohl disziplinäre Unterschiede als auch textsortenbedingte Unterschiede zutage fördern. Für eine plausible Interpretation müssen daher noch andere als statistische Argumente herangezogen werden.
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2.3. Lexikografie Nachfolgend wird zunächst beschrieben, was die Analyse der beiden Wissenschaftssprach-Korpora auf einer allgemeineren lexikologischen Eben erbracht hat. In einem zweiten Abschnitt wird dann eine spezielle Mikrostruktur für eine angemessene Beschreibung ausgewählter Konstruktionen erprobt. In diese Mikrostruktur ist auch der Vergleich mit Angaben aus dem Duden-Universalwörterbuch, 6. Auflage (2007) integriert. Adressaten der Beschreibung sind zunächst Leser dieses Sammelbands, aber es soll auch erprobt werden, wie Studierende unterstützend angesprochen werden könnten, denen man die Besonderheiten geisteswissenschaftlicher Sprache vermitteln will.
2.4. Zugrundgelegte Korpora Im Rahmen der Möglichkeiten dieses Beitrags konnte ich zwei recht unterschiedliche Korpora nutzen. Bei der Textauswahl spielten praktische Faktoren eine große Rolle: Die Texte sollten publiziert sein und mir digital zu Verfügung stehen. Damit kamen nur Internet-Publikationen infrage. Die Software AntConC kann das Dateiformat „txt“ verarbeiten, das sich leicht durch Konvertierung aus dem standardmäßig verbreiteten Format „pdf“ erzeugen lässt. Auf Bereinigung der Texte, d. h. auf Entfernung bibliografischer Angaben, fremdsprachiger Zitate und gelegentlich übrig gebliebener Formatierungszeichen wurde verzichtet, da sie bei der Analyse gut zu identifizieren und zu ignorieren sind. Es wurden auch keinerlei Annotationen hinzugefügt. Es wurde aus Gründen des Aufwands nicht lemmatisiert; Flexionsvarianten derselben Konstruktion sind auch ohne Lemmatisierung gut erkenn- und überprüfbar. Das erste der beiden Korpora [SPRGF] besteht aus 79 Texten, die recht zufällig aus dem vierbändigen Handbuch Sprachgeschichte, herausgegeben von Besch, Betten, Reichmann und Sonderegger (1998–2004), ausgewählt wurden. Die Mehrzahl der Korpustexte ist den Bänden 1 und 2 entnommen. Es hat einen Umfang von 741.000 laufenden Wörtern (Textwörtern) und 122.600 Types (Wortformen). Die einzelnen Texte sind der Textsorte Forschungsüberblick gemäß eher kurz. Das zweite Korpus [GESCHW] besteht aus 27 Texten der Jahre 1996–2005, die der Textsorte Dissertation angehören und demgemäß überdurchschnittlich lang sind. Es hat einen Umfang von 3,6 Mio. Textwörtern verteilt auf 206.376 Types (Wortformen). Das Korpus [GESCHW] ist damit knapp fünfmal so groß wie das Korpus [SPRGF]. Da die Arbeit an Quellen in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, ganz besonders aber in Dissertationen, grundlegend ist, enthält das Korpus neben auch umfangreicheren Zitaten aus der Forschungsliteratur Anteile fremd-, insbesondere englischsprachigen Quellenmaterials, dessen Umfang im Rahmen dieser Arbeit nicht näher bestimmbar ist. In Handbuchartikeln wird hingegen nur in besonders begründeten Fällen zitiert, und die Zitate sind sehr kurz. Auf die mögliche Sprach- bzw. Varietätenmischung im [GESCHW]-
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Korpus kann hier nicht weiter eingegangen werden. In einem größeren Projekt würde man Zitate annotieren. Das Type-Token-Verhältnis in [GESCHW] deutet auf eine deutlich geringere Variabilität des Ausdrucks hin als in [SPRGF]. Dafür könnte einerseits der verhältnismäßig höhere Anteil an Literaturangaben in [SPRGF] (mit vielen Namen) verantwortlich zu machen sei. Möglicherweise spricht der Unterschied aber auch für eine größere Normorientierung der Doktoranden als Wissenschaftsnovizen und dafür, dass ihr Ausdrucksrepertoire noch etwas kleiner ist als das der Experten und Handbuchautoren. Beide Korpora im Überblick: [SPRGF]
[GESCHW]
79 Texte
27 Texte
Handbuchartikel
Dissertationen
Publikationszeitraum: 1998–2004
Publikationszeitraum: 1996–2005
741.000 Textwörter (tokens)
3,66 Mio. Textwörter (tokens)
122.600 Wortformen (types)
206.376 Wortformen (types)
Type-Token-Verhältnis: 6,0
Type-Token-Verhältnis: 17,7
Frequenzrang 100 und höher: 709 Wortformen
Frequenzrang 500 und höher: 736 Wortformen
Für den Vergleich wurden im [SPRGF]-Korpus alle Wortformen, die 100-mal und öfter vorkommen, auf ihre Kollokationen und syntagmatische Umgebung hin untersucht. Für das etwa fünfmal größere [GESCHW]-Korpus wurden alle Wörter untersucht, die mindestens 500-mal vorkommen. Durch diese Beschränkung wird zum einen eine hinreichende proportionale Entsprechung der exemplarisch untersuchten Sprachdaten beider Korpora erreicht, zum anderen wird so ausgeschlossen, dass idiosynkratische oder individualsprachliche Verwendungsweisen in die Ergebnisse eingehen.
3. Zusammensetzung des höher frequenten Wortschatzes Bevor über die sog. Cluster- und die sog. Kollokationsanalyse des Programms AntConC relevante Konstruktionen ermittelt werden, soll ein Blick auf die Zusammensetzung des höher frequenten Wortschatzes beider Korpora geworfen werden. Erst von der lexikalischen Ebene ausgehend können Hypothesen über interessante Konstruktionen zu bestimmten Lexemen gewonnen werden. Davon abgesehen zeigt bereits die lexikalische Ebene wesentliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Korpora. Nachfolgend werden behandelt: (3.1) Themenwörter, (3.2) sog. shell nouns, (3.3) verbale Ausdrücke, (3.4) konnektierende Ausdrücke.
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3.1. Themenwörter Die offenbar zentralen Themenwörter beider Schwesterdisziplinen unterscheiden sich in erwartbarer Weise und zeigen erwartbare Parallelen. Die unter den 709 bzw. 736 häufigsten Wörtern vertretenen Themenwörter sind in ihrer Normalform in folgender Tabelle (Tab. 1) nach thematischen Zusammenhängen gruppiert; die Übereinstimmungen sind fett markiert. Unter anderem wird folgendes deutlich: Die Sprachhistoriker schreiben öfter als die Historiker über zeitliche Veränderungen; die Historiker hier eher über vergangene Zustände. Dieser Unterschied hängt aber offensichtlich mit der Textsortenverschiedenheit beider Korpora zusammen; Handbuchartikel fassen unabhängig von der jeweiligen Disziplin chronologisch ausgedehntere Zeiträume und Prozesse in den Blick als Dissertationen. In beiden Korpora sind die Ausdrücke Mitte, Ende, Anfang als Kollokatoren zu Jahrhundert oder Jahrzehnt bzw. zu Zahlwörtern hochfrequent; sie dienen der Orientierung in der Zeit und lösen sprachlich das Problem, dass Entwicklungen und Verläufe, aber auch Epochen selten exakt datierbar sind. Auf diese spezielle Gruppe von Ausdrücken wird hier nicht näher eingegangen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Versprachlichung nicht-exakter Zeitangaben von Wissenschaftsnovizen (Studierenden) gelernt werden muss, z. B. wenn in der Literatur unterschiedliche (exakte) Zeitangaben sinnvoll zusammengefasst werden sollen. Zudem steht die in den historischen Wissenschaftssprachen übliche Vagheit (nicht nur) bei Zeitangaben im Widerspruch zum angenommenen Exaktheitsideal ‚der‘ Wissenschaft. Die Themenwörter zeigen weiter, dass Sprachhistoriker das Lexem Gesellschaft verwenden, wenn sie auf einen wichtigen Faktor der Sprachgeschichte bezugnehmen wollen. Historiker dagegen verwenden andere Lexeme, und zwar v. a. Völker und Bevölkerung, und sie beziehen sich damit auf zentrale Akteure ihrer Geschichten, was die andere Wortwahl erklären könnte. Gesellschaft ist soziale Umwelt, Rahmen für Sprache und nicht historisches Subjekt. Die Thematisierung methodischer Gegenstände wie Quellen, Daten und Materialien ist in beiden Disziplinen stark; die auf sie bezugnehmenden Ausdrücke verteilen sich bei den Historikern aber auf mehr synonymische Varianten als bei den Sprachhistorikern. Auch dies könnte aber eher auf die Textsorten zurückzuführen sein. Dass bei besonders umfangreichen Dissertationen deren besondere Themenwörter, dies sind oft geographische Namen, in der Frequenzliste weit nach oben gelangen, ist nicht verwunderlich, hier aber nicht von Interesse; solche Themenwörter werden ignoriert.
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Ulrike Haß
[SPRGF]-Korpus
[GESCHW]-Korpus
Sprache, sprachlich, Kommunikation, Schriftsprache, Verwendung, Gebrauch, Sprachgeschichte, Sprachwissenschaft, deutsch, Deutsch, Quellen, Literatur, Tradition, Texte, Wort, Wortschatz, Grammatik, Wörterbuch, Syntax, Formen, Gesellschaft, Kultur, Raum, Luther, Frauen, Gegenwart, heutig, Jahrhundert, Varianten, $orm, System, Wandel, Einfluss, Entwicklung, Geschichte, Entstehung, Herausbildung, Folge, Prozess
Zeit, Kultur, Völker, $ation, Welt, Raum, Gebiet/e, Staat, Stadt, Regierung, Bevölkerung, Organisation, Konflikte, Krieg, Macht, Recht, Herrschaft, politisch,Stellung, Gefahr, Auseinandersetzung, Revolution, Einfluss, Entwicklung, Geschichte, Jahrhundert, Jahr, Material, Quellen, deutsch, Deutschland. Unterhalb der Frequenzschwelle 500mal: Daten, Dokument, Dokumentation, Materialien.
Tabelle 1: Die häufigsten Themenwörter, Übereinstimmungen sind fett markiert
3.2. shell nouns Ein anderer frequenter Teilwortschatz beider Korpora umfasst Ausdrücke mit unscharfer Referenz, sog. shell nouns (vgl. Schmid 1999), für die case, fact, idea, news, point, problem, report, thing prototypische Beispiele sind aus einem englischsprachigen Korpus mit breiter Textsorten- und Themenstreuung (vgl. Schmid 1999, 111), in dem wissenschaftssprachliche Texte keine explizite Rolle spielen: „Shell nouns are thought of as providing conceptual shells for complex chunks of information which are expressed by clauses or longer stretches of text. These in turn are seen as the ‘contents’ which fill in the nominal shells.“ (Schmid 1999, 116.)
Folglich ist die syntagmatische Einbettung von shell nouns in wissenschaftssprachlichen Texten hier von besonderem Interesse, insofern es disziplinenspezifische Formulierungsgebräuche geben könnte, nach denen die Inhalte, das ‚eigentlich Gemeinte‘ ausgedrückt wird. Außerdem macht erst die Kollokationsanalyse Polysemien deutlich wie bei Bedeutung (im Sinne von ‚Semantik‘ oder von ‚Relevanz‘) oder Gebiet (im Sinne von ‚thematischem Feld‘ oder von ‚Territorium‘). Hierbei ist jeweils eine Lesart allgemeinsprachlicher Natur und die andere wissenschafts- bzw. disziplinenspezifisch. Schmid (1999, 117 ff) identifiziert drei Funktionen mit Subfunktionen („cognitive effects“) dieser Klasse von Ausdrücken: • Co-activation of information and control of information selection • Temporary conceptual packaging o Conceptual partitioning o Temporary reification of complex cognitive content as ‘thing’ o Conceptual integration • Perspectivisation o Conceptual reconstruction o Evaluation o Topicalisation and focusing
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Übersetzt man diese kognitive Klassifikation in die Sprechhandlungsperspektive, können sich für die Analyse einzelner shell-noun-Konstruktionen nützliche Kriterien ergeben. Unten in Abschnitt 4 werden Konstruktionen zu den shell nouns Frage und Rolle untersucht, für die z. B. partitioning, reification und topicalisation, oft verknüpft mit evaluation zutreffen. Im Unterschied zu Schmid interessiert sich eine konstruktionslinguistische Perspektive allerdings für die usuellen bzw. musterhaften Funktionen. Die folgenden frequenten Ausdrücke beider untersuchter Korpora können als wissenschaftssprachliche shell nouns gelten. Im unteren Teil der Tabelle sind Ausdrücke aufgeführt, die oben schon zu den Themenwörtern gezählt wurden; offensichtlich gibt es einen Überschneidungsbereich zwischen (allgemeineren) Themenwörtern einer Disziplin und disziplinenspezifischen shell nouns: [SPRGF]-Korpus
[GESCHW]-Korpus
Art, Weise, Bereich, Rahmen, Sinn(e), Tendenz, Möglichkeiten, Frage, Aspekt, Fall, Form(en), Problem, Rolle, Vergleich, Verhältnis, Herausbildung, Darstellung, Beschreibung, Vergleich, Grundlagen, Arbeit, Untersuchung, Ansätze, Methode(n), Auswahl, Studie(n), Diskussion(en), Ausdruck, Begriff, Bedeutung
Rahmen, Sinn(e), Frage, Teil, Rolle, Grundlagen, Basis, Ende, Tatsache, Bereich, Untersuchung, Begriff, Ausdruck, Arbeit, Bedeutung, Seite (z. B. auf deutscher Seite)
Folge, Prozess, Tradition(en)
Geschichte
Tabelle 2: shell nouns; Übereinstimmungen sind fett markiert
Diese Nomina sind vor allem im Korpus [SPRGF] meist Kopf stark ausgebauter Nominalphrasen, die die referentielle Bedeutung des komplexen Ausdrucks erst konstituieren. Die stärkere Tendenz zur Nominalisierung im Sprachgeschichtskorpus geht sicherlich eher auf das Konto der Textsorte Handbuchartikel als auf das Konto der Disziplin. Sie zeigt sich bereits in der größeren Anzahl sowohl von shell nouns als auch von Themenwörtern im Korpus [SPRGF]. Es wird anhand von Cluster- und Kollokationsanalysen zu klären sein, inwieweit welche ausgebauten Nominalphrasen als wissenschaftssprachliche Konstruktionen verstanden werden können.
3.3. Verbale Ausdrücke Im Dissertations-Korpus [GESCHW] sind verbale Ausdrücke (Verben, Verbalsubstantive) weitaus häufiger als im Korpus [SPRGF] vertreten. Offensichtlich bevorzugen die Autoren beider Korpora einerseits Verbalsubstantive und andererseits Funktionsverbgefüge; letzteres lassen die zahlreichen semantisch blassen Verben vermuten. Es ist auffällig, dass im Gebrauch von Funktionsverbgefügen und von Modalverben weder die
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Ulrike Haß
Textsorte noch die Disziplin einen nennenswerten Unterschied bedingt. Hilfs- und Modalverben (einschließlich lassen) sind in der folgenden Tabelle jeweils ausgeklammert, obwohl man an ihren frequentesten Formen wissenschaftssprachliche Besonderheiten wie einerseits Tempus, Prädikativ-Konstruktionen und Passiv, andererseits Modalisierung und Epistemifizierung belegen kann. Gemeinsamkeiten sind fett markiert: [SPRGF]-Korpus
[GESCHW]-Korpus
Analyse, ausgehen, Beitrag, bestehen, bleiben, Darstellung, Diskussion, Einfluss, Entstehung, Entwicklung, Erforschung, erhalten, finden, fragen, gehen, gehören, gelten, handeln, Herausbildung, kommen, liegen, scheinen, stehen, stellen, Untersuchung, Veränderungen, Vergleich, verstehen, verwenden, zeigen, zurückgehen
Angabe, Aufbau, Auseinandersetzungen, ausgehen, Bewegung, Bezeichnung, bezeichnen, Darstellung, Einfluss, Entwicklung, erhalten, erkennen, erwähnen, finden, Forschung, Frage, geben, gehen, gehen um, gelten, handeln, hervorgehen, kommen, Leben, liegen, machen, nennen, scheinen, sehen, stellen, Untersuchung, Verbindung, Vergleich, zeigen, zurückgehen
Tabelle 3: Verben und Verbalsubstantive
3.4. Konnektoren Der Vollständigkeit halber soll noch ein Blick auf die Verteilung der konnektierenden Ausdrücke (Konjunktionen, Partikeln, Adverbien) unter den höher frequenten Wörtern beider Korpora geworfen werden. Epistemisch-adverbial gebrauchte Adjektive werden wegen ihrer textfunktionalen Ähnlichkeit mit den Konnektoren hinzugenommen; tatsächlich tauchen sie oft in Verbindung mit Konnektoren im engeren Sinne auf, z. B. wie überhaupt. Die in der unten stehenden Tabelle erkennbaren Unterschiede sind marginal und nur mit großer Vorsicht auf die unterschiedlichen Textsorten, nicht jedoch auf die Unterschiede der Disziplinen zurückzuführen, so z. B. wenn die Historiker in ihren Dissertationen häufig von den ‚parlando‘-Ausdrücken durchaus, lediglich, zumindest, überhaupt Gebrauch machen. Der Zwang zu knapper Darstellung und pointierter Ordnung einer heterogenen Forschungslage mag bei den Handbuchartikeln der Sprachhistoriker den häufigeren Gebrauch des einerseits … andererseits und die Abschwächungen meist, weitgehend, relativ begünstigen. Gemeinsamkeiten sind in der nachfolgenden Tabelle wie oben fett markiert, Abweichungen ungefettet und der besseren Sichtbarkeit halber unterstrichen.
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[SPRGF]-Korpus
[GESCHW]-Korpus
aber, allein, allerdings, andererseits, als, also, auch, bereits, besonders, bisher, da, dabei, dadurch, daher, damit, dann, darin, darüber (hinaus), dass, davon, dazu, denn, deshalb, deutlich, doch, ebenfalls, ebenso, eher, einerseits, einmal, erst, etwa, fast, ganz, gar, gerade, hier, indem, insbesondere, ja, jedoch, jeweils, kaum, mehr, meist, möglich, nämlich, neben, nicht, noch, nun, nur, ob, oder, relativ, schließlich, schon, sehr, seit, so, sogar, sondern, sowohl, stark, überhaupt, und, viel, während, weil, weit, weiter, weitgehend, wenn, wie, wieder, wobei, wohl, zugleich, zunächst, zwar
aber, allein, allerdings, als, also, auch, bereits, besonders, bisher, da, dabei, dadurch, dafür, dagegen, daher, damit, dann, darauf, darin, darüber (hinaus), dass, davon, dazu, denn, deshalb, deutlich, doch, durchaus, ebenfalls, ebenso, eher, einmal, erneut, erst, etwa, fast, ganz, gar, gerade, hier, hinaus, insbesondere, insgesamt, ja, jedoch, jeweils, kaum, lediglich, mehr, möglich, nämlich, neben, nicht, noch, nun, nur, ob, oder, schließlich, schon, sehr, seit, so, sogar, sondern, sowie, sowohl, stark, teilweise, trotz, überhaupt, und, viel, während, weil, weit, weiter, weiterhin, wenn, wie, wieder, wobei, wohl, zumindest, zunächst, zwar
Tabelle 4: konnektierende Ausdrücke
4. Konstruktionen im Vergleich Ausgehend von den zuvor beschriebenen frequenten lexikalischen Kategorien beider Korpora könnte man mittels der statistisch ansetzenden Kollokations- und Clusteranalyse in AntConC die frequentesten Syntagmen ermitteln und durch Vergleich ihrer Kontexte untersuchen, inwieweit sie einen Status als Konstruktion besitzen oder nicht. Dieser als „corpus driven“ bezeichnete Ansatz soll hier aber nicht strikt verfolgt werden. Stattdessen werden aus den Ergebnissen der Kollokations- und Clusteranalyse einige ‚interessante‘ Syntagmen jeder lexikalischen Kategorie ausgewählt und nicht zuletzt im Hinblick auf eine eventuelle Disziplin- bzw. Textsortenspezifik hin untersucht. Als ‚interessant‘ gelten hier Syntagmen („cluster“), die für eine Disziplinenspezifik bzw. für eine Textsortenspezifik sprechen könnten. Darüber hinaus interessiert auch, inwieweit sich Bedeutung und Gebrauch der Syntagmen in der Wissenschaftssprache von ihrem Gebrauch in der Gemein- bzw. Standardsprache unterscheiden. Letzteres wird mittels des Duden-Universalwörterbuchs, 6. Auflage (2007), ermittelt. Dabei ist auch damit zu rechnen, dass u. U. ein allgemeinsprachiges deutsches Wörterbuch wissenschaftssprachlichen Wortgebrauch nicht oder nur eingeschränkt behandelt. Nachfolgend werden die Konstruktionen zu: zwei Themenwörtern (Kultur, Geschichte), zwei shell nouns (Frage, Rolle), zwei verbalen Ausdrücken (zurückgehen, Einfluss) und ein in Konnexionen vorkommendes Adverb (überhaupt) beschrieben.
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Kultur SPRACHGESCHICHTSFORSCHUNG/ HANDBUCHARTIKEL
GESCHICHTSWISSENSCHAFT/DISSERTATIONEN
Textvorkommen:
Textvorkommen:
Als Themenwort kommt Kultur fast ausschließlich in Kapitel- und Beitragstiteln vor und gibt damit den thematischen Rahmen des nachfolgenden Texts an. Es signalisiert eine Sprachauffassung, die nicht nur das Sprachsystem, sondern auch alle infrage kommenden Aspekte des Sprachgebrauchs in Beschreibung und Argumentation einbezieht.
Als Themenwort kommt Kultur vor allem in Kapitel-Überschriften, Buch- und Zeitschriftentiteln vor, z. B. Kultur und Gedächtnis. In mehreren Dissertationen des Korpus wird das Wort v. a. am Textanfang und/oder am Textende gebraucht, was die Funktion des rahmenden Themenworts unterstreicht.
syntagmatische Einbettung:
syntagmatische Einbettung:
Konstruktionen sind:
Konstruktionen sind:
(1) XY-Kultur
(1) XY-Kultur
(2) [AdjAttr] Kultur
(2) [AdjAttr] Kultur [EomAttr]
(3) Kultur und [Eom]
(3) Kultur und [Eom]
Kultur ist produktives Wortbildungselement zur Bildung nominaler und adjektivischer Komposita wie Sprachkultur, sprachkulturell. Als Simplex wird Kultur typischerweise in zwei- oder dreiteiligen Aufzählungen mittels und mit folgenden Themenwörtern verknüpft: Sprache, Literatur, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Recht, Geschichte. Prä- und postnominale Attribute, gelegentlich auch Possessivartikel wie ihre schränken den Referenzbereich ein: französische Kultur, höfische Kultur, Kultur Frankreichs usw.
Kultur ist schwach produktives Wortbildungselement zur Bildung ausschließlich nominaler Komposita wie Kulturverein. Das Themenwort Kultur ist in zwei und mehrteiligen Aufzählungen mittels und verknüpft mit: Geschichte, Politik, Literatur, Religion, Sprache, Kunst. Als Simplex wird Kultur typischerweise mit prä- und postnominalen Attributen verbunden wie politische Kultur der Bundesrepublik, antike Kultur, Kultur der Weimarer Republik. Das Syntagma politische Kultur wird oft artikellos verwendet und steht daher im Verdacht, in bestimmter Weise lexikalisiert bzw. terminologisch fixiert zu sein.
semantisch-pragmatischer Kommentar:
semantisch-pragmatischer Kommentar:
Man sollte Kultur in sprachhistorischen Arbeiten nicht verwenden, um damit bestimmte Phänomene oder Prozesse zu erklären, denn dafür ist das Wort zu vage. Steht Kultur im Wortlaut eines gestellten Themas, sollte man sich Gedanken darüber machen, was im Einzelnen zur kulturellen Dimension des Themas gehört und z. B. Bezeichnungen für Unterbegriffe von Kultur suchen.
Mit Kultur bezieht man sich summarisch auf einen Teilaspekt bzw. Faktor von Geschichte und zwar so, dass normalerweise nicht spezifiziert wird, was darunter fällt.
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DUDEN-UNIVERSALWÖRTERBUCH, 6. AUFL. 2007 Abgesehen von den agrarwissenschaftlichen Fach-Lesarten wird in allen beschriebenen Lesarten das Merkmal der Hoch- oder gar Höherwertigkeit und der Leistung mehr oder weniger stark und explizit vermerkt. Kultur als Themenwort beider untersuchten historischen Wissenschaften wird am ehesten abgedeckt von Lesart 1 b) in Duden (2007), obwohl das Merkmal der Hochwertigkeit in der Wissenschaftssprache nicht impliziert ist: „Gesamtheit der von einer bestimmten Gemeinschaft auf einem bestimmten Gebiet während einer bestimmten Epoche geschaffenen, charakteristischen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen: die abendländische K.; primitive, frühe, verschollene, versunkene -en; die K. der Griechen, der Renaissance in Italien; ein Land mit alter K.“. Konstruktion (2) ist verzeichnet; die Konstruktionen (1) und (3) sowie das fachsprachliche Syntagma politische Kultur fehlen.
Geschichte SPRACHGESCHICHTSFORSCHUNG/ HANDBUCHARTIKEL
GESCHICHTSWISSENSCHAFT/DISSERTATIONEN
Textvorkommen:
Textvorkommen:
Als Themenwort kommt Geschichte häufig in Titeln und Überschriften vor. Es ist zugleich shell noun und bedarf der inhaltlichen Füllung durch Kollokationspartner.
Als Themenwort kommt Geschichte überwiegend in Titeln und Überschriften vor. Es ist zugleich shell noun und bedarf der inhaltlichen Füllung durch Kollokationspartner.
syntagmatische Einbettung:
syntagmatische Einbettung:
Konstruktionen:
Konstruktionen:
(1) XY-Geschichte
(1) XY-Geschichte
(2) [AdjAttr] Geschichte
(2) [Eom] zur Geschichte des/der [Eom]
(3) [Eom] zur Geschichte des/der [Eom] Geschichte wird fast ausschließlich als rechtes Kompositionselement (Sprachgeschichte) oder präund postattribuiertes Nomen (jüngere Geschichte des Deutschen) verwendet.
Geschichte ist produktiv als rechtes Element v. a. in folgenden Komposita: Entwicklungsgeschichte, Weltgeschichte, Stadtgeschichte, Vorgeschichte, Sozialgeschichte, Landesgeschichte, Zeitgeschichte, Militärgeschichte usw.
semantisch-pragmatischer Kommentar:
semantisch-pragmatischer Kommentar:
Mit dem Wort Geschichte beziehen sich Sprachhistoriker auf einen Teilaspekt von Sprache in diachroner Sicht. Die Konstruktionen (1) und (2) grenzen diese Gesamtheit je nach Perspektive des Schreibers ein. Die Konstruktion (3) ist seltener und typisch für Buch-, Aufsatz- und Reihentitel, z. B. Handbuch/Beiträge zur Geschich-
Mit dem Wort Geschichte beziehen sich Historiker auf die Gesamtheit ihrer Gegenstände. Konstruktion (1) grenzt diese Gesamtheit je nach Perspektive des Schreibers ein. Die Konstruktion (2) kommt fast ausschließlich in Buch- und Aufsatzsowie Reihentiteln vor. Als fakultative Nomen am linken Rand stehen häufig: Beiträge, Quellen,
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te des $euhochdeutschen. Die Nomen am rech- Studien, Dokumente, Texte, Urkunden, Dokumenten Rand bezeichnen oft Einheiten des Sprach- tation. systems wie Passiv, Lautsystem oder Sprachstufen und -regionen wie $euhochdeutsch, Bairisch. DUDEN-UNIVERSALWÖRTERBUCH, 6. AUFL. 2007 Die Lesarten 1a und 1c decken sich im Wesentlichen mit dem wissenschaftlichen Gebrauchs des Lexems und auch die Konstruktion (2) [AdjAttr] Geschichte ist verzeichnet. Die Konstruktion (1) XY-Geschichte ist im Wörterbuch teilweise repräsentiert, insofern einige, aber nicht alle o. g. wissenschaftssprachlichen Komposita als Stichwort angesetzt sind; darunter wird die Zugehörigkeit zu Wissenschaftssprache eher selten (nur bei Sprachgeschichte und Sozialgeschichte) markiert. Die jeweils zuletzt genannte Konstruktion [Eom] zur Geschichte des/der fehlt im gemeinsprachlichen Wörterbuch erwartungsgemäß.
Rolle SPRACHGESCHICHTSFORSCHUNG/ HANDBUCHARTIKEL
GESCHICHTSWISSENSCHAFT/DISSERTATIONEN
Textvorkommen:
Textvorkommen:
Themenwort und shell noun, das typischerweise am Anfang, bei der Erläuterung einer Fragestellung, und/oder am Ende eines Textes, in Schussfolgerungen und Fazit, verwendet wird.
Es begegnet als shell noun v. a. bei der Analyse einzelner historischer Akteure und Faktoren und ist meist in Begründungen und Argumentationen integriert.
syntagmatische Einbettung:
syntagmatische Einbettung:
Die verbreiteten Konstruktionen geben einerseits etwas an, dessen Wichtigkeit oder Einfluss z. B. auf die Sprachgeschichte zur Debatte steht, andererseits enthalten sie gewichtende Einstufungen.
Verbreitete Konstruktionen geben etwas an, dessen Wichtigkeit oder Einfluss auf eine Geschichte zur Debatte steht und zugleich gewichten sie diesen Einfluss.
Konstruktionen:
Konstruktionen:
(1) in/bei [Eom] eine [Adj.Attr.] Rolle spielen
(1) in/bei [Eom] eine [AdjAttr] Rolle spielen
(2) nach der Rolle des/der/von+ [Eom] fragen
(2) nach der Rolle des/der/von + [Eom] fragen
(3) zur Rolle des/der/von+ [Eom]
(3) zur Rolle des/der/ von + [Eom]
Typische Adjektive in Konstruktion (1) sind: wichtige, zentrale, große, größere, entscheidende, besondere, bedeutende – keine, kaum eine. Daneben steht eine Vielfalt weiterer fein abstufender Adjektive, mit denen sich die Schreiber
Typische Adjektive in Konstruktion (1) sind: wichtige, entscheidende, bedeutende, große, gewisse, untergeordnete, führende, herausragende – keine, kaum eine. Daneben steht eine Vielfalt weiterer fein abstufender Adjektive, mit denen
Zur Sprache von Sprachgeschichtsforschung und Geschichtswissenschaft
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hypothesenartige Stellungnahmen zur Art des Ein- sich die Schreiber hypothesenartige Stellungnahflusses erlauben. men zur Art des Einflusses erlauben. Mit den seltenen Konstruktionen: (4) [Poss] Rolle als [Eom], (5) in [Poss] Rolle als [Eom] nimmt der Schreiber eine spezifisch soziologische Perspektive ein und ordnet jemanden oder etwas, oft einen Staat, in ein (soziales) System ein, z. B. in seiner Rolle als Informant, als Generalsekretär; ihre Rolle als Hausfrau und Mutter übernehmen; seine Rolle als Subjekt der Geschichte wiederfinden. Rolle ist hier synonym mit Funktion. semantisch-pragmatischer Kommentar:
semantisch-pragmatischer Kommentar:
Man gebraucht Rolle dort, wo man über eine Einflussgröße der Sprachgeschichte nachdenkt und diskutiert, ohne schon ein abschließendes Urteil zu haben. Auch über die Art und Weise, in der die Einflussgröße auf etwas wirkt, muss man nichts sagen, wenn man die o. g. Konstruktionen mit dem Wort Rolle gebraucht. Die gewichtenden Adjektive erlauben persönliche Einschätzungen, die zwar begründet werden sollten, aber nicht objektiv gemessen werden können.
Man gebraucht Rolle (in 1, 2, 3) dort, wo man über eine Einflussgröße der Geschichte nachdenkt und diskutiert, ohne schon ein abschließendes Urteil zu haben. Oft werden so auch mehrere Einflussgrößen miteinander verglichen. Auch über die Art und Weise, in der die Einflussgröße auf etwas wirkt, muss man nichts sagen, wenn man die o. g. Konstruktionen mit dem Wort Rolle gebraucht. Die gewichtenden Adjektive erlauben persönliche Einschätzungen, die zwar begründet werden sollten, aber nicht objektiv gemessen werden können.
DUDEN-UNIVERSALWÖRTERBUCH, 6. AUFL. 2007 Die Lesart 5b in Duden (2007) entspricht den Konstruktionen (4 und 5) mit soziologischer Perspektive: „Stellung, [erwartetes] Verhalten innerhalb der Gesellschaft: anerzogene -n; die R. der Frau in Vergangenheit und Gegenwart; die soziale R.; die führende R. der Partei; die -n in der Gesellschaft vertauschen; er fühlte sich seiner R. als Vermittler nicht mehr gewachsen“. Unter den Phraseologismen findet sich eine Variante von Konstruktion (1): „[k]eine R. [für jmdn., etw./bei jmdm., einer Sache] spielen ([nicht] wichtig, [un]wesentlich [für jmdn., etw.] sein): die größte R. spielt für ihn, was die anderen dazu sagen; das spielt doch keine R.!; Geld spielt [bei ihr, dabei] keine R.;“. Semantik und Pragmatik klaffen bei der gemeinsprachlichen und der wissenschaftssprachlichen Variante aber doch deutlich auseinander. Über die Möglichkeiten des Schreibers, mittels Adjektivattribut abgestufte Gewichtungen vorzunehmen, erfährt man im Wörterbuch nichts.
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Frage SPRACHGESCHICHTSFORSCHUNG/ HANDBUCHARTIKEL
GESCHICHTSWISSENSCHAFT/DISSERTATIONEN
Textvorkommen:
Textvorkommen:
Shell noun, Distribution in der Textstruktur un- Shell noun, Distribution in der Textstruktur unspezifisch, selten. spezifisch; eher selten, individualsprachliche Vorlieben führen zu vereinzelten Frequenzhäufungen. syntagmatische Einbettung/ Konstruktionen:
syntagmatische Einbettung/ Konstruktionen:
(1) stellt sich die Fragen nach/ob
(1) die Frage nach
(2) die Frage nach/ob aufwerfen
(2) die Frage des/der
(3) [Teilsatz] ist die Frage.
(3) die [XY] Frage
(4) in Frage stellen
(4) die Frage, ob
(5) in Frage kommend (attributiv)
(5) stellt/erhebt sich die Frage nach/ob (6) in Frage stellen (7) in Frage kommen
semantisch-pragmatischer Kommentar:
semantisch-pragmatischer Kommentar:
Die Konstruktionen (1) und (2) dienen dazu, die Forschungsaufgabe anzugeben, der sich der Schreiber widmen will, der sich ein referierter Autor gewidmet hat oder der die scientific community sich nach Meinung des Schreibers widmen sollte. Oft sind mehrere syntaktisch mögliche Fragen zugleich gemeint, z. B.: haben wortgeographische Untersuchungen doch auch die Frage nach … Sprachkontakten und -kontinua aufgeworfen. Darin mitgemeint sind die Fragen: Wie viele Kontakte gab es? Welche? Wann? Wie beschaffen? Wie viele Kontinua? Welche? usw.
Die Konstruktionen (1) und (2) sind systematisch polysem, denn sie dienen dem Schreiber einerseits dazu, eine gestellte oder bearbeitete Forschungsaufgabe zu umreißen, andererseits nimmt ein Schreiber damit Bezug auf politische Aufgaben oder Probleme historischer Akteure, über die geforscht wird; die Lesart ist nur über den Satzkontext zu erschließen.
Die seltene Konstruktion (3) und die Konstruktion (4) drücken den Zweifel des Schreibers an einem vermeintlich sicheren Wissen(sstand) aus; der Schreiber will damit zum Überdenken anregen. (4) wird häufig negiert, d. h., dass der Schreiber das Fehlen angemessener Zweifel an etwas feststellt.
Die Lesart von Frage als ‚politisches Problem‘ findet sich realisiert in Konstruktion (3) mit linken Attributen oder Wortbildungselementen, z. B.: die Armenische Frage, die nationale Frage, die finanzielle Frage, die Karabach-Frage. Die Konstruktionen (4) und (5) beziehen sich monosem nur auf eine Forschungsaufgabe, die in sich meist komplex ist (wie im SPRGF-Korpus).
Konstruktion (6) ist ähnlich polysem: Eher selten wird damit der Zweifel des Schreibers an einem Forschungsergebnis ausgedrückt; überwiegend werden damit Verhältnisse im (politischen) GeMittels Konstruktion (5) nimmt der Sprecher auf genstandsbereich charakterisiert im Sinne von
Zur Sprache von Sprachgeschichtsforschung und Geschichtswissenschaft implizites gemeinsames Wissen der Community Bezug, um den Referenzbereich des Gemeinten einzuschränken, z. B. in anderen in Frage kommenden Sprachen; in allen in Frage kommenden Verbformen. Diese Konstruktion ist wegen der Implikaturen für Wissenschaftsnovizen besonders schwer verständlich.
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‚jemanden oder etwas in Einfluss oder Geltung schwächen‘, z. B.: die Seleukiden, deren Macht und Existenz in dieser Phase nicht von Osten her in Frage gestellt wird. Mit Konstruktion (7) nehmen Schreiber die Auswahl einer Teilmenge aus mehreren möglichen Gegenständen vor, z. B.: [Ortsnamen], die auch als Prägungszentren von vormonetären Pfeilspitzen in Frage kommen. Dabei ist die Begründung für die Auswahl meist nur implizit bzw. kontextuell erschließbar.
DUDEN-UNIVERSALWÖRTERBUCH, 6. AUFL. 2007 Die geschichtswissenschaftliche bzw. in Dissertationen übliche Konstruktion (3) die [XY] Frage ist in der Kompositionsvariante sogar als Stichwort angesetzt: „-fra|ge, die; -, -n: 1. bezeichnet in Bildungen mit Substantiven ein Problem, einen Komplex, der jmdn., etw. betrifft, der sich auf jmdn., etw. bezieht: Arbeiter-, Umweltfrage. 2. drückt in Bildungen mit Substantiven aus, dass es um etw. Bestimmtes geht, dass etw. im Vordergrund steht, ein wichtiges Thema darstellt: Disziplin-, Stil-, Überlebensfrage. 3. drückt in Bildungen mit Substantiven aus, dass alles von etw. abhängt: Geld-, Kostenfrage.“ Im Wortartikel Frage sind verschiedene der o. g. Konstruktionen aufgeführt: Die Konstruktion (1 bzw. 5): „es stellt sich die F. (man muss sich fragen), ob das reichen wird;“. Die Zweifel ausdrückende Konstruktion (3, SPRFG): „das ist noch sehr die F., ist die große F. (ist noch sehr zweifelhaft)“. Unter Lesart 2. (Problem; zu erörterndes Thema, zu klärende Sache, Angelegenheit) findet sich: „eine F. aufwerfen, anschneiden, diskutieren; über wissenschaftliche, politische -n sprechen“. Es fehlt die Variante eine Frage erhebt sich. Unter den Phraseologismen finden sich die Konstruktionen (4 und 5 bzw. 6 und 7) in Frage stellen und in Frage kommen: „in den Wendungen i./in F. kommen (in Betracht gezogen werden): von den Bewerbern kommen nur zwei i./in F.; das kommt gar nicht i./in F.; jmdn., etw. i./in F. stellen (an jmdm., etw. zweifeln): er hat das ganze Projekt i./in F. gestellt; etw. i./in F. stellen (etw. gefährden, ungewiss, unsicher machen; etw. anzweifeln): wegen der Erkrankung ist die ganze Aufführung i./in F. gestellt; die Anerkennung ihrer Leistungen wird keinesfalls i./in F. gestellt.“ Insgesamt lässt sich sagen, dass das Wörterbuch etliche der Syntagmen mit dem Lexem Frage aus den Wissenschaftssprachen formal-syntaktisch aufweist, dass ein wissenschaftssprachlicher Gebrauch aber semantisch-pragmatisch und im Blick auf die repräsentierten Diskurse ausgeblendet bleibt. Phraseologische Angaben scheinen im Universalduden sogar eher zur Umgangssprache hin angelegt zu sein, so dass ein Transfer auf den wissenschaftssprachlichen Gebrauch nicht nahegelegt bzw. erschwert wird.
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zurückgehen SPRACHGESCHICHTSFORSCHUNG/ HANDBUCHARTIKEL
GESCHICHTSWISSENSCHAFT/DISSERTATIONEN
Textvorkommen:
Textvorkommen:
Unspezifisch. Konstruktion (1) kommt ‚gern‘ in Unspezifisch, tendiert aber zum Vorkommen in nicht-restriktiven Relativsätzen vor, liefert also einleitenden Textteilen dort, wo ein Forschungseine Nebeninformation. stand rekapituliert wird. Kommt nicht in Textteilen vor, in denen Schreiber die eigenen Ergebnisse diskutieren. syntagmatische Einbettung/Konstruktionen:
syntagmatische Einbettung/Konstruktionen:
(1) etwas geht auf etwas/jemanden zurück
(1) etwas geht auf jemanden zurück
(2) zurückgehen
(2) zurückgehen um … auf
semantisch-pragmatischer Kommentar:
semantisch-pragmatischer Kommentar:
Mit Konstruktion (1) wird eine Ursache (seltener ein Urheber) für etwas angegeben, die bzw. der nicht immer, aber doch oft zugleich eine Erklärung aus einer Tradition heraus ist, z. B.: Suffixbildungen, die auf Reflexivkonstruktionen zurückgehen; Verfahren, die auf Petrus Ramus zurückgehen. Das Nennen einer Ursache wird mit dieser Konstruktion gewissermaßen ‚im Vorbeigehen‘ und ohne explizite Rechtfertigung oder Begründung erledigt; der Schreiber vertraut auf den Konsens der scientific community und darauf, dass die genannte Ursache im gemeinsamen Wissen enthalten ist. Will man also eine innovative Ursache für etwas angeben, sollte man sich unbedingt anders als mit diesem Verb ausdrücken und sehr viel expliziter begründen. In Konstruktion (2) wird das Verb einwertig im Sinne von ‚weniger werden, schwächer werden‘ und ohne weitere Quantifizierungen gebraucht.
Mit Konstruktion (1) werden konkrete oder abstrakte Gegenstände in ihrem Sosein überwiegend durch Hinweis auf einen menschlichen Urheber, eine Person der Vergangenheit erklärt. Die Benennung eines Urhebers wird mit dieser Konstruktion genau wie im SPRGF-Korpus eher nebenbei und mit vorausgesetztem Konsens behauptet statt explizit erläutert, z. B.: dass derlei unkritische Meinungen nicht zuletzt auch auf die Weltkriegspropaganda unter Churchill zurückgehen. In Konstruktion (2) wird das Verb einwertig im Sinne von ‚weniger werden, schwächer werden‘ gebraucht, z. B. von Einwohnerzahlen oder Wählerstimmen. Anders als im SPRGF-Korpus werden dazu meist Quantifizierungen genannt.
DUDEN-UNIVERSALWÖRTERBUCH, 6. AUFL. 2007 Beide Konstruktionen sind vertreten, wenn auch ohne Wissenschaftsbezug: Duden (2007), Lesart 4 b) „abnehmen, sich verringern: die Fischbestände gehen immer mehr zurück; das Fieber, das Hochwasser ist etwas zurückgegangen (gesunken); die Produktion, der Umsatz geht kontinuierlich zurück.“ – Lesart 6. „seinen Ursprung in etw. haben; von jmdm., etw. herstammen: diese Redensart geht auf Luther zurück“. Hier besteht jedoch die nicht unerhebliche Abweichung, dass in der Gemeinsprache zwischen Urheberschaft und Kausalität (Ursache) nicht differenziert wird; dies scheint in der Wissenschaftssprache zwar meist, aber auch nicht durchgehend unterschieden zu werden.
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Einfluss SPRACHGESCHICHTSFORSCHUNG/ HANDBUCHARTIKEL
GESCHICHTSWISSENSCHAFT/DISSERTATIONEN
Textvorkommen:
Textvorkommen:
Unspezifisch; das Nomen einschließlich aller Fle- Unspezifisch; das Nomen einschließlich aller Flexionsformen ist häufig, das Verb einfließen fehlt xionsformen kommt häufig, Formen des Verbs ganz. einfließen etliche Male vor. syntagmatische Einbettung/ Konstruktion:
syntagmatische Einbettung/ Konstruktion:
(1) unter dem Einfluss [Attr]
(1) [AdjAttr] Einfluss auf [Eom]
(2) [AdjAttr] Einfluss auf [Eom]
(2) unter dem Einfluss [Attr]
semantisch-pragmatischer Kommentar:
semantisch-pragmatischer Kommentar:
Mit Konstruktion (1), die Adverbial bzw. Supplement zu Verb oder Nomen ist, wird gewissermaßen im Vorübergehen und ohne längere Umschweife eine Ursache, oft eine Neben-Ursache von etwas ausgedrückt, z. B.: Veränderungen unter dem Einfluß der feministischen Sprachkritik; verändern sich teilweise unter dem Einfluß der Hörer-Resonanz. Die Konstruktion geht also mit einem stark komprimierten, nominalisierenden Stil einher.
Die präpositionale Konstruktion (2) mit unter ist in diesem Korpus proportional seltener als im SPRGF-Korpus – sicherlich eine Folge der Textsorte; in den Dissertationen wird expliziter formuliert. In der Regel werden Nominalgruppen mit Einfluss als Kopf in Subjekt- oder Objektfunktion gebraucht. Gebräuchliche Adjektivattribute sind v. a. quantifizierende bzw. graduierende (groß, entscheidend, keinerlei), daneben spezifizierende (wie politisch, ägäisch, wirtschaftlich) und auch solche, die von Staats- bzw. Völkernamen oder Personenbezeichnungen abgeleitet sind (preußisch, bischöflich, usw.).
Konstruktion (2) kennt zwei Arten von Adjektivattributen: Quantifizierende bzw. graduierende wie starke, verschiedene, und (oft) denominale, die implizit das Agens des Einfluss-Ausübens angeben wie fränkische, schriftsprachliche usw. Die Konstruktionen sind in den Dissertationen Insbesondere dort, wo beide Konstruktionen komdeutlich seltener als in den Handbuchartikeln. biniert auftreten, ist das komplexe Gemeinte für Dies kann auch damit zusammenhängen, dass Wissenschaftsnovizen schwer zu verstehen. eine Aussage wie ‚X hat bedeutenden Einfluss auf Y ausgeübt‘ nicht besonders genau ist und daher eher in Überblicksdarstellungen zum Forschungsstand gerechtfertigt ist als in Dissertationen. DUDEN-UNIVERSALWÖRTERBUCH, 6. AUFL. 2007 Beide Konstruktionen sind nur formal-syntaktisch gegeben. Für [AdjAttr] Einfluss auf [Eom] wird ein germanistisches Beispiel formuliert: „der E. der französischen Literatur auf die deutsche“. Für die andere Konstruktion jedoch, unter dem Einfluss [Attr], die für eine komprimierte Ausdrucksweise wichtig und typisch ist, werden folgende, pragmatisch irreführenden Beispiele gegeben: „er stand unter ihrem E.; unter dem E. von Drogen“.
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Ulrike Haß
überhaupt SPRACHGESCHICHTSFORSCHUNG/ HANDBUCHARTIKEL
GESCHICHTSWISSENSCHAFT/DISSERTATIONEN
Textvorkommen:
Textvorkommen:
Der Gebrauch des Adverbs in Verbindung mit einem Konnektor oder einer Negationspartikel streut in den Texten stark und folgt möglicherweise individuellen Stilvorlieben.
Der Gebrauch des Adverbs in Verbindung mit einem Konnektor oder einer Negationspartikel streut in den Texten stark und folgt möglicherweise individuellen Stilvorlieben
syntagmatische Einbettung/Konstruktionen:
syntagmatische Einbettung/Konstruktionen:
(1) überhaupt nicht
(1) überhaupt nicht
(2) überhaupt erst/noch
(2) überhaupt kein-
(3) überhaupt nur
(3) überhaupt nur dann
(4) wie überhaupt
(4) wenn überhaupt, dann
(5) wenn überhaupt
(5) ob es (denn) überhaupt
semantisch-pragmatischer Kommentar:
semantisch-pragmatischer Kommentar:
Die Konstruktion (1), (2) und (3) dienen v. a. dem Verstärken einer Negation bzw. Einschränkung. In Konstruktion (4) modifiziert überhaupt den Konnektor wie, um den Geltungsbereich einer vorangehenden Bezeichnung auszudehnen, z. B.: hielten die Ausbildung der dt. Redekunst wie überhaupt der dt. Sprache für eine Voraussetzung für ….
Die Konstruktionen (1), (2), (3), (4) dienen v. a. dem Verstärken einer Negation bzw. Einschränkung. Der Schreiber drückt damit sehr entschieden die eigene Meinung aus, die im Argumentationskontext begründet werden muss. Fehlt eine Begründung, unterstellt der Schreiber implizit den Konsens der scientific community und das Einverständnis des Lesers – hoffentlich zurecht!
Mit Konstruktion (5) markiert der Schreiber einen Mit Konstruktion (5) markiert der Schreiber einen Bedingungsfall als besonders unwahrscheinlich, Bedingungsfall als besonders unwahrscheinlich z. B.: Es gibt … nicht viele Zeugnisse, da, wenn und schränkt ihn ein. überhaupt, nur der Dialekt unterschichtiger Personen notiert wurde DUDEN-UNIVERSALWÖRTERBUCH, 6. AUFL. 2007 Die Funktion von Negation und Verstärkung von überhaupt werden beschrieben. Daneben werden umgangssprachliche Verwendungsweisen behandelt („und überhaupt“), die sich nicht auf die wissenschaftssprachlichen abbilden lassen. Der Gebrauch in Konditionalkonstruktionen fehlt.
5. Fazit Die Untersuchungen haben einige der Schwierigkeiten, die Wissenschaftsnovizen beim Lesen und Schreiben haben, exemplarisch konkret werden lassen. Dazu gehört offensichtlich, dass zumindest in den Geisteswissenschaften erstaunlich vage formuliert wird.
Zur Sprache von Sprachgeschichtsforschung und Geschichtswissenschaft
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Dabei scheint der Bedarf an vagen Formulierungsmöglichkeiten vor allem in Texten und Teiltexten mit der Funktion des Überblicks zu bestehen; der Bedarf lässt sich aber gut begründen. Ferner wird in Handbuchartikeln komprimierter und impliziter geschrieben als in Monographien, was nicht verwundert. Aber inwieweit wird dies didaktisch berücksichtigt? Einen Spezialfall stellen die oft vage formulierten Titel von Publikationen, v. a. Büchern und Reihentiteln (nach einem Muster wie Aspekte zum Problem des/ der XY) dar, die die Experten mit wichtigem Lektüre-Vorwissen versorgen, das Novizen fehlt. Die Untersuchungen der Korpora haben vor allem gezeigt, dass die Wissenschaftssprachforschung den Textsorten mehr Aufmerksamkeit schenken sollte, denn offensichtlich haben sie einen größeren Einfluss auf den Gebrauch der allgemeinen Wissenschaftssprache. Die Unterschiede zwischen Handbuchartikel und Dissertation erweisen sich als größer als die zwischen Sprachgeschichtsforschung und Geschichtswissenschaft. Des Weiteren stellen sich die Unterschiede der Disziplinen untereinander weniger stark dar, wenn man beide mit der allgemeinen und Standardsprache, wie sie der Universal-Duden repräsentiert, vergleicht. Die Frage, inwiefern wissenschaftssprachliche Konstruktionen im Universal-Duden abgedeckt sind, zeigt zunächst, dass sie formalsyntaktisch vorhanden sind, dass ihre semantisch-pragmatische Dimension aber regelhaft nicht berücksichtigt wird; seltene Ausnahmen zeigen sich in den Wissenschaften, in denen die Lexikografen vermutlich selbst ausgebildet sind (in der Germanistik). Da Konstruktionen aber als Einheit aus Form und Bedeutung definiert wurden, genügt eine formal-syntaktische Übereinstimmung nicht, um zu behaupten, eine Konstruktion sei im Wörterbuch repräsentiert. Und damit kommt ein Wörterbuch wie das hier herangezogene als Instrument der Wissenschaftsvermittlung und -erklärung nicht in Betracht. Wie groß die Distanz zwischen Universal-Duden und allgemeiner Wissenschaftssprache ist, zeigt sich auch an den wichtigen Kompetenzbeispielen. Es fällt nämlich auf, dass die Argument-Realisierungen lemmatisierter Lexeme im Universal-Duden wenn möglich immer personaler Art sind, nach dem Muster jemand übt Einfluss auf jemanden aus, jemand spielt eine Rolle für jemanden. Die Realisierung durch nicht-personale Bezeichnungen (etwas, für etwas) wird in den Strukturformeln zwar keineswegs unterschlagen, aber doch nachrangig behandelt. Dies wird besonders in den Beispielangaben deutlich, wo die Lexikografen sich überwiegend für personale Argument-Realisierungen entscheiden, so dass „jemand einen Einfluss auf jemanden ausübt“, und zwar – regulär? – einen „schlechten“. In den Wissenschaftssprachen, insbesondere in den Geisteswissenschaften sind Argument-Realisierungen aber typischerweise nicht-personal, weil dort in aller Regel über Sachverhalte und Prozesse konstruierter Konzepte geschrieben und gesprochen wird. Ich vermag hier nicht zu entscheiden, ob die damit verbundene Transfer-Anforderung als hoch oder niedrig einzuordnen ist. Nun ist von einem allgemeinsprachlichen Wörterbuch nicht zu erwarten, dass es anders und so verfährt, dass NutzerInnen den Transfer in ihre eigene Wissenschaftssprache leicht vollziehen können. Aber damit wird zugleich die beträchtliche Differenz
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Ulrike Haß
der Varietäten bzw. Diskurse deutlich und die Herausforderung, die die universitäre Vermittlung wissenschaftlichen Arbeitens, d. h. vor allem des wissenschaftlichen Lesens und Schreibens darstellt. Eine plausible Forderung an die Wörterbuchlandschaft einer ‚Wissensgesellschaft‘ wie der unsrigen wäre aber, wissenschaftliche Varietäten in Form wissenschaftssprachlichen Korpusmaterials stärker zu berücksichtigen als bisher, sei dies in Form markierter Angaben und Beispiele oder aber in Form eines ‚Wörterbuchs der allgemeinen Wissenschaftssprache Deutsch‘, das wir brauchen.
6. Zitierte Literatur Adamzik, Kirsten/Jürg Niederhauser (1999): Fach-/Wissenschaftssprache versus Gemeinsprache im Laiendiskurs und im linguistischen Fachdiskurs. In: Wissenschaftssprache und Umgangssprache im Kontakt. Hrsg. v. Jürg Niederhauser/Kirsten Adamzik. Frankfurt a. M. u. a., 15–37. Auer, Peter/Harald Baßler (Hgg.) (2007): Reden und Schreiben in der Wissenschaft. Frankfurt a. M. Besch, Werner/Anne Betten/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger (Hgg.) (²1998, ²2000, ²2003, ²2004): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1; 2.2; 2.3; 2.4). Ehlich, Konrad (1993): Deutsch als fremde Wissenschaftssprache. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 19, 13–42. Ehlich, Konrad (1995): Die Lehre der deutschen Wissenschaftssprache: sprachliche Strukturen, didaktische Desiderate. In: Linguistik der Wissenschaftssprache. Hrsg. v. Heinz L. Kretzenbacher/Harald Weinrich. Berlin/New York, 325–351. Fandrych, Christian (2002): Herausarbeiten vs. illustrate: Kontraste bei der Versprachlichung von Sprechhandlungen in der englischen und deutschen Wissenschaftssprache. In: Mehrsprachige Wissenschaft – europäische Perspektiven. Eine Konferenz im europäischen Jahr der Sprachen. Hrsg. v. Konrad Ehlich. München 2002, 1–28; elektronisch unter: http://www.euro-sprachenjahr.de/Fandrych. pdf (14. 2. 2011). Fischer, Kerstin/Anatol Stefanowitsch (Hgg.) (2008a): Konstruktionsgrammatik I. Von der Anwendung zur Theorie. Tübingen. Fischer, Kerstin/Anatol Stefanowitsch (2008b): Konstruktionsgrammatik. Ein Überblick. In: Fischer/Stefanowitsch 2008a, 3–17. Gruber, Helmut (2006): Genre, Habitus und wissenschaftliches Schreiben. Eine empirische Untersuchung studentischer Texte. Wien. Haß, Ulrike (2005): Semantische Umgebung und Mitspieler. In: Grundfragen der elektronischen Lexikographie. elexiko – das Online-Informationssystem zum deutschen Wortschatz. Hrsg. v. Ulrike Haß. Berlin, 227–234. Haß, Ulrike (2009): Sprachanalyse und Sprachkritik mithilfe moderner Medien. Vortrag in der Reihe „Die kleine Form”. Universität Duisburg-Essen, 22. April 2009. Video des Vortrags mit Folien unter: http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=20241. Schmid, Hans-Jörg (1999): Cognitive effects of shell nouns. In: Discourse Studies in Cognitive Linguistics, Berlin u. a., 111–132; elektronisch unter http://www.anglistik.uni-muenchen.de/personen/ professoren/schmid/schmid_publ/ cognitive_effects.pdf (16. 2. 2011) Stefanowitsch, Anatol/Stefan Th. Gries (2003): Collostructions: Investigating the interaction of words and constructions. In: International Journal of Corpus Linguistics 8:2 (2003), 209–243; elektronische
Zur Sprache von Sprachgeschichtsforschung und Geschichtswissenschaft
411
Vorab-Version unter: http://www.linguistics.ucsb.edu/faculty/stgries/research/Collostructions_IJCL.pdf (14.2.2010) Steinhoff, Torsten (2007): Wissenschaftliche Textkompetenz. Sprachgebrauch und Schreibentwicklung in wissenschaftlichen Texten von Studenten und Experten. Tübingen.
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Ulrike Haß
EKKEHARD FELDER / FRIEDEMANN VOGEL
Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt Zur Idiomatisierung von Zeitgeschichte in Medientexten von 2001 bis 2010
1. Einleitung zum Problembereich: Idiomatische Ordnung der Sachgeschichte 2. Das Ontische aus dem Blickwinkel der Idiomatik 3. Zielsetzung und erkenntnisleitendes Interesse 4. Die Bewältigung von LEBENSWELTEN in Medientexten von 2001 bis 2010 5. Zusammenfassung 6. Zitierte Literatur
1. Einleitung zum Problembereich: Idiomatische Ordnung der Sachgeschichte Der Titel des Sammelbandes lautet „Geschichte der Sprache – Sprache der Geschichte“. Der vorliegende Aufsatz möchte einen Beitrag zur Sprache der Geschichte leisten. Denn im Sprechen und Schreiben über Historisches werden Referenzobjekte kreiert, die einerseits etwas Ontisches haben (z. B. Gedenkstätten, Museen) oder früher einmal hatten (der historische Sachverhalt selbst zu seiner originären Zeit), andererseits im erinnernden Diskurs immer wieder konstituiert werden und im Rahmen von sprachlichen Kommemorationsformen erneut geschaffen werden. Mit der Frage, ob wir mit sprachlichen Zeichen auf Begriffe oder Konzepte einerseits und/oder auf Referenzobjekte mit ontischem Status andererseits referieren, ist ein Problemkreis angesprochen, den – so wissen wir durch viele Gespräche – auch den durch diesen Band zu Ehrenden umtreibt und die uns gleichermaßen seit langem beschäftigt. Wie verhält es sich mit den Dingen außerhalb der Sprache? Genauer formuliert: Wie können wir das Ontische – das wir durch unsere außer- und vorsprachliche Primärerfahrung als Gegebenes unterstellen – in unseren Erklärungsversuchen über das schwierige Verhältnis von ‚sprachlichem Ausdruck‘ – ‚mentalem Korrelat oder Konzept‘ – ‚Referenzobjekt bzw. Sachverhalt‘ adäquat berücksichtigen? Oder noch konkreter gefragt: Welche sprachlichen Indikatoren und Muster geben Aufschluss darüber, wie wir historische Ereignisse, Handlungen und Einstellungen begrifflich und sprachsystematisch verarbeiten bzw. kategorisieren?
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Ekkehard Felder/Friedemann Vogel
Zur Erläuterung des Problemkreises seien die folgenden Gedanken vorangestellt: Wir können nicht umhin, uns auch über das Unaussprechliche oder das sprachlich kaum zu Erfassende Gedanken zu machen, obschon wir unter Berufung auf Kant die Einsicht in die unhintergehbare Bedingtheit des menschlichen Erkenntnisvermögens teilen. Seine Grundannahme lautet: Unsere Erkenntnis bezieht sich nicht auf die Dinge, sondern die Dinge, wie wir sie anschauen, beziehen sich auf unsere Erkenntnis (und das, was wir selbst in sie legen).1 Sprachwissenschaftler mit hermeneutischem Erkenntnisinteresse rücken in diesem Zusammenhang mit Verweis auf Humboldt konsequent die natürliche Sprache in den Mittelpunkt der Wahrnehmungs- und Kategorisierungsprozeduren. Humboldt formuliert diesbezüglich: „Der Mensch lebt auch hauptsächlich mit den Gegenständen, so wie sie ihm die Sprache zuführt, und da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängt, sogar ausschließlich so.“ (Wilhelm v. Humboldt (1827–1829, 224). Dieses Humboldt’sche Zitat weist Sprache eine, wenn nicht sogar die zentrale Rolle bei der Bearbeitung der kulturellen Grundsatzfrage zu, wie Sachverhalte der Welt dem Erfahrungshorizont von Individuen begegnen. Denn Dinge und Sachverhalte machen wir uns in der Gestalt kommunikativ vermittelter Zeichen verfügbar. Der Fokus wird also von den Dingen weg auf deren Anschauungen verlagert, die uns in der Gestalt kommunikativer und medienvermittelter Sprach- und Bildzeichen begegnen (Köller 2004). Jedoch ist damit nicht die Frage zu klären, wie Nichtsprachlichkeit oder Außersprachliches in der linguistischen Modellbildung über Bedeutung und Textverstehen zu berücksichtigen ist. Zwischen vielen Sprachwissenschaftlern besteht Konsens darüber, dass unser Wissen über die Welt, unsere Erkenntnis und die Wahrnehmung unserer Umgebung im Wesentlichen durch die sprachlichen Mittel beeinflusst sind, die uns das Sprachsystem zum sprachlichen Handeln zur Verfügung stellt und die wir als Rezipienten von Äußerungen wahrnehmen. Trotzdem verspüren wir intuitiv das Bedürfnis oder gar den Drang, an die Dinge selbst heranzukommen, gleichsam unverstellt die Wurzeln der Erkenntnisobjekte erreichen oder die Dinge in ihrer Ursprünglichkeit und Eigentlichkeit entdecken zu wollen (vgl. auch Gardt 2012). In diesem Zusammenhang wird eine grundsätzliche Frage aufgeworfen: Wie lässt sich die Welt der Gegenstände und Sachverhalte (Objektsphäre) mit Hilfe von natürlichsprachlichen Zeichen in Verbindung bringen mit der Welt des Denkens und Wissens (Wirklichkeitswahrnehmung/-verarbeitung des Subjekts)? Diese Frage soll im Folgenden mit dem Fokus auf die Sachebene oder Sachgeschichte diskutiert werden. Die folgende These liegt den Ausführungen zugrunde: Wer die Sachverhalte der Welt sprachlich fasst bzw. „zubereitet“ (Jeand’Heur 1998), schafft dadurch Realitäten (Greiffenhagen 1980). Realitäten können von daher als Versuch der sprachlich gebundenen Faktizitätsherstellung beschrieben werden. (Felder 2006.) Auf Grund dessen ist von besonderem Interesse, welche Sachverhalte der Sachgeschichte in
1
Vgl. die Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (B XVII–XIX).
Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt
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bestimmten sprachlichen Formen als Datum („Gegebenes“) und Faktum („Gemachtes“) assertiert werden.
2. Das Ontische aus dem Blickwinkel der Idiomatik Bei der Strukturanalyse von solchen Prozessen – dem Verbinden der Objektsphäre mit der Subjektsphäre durch sprachliche Zeichen – gehen wir davon aus, dass Konzeptualisierungen in Zeichenverkettungen als kommunikativ eingeübte und erfahrene Wissensformen ausfindig gemacht werden können. Spezifische Zeichenverkettungen können sich mit der Zeit sprachlich und sozial als Wahrnehmungs, Objektivierungs- und Handlungs m u s t e r stabilisieren. Aufzuspüren sind solche Muster in Texten mit konventionalisierten Zeichen und Zeichensystemen bzw. Stiltraditionen (Textverstehen als Spurenlesen) – s i e k ö n n e n a l s s p r a c h l i c h k o n s t i t u i e r t e K u l t u r p r o d u k t e a n g e s e h e n w e r d e n . Erkenntnistheoretisch gesehen ordnen diese natürlichsprachlichen Strukturierungsmittel unsere Vorstellungsinhalte und gehören zu den konstitutiven Bestandteilen von wahrgenommenen Sinninhalten. Auf Grund dessen sind s p r a c h l i che Elemente idiomatische Steuerungsmittel. Unter i d i o m a t i s c h (vgl. einführend und grundlegend Reichmann 21976) verstehen wir hier Eigentümlichkeiten bzw. charakteristische Spezifika der Sprachverwendung einer gesamtgesellschaftlichen Funktionsgruppe – hier die Funktionsträger der institutionellen Medienkommunikation. Unter „Idiomatizität“ versteht man die Eigenschaft natürlicher Sprachen, feste Wortverbindungen zu verwenden, deren Bedeutung nicht als die Summe der Einzelelemente beschreibbar ist. Unter m e d i a l fassen wir sowohl das Medium Sprache als auch die Medienangebote und die Medieninhalte selbst. Im Kontext der Analyse von Medientexten interessiert vor allem die Frage, dank welcher Qualitäten Sprache (inhaltsseitig sprachliches Wissen wie ausdrucksseitig Äußerungseigenschaften umfassend) als ein System der Verhaltensorientierung dienen kann. Die idiomatische Ordnung sprachlichen Wissens spiegelt sich in einer bestimmten Ausformung unserer Wissensrahmen (Busse 1992, Felder 2003) wider und ist zugleich Orientierungsrahmen der Verständigung.2 Sprecher nutzen demnach sprachlich benannte Unterscheidungen, um Erfahrungen und Vorstellungen (beispielsweise über den Gewaltbegriff oder die Berliner Mauer) zu artikulieren und umgekehrt werden solche Benutzungserfahrungen mit Wörtern zum Bestandteil sprachlichen Verwendungswissens, und der Gebrauch von Sprache orientiert sich in jedem Einzelfall an solchen Erfahrungen. Das Ontische der im historischen Diskurs referierten Sachverhalte zeigt sich demnach nur in sprachlichen und bildlichen Zeichen (vgl. zu Bildzeichen Scholz 1998, Stöckl 2004, Felder 2007) – einen unmittelbareren Zugang gibt es nicht. Die Sprache ist das 2
Feilkes Konzept einer „Common sense-Kompetenz“, vgl. Feilke 1994, 373 ff.
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Ekkehard Felder/Friedemann Vogel
Ordnung stiftende Moment bei der Begegnung des Subjekts mit den historischen Objekten. Insofern muss die sprachliche Ordnung als Konstitutionsfolie der historischen Tatsachen adäquat berücksichtigt werden. Diese vorstrukturierende Kraft sprachlicher Objektivierungsprozesse hat Humboldt in einer befremdlichen wie auch plausiblen Definition des F o r m b e g r i f f s zum Ausdruck gebracht, als er die geistigen Kräfte, die aus dem Sprachvermögen erwachsen, näher kennzeichnen wollte (im Kontext des Energeia-Begriffs): „Unter Form kann man nur Gesetz, Richtung, Verfahrensweise verstehen“ (Humboldt 1903, 455). Humboldt verweist mit seinem Verständnis von Form als „Gesetz, Richtung, Verfahrensweise“ auf einzelsprachliche Unterschiede. Aus diesem Grunde geht es um das Ermitteln lexikalischer und grammatischer Ordnungsmuster sowie der in ihnen wirksamen sprachlichen Formungsprinzipien. Diese unterschiedlichen Formungsprinzipien betrachtete schon Humboldt als das eigentliche Einfallstor für den Einfluss der Sprache auf das Denken. Diese Aussage in ihrer Grundsätzlichkeit ist unbefriedigend, weil zu unspezifisch. Aus diesem Grund sollen die konkreten Konsequenzen dieser Annahmen an einem kleinen Weltausschnitt gezeigt werden. Es geht um ein anscheinend deontisches Grundgebot in Bezug auf die Vergangenheit, das man wie folgt resümieren kann: Unangenehmes, Unsittliches, Unmoralisches, Verwerfliches und Ähnliches bedarf der Bewältigung. Nun treibt uns die Frage um, was es bedeutet, wenn man einen historischen Sachverhalt bewältigen möchte, und was genau darunter zu verstehen ist. Dabei handelt es sich prima facie zunächst einmal um eine nicht sprachliche Fragestellung. Berücksichtigt man allerdings die eingangs dargelegten Zusammenhänge, so muss man sich über die sprachlichen Zeichen, die im Unfeld des Konzeptes ›Bewältigung von Historischem‹ einschlägig sind, Gedanken machen. Sind diese ausdrucksseitigen Realisierungsformen bestimmt, dann kann über eine systematische Analyse der Ausdrucksseite etwas über das Perspektivierungspotential von Form-Inhalts-Korrelationen gesagt werden. Wittgenstein lehrt uns in seinen Philosophischen Untersuchungen (PU I, § 560): „‚Die Bedeutung des Wortes ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt.‘ D. h.: will man den Gebrauch des Worts ‚Bedeutung‘ verstehen, so sehe man nach, was man ‚Erklärung der Bedeutung‘ nennt.“ Genau dieses Verfahren soll im Folgenden angewendet werden. Zu klären bzw. zu diskutieren bleibt die Grundsatzfrage: In welchem Verhältnis steht die Sache zum Wort und historisch betrachtet die Sachgeschichte zur Sprachgeschichte?
3. Zielsetzung und erkenntnisleitendes Interesse Ziel des Beitrags ist es, an einem kleinen Weltausschnitt zu zeigen, wie der Zugang zu etwas Ontischem – hier zu bewältigende Sachverhalte in der Welt – über die idiomatische Ordnung der Sprache zu beschreiben ist und hinsichtlich einhergehender Perspektivierungen verdeutlicht werden kann. Auf Grund der Abhängigkeit von sprachlichen
Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt
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Zeichen – also den Ausdrücken – fokussieren wir zunächst das Stamm-Morphem bewältig*, das verschiedene Möglichkeiten der Transformation und Ableitung bietet. Die Zielsetzung des Beitrags soll mit folgenden Fragen verdeutlicht werden: • Welche Sachverhalte (DOMÄNEN, EREIGNISSE, HANDLUNGEN, RAUM und ZEIT u. a.)3 werden im Sprechen über Historisches als zu bewältigen propagiert? • Wie sind diese Sachverhalte beschaffen, was zeichnet sie aus? • Welche Akteure (Personen, Institutionen usw.) haben dem Diskurs zufolge etwas zu bewältigen? • Wann gilt ein Sachverhalt als bewältigt, wann als noch zu bewältigen? • Wie können Sachverhalte bewältigt werden, welche Formen des Bewältigens gibt es? • Was indiziert einen sich vollziehenden Bewältigungsprozess, was indiziert das NichtBewältigen (und wie ist das Nicht-Bewältigen ausdrucksseitig gefasst: verdrängen usw.) Diese Fragen sollen aus der Fokussierung des Stamm-Morphems bewältig* in einem Medienkorpus beantwortet werden.
4. Die Bewältigung von LEBENSWELTEN in Medientexten von 2001 bis 2010 4.1. Untersuchungsgrundlage: Textkorpus Grundlage der Untersuchung bildet ein Medientextkorpus aus insgesamt 52.807 Medientexten (43,30 Millionen Wortformen) aus überregionalen Zeitungen und Zeitschriften (Frankfurter Rundschau, Die Welt, Die Welt Online, Welt am Sonntag, taz – die tageszeitung, Der Spiegel, Spiegel Online, Stern, Focus Magazin, Die Zeit, Zeit Wissen, Zeit Geschichte). Das Korpus umfasst ein diachrones Intervall von 2001 bis 2010 und wurde mit Hilfe der Online-Textdatenbank LexisNexis (Wirtschaft) zusammengestellt. Bedingung für die Auswahl der einzelnen Texte war das zumindest einmalige Vorkommen der Zeichenkette B/bewältig oder Ü/überwind, womit die Suche auch sämtliche Komposita miteinschloss. Das Gesamtkorpus wurde mit Hilfe des von Friedemann Vogel
3
Zum besseren Nachvollzug der hermeneutischen Arbeit werden die Ergebnisse in folgender Notation dokumentiert: Belege aus Medien werden kursiv (Fokus auf Ausdrucksebene) gesetzt; Konzepte bzw. Attribute als Hypothesenkonzentrate der Interpretationsarbeit werden in eckige Klammern bzw. einfachen Anführungszeichen gesetzt (›psychisches Verarbeiten kognitiver Dissonanz‹; ‚sozial erwünschte‘ ›Bewältigung‹); Sachverhalte bzw. Referenzobjekte als induktiv-deduktiv gewonnene heuristische Analysekategorien werden in Majuskeln gesetzt (AKTEURE, EREIGNIS, PSYCHE, VERKEHR usw.).
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Ekkehard Felder/Friedemann Vogel
entwickelten Tools „Corpustransformer“4 und unter Rückgriff auf den von Helmut Schmid (Stuttgart) programmierten „TreeTagger“ (Part-of-Speech-Tagger)5 lemmatisiert und anschließend nach Jahren bzw. Medien in Subkorpora zergliedert. Lemmatisierung und Wortarten-Annotation der Texte erlaubt eine gezielte Ergebnisauswertung etwa im Hinblick auf Autosemantika sowie die statistische Zusammenfassung unterschiedlicher Wortformen (Token) unter eine begrenzte Menge semantisch leitender Lemmata. Die Bildung von Subkorpora nach Zeitintervallen ermöglicht schließlich die maschinell gestützte Kontrastierung im Hinblick auf diachrone Unterschiede der ‚zu bewältigenden‘ Sachverhalte.
Jahr 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
Subkorpora Wortformen (Mio.) 3,38 2,67 4,73 4,45 4,39 4,36 4,24 4,50 5,88 4,78
4.2. Semiautomatische Kotextexploration: vom Ausdruck zum Konzept Für die Analyse des Konzeptes der ›Bewältigung‹ in Medientexten gehen wir exemplarisch eingrenzend von dem Ausgangsmorphem *bewältig* aus und erschließen mittels quantitativ-qualitativer Verfahren die damit verbundenen semantischen Felder. Das Methodenset setzt sich dabei zusammen aus induktiven Verfahren der Diskurslinguistik sowie der Korpuslinguistik, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. Als neue Teildisziplin im Fundus der Linguistik hat sich zunächst in den angelsächsischen, in den letzten 15 Jahren auch in deutschsprachigen Ländern die Korpuslinguistik einen Namen gemacht und eine Fülle neuer methodischer Ansätze zur Untersuchung sprachlicher Phänomene entwickelt. Gemeinsam ist diesen Ansätzen insbesondere eine Kritik an der Sprachintuition der generativen Grammatik als Quelle linguistischer Erkenntnis (Lemnitzer/Zinsmeister 2006, 19 ff.) sowie der Fokus auf die Beschreibung
4
5
Das Tool ist öffentlich und kostenlos erreichbar unter http://kleinervogel-v.de/private/index.php? page=software http://www.ims.uni-stuttgart.de/projekte/corplex/TreeTagger/
Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt
419
„authentische[r] Sprachdaten“ (ebd., 19), d. h. sprachlicher Performanz in großen Textkorpora. Erstmals systematisch in der Sprachwissenschaft hat sich die korpuslinguistische Theoriebildung auch darum bemüht, Korpora analytisch zu erfassen und Beschreibungskategorien zu entwickeln (vgl. Lemnitzer/Zinsmeister 2006, 103ff; Scherer 2006). Korpora werden demnach konzeptualisiert als „eine Sammlung schriftlicher oder gesprochener Äußerungen. Die Daten des Korpus sind typischerweise digitalisiert, d.h. auf Rechnern gespeichert und maschinenlesbar. Die Bestandteile des Korpus, die Texte, bestehen aus den Daten selbst sowie möglicherweise aus Metadaten, die diese Daten beschreiben, und aus linguistischen Annotationen, die diesen Daten zugeordnet sind.“ (Lemnitzer/Zinsmeister 2006, 7.)
In den letzten Jahren wurden in Zusammenarbeit mit Computerlinguisten zahlreiche korpuslinguistische Hilfsmittel und Instrumente (Algorithmen, Software) entwickelt, die in erster Linie einem Zweck dienen: der automatischen Berechnung und Identifizierung jener sprachlichen Muster, die in einer einzeltextorientierten und intuitiv geleiteten Untersuchung gerade nicht oder nur zufällig aufgefunden werden könnten. Die besondere Leistungsfähigkeit der verschiedenen Hilfsmittel liegt dabei in der kontrastiven Visibilisierung von Ko(n)textstrukturen. Das methodische Set umfasst u. a (vgl. Baker 2006; Bubenhofer 2006) ausgefeilte Suchmaschinen und komplexe Suchanfragen, Konkordanzen (zeilenweise Darstellung von KWICs6), N-Gram- und Cluster-Analysen7 sowie Kollokationen- bzw. Kookkurrenzanalysen8. Kookkurrenzanalysen ermöglichen eine „konsistente und für explorative Erforschung von Sprache mit explanatorischem Anspruch adäquate Methodik [...], die sich ihrem Untersuchungsgegenstand mit möglichst wenigen Vorannahmen über diesen Gegenstand selbst nähert.“ (Belica 2008.) Sie erlauben die statistische Berechnung „gemeinsame[n] Vorkommen[s] zweier oder mehrerer Wörter in einem Kontext [= Kotext; Anm. d. V.] von fest definierter Größe [...]. Das gemeinsame Vorkommen sollte höher sein, als bei einer Zufallsverteilung erwartbar wäre.“ (Lemnitzer/Zinsmeister 2006, 197.)
Korpuslinguistische Instrumente, Kookkurrenzanalysen insbesondere, erlauben u. E. einen effektiven Zugang zu großen Korpora und damit Einsichten in den sprachlichen Usus von Diskursen. Das besondere Potential liegt dabei 1. in der korpusgeleiteten Ko(n)text-Disambiguierung von Ausdrücken, in der der Wittgenstein’sche Grundsatz, „die Bedeutung eines Wortes“ sei „sein [regelhafter /
6 7
8
KWIC = Keywords in Context Cluster- und N-Gramm-Analyse zählen beide in einem bestimmten Wortintervall Mehrwortverbindungen (MWU), mit (Cluster) und ohne (NGrams) Bezugswort, und geben diese nach Häufigkeit bzw. Signifikanz aus. Trigramme des vorangegangenen Satzes wären etwa: {[Cluster- und N-], [und N-Gramm], [N-Gramm-Analyse], [Gramm-Analyse zählen] usw.} Zur Begriffsdifferenzierung vgl. Lemnitzer/Zinsmeister 2006, 30 u. 197.
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Anm. d. V.] Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 2003, 40), ernst genommen und die Performanz von Sprache in den Fokus gerückt wird; 2. im transparenten Nachvollzug von sprachlichen Sachverhaltskonstitutionen durch eine semiautomatische Strukturierung der Daten; sowie schließlich in 3. einer Vermittlung von quantitativer (makrosystematischer) und qualitativer (mikrosystematischer) Analyse und damit Relativierung von Einzeltextbelegen mit systematisch wiederkehrenden Sprachmustern über eine größere Textmenge hinweg. Für unsere Zwecke wurde auf ein korpuslinguistisches Analyse-Toolkit zurückgegriffen, das von Friedemann Vogel speziell zur Untersuchung von linguistischen Diskurs- und Imageanalysen entwickelt wurde9. Das Toolkit erlaubt vor allem kontrastive, also korpusvergleichende statistische Untersuchungen zu unterschiedlichen sprachlichen Systemebenen: • Keywords, • Key-Syntagmen (bzw. Key-Ngrams und Key-POS-Grams) unterschiedlicher Ausdruckslänge, • Kookkurrenzanalysen. „Keyness“ hat in diesem Zusammenhang eine statistische Bedeutung10. Sie gibt – vereinfacht formuliert – auf Basis von Signifikanztests (hier: einseitiger t-Test sowie ChiSquare-Test [X2]) die Wahrscheinlichkeit an, mit der ein bestimmter Ausdruck im Verhältnis zu allen anderen Ausdrücken in einem Korpus signifikant häufiger ‚als erwartet‘ auftritt. Der Erwartungswert orientiert sich im Falle einer einzelkorpusbezogenen Analyse (hier: t-Test) an mathematischen Verteilungsmodellen; im Falle von korpusvergleichenden Studien (hier mit Anwendung von X2) bilden zusätzlich die Ausdrucks-Verteilungen eines Referenzkorpus die Grundlage für den Erwartungswert. Um den Ausdruck *bewältig* in seinen ko(n)textuellen Prädikationen diachron nachvollziehen zu können, wendeten wir vor allem kontrastive Kookkurrenzanalysen (sowie ergänzend auch Key-Ngram-Analysen) an. Der Algorithmus ermittelt hierfür alle Kotext-Ausdrücke zu bewältig innerhalb eines bestimmten Intervalls (hier: 8 Wörter links bis 8 Wörter rechts = [–8/8]) sowohl zu Primär- als auch zu Referenzkorpus und prüft, ob der Frequenzunterschied der jeweiligen Kookkurrenzpartner (KKp) signifikant, also überzufällig ist.
9
10
Das „LDA-Toolkit“ steht unter CC-Lizenz zum Download zur Verfügung unter: www.lda-toolkit. friedemann-vogel.de (12. 10. 2011). „Keywords“ sind also nicht zu verwechseln mit dem Terminus der „Schlüsselwörter“ (vgl. dazu Hermanns 1994).
Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt bewältig (2010) -
Schuldenkrise sein gehen Griechenland müssen verlaufen Wandel Ölpest …
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Signifikanztest
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Bank gehen Container Kyrill sein Orkan müssen verlaufen …
Die Ergebnisse statistischer Komposita-, Kookkurrenz- und Clusteranalysen wurden in Folge mittels KWIC- und Volltextschau nach Sachverhalten bzw. Referenzakteuren mittlerer Abstraktion geclustert. Als orientierende Raster zur Erstklassifikation dienten abstrakt-kategorielle Sachverhalte bzw. Referenzobjekte in Anlehnung an K.-P. Konerding (1993) und F. Vogel (2009) wie insb. EREIGNISSE, AKTEURE, ORTE und HANDLUNGEN, die anschließend weiter spezifiziert wurden (POLITISCHE EREIGNISSE, WIRT11 SCHAFTLICHE AKTEURE usw.) . Im Folgenden werden die Ergebnisse der Untersuchung im Einzelnen vorgestellt: zunächst auf globaler Ebene für das Gesamtkorpus, anschließend mit Fokus auf diachrone und (am Beispiel der politisch unterschiedlich ausgerichteten Tageszeitungen taz – die tageszeitung und Die Welt) synchrone Besonderheiten.
4.3. Sprachliche Manifestationen des Konzepts ›Bewältigung‹ in Medientexten am Beispiel von Nomen 4.3.1. Zur Wortbildung Das Stamm-Morphem bewältig* ist im Gesamtkorpus insgesamt 31.102 Mal belegt. Es tritt in zahlreichen Wort- und Flexionsformen (Substantiven, Verben, Adjektive) sowie in Komposita auf. Die Valenz des Verbs bewältigen ist zweistellig; die Verbvalenz von bewältigen verlangt obligatorisch eine Ergänzung im Nominativ und Akkusativ, fakultativ kann noch ein Instrumentalis (z. B. eine mit durch eingeleitete Präpositionalphrase) hinzukommen. Die einschlägigen Relationen bzw. semantischen Rollen des Verbs bewältigen sind also ein A g e n s (Agens, Handelnder: Person oder Sache, die eine Handlung ausführt) sowie ein a f f i z i e r t e s O b j e k t (Betroffenes: Person oder Sache, die von einer Handlung oder einem Vorgang betroffen wird) oder ein e f f i z i e r t e s O b j e k t (Resultat, Produkt: Person oder Sache, die durch eine Handlung oder einen Vorgang entsteht).12 11 12
Für eine Anwendung des Verfahrens auf linguistische Imageanalysen vgl. Vogel 2011. Vgl. v. Polenz ²1988, 167 ff.
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Die Transitivierung und die semantische Motivierung des Basisverbs durch das Präfix be- zeigt sich syntaktisch in einem obligatorischen Akkusativobjekt, welches semantisch „die wahrgenommene Größe nennt, durch die die psychischen Akte der Grundverbhandlung ausgelöst werden.“13 In der Regel „liegt in dem be- die viel- oder allseitige [E]inwirkung, die ganze oder volle [B]ewältigung“14 des Objekts. Die Wortbildungen mit dem Suffix -bar evozieren im Unterschied zum Partizip II eine „passivische modale Bedeutung“ und bezeichnet das Mögliche; bewältigbar also besagt, ›etwas kann bewältigt werden‹. Das heißt: „wir haben hier in der Regel Basissätze mit einem Modalverb, das die Möglichkeit (bzw. Unmöglichkeit) des Handlungsvollzugs anzeigt“15.Abschließend ist noch die Transpositionsmöglichkeit mit -ung in ein Substantiv zu erwähnen, das ein Abstraktum anzeigt. Es handelt sich bei Bewältigung um ein Nomen actionis, das eine Handlung oder einen Vorgang bezeichnet. 4.3.2. ›Zu bewältigende‹ SACHVERHALTE und REFERENZOBJEKTE Eine Durchsicht und Clusterung der K o m p o s i t a zu bewältig gibt einen ersten Eindruck über die damit konstituierten Sachverhalte und Referenzobjekte. ›Bewältigung‹ wird demnach durch Spezifikation in Determinatum oder Determinans näher bestimmt. Es handelt sich um • ›in der Regel negative, abrupt und unkalkulierbar eintretende Ereignisse oder Sachverhalte mit lang anhaltenden negativen Effekten‹ auf den Ebenen des • ›Individuell-Privaten‹ (Psychisch-Physisch-Existentielles) und • ›Global-Öffentlichen‹ (Politisch-Ökonomisch-Gesellschaftliches sowie Naturkatastrophen). Stress-, Lebens-, Frust-, Trauer-, Trauma-, Angst-, Daseins-, Schmerz-, Krankheits-, Aggressions-, Realitäts-, Kontingenz-, Verlust-, Welt-, Wirklichkeits-, Schuld-, $eid-, Selbst-, Schock-, Schicksals-, Todesbewältigung // Problem-, Konflikt-, Krisen-, Krisen-, Risiko-, Schadens-, Folgen-, Lage-, Kriegs-, Schulden-, Diktatur-, Finanzkrisenbewältigung // Armuts-, Arbeitslosigkeitsbewältigung // Krisen-, Katastrophen-, Schadens-, Flutbewältigung Darüber hinaus scheint ein charakterisierendes Merkmal in dem ›psychisch-physischen Aufwand‹ im Hinblick auf ‚unkalkulierbare Mengen‘, ‚Kraft‘ u. ä. zu liegen (Aufgaben-, Kontingenz-, Stoff-, Komplexitäts-, Schulweg-, Strecken-, Verkehrsbewältigung). Neben diesen grundlegenden Eigenschaften zur Charakterisierung des Bewältigungskonzepts über die Komposita lassen sich via Kookkurrenzanalyse folgende Gesichtspunkte der konkreten Kontextualisierung im Textkorpus dingfest machen: ›Zu bewältigende‹ SACHVERHALTE und REFERENZOBJEKTE sind demnach 13 14 15
Erben 52006, 90. Grimm 1878/1989, Bd. 3, Rn. 798. Erben 52006, 114.
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• in dominanter Weise zunächst ›kognitive Dissonanzen bzw. ‚psychisch-physische Schmerzen‘‹ in Folge einer ‚traumatisierenden Erfahrung oder (Krankheits-) Belastung‘ (Leben, Anstrengung, Alltag, Krankheit, Trauma, Frustbewältigung, Trauer, Angst, Schuld, Schmerz, Verlust, Traumabewältigung, Frust, Lebenskrise, Ängste, Einsätze [Feuerwehr, Polizei usw.], Belastung, Bewältigungsstrategie, Tod, Trauerbewältigung, Erfahrung16, Stress, Leben u. v. a.). ›Bewältigung‹ zielt hierbei in der Regel darauf ab, eine ‚andere (positive) psychische Haltung zum Erfahrungsgegenstand‘ zu entwickeln, kurz: ‚positiver zu denken‘. • Das semantische Feld traumatischer EREIGNISSE lässt sich aber auch in einen globaleren Zusammenhang von ›(häufig ‚abrupt einsetzendem‘) Wandel‹ im Erfahrungskontext der AKTEURE stellen. Demnach bereiten ›Veränderungen‹ bzw. der ›unkalkulierbare Wechsel eines (psychischen, physischen, systemisch usw.) Zustands in einen anderen‹ häufig Schwierigkeiten (Veränderungen, Krise, Umbau, Entwicklung). Ziel von ›Bewältigung‹ ist dann in der Regel der ‚Übergang‘ vom ›Wandel‹ zum ›konstanten und kalkulierbaren Zustand‹. • Das Moment der ‚zu bewältigenden‘ ›Unkalkulierbarkeit‹ eines Zustands ähnelt wiederum einem anderen, jedoch gänzlich anders kontextualisierten Sachverhalt, nämlich dem der ‚zu bewältigenden‘ ›unstrukturierten und/oder chaotischen MENGE‹ (Ansturm, Andrang, Pensum, Menge, $achfrage, Datenmenge, Masse u. ä.). Bewältigung referiert hierbei meist auf die ›überschaubare Kanalisierung und Strukturierung‹ der MENGE. • Wie bereits in den Komposita deutlich wurde, werden ferner vor allem auch ›historische EREIGNISSE oder Entwicklungen‹ bewältigt, das heißt hier: ‚in einem angemessenen Verhältnis zur Gegenwart konzeptualisiert‘. Die hier betrachteten, am häufigsten ‚zu bewältigenden‘ Sachverhalte sind die NS-Vergangenheit ($azi, SS, SA usw.), die DDR und die dt. Wiedervereinigung (meist verbunden mit ‚Einzelpersonen‘ wie Günther Grass) sowie neueren Datums ›Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur‹ (demografisch), die ›Terroranschläge 2011‹ ([11.] September), verschiedene ›Naturkatastrophen‹ respektive ›Überschwemmungen‹ (Flut, Katastrophe, $aturkatastrophe), ›Nahrungsmittelkrisen‹ (BSE) sowie zuletzt die Banken- und Wirtschaftskrise (diverse Belege). • Ein weiteres großes ‚Bewältigungsfeld‘ findet sich in zahlreichen KKp aus dem Kontext ›Arbeit, Beruf und Wirtschaftsleben‹ (Frau, Beruf, Ausbildung, Arbeitspensum, Betrieb, Milliarde, Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Euro, Million, Kosten, Geld, Wirtschaft, Leistung, Schuldenkrise, Konzern, Unternehmen, Mitarbeiter, Personal, Arbeitslosigkeit, Wachstum, $achfrage, Haushalt, Job, Arbeit u. a.). ‚Zu bewältigen‘ sind hierbei in der Regel ›finanzmarkttechnische Unsicherheiten und Auseinandersetzungen‹ (Risiko), eine ›unkalkulierbare Arbeits(-markt-/-platz-)situation‹ sowie 16
tragische erfahrung zu bewältigen; gerade erst bewältigte erfahrung des schwierigen erwachsenwerdens; streß zu bewältigen oder schlechte erfahrung zu kompensieren.
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ein ›unsicheres Verhältnis von Geschlechtern, Arbeitsplatz und Arbeitsbelastungen (Stress)‹. ›Bewältigung‹ zielt dabei auf eine Reduktion der ›Unsicherheit‹ bzw. ›negativen Folgen für Betroffene‹ ab – etwa in Form von politisch-ökonomischen Entscheidungen oder ›Verbesserung von Arbeitskontext und Gesundheitszustand‹. • Die beiden letzten Sachverhaltsgruppen lassen sich wiederum in eine abstrakte Klasse ‚zu bewältigender‘ ›globaler Ereignisse und Sachverhalte‹ zusammenfassen (Welt, Gesellschaft, Globalisierung, [politisches/gesellschaftliches] System, Strukturwandel, Klimawandel). Bewältigung zielt dabei auf eine ›‚politisch-gesellschaftliche‘ Überwindung als (für eine bestimmte Gruppe) nicht akzeptierbar‹ präsupponierter ›Sachverhalt‹. • Auf Mikroebene sind häufig ›Probleme in Familie, Erziehung, Bildung und Partnerschaft‹ Gegenstand von ‚Bewältigung‘ (Eltern, Mann, Frau, Männer, Frauen, Familie, Kind, Schüler, Studium). Die ›Lösung bzw. Befriedung von (zwischenmenschlichen) Konflikten‹ findet sich hier ebenso wie auf Makroebene im Kontext von ›Gewalt und politisch-militärischen Auseinandersetzungen‹ (Krieg, Konflikt, Affäre, Kommunikation, Integration, Kampf). • Schließlich werden auch Sachverhalte im Hinblick auf den RAUM ›‚mit physischem Energieaufwand‘ bewältigt‹, nämlich einerseits als ›‚horizontale‘ Strecken‹ ([via] Bahn, Zug, Bus, Fahrrad, Auto, [zu] Fuß, Meter, Länge, Marathon, Parcours, Tour, Distanz, Strecke, Kilometer), andererseits auch als ›‚vertikale‘ Strecken‹ (meist im Sport: Anstieg, Höhenmeter, Steigung). Letzteres findet seine Realisierung auch in metaphorischer Funktion (Hindernis, Hürden, Berg) mit Rückgriff auf andere Konzepte (wie im Falle Berg z. B. MENGE, s. o.). 4.3.3. Kategorisierung der ›zu bewältigenden‹ Sachverhalte nach DOMÄNEN Die oben herausgearbeiteten Sachverhalte, welche in dem untersuchten Textkorpus als ‚bewältigungswürdig‘ thematisiert wurden, sollen im Folgenden Themengebieten oder Bereichsdomänen zugeordnet werden. Dazu werden auf der Ebene der Komposita die relevanten und signifikanten Lexeme mittels Kookkurrenzanalysen zu bewältig weiter differenziert. Für die Analyse wurden die ersten 300 hochsignifikanten (p(t ≥ 5,0) ≥ 99,999 %) Substantive und Eigennamen aus dem Kotextprofil zu bewältig geclustert. Zusammengefasst berühren die verschiedenen KKp vor allem die Domänen GESUNDHEIT (Patient, Gruppe, Entspannung, Krankheit, Gesundheit u. v. a.), POLITIK (Regierung, SPD, CDU, Union, Politik, Reform, Bundesregierung usw.), ARBEIT (Chef, Unternehmen, Mitarbeiter, Personal, Arbeitslosigkeit, $achfrage, Job, Arbeit etc.), ÖKONOMIE (Wirtschaftskrise, Milliarde, Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Euro, Million, Kosten, Geld, Wirtschaft, Leistung etc.), UMWELT und NATUR (Flut, BSE, Klimawandel), INFRASTRUKTUR (Verkehr*) sowie ferner BILDUNG (z. B. Lehrer, Schüler, Studium), SPORT (Sport, Training usw.), MILITÄR (Krieg) und RELIGION.
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4.3.4. AKTEURE der ›Bewältigung‹ Im Kontext des Bewältigungskonzepts ist von ‚guten‘, häufiger jedoch von ‚moralisch schlechten‘ Akteuren die Rede. Besonders Vergangenheits- oder Geschichtsbewältiger stehen in negativ konnotierenden, anklagenden oder zynisch-ironisierenden Kotexten, die ›im Grunde nicht ‚bewältigen‘, sondern ‚überwältigen‘ oder ‚verdrängen‘ wollen‹. unterwirft sich aber schreibend dem diktat der vergangenheitsbewältiger / steht der brachiale vergangenheitsbewältiger bronken einer wahrheit gegenüber / " zu spät gekommene vergangenheitsbewältiger " / miserabler krisenbewältiger sonnt er sich durchaus in der rolle des krisenbewältigers / als cooler problemloser und effiziente finanzkrisenbewältiger / im land der geschichtsbewältiger / das heute macht den vergangenheitsbewältiger manchmal sprachlos die typisch weibliche rolle der konfliktbewältigerin
Neben dieser allgemeinen Charakterisierung der Akteure via Komposita lassen sich auf lexematischer Ebene und mittels Kookkurrenzanalysen zu bewältig die Akteurs-Kotexte weiter konkretisieren17, wobei sich ein sehr heterogenes Bild abzeichnet: • Kollektive: Mensch, Team, Teilnehmer, Leute, Schüler, Jugendliche, Bevölkerung, Generation, Welt, Gesellschaft, Ansturm, Menge, Gruppe, Deutsche, Lehrer, Mitarbeiter, Personal; • Nationen(-bünde): USA, China, Länder, US, Japan, Europa, Deutschland, Land, Staat, Irak, Afghanistan, EU; • Lokale ‚Raum‘-Akteure: Kommune, Stadt, Frankfurt, Hamburg, Berlin; • Individuen: Merkel, Schröder; • Institutionen/Einrichtungen: Partei, Bank, Koalition, FDP, Partner, Kirche, Verein, Polizei, Bundeswehr, SPD, Regierung, CDU, Union, Bund, Städte, Bahn, Konzern, unternehmen, Bundesregierung; • (Soziale) Rollen: Sprecher, Experte, Patient, Präsident, Mutter, Eltern, Männer, Frau, Mann, Kind, Männer, Chef, Lehrer, Politiker, Opfer. Die einzelnen Akteure ‚bewältigen‘ verschiedene Sachverhalte sowie in unterschiedlichen FORMEN, was hier aber nur angerissen werden kann. So stehen die LOKALEN RAUM-AKTEURE vor allem im Kontext ›kommunaler Schuldenreduktion‹; Ansturm und Menge referieren dagegen auf die ›Abfertigung großer Menschenansammlungen‹ bei Veranstaltungen oder etwa im Verkehrsaufkommen. Eine kontrastive Kookkurrenzanalyse zu Männer und Frauen (im nahen Kotext von bewältig) zeigt schließlich interessante Unterschiede im Hinblick auf ‚soziale Bewältigungsrollen‘, denen weiter nachzugehen es sich lohnte: Während das bewältig-Kotextprofil von Männern gegenüber Frauen (korpusbedingt) keine signifikanten Belege zeigt, finden sich im bewältig-Kotextprofil von Frauen gegenüber Männern signifikante Hinweise zu ‚stereotypen Be17
Für die Analyse wurden wiederum die ersten 300 hochsignifikanten (p(t ≥ 5,0) ≥ 99,999 %) Substantive und Eigennamen aus dem Kotextprofil zu bewältig herangezogen und akteursspezifisch geclustert.
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wältigungskontexten‘ ›Arbeit zu Hause bzw. in der (belastenden) Berufswelt‹ (Alltag, Ehefrau, Putzfrau, Hausfrau, Beruf, Kind, Trauerbewältigung [Witwen], qualifizieren, Mobbing u. a.). 4.3.5. FORMEN der ›Bewältigung‹ Das Konzept ›Bewältigung‹ beinhaltet kein Einfach-sich-Ereignendes, sondern ganz offensichtlich ist den Versprachlichungsformen ein Agens immanent. Dieses Agens handelt intentional. Genauer: Der Art und Form nach indizieren die Belege auf der Ebene der Komposita tendenziell eher ein im Determinatum markiertes ›‚strukturiertes, geplantes‘ Handeln‹ (Bewältigungsverhalten, -strategie, -strategien, -mechanismus, -rahmen, -techniken, -training). ›Bewältigung‹ ist nicht immer ‚erfolgreich‘ (Bewältigungsmöglichkeit, Bewältigungsversuch, $ichtbewältigung), ‚bedarf der Unterstützung‘ (Bewältigungshilfen, -therapie, -kurs u. ä.), kann aber – meist im Kontext der NS-Geschichtsverarbeitung – auch als ‚falsch‘ abgelehnt werden (Bewältigungskitsch, Bewältigungsbranche18). ›Bewältigung‹ findet auch in bzw. über verschiedene(n) Medien statt (-film, -literatur, Lebensbewältigungshilfegesetz). Unter Hinzuziehung des Kotextprofils (Substantive und Eigennamen der Kookkurrenzanalyse) zu bewältig lassen sich die Konzeptslots FORM und ART von ›Bewältigung‹ weiter aufschlüsseln: • ›Bewältigung‹ ‚hat häufig einen Beginn und selten ein tatsächliches Ende‘, ist selten ‚erfolgreich abgeschlossen‘ und tendenziell eher ‚erfolglos‘ oder offen (Versuch, [mit] Erfolg, Anfang)19; • ›Bewältigung‹ ist ‚prozedural‘ und gelegentlich ‚fortschreitend‘ (Schritt, Hälfte20, Stück, Etappe, Prozess); • ›Bewältigung‹ ist eine ‚psychisch-physische Haltung der Überwindung bzw. der Reduktion kognitiver Dissonanz gegenüber einem Sachverhalt‘ (Umgang, souverän, 18
19
20
Das Berliner Stadtmagazin „Zitty“ wählte sie [Lea Rosh] einst zur „peinlichsten Deutschen“ und zeigte sie mit den Füßen in die Stelen einbetoniert, neben sich einen Hund mit $amen Adolf. „Führende Kraft der Bewältigungsbranche“, „Mutter aller Mahnmäler“, „Vierteljüdin“, hieß es damals, und sie wurde gefragt, wie sie eigentlich dazu käme, im $amen der Opfer zu sprechen. (Die Welt) "Moral hilft nicht bei Erkenntnis"; Der alte Vergangenheitsbewältigungskitsch der Deutschen war immer noch besser als das Geschichtsgeraune im Fernsehen und der Hitler-Hype im Kino (taz). Selten finden sich Belege für ›‚erfolgreiche‘ Bewältigung‹ (z. B. die deutsche post hat diese herausforderung bisher erfolgreich bewältigt; [Zuwanderungsdebatte] die Ökologie im politischen Koordinatensystem zu verankern und eine Generation [...] mit eben diesem System zu versöhnen. beide Aufgaben haben sie erfolgreich bewältigt). Meist wird eine ›‚tendenziell abgeschlossene‘ Bewältigung‹ relativiert und in Frage gestellt, etwa durch fragende Konditionalkonnektoren (ob deutschland die eigene vergangenheit erfolgreich bewältigt hat; nur wenn der stadtumbau ost erfolgreich bewältigt wird), Konjunktiv II (die amerika gerne erfolgreich bewältigt sähe), Modalwörter (hat seine sanierung offenbar erfolgreich bewältigt; relativ erfolgreich bewältigt; beinahe erfolgreich bewältigt) oder Modal- und Negationspartikel (freilich [...] noch nicht abgeschlossen). nicht mit der hälfte des personals zu bewältigen; trennung etwa zur hälfte bewältigt.
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[mit] Bravur, Humor, Engagement, Disziplin, [aus eigener/mit letzter] Kraft21, Aufwand, Erfahrung22, Entspannung, Kraftakt, Herausforderung); ›(Räumliche) Bewältigung‹ wird ‚mit unterschiedlichen physischen Hilfsmitteln vollzogen‘ ([mit] Fahrrad, Bus, Bahn, Auto, [zu] Fuß); ›Bewältigung‹ ist ‚sozial erwünscht‘ (Unterstützung [deontisch], Hilfe [deontisch], gehört23, Tipp, Herausforderung); vgl. dazu auch die Ergebnisse zu Verben; FORMEN der ›Bewältigung‹ sind ‚Gegenstand metasprachlicher Verhandlungen‘ und werden dort tendenziell ‚professionalisierend kontextualisiert‘ (Frage, Strategie, Programm, Form, Mittel, Weise, Methode, Instrument, Verfahren, Möglichkeit, Therapie, Art, Weg [prozedural], Idee24, Experte, Maßnahme, Kurs, Projekt, Einsatz, Anforderung, [mit] Wachstum, Rahmen u. a. ›Bewältigung‹ wird ‚in unterschiedlichen Medienformen (meist: stellvertretend) vollzogen‘ (Film, Buch, Literatur); ‚Vorbildliche‘ FORMEN der ›Bewältigung‹ werden sehr häufig ‚exemplarisch diskutiert‘ (Beispiel25).
4.3.6. ›Bewältigung‹ im Hinblick auf ZEIT, DAUER und ORTE I m H i n b l i c k a u f Z E I T u n d D A U E R wird das Konzept der ›Bewältigung‹ vor allem durch ›in der Vergangenheit Liegendes, das in seinen Folgen bzw. Effekten eine gewisse Zeitspanne umfasst‹ (Vergangenheits-, Geschichts-, Holocaustbewältigung) spezifiziert. Das Kompositum Gegenwartsbewältigung referiert nicht auf einen absoluten ‚Jetzt-Zustand‘, sondern ebenfalls prozedural auf ›Vergangenes‹, meist auf ‚EREIGNISSE bzw. Sachverhalte jüngeren Datums, deren Folgen bis zum Zeitpunkt der Äußerung anhalten‘ und/oder mit einem deontischen Akzent ‚für aktuelles bzw. zukünftiges Handeln‘ versehen werden. Ähnlich wie auch Zukunftsbewältigung wird die deontische Erwartung dabei häufig mit einem ‚lernenden Blick in die Vergangenheit‘ verbunden. – Die folgenden (lemmatisierten) Auszüge aus dem Korpus können nicht den vollständigen Textnachweis bieten, sollen aber die als relevant eingeschätzten Gesichtspunkte illustrieren: familiengeschichte, die schildert, dass vergangenheitsbewältigung nur gegenwartsbewältigung sein kann // dass "vergangenheitsbewältigung" zur museumskultur verkommt, wenn sie ohne folgen für die gegenwartsbewältigung bleibt // alles, was die heutigen menschen leisten können, wäre eine gegenwartsbewältigung, die lehren aus der vergangenheit zieht und entsprechend berücksichtigt // zukunftsbewältigung durch wiederaneignende rückbesinnung
21 22 23 24 25
Hochfrequent auch auf Ebene der Mehrworteinheiten: eigene Kraft bewältigen. kaum erfahrung mit der bewältigung von krisensituationen. […] dazu gehört auch krisenbewältigung; die bewältigt werden muss. dazu gehört ebenso ein […]. kreative idee zur bewältigung; ihre idee zur bewältigung der globalen finanz- und wirtschaftskrise. die wichtigste aufgabe der banken ist jetzt die bewältigung der krise, zum beispiel in der unterstützung für die werftindustrie.
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›Bewältigung‹ wird damit meist als ‚zeitlich zerdehnter Prozess‘ geprägt, der auf einen kulminierenden Punkt zustrebt, ohne ihn jedoch (immer) erreichen zu können oder zu müssen (vgl. auch Krisenbewältigungsjahr, Bewältigungssequenzen). Durch die drei – im Korpus vorkommenden – Komposita Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung wird durch das wechselnde Bestimmungswort die Unbestimmtheit des Bewältigungs-Konzepts deutlich bzw. die Prozesshaftigkeit wird unterschiedlich perspektiviert: Einmal richtet sich der Fokus auf die Vergangenheit, die anderen Male auf Gegenwart und Zukunft. Gemeinsam ist den drei Formulierungsvarianten nur das Folgende. Ein zurückliegendes Ereignis soll so im Bewusstsein verankert sein, dass es die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft beeinflusst. Somit haben wir es nahezu mit Teilsynonymie zu tun, obgleich die Bestimmungswörter auf so unterschiedliche Zeitabschnitte referieren. Ein genauerer Vergleich der drei Wörter ist aufschlussreich. Denn die konkurrierenden Bezeichnungen und die Versuche, bestimmte Ausdrücke aufzuwerten, andere abzuwerten, sind in dem folgenden Auszug zu sehen (vgl. zu semantischen Kämpfen Felder 2006): dass "vergangenheitsbewältigung" zur museumskultur verkommt, wenn sie ohne folgen für die gegenwartsbewältigung bleibt. Offensichtlich sollen ritualisierte Kommemorationsformen wegen vermeintlich fehlender Authentizität in den Ausdruck Vergangenheitsbewältigung verlagert werden (der dadurch pejorisiert wird), während die zu begrüßende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Gegenwartsbewältigung versprachlicht wird. Diese Versuche überraschen insofern, als ja nichts Gegenwärtiges zu bewältigen ist (wie es bei der Kompositumsbeziehung zwischen Vergangenheit und Bewältigung insinuiert wird), sondern in der Gegenwart etwas bewältigt wird, was seine Ursache oder Initialisierung in der Vergangenheit hat. Damit referiert im Kompositum Gegenwartsbewältigung das Bestimmungswort Gegenwart auf den Zeitpunkt der Bewältigung und nicht – wie bei Vergangenheitsbewältigung – auf den Geschehenszeitpunkt des zu bewältigenden Ereignisses. Die verschiedenen Bedeutungsbeziehungen zwischen Determinatum und Determinans (wie sie das Sprachsystem optional zur Verfügung stellt) kommen hier zum Tragen. O R T E der ›Bewältigung‹ schließlich ordnen sich im Grunde analog zu den o. g. DOMÄNEN und AKTEUREN: Gesellschaft, Bund, Betrieb, Seminar [Didaktik], Projekt, Region, USA, China, Ländern, Länder, US, Japan, Europa, Kommune, Stadt, Städte, Straße, Haus, Schule, Familie.
4.4. Sprachliche Manifestationen des Konzepts ›Bewältigung‹ in Medientexten am Beispiel von Verben Eine Sichtung signifikanter (p(t ≥ 3,291) ≥ 99,99 %) Verben aus dem Kotextprofil zu bewältig gibt dreierlei Hinweise:
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• Zahlreiche Verben verweisen auf die ›soziale Erwünschtheit‹ von ›Bewältigung‹, das heißt, die mit bewältig aktivierte HANDLUNG ist in der Regel26 positiv konnotiert und wird von anderen AKTEUREN ‚erwartet‘ ([Verantwortliche] sagen27, betonen, fordern, erwarten, beteiligen, [Beitrag zur Bewältigung] leisten). Dieses deontische Moment zeigt sich ferner sowohl in dem signifikant auftretenden Modalverb müssen als auch auf der Ebene der Bigramme bzw. in modalen Infinitiven (X sei zu bewältigen). • Eine weitere Gruppe von Verben aktivieren stärker modal-epistemische Konzepte, insofern ein AKTEUR ›in der Lage ist/sein muss, einen Sachverhalt psychisch-physisch-systemisch bewältigen zu können‹. Dies zeigt sich paradigmatisch in dem entsprechenden Modalverb (können), als auch in Verben, die eine ›Unterstützung ‚bei der Bewältigung‘‹ indizieren (helfen, brauchen, unterstützen, beitragen, finden, anbieten, überfordert, beschäftigt). • Eine dritte Gruppe von Verben referiert auf die FORM der ›Bewältigung‹ (sparen, konfrontieren, informieren, abarbeiten, schweigen, freuen, koordinieren).
4.5. Sprachliche Manifestationen des Konzepts ›Bewältigung‹ in Medientexten am Beispiel von Adjektiven und Adverbien Signifikante (p(t ≥ 3,291) ≥ 99,99 %) Adjektive und Adverbien aus dem Kotextprofil zu bewältig zeigen ebenfalls prädizierende Tendenzen insbesondere im Hinblick auf Beschaffenheit des Sachverhalts, FORM und ERGEBNIS von ›Bewältigungshandlungen‹. • ERGEBNIS-orientiert (‚positiv‘): gut, bestens, problemlos, hervorragend, erfolgreich, souverän, glänzend; • ERGEBNIS-orientiert (‚negativ‘): kaum, mehr, gar [nicht], weniger, [kaum] noch [bewältigen können]; • ZEIT-orientiert: bereits, gleichzeitig, lang, laufend, jährlich, täglich; • SACHVERHALTS-orientiert: komplex, enorm, global, steigend, immens, anfallend; • FORM-orientiert: schwierig, rund, anspruchsvoll, gewaltig, kompliziert; logistisch, zivil, finanziell; • AKTEURS-orientiert (‚individualisiert‘ vs. ‚kollektiv‘): allein/alleine [bewältigen können], [nur] gemeinsam [bewältigen].
26
27
Eine Ausnahme bilden vereinzelte Abwehrversuche etwa im Bereich ›Vergangenheitsbewältigung‹ (vgl. o. die Ausführungen zu Bewältigungskitsch und -branche). dabei geht es nicht um Verteufelung des Systems, "sondern um Krisenbewältigung", sagt PE$Generalsekretär Wilfried F. Schöller; sagte nicolas sarkozy zur krisenbewältigung in beide ländern.
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4.6. Das Konzept ›Bewältigung‹ in diachroner Sicht Diachrone Unterschiede der ›Bewältigung‹ über den Zeitraum von bzw. in den Subkorpora zu 2001 bis 2010 ließen sich sehr effektiv mittels kontrastivem Vergleich der jeweiligen bewältig*-Kotextprofile herausarbeiten (jahresspezifische Charakteristika). Die statistische Siginifikanzprüfung tilgte dabei all jene Kookkurrenzpartner, die in beiden Kotextprofilen gleichermaßen verteilt sind. Übrig blieben also all jene Kookkurrenzpartner, die als ‚typisch‘ für das jeweilige Primärsubkorpus bzw. das dazugehörige Zeitintervall gelten können. Die nachfolgende Tabelle illustriert exemplarisch das Ergebnis der kontrastiven Kookurrenzanalyse zum Zeitintervall 2007 (gegenüber 2006): KKp zu bewältig RAF Bank Container Kyrill Hypothekenkrise Orkan Polizei Affäre Anpassungsfonds Marktwirtschaft Siemens Geschichte Bush US Abitur Sturmschäden chinesisch Telekom Güterverkehrs Klimawandel
X2 10,665 8,295 7,110 7,110 7,110 7,110 7,083 6,823 5,925 5,925 5,760 5,617 5,084 4,979 4,740 4,740 4,500 4,500 4,500 4,408
f (2007) 9 7 6 6 6 6 12 10 5 5 9 35 10 17 4 4 6 6 6 26
f (2006) 0 0 0 0 0 0 3 2 0 0 2 22 3 8 0 0 1 1 1 16
f (2007)/10.000 0,021 0,016 0,014 0,014 0,014 0,014 0,028 0,023 0,011 0,011 0,021 0,080 0,023 0,039 0,009 0,009 0,014 0,014 0,014 0,060
f (2006)/10.000 0,000 0,000 0,000 0,000 0,000 0,000 0,007 0,005 0,000 0,000 0,005 0,050 0,007 0,018 0,000 0,000 0,002 0,002 0,002 0,036
Fasst man die wesentlichen ‚zu bewältigenden‘ Sachverhalte bzw. Referenzobjekte für alle zeitspezifizierten Subkorpora zusammen, ergibt sich folgender Überblick: Jahr / Subkorpus 2001 (gegenüber 2002) 2002 (gegenüber 2001)
‚Zu bewältigende‘ Sachverhalte und Referenzobjekte anhand signifikanter KKp BSE und Folgekosten, 68er-Debatte, Schuldenkrise Berlins (Finanzkrise, Bahn, Berlin, Sparmaßnahme), Aufwand für geplante EU-Ost-Erweiterung, Psychische Verarbeitung des 11. September, Krieg in Afghanistan und daraus resultierende soziale Notlagen. Folgen des Elbe-Hochwassers 2001 (Flutkatastrophe, Flurschäden, Hochwasser, Flutbewältigung), steigende Schülerzahlen, steigender Flugverkehr, steigende Kosten für Gesundheitskassen, NS-Aufarbeitung, Tour de France (Berg).
Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt 2003 (gegenüber 2002) 2004 (gegenüber 2003)
2005 (gegenüber 2004)
2006 (gegenüber 2005)
2007 (gegenüber 2006)
2008 (gegenüber 2007)
2009 (gegenüber 2008)
2010 (gegenüber 2009)
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Irak-Krieg und seine Folgen für die Bevölkerung, zunehmende Finanzprobleme bei den Kommunen, Erscheinen des Bewältigungsfilms Casablanca. Voraussetzungen für einen EU-Beitritt der Türkei, Haushaltsprobleme Bremens, Software-Probleme bei der Arbeitsagentur (Hartz, Alg, Arbeitslosengeld, Bundesagentur, Datenmenge, Datenflut, Agentur, Software). Folgen des Hurrikans Katrina und Debatte um Folgen des Klimawandels (Katastrophe, Tsunami, Folgen, U$O, $aturkatastrophe, Gesellschaft, Katastrophenbewältigung, global [Klimawandel]), steigende Arbeitslosigkeit, (schwelende) Auseinandersetzungen zwischen China und Japan, Konflikt- und Gewaltprävention in Schulen. Stress-Symptomatiken (2006 stark zunehmend), Klimawandel (Weltklimagipfel in Nairobi), der Fall ‚Günther Grass‘ (NS-Geschichte), Verkehrsaufkommen (zunehmend), (neue) Schuldenprobleme Berlins (Haushaltskrisen, Berlin), Krisenherde Afghanistan und Kongo / Folgen des Kampfes gegen den Terror. Debatte um Aufarbeitung der RAF-Geschichte, Folgen der (amerikanischen) Banken- und Hypothekenkrise, Folgen (Sturmschäden) des Orkans Kyrill, Siemens-Korruptionsaffäre, Kostenfolgen und Opfer des Irakkriegs (zunehmend), EU-Restriktionen gegenüber chemikalienverseuchtem Spielzeug Chinas. Globale Finanz- und Wirtschaftskrise (Finanzkrise, Krise, Krisenbewältigung, Wirtschaftskrise, Obama, Bundeskanzlerin, Bundesregierung, Bank, Bernanke [US-Notenbankchefs Ben Bernanke], Bankenkrise, Clinton, Geld, Euro, Finanzmärkte, Finanzmarktkrise, Rezession, Konjunkturkrise, Währungsunion, Milliarden u. a.), Tarifstreit mit der Deutschen Bahn, Folgen des Zyklon Nargis für Burma ([$atur-]Katastrophe), Partei- bzw. Führungskrise der SPD in Hessen (Ypsilanti), Müllkrise in $eapel, 11 Tote bei K2-Gipfelbesteigung (Achttausender). Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise für die nationale Ökonomie unter Einbezug der Gewerkschaften (zunehmend: Westen, Gewerkschaft, Kosten, beteiligen, Merkel, Kanzlerin, Konjunkturprogramm, Unternehmen, Weltwirtschaftskrise, Verschuldung, Wachstum usw.), Erneute Debatte um Klimawandel, Opelkrise (geplante Werksschließung), Beginn der FDP-Vertrauenskrise, MauerGeschichte und die Rolle der Ostdeutschen (20 Jahre Mauerfall). Stark EU-Länderbezogene Schuldenkrise (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, EU, Krisenbewältigungsrahmen, Gläubiger, sparen usw.), demographischer Wandel bzw. Fachkräftemangel, Größtes Defizit der gesetzlichen Krankenkassen, Bayrische CSU in der Vertrauenskrise, Afghanistan (Rückzugsperspektiven), Folgen der Öl-Verschmutzung durch BP in den USA (Ölpest, Ölkatastrophe, Hayward [Vorstandschef] u. a.).
4.7. Das Konzept ›Bewältigung‹ in synchroner Sicht Für eine synchrone Kontrastierung zu bewältigender Sachverhalte und Referenzobjekte wurden aus dem Gesamtkorpus zwei Mediensubkorpora nahezu gleicher Größe und möglichst unterschiedlicher politischer Ausrichtung gebildet (taz – die tageszeitung und Die Welt mit je etwa 9,50 Mio. Wortformen) und als Primär- bzw. Referenzkorpora
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Ekkehard Felder/Friedemann Vogel
herangezogen. Sowohl auf der Ebene der Komposita als auch auf der Ebene der KKp zeigen sich dabei tendenzielle Unterschiede: • Im Vergleich zu Die Welt wird Bewältigung in der taz eher mit ‚global-systemischsozialen‘ Sachverhalten ko(n)textualisiert, insbesondere ›Klimawandel-, respektive Naturkatastrophen‹, ›(Folgen historischer) nationale(r) militärische(r) Auseinandersetzungen‹ tendenziell außerhalb Europas (KKp wie Serbien, U$O, Ruanda, Kongo, Klimaschäden, Hurrikan, Chile, Türkei usw.) sowie ›Verletzung von Bürger- und Menschenrechten‹. Sign. Komposita (taz) Vergangenheitsbewältigung Konfliktbewältigung Alltagsbewältigung
X2
f (taz)
f (Welt)
f (taz)/10.000
f (Welt)/10.000
114,663
650
426
974,075
517,556
22,632 12,358
118 37
73 17
176,832 55,447
88,689 20,654
• In Die Welt sind im Kontrast zur taz hingegen vor allem ›Wirtschaftssachverhalte‹ sowie ›individuell-psychische Sachverhalte‹ ‚zu bewältigen‘ (Wachstum, Unternehmen, wirtschaftlich, Konzern; vgl. auch unten die Komposita). Ferner fällt auf, dass in diesen Kontexten ›Bewältigung‹ auch signifikant häufiger mit einem appellativen, positiv perspektivierenden Herausforderungs28-Topos sowie über inkludierendes wir29 mit einem ›national30-kollektiven Verantwortungs‹-Topos verbunden wird. die größte und dabei durchaus positive herausforderung, vor der wir heute stehen, ist die bewältigung nachhaltige reformmaßnahmen zur bewältigung der demografischen herausforderungen umzusetzen ein appell an gemeinsame werte, um große herausforderungen bewältigen zu können und immer haben wir die herausforderungen bewältigt was wir vor uns haben, ist nicht nur die bewältigung von großangelegten organisatorischen aufgaben Sign. Komposita (Welt) Stressbewältigung Zukunftsbewältigung Krisenbewältigungsmechanismus Gegenwartsbewältigung Schadensbewältigung Frustbewältigung
28 29 30
X2 8,113 3,372
f (taz) 0 1
f (Welt) 10 7
f (taz)/10.000 0,000 1,499
f (Welt)/10.000 12,149 8,504
3,244
0
4
0,000
4,860
2,533 2,433 1,551
4 0 16
12 3 29
5,994 0,000 23,977
14,579 3,645 35,233
Herausforderung als KKp im Kotext zu bewältig: f / 10.000: 0,221 (Welt) zu 0,120 (taz). wir als KKp im Kotext zu bewältig: f / 10.000: 0,446 (Welt) zu 0,217 (taz). deutschland bewältigt als ebenso signifikant häufiges Bigramm in der Welt (im Vergleich zur taz).
Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt
433
5. Zusammenfassung Ausgehend von der Prämisse, dass außerhalb unserer Primärerfahrung die Welt als eine vertextete erscheint (Felder 2012), fokussieren wir in dem vorliegenden Werkstattbericht die Textoberfläche von Medientexten, um herauszufinden, welche Sachverhalte dem deontisch anscheinend unumstrittenen Gebot der ›Bewältigung‹ zugrunde liegen. Wenn also ›Bewältigung‹ als eine Sollensmaxime einer aufgeklärten Gesellschaft und ihrer Individuen gilt, dann ist von höchstem gesellschaftlichem Interesse, welche prototypischen Beispiele in diachroner und synchroner Sichtweise in Medien dargeboten werden und auf welche Art und Weise in diesen Texten Phänomene ›bewältigt‹ werden. Aus diesem Grund haben wir in unserem Beitrag versucht, mittels quantitativ-qualitativer Verfahren induktiv herauszuarbeiten, was ausgewählte Massenmedien innerhalb einer Dekade als ‚zu bewältigen‘ perspektivieren. Die Untersuchung kann hier nur exemplarisch die Reichweite semi-automatischer Verfahren zur Untersuchung semantischer Felder illustrieren. Dabei muss in Bezug auf die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus daran erinnert werden, dass unsere Ausgangshypothese – Zeichenkette bewältig als Ausgangspunkt für die Analyse des Konzepts ›Bewältigung‹ zur Erstellung des Textkorpus – zugleich eine enge Grenze für unsere Hypothesen bildet. Um die Ergebnisse weiter zu differenzieren und idealiter zu bewähren, wären weitere Ausgangsausdrücke heranzuziehen. Die folgende Aufzählung soll dies exemplarisch illustrieren: aufarbeiten, meistern, ausgestanden, überwinden, gelöst, zurechtkommen, hausgemacht, mit etwas fertig werden, wegstecken, verkraften, zurechtfinden, durchgemacht, umgehen, durchleben, überstehen, klarkommen, geschultert und entsprechende Transpositionen in andere Wortarten. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Um derartige gebrauchsverwandte Ausdrücke zu eruieren, kann unter anderem die am IDS entwickelte Kookkurrenzdatenbank31 ein wichtiges Hilfsmittel sein. Der Blick auf einschlägige Forschungen von Thorsten Eitz und Georg Stötzel (2007) sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Sie untersuchten eine Form der Bewältigung, nämlich diejenige, die mit dem Schlagwort Vergangenheitsbewältigung umrissen ist: „Als Schlagwörter [Vergangenheitsbewältigung und ähnliche Nominalphrasen] komprimieren sie – je nach Standpunkt – entweder mit positiver semantischer Füllung die Forderung nach einer erfolgreichen, weiteren bzw. ausführlicheren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder aber negativierend die rigorose Ablehnung einer solchen Aufarbeitung bzw. sie implizieren deren Scheitern, da entweder eine ‚Bewältigung‘ der NS-Vergangenheit als nicht möglich betrachtet wurde oder aber ein ‚Schlußstrich unter die ‚Vergangenheitsbewältigung‘‘ […] gezogen werden solle.“ (Eitz/Stötzel 2007, 617.)
Die von Eitz und Stötzel beschriebene FORM der ›Bewältigung‹ können wir in unseren Untersuchungen bestätigen; sie spielt jedoch in dem hier zugrunde gelegten Medien31
Vgl. http://corpora.ids-mannheim.de/ccdb/ (14. 10. 2011); vgl. auch Belica 2008.
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Ekkehard Felder/Friedemann Vogel
korpus im untersuchten Zeitraum von 2000 bis 2010 keine dominante Rolle mehr. Wenn man nun die grundsätzliche Frage verfolgt, welche Sachverhalte in Medientexten als ‚zu bewältigende‘ versprachlicht werden, und wenn man sich darüber hinaus für die Akteure, Domänen und Formen der ›Bewältigung‹ interessiert, so ist das hier vorgestellte semi-automatische Verfahren ein ressourcenschonendes und effizientes Mittel, einen differenzierten Überblick über die Medienberichterstattung der letzten 10 Jahre zu erhalten (unter Berücksichtigung der Restriktionen, die in der Korpusgenerierung angelegt sind).
6. Zitierte Literatur Baker, P. (2006): Using corpora in discourse analysis. London/New York. Belica, Cyril (2008): Semantische Nähe als Ähnlichkeit von Kookkurrenzprofilen. [WWW-document] http://corpora.ids-mannheim.de/SemProx.pdf (18. 02. 2009). Bubenhofer, Noah (2008): Diskurse berechnen? Wege zu einer korpuslinguistischen Diskursanalyse. In: Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene. Hrsg. v. Ingo Warnke/Jürgen Spitzmüller. Berlin/New York, 407–434. Busse, Dietrich (1992): Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik Band 131). Eitz, Thorsten/Georg Stötzel (2007): Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch. Hildesheim. Erben, Johannes (52006): Einführung in die Wortbildungslehre. Berlin. Feilke, Helmuth (1994): Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie des „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens. Frankfurt. Felder, Ekkehard (2003): Juristische Textarbeit im Spiegel der Öffentlichkeit. Berlin/New York (Studia Linguistica Germanica, Band 70). Felder, Ekkehard (2006): Semantische Kämpfe in Wissensdomänen. Eine Einführung in Benennungs-, Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungs-Konkurrenzen. In: Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Hrsg. v. Ekkehard Felder. Berlin/New York (Linguistik – Impulse & Tendenzen 19), 13–46. Felder, Ekkehard (2007): Text-Bild-Hermeneutik. Die Zeitgebundenheit des Bild-Verstehens am Beispiel der Medienberichterstattung. In: Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Hrsg. v. Fritz Hermanns/Werner Holly. Tübingen (Reihe Germanistische Linguistik 272), 357–385. Felder, Ekkehard (2012): Pragma-semiotische Textarbeit und der hermeneutische Nutzen von Korpusanalysen für die linguistische Mediendiskursanalyse. In: Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen. Hrsg. v. Ekkehard Felder/Marcus Müller/Friedemann Vogel. Berlin/New York (Linguistik – Impulse & Tendenzen 44), 115–174. Gardt, Andreas (in Vorb. für 2012): Textanalyse als Basis der Diskursanalyse. Theorie und Methoden. In: Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Hrsg. v. Ekkehard Felder. Berlin/Boston (Sprache und Wissen). Grimm, Jacob (1878/1989): Deutsche Grammatik. Hildesheim/Zürich/New York. Hermanns, Fritz (1994): Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter. Zu Begrifflichkeit und Theorie der lexikalischen „‚politischen Semantik‘“. Arbeiten aus dem Sonderforschungsbereich 245. Sprache und Situation. Mannheim: Institut für deutsche Sprache.
Die sprachliche „Bewältigung“ der Welt
435
Humboldt, Wilhelm v. (1827–1829): Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues. In: Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Bd. 3, 31963, 144–367. Humboldt, Wilhelm v. (1903): Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band 5. Berlin. Nachdruck 1968. Jeand’Heur, Bernd (1998): Die neuere Fachsprache der juristischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Verfassungsrecht und Rechtsmethodik. In: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Hrsg. v. Lothar Hoffmann/Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand. 1. Halbband. Berlin/New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.1), 1286–1295. Köller, Wilhelm (2004): Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin/New York. Konerding, Klaus-Peter (1993): Frames und lexikalisches Bedeutungswissen: Untersuchungen zur linguistischen Grundlegung einer Frametheorie und zu ihrer Anwendung in der Lexikographie. Tübingen. Lemnitzer, Lothar/Heike Zinsmeister (2006): Korpuslinguistik. Eine Einführung. Tübingen. von Polenz, Peter (²1988): Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin/New York. Reichmann, Oskar (21976). Germanistische Lexikologie. Zweite, vollst. neubearb. Aufl. von ‚Deutsche Wortforschung‘. Stuttgart. Scherer, Carmen (2006): Korpuslinguistik. Heidelberg. Scholz, Oliver R. (1998): Was heißt es, ein Bild zu verstehen? – In: Bild – Bildwahrnehmung – Bildverarbeitung. Interdisziplinäre Beiträge zur Bildwissenschaft. Hrsg. v. Klaus Sachs-Hombach/ Klaus Rehkämper. Wiesbaden, 105–117. Stöckl, Hartmut (2004): Die Sprache im Bild – das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text: Konzepte, Theorien, Analysemethoden. Berlin/New York (Linguistik, Impulse & Tendenzen 3). Vogel, Friedemann: (2009). „Aufstand“ – „Revolte“ – „Widerstand“. Linguistische Mediendiskursanalyse der Ereignisse in den Pariser Vorstädten 2005. Frankfurt a. M. u. a. (Europäische Hochschulschriften 343). Vogel, Friedemann (2011): Linguistische Imageanalyse (LIma). Grundlegende Überlegungen und exemplifizierende Studie zum Öffentlichen Image von Türken und Türkei in deutschsprachigen Medien. In: Deutsche Sprache (DS). Zeitschrift für Theorie, Praxis, Dokumentation (04/2010), 345–377. Wittgenstein, Ludwig (1958/111997): Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1. Frankfurt. Wittgenstein, Ludwig (2003). Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.
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Ekkehard Felder/Friedemann Vogel
BARBARA SCHMIDT-THIEME
Zur Historiogenese der Fachsprache Mathematik im deutschen Sprachraum
1. „Mathematik ist eine Sprache, die Strukturen erfasst und darstellt“ 2. „Ageometretos meden eisito“ 3. „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren | Sind Schlüssel aller Kreaturen“ 4. Zitierte Literatur
„Mathematiker sind eine Art Franzosen: Redet man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache, und dann ist es alsobald ganz etwas anders.“
Der Fachsprache Mathematik geht es ähnlich wie diesem Zitat: Jedermann weiß von ihr, weiß, dass sie schwierig und seltsam ist, wiederholt die immer gleichen Aussagen über sie, die er irgendwo gelesen oder aufgeschnappt hat. Das ist im Allgemeinen nicht weiter schlimm. Geht es aber weiter zu Interpretationen oder gar zu Forschungen, wünscht man sich doch eine Einbettung in einen (theoriebasierten Forschungs-)Kontext. Die Fachsprache eines Faches ist keine künstliche Sprache in dem Sinn, dass sie auf einmal oder zumindest in großen Teilen zu einem Zeitpunkt erfunden worden wäre. Sie entsteht und verändert sich wie jede andere Varietät durch Menschen und deren Handeln in einer Gesellschaft. Fachsprache ist als soziohistorisches Produkt abhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen allgemein, insbesondere von dem jeweiligen Wissenschaftsverständnis und nicht zuletzt von den Entwicklungen des Faches selbst. Die heute gebräuchlichen Fachsprachen haben sich im Laufe von Jahrhunderten im Gebrauch herausgebildet. Es waren die Sprechweisen, derer sich Menschen bedient haben, wenn sie sich z. B. mathematischen Fragestellungen widmeten, sich mit mathematischen Problemen auseinandersetzten, Ideen versuchten zu notieren und Ergebnisse zu vermitteln. Aus dieser Entstehung bzw. Historiogenese der Fachsprache der Mathematik werden im zweiten Abschnitt fünf sprachliche Zeugnisse aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen vorgestellt. Beispiele und Interpretationen von fachsprachlichen Zeugnissen und deren Gebrauch müssen in dreierlei Rahmen betrachtet werden, dem sprachlichem, dem mathematischen und dem historischen Rahmen. Auswahl, Beschreibung und Analyse
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Barbara Schmidt-Thieme
sprachlicher Zeugnisse sind natürlich abhängig von dem zugrunde liegenden Fachsprachenbegriff. Im ersten Abschnitt wird die varietätentheoretische Sichtweise, ein pragmatischer Ansatz, der jegliche sprachliche Äußerung über Mathematik zum Zweck der Erkenntnis oder Wissensbildung als Fachsprache ansieht, deutlich. Auswahl, Beschreibung und Analyse sprachlicher Zeugnisse sind weiterhin abhängig vom Fach. Es soll dort daher ebenfalls der Versuch unternommen werden, das Fach bzw. den Tätigkeitsbereich Mathematik zu beschreiben. Auch die Mathematik verfügt drittens über eine Entwicklungsgeschichte, wissenschaftlicher Fortschritt ist mit kulturellem und historischem verknüpft, Mathematik ist ein Teil unserer Kultur, die Geschichte der (Fachsprache) Mathematik Teil der Kulturgeschichte. „Mathematiker sind eine Art Franzosen: Redet man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache, und dann ist es alsobald ganz etwas anders“ (J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen 652; HA 12, 455).
Goethe wird vielerorts und schnell ein gebrochenes Verhältnis zur Mathematik nachgesagt, vielleicht, weil er angeblich selbst in ihr nicht so bewandert war. Im Zitat trifft Goethe jedoch nur eine Aussage über Mathematiker, ihren Fachsprachengebrauch und eventuell daraus ableitbare erkenntnisbezogene Bestrebungen derselben. „Daher denn auch der Mathematiker seine Formelsprache so hoch steigert, um, insofern es möglich, in der meßbaren und zählbaren Welt die unmeßbare mitzubegreifen“ (Maximen und Reflexionen 641; HA 12, 453). Dies ist für Goethe Vermessenheit und führt zu seiner Ablehnung. „Ich ehre die Mathematik als die erhabenste und nützlichste Wissenschaft, solange man sie da anwendet, wo sie am Platze ist; allein ich kann nicht loben, dass man sie bei Dingen missbrauchen will, die gar nicht in ihrem Bereich liegen, und wo die edle Wissenschaft sogleich als Unsinn erscheint. Und ob alles nur dann existierte, wenn es sich mathematisch beweisen lässt“ (zu Eckermann, 20. 12. 1826). Genau gelesen trifft Goethe den Kern, der Mathematik als Wissenschaft kennzeichnet: Zum einen hilft sie durch Messungen und Berechnungen zur Erfassung der realen Welt, zum anderen kann sie in ihrer Lösung von der Empirie zu neuen Erkenntnissen führen: „In diesem Sinne kann man die Mathematik als die höchste und sicherste Wissenschaft ansprechen. / Aber wahr kann sie nichts machen, als was wahr ist“ (Maximen und Reflexionen 636; HA 12, 452).
1. „Mathematik ist eine Sprache, die Strukturen erfasst und darstellt“ Die Sicht von Mathematik als Sprache ist weit verbreitet, hat eine lange Tradition und eröffnet interessante Einsichten über das Verständnis verschiedener Epochen oder Personen von der Mathematik. Gleichzeitig ist sie ein Indiz für die Schwierigkeit, Mathematik als Begriff zu fassen. Allerdings bleibt diese Aussage – zumindest wissenschaftlich
Zur Historiogenese der Fachsprache Mathematik im deutschen Sprachraum
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gesehen ‒ relativ aussagelos, wenn nicht weiter erläutert wird, was unter Sprache verstanden werden soll. Leider kann man hier oft eine naive Gleichsetzung von Sprache mit natürlicher Sprache erkennen, was mitunter zu einem heillosen Durcheinander von Sprache und Fachsprache, Wörtern, Worten und Begriffen, Metaphorik und Präzision führt.
1.1. Sprachlicher Rahmen: Fachsprache Für die Betrachtung einer konkreten Fachsprache und insbesondere ihrer historischen Entwicklung erscheint ein tätigkeitsorientierter Ansatz sinnvoll: Fachsprache kann unter diesem als Produkt und Medium menschlicher Tätigkeit verstanden werden. Definition: Eine Fachsprache ist eine Varietät der deutschen Sprache, die über ihre Funktion bestimmt wird, nämlich die möglichst wertfreie Erkenntnis, genaue Darstellung und fehlerfreie Vermittlung fachlicher Kenntnisse. Diese Spezifizierung der Bühlerschen Sprachfunktionen Erkenntnis, Darstellung und Vermittlung bezüglich Fachsprachen können folgendermaßen erläutert werden: Mit Sprache kann ich Gedanken, Ideen fassen, formulieren und fixieren; dies ist wie jede menschliche Tätigkeit mit individuellen Einstellungen verbunden. Fachsprache kann nun helfen, Erkenntnis von Emotionen und Konnotationen zu lösen. Mithilfe der Fachsprache lässt sich ein Gegenstand oder Sachverhalt deutlich und exakt (genau) darstellen. Längere Umschreibungen für komplexere Sachverhalte werden durch eine neue, nur ihm zukommende Bezeichnung ersetzt. Eine solche Bezeichnung wird durch jeden Sprecher gleich gebraucht, sie hat weder Konnotationen noch Nebenbedeutungen. Aufgabe der Fachsprache ist eine präzise, differenzierte Verständigung über fachspezifisches Wissen und Einstellungen dazu. Reichmann (1976, 4) fügt zu diesen drei Sprachfunktionen die Symptomfunktion hinzu. Auch diese zeigt interessante fachsprachenbezogene Spezialisierungen (s. ebd.). Aus diesen Funktionen lassen sich die Fachsprachen immer wieder zugeschriebenen Eigenschaften ableiten: Deutlichkeit/Präzision, Verständlichkeit, Ökonomie, Anonymität, Identitätsstiftung (z. B. Roelcke 2010, 25). Nicht zuletzt spiegelt sich das auf systemlinguistischer Ebene wieder.1
1.2. Mathematischer Rahmen: Fachsprache der Mathematik Die Fachsprachenforschung gliedert das gesamte Fachsprachenspektrum horizontal nach Fächern. Die Fachsprache der Mathematik ist also eine Varietät der deutschen Sprache, die über ihre Funktion bestimmt wird, nämlich die möglichst wertfreie Erkenntnis, genaue Darstellung und fehlerfreie Vermittlung mathematischer Kenntnisse. Was aber ist Mathematik? 1
Fachsprache wird hier also nicht systemlinguistisch über eine konkrete Sprachform, z. B. einen bestimmten Anteil an Fachtermini oder Symbolen, definiert.
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Barbara Schmidt-Thieme
Eine Wissenschaft wird oft über ihre Inhalte bestimmt, die Linguistik etwa als Lehre von der Sprache oder die Biologie als Lehre des Lebendigen. Für Mathematik eignet sich der Vorschlag Devlins, die Mathematik sei die Wissenschaft von den Mustern ... wirkliche oder vorgestellte (Devlin 1998, 3). Hier wird der Unterschied zu den Naturwissenschaften deutlich. Während diese sich empirisch in Untersuchung der Realität weiterentwickeln, ist für die Mathematik die Existenz oder empirische Evidenz letzten Endes irrelevant. Diese Muster und Strukturen sind abstrakte Größen, das Original wie in den Naturwissenschaften gibt es nicht. Die Mathematik setzt ihre Objekte in Definitionen und folgert deren Zusammenhänge logisch deduktiv, wobei sie von wenigen Grundannahmen, den Axiomen, ausgeht. Daraus entsteht ein sowohl konsistentes, kohärentes und generalisierbares System von Theorien (Heintz 2000), aber auch eine hypothetische Wissenschaft (Jahnke 2010). Dieses statische Bild der Mathematik als axiomatisches, formelhaft fixiertes Wissen ist das in der Öffentlichkeit bekannte und gefürchtete; Beschreibungen der Fachsprache Mathematik beziehen sich ebenfalls meist auf diese Sprachform. Die fachsprachlichen Eigenschaften lassen sich für ein so definiertes Fach Mathematik folgendermaßen konkretisieren. Deutlichkeit (Präzision) ist in hohem Maße gegeben, da das Definieren zu den grundlegenden Handlungen eines Mathematikers gehört. Dies führt unter Umständen zu folgender Fehlvorstellung: Formuliere ich etwas mithilfe der präzisen Termini der Mathematik, so ist es auch inhaltlich präzise und richtig. Viele Bezeichnungen für mathematische Objekte sind zwar aus der Alltagssprache entnommen (Beispiel Baum), damit intervarietär nicht eindeutig, wohl aber intravarietär.2 Verständlichkeit ist eher weniger gegeben, auch wenn auf den ersten Blick bei Wörtern aus der Alltagssprache eher als bei Fremdwörtern. Ein Baum in der Mathematik hat tatsächlich baumähnliche Strukturen wie Äste und Zweige, die Bezeichnung gibt also eine erste Vorstellung – über die Form. Allerdings ist damit so gut wie nichts über die inhaltliche Bedeutung gesagt. Ökonomie ist bis auf einige „ältere“ Wortschatzeinheiten mit Doppelung fremdsprachlich – deutsch subtrahieren – abziehen größtenteils gegeben. Die Eigenschaft Anonymität ist der formelhaften Fachsprache der Mathematik aufgrund der hohen Konsensualität absolut eigen, sie ist international, standardisiert, überindividuell und das nicht nur in Formeln, sondern auch in anderen sprachlichen Bereichen, in Wörtern bis hin zum Textaufbau. Der Gebrauch der Fachsprache Mathematik wird von Mathematikern selbst eher aus inhaltlichen Gründen eingefordert, nicht unbedingt aus Gründen der Identitätsstiftung oder des Wunsches nach Zusammengehörigkeit. Umso mehr wird jedoch die damit verbundene Ausgrenzung von den Laien empfunden. Symbole schrecken viele ab, geben der Mathematik etwas Mystisches. Auch Wertungen werden vom Fach auf die Sprache und teilweise sogar auf die Sprecher übertragen. Hohe Frequenz mathemati-
2
Nur in seltenen Fällen ist auch diese nicht gegeben: Körper ›ein durch Flächen begrenztes Objekt des dreidimensionalen Raumes‹ und ›algebraische Struktur bestehend aus einer Menge und zwei Verknüpfungen‹.
Zur Historiogenese der Fachsprache Mathematik im deutschen Sprachraum
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scher Termini in der Sprache eines Menschen führt man gerne auf bestimmte Eigenschaften seines Intellekts zurück (Schmidt-Thieme 2002). Auf systemlinguistischer Ebene kennzeichnen die naturwissenschaftlichen Fachsprachen Formeln, Abkürzungen, Symbole für Elemente oder Strukturen, Maßeinheiten, Zahlen, Diagramme, Tabellen und Bilder. Typisch für Mathematik sind insbesondere Symbole, Diagramme und Wörter. Schon die Formeln in ihrer zweidimensionalen Anordnung lassen sich allerdings nicht mehr so recht der Sprache in ihrer Linearität zuordnen. Die systemlinguistischen Ebenen reichen also für eine formale Beschreibung einer Fachsprache bei Weitem nicht aus; es lohnt die Einbettung der Sprache in einen weiteren semiotischen Rahmen. Für Mathematik eignet sich eine Einteilung aller möglicher Repräsentationsformen mathematischen Wissens in drei Modi: An konkreten (realen), sinnlich erfahrbaren, dreidimensionalen Repräsentationsformen (in der Regel Gegenstände) lassen sich fachliche Begriffe durch Anfassen und Bewegen der Repräsentationen erfahren. Ikonische, zweidimensionale Repräsentationsformen sind irgendwie zweidimensional gebannten Darstellungen und Zeichen. Die symbolischen, linearen Repräsentationsformen umfassen alle sprachlichen, von der Alltagssprache bis hin zur mathematischen Formelsprache (Koerber 2003, Kulgenmeyer/Schecker 2009, Schmidt-Thieme 2010a). Die Beschreibung von Fach als spezialisierter menschlicher Tätigkeitsbereich3 eröffnet die Sicht auf Mathematik als Prozess. Mathematik, wie sie in Fach- oder auch Lehrbüchern zu finden ist, ist nur Endprodukt eines meist langen Prozesses geistiger, menschlicher Tätigkeiten ‒ rechnen, ausprobieren, experimentieren, analysieren, beobachten, interpretieren, vermuten, vernetzen, beweisen ‒, welche wiederum von sprachlichen Tätigkeiten begleitet werden – Lehrsätze formulieren, behaupten, argumentieren. Wenn die Fachsprache Mathematik hierbei als Medium dienen soll, dann muss, ja kann sie gar nicht immer die obigen Merkmale – z. B. feste Abfolge von Teiltexten – aufweisen. Die vertikale Gliederung der Fachsprache Mathematik lässt sich im Textsortenspektrum „Texte mathematischen Inhalts“ sichtbar machen (Schmidt 2003, Schmidt-Thieme 2010b). Die Dichte der formalen fachsprachlichen Einheiten, die Entfernung der systemisch/inventarischen Einheiten von der Alltagssprache auf allen sprachlichen Ebenen dient dabei oft als Kriterium für die Bestimmung des innersprachlichen Fachlichkeitsgrads. Die Bezeichnung „Grad“ legt dabei eine Messbarkeit nahe, die nicht sinnvoll mittels einer Skala oder konkreter Zahlen angebbar ist, sondern als relative Größe zu verstehen ist. Wiederum reicht dieses Kriterium aber zur Gliederung der Fachsprache unter pragmatischen Ansatz nicht aus, eine Ergänzung durch folgende zwei scheint sinnvoll und brauchbar: (1) die Verbindlichkeit der Sprachäußerung; (2) das Verhältnis der Exper3
Die bekannteste Gliederung stammt von Steger/Kalverkämper (1988) in die Fachsprachen der Wissenschaften, der Techniken und der Institutionen als Arten menschlicher Tätigkeit. Die Wissenschaftssprache (Theoriesprache) umfasst dabei die Bereiche menschlicher Tätigkeit, in denen es um die Theoriebildung und -vermittlung geht. Diese werden wiederum aufgeteilt in Natur- und Geisteswissenschaften, wobei Mathematik in der Regel zu den Naturwissenschaften gezählt wird.
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tenstatus der Kommunikationspartner.4 Die Untersuchung dieses gesamten Spektrums steht am Anfang.
1.3. Historischer Rahmen: Historiogenese der Fachsprache Mathematik Entwicklung und Weitergabe von Wissen vollzieht sich in menschlichen Gemeinschaften. Äußere Bedingungen (geographische Lage, Wetter), politische Ereignisse, kulturelle Entwicklungen wie wissenschaftlich-technische Errungenschaften beeinflussen und bedingen sich gegenseitig und damit auch die Entwicklung der Fachsprache Mathematik. Roelcke (2010, 179) schlägt für die Entwicklung von Fachsprachen eine Einteilung in drei Perioden vor: (1) Mittelalterliche Fachsprachen (8. Jh.–M. 14. Jh.): mundartlich geprägte Handwerkssprachen, Fehlen nationalsprachlicher Wissenschafts- und Institutionensprachen; (2) Frühneuzeitliche Fachsprachen (14.–17. Jh.): Fortleben der Handwerkssprachen; erste Entwicklungsversuche nationalsprachlicher Wissenschaftssprachen; (3) Neuzeitliche Fachsprachen (18. Jh–heute): Ausbildung Wissenschaftssprachen; Techniksprachen, Ausdifferenzierung; Druck zu internationaler Fachkommunikation. Für die geschichtliche Entwicklung der deutschen Fachsprache Mathematik möchte ich diese Einteilung in zwei Richtungen erweitern: (i) zeitlich früher, denn die Fachsprachlichkeit hat sich mit Beginn der mathematischen Tätigkeit entwickelt und Merkmale dieser Fachsprachlichkeit werden aus älteren Sprachen übernommen; (ii) Betrachtung aller fachsprachlichen Varietäten im deutschen Sprachraum, denn die Entwicklung der Fachsprachen ist kein einzelsprachliches Phänomen, mehrmals stehen zwei Sprachen in Konkurrenz. Unter Angleichung mit Einteilungen aus der Mathematikgeschichte (Wussing 2008/9) komme ich zu folgendem Epochenvorschlag: (1) (2) (3) (4) (5)
Vorzeit (ab 20.000 v. Chr.) Antike und Mittelalter (ab 600 v. Chr.) Frühe Neuzeit: Renaissance und Humanismus (ab 1400) Aufklärung (ab 1700) Moderne (ab 1900)
„Mathematik ist eine Sprache, die Strukturen erfasst und darstellt“ (Bildungsstandards Mathematik, Realschule, Baden-Württemberg 2004, 60). Diese Aussage steht in einer langen Tradition. Gerne zitiert wird hier G. Galilei: Die Natur spreche die Sprache der 4
Experten, die Erfahrung (und resultierend daraus Wissen) in Mathematik erworben haben, und Laien, die solches nicht aufweisen. Laien lassen sich weiter unterscheiden in Lernende, die bis zu einem gewissen Grad Experten werden wollen/sollen, und Interessierte, die aus Neugier vereinzelte Inhalte erläutert haben wollen; Experten in Forscher (die sich in der Hauptsache der Entwicklung der Mathematik widmen) und Vermittler (die sich in der Hauptsache der Weitergabe mathematischen Wissens widmen).
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Mathematik, die Buchstaben dieser Sprache seien Dreiecke, Kreise und andere mathematische Figuren. Es kann natürlich durchaus sinnvoll und erkenntniserweiternd sein, Sprache metaphorisch im Sinne von ›Schlüssel‹ zu gebrauchen. Es ist jedoch nicht zulässig, diesen Rahmen der Metapher zu überschreiten und z. B. Erkenntnisse, Bezeichnungen oder Methoden aus der Linguistik auf die Mathematik bzw. der Sprachendidaktik vorschnell auf den Mathematikunterricht zu übertragen. Der linguistische Ansatz fordert eine strikte Trennung zwischen Tätigkeit (Fach) und den benutzten sprachlichen Mitteln (Fachsprache). Vielfach bleibt zudem unklar, ob tatsächlich Mathematik oder Fachsprache der Mathematik gemeint ist. „Die Sprache Mathematik“ ist z. B. bei Mehrtens eher eine bestimmte Darstellungsform, die nun tatsächlich ein Eigenleben beginnen kann und keiner „Repräsentation der gegebenen physischen Welt“ (Mehrtens 1990, 9) mehr bedarf: „Daß er die Sprache erarbeitet und sie nicht über ein gegebenes Etwas spricht. […] Die Sprache der Mathematik ist eine der schriftlichen Texte“ (ebd.). Auch Mehrtens untersucht also nur die strengste, formalste Form der Fachsprache Mathematik, nicht die vielen vertikalen Ausprägungen. Welche Bedeutung Sprache in dem Zitat aus den Bildungsstandards hat, erschließt sich in diesem Fall jedoch auch nicht aus dem Kontext.
2. „Ageometretos meden eisito“ In fünf Momentaufnahmen aus der Geschichte der Fachsprache Mathematik – aus jeder der Epochen eine – sollen nun Merkmale und Phänomene der Fachsprache und damit ihrer Historiogenese beleuchtet werden. Ausgewählt wurden in Werken zur Mathematikgeschichte oder Sprachgeschichte vielfach hervorgehobene sprachliche Zeugnisse, welche hier auch ihren paradigmatischen Charakter in sprachlicher Hinsicht erweisen werden. Ihre sprachliche Beschreibung (Makrostruktur, Teiltexte, Wortschatz und Symbolgebrauch) wird eingebettet in Ausführungen zum politisch-kulturellen Hintergrund sowie Bedingungen und Arten mathematischer Tätigkeiten, und somit Bausteine für eine Historiogenese der Fachsprache Mathematik bereitet.
2.1. Vorzeit: Der Knochen von Ishango (ca. 20.000 v. Chr.) Sprachliche Zeugnisse aus dieser Zeit sind rar. Erste Formen von Schriftlichkeit kann man in Zahldarstellungen zum Festhalten von Mengenangaben sehen: „Zahlzeichen gehören zu den ältesten Spuren menschlicher Schrift“ (Mainzer 1988, 9). Auch schriftliche Dokumente z. B. aus dem vorderen Orient zeigen „fast ausschließlich Verwaltungsdaten und Wirtschaftsdaten“ (Coy 2005, 43) ‒ also viele Zahlen. Dabei zeigen schon frühe Zeugnisse eine Fortentwicklung von reiner Aneinanderreihung von Strichen zu
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Darstellungen mit besonderer Anordnung, Bündelung oder Verbindung der Striche, z. B. auf dem Ishango-Knochen. Fundort ist das Dorf Ishango in Zentralafrika, die Datierungen schwanken zwischen 20.000–25.000 bzw. 9.000–6.000 v. Chr. In drei Spalten sind auf dem Knochen Zahlen durch Aneinanderreihungen von Strichen dargestellt. Diese stellten nicht nur Schmuck oder Strichlisten zum Festhalten irgendwelcher Anzahlen dar, denn klar sind verschiedene Zahlenfolgen zu erkennen, z. B. in der unteren Zeile die Primzahlen 11, 13, 17 und 19. Auch wenn eine Interpretation schwerfällt (Wussing 2008, 10–11), ist dieser Knochen zweifelsohne ein mathematisches Zeugnis, die Strichreihen als Zahldarstellungen können als erste Beispiele mathematischer Fachsprache gedeutet werden. „Zahlsysteme markieren den Beginn der Arithmetik“ (Mainzer 1988, 9), ihre Dokumentation in Zahldarstellungen den Beginn der (schriftlichen) mathematischen Fachsprache. „Schreiber“ bzw. Textproduzenten waren Mitglieder einer Gesellschaft, die Zahlen brauchte für Mengenangaben; Zählen gehörte zu den ersten überlieferten, nachweisbaren mathematischen Tätigkeiten von Menschen. Daneben existieren Zeugnisse zur Kalenderrechnung und Zeitbestimmung wie in Stonehenge oder in Sachsen-Anhalt (Wussing 2008, 13–16). Nötig zur ihrer Erbauung und Benutzung waren neben arithmetischen auch geometrische und astronomische Kenntnisse. Über die Art des Erwerbs und der Vermittlung dieser Kenntnisse weiß man zwar wenig. Man darf jedoch annehmen, dass auch hier ein Beispiel für „Fachsprache als Kommunikationsmittel in spezialisierten menschlichen Tätigkeitsbereichen“ (Roelcke 2010, 180) vorliegt. Diese war oft mündlich und anfangs nur funktional, situativ von Alltagssprache unterscheidbar. Einen systematischen Niederschlag fand der fachliche Kontext „vor allem [in der] Entstehung von spezifischen Wortschatzeinheiten unter Beibehaltung der jeweils allgemeinsprachlichen Syntax“ (Roelcke 2010, 180). Da die Benutzung der Bauanlagen Anweisungen brauchte, mögen sich eventuell auch in der Makrostruktur Besonderheiten und damit erste fachsprachliche Merkmale entwickelt haben.
2.2. Antike und Mittelalter: Euklids Elemente (ca. 300 v. Chr.) Die Elemente des Euklid versammeln das bekannte mathematische Wissen in Griechenland um 300 v. Chr. In 13 Büchern stellt Euklid (oder eine Autorengruppe) Geometrie, Gleichungslehre (Algebra), Bruchzahlen (Arithmetik), Zahlentheorie und reelle Zahlen (Analysis) dar. Sofort nach dem Erscheinen setzte die Rezeption ein, unzählige Kommentare und Abschriften erschweren die Suche nach dem Original.
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Die mathematische Leistung Euklids lag weniger in der Entdeckung von mathematischen Zusammenhängen, diese waren zu großen Teilen vorher bekannt wie etwa der Satz des Thales oder der Satz des Pythagoras. Seine Leistung lag in der Systematisierung und Strukturierung des Wissens: Auf der Basis möglichst weniger, widerspruchsfreier Annahmen (Axiome, Postulate) werden alle weiteren Sätze logisch gefolgert und bewiesen. Dieser Aufbau schlägt sich auch sprachlich nieder (Euklid/Thaer 2003). I. Buch Definitionen. 1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat. 2. Eine Linie breitenlose Länge. 3. Die Enden einer Linie sind Punkte. […] 15. Ein Kreis ist eine ebene, von einer einzigen Linie [die Umfang (Bogen) heißt] umfaßte Figur mit der Eigenschaft, daß alle von einem innerhalb der Figur gelegenen Punkte bis zur Linie [zum Umfang des Kreises] laufenden Strecken einander gleich sind; […; 1] Postulate. Gefordert soll sein: 1. Daß man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann, […] 3. Daß man mit jedem Mittelpunkt und Abstand dem Kreis zeichnen kann, […; 2] §1 (A.1) Über einer gegebenen Strecke ein gleichseitiges Dreieck zu errichten. Die gegebene Strecke sei AB. Man soll über der Strecke AB ein gleichseitiges Dreieck errichten. Mit A als Mittelpunkt und AB als Abstand zeichne man den Kreis BCD (Post. 3), ebenso mit B als Mittelpunkt und BA als Abstand den Kreis ACE; [+ Figur; …; 3–4] §4 (L.1) Wenn in zwei Dreiecken zwei Seiten zwei Seiten entsprechend gleich sind und die von den gleichen Strecken umfaßten Winkel einander gleich, dann muß in ihnen auch die Grundlinie der Grundlinie gleich sein, das Dreieck muß dem Dreieck gleich sein, die übrigen Winkel müssen den übrigen Winkeln entsprechend gleich sein, nämlich immer die, denen gleiche Seiten gegenüberliegen. ABC, DEF seien zwei Dreiecke, in denen zwei Seiten AB, AC zwei Seiten DE, DF entsprechend gleich sind […]. Ich behaupte, daß auch Grundlinie BC = Grundlinie EF, ferner Dreieck ABC = Dreieck DEF […] gleich sein müssen […]. Deckt man nämlich Dreieck ABC auf Dreieck DEF und legt dabei Punkt A auf Punkt S sowie die gerade Linie AB auf DE, so muß auch Punkt B E decken, weil AB = DE. […, 5] – dies hatte man beweisen sollen. [6]
Sprachliche Beschreibung (Hervorhebungen und Gleichheitszeichen vom Herausgeber): (1) Jedes Buch beginnt mit Definitionen, ihnen folgen Axiome und Postulate, anschließend reihen sich Sätze (mit Beweisen) und Konstruktionsaufgaben (mit Konstruktionsbeschreibung) aneinander.
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(2) Auch die Teiltexte kennzeichnet eine konstante Auswahl sprachlicher Mittel. In den Definitionen wird der Indikativ Präsens verwendet, heißt (Nominaldefinitionen), ist (Realdefinitionen). Axiome, Postulate und Sätze stehen im Indikativ Präsens, zu mathematischen Handlungen wird in der 3. Person aufgefordert man zeichne. Syntaktisch herrschen kurze Aussagesätze und Konditionsgefüge vor. (3) Die begriffliche Fassung der mathematischen Bereiche führt zu einem differenzierten Wortgebrauch. Zahlreiche Wörter, neue und alte, bekamen nun den Status eines Fachterminus wie Punkt, Kreis. Dies bot auch einen Anstoßpunkt für Kritik, denn Euklid benutzte diese Alltagswörter in Definitionen als Fachtermini (Teil), ohne dass er vorher eine fachliche Bedeutung festgelegt hätte. (4) Punkte, Geraden, Winkel werden mit Buchstaben bezeichnet, in Skizzen wie im Text. Die Elemente sind ein deutlicher Schritt hin zur Trennung einer fachsprachlichen Varietät von der Allgemeinsprache in spezieller Auswahl aus dem Gesamtinventar des Altgriechischen. Einmalig sind ihre Wirkung auf die Mathematikgeschichte sowie auf die Unterrichts- und Fachsprachengeschichte. In den verschiedensten Formen mathematischen Unterrichts wurden die Elemente eingesetzt, rezipiert, in alle Sprachen übersetzt und kommentiert. Sie bildeten den Lehrtext für Geometrie an Klöstern und Universitäten, an Lateinschulen und städtischen Schulen und wurden zum Vorbild für fachwissenschaftliche wie für unterrichtsbezogene Darstellung mathematischer Inhalte. Die Fachsprache Mathematik unterscheidet sich auch heute in vielen Einzelsprachen in eben diesen Unterschieden.
2.3. Frühe Neuzeit: Die Rechenbücher von Adam Ries (ab 1518) Geistige Strömungen – Reformation, Humanismus ‒, künstlerische Neuausrichtungen – Renaissance – sowie soziale und wirtschaftliche Neuerungen – Entstehung von Städten, Ausweitung des Handels, Geldwirtschaft, Buchdruck usw. – führten in der Frühen Neuzeit auch im deutschen Sprachraum zu einschneidenden Veränderungen bezüglich Inhalt, Produzenten und Rezipienten von Bildung. Handwerker wie Kaufleute brauchten mathematisches Wissen zur alltäglichen Ausübung ihres Berufes. Die nötigen Grundkenntnisse in Arithmetik (Zahlen und Rechenverfahren), Algebra (Dreisatz und Lösen bestimmter Gleichungen) sowie Geometrie (Längen und Volumina bestimmen und umrechnen) wurden nun von Rechenmeistern in deutscher Sprache gelehrt und in zunehmenden Maße schriftlich in Büchern festgehalten. Weite und anhaltende Verbreitung fanden die Rechenbücher von Adam Ries. Ries (1492–1559) lebte seit 1522 in Annaberg und übte dort verschiedene Verwaltungsämter im Bergbau aus. Daneben gründete er eine Rechenschule und verfasste mehrere Texte mathematischen Inhalts (Deschauer 1991, Gärtner 2000, 206). Am be-
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kanntesten wurde sein 2. Rechenbuch, welches bis ins 18. Jh. an Schulen benutzt wurde. Numerirn. Heyst zeln lernt wie man itzliche zal schreyben vnd aussprechen sol / dar zu gehörn zehen figurn. also beschriben 1.2.3.4.5.6.7.8.9.0 Die ersten neun seindt bedeutlich Die zehent gildt allein nichts / sonder so sie andernn furgesatzt wirt, macht sie die selbigen mehr bedeuten. [A ijv·] Addirn [Lert z]aln in eyne summa zu brengen / thu im [also schreyb die] selbigen zaln welch du summirn wilt vnderein[a]nder die erstenn vnder die erste die andern vnder die ander / also hinfurt / darnach heb zu forderst an gen der rechten hand / summir zusamen die ersten figurn / komet eyne zal die du mit eyner figur schreybenn magst / so setz sie gleych darunder / entspringt aber eyne mit zweyenn figurn / so schreyb die erste gleych darunnder / die ander behalt / darnach summir zusamenn die andern figurn gib dartzu das du behalten hast vnnd schreyb abermals die erst figur / wu zwu vorhanden / vnd / thu des gleychen hinfurt mit allen figurn / piß vff die letzten / die schreyb gantz auß / so hastu wieuil in eyner summa kömet / als volgende exempel außweysen. [Zahlenbeispiele und Probe; A viijv–B jr] Jtem eyner dingt eynen erbeyter 30 tag: wen er erbeyt so gibt er ym 7 pfen: Szo er aber feyrtt rechent er ym ab 5 pfen: vnd do die 30 tag vorschinnen seint Jst keyner dem andern schuldigk blieben / die frag wieuil tag er geerbeyt vnd auch wieuil tag er gefeyrt hab: machs also setz er hab 15 tag geerbeyt vnnd 15 gefeyrt Multiplicir 15 mit 7 vnd 15 mit 5 komen 105 vnd 75: nim eines vom andern pleyben 30 souil zu wenigk Setz der halben 10 tag geerbeyt vnd 20 gefeyrt examinir wie yetzt stet also 15 – minus - 30 60 10 – plus - 30 Machs so komen 12 ½ tags souil hat er gearbeyt die nym von 30 tagen pleyben 17 ½ tag so vil hat er gefeyrt. [H ijv–H iij3]
Sprachliche Beschreibung: (1) Alle Rechenbücher von Adam Ries enthalten zwei Teile. Der erste besteht aus einer festen Abfolge von Lehrtexten zur Einführung in die Darstellung der Zahlen und in die Rechenverfahren Addieren, Subtrahieren, Medieren, Duplieren, Multiplizieren und Dividieren sowie Durchführung des Dreisatzes. Der zweite reiht (Rechen-)Aufgaben aus dem (Kaufmanns-)Alltag aneinander. Die Makrostruktur übernahm Ries von den an Klosterschulen und Universitäten innerhalb der quadrivialen Ausbildung eingesetzten „Algorismus“-Traktaten auf Latein. Als solche sind sie auch in den Rechenbüchern anderer europäischer Sprache sowie im deutschen Sprachraum bis ins 19. Jh. zu finden. (2) Lehrtexte beschreiben Rechenverfahren, also Algorithmen. Die einzelnen Schritte der Algorithmen werden direkt als Handlungsaufforderungen im Imperativ formuliert, ein Rechenbeispiel unterstützt jeweils den Text. Die Aufgaben bestehen aus
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Aufgabenstellung, Frage, Rechnung und Antwort. Auch diese Form ist aus den lateinischen Vorlagen übernommen und sogar heute noch in Schulbüchern zu finden. (3) Adam Ries führt ein und gebraucht mathematische Fachwörter für spezielle mathematische Handlungen (summieren) oder Begriffe (Summe). Wie bei anderen Rechenbüchern kommt es mitunter zu einer Parallelterminologie lateinischer und deutscher Fachtermini: addieren, summieren, zusammengeben (1. Rb Aiiijr), subtrahieren, abziehen (1. Rb Avv), duplieren, zwiefältigen (1.Rb Avjr). Neben der Angabe zweier (oder mehrerer) synonymer Termini gibt A. Ries eine Bedeutungsangabe. Addieren ‒ Zahlen in eine Summe bringen. Diese ist notwendig, da zu großen Teilen auch die deutschen Äquivalente der fremdsprachlichen Termini entweder neue lexikalische Einheiten oder neue – fachliche ‒ Bedeutungen alltäglicher Wörter sind. Abziehen z. B. ist eine Lehnübersetzung von subtrahere, Wurzel ziehen von radicem extrahere. (4) Adam Ries benutzt hier durchgängig die indisch-arabische Zahlschreibweise. Da diese zu Beginn des 16. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum noch nicht gebräuchlich war – man verwendete die römische – wurde in den Rechenbüchern eine Einführung in diese Schreibweise (Nummerieren) an die erste Stelle der Lehrtexte gestellt. Zahlen finden sich in Lehrtexten wie Aufgaben sowohl im Text als auch in Diagramme (Rechnungen oder Probe). Weiter finden sich Tabellen und geometrische Skizzen. In der sich im 16. Jh. in ganz Europa ausbildenden und etablierenden Textsorte „Rechenbuch (in der Volkssprache)“ beginnt nun auch die Ausbildung einer deutschen Fachsprache der Mathematik. Auf der Wortebene geschieht dies natürlich auf der Basis des Wortschatzes der Volkssprache, neben vielen Neubelegungen gelangen aber auch zahlreiche Neubildungen, meist Entlehnungen, in das Deutsche. Entlehnungen sind auch charakteristisch für die Ausbildung morphologischer, syntaktischer oder textlicher fachsprachlicher Besonderheiten. Dies zeigt sich bei der Fachsprache Mathematik besonders deutlich, denn anders als in den Naturwissenschaften, der Medizin oder einigen künstlerischen Bereichen, in denen eine mündliche Handwerkstradition (Alchemie, Kräuterbücher, Jagd, Malerei, ...) schon eine mündliche Fachsprache hatte entstehen lassen, die nun im Verschriftlichungsprozess genutzt werden konnte, konnte für die Fachsprache Mathematik nicht auf eine solche Vorbereitung sprachlicher Mittel zurückgegriffen werden. Rechenbücher des 16. Jhs. bereiten den Weg der sprachlichen Darstellung mathematischen Wissens für Lernende und Praktiker (mathematica practica). Ebenfalls in diese Zeit fällt die Entwicklung und Verbreitung vieler heute gängiger Symbole der mathematischen Fachsprache. Während vorher Rechnungen und Gleichungen ausgeschrieben wurden (Wortalgebra), wurden nun, teils über Abkürzungen oder Kurzschreibweisen im Laufe der Zeit, teils als explizite Neukonstruktionen die auch heute üblichen Symbole in die Fachsprache Mathematik integriert: + entsteht aus lat. et,
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% aus Abkürzungen für cento, cto, = wird hingegen von Robert Recorde in einem Rechenbuch 1557 explizit eingeführt.5 Zur selben Zeit wurden auch erste wissenschaftliche mathematische Texte (mathematica speculativa) auf Deutsch verfasst. Die Weiterentwicklung der Gleichungslehre, der sogenannten Coss oder heute Algebra, geschah durch Autoren wie M. Stifel (1487– 1567), Chr. Rudolff (1500?–1545?) oder auch A. Ries, welche bewusst die deutsche Sprache wählten, damit mathematisches Wissen auch dem gemeinen Mann zugänglich werden könnte. Dazu bauten sie auf die Sprache aus den Rechenbüchern auf und erweiterten diese. A. Dürer (1471–1528) vollbrachte diese Leistung für den geometrischen Wissensbereich aufbauend auf Malerbüchern: „Dürer ist der Anfang einer deutschen wissenschaftlichen Fachsprache Mathematik, der sich bewusst dafür einsetzt und damit auseinandersetzt“ (Roelcke 2010, 190 f.), allerdings eben neben einigen anderen. Latein blieb allerdings weiterhin die Sprache der wissenschaftlichen, forschenden Mathematik aus Gründen der Tradition, ihrer ausgebildeten Differenzierung in Bezug auf Lexik und Syntax, der Distanzierung zum Nichtgelehrten einerseits und der grenzübergreifenden Verständlichkeit innerhalb eines europäischen Gelehrtentums andererseits. Auch in der Mathematik findet sich somit eine „fachliche Zweisprachigkeit zwischen der alten Wissenschaftssprache Latein und den neuen Wissenschaftssprachen volkssprachlichen Ursprungs“ (Roelcke 2010, 190).
2.4. Aufklärung: Christian Wolffs Mathematisches Lexicon (1716/34) Christian Wolff ist ein Mann der Aufklärung. Wissenschaft ist für ihn eine Verstandesfähigkeit, mit der aus unwidersprechlichen Gründen unumstößliche Wahrheiten erschlossen werden können; entsprechend diesem Exaktheitsanspruch muss die Wissenschaftssprache dieser Vorstellung in den syntaktischen Formen der logischen Verknüpfung und durchgehender Nüchternheit folgen. Wolff wählt dazu die deutsche Sprache, arbeitete bewusst an der sprachlichen Darstellung und benutzte dazu auch die in der Zeit der Aufklärung prosperierende Textsorte der Enzyklopädie (Müller 1999). Christian Wolff behandelte in den Elementa matheseos universae (Leipzig 1713/5) enzyklopädisch alle mathematischen Disziplinen seiner Zeit; sein Mathematisches Lexicon (hier die Ausgabe Leipzig 1734) diente als alphabetisches Register zu diesem Werk, war aber in sich wiederum selbständig (Knobloch 1989). Vollständiges Mathematisches Lexicon, Darinnen all Kunst-Wörter und Sachen, Welche in der erwegenden und ausübenden Mathesi vorzukommen pflegen, deutlich erkläret. [Titel] Vorrede. […] wer die vollkommenste Manier erlernen will, wie immerzu eine Wahrheit aus der andern zu folgern sey; ja wer endlich in der Welt die Kräffte seines Verstandes bis auf den höchsten Gipffel seiner Vollkommenheit zu bringen trachtet, dieser darff nur mit allem Ernst den Mathematischen Wissenschafften obliegen. [2,…]. Denn wie dieselbe uns einen sicheren 5
Übersichten zu Notationen in der Algebra s. z. B Cajori 1928/9.
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und hurtigen Gebrauch der Vernunfft zuwege bringet; also haben auch ihre Wissenschafften selbst einen nicht geringen Einfluß in die Geschäffte der Menschen, welche solche täglich vorzunehmen nöthig haben. [3, …] Und weil überhaupt dieses Buch nicht vor solche Leute geschrieben ist, die in die Sache schon eine Einsicht haben, sondern denen nur lediglich dienen soll, welche etwas unbekanntes zu erlernen begierig, so ist man hin und wieder bey den Erklärungen weitläuffig gewesen. […] Die Erklärungen selbst hat man unter derjenigen Benennung gesetzet, in welcher sie am üblichsten sind, und allermeist in dem gemeinen leben gebraucht werden. [5] Circul, Circulus, ist eine ebne Figur, in welcher alle Puncte ihres Umkreises von dem MittelPunct gleich weit weg sind. Es wird ein Circul beschrieben, wenn sich eine gerade Linie CA Tab. I. Fig. 2 um den festen Punct C beweget. Es kommen gar verschiedene Stücke bey einem Circul zu betrachten vor: Als das Centrum, die Peripherie oder Circumferenz, welche man offt auch den Circul nennet, der Radius oder Semidiameter und Halbmesser, der Diameter oder Durchmesser; [...]. Seine Eigenschafften hat bereits Euclides Elemente III. demonstriret. [295] Cyfra, Cyphra, heisset in der Arithmetick diejenige $ota, oder der Character, welcher vor sich selbst keine eigene Bedeutung, als wie die andern neun Ziffern hat, sondern er wird gebrauchet, die leeren Stellen damit auszufüllen, wo keine Zahl stehet. [...]. Ihr Zeichen bestehet demnach aus einem Circul, und heisset ausser diesem insgemein Null oder Zero. Bey so gestalten Sachen ist dieses Wort Cyfra oder Cyfer nicht mit dem Wort Ziffer zu verwechseln, allwo weiter nachzulesen. [339] Ziffern, Figurae $umericae, notae numericae, heissen diejenigen Zeichen und Merckmahle, woran man erkennet, wie viele eintzele Grössen von einer Art beysammen sind, und sind dieselben gleichsam das Alphabeth, wodurch hernach die Zahlen ausgedrucket werden [1358] Zirckel, Circinus, Compas, ist ein voll Stahl oder von Messing, ja offt von Holz mit stählernen Spitzen verfertigtes Instrument, womit man nicht nur einen Circul beschreiben kan, sondern es lassen sich auch hierdurch denen vorkommenden Grossen andere ähnliche nachmachen und abtragen. Diesemnach ist der Zirckel nebst dem Lineal das allernöthigste und nützlichste Instrument. [1361/2]
Sprachliche Beschreibung: (1) Ein Lexikon, genauer Begriffswörterbuch ist eine in der Mathematik eher ungewöhnliche Textsorte, sie bildet auch keine Tradition aus. Die enge Vernetzung der mathematischen Begriffe in ihrer logischen Struktur erzwingt viele Verweise und inhaltliche Doppelungen. In gewisser Weise haben auch die mathematischen Darstellungen in der Nachfolge Euklids schon enzyklopädischen Charakter, wobei die alphabetische Anordnung einer Ordnung nach Inhalten gewichen ist. (2) Jeder Artikel beginnt mit einer Auflistung verschiedener Bezeichnungen für den mathematischen Begriff. Nach heisset folgt eine Begriffsbeschreibung, welche neben einer inhaltlichen Definition auch Hinweise zur Notation oder Darstellung beinhaltet. Weiter beschränkt sich Wolff auf recht kurze Kommentare zu Gebrauch oder einer inhaltlichen Diskussion unter Nennung von früheren mathematischen Werken. (3) Fast durchgängig gibt Wolff am Artikelanfang den deutschen und den lateinischen Fachterminus an, durch Schriftart unterschieden. Im Text selbst verwendet er nur den deutschen Terminus. Inwieweit Wolff als Innovator der deutschen Äquivalente
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angesehen werden kann oder „viele dieser deutschen Kunst-Wörter schon vor ihm üblich gewesen sein […] dürften“ (Ricken 1999, 2439), bedarf weiterer vergleichender Untersuchungen. (4) Wolff benützt die zu seiner Zeit üblichen mathematischen Symbole, natürlich die indisch-arabischen Ziffern und fügt Formeln und Rechnungen in die Artikel ein. Mit den enzyklopädischen Darstellungsformen, der Ausrichtung auch auf Praktiker und deshalb dem Einbezug vieler Begriffe aus handwerklichen und künstlerischen Bereichen leistet Chr. Wolff inhaltlich gesehen einen Beitrag zur Vernetzung der theoretischen (heute reinen) mit der praktischen (heute angewandten) Mathematik. Auf sprachlicher Ebene entspricht dies dem Bemühen, die verschiedenen Bezeichnungen der unterschiedlichen Bereiche zu systematisieren und zu vereinheitlichen. Nach dieser definitorischen Terminologisierung prägte die Lexik der Fachsprache Mathematik eine recht konsequente Verwendung. Aufgrund dessen kann man Wolff als den „Begründer der deutschen Wissenschaftssprache der Mathematik und Philosophie“ (Roelcke 2010, 196) sehen. Er schuf die „ideologischen Grundlagen für die oftmals noch heute anerkannten terminologischen Postulate der Definiertheit, Exaktheit, und Eineindeutigkeit wissenschaftlicher Fachwörter“ (ebd.). Die Sprache war nun inventarmäßig und in der Sicht sprachideologischer Begründung geeignet zu einer angemessenen Darstellung mathematischer Sachverhalte aller Art. Der sprachliche Übergang geschah in der Mathematik in wissenschaftlichen Textsorten (etwa Vorlesung, Monographie, Forschungsbericht) erst spät. Die Wahl des Deutschen anstelle des Lateinischen als Sprache wissenschaftlicher Kommunikation kann als Folge eines neuen Wissenschaftsverständnisses gesehen werden. Pörksen (1983, 233) sieht etwa in der Lösung vom Lateinischen auch die endgültige Lösung von den Autoritäten des Mittelalters, die sich in nationalstaatlichen und -sprachlichen Ideen sowie der Etablierung der Mathematik und der Naturwissenschaften in eigenen Fakultäten an den Universitäten, unabhängig von Theologie oder Medizin weiter manifestiert. Gerade in den wissenschaftlichen Textsorten impliziert eine Abwendung vom Lateinischen nicht immer die Wahl des Deutschen; oft wurde auf eine andere Volkssprache als neue Universalsprache zurückgegriffen wie Französisch. So verfassten auch weiterhin viele Autoren wie Leonhard Euler (1707–1783) oder Carl Friedrich Gauß (1777– 1855) ihre mathematischen Werke auf Latein oder Französisch. Zu Beginn der 20. Jh. wechselten Deutsch und Russisch sich in dieser Rolle ab, heute ist das Englische vorherrschend. Die Anzahl übereinzelsprachlicher Übereinstimmungen in der Fachsprache Mathematik ist jedoch so groß, dass auch Texte in unbekannten Sprachen verständlich sind.
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2.5. Moderne: Guiseppe Peanos Arithmetices Principia (1889) Auf Chr. Wolff gehen Systematisierungen zurück, auf G. W. Leibniz (1646–1716) viele Symbole, auf Euler der systematische Gebrauch dieser Symbole wie z. B. π . Alles dies sind Schritte auf dem Weg zu einer allgemein logischen Sprache, der von Leibniz geforderten lingua academica universalis. Seine Vision war, dass sich viele der menschlichen Probleme, richtig in dieser Sprache notiert, erklären und lösen ließen. Die Vertreter des Logizismus und Formalismus erreichten bis zu einem gewissen Grad, was Leibniz visionär vorausgedacht hatte. G. Peano (1858–1932) entwickelte zur Darstellung seiner Ergebnisse eine formalisierte Sprache „mit eigens erfundenen neuartigen Symbole ohne jede natürliche Sprache“ (Wussing 2009, 399). Ein Beispiel aus seinem Versuch, grundlegende Gebiete der Mathematik rein formal darzustellen, sind die heute noch in jedem Buch über natürliche Zahlen verwendeten Peano-Axiome (Peano 1898, 1).
Sprachliche Beschreibung: (1) In den Arithmetica principia findet man den in Euklids Elementen entworfenen axiomatischen Aufbau in vollkommene Form gebracht. Größtenteils in Listen finden sich Axiome, Definitionen und Sätze.
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(2) Die Teiltexte sind so standardisiert und formal wie möglich. Es herrscht ein weitgehender Verzicht auf Sprache, sie wird ausschließlich zur Erläuterung der formalen Symbole bei ihrer ersten Einführung verwendet (und ist NB Latein). (3) Die wenigen Wörter sind entweder Termini oder dienen der Textgliederung. (4) Auffallendstes Merkmal ist die reichhaltige und streng formal logisch gebrauchte Symbolik. Peano benutzt dabei die bereits bekannten Symbole (1, +, =), gibt ihnen z. T. allerdings eine spezielle Bedeutung (1 nicht die Zahl, sondern die Einheit eines Zahlbereiches) und ergänzt diese durch neue. Für dieses neue Zeicheninventar legt er syntaktische Regeln für ihren Gebrauch fest. Hier wird deutlich sichtbar, dass das Bemühen um eine Axiomatisierung der Mathematik notwendig mit einer Suche nach einer Darstellungsweise einher geht, die die Loslösung von der Realität erlaubt und nur logisches Folgern zulässt. Die Axiome in einem Axiomensystem sind unabhängig und widerspruchsfrei, sie legen vollständig den Grund für einen mathematischen Bereich. Und sie sind vor allem unabhängig von jeglicher Anschauung. Die Objekte der Mathematik werden so rein abstrakte Größen.6 Als einer der Ersten versucht G. Frege in seiner Begriffsschrift (1879) „Beweise in der Mathematik ohne Rückgriff etwa auf die Anschauung zu führen“ (Wussing 2009, 402). Hilbert (1862–1943), Whitehead (1861–1947), Russell (1872–1970) und viele andere folgen; in ihren Werken und Arbeiten entstand eine symboldichte Darstellungsform für mathematische Inhalte, die nun übereinzelsprachlich und allgemein verständlich war. Allerdings wurde nun auch der hypothetische Charakter deutlich. Heute weiß man, dass es Sätze gibt, die nicht entscheidbar sind, dass es also Probleme gibt, die nicht berechenbar sind, dass also Leibniz’ Idee der Darstellung aller möglichen Probleme nicht automatisch zu einer Lösung führt. Die Idee der formalen, rein axiomatischen Darstellung wird nun nicht nur auf grundlegende Bereiche der Mathematik wie Logik, natürliche Zahlen oder Mengenlehre angewandt. Nicolas Bourbaki, genauer ist dies eine Gruppe von Mathematikern, machte sich im 20. Jh. ans Werk, die gesamte Mathematik auf diese Weise darzustellen. Nachdem deutlich geworden war, dass dies im Prinzip möglich ist, ließ das Interesse der Mathematiker daran nach, denn – neben den neuen Anforderungen insbesondere aus Industrie und Handel – zeigte sich auch, dass sich diese Darstellung weder zum Erlernen oder zur Vermittlung noch zu weiterer Erkenntnisgewinnung eignet. Andererseits führten diese Bemühungen letztendlich zu dem mathematischen Konstrukt der formalen Sprache. Eine formale Sprache besteht aus einem Alphabet und einer Syntax, beides zusammen heißt Grammatik (Hedstück 2000). Der Begriff der formalen Sprache und entsprechende Beispiele formaler Sprachen sind also mathematische Objekte und damit von der Fachsprache, in der man über Mathematik spricht, zu unterscheiden. Natürlich kommt es zu gegenseitigem Einfluss, Symbole aus der Fachsprache 6
Dies kann gedanklich weitergeführt werden, dass die gesamte Mathematik nichts anderes ist als ein regelhafter Umgang mit Diagrammen und Symbolen (Dörfler 2006).
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Mathematik werden in formale Sprachen übernommen und immer mehr Symbole oder Symbolverbindungen kommen aus den formalen Sprachen in die Fachsprache der Mathematik. Zwei Ereignisse in der Geschichte der Wissenschaften im 20. Jh. schlagen sich nach Roelcke in besonderem Maße auch in den Fachsprachen nieder: die explosionsartige Erweiterung und Zersplitterung der Wissenschaften sowie ihr rascher Fortschritt. Letzterer führt zwar in vielen Fällen zu einer „abnehmenden Verwendungsdauer“ insbesondere von fachlichen Termini (Roelcke 2010, 199), allerdings weniger in der Mathematik, da hier „Neu“(er)findungen die alten in der Regel nicht überflüssig machen. Auch der Ausbau oder eine Aufsplitterung der Fachsprache in Folge der durchaus stattfindenden Aufteilung in Teilgebiete hält sich bei der Mathematik in Grenzen: die flexionsmorphologischen, syntaktischen und textlichen Konstanten, die gemeinsamen inhaltlichen Grundlagen und Schlusstechniken geben der Fachsprache Mathematik nach wie vor einen recht einheitlichen Charakter. Eine Konkurrenz zur rein verbalen Form entsteht eher in den ikonischen und konkreten Darstellungsweisen insbesondere in Vermittlungssituationen mit Laien als Kommunikationspartner. Da heute Computer diese Werte jedoch schnell berechnen können, haben die graphischen Methoden wieder an Wert verloren. „Ageometretos meden eisito“, „Der der Geometrie Unkundige möge nicht eintreten!“ soll über dem Eingang der Platonischen Akademie gestanden haben. Auch wenn dies wohl nicht stimmt (Saffrey 1968), bleibt aufschlussreich, warum dem griechischen Philosophen dieser Text zugeschrieben wird. Chr. Wolff meint hierzu: „wer die vollkommenste Manier erlernen will, wie immerzu eine Wahrheit aus der andern zu folgern sey; ja wer endlich in der Welt die Kräffte seines Verstandes bis auf den höchsten Gipffel seiner Vollkommenheit zu bringen trachtet, dieser darff nur mit allem Ernst den Mathematischen Wissenschafften obliegen. Eben das war der Ursprung des strengen Gesetzes, welches ehemals bey denen Griechen denjenigen den Eingang zu ihren Lehr-Sälen verwehrete, welche nicht vorhero wenigstens die Rechen-Kunst und Geometrie erlernet und die Regeln solcher nützlichen Wissenschafften wohl begriffen hatten“ [Mathematisches Lexicon 1734, Vorrede, 2].
Sicher kam zu Beginn der Platonischen Akademie dem mathematischen Wissen eine grundlegende Rolle zu, da in ihr in besonderer Weise Mathematik als reine Denkform praktiziert werden konnte (s. Euklids Elemente; Wussing 2009, 181).
3. „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen“ Fünf Momentaufnahmen auf Zeugnisse der Fachsprache Mathematik aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen sind noch weit entfernt von einer zusammenhängenden Geschichte der Fachsprache Mathematik, die ihre Historiogenese zeigt. Dennoch lassen sich einige Charakteristika dieser Historiogenese erkennen:
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(a) Besonderheiten auf systematischer Ebene erweisen sich als relativ konstant: Textsorten, Makrostruktur und Terminologie. Unter diesem Aspekt erweist sich die deutsche Fachsprache der Mathematik als eine Art Lehnvarietät, insbesondere des Lateinischen. Die Ursache hierfür liegt in der Fachstruktur, hier unterscheidet sich die Fachsprache Mathematik von den Fachsprachen anderer Naturwissenschaften. Dennoch gab es immer wieder bewusste sprachliche Gestaltungen, wie z. B. die Ersetzung der Wortalgebra oder die Entwicklung von Symbolen, die allerdings wiederum in Vergleich zu anderen Naturwissenschaften (etwa (Al-)Chemie, Astronomie, Botanik) erstaunlich spät einsetzte. Innersprachliche Änderungen, wie sie für eine Periodisierung der allgemeinen Sprachgeschichte genutzt werden, zeigen hier weniger Spuren, stärker prägen kulturelle oder politisch-soziale Änderungen die Entwicklung der Fachsprache. (b) Die Fachsprache Mathematik spiegelt von Anfang an die fachspezifische Dichotomie zwischen Alltag/Realität und gedachten abstrakten Objekten wieder. Als einzige (Natur-)Wissenschaft kann sie von der Realität vollständig gelöst und rein formal dargestellt werden. Damit rangen Mathematiker aller Zeiten, von Euklids axiomatischem Aufbau über Chr. Wolffs definitorische Fassung bis zur Suche und Ausbildung einer formalen Sprache. Die formale sprachliche Fassung ließ nun auch die Grenzen der Mathematik, von denen schon Goethe gesprochen hatte, im wahrsten Sinne sichtbar werden. (c) Die Fachsprache Mathematik zeigt in ihrer Historiogenese weniger als andere Fachsprachen eine problematische Konkurrenz zwischen Latein und Deutsch, da die deutsche Fachsprache Mathematik der lateinischen, der griechischen bzw. heute der englischen sehr ähnlich ist. Die einzelsprachlichen Fachsprachen der Mathematik scheinen fast international verständlich; Formeln, internationale Bezeichnungen, aber auch stereotype Textmuster vermitteln trotz der fremden Sprache jedem Mathematiker ein vertrautes Bild. Schwieriger gestaltete sich und gestaltet sich auch heute noch die Konkurrenz verschiedener Stufen von Fachlichkeit/Formelhaftigkeit zu verschiedenen Zwecken, d. h. bei der Erfüllung verschiedener Funktionen. Die Momentaufnahmen verfolgen in der Mehrzahl den Weg der Fachsprache Mathematik zur formalen Symbolsprache. Sie zeigen weder mündliche Formen etwa im Prozess mathematischer Erkenntnis, noch die vielfältige vertikale Ausdifferenzierung fachsprachlicher Formen in Vermittlungssituationen in Anwendung (Industrie), Lehre (Mathematikunterricht) oder Allgemeinbildung (populärwissenschaftliche Texte). Die Leistungen der formalen Darstellung sind diesen Rezipientengruppen oft schwer zu vermitteln, ihre produktive bzw. erkenntnisgenerierende Rezeption wird von ihnen vielmals verweigert. „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Sind Schlüssel aller Kreaturen, Wenn die so singen, oder küssen, Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
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Wenn sich die Welt ins freye Leben, Und in die Welt wird zurück begeben, Wenn dann sich wieder Licht und Schatten Zu ächter Klarheit wieder gatten, Und man in Mährchen und Gedichten Erkennt die wahren Weltgeschichten, Dann fliegt vor Einem geheimen Wort Das ganze verkehrte Wesen fort.“ (Novalis, Berliner Papiere, 675.)
In Kenntnis von Novalis Bibliothek – sie enthielt eine Reihe aktueller mathematischer Schriften ‒ stehen sein Wissen und seine Begeisterung für Mathematik außer Frage. Für ihn war wie für Wolff auch die Mathematik „der Begriff der Wissenschaften“ (Schreiber 2009, 166) überhaupt. Allerdings bezog sich seine Begeisterung ganz auf die Möglichkeit eines von der Realität gelösten Denkens, das die Mathematik möglich macht: „Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge.“ (Novalis, Monolog, 672)
Diese Mathematik ist Teil der Märchen und Geschichten. Es ist der realitätsbezogene Teil der Mathematik, der die für Novalis eher bedrückende Realität in Zahlen und Figuren zu fassen versucht, der im Gedicht verwünscht wird. Für den historisch ausgerichteten Wissenschaftler gilt es jedoch die Gesamtheit der mathematischen Tätigkeiten und Erkenntnisse bzw. die Gesamtheit der fachsprachlichen Einheiten zu betrachten, denn diese sind nicht zu trennen. „Historische Wortforschung hat nicht irgendwo eine Hilfsfunktion für die Kulturgeschichtsschreibung, liefert nicht randständige Fälle für geschichtswissenschaftliche […] Interessen, sondern zeichnet ein linguistisch begründetes Bild der Inhaltssysteme, in denen historische Sprechergruppen sprachlich gehandelt und gedacht haben. Insofern ist sie Kulturgeschichte im Sinne von Kulturgeschichtsschreibung“ (Reichmann 2005, 90).
Auch die Erforschung der Fachsprache ist somit gleichermaßen Mathematikgeschichte und damit auch – da unsere Kultur ohne Mathematik sich nicht in der gewohnten Weise ausgebildet hätte – Kulturgeschichte.
4. Zitierte Literatur 4.1. Quellen Bildungsstandards Mathematik, Realschule, Baden-Württemberg 2004. Hrsg. vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg. Euklid: Die Elemente. Bücher I–XIII. Hrsg. u. übers. v. Clemens Thaer. 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2003 (Ostwalds Klass. d. exakten Wiss. 235).
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Vom Tinkturwerk Ein alchemisches Reimpaargedicht des 16. Jahrhunderts und seine Bearbeitungen von Andreas Ortel (1624) und J. R. V. (1705) 1. Vom Tinkturwerk 2. Die Bearbeitung von Andreas Ortel (1624) 3. Die Bearbeitung von J. R. V. (1705) 4. Überlieferungsverzeichnisse 5. Texte 6. Zitierte Literatur „Qui [...] vult veritatem pertingere, capiat solis humorem et lunae sputum“. (Turba philosophorum)*
Historiographen erwarten gewöhnlich von einem frühneuzeitlichen Verfasser „anleitender“ Texte möglichst präzis formulierte Handlungsanweisungen bzw. „genaue Verfahrensregeln“, habe man doch anders gewisse „Handlungsziele“ schwerlich zu erreichen vermocht1. Darüber machen sie leicht vergessen, daß im „anleitenden“ Schrifttum durchaus auch bestimmtes Handlungswissen arkanisiert worden ist, etwa in der mit unzählbaren Rätselreden durchsetzten Alchemia-practica-Literatur. Solche Handlungswissen verrätselnden Texte sind in allegoristischen Alchemica omnipräsent; aus ihrer Vielzahl sei nur eine dieser Anweisungen, befindlich in einem Hauptwerk frühneuzeitlicher Alchemiker, der Turba philosophorum, einem fingierten Protokoll von Debatten, die auf einer Alchemikerversammlung zur Klärung nomenklatorischer Fragen geführt worden sind, herausgegriffen, ein Diktum, das über die stofflichen Fundamente des ‚Großen Werks‘ belehrt: „Wer von Euch [Alchemikern] der [zum Ziel der Kunst führenden] Wahrheit inne werden will, der nehme [zur laborantischen Präparation des ‚Steins‘] die ‚Feuchtigkeit‘ der ‚Sonne‘ und den ‚Speichel‘ des ‚Mondes‘!“2. Schlaglichtartig mag diese Anweisung daran erinnern, daß in manchen alchemischen Schriftenmassiven Polysemie, Synonymenfülle und ‚Decknamen‘ herrschten; semantische Inkohärenzen hier gewisse Sinnbilder in Bedeutungsleere zu stürzen drohten, gelegentlich zu Sinnimplosio* Turba philosophorum, ed. Ruska (1931), Sermo 57, S. 159, Z. 13 f. 1 Reichmann/Wegera 1988, 191. 2 Turba philosophorum, ed. Ruska (1931), Sermo 17, 159, 243.
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nen führende Polyvalenzen eine genauere Kenntnis etwa der mit bestimmten verba figurata gemeinten Substanzen vereitelten. Nicht von ungefähr hatte beispielsweise Andreas Libavius eingedenk der Tatsache, daß „die Chymisten jhre eygene Wörter und Phrases haben/ auch mehr erdichten“3, den Gebrauch „figürlicher Namen“ zugunsten „außdrücklicher“ und „verständiger gemeiner“ Wörter4 scharf verurteilt, fielen doch ‚figürliche‘ Diktionen allein in die Domäne der ‚Poeten‘; und auch von Daniel Sennert wurde der Gebrauch ‚dunkler‘ bzw. ‚unbekannter‘ Vocabula als ein verwerflicher Anschlag auf die sachschriftstellerische Aufgabe, eine möglichst sinnbildfreie, von „perspicuitas“ und „claritas“ geprägte Schreibart zu pflegen, gehörig gegeißelt5.
1. Vom Tinkturwerk Ein Beispiel für die opake Bildlichkeit allegoristischer Sachschriften alchemischen Inhalts bietet ein von Literar-, Sprach- und Wissenschaftshistorikern unbeachtetes Lehrgedicht Vom Tinkturwerk, das man aufgrund seiner von der Zeit um 1600 bis ins ausgehende 18. Jahrhundert reichenden Überlieferung, aber auch aufgrund seiner bislang unerkannten Derivate, einer Bearbeitung von A. Ortel (1624) und einer Nachdichtung von J. R.V. (1705), sowie einiger Übersetzungen zu den wirkmächtigeren Alchemikerdichtungen zählen kann. Der Verfasser dieses Reimpaargedichts ist in Anonymität versunken, doch verrät der überlieferungsgeschichtliche Befund, daß Vom Tinkturwerk während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden ist. In eben diesen Zeitraum weisen aber auch innere Gründe, etwa die bis in das 16. Jahrhundert unter alchemischen Sachschriftstellern des deutschen Kulturgebiets durchaus noch unübliche Assimilation humanistischen Bildungsgutes oder textliche Anleihen bei um 1570 aktuellen Alchemica.
1.1. Zur Lehre Vom Tinkturwerk schuldet seine Tektonik einem schon oft erprobten und durchaus sachgemäßen Aufbauschema, dokumentiert in betäubend vielen ‚Prozeßbeschreibungen‘, die über theoretische und praktische Grundlagen des ‚Großen Werks‘ metalltrans3 4
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Libavius 1616, 259. Libavius 1603, 243; siehe ebd., 129: „Wer sich unserer Chymia befleissen will / der mag wol Künstlich von Sachen reden / unnd Chymische terminis setzen“, habe aber bei Gebrauch aus „anderen scientias“ stammender Termini „ein jedes [Wort] nach dem es sich in Warheit sich verhelt / [zu]verstehen“. Sennert (1619), Kap. V: Wer wie Paracelsus ‚neue Namen‘ für ‚altbekannte Sachen‘ verwende, verstoße gröblichst gegen die „Consuetudo artis“; „Nomina nova“ seien nur wirklich Neuem vorzubehalten und aus bekanntem Sprachgut (“lingua nota“) abzuleiten, semantisch eingeschliffenen Wörtern habe man keine ungewöhnlichen Bedeutungen beizulegen.
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mutatorisch tätiger Alchemiker belehrten. Neben dem Rezept bildeten Prozeßbeschreibungen im Schriftendickicht alchemischer Praktiker die wohl wichtigste Textsorte, galten sie doch dem laborantischen Gewinn einer ‚unedle‘ Stoffe in ‚edel‘ Silber und Gold wandelnden, aber auch Gold und Silber tingierfähig machenden Arkansubstanz und alle menschlichen Krankheiten vertreibenden Medizin, dem „Filius solis“ (v. 140) alias ‚unsterblichen Adam‘ (v. 147), dem sprichwörtlichen ‚Lapis philosophorum‘ bzw. dem von den ‚Weisen glorifizierten Stein‘ (v. 134). Der erste Abschnitt (v. 1–72) gilt der Materia prima. Sie wird mit zwei aus der antiken Naturkunde ererbten und in frühneuzeitlichen Schöpfungslehren präsenten Termini benannt, ‚Chaos‘ und ‚Hyle‘ (v. 8, 28, 118), die − daran läßt beispielsweise eine Schrift von Heinrich Khunrath (Von Hylealischen, das ist / Pri-materialischen Catholischen Oder Allgemeinen $atürlichen Chaos, 1597) keine Zweifel − im alchemischen Wortschatz des 16. Jahrhunderts zu den Zentralbegriffen zählten. Durch bloßen Namenaufruf wird als Quellgrund substantiellen Werdens eine matrixhaft-primordiale ‚Materia confusa‘ in den Blick gerückt, ein qualitativ ungeprägtes, allen vier Elementarqualitäten gemeinsames Substratum, das anzunehmen erlaubte, daß Stoffwandlungen durch alchemisch bewirkte Qualitätenänderungen möglich seien. Seine zu Schlagwörtern geronnenen Aristotelismen verband der Dichter mit der aus griechisch-arabischem Erbe stammenden und bis weit in die Neuzeit ungemein geläufig gebliebenen Doktrin von der Metallentstehung aus ‚Sulphur‘ und ‚Argentum vivum‘ (v. 14). Eine grobe Materialisierung der Materia prima-Begriffe ‚Hyle‘ bzw. ‚Chaos‘ aber unterblieb. Den zweiten Abschnitt (v. 73–128) bestreiten Aussagen über die Präparation der ‚Materia‘. An die Stelle präziser Angaben zu Stoffen, Gerät und Verfahren, wie sie gewöhnlich die Alchemia-practica-Literatur durchziehen, rückte der Dichter lapidare Anweisungen, die dem Alchemiker auferlegen, die Elemente ‚Erde‘ und ‚Wasser‘ laborantischen Verfahren zu unterwerfen und sowohl die Elementarqualitäten ‚Feuchte‘ und ‚Trockenheit‘ als auch die Stoffkonstituenten ‚Corpus‘ und ‚Geist‘ zu wandeln. Zur Sprache gelangt ein Streit der Elemente, der so lange währt, bis ein „Zwerg“ die „Riesen“ (Elemente) überwindet und aus der Hinterlassenschaft dieser Kämpfe‚ ‚zerbrochenem Unwert‘, schließlich der „Filius solis“ hervorgeht. Der Schlußabschnitt (v. 129–150) ist den Wirkkräften der Tinktur gewidmet. Vorgetragen wird die alteingeschliffene Vorstellung, man könne mittels des stofflich hochreinen „Filius solis“ alle ‚unreinen‘ Metalle in ‚reines‘ und tingierfähiges Silber und Gold wandeln, aber auch den menschlichen Körper von allen krankheitserregenden ‚Unreinheiten‘ befreien. Einmal mehr vernehmlich machen sich in dieser Doppelfunktion des „Filius solis“ alle jene Arztalchemiker, die auf humoralpathologischen Fundamenten die Ansicht verfochten, daß eine Dyskrasie in Eukrasie wendende Universalarznei erlangbar sei, und maßgeblich daran mitwirkten, daß die Scientia alchimiae nicht zuletzt unter alchemoparacelsistischen Impulsen zur Zeit des Lehrdichters zunehmend in die Dienste humanmedizinisch-pharmazeutischer Zielsetzungen genommen worden ist.
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Eine bündig-knappe Diktion, Formelgut, Synonymenketten, assoziative Verknüpfungen und oft heikle Beziehungen zwischen Wort und Sache sollten nicht darüber täuschen, daß vom Tinkturwerk-Verfasser nichts als Allgemeingut der im einschlägigen Sachschrifttum des lateinischen Westens dominierenden Vier-Elemente-Alchemie metrifiziert worden ist. Alles Geschaffene, so hatte man seit spätmittelalterlicher Zeit aus griechisch-arabischer Überlieferung gelernt, besäße ein und dieselbe ‚Natur‘ und unterscheide sich allein in der Art seiner Elementenmischung. Etwas Neues schaffen könne man mithin nur durch laborantische Manipulationen der vier Elemente: „Cum autem quatuor elementa non coniunguntur, nihil hominibus artificii, quod cupiunt, perficitur. Mixta autem et a suis naturis exeuntia aliud fiunt“6. Zu erreichen war eine ‚Conversio‘ bzw. ‚Mutatio naturarum‘, genauer: eine Wandlung der in unterschiedlichen ‚Komplexionen‘ präsenten „naturae“ (caliditas, frigiditas, humiditas, siccitas), über die man oftmals festhielt: „Naturam autem convertere, est Elementa circulariter rotare“7. Offenkundig stand der Tinkturwerk-Verfasser in Nachfolge jener zahllosen Alchemiker, für die galt: „Tota ars consistit in convertendo elementa, id est, faciendo humidum siccum, et fugiens fixum.“8
1.2. Zur Schreibart Sein lehrdichterisches Verfahren wurde vom Tinkturwerk-Verfasser mit dem Attribut „metaphoricè“ (v. 46, 58) charakterisiert. Er speiste seinen Sinnbildschatz aus der von Humanisten aktualisierten Mythologie der griechisch-römischen Antike: So personifiziert beispielsweise der antike Meeresgott Proteus einen arkanen Mercurius philosophorum (v. 104–106) −, doch auch aus der Heiligen Schrift, etwa wenn vom Dichter alchemische Destruktionsgeschehnisse mit dramatischen Weltvernichtungsvorgängen am Jüngsten Tag analogisiert worden sind (v. 113–118). Maßgeblich aber wird die lehrdichterische Rede von Namenhäufungen und Synonymenketten geprägt. Da nun nomenklatorische Probleme, insbesondere die ‚Multitudo nominum‘ sowohl für die arkane ‚Materia prima‘ als auch das (von der Ausgangssubstanz oft nur unscharf oder gar nicht geschiedene) Endprodukt alchemischen Strebens, der ‚Tinktur‘, immer wieder thematisiert worden sind, handelte es sich bei diesen sprachlich-stilistischen Merkmalen keineswegs um eine lehrdichterische Eigenleistung: Durch die Zeiten hatten Alchemicaverfasser in der ‚Multitudo nominum‘ ein schweres Hindernis auf dem Weg zum Ziel ihrer ‚Kunst‘ beklagt und in der Vielzahl allein der Stoffnamen, oft zugleich auch in der 6 7 8
Turba philosophorum, ed. Ruska (1931), Sermo 9, 117. Ps.-Arnald von Villanova: Speculum alchymiae. In: TC, Bd. 4 (1659), 532. Ebd., 538. − Siehe z. B. auch Turba philosophorum, ed. Ruska (1931), Sermo 65, 165: „Quare Philosophus ait: ‚converte elementa, et quod quaeris, invenies‘. Convertere autem elementa est humidum facere siccum et fugiens fixum“; Efferarius: De lapide philosophorum. In: TC. Bd. 3 (1659), 150: „Tota perfectio non est aliud, nisi elementa convertere“.
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insbesondere im allegorisch geprägten Alchemicaflügel herrschenden Polysemantik eine Hauptquelle ihres Scheiterns erblickt: eine „causa erroris illorum, qui operantur in non debita materia“9 −, doch hatten sie diese fachsprachlichen Eigenarten auch immer wieder unter Blick auf „insipientes“ und „impiis“ im Banne des Schweigebots für Alchemiker verteidigt, während andere wieder dafürhielten, daß sich der ‚Stein‘ sowohl wegen seines ubiquitär-elementaren Charakters, seiner Konstituenten (die vier Elemente, die Corpus/Anima/Spiritus-Triade) und seiner allumfassend-kosmischen, alle Eigenarten der Schöpfung vereinigenden Beschaffenheit als auch wegen seiner alchemisch unterschiedlichen Eigenschaften und Wirkungen mit allen Dingen der Welt vergleichen ließe10: der ‚Stein‘ also mithin so viele Namen tragen könne wie es auf der Welt Dinge gebe11, nämlich „infinita nomina“12. Jedenfalls war die Anzahl tatsächlich gebräuchlicher Nomina für die ‚Una res‘ so beträchtlich, daß man beispielsweise im 14. Jahrhundert von über zweihundert Namen für die ‚Medicina‘ zu berichten13 und zur Zeit des Tinkturwerk-Verfassers der Wissenschaftspublizist Guglielmo Grataroli diese Namen nur teilweise zu erfassen wußte14.
1.3. Schlußbemerkungen Doktrinenhaushalt, Formelgut und Namenfundus bekunden im Verein mit einigen Similien, daß Vom Tinkturwerk bereits anderwärts literarisch fixiertes Wissen wiedergibt. Auch wenn sich für einige wenige Verse Similien in deutschsprachigen Konkurrenzschriften ermitteln ließen15, − angesichts der durchaus noch lastenden Dominanz latein9 10
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So etwa Efferarius, ebd., 145. Sieh z. B. Laurentius Ventura: De conficiendi lapidis philosophici ratione (16. Jh.). In: TC. Bd. 3 (1659), 232 f., Kap. 9: „Quod lapis philosophorum unum proprium nomen habet, et tamen multis nomin[i]bus“. − Daß die „multitudo nominum“-Topik auf antik-arabischer Tradition beruht, zeigen beispielweise der Micreris (Mahrārīs)-Mirnefindus-Dialog. In: TC. Bd. 5 (1660), 90 (spricht von über 10000 Namen für die „una res“) oder die Turba philosophorum (ed. Ruska, 1931, Sermo 13, 122); die nach Zosimos bzw. Demokritos lehrte, daß der ‚Stein‘ „propter suae excellentiam naturae“ mit vielen Namen bezeichnet werde, sein Name aber doch nur einer sei. So beispielsweise Ps.-Thomas von Aquin, ed. Goltz/Telle/Vermeer 1977, 104. Dokumentiert etwa bei Ps.-Albertus Magnus: Liber octo capitulorum (auch: Tractatulus Avicennae). In: TC. Bd. 4 (1659), 851: „Antiqui verò Philosophi lapidi nostro multa imposuerunt nomina, vocaverunt animal, guma, vitriolum, sanguinem, urinam rubeam [...] et infinitis nominibus ipsum vocaverunt“; Ps.-Albertus Magnus: Compositum de compositis. In: TC. Bd. 4 (1659), 835; Ps.-Arnald von Villanova: Flos florum. In: TC. Bd. 3 (1659), 135; Efferarius: De lapide philosophorum. In: TC. Bd. 3 (1659), 143: Die „una res“ sei „argentum vivum sapientum“, „quod alijs nominibus nuncupatur aurum, medicina, lapis philosophorum, Elixir, et aliis infinitis nominibus“. Telle 1980, 77 f. Gratarolus 1561, 265–268. − Dazu wenig hilfreich Mandosio 2001, 199 f., mit unkritischer Textwiedergabe (224–226). Siehe Erläuterungen zu v. 3–8, 75/76, 143/144.
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sprachiger Alchemica sollte man auch mit Anleihen im lateinischen Schriftenmassiv rechnen. Zumal kein Indiz darauf deutet, daß vom Dichter in laborantischer Praxis selbständig erworbene Kenntnisse verarbeitet worden sind, kann jedenfalls an seiner engen Gebundenenheit an literarische Vorlagen kein Zweifel sein. Den Namenschatz kennzeichnen Virulenzen stark unterschiedlicher Wissensbereiche: Vorherrschend sind Wirkkräfte der arabisch-lateinischen Alchemicaüberlieferung einschließlich naturphilosophischer Wissensbestände. Daneben aber stößt man auf Spuren alchemischer Interpretamente antik-mythologischer und biblischer Zeugnisse, dazu auch auf Verse (v. 45/46, 56–58), die in der einst überaus geläufigen Sieben-Metall/Planeten-Korrespondenzdoktrin wurzeln, mithin an auch andernorts gelegentlich beobachtbare Interferenzen zwischen alchemischen und astrologischen Lehren erinnern. Diese wissensdisziplinäre Vielfalt dokumentiert in nuce den eklektischen Charakter mancher frühneuzeitlicher Alchemien und naturkundliche Gemengelagen des 16. Jahrhunderts. Vielleicht am eindrücklichsten verraten sich derartige Verwerfungen in überlieferungsgeschichtlichen Vorgängen16, etwa in der Tatsache, daß Vom Tinkturwerk, eine durch und durch mit vorparacelsischen Lehren gesättigte Dichtung, von Benedictus Figulus (1567–nach 1624), einem der entschiedensten Radikalparacelsisten um 1600, und bald dann auch von Christoph Rotbart (gestorben 1623), ebenfalls einem erklärten Anwalt Hohenheims, im alchemoparacelsistischen Schriftenwald zu einem fachlich aktuellen Glanz verholfen worden ist. Manche weiteren Tradenten, unter ihnen der hessisch-landgräfliche Leibarzt Ludwig Combach (1590–1657) und Johann Joachim Becher (1635–1682), der namhafte Alchemiker und Merkantilist, trugen dazu bei, daß sich dieser Glanz erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Zuge der Verdrängung hermetischer Konzepte verlieren sollte. Doch sorgte eine Übersetzung des englischen Okkultisten Arthur Edward Waite (1857–1942) dafür, daß Vom Tinkturwerk auf die Bücherbretter moderner Esoteriker geriet.
2. Die Bearbeitung von Andreas Ortel (1624) Unter den zahlreichen Schriften, die zur Erläuterung eines ‚Bestsellers‘ der barocken Alchemieliteratur, dem seit 1604 in zahlreichen Ausgaben erschienenen Lumen chymicum (auch: De lapide philosophorum) des polnischen Alchemikers Michał Sẹdziwój (Michael Sendivogius) entstanden waren, gehört eine von Andreas Ortel, einem „Medicinae spagyricae, artisque Hermeticae cultor“ besorgte Alchemicakompilation17, in der 16 17
Siehe Überl.-verz. 4.1. Der Sendivogius-Kommentator Ortel (auch: Orthel, Oertel, Ortelius, Orthelius) wurde mit einem aus Rudolstadt/Thüringen gebürtigen Andreas Ortel identifiziert, einem zwischen 1573/1583 am Weikersheimer Hof des Grafen Wolfgang II. von Hohenlohe als ‚Medicus‘ und ‚Laborant‘ bestallten Mann, der 1607 in Weikersheim Vater wurde, dann in Jena studierte (1624/25 und 1630/31) und seit 1630 bis 1637 als Chemiater am Dresdner Hof des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. betätigte (so Weyer 2009, 84–88). Indes scheint diese Identifikation nicht hinreichend gesichert.
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man auf ein deutschsprachiges Lehrgedicht De opere universali stößt, versehen mit Ortels Vermerk, es handele sich bei diesen „Rythmi“ um eine aus zwei bereits anderwärts gedruckten Reimwerken geschaffene Redaktion18. Und eine Umschau bestätigt: Befangen in der aus Konkordanzdenken erwachsenen Vorstellung, die beiden „vff zweyerley weiß“ verfaßten Lehrdichtungen seien inhaltlich („in der substantz des [alchemischen] processes“) völlig „einhellige“ Werke, hatte Ortel Vom Tinkturwerk umstandslos mit einem paracelsistischen Reimtraktat Vom Stein der Weisen (gedruckt seit 1583) zu einer „eintzigen Form“ verschmolzen19. Obwohl von einer dichterisch hochstehenden Leistung keine Rede sein kann, fiel die centoartige Mischredaktion Ortels in einer weniger auf formkünstlerische Qualitäten als auf Sachinformationen bedachten Respublica alchemica keineswegs der Vergessenheit anheim. Im Zuge seiner Ausgabe des Ortelschen Sendivogius-Kommentars wurde De opere universali von dem Arzt Johann Jacob Heilmann ins Lateinische übersetzt und im Theatrum chemicum publiziert20: Damit hatte sich Vom Tinkturwerk, nun freilich in zersetzter Gestalt, sogar einen Platz in einem der wirkmächtigsten Stardardwerke der frühneuzeitlichen Alchemieliteratur erobert. Und selbst später noch konnte sich Ortels Tinkturwerk-Bearbeitung auf dem Alchemicamarkt behaupten, fand sich doch 1760 ein „Liebhaber natürlicher Wahrheiten“, von dem sie zu nichts Geringerem als zu einer „Erklärung“ eines durch die Zeiten umrätselten Zeugnisses höchster hermetischer Weisheit, der Tabula smaragdina, stilisiert worden ist21.
3. Die Bearbeitung von J. R. V. (1705) Vom Tinkturwerk und A. Ortels Tinkturwerk-Redaktion stand im 18. Jahrhundert eine erstmals in der Güldenen Rose (1705) publizierte Tinkturwerk-Nachdichtung zur Seite. Sie stammt vom Urheber dieser Anthologie alchemischer Lehrdichtungen, ein schon 1685
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Ein A. Ortel wirkte jedenfalls 1641 als „Spagyrus Electoralis“ in Dresden (siehe Ortels Casualgedicht in: Brendel, Chimia, ed. Rolfinck, 1641, S. ):( 8) und ist eine Identität des theoalchemisch tingierten Sendivogius-Kommentators Ortel mit einem sächsischen Pfarrer zu erwägen, der sich 1635 und 1640 an der kriegsbedingten Geschehnissen gewidmeten Publizistik beteiligt hatte. Ortel. In: Lumen-Kommentar (Überl.-verz. 4.2/Nr. 1), S. 46: Vom „gantzen [alchemischen] werck [...] melden auch etzliche teutsche Reim / welche zwar zweyerley Sorten gedichtet / doch eines Verstands vnd jnnhalts sind / vnd eine Weiß die andere erkläret/ deßwegen ich [Ortel] sie zusammen vereinigt / hie vnten nachfolgends inserirt habe“. Und seiner Tinkturwerk-Redaktion stellte Ortel folgenden Vermerk voran (ebd., 208):„Nachfolgende Rythmi [...] sind vff zweyerley weiß / zwar etwas vnterschiedlicher Art / doch in der substantz des processes einhellig / gedruckt gewesen / die habe ich [Ortel] zusammen verglichen / vnd in diese eintzige Form gebracht“. Von insgesamt 122 vv. stammt knapp die Hälfte aus Vom Tinkturwerk; die übrigen vv. wurden aus Vom Stein der Weisen, ed. Telle (1994a) entlehnt; vereinzelte Verse entstanden in freier Anlehnung. Siehe Überl.-verz. 4.2. Ebd., Nr. 4.
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lehrdichterisch hervorgetretener Autor. Wer sich hinter seinem Monogramm „J. R. V. M. D.“22 und Anagramm „Qui In Rore Vidit Magnalia Dei“ verbirgt, steht dahin, vielleicht ein Arzt, dem laut Selbstzeugnis ein von wirtschaftlichen Nöten und gesellschaftlicher Ächtung geprägtes Leben beschieden war.23 Jedenfalls hatte sich dieser Monogrammist nach Art theoalchemischer Dissidenten ins Licht eines dank göttlicher Gnade in tiefste Naturgeheimnisse eingeweihten Hermetikers zu setzen gesucht und es sich zur Aufgabe gemacht, frühneuzeitliche Alchemikerdichtungen eines Lamspring, Basilius Valentinus, Georg Füger und Herbrandt Jamsthaler verskünstlerisch zu aktualisieren. Für seine Tinkturwerk-Bearbeitung wählte J. R. V. ein Versmaß, das sich beim möglichst präzisen Ausdruck betont gedanklicher Inhalte bereits vielfach bewährt hatte und in der deutschen Dichtung des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die bevorzugte Form des sechshebigen Jambus gewesen ist: den Alexandriner. Er erweist sich als ein behutsamer Nachdichter, mied bei seiner Transformation des Gedichts in fünfzehn vierzeilige Paarreime einschneidendere Eingriffe, ließ Wortgut, Aufbau, Abfolge weitgehend unangetastet. Zwar hat J. R. V. gelegentlich gerafft, bestimmte Verse fallengelasen, ja hat Vom Tinkturwerk einem „F[rater]. R[osae]. C[rucis]“ beigelegt24 und durch Einführung von „Saltz“ als drittem Stoffprinzip (v. 12) Vom Tinkturwerk paracelsistisch tingiert. Insgesamt gesehen aber blieb der Tinkturwerk-Doktrinenschatz im neuen Prunkkleid heroischer Alexandriner überraschend treulich bewahrt. Mit Aufmerksamkeit bedachte man die Rose, darauf weisen überlieferungsgeschichtliche Indizien, im Großraum der deutschen Hermetik. Rezipienten fand sie insbesondere in den theoalchemischen Fraktionen theosophischer Konventikel und neorosenkreuzerischer Gruppen, die religiös-spiritualistische Konzepte mit Zielsetzungen der ‚höheren Chemie‘ verknüpften. In diesen Rezeptionsbereich führt jedenfalls der Rose-Herausgeber J. W., ein vom „Wahn“, von der „Raserey“ und dem „Narren-Tand“ der „Sectirischen Christen“, aber zugleich auch von Kontroversen unter „gern Gold-Machern“ abgestoßener Monogrammist (1757), vom dem die Rose mit ihren vorgeblich einzig „wahren Einsichten“ als ein probates Antidot wider den „Sectirischen Krieg“ sowohl im theologisch-religiösen Lager um die „allein seligmachende Religion“ als auch unter Alchemikern um den „wahren Weg zu dem Chymischen Kleinod“ mobilisiert worden ist.25 Auch die Aufnahme von Rose-Auszügen in das Hermetische A.B.C. [...] vom Stein 22
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Aufzulösen mit „J. R. V. M[edicinae] D[octor]“, schwerlich mit „J. R. V[triusque] M[edicinae] D[octor]“. − Meine Identifikationsversuche konzentrierten sich angesichts der Beziehungen J. R. V.s zu den Hamburger Verlegern Ch. Liebezeit (1704) und G. König (1705) auf Hamburgische Schriftsteller bzw. Angehörige der Cimbria literata; sie schlugen fehl. In seinen 1705 an Kaiser Leopold I. und König Friedrich I. von Preußen gerichteten Dedikationsgedichten hielt J. R. V. fest, er sei von „Armuth gantz gelähmt“ und „von jederman verachtet“. Zu dieser mystifikatorischen Zuschreibung hatte J. R. V. wohl die Tinkturwerk-Überlieferung in Ch. Rotbarts Elucidarius major inspiriert; siehe Überl.-verz. 4.1/Nr. 4. Überl.-verz. 4.3/Nr. 4. − Um das Frankfurt des jungen Goethe ins Licht eines „Zentrums hermetisch-rosenkreuzerischer Geister“ zu tauchen, wurde von Zimmermann (1969, 181 f.) die Rose-Titelausgabe (Frankfurt a. M.: Eßlinger 1767) beigezogen und ein vager Zusammenhang zwischen die-
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der Weisen (1779), eine dem Gold- und Rosenkreuzerorden gewidmete Schrift wider die „Barbarei des Unglaubens“26, dokumentiert, daß J. R. V.s Tinkturwerk-Nachdichtung im Zuge physikotheologischer Antworten auf kulturgeschichtlich weitgreifende Wandlungen, etwa auf die ‚Mechanisierung des Weltbildes‘ und zunehmend machtvolleren Siegeszüge einer quantifizierend-analytischen Chemie, funktionalisiert worden ist.
4. Überlieferungsverzeichnisse 4.1. Vom Tinkturwerk Nr. 1 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 782, Bl. 161r-163r (A). – Vom Tinkturwerk in einer um 1600 erfolgten Abschrift. 140 vv. Inc.:
Wiltu durch gottes gnade alein Erlangen der philosophen stein
Expl.: Das sie dardurch auch fruchtbar werden Auf erdt ihres gleichen frücht zu geberen Nr. 2 PANDORA MAGNALIUM NATURALIUM AUREA ET Benedicta, De Benedicto Lapidis Philosoph[orum] Mysterio, hrsg. von Benedictus Figulus, Straßburg: L. Zetzner 1608 (Expl. Heidelberg, UB), S. 263–268 (B). – Ü.: „SEQUUNTUR RYTHMI GERMANICI, Von diesem hogen Tincturwerck. Anonymi Authoris“. 150 vv. – Erstabdruck. Nr. 3 Kassel, Murhardsche Bibliothek und Landesbibliothek, 8° Ms. chem. 8, Bl. 171r–174v. – Abschrift aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts, wohl entstanden im Umkreis von Landgraf Moritz von Hessen-Kassel. Ü.: „SEQUUNTUR RYTHMI GERMANICI Von der [!] hohen Tincturwerk Anonymi Auctoris“. 150 vv. Nr. 4 Brotofferr, Radtichs (Christoph Rotbart): Elucidarius major. Oder Erleuchterunge vber die Reformation der gantzen weiten Welt/ F.C.R. auß jhrer Chymischen Hochzeit, Lüneburg: Stern 1617 (Expl. Wolfenbüttel, HAB).
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ser Ausgabe und Goethes Arzt Johann Friedrich Metz suggeriert. Dafür bietet freilich die Druckgeschichte der Rose keinen Anhalt; die Angabe, die Rose sei erstmals 1767 in Frankfurt auf den Markt gelangt, macht sie hinfällig. Auch kann von einem „anonymen“ Werk (S. 340) keine Rede sein. Überl.-verz. 4.3/Nr. 5.
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S. 155–162: Ein Vom Tinkturwerk-Abdruck, wohl entstanden aus Kenntnis der Pandora (Nr. 2). Eine überschriftartig placierte Wendung („Alius instar omnium“) trennt Vom Tinkturwerk von lateinischen Verstexten. 150 vv. S. 217–218 (Sprengüberlieferung): Wiedergabe der Verse 119–129, erfolgt in einer lateinischen Textkollektanee. Mit Hilfe eines überschriftartigen Vermerkes („Alius, ut ante“) wurde zwischen den Vom Tinkturwerk-Versen und einem lateinischen Prosatext De Phoebi et Pythonis pugna ein vermeintlicher Zusammenhang gestiftet. Weitere Elucidarius major-Ausgaben: Wien: J. P. Krauß 1751 (Expl. Heidelberg, UB). – Gedicht: S. 125–130; v. 119–128: S. 173. Wien: J. P. Krauß 1752 (Expl. München, SB). – Titelausgabe der Ed. 1751. Elucidarius-Auszug: Hermetisches A.B.C. derer ächten Weisen alter und neuer Zeiten vom Stein der Weisen, Tl. 1, Berlin: Ch. U. Ringmacher 1778 (Expl. Heidelberg, UB), Nr. XII, S. 176– 195. – Ein auszüglicher Abdruck des Elucidarius major; S. 185–187: Vom Tinkturwerk. A.B.C.-Faksimileausgaben: Berlin 1915 und 1921; Schwarzenburg 1979. Vom Tinkturwerk fand keinen Eingang in die Elucidarius major-Erstfassung, erschienen unter dem Titel Elucidarius Chymicus (Lüneburg 1616 und 1617). Nr. 5 Vier Außerlesene Teutsche Chemische Büchlein, Kassel: J. Gentsch für S. Köhler 1649 (Expl. Göttingen, SUB), S. 281–287. – Das vierte „Büchlein“ (S. 258–304) bietet vier Reimtraktate, darunter Vom Tinkturwerk (S. 281–287, Nr. II). Vorlage: Wohl der von B. Figulus besorgte Vom Tinkturwerk-Abdruck (Nr. 2). Ü.: „Eine feine Beschreibung der philosophischen Materi vnd jhrer Bereitung in Reymen gestellet ab incerto autore“. 150 vv. – Herausgeber (ungenannt): Ludwig Combach. Weitere Ausgabe: Hamburg: G. Liebezeit 1697 (Expl. Heidelberg, UB). – S. 228–234: Vom Tinkturwerk. Nr. 6 Prag, National- und Universitätsbibliothek, Ms. XXIX C 45, Bl. 876–883. – Abschrift aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in einem Codex aus dem Besitz des böhmischen Ordens der Kreuzherren mit dem roten Stern. Vorlage: Ch. Rotbarts Elucidarius major (Nr. 4). – Angaben nach Pražak (1980), Nr. 141, S. 140 f. Nr. 7 Becher, Johann Joachim: Chymischer Glücks-Hafen/ Oder Grosse Chymische Concordantz Und Collection / Von funffzehen hundert Chymischen Processen, Frankfurt a. M.: J. G. Schiele 1682 (Repr. Hildesheim/New York 1974). Teil 1, S. 177–178: Eine Vom Tinkturwerk-Wiedergabe nach Vorlage der Ausgabe Ch. Rotbarts (Nr. 4); textlich zersetzt. Ü.: „Alius instar omnium“. 148 vv. S. 193, Nr. VII (Sprengüberlieferung): Wiedergabe der Vom Tinkturwerk-Verse 119– 128. Ü.: „De Phoebi & Pythnonis [!] Pahna [!] Caesar Longinus“.
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Weitere Glücks-Hafen-Ausgaben: Halle: E. G. Krug 1726 (Expl. Heidelberg, UB), Teil 1, S. 177–178: „Alius instar omnium“; S. 193, Nr. VII: „De Phoebi & Pythnonis [!] Pahna [!] Caesar Longinus“. Leipzig: J. P. Krauß 1755 (Expl. Heidelberg, UB), S. 190–192: „Alius instar omnium“; S. 207, Nr. VII: „De Phoebi & Pythnonis [!] Pahna [!] Caesar Longinus“. Nr. 8 Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, Cod. alch. 610, Bl. 1–7. – Vom Tinkturwerk in einer Abschrift von R. J. F. Schmidt (1702/61). 150 vv.; Vorlage: Wohl eine Büchlein-Ausgabe (Nr. 5). Nr. 9 Vier unterschiedene Chymische Tractätlein. Hiebevor in alten Teutschen Reimen ab Incertis Authoribus gestellet, Frankfurt-M./Leipzig: J. P. Krauß 1772 (Expl. Heidelberg, UB). – Erneuter Druck der 1649 und 1697 erschienenen Büchlein (siehe Nr. 5), doch ohne das erste „Büchlein“. – S. 23–28: Vom Tinkturwerk. Auch in: Neue Sammlung von einigen alten und sehr rar gewordenen Philosophisch und Alchymistischen Schriften, als eine neue Fortsetzung des bekannten deutschen THEATRI CHYMICI, Tl. 4, Frankfurt-M./Leipzig: J. P. Krauß 1772 (Expl. Berlin, SBPK), S. 383–388 (abgesehen von der Seitenzählung identisch mit der Einzelausgabe 1772). Sprengüberlieferung Vom Tinkturwerk-Verse als alchemische „Axiomata“, in: Keil, Christoph Heinrich: Compendiöses doch vollkommenes Philosophisches HandBüchlein, das ist: Philosophische Grund-Sätze zur UNIVERSAL-TINCTUR auf Menschen und Metallen, Leipzig/Hof: J. G. Vierling 1736 (Expl. Überlingen, LSB), S. 44, Nr. 222: Die vv. 7/8 und 17/18 in einer Sammlung „Philosophischer Grund-Sätze oder Axiomata“. Weitere Ausgaben: Bayreuth/Hof 1748; Hof 1768.
Übersetzungen Lateinisch Paris, Bibliothèque Nationale, Ms. lat. 7160 (18. Jh.). – Die Handschrift birgt eine lateinische Übersetzung der Pandora, ed. Figulus, 1608 (siehe Nr. 2). − S. 272–278: Vom Tinkturwerk unter der Überschrift „Sequuntur Rythmi Germanici de hoc summo Tincturae opere. Anonimi Authoris“ in lateinischer Fassung. Inc.: Visne per Dei Gratiam tantum, Acquirere Lapidem Philosophicum, Noli quaerere in herbis et animalibus, In sulphure [,] argento vivo et mineralibus
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Nichts Näheres zu dem Codex bei Sudhoff (1899), Nr. 79, S. 224 f. Unsere Angaben beruhen auf Mitteilungen von Herrn Didier Kahn, Paris, Oktober 2011. Englisch A Golden and Blessed Casket of Nature’s Marvels. Now first done into English from the German original published at Strasburg in the year 1608, London: J. Elliott 1893 (Expl. Oxford, Bodleian Library), S. 327–333: Vom Tinkturwerk in einer englischen Prosaübersetzung des Esoterikers A. E. Waite, erfolgt im Zuge einer Übersetzung der Pandora, ed. Figulus, 1608 (siehe Nr. 2). London: Watkins 1963 (Reprint der Ed. 1893).
4.2. Die Bearbeitung von A. Ortel Nr. 1 (Andreas Ortel:) MICHAELIS SENDIVOGI POLONI LUMEN CHYMICUM Novum XII. Tractatibus divisum & totidem antiqvis figuris in Germania nuper repertis, notisque clarissimis illuminatum, renovatum, illustratum Opera & Studio Ἀνδρός Ὄρϑος Ἤλιος In gratiam genuinorum Hermetis filiorum publici juris factum, Erfurt: Ph. Wittel für J. Birckner 1624 (Expl. Heidelberg, UB). S. 208–212: Ortels Vom Tinkturwerk-Redaktion. Ü.: „Rythmi de opere universali, ex coelo soloq´ue prodeunte“ Inc.:
Wilt du durch GOttes Gnad allein Erlangen den philosophischen Stein /
Expl.
So wirst du bey GOTT haben Gunst / Vnd Gnad erlangen durch diese Kunst.
Nr. 2 Prag, ehemals Nostitz-Rhienecksche Sammlung, Ms. b 17 (17 3e), Bl. 15r-17r. – Die „Rythmi de opere universali“ in einer Abschrift des 17. Jahrhunderts; Vorlage: Ortels Sendivogius-Kommentar (Nr. 1). – Angaben nach Šimák (1910), Nr. 50. Nr. 3 (Andreas Ortel:) SENDIVOGI NOVUM LUMEN CHYMICUM NOVO LUMINE AUCTUM. Sive Zwölff geheime Chymische Taffeln und Beischrifften über die XII. TRACTAte SENDIVOGI nebenst beygehenden kurtzen COMMENTARIO und angefügter SchlußRede ORTHELII, C. Ch. Kirsch (Frankfurt-M./Leipzig) für J. Birckner (Erfurt) 1682 (Expl. Berlin, SBPK). – Erneuter Druck des Sendivogius-Kommentars (Nr. 1). – S. 208–212: Ortels Vom Tinkturwerk-Redaktion. Ü.: „RYTHMI de OPERE UNIVERSALI, ex Coelo Soloq´ue prodeunte“. Nr. 4
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Vernünftige Erklärung der Smaragdenen Tafel des Hermes als eine Folge des Vorbereitungstheiles zu dem dritten Stücke der höhern Weltweisheit und übrigen Schriften der allgemeinen Gesellschaft der Wissenschaften, o.O. 1760. – S. 18–21: „Rythmi de opere universali ex coelo saleque prodeunte“. Die Ermittlung eines Exemplars mißlang. Angaben nach Ferguson (1906), Bd. 2, S. 269, 507; das von Ferguson katalogisierte Exemplar befindet sich nach Auskunft der Andersonian Library (University of Strathclyde, Glasgow) nicht mehr in der Sammlung Young. Übersetzungen Lateinisch Commentarius in novum Lumen Chymicum Michaelis Sendivogii, in: THEATRUM CHEMICUM, Bd. 6, hrsg. von Johann Jakob Heilmann, Straßburg: E. Zetzners Erben 1661 (Expl. Heidelberg, Medizinhistorisches Institut der Universität), S. 397–518. S. 511–513: Die „Rythmi“ in einer Versübersetzung J. J. Heilmanns nach Vorlage des Erstdrucks (Nr. 1). Ü.: „Summa rhytmorum Germanicorum de Opere Universali ex coelo soloque prodeunte, quos Author separatim in duobus libris extantes, sed tamen in Substantia Processus convenientes, in unam carminis formam contraxit; quorum sensus integer (Riplaei more) hîc ferè ad verbum est expressus“. Auch: „Rhytmi de Lapide Philosoph[orum]“. Inc.:
SI tibi animus est lapidem Philosophorum per Dei gratiam consequendi.
Expl.: Sic per hoc artificium Dei habebis gratiam. Französisch Glasgow, Glasgow University Library, Ferguson Ms. 45 (17. Jh.): Eine französische Übersetzung der lateinischen Commentarius-Fassung im Theatrum Chemicum (Bd. 6, 1661) mit den „Rhythmi“. Englisch London, British Library, Ms. Sloane 3637 (Anfang 18. Jh.), Bl. 65–69: „The Summ of the German Rhymes concerning the Universall Work“; Vorlage des Übersetzers: Der lateinische Abdruck im Theatrum Chemicum. Bd. 6 (1661). Jean Jacques Manget übernahm zwar Heilmanns lateinische Übersetzung des Ortelschen Sendivogius-Kommentars in seine Bibliotheca chemica curiosa (Genf 1702. Bd. 2, S. 516–537), doch nicht das im Commentarius (S. 533) „sub finem“ versprochene Gedicht. Von Pierre Borel (1656, S. 12, 75) wurde der „Comment[arius]“ eines Anonymus [!] „in Cosmopolit. 12. Capit. & Epilogum. Germanicè cum figuris“ ins Lateinische übersetzt, doch scheint sich Borels Übersetzung nicht bewahrt zu haben.
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4.3. Die Bearbeitung von J. R. V. (1705) Nr. 1 J. R. V. M. D.: Güldene Rose / d. i. Einfältige Beschreibung Des Allergrössesten von dem Allmächtigsten Schöpffer Himmels und der Erden JEHOVAH, In die Natur gelegten / und dessen Freunden und Außerwehlten zugetheilten Geheimnüsses / Als Spiegels der Göttlichen und natürlichen Weißheit, Hamburg: G. König 1705 (Expl. Hamburg, SUB). Eine Sammlung alchemischer Lehrdichtungen „von einem Qui In Rore Vidit Magnalia Dei“ (Titelkupfer); gewidmet Kaiser Leopold I. (Hamburg 1705). S. E 2v–E 3v (Nr. IV): Vom Tinkturwerk in einer Bearbeitung von J. R. V. Ü.: „F. R: C.“ Inc.:
WEr durch des Höchsten Gnad getrauet zu erlangen / Der Weisen theuren Stein / und einst gedenckt zu prangen
Expl.: So wächst der Weisen Stein in einer Feuers Gluth / Der Höchste sey gepreist vor dieses Gnaden-Guth Nr. 2 J. R. V. M. D.: Güldene Rose / d. i. Einfältige Beschreibung Des Alergrössesten [...] Geheimnüsses, Hamburg: G. König 1705 (Expl. Madison/Wisconsin, University of Wisconsin Library). – Titelausgabe; gewidmet König Friedrich I. von Preußen (Hamburg 1705). Der Rose-Vollfassung vom Jahre 1705 (Überl.-verz. Nr. 1) ging eine Kleinfassung voran, die in zwei Ausgaben erschienen ist: a) Beschreibung Deß Grossen Geheimnüsses Deß Steins der Weisen / Als der von GOtt erbeten- und erhaltenen Weißheit deß Königes Salomon / Zur Ehre GOttes beschrieben / Von einem Q. I. R. V. M. D., o. O. (wohl Hamburg) 1685 (Expl. Hamburg, SUB). b) Beschreibung Des grossen Geheimnüsses Des Steins der Weisen / Als der von GOtt erbethenen und erhaltenen Weißheit des Königs Salomonis / Von einem Q. J. R. V. M. D., Frankfurt a. M./Leipzig: Ch. Liebezeit (Hamburg) 1704, in: Drey Curieuse Chymische Tractätlein / betittelt: AMBROSII Müllers / Paradeis-Spiegel / [...] Der Teutschen Schützen-Hoff / [...] Beschreibung Des grossen Geheimnisses, Ch. A. Pfeiffer (Lauenburg) für Ch. Liebezeit (Frankfurt a. M./Leipzig) 1704 (Expl. Darmstadt, LB). – Die „Beschreibung“ des Monogrammisten J. R. V. bildet das dritte „Tractätlein“. Beide Ausgaben bieten drei Lehrdichtungen, die erneut in der Rose gedruckt worden sind. Die Vom Tinkturwerk-Bearbeitung aber fehlt. Spätere Rose-Drucke in Einzelausgaben des 18. Jahrhunderts sind identisch mit den RoseAbdrucken in zwei Alchemicasammlungen. Es sind dies:
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Nr. 3 Drey Curieuse Chymische Tractätlein / Das erste / betitult: Güldene Rose / Das ist / Einfältige Beschreibung des allergrössesten [...] Geheimnisses [...] Brunnen der Weißheit [...] Blut der Natur, Frankfurt a. M./Leipzig 1706 (Expl. Darmstadt, LB). Als erstes „Tractätlein“ erscheint die durch J. R. V. M. D. ‚ans Licht gebrachte‘ Rose mit Widmung an König Friedrich I. von Preußen, Hamburg 1705. – Nr. IV, S. 51–53: Die Vom Tinkturwerk-Bearbeitung; Ü.: „F. R. C.“. Weitere Ausgaben der Drey [...] Tractätlein: Frankfurt a. M./Leipzig: J. P. Krauß 1774 (Expl. Darmstadt, LB). – Die Bearbeitung als Nr. IV (S. 68–71). In: Neue Sammlung von einigen alten und sehr rar gewordenen Philosophisch und Alchymistischen Schriften, Tl. 6, Frankfurt a. M./Leipzig: J. P. Krauß 1774 (Expl. Überlingen, LSB), S. M 2r–267. – Die Bearbeitung als Nr. IV (S. 244–247). Nr. 4 Fünff Curieuse Chymische Tractätlein, [...] Das Erste, betitult: Güldene Rose [...]. Nebst einer Vorerinnerung von J. W., Frankfurt-M./Leipzig: Stocks Erben, Schilling und Weber 1757 (Expl. Heidelberg, UB). Eine von den Verlegern König Friedrich II. von Preußen gewidmete Traktatsammlung. – Das erste „Tractätlein“ bildet die Rose; die Bearbeitung erscheint als Nr. VII unter der Überschrift „F.R.C.“ (S. 64–67). Auch Frankfurt a. M./Leipzig: J. G. Eßlinger 1767 (Expl. Wolfenbüttel, HAB). – Titelausgabe der Ed. 1757. Nr. 5 Hermetisches A. B. C. derer ächten Weisen alter und neuer Zeiten vom Stein der Weisen, Tl. 3, Berlin: Ch. U. Ringmacher 1779 (Expl. Heidelberg, UB). – Auszüglicher Abdruck der Rose nach Vorlage der Ausgabe Frankfurt a. M./Leipzig 1706 (Nr. 3). Die Bearbeitung erscheint als Nr. XVII (S. 214–215); dargeboten wie Prosa und textlich stark zersetzt. Ü.: „F. R. C. aus dem Gedicht von Brüdern des Rosen-Kreutzes: nämlich den ächten“. A.B.C.-Faksimileausgaben: Berlin: H. Barsdorf 1915. – Berlin: H. Barsdorf 1921 („Geheime Wissenschaften“, hrsg. von A. v. d. Linden, Bde. 5–8). – Schwarzenburg: Ansata 1979.
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5. Texte 5.1. Vom Tinkturwerk Die frühen Überlieferungen weichen textlich nur geringfügig voneinander ab. Angesichts ihrer bemerkenswert gleichartigen Qualität und zeitlichen Nähe bewog letztlich das Fehlen der vv. 89–98 in Abschrift A (Cpg. 782: Überl.-verz. 4.1, Nr. 1), dem folgenden Abdruck die von B. Figulus in der Pandora (1608) herausgegebene Überlieferung B (Überl.-verz. IV/1, Nr. 2) zugrundezulegen. − Die Wort- und Sacherläuterungen wurden aus Platznot aufs Nötigste beschränkt.
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Wiltu durch Gottes Gnad Allein Erlangen der Philosophen Stein / Such nicht in Kreüttern / vnd Animaln, In Schweffel / Quecksilber / vnd Mineralen / Vitriol Alaun / Saltz / seint nichts werth / Bley / Zihn / Eysen / kupffer wirt nicht begert / Silber vnd Gold Vermögens auch nicht / HYLE oder CHAOS es alles außricht. Ist beschlossen in vnserm Saltzbronnen / Dem Baum des Mons vnd der Sonnen / Flos mellis thue Ichs nennen / Die Bluhm die weysen kennen / Flos vnd MEL in der Summen Seind der Weisen Sulphur vnd Argentum vivum. Nemlich Wasser vnd Erd mit Nammen / Aller Metallen wehslichen Sahmen / Das Wasser flüchtig / die Erden Fix, Eins ohne das ander würcket nichts.
Unser Abdruck gibt das Grapheminventar von B (Editio princeps; siehe IV, Überl.-verz. 1, Nr. 2). Vereinzelte Abbreviaturen wurden aufgelöst und Eingriffe durch Kursive kenntlich gemacht. Nicht wiedergegeben wurde die vom Wechsel zwischen Fraktur, Antiqua und gelegentlicher Kursive geprägte typographische Gestaltung, doch blieb der graphostilistische Versaliengebrauch bei bestimmten Wörtern unangetastet. – Bei der Textkritik wurden alle Überlieferungen befragt; im Apparat erscheint jedoch nur die von B unabhängige Überlieferung A (siehe IV, Überl.-verz. 1, Nr. 1). − Der in enger Anlehnung an B formulierte Titel stammt vom Herausgeber. 4 In] Ihm A 6 Eysen kupffer] k.E. A 9 vnserm Saltzbronnen] vnsern Schaz brunnen A 13 Summen] Summ A
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Beyde von einer Wurtzel gebohren Gering / von Weysen ausserkorn: Aller Metallen kräfften thut es haben / Wirdt doch auß Ertzbergen nicht gegraben Mit pickeln oder Instrumenten: An dem ort / vnd an den endtn Da vnser Materi wird gefunden Ist kein Metall zu allen stunden/ Als allein in der Tugendt vnd Krafft / In dem HYLE oder CHAOS geschafft. Bey dem HOMERO wol bekandt Wirdt das Kraut MOLY genandt / Das dann in seiner rechten Statt Eine gantze schwartze wurtzel hat. Ist grün / weiß / vnd Blut roth / Welchs Mercurius der Gott Dem Ulyssi zeigt in seinem Irrfahren / Vor der Zauberey Circes sich zubewahren. Diß als ein Sonderliche hohe Gaben / Die Götter den Menschen zum trost geben haben/ Von welchem entspringt mit danck Nectar, der Götter süß getranck. Chelidonia wirdts genent zuvorab / Als ein besonder Himlische Gab. Radix Solaria wirdts auch genandt / Die Wurtzel den Weysen ist bekant: Nach der Astronomy hoch gezieret / Metaphoricè den Planeten verglichen wirdt / Bley / zihn / kupffer / vnd Eysen Silber vnd Gold / allein der Weysen: AZOTH auff Chaldeisch es auch heist / Ist zu Teutsch ein Gesehligter Geist / Zu Latein Argentum vivum Animatum, Nemlich Mercurius Philosophorum. Das kraut ADROP wirdts auch genandt / Ist ein Chaldeisch wort bekannt /
19 Beyde] Beyden B Beide A 21 kräfften] kraft A 22 Ertzbergen] erndt bergen A 24 dem ort] den Ortten A an] f. A endtn] enden A 30 Moly] molli A 31 dann] f. A 36 Circes] Circae A 37 als ein] alles eine A hohe] f. A 38 den] dem A 40 Götter] Göttin B götter A 42 ein besonder] eim besondern B ein besonder A 46 verglichen] vergleicht A 48 allein der] alles die B alein der A 54 bekannt] genandt A
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Bedeut zu vnser Sprach SATURNUS. Nach der Astronomey ich sagen muß / Der SATURNUS die Erde regiert / Metaphoricè vnser Materia vergleicht wirt / Welche ist das Rothe Bley / vnd Rothe Erd / Bey den Thoren veracht vnd vnwerth / Der Roth vnd Grühne Löw wirdts genandt / TERRA ADAMICA wol bekandt / Ein Außzug von dem Schöpffer weiß Auß allen Geschöpffen mit vleiß / Aller Naturen kräfften zusammen Gefast vnd geschlossen in ein Massam, Auß der Massa vnd Erden roth Schaffet den Adam der Allmächtig Gott Vnsern Ersten Vatter hoch gezieret / Microcosmus er auch genent wirdt. Adam / die Rotte Erden soltu kennen Primam Materiam wir es Nennen. Weitter will ich auch gleichsfalls schon Sein Praeparation dir zeigen an / Dödte den Löwen mit Starckem muth Nimm allein sein Coagulirtes Bludt / Des Goldes Glantz / Edel vnd werth Geschieden vom Centro der Stinckenden Erdt Löse sie auff mit höchstem Vleiß Folg dem Schöpffer der Natur so weiß / Der wolle vnsern Verstant erleuchten Zu scheiden dz Drucken von dem Feuchten / Das ist das Wasser von der Erdt Das Flüchtige von dem Fixen werdt / Spiritum Animatum an dem Endt Wasser vnd Eerdt 2. sichbar Element Haben durch Gottes Vleiß vnd sorgen Lufft vnd Fewer in sich verborgen / Geschwengert auch rein vnd gantz Pur Mit der Fünfften vnsichbaren Natur.
61 wirdts] wird A 66 ein] die A 70 er] f. A 73 gleichsfalls] f. A 74 dir] f. A 79 Löse sie] Löß A 81 vnsern] vnserm B Vnsern A 82 Zu] Vnnd A Drucken-dem] truckent Vom A 86 sichbar] sichtbare A 89–98] f. A
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Soll nun das Werck zum Ende gahn / Verheurath das Weib mit dem Mann / Vnsern Adam mit der Eva klar Beide bloß vnd Nacket gar: Dann auch Natur selbs rein vnd Pur Sich frewet jhrer eygen Natur, Wünschen die vermischung mit begirdt / Ein Natur von der Andern erhalten wirdt / Der Animirte Geist den Corpus solvirt / Der Corpus den Geist Coagulirt. Das ist der Mercurius Allein / Auff den Gegründet ist der weysen Stein / Macht sich selbst Schwartz / grühn / weiß vnd rot / Ist selbsten Protheus des Meehres Gott / Der so er wird gefangen / so wunderbar Sich verkehrt in viel 1000. Formen zwar / Das ist sich selbsten Solvirt vnd Coagulirt Putrificirt vnd Distillirt / Auch Sublimirt / vnd Calcinirt Mortificirt vnd Vivificirt: Auch Abluirt / vnd Incerirt Clarificiret vnd Figirt: In allen diesen dingen da werden Sich bewegen Himmel vnd Erden / Sonn vnd Monn werden auch darab Verfinstert vnd Schwartz wie ein Rab: Himmel vnd Erden zer Schmeltzen auch gar: In das Hyle, oder Chaos zwar Ein gar wunderliches Streitten Ist von den Elementen zu allen seytten: Das Wasser bedeckt die gantze Erdt / Damit aber das feuchte Trocken werdt / So last vnauffhörlich ohne verdriessen Streitten vnsere starcken Riesen Mit vnserm wunder kleinen Zwerg / Der letzlich durch Gottes Wunderwerck
93 Eva] Cra B 100 Der] Das A 101 Das] Dieß A 103 grühn weiß] w.g. A 109 Auch] f. A 110 Vivificirt] Viuicirt A 111 Auch] f. A 113 allen diesen] d. a. A 115 vnd] f. A 116 Verfinstert vnd] Verfünster A 118 das] der A 119 wunderliches] wunderbarlichs A 123 last] laß A ohne verdriessen] Vnuerdrossen A
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Thut ob siegen vnd vber winden Alle Riesen fangen / Tödten vnd binden. Auß dem Zerbrochenen Vnwerth / Schaffet Gott New Himmel vnd Erdt / Das New Jerusalem gebawet zwar Mit durchscheinendem Golde Clar / Vnd auch köstlichen Steinen Rein / Das ist allhie der Weysen glorificirter stein / Der Einige Vogel Phönix gut Welcher durch deß Fewers Gluth Ist getödtet vnd Newgebohren Vnd ein Rechter Salamander worden Der jetzt im Fewer Lebet nun Ist Filius Solis, der Sonnen Suhn / Der mit seiner krafft besonder Würckt Mirackel / vnd grosse Wunder / Alle kranckheit thut er vertreiben An Menschen / vnd Metallischen Leiben / Mit glorificirtem / Leib / Fleisch vnd Blut Er alle Cörper reinigen thut: Der Vnsterbliche Adam hochgeziert / Das Gemeine Silber vnd Goldt tingirt. Das sie dardurch Auch fruchtbar werden / Ihrs gleichen Frucht zugebehren auff Erden.
129 Vnwerth/] h/ Lesung unsicher 133 auch] f. A 134 ist] f. A 142 vnd] oder A 148 vnd] Inn A 150 Ihrs] Auf erdt ihres A auff Erden] f. A Danach FINIS BA
Wort- und Sacherläuterungen 3–7] Eine Aufzählung für den Tinkturgewinn untauglicher Substanzen. Formuliert aus Kenntnis von Warnungen vor dem Gebrauch bestimmter Stoffe, die im Zuge heute nur unzureichend bekannter Kontroversen zwischen Vertretern von der Wahl bestimmter Stoffe charakterisierter Richtungen der Alchemia transmutatoria metallorum entstanden waren und zu den stereotyp ausgebildeten Redeteilen zahlreicher Alchemica gehörten. Mit solchen wandergutartig flottierenden Aufzählungen hatten aus dem kleinen Kreis von Verfassern landessprachiger Lehrdichter schon ein gewisser Gratheus (Einführung in die Alchemie [14. Jh.], ed. Birkhan 1992, Bd. 2, 8, v. 38–44; dazu Bd. 1, 263–266:
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„Die Ablehnung organischer Substanzen“; mit Hinweisen auf Similien), dann Hans Folz bekannt gemacht (Vom Stein der Weisen, ed. Fischer, 1967, 103, v. 1–9; ed. Buntz 1975, 409, v. 33–45; dazu Telle 1992, 472, 482: mit Hinweisen auf verwandte Substanzlisten in im 16. Jahrhundert aktuellen Alchemica), später schließlich ein Anonymus (Sermo philosophicus [entstanden im ausgehenden 16. Jh., gedruckt seit 1605], ed. Telle 2003, 306, v. 63–67) und ein paracelsistischer Urheber des Gedichts Vom Stein der Weisen (entstanden 1550/70; gedruckt seit 1583). Hier eine (vom Tinkturwerk-Verfasser nach Vorlage dieser Dichtung verarbeitete oder aber von Quellengemeinschaft zeugende?) Similie zu v. 3–7; siehe Vom Stein der Weisen, ed. Telle (1994a), 198, v. 11–16. − Zuweilen erblickte man in der ‚Multitudo nominum‘ für die ‚Una res‘, wie sie auch Vom Tinkturwerk dokumentiert, die „causa erroris illorum qui operantur in non debita materia, sicut in salibus, aluminibus, urinis, stercoribus, sanguine humano, sulphure, et argento vivo in natura, in marchasitis, et in multis alijs rebus“ (Efferarius: De lapide philosophorum. In: TC. Bd. 3, 1659, 145). 8] „Hyle“: Griechischer Zentralbegriff der Aristotelischen Physica und der frühneuzeitlichen Naturkunde; lateinisch: ‚materia‘; Terminus für etwas, woraus etwas wird; beim Vom Tinktur-Verfasser ein „Chaos“-Synonym; nicht bei Gratarolus (1561), Ruland (1612) und Schneider (1962). − „Chaos“: Aus der antiken Kosmologie ererbter Terminus, vielenorts gebraucht für ‚konfus-formlose Urmasse‘. − Gratarolus (1561, 265): „Lapis [philosophorum] item vocatur chaos“; Ruland (1612, 143): „Chaos praeter omnium rerum confusionem, congeriem et informem materiam. [...] Ein grobe vermischte Materien“; Schneider (1962), 70: „Prima materia“. − Schlaglicht auf die Virulenz beider (in v. 118 nochmals gebrauchter) Begriffe im theoalchemischen Doktrinenschatz um 1600 wirft Heinrich Khunraths Traktat Vom Hylealischen, Das ist / Pri-materialischen [...] Oder allgemeinen $atürlichen Chaos (Frankfurt a. M. 1708; erstmals Magdeburg 1597). 9] Die Wendung vom ‚Salzbrunnen‘ auch im Gloria mundi (16. Jh.; gedruckt seit 1620), ed. Roth-Scholtz 1732, S. 423: „in unserm Sale-Brunnen wird unser Sal genommen“. 11] Flos mellis: Honigblume. Hier Sinnbild für den ‚Samen‘ aller Metalle. Getreu einer metallogenetischen Doktrin, die aus antik-mittelalterlicher Erbschaft stammte und im einschlägigen Sachschrifttum zu den allgegenwärtigen Konzepten gehörte, wird gelehrt, daß es sich bei diesen Metallkonstituenten um ‚Sulphur‘ und ‚Argentum vivum‘ bzw. um zwei der vier aristotelischen Elemente, flexibles ‚Wasser‘ und fixe ‚Erde‘ handele; die Angabe, ‚Wasser‘ und ‚Erde‘ entstammten einer Wurzel (v. 19), weist auf die primordiale ‚Una res‘. − Ruland (1612, 325) erfaßte nur „Mel, Honig“, und zwar − ‚Honigblume‘ semantisch und funktional durchaus nahestehend − als einen von fünfzig Termini für „Materia prima“, mache doch diese Materia gleich dem Honig „süß vnd wolriechend/ lieblich vnd Gesund“; Schneider (1962), s. v.: Materia prima-Terminus. 19/20] Angespielt wird auf etwa ‚Geringes‘; während ‚Toren‘ (fachlich unfähige Alchemiker) dieses ‚Geringe‘ ‚verachten‘ und für „vnwerth“ halten (v. 60), ist es den
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‚Weisen‘ (alchemisch tätigen Koryphäen) von allerhöchstem Wert. Der Dichter formulierte aus Kenntnis der topischen ‚Res vilis‘- bzw. ‚Lapis exilis‘-Formel für die uranfängliche ‚Una res‘, dokumentiert beispielsweise im Rosarium philosophorum (ed. Telle 1992, Bd. 1, 9): „Hic lapis exilis exstat precio quoque vilis, / Spernitur a stultis amatur plus ab edoctis“. Diese Formel flottierte seit Alters in unübersehbar vielen Unterrichtswerken zur metalltransmutarischen Alchemie, so daß ich auf Similiennachweise verzichte. − Gratarolus (1561, 265) erfaßte „res vilis precij“ als Terminus für ‚lapis philosophorum‘. 22/23] Dazu eine Similie im Traktat Gloria mundi, ed. Roth-Scholtz, 1732, 423: „die Materia unsers Steins, wird [...] aber nicht aus den wilden Feldbergen, mit Bickeln oder andern Instrumenten gegraben“. − Zwischen Vom Tinkturwerk und diesem Traktat, der ebenfalls eine auf ‚Erde‘ und ‚Wasser‘ gegründete Alchemie vorträgt, bestehen manche inhaltlichen und sprachlich-terminologische Gemeinsamkeiten. 28–38] Moly: Name einer Pflanze, die Hermes/Mercurius dem Odysseus zum Schutz vor den Wirkungen von Kirkes Zaubertrank gibt (Homer, Odyssee, X, v. 302–306), beim Vom Tinkturwerk-Verfasser Terminus für eine primateriale Arkansubstanz. − Das pharmakobotanische Schrifttum hielt die Erinnerung an das umrätselte, von Homer durchaus auch abweichend beschriebene und mit zahlreichen Pflanzen identifizierte Kraut Moly bis in die Neuzeit wach (dazu Stannard 1962). Alchemiker konnten die Schwarzfarbigkeit seiner Wurzel und die Weißfarbigkeit der Blüte unschwer mit Farberscheinungen beim alchemischen Werk assoziieren. − Zu den Mythoalchemikern, die Moly in die Dienste ihrer Lehren stellten, zählten ein anonymer Dichter (Aelia aux enfans de l’art [16. Jh.], ed. Van Gijsen 2004, 116, dazu siehe ebd., 118 f.), M. Maier (Septimana philosophica, 1620: gedeutet als „sulphur à Mercurio [...] solutum“; siehe Leibenguth 2002, 301. − Cantilenae intellectuales [1622], ed. Leibenguth 2002, 144: „Sol potentialiter / Huic inest, realiter / Luna“; dazu siehe ebd., 303. − Tractatus Posthumus, sive Ulysses [1624], dazu Tilton 2003, 212 f.), Johannes Nicolaus Furichius (Chryseidos Libri IIII, ed. Reiser 2011, s. v.) und Cesare Della Riviera (1986, 174–176: Moly gedeutet als ‚magisches Blei/Saturn‘ bzw. ‚himmlischer Mercurius‘; italienisch erstmals Mantua 1603 [Textwiedergaben bei Matton 1993, 176 f.]). − Homer gehörte zu den Schulautoren (man zählte für das deutsche Kulturgebiet des 16. Jahrhunderts über hundert Ausgaben); sein Werk wurde als eine „fons omnium disciplinarum“ gerühmt (Philipp Melanchthon), belehrte es in der Sicht etwa eines Theodor Zwinger im Fabelgewand über „Physica“ und „Ethica“ (dazu Bleicher 1972). Und gerade die Hermes/Odysseus/Moly-Episode war in einer Vielzahl extraalchemischer Text- und Bildzeugnisse präsent (einige Nachweise bei Caciorgna 2006). Vor diesem Hintergrund verliert der Einzug Homers in die deutsche Alchemikerdichtung alles Befremdliche. − Nicht bei Ruland (1612) und Schneider (1962). 41/42] „Chelidonia“: Gewöhnlich botanischer Terminus für Schöllkraut (Chelidonium maius L.). Seine Aufnahme in die alchemische Nomenklatur beruht auf seiner Deutung
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als ‚Donum coeli‘ (‚Gabe des Himmels‘), einer unterAlchemikern eingeschliffengeläufige Wendung für die Materia prima bzw. Tinktur/,Stein der Weisen‘. „Chelidonia“ trat in Decknamenfunktion seit dem Spätmittelalter sowohl im Tabula smaragdinaKommentar des Hortulanus (Text bei Ruska 1926, 200) als auch im Rosarius minor (in: TC, Bd. 2, 1659, 416) auf, dabei jeweils gemeinsam mit den Pflanzennamen „Portulaca marina“ und „Mercurialis“. Daß man „chelidonia“ nach dem 14. Jahrhundert kaum mehr gebraucht habe (so Ganzenmüller 1956, 290), ist unzutreffend: Der Terminus verhalf beispielsweise M. Maier zu einem klangvollen Werktitel (Coelidonia, 1619) und diente als Deckname für ‚Sulphur der Weisen‘ (Cabala, ed. Michelspacher, 1615, B 1v ) sowie andere Arkanstoffe (so etwa bei Abraham Eleazar 1735, 51). − Ruland (1612, 143): „Chelidonia, ist Gold“; nicht bei Schneider (1962). 49] „Azoth“: Entwickelt aus arabisch ‚az-zā’ūq‘ (Mercurius). Der Terminus wurde dem lateinischen Westen insbesondere durch den Morienus/Calid-Dialog (ed. Stavenhagen 1974, 14, 20, 24, 32) vermittelt; das Rosarium philosophorum (ed. Telle 1992, Bd. 1, 29 [mit ‚Adrop‘ und ‚Duenech viride‘ gilt „Azoth“ als ‚Leo viridis‘-Synonym], 58 u. ö.) und weitere Alchemica sorgten ebenfalls für seine Präsenz, so daß sein Gebrauch in der Lehrdichtung eines Georg Klet in der Form ‚Azot vitreum‘ nicht verwundert (Einzelnachweise bei Telle 2011, 29). Allein schon die Titel von Schriften etwa von G. Klet: Azot Philosophorum Solificatum (entstanden 1496–1506/07; gedruckt in: Cabala Chymica. Hrsg. v. Franz Kieser. Mühlhausen/Thüringen 1606), (Ps.-)Paracelsus: Azoth, Sive, De Ligno et Linea Vitae (Erstdruck in Paracelsus: Bücher vnd Schrifften. Hrsg. v. Johann Huser. Basel 1590), (Ps.-)Valentin Weigel: Himmlisch Manna, Azoth et Ignis (16. Jh.; gedruckt spätestens seit 1700), dazu auch die Titel anonymer Werke: Azoth, Siue aureliae occultae philosophorum (1613) oder das Aenigma Philosophorum sive Symbolum Saturni, per Parabolas Azoth dilucide ostendens (in: TC. Bd. 4. 1659, 457– 462; im Sendivogius-Corpus gedruckt seit 1604; in der TC-Fassung seit 1613), lassen nicht daran zweifeln, daß es sich bei „Azoth“ um einen Zentralbegriff frühneuzeitlicher Alchemiker handelte. Seine einstige Aktualität im Doktrinenschatz sicherten „Azoth“ vorab Mercurialisten, die im Alchemikerlager die vielleicht mächtigste Fraktion bildeten, und fand nicht zuletzt vielfachen Niederschlag in einer ‚geflügelten‘ Alchemikerdevise: dem vielenorts kolportierten Diktum ‚Azoth et ignis tibi sufficiunt‘ (Einzelnachweise bei Kühlmann/ Telle 2012, Nr. 129). Für seine heutige Bekanntheit sorgte wohl hauptsächlich ein Paracelsus-Porträt (gedruckt seit 1567): Dieses oft reproduzierte Bildnis (siehe Telle 2008, Erläuterungen zu Abb. 4) und seine Derivate (ebd., Abb. Nr. 6, 7, 18, 19) zeigen Paracelsus mit einem Schwert, dessen Knauf mit „Azoth“ beschriftet worden ist. Die ‚Erläuterung‘ des Wortes ‚Azoth‘ mittels der synonymartig gebrauchten Termini ‚geseeligter Geist‘ (v. 50; v. 85: ‚Spiritus animatus‘), ‚Argentum vivum animatum‘ (v. 51) und ‚Mercurius philosophorum‘ (v. 52) verrät Quellengemeinschaft mit einer Angabe von Ruland (1612, 96 f.): „Azoth est argentum vivum, ex quouis corpore metallico tractum [...] wird genennt Spiritus animatus, ein geseelter Geist“. Ähnlich definierte
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Khunrath (1708 [erstmals Magdeburg 1597], 130): „Azoth, das ist / Mercurius Vivus & Spiritus Animatus Sapientum“ bzw. Azoth ist und heist Mercurius / [...] Dieweil er ein Geist ist, Der lebendige / dieweil er geseeliget“. − Gratarolus (1561, 265): ‚lapis philosophorum‘. − Zu ‚Azoth‘ siehe auch Schneider (1962, 80): Mercurius fixus (in Oxid übergeführtes Quecksilber); Goltz (1972, 270 f.). 53/54] „Adrop“: Ein aus dem Arabischen übernommener Terminus, der vermutlich auf „al-usrub“ (plumbum/Blei) zurückgeht. Er gelangte über lateinische Überlieferungen in deutschsprachige Alchemica, etwa das Donum Dei (in: Pandora, ed. Reusner, 1582, 16, 50; er gilt hier ebenfalls als Pflanzenname (S. 50); ‚Adrop‘-Synonyma sind: ‚grüner Löwe‘, ‚Azoe‘, ‚Dünech/Duenech‘, ‚Azone‘). Bei (Ps.-)Arnald von Villanova (Speculum alchymiae. In: TC. Bd. 4. 1659, 516) Name für die „una res“; dazu heißt es erläuternd (S. 526): „Lapis noster vocatur Adrop, quod est Latinè, Saturnus“. Frühneuzeitliche Bekannheit sicherte „Adrop“ beispielsweise Guido Magnus de Monte: Auriga benedictus spagyricus minor, majoris prodromus [...]. Von dem gebenedeyten Philosophischen Adrop (übersetzt und hrsg. v. Benedictus Figulus. Nürnberg 1609; auch erschienen unter dem Titel Phoenix atropicus de morte redux, o. O. 1681 und Nürnberg/Leipzig 1744). − Ruland (1612, 7): „Adrop ist azar, lapis ipse, azane“ (!); nicht bei Schneider (1962). 55] „Saturnus“: Planetenname und allgemein üblicher Terminus für das ‚Saturnkind‘ plumpum/Blei. Der Dichter präsentierte „Saturnus“ als eine Übersetzung des Pflanzennamens „Adrop“ (v. 53) und analog zu „Adrop“ als Metapher für die primordiale „Materia“, nämlich ‚rotes Blei‘ und ‚rote Erde‘ (v. 59). − An die durchaus üblichen Polyvalenzen der alchemischen Nomenklatur erinnern diesfalls Giovanni Bracescos Centum viginti novem propositiones (gedruckt seit dem 16. Jh., hier zitiert nach einer deutschen Übersetzung): CXXX.Grund-Sätze. In: Drey [...] Chymische Schrifften. Frankfurt a. M. 1733, 37, Nr. 98: „Das Chaos der Alten ist unser Saturnus“; 38, Nr. 109: „Unser KupfferErtz ist ein Saltz, Saturnus genannt“; dazu weitere Hinweise bei Leibenguth 2002 und Reiser 2011, jeweils, s. v. Saturnus. − Ruland (1612, 424): „Saturnus, id est, plumbum“; (S. 325): „Plumbum“ als Name für die „Materia prima“; Schneider (1962), s.v. 59] ‚Rotes Blei‘ und ‚rote Erde‘: Bei Gratarolus (1561, 265): „Plumbum rubeum“ und „terra rubea“ als Termini für ‚Lapis philosophorum‘. 61] ‚Roter Löwe‘: Unter den theriomorphen Verbildlichungen gewisserArkansubstanzen nahm der Löwe eine führende Stellung ein. ‚Löwe‘ gehörte zu den bevorzugt gebrauchten Termini der allegorischen Alchemikerdiktion. Nicht genug, daß die ‚Löwe‘Significata stark schwankten, überdies gingen im Bestiarium alchemischer Autoren unterschiedlich gefärbte Löwen um, erfaßte beispielsweise Ruland (1612, 303) einen ‚Leo citrinus‘ und ‚Leo viridis‘, dazu den ‚Leo rubeus‘: „Der rote Löw / ist roter Schwefel / welcher in mercurium resoluirt wirdt / genennet sanguis leonis, wirdt auch Goldt gemacht“. ‚Roter Löwe‘ und des ‚roten Löwen Blut‘ gehörten zur Zeit des Vom Tinktur-
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werk-Verfassers zum Wortschatz des Salomon-Trismosin-Corpus im Aureum vellus (Traktat I [Erstdruck: Rorschach 1598], 1708, 5–9, und des Basilius-Valentinus-Corpus (1677, 80). Libavius (1595, 165) dekretierte: „Leo rubeus materia tincturae et est quae arte pyronomica ex tribus coagulat in unum, hoc est lapis factus ex essentia auri, argenti et hydrargyri philosophici“. Maßgeblich gefördert und gefestigt wurde die häufige Präsenz des Terminus ‚roter Löwe‘ durch einen allein von 1570 bis 1574 in neun Abdrucken erschienenen Traktat De tinctura physicorum eines Pseudoparacelsus, der seine Alchemia transmutatoria metallorum auf zwei Leitbegriffe: die Verba metaphorica ‚roter Löwe‘ und ‚weißer Adler‘ gegründet hatte; zum frühneuzeitlichen Widerhall dieser paracelsistischen Roter Löwe/weißer Adler-Junktur siehe Telle (2004, 95–119, 136–142): „Das pseudoparacelsische Adler/Löwe-Sinnbild unter deutschen Lehrdichtern“. − Zu weiteren Zeugnissen für den Gebrauch des Terminus ‚roter Löwe‘ im paracelsistischen Sachschrifttum siehe Vom Stein der Weisen, ed. Telle 1994a, 198, v. 33, dazu 171; Kühlmann/Telle (2012), Nr. 102. Dem Terminus zu einer allgemeineren Bekanntheit verhalf später Goethes Faust (Goethes Faust. Kommentiert v. Erich Trunz. Hamburg 1963, Tl. 1: „Vor dem Tor“, v. 1038–1043), der über seinen Vater sagte, daß dieser „dunkle Ehrenmann“ „in Gesellschaft von Adepten / Sich in die schwarze Küche schloß / Und nach unendlichen Rezepten, / Das Widrige zusammengoß. / Da ward ein roter Leu, ein kühner Freier, / Im lauen Bad der Lilie vermählt“... ‚Grüner Löwe‘: Ein seit dem Spätmittelalter gängiger Deckname. Seine Geläufigkeit hatte wohl vorab der Morienus/Calid-Dialog gefördert, in dem „leo viridis“ als Terminus für eine von drei für das „magisterium“ notwendige „species“ (Arkanstoffe) gebraucht worden ist; siehe Morienus, ed. Stavenhagen (1974), 38, 42 (auch: „ignis“), 44 (auch: „vitrum“). An diesen arkanen „Leo viridis, id est aes Hermetis“ als eine von drei „species“ für das „magisterium“ erinnerten auch das Consilium conjugii (in: TC. Bd. 5, 1660, 435 [anonymisiert]) und das Rosarium philosophorum (ed. Telle 1992, Bd. 1, 33). Im Abschnitt „De nostro Mercurio, qui est Leo viridis Solem deuorans“ (ebd., 174 f.), dem eine Illustration samt Rollengedicht („Ich bin der war grün vnnd guldisch Löwe ohn sorgen / Inn mir steckt alle heimlichkeyt der Philosophen verborgen“) beigegeben worden ist (ebd., 173), diente der grüne Löwe als Sinnbild für arkanen Mercurius (Quecksilber/Argentum vivum), ja an anderer Rosarium-Stelle bezeichnete der Terminus nichts weniger als die „vera materia“ (ebd., 29): „Inprimis habetur in Leone nostro viridi vera materia, et cuius coloris sit, et vocatur Adrop, Azoth, aut Duenech viride“. Für eine weitere bildliche Darstellung des grünfarbigen Löwen aufgrund des MorienusDiktums von den drei „species“ sorgte Maier (1618), Emblem Nr. 37. Die Präsenz des „Leo viridis“ in der alchemischen Stoffeswelt dokumentiert etwa auch (Ps.-)Arnald von Villanova: Speculum alchymiae. In: TC. Bd. 4 (1660), 525, 539; Aureum vellus (1708 [erstmals Rorschach 1598]), 120 („Vom grünen Löwen“): Terminus für die stoffliche Ausgangsbasis des „allerrötisten Steins“.
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Angesichts gewisser Zeugnisse kann von terminologischen Standardisierungsvorgängen schwerlich die Rede sein. Siehe beispielsweise die Allegoriae sapientum supra librum Turbae XXIX distinctiones. In: TC. Bd. 5 (1660), 79: ‚Leo viridis‘ identifiziert mit „auripigmentum citrinum“; Gaufridus (1603), 264–285: „Leo viridis“ hier wohl Deckname für Vitriol (so Multhauf 1966, 195); Basilius Valentinus (1677, 80): „grüner Löwe“ und dessen „Blut“ als Termini für Arkanschwefel; ders., ebd., 363: Synonym für „Luna philosophorum“ (formuliert im Anschluß an den Morienus/Calid-Dialog). − Die semantische Spannweite um 1600 dokumentieren etwa auch Libavius (1595, 165: „Leo viridis illi est vitriolum, seu spiritus eius rectificatus“) und Ruland (1612, 303): „Leo viridis, ist Hermetis Ertz / Glaß vnd vitriol, vnd das Blut vom Schwefel / der erste mercurius auri, durch den lunarischen Cörper verendert. Item das grüne Wasser / welches den lebendigen Kalck aufflöset / die grüne ist das vollkommen an den Stein / vnd kan leicht zu Gold werden. Alle wachsende Ding sind grün / also auch vnser lapis [...], ein Gewächß / der lapis kan nicht bereitet werden / ohn grünen/ flüssig duenech [...]. Leo viridis, quorundam opinione aurum [und ] vitriolum“. − Gratarolus (1561, 265): „Leo viridis“ als Terminus für ‚Lapis philosophorum‘ − Erwähnt bei Schneider (1962), s. v. Leo viridis, und Reiser 2011, 332 f. − Im 20. Jahrhundert bereicherte der ‚grüne Löwe‘ das Metaphernarsenal in Yvan Golls Sonettzyklus Le Char Triomphal de l’Antimoine (Paris 1949), in: Ders.: Dichtungen. Lyrik. Prosa. Drama. Hrsg. v. Claire Goll. Darmstadt 1960, Sonett Nr. 1 („Le Grand Oeuvre“), 406: „Le lion vert est ma monture“. Gelegentlich stiftete man mit beiden Löwen eine opake Allegorik, etwa wenn man festhielt, der Alchemiker habe nach Durchführung bestimmter laborantischer Prozeduren nun „den rechten [lies: rohten] Löwen mit dem Blute des grünen Löwen gespeiset und auffgelöset/ dann das fixe Blut des rohten Löwens ist gemacht auß dem unfixen Blut des grünen Löwen“ (Basilius Valentinus 1677, Tl. 2, 80). 62] „Terra Adamica“: Ein weiteres Synonym für die primateriale ‚Una res‘, dem als semantisch gleichwertige Termini „Massa“ und ‚rote Erde‘ (v. 67) zur Seite gestellt worden sind. Gebraucht unter Hinweis auf die biblische Schöpfungsgeschichte (v. 68/ 69), wo es heißt (Biblia [1545], ed. Volz, 1974, 1. Buch Mose, Kap. 2, v. 7): „VND GOTT [...] MACHET DEN MENSCHEN aus dem Erdenklos“; ‚Erdenkloß‘ (lat.: ‚Limus terrae‘) in Vom Tinkturwerk verstanden als ein gleichsam chemisch präparierter ‚Auszug‘/Extrakt alles Geschaffenen, der die ‚Kräfte‘ aller ‚Naturen‘ vereint. − Der Terminus auch gebraucht von einem paracelsistischen Allegoriker (Benedictus 1623, 70 f.), der das ‚ganze Werk‘ auf die „rothe Adamische erde“ (auch: „roter Adam“) zu gründen lehrte. − Nicht notiert bei Ruland (1612) und Schneider (1962). 70] „Microcosmus“: Ein aus griechischer Tradition stammender Terminus, oft bezogen auf den Menschen als einem ‚Universum im Kleinen‘; hier gebraucht als „Prima materia“-Name, personifiziert in Adam, den biblischen Stammvater der Menschen. − Erfaßt von Ruland (1612, 323, 358 f.) als Terminus für die „Materia prima“ bzw. den alchemischen „Stein“; 326: „Microcosmus: Ein kleine Welt / dieweils ein Gleichnuß ist / der
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grossen durch Himmel / Erd / Meer vnd alle Element“. − Gratarolus (1561, 265 f.): „Minor mundus“ als terminus für ‚Lapis philosophorum‘; siehe auch Telle (1994b, 463, 473): Stellennachweise zur Bezeichnung des „lapis“ als „minor mundus“ im lateinischen Schrifttum. 71] „Adam“: Der Name des biblischen Stammvaters der Menschen als „Materia prima“-Terminus; als synonym beigesellt: ‚rote Erde‘. − ‚Adam‘ war spätestens im 15. Jahrhundert in die deutschsprachige Alchemikerdichtung eingedrungen; siehe TurbaSpruchgedicht (ed. Telle 1976, 427): „Nym vnser stein Adam [...] davon Eua quam“ (hier entwickelt aus der Anweisung in der Turba philosophorum, ed. Ruska 1931, 115, Z. 32 f., beim ‚Großen Werk‘ von den vier aristotelischen Elementen auszugehen: „Ex quatuor autem elementis pater noster Adam et filii eius, scil[icet] ex igne, aere, aqua simul et terra creati sunt“). Und im 16. Jahrhundert lehrte beispielsweise ein weiterer Lehrdichter (Vom weißen Adler und roten Löwen, ed. Telle 2004, 109), daß das ‚Große Werk‘ vom ‚mineralischen Adam‘ seinen Ausgang zu nehmen und der Alchemiker nach Modell der Erschaffung Evas im biblischen Schöpfungsbericht mittels chemischer Verfahren aus ‚Adam‘ eine Arkansubstanz, nämlich ‚Eva‘ bzw. einen ‚schneeweiße Rippe‘ zu gewinnen habe. − Nicht erfaßt bei Ruland (1612); Schneider (1962, 97): Synonym für den alchemischen ‚Mercurius‘ und ‚Lapis‘. 72] ‚Prima materia‘: Gewöhnlich Terminus für die arkanstoffliche Ausgangsbasis; freilich bezeichnete der Terminus samt seinen Synonymen durchaus auch das Endprodukt alchemischen Strebens; so erfaßte beispielsweise Gratarolus (1561, 265) „primordialis materia“ als Terminus für ‚Lapis philosophorum‘. 75/76] Vielleicht zur Sprache gebracht aus Kenntnis einer bildlichen Darstellung der Löwentötung mit der Beischrift ‚Töte den Löwen, nimm ihm sein Blut‘ und des zum Bild gehörenden Verskommentars: „Wer dem Löwen nimpt sein blůt / vnd der jhme darnach recht thůt / [...] so wirt darauß ein pflaster / das heilt all kranckheit ohn laster / vnnd wirt die höchste artzney“ ... Text und Bild sind Aufbauteil der Vera scientia alchimiae (15. Jh.), gedruckt in: Pandora, ed. Reusner 1582, 212 (Erstdruck). 86–88] Die Vorstellung von ‚Wasser‘ und ‚Erde‘ als zwei ‚sichtbaren‘ Elementen, die ‚Feuer‘ und ‚Luft‘ in sich bergen, findet man beispielsweise vorgeprägt in der Turba philosophorum, ed. Ruska (1931), Sermo 9, 117. 90] Reflex von Quintessenz-Lehren: Alchemiker verstanden unter ‚Quinta essentia‘ ein hochwirksam-‚reines‘ Heilmittel; sie nahmen sie für ein materialisiertes Analogon zum ‚fünften Element‘ (‚Quinta essentia‘, ‚Himmel‘) der aristotelischen Kosmologie (Äther) und meinten, man könne sie mit Destillationsverfahren aus allen Stoffen gewinnen. Im
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Unterschied zu den vier Elementen, so die gängige Ansicht, sei das ‚fünfte Element‘ unveränderlich, besäße die lebenserzeugende und lebenserhaltende Wirkkraft eben jenes unvergänglichen ‚Himmels‘, der das Universum vor seiner Zerstörung bewahrt. 93] „Adam“ und „Eva“: Die dramatis personae der biblischen Schöpfungsgeschichte als Personifikationen von Grundbegriffen alchemischer Spekulation, verstanden als Gegensatzpaar; die an Alchemiker gerichtete Forderung, ‚Adam‘ und ‚Eva‘ zu ‚verheiraten‘ (v. 92), beruht auf dem allgemeinplätzigen Grundgedanken von der tinkturerzeugenden Vereinigung von Gegensätzen (etwa von Mann/Weib, Sol/Luna, Sulphur/Mercurius), Als Repräsentanten alchemischer Gegensatzpaare figurieren Adam und Eva im lateinischen Alchemica (siehe beispielsweise Rosinus ad Eutheciam. In: Ars aurifera. Bd. 1. Basel 1572, 269; Senior Zadith: De chemia. In: TC. Bd. 5, 1660, 228) oder in einem Kommentar zu Ps.-Hohenheims De tinctura physicorum (Benedictus 1623, 70–73), der von einer Vereinigung des „roten Adam“ mit einem (aus Adam herausgeschnittenen) ‚weißen Weib‘ (Eva) zu erzählen weiß, aus der ein „junger geistlicher Adam“ (hier: der chymische Heiland) hervorgehe. Im Zuge parabolischer Ausformungen des Conjunctio oppositorum-Gedankens, so zeigt eine zum Basilius-Valentinus-Corpus gehörige Lehrdichtung De prima materia lapidis philosophici (gedruckt seit 1599; ed. Telle 2009, 38, v. 25/26), wurde Adam gelegentlich auch mit Venus verkuppelt. − Im Übrigen veranschaulichte das biblische Paar zuweilen die vielfach kolportierte Doktrin (siehe Telle 1992, 470–472), daß jedwedes Generierende jeweils nur sein Ähnliches hervorbringe (Artkonstanzdogma): „Similiter ex Adam et Eva omne hominum genus, ergo omnis res conveniet cum suo simili et propinquo, et secundum speciem suam“ (Senior Zadith: De chemia. In: TC. Bd. 5. 1660, 221). 95–98] Ein aus dem Geist griechisch-hellenistischer Sym- und Antipathielehren formuliertes Diktum, das frühneuzeitlichen Alchemikern insbesondere von der Turba philosophorum (ed. Ruska 1931, Sermo 45, 151) vermittelt worden ist: „Et scitote, quod natura naturam superat, natura natura gaudet, natura naturam continet“; ebd., Sermo 11, 119: „O natura illa fortis, quae naturas vincit suasque gaudere et laetari facit naturas!“; ebd., Sermo 70, 168: „Natura scilicet natura laetatur, natura naturam superat et natura naturam continet“. Bei Bernardus Trevisanus (De chemia [gedruckt seit 1567]) bot es sich in folgenden Fassungen (Von der Hermetischenn Philosophia. Hrsg. v. Michael Toxites. Straßburg 1574, F 2r): „Natura naturam continet, natura naturam separat et natura obuians naturae suae laetatur, et in alienas transmutatur naturas“; (De secretißimo Philosophorum opere Chemico. In: TC. Bd. 1. 1659, 690): „Natura sua natura gaudet, natura naturam vincit, et natura naturam retinet“. Das Diktum gehörte insbesondere zum Argumentenschatz von Alchemikern, die zugunsten einer Gold/Silber/QuecksilberAlchemie zwischen Gold/Silber und Mercurius eine „nähere Verwandnuß“ als zwischen anderen Stoffen statutierten und den Gebrauch von „fremden [dem Gold/Silber nicht „verwandten“] Dingen“ bekämpften; so beispielsweise (Ps.-)Arnaldus von Villanova:
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Rosarius philosophorum. In: Ders: Chymische Schrifften. Frankfurt a. M./Hamburg 1683, 21 f. 104] „Protheus“: Name des antiken Wassergottes. Das Proteus gewidmete Erzählgut, wie es Vergils Bucolica eingefangen hatten, empfahl bereits während der zaghaften Anfänge alchemischer Mythenrezeption Petrus Bonus (Preciosa margarita novella [14. Jh.]. In: TC. Bd. 5. 1660, Kap. 11, 614) als eine alchemisch aufschlußreiche „fabula“. Der Vom Tinkturwerk-Verfasser nahm Proteus für eine Mercurius-Personifikation: Assoziiert wurden die ‚proteischen‘ Eigenschaften des alchemischen Mercurius, seine an Farberscheinungen kenntlichen Wandlungspotenzen (v. 103), mit den von Proteus erzählten Verwandlungsfähigkeiten. Bald schon personifizierte Proteus auch im Werk des Mythoalchemikers M. Maier den allerorten präsenten Mercurius („Hic [i.e. Mercurius] est ille Protheus, qui in se omnium rerum formas mutat“; zitiert nach Leibenguth 2002, 108) und avancierte im alchemischen Sachschrifttum zur Titelfigur; siehe Johannes Baptista Großschedel: Proteus mercurialis geminus, exhibens naturam metallorum, id est, operis philosophici theoriam et eiusdem praxin. Frankfurt a. M. 1629. − Nicht verzeichnet bei Ruland s.v. Materia prima, Mercurius; Schneider (1962), s. v. 107–112] Formuliert aus Kenntnis der topischenVorstellung, daß der Alchemiker zwar laborantisch manipuliere, der ‚Stein‘ sich letztlich jedoch selbst vollende; siehe dazu Goltz/Telle/Vermeer (1977, 70): „lapis seipsum calcinat [...] seipsum perficit“ (mit Stellennachweisen). 113–115] Inspiriert von der Heiligen Schrift: Siehe Biblia (1545), ed. Volz (1974), Offenbarung des Johannes, Kap. 6, v. 12–15 (Vision einer kosmischen Katastrophe, die ‚Himmel‘ und ‚Erde‘, ‚Sonne‘ und ‚Mond‘ einbegreift); vereinzelt dichterischer Aufgriff bestimmterWörter („die Sonne ward schwartz“; Berge werden „bewegt aus jren ortern“). 117] Bibelderivat. Biblia (1545), ed. Volz (1974), 2. Brief des Petrus, Kap. 3, v. 10: „ES wird aber des HErrn tag komen / [...] In welchem die Himel zergehen werden / [...] Die Element aber werden fur hitze schmeltzen / Vnd die Erde vnd die werck [...] werden verbrennen“; ebd., v. 12: Am ‚Tag des Herrn‘ werden „der Himel vom fewr zurgehen vnd die Element fur hitze zerschmeltzen“. 118] Siehe oben zu v. 8. 124–129] Wandlungen der aristotelischen Elemente, namentlich der Elemente ‚Wasser‘ und ‚Erde‘, werden unter dem Bilde gewaltsamer Kämpfe zwischen ‚Riesen‘ zu verstehen gegeben; die Kämpfe beendet eine „wunder kleiner Zwerg“, der die „starcken Riesen“ ‚bindet‘ und ‚tötet‘. − Diese Bildlichkeit besitzt in der deutschen Alchemikerdichtung des 16. Jahrhunderts zwei Seitenstücke: In David Beuthers Traktat De lapide (1575) heißt es (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. Germ. 434 [um 1600]):
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„Eß ist ein Stein vnnd doch kein Stein, In dem da stehet die Kunst allein. Er wurt gefunden in grunden vnd bergen, Darin wohnen die Riesen vnd Zwergen“ ... Und in einem seit 1595 gedruckten Rätselgedicht (Aenigmata de tinctura. In: Sternhals, ed. Schaubert, 1595, G4r–G5r, hier G 4v f.) kann man lesen: „Von den grünen Wiesen / Komen vnser Riesen / Aus den tieffen Bergen / Schlieffen vnsere Zwergen“. Über die alchemische ‚Tötung‘ der in vier menschlichen ‚Brüdern‘ verkörperten Elemente durch einen keulenbewehrten Kämpfer belehrte Maier (1618, Emblem Nr. 19). 130] Bibelderivat. Biblia (1545), ed. Volz (1974), 2. Brief des Petrus, Kap. 3, v. 13: „WIR WARTEN ABER EINES NEWEN HIMELS / VND EINER NEWEN ERDEN“. − Ebd., Offenbarung des Johannes, Kap. 21, v. 1: „VND ICH SAHE EINEN NEWEN HIMEL / VND EINE newe Erden / denn der erste Himel vnd die Erste Erden vergieng“. 131–134] ‚Neues Jerusalem‘: Bibelderivat. Siehe Biblia (1545), ed. Volz (1974), Offenbarung des Johannes, Kap. 3, v. 12; ebd., Kap. 21, v. 2. − Zur Analogisierung des ‚glorifizierten Steins‘ der Alchemiker mit dem verherrlichten ‚Neuen Jerusalem‘ inspirierten insbesondere folgende Wendungen: Das „Liecht [der Stadt] war gleich dem alleredlesten Stein“ (Offenbarung des Johannes, Kap. 21, v. 11); „die Stad [war] von lauterm Golde“ (ebd., v. 18); „die Gründe der mauren [...] waren geschmücket mit allerley Eddel gesteine“ (ebd., v. 19); „die Gassen der Stad waren lauter Gold“(ebd., v. 21). 135–146] Die Ansicht, der Dichter habe in diesem Versbereich Lamsprings Vers/BildTraktat Vom Stein der Weisen „zitiert“ bzw. „benutzt“ (so Buntz 1968, 108, 157 mit Blick auf Lamsprings Text/Bild-Ensemble Nr. 10, ebd., 131 f.), trifft schwerlich zu; auch spricht nichts für eine raffende Paraphrase: Beide Dichter sprechen zwar vom im Feuer lebenden Salamander, aber jeweils in gänzlich verschiedenen Kontexten und Funktionen; außerdem war die Salamander-Metapher für Arkanstoffe zur Zeit des Vom Tinkturwerk-Verfassers in etlichen Alchemica präsent. 135] „Phönix“: Name eines Wundervogels. Aufgrund der Erzählungen von seiner Selbstverbrennung und Neuentstehung, aber auch befeuert von theologischen Konnotationen (Wiedergeburts- und Auferstehungsgedanke), diente der Phoenix einer Vielzahl alchemischer Autoren als Sinnbild des laborantisch ‚getöteten‘ und ‚wiederbelebten‘‚Steins‘ (v. 137), so etwa Lamspring in seiner Lehrdichtung Vom Stein der Weisen (entstanden um 1500, gedruckt seit 1625; ed. Buntz 1968, 128). „Phoenix“ verhalf einigen Alchemica zu einer markanten Kennmarke, darunter einer Dichtung von Michael Maier (Cantilenae intellectuales [...] de Phoenice redivivo. Rostock 1622) sowie Prosaschriften
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von Guido Magnus de Monte (siehe zu v. 53/54) und Johann Rist (Philosophischer Phoenix Das ist: [...] Entdeckunge der [...] Matery deß [...] Steines der Weisen. Hamburg 1638; Rettung [...] des Philosophischen Phoenix, o. O. 1638). − Zur semantischen Spannweite siehe Leibenguth 2002, 111–116 („Die Phoenixallegorie“) u. ö.; Reiser 2011, 235. − Ruland (1612, 361): „lapis philosophicus“; Schneider (1962), s. v. 138] „Salamander“: Inspiriert von naturkundlichen Legenden, nach denen der Salamander im Feuer leben könne, nahm man das Tier für ein Sinnbild des feuerbeständigen ‚Steins‘: „Sicut Salamandra solo vivit igne, sic lapis noster solo igne nutritur“ (Ps.-Albertus Magnus: Liber octo capitulorum. In: TC. Bd. 4. 16, 852) −, wußte man zu lehren, daß die sich zum ‚Stein‘ wandelnde Arkansubstanz während der Rubedo-Endphase des ‚Großen Werks‘ eine „Salamandrische arth“ an sich nehme (so z. B. Ps.-Paracelsus: De tinctura physicorum [gedruckt seit 1570]. In: Paracelsus: Bücher vnd Schrifften. Hrsg. v. Johann Huser. Tl. 6. Basel 1590, 371). Zu den Lehrdichtern, die den Terminus aufgriffen, gehörten ein Anonymus (Vom Stein der Weisen [15. Jh., gedruckt seit 1599], ed. Telle 1976, 443) und Lamspring (Vom Stein der Weisen, ed. Buntz 1968, 131 f.). Später dann fand der Salamander im alchemischen Bestiarium von Michael Maier (1618, Emblem Nr. 29: „Ut Salamandra vivit igne sic lapis“) einen Platz und warb auf Titelblättern für Übersetzungen italienischer Alchemica von Carlo Lancilotti ins Niederländische (De Brandende Salamander. Übersetzt von Jacob Leeuw. Amsterdam 1680) und Deutsche (Der brennende Salamander/ oder Zerlegung/ der zu der Chimie gehörigen Materien. Aus dem Holländischen ins Deutsche übersetzt von Johann Lange. Lübeck 1697 [erstmals Frankfurt a. M. 1681]). − Ruland (1612) kennt ‚Salamander‘ nur als Terminus für ‚Feuerleute‘, dem 16. Jahrhundert bekannt aus Hohenheims Liber de nymphis. sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus (gedruckt seit 1566); nicht bei Schneider (1962); Weiteres zum Wortgebrauch bei Leibenguth 2002, 310, 408, und Reiser 2011, 301–303. 140] „Filius Solis“: ‚Sohn der Sonne‘; Terminus für das Endprodukt alchemischen Strebens, den ‚Stein der Weisen‘ (Elixier, Tinktur, Universal, Medizin). − Vorgeprägt im lateinischen Schrifttum: Eine ‚Sonnensohn‘-Personifikation bietet die Belinus (< griechisch Apollonios von Tyana) zugeschriebene Metaphora de Sole (Rosarium philosophorum, ed. Telle, 1992, Bd. 1, 186–189: „Scitote quod Pater meus Sol dedit mihi potestatem super omnem potentiam“...). − Nicht bei Ruland (1612) und Schneider (1962). Der Dichter und Alchemiker Alexander von Bernus nutzte den Terminus in dem Gedicht Gold um Mitternacht (1930): „Tinktur der Himmel / Engel-Elixir / Daß wir des Sonnensohnes teilhaft werden. / Um dieses Augenblickes leben / Wir unsere Leben alle“ (zitiert nach Alexander von Bernus: Gold um Mitternacht. Die Gedichte in Auswahl 1902 bis 1947. Nürnberg 1948, 3). Und in seinem Spiel um Till Eulenspiegel (1941) verkünden in einem Labor hörbare Stimmen (zitiert nach Mirko Sladek: Alexan-
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der von Bernus. Nürnberg 1981, 116): „Der Sonnensohn / Besteigt den Thron, besteigt den Thron ...“. 143/144] Eine Similie überliefert die Vers/Bild-Allegorie Das nackte Weib (15. Jh.; gedruckt seit 1582; ed. Telle 1980, 130, v. 25/26). − Wortlautnähe und Endreimidentität dieses blassen Verspaars mit Lamsprings Vers/Bild-Traktat Vom Stein der Weisen (ed. Buntz 1968, Text/Bild-Ensemble Nr. 10, 132, v. 25/26 ) beruhen allenfalls auf Quellengemeinschaft. 147] ‚Unsterblicher Adam‘: Synonym für ‚Stein der Weisen‘, eine Universalarznei für Menschen und Metalle. − Nicht bei Ruland (1612) und Schneider (1962).
5.2. Vom Tinkturwerk in einer Bearbeitung von J. R. V. (1705) Die folgende Textwiedergabe beruht auf dem Erstdruck (Überl.-verz. 4.3, Nr. 1). (S. 40/E 2v)
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F[rater]. R[osae]: C[rucis]. WEr durch des Höchsten Gnad getrauet zu erlangen Der Weisen theuren Stein / und einst gedenckt zu prangen In einer güldnen Krohn / der suche nicht in Thiern / In Kräutern / Mineraln / die ins Verderben führn. Der Schwefel / Vitriol / Quecksilber / Bley / Ziehn / Eisen / Saltz / Kupffer und Allaun / gar schlechten Dienst erweisen / Gold / Silber / Marcasit vermögen das auch nicht / Das reine Hyle nur hierin das Urtheil spricht. Und dieses liegt allein in dem gesaltznen Bronnen / Davon der edle Baum des Monden und der Sonnen / Auffwachset zart und rein / das ist die Honig-Blum / Saltz / Schwefel und Mercur / der Weisen Eigenthum. Die Weisen geben ihm der Erd’ und Wassers Nahmen / In ihnen liegt allein aller Metallen Samen / Die Erde die ist fix, das Wasser aber fleucht / Keins ohn das andre wirckt noch seinen Punct erreicht. Dann diese beyde sind von einem Stam und Wesen / Sie hat der weise Mann zu seinem Schatz erlesen / Und der Metallen Krafft allein in ihnen ruht / Aus Bergen kommet nicht diß unschätzbahre Guth. Merck! an dem Orth und End wo unser Kaos lieget / Da wächset kein Metall / nur Krafft und Tugend sieget / Die in dem Hyle schläfft / HOMERUS kant’ es wohl / Sagt für die Zauberey er kräfftig dienen soll.
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An seiner rechten statt alda es täglich blühet Ist seine Wurtzel schwartz / was man denn daraus ziehet / Ist grün / grau / weiß / Blut-roth / ein süsser Götter-Tranck / Du / wo du solchen kriegst / dem Höchsten sage Danck. Es ist der gröste Schatz / den GOTT alleine giebet / Der Unverständige sehr weit es von sich schiebet / Es wird von vielen auch SOLARIA genandt / Die Wurtzel ist allein den Weisen wohl bekandt. Es wird lebendig Gold / AZOTH, ADROP genennet / Der Weise nur allein SATURNUM wohl erkennet / Denn er regirt die Erd’ / die Adams Nahmen hat / Ein wunderbahr Geschöpff / ja voller Wunderthat. Die Kräffte der Natur die fliessen da zusammen / Von welcher alle Ding in dieser Welt herstammen Den rothen Adams Klump mit rechtem Fleiß betracht / Aus dem alleine wird der Weisen Werck gemacht. Kämpff nur mit Tapfferkeit und diesen Löwen tödte / Nim ihm sein dickes Blut / das voller edlen Röthe / Des Glantz dem Golde gleicht / hie scheide mit Verstand Das Wasser von der Erd / und reinige das Land. In diesem lieget auch die Lufft und Feur verborgen / Zusamt der QUINT ESSENS, wilt du mir nun gehorchen / So gib dem Mann sein Weib / sie werden mit Begier Einander nehmen an / verschliesse dann die Thür. Der Geist löst auff den Leib / der Leib den Geist verdicket / Und machen sich selbst schwartz / das Werck alsdann sich schicket Zu werden schwartz / weiß / roth / diß alles thut der Geist / Der seiner Seel und Leib so gar viel guts beweist. Schau an die Finsternüß / und wie auff allen Seiten Die simpeln Element itzt mit einander streiten / Die Wasserfluth bedeckt der Erden Angesicht / Nach diesem bricht hervor das helle Silber-Licht. Das Wasser das verfleust / die Erde lieblich grünet / Der Sonnen güldner Glantz dem Werck am Ende dienet / So wächst der Weisen Stein in einer Feuers Gluth / Der Höchste sey gepreist vor dieses Gnaden-Guth.
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6. Zitierte Literatur Aureum vellus siehe Vellus (1718). Basilius Valentinus (1677): Chymische Schriften. Tle. 1/2. Hamburg. Benedictus, Liberius (1623): Nucleus sophicus, oder Außlegung in Tincturam Physicorum Theophrasti Paracelsi. Frankfurt a. M. Biblia (1545): Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrift: Deudsch Auffs new zugericht [durch] Martin Luther. Wittenberg. Hrsg. v. Hans Volz. Bde. 1–3. München 1974. Birkhan, Helmut (1992): Die alchemistische Lehrdichtung des Gratheus filius philosophi in Cod.Vind. 2372. Zugleich ein Beitrag zur okkulten Wissenschaft im Spätmittelalter. Bde. 1/2 Wien (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte. Bd. 591 / Schriftenreihe der Kommission für Altgermanistik). Bleicher, Thomas (1972): Homer in der deutschen Literatur (1450–1740). Zur Rezeption der Antike und zur Poetologie der Neuzeit. Stuttgart (Germanistische Abhandlungen 39). Borel, Pierre (1656): Bibliotheca chimica. Seu catalogus librorum philosophicorum hermeticorum. Heidelberg. Brendel, Zacharias (1641): Chimia in artis formam redacta. Hrsg. v. Werner Rolfinck. Jena. Buntz, Herwig (1968): Deutsche alchimistische Traktate des 15. und 16. Jahrhunderts. Diss. phil. München. Buntz, Herwig (1975): ‚Der Stein der Weisen‘. Eine zweite Handschrift des Lehrgedichtes von Hans Folz. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 94, 407–434 (mit Textpublikation). Caciorgna, Marilena (2006): Radice atra, purpureus flos. Ulisse, Mercurio e l’erba moly nello Stanzino di Francesco I de‘ Medici. Fonti letterarie e tradizione iconografica. In: L’art de la Renaissance entre science et magie. Hrsg. v. Philippe Morel. Rom (Collection d’histoire de l’art 6), 269–294. Della Riviera, Cesare (1986): Il Mondo Magico de gli Heroi. Edizione del 1605 in caratteri moderni. Introduzione di Piero Fenili. Rom (Biblioteca Ermetica. Bd. 19). Eleazar, Abraham (1735): Uraltes Chymisches Werck. Hrsg. v. Julius Gervasius Schwartzburgicus. Erfurt. Ferguson, John (1906): Bibliotheca Chemica. A catalogue of the alchemical, chemical and pharmaceutical books in the collection of the late James Young of Kelly and Durris. Bde. 1/2. Glasgow. Fischer, Hanns (1967): „Der Stein der Weisen“. Ein unveröffentlichter Gedichtentwurf von Hans Folz. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 86, Sonderheft, 99–119 (mit Textpublikation). Ganzenmüller, Wilhelm (1956): Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie. Weinheim. Gaufridus, Raymundus (1603): Verbum abbreviatum de leone viridi. In: Bacon, Roger: Sanioris medicinae [...] de arte chymiae scripta. Frankfurt a. M., 264–285. Goltz, Dietlinde (1972): Studien zur Geschichte der Mineralnamen in Pharmazie, Chemie und Medizin von den Anfängen bis Paracelsus. Wiesbaden (Sudhoffs Archiv. Beiheft 14). Goltz, Dietlinde/Joachim Telle/Hans J. Vermeer (1977): Der alchemistische Traktat „Von der Multiplikation“ von Pseudo-Thomas von Aquin. Untersuchungen und Texte. Wiesbaden (Sudhoffs Archiv. Beiheft 19). Gratarolus, Gulielmus (1561): Lapidis Philosophici Nomenclaturae. In: Ders. (Hg.): Verae alchemiae artisque metallicae, citra aenigmata, doctrina, certusque modus. Basel, Tl. 2, 265 f. Khunrath, Heinrich (1708): Vom Hylealischen, Das ist/ Pri-materialischen Catholischen Oder Allgemeinen Natürlichen Chaos. Frankfurt a. M. (erstmals Magdeburg 1597). Koch, Heinrich P. (1995): „Moly“ − der Zauberlauch der griechischen Mythologie. In: Geschichte der Pharmazie 47, 34–44.
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Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik
1. Einleitung 2. Sprache als Poesie 3. Sprachskepsis 4. Verstehenslehre 5. Rhetoriktheorie 6. Philologie 7. Sprachgebrauch 8. Fazit 9. Zitierte Literatur
1. Einleitung 1.1. In der Geschichte der Sprachtheorie und Sprachwissenschaft wird die deutsche Romantik traditionell stiefmütterlich behandelt. Zeitlich und auch konzeptionshistorisch eingerahmt von Autoren wie Hamann und Herder einerseits und Wilhelm von Humboldt andererseits, werden spezifisch romantische Beiträge zur Sprachtheorie oft kaum zur Kenntnis genommen, und auch in der Wissenschaftsgeschichte gelten, von der frühen germanistischen Philologie mit Vertretern wie Jacob Grimm und Karl Lachmann und der historischen Grammatik mit Vertretern wie Franz Bopp aus gesehen, Vorläufer wie Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck kaum als relevant. Seitens der Historiographie der Sprachphilosophie vollends werden selbst Autoren, die der Sprache weitaus weniger Beachtung geschenkt haben als die Romantiker – beispielsweise Kant und Hegel –, üblicherweise in jeder Überblicksdarstellung behandelt, während etwa Novalis oder August Wilhelm Schlegel ignoriert werden (so z. B. bei Borsche 1996). Die vergleichsweise übersichtliche Forschung der letzten gut 40 Jahre (zur älteren Forschung vgl. Bär 1999a, 1) lässt sich grob in vier Stränge einteilen: Untersuchungen zur Dichtungstheorie (z. B. Vietta 1970, Huge 1971, Frühwald 1983, Jaeger/Willer 2000 und Jaeger 2001), zur Hermeneutik und Übersetzung (z. B. Huyssen 1969, Gebhardt 1970, Frank 1978, Behler 1987a, Hörisch 1987, Hörisch 1988, Di Cesare 1996, Bär 2003a), zur Sprachtypologie und zur historischen Grammatik (z. B. Schmidt 1986,
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Schmitter 1993, Bär 2002) und zur Philologie (z. B. Brinker-Gabler 1980, Rother 1988, Bär 2003b, ders. 2010). Zudem finden sich Arbeiten zu einzelnen Themen, so zur Sprachursprungstheorie (z. B. Hausdörfer 1989), und zu einzelnen Autoren, etwa zu F. Schlegel (z. B. Di Cesare 1990, Behler 1994, Di Cesare 1997), Novalis (z. B. Di Cesare 1995) und Bernhardi (z. B. Schlieben-Lange/Weydt 1988, Wild-Schedlbauer 1990). Gesamtüberblicke, im Einzelnen gleichwohl stark selektiv – mit dem Fokus auf Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie –, bieten Gipper/Schmitter (1985) und Gipper (1992). Defizitär ist aber auch die bislang umfassendste Arbeit, die Untersuchung von Bär (1999a) zur Sprachreflexion der deutschen Frühromantik: Abgesehen vom thematischen Zuschnitt, der die spätere Romantik ausklammert, fehlen hier beispielsweise eine einlässlichere Beschäftigung mit der Sprachtypologie und mit der Rhetoriktheorie. 1.2. Geistesgeschichtlich ist der Diskurs1 der deutschen Romantik in die Zeit des späten 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. einzuordnen (ca. 1795 bis ca. 1830, in bestimmten Ausläufern sogar bis ca. 1850). Dabei scheint sich auch in der deutschen Forschung immer mehr die ‚Außensicht‘ durchzusetzen: das weit gefasste Romantikverständnis, wie es beispielsweise in Frankreich und Großbritannien vertreten wird. Zur deutschen Romantik in solch weitem Sinn gehören nicht allein Autoren wie die Brüder Schlegel, Novalis, Tieck, Wackenroder, Schleiermacher, A. F. Bernhardi, Arnim, Brentano, E. T. A. Hoffmann, Eichendorff und Ludwig Uhland, sondern auch beispielsweise Goethe und Schiller, Hölderlin und Heinrich von Kleist. Der damit gezogene geistesgeschichtliche Rahmen ist freilich zu groß, als dass er durch eine Überblicksdarstellung wie die vorliegende auch nur annähernd gefüllt werden könnte. Es muss daher eine thematisch orientierte Auswahl getroffen werden. Der Beitrag gliedert sich in sechs Teile; behandelt werden die romantische Theorie der Sprache als Poesie (2), die romantische Sprachskepsis (3), die romantische Hermeneu1
Ich verstehe hier unter Diskurs – in Anlehnung an Bär (1999, 61) und inhaltlich in weitgehender Übereinstimmung mit Busse/Teubert (1994) und Kämper (2006, 336) – die in einem Untersuchungskorpus sich manifestierende gedankliche Behandlung bestimmter Redegegenstände: ihre Bestimmung, thematische Entfaltung, Verbindung mit bestimmten anderen Redegegenständen, ihre Bewertung und kommunikative (soziopragmatische) Instrumentalisierung. Ein Diskurs ist dabei niemals eine unmittelbare Gegebenheit der oder (vorsichtiger formuliert) einer objektiv gegebenen historischen Wirklichkeit, sondern immer ein hermeneutisches Konstrukt – das Ergebnis einer historiographischen Interpretation (die als solche stets auswählt, wertet, gewichtet, Bezüge herstellt: schon die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus ist Interpretation in diesem Sinne). Er lässt sich als eine Art virtueller Diskussion zwischen potentiellen Kommunikationspartnern auffassen. Virtuell soll dabei heißen, dass kein tatsächliches Gespräch vorliegt, sondern eine Menge eigenständiger Äußerungen, die allenfalls replizierend aufeinander bezogen sind oder zumindest sein könnten. Dies impliziert Zeitgenossenschaft – Hermanns (1994, 50) findet den treffenden Ausdruck „Zeitgespräch“ – bzw. ‚Epochengenossenschaft‘ (die Zugehörigkeit zu einem vom Historiographen als Untersuchungseinheit angesetzten Zeitraum), die auch als ‚Ideologiegenossenschaft‘ erscheinen kann: als Teilhabe an einer insgesamt als einheitlich erscheinenden Weltansicht oder auch Mentalität (im Sinne von Hermanns 1995a).
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tik oder Verstehenslehre (4), die romantischen Beiträge zur Rhetoriktheorie (5) sowie die romantischen Beiträge zur vergleichenden Sprachwissenschaft und zur Herausbildung der Germanistik (6). Hinterlegt werden die theoriehistorischen Zusammenhänge durch Beobachtungen zum romantischen Sprachgebrauch (7), da sich zeigen lässt, dass dieser mit der Sprachreflexion eng verbunden und von ihr geprägt ist. Die Darstellung versammelt Erkenntnisse aus mehreren eigenen Arbeiten (Bär 1999a; 2000; 2002; 2003a; 2003b; 2004; 2007; 2010; 2011), aus denen teilweise auch Formulierungen übernommen sind.
2. Sprache als Poesie 2.1. Für August Wilhelm Schlegel, den sprachtheoretischen Vordenker der frühen Romantik, ist die Sprache das „Gedicht des gesamten Menschengeschlechtes“, dessen Ursprung einer „poetischen Anlage“ zuzuschreiben ist (A. W. Schlegel 1801/02, 388). Das heißt vor dem Hintergrund der Genietheorie der Zeit: Die Sprache ist zwar „ein Werk des menschlichen Geistes“, aber ein „ursprüngliches und nothwendiges“ (ebd., 184), ein „Produkt des menschlichen Dichtungsvermögens, gleichsam eine Urpoesie des Menschengeschlechts“ (ders. 1798/99, 49). Noch unmissverständlicher heißt es an anderer Stelle, dass „das Vermögen, welches die Poesie zur eigentlichen schönen Kunst bildet, dasselbe, nur in einer höheren Potenz ist, welches der Sprache ihren Ursprung giebt“ (ders. 1801/02, 251). Schlegel denkt also nicht nur an Dichtung, sondern an ein im weitesten Sinne historisches Universalprinzip, eine Hervorbringung und Bildung letztlich der ganzen Welt – eine Poiesis, denn das griechische Wort poiein, von dem Poesie kommt, bedeutet nichts anderes als ›machen, bilden, schaffen, hervorbringen‹. Von eben dieser Wortbedeutung geht der Autor aus und begreift Poesie als schöpferische Handlung, genauer gesagt als „eine freye schaffende Wirksamkeit der Fantasie“ (1801/02, 186). Das bedeutet: Weder bildet der Mensch eine äußere Welt mittels seiner Sprache einfach ab und macht sie sich so bewusst, noch bringt er eine innere Welt in einem Akt reiner Willkür nur aus sich selbst hervor. Vielmehr verarbeitet er alle Gegenstände seiner Erkenntnis nach bestimmten durch sein Erkenntnisvermögen gegebenen Regeln im Erkenntnisakt und schafft damit zwar eine ‚neue‘ Welt nach eigenen Gesetzen, indes nicht unabhängig von jener anderen, die auf sein Erkenntnisvermögen eingewirkt hat. Eben diese Umbildung, hinter der man ohne weiteres die Transzendentalphilosophie Kants und des deutschen Idealismus erkennt, nennt Schlegel Poesie (und das ist freilich dann nicht mehr typisch transzendentalphilosophisch, sondern typisch romantisch): „Der erste Mensch bildete nicht die Gegenstände passiv nach, er artikulierte sie (gliedbildete sie), vermenschlichte sie (und verähnlichte sie sich) und unterwarf sie sich so seiner Vorstellung, bildete sie daher um. Poesie ist eine bildende Darstellung der innern Empfindungen und der äußern Gegenstände vermittels der Sprache“ (A. W. Schlegel 1798/99, 7).
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In ihrem Ursprung also ist Sprache eine ‚umbildende Abbildung‘ der Welt, gleichsam eine Bearbeitung gegebenen Materials – genau das besagt der Satz: „Sprache ist ursprünglich poetisch“ (ebd.). Die in Rede stehende kognitive Leistung der Sprache besteht darin, dass man die gesammelten „Eindrücke“, die durch die Sinnesorgane aufgenommen werden, „innerlich in Worte übersetzen“ muss: „Dadurch bestimme ich sie mir erst recht, dadurch halte ich sie fest“ (A. W. Schlegel 1799, 46). Wie man sich eine diese Bestimmung konkret vorzustellen hat, beschreibt Wilhelm von Humboldt in dem frühen Entwurf Über Denken und Sprechen (1795/96, 581): Der menschliche Geist muss „in seiner fortschreitenden Thätigkeit einen Augenblick still stehn, das eben vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst entgegenstellen“. Das „Wesen des Denkens“ besteht für Humboldt darin, „Abschnitte in seinem eignen Gange zu machen; dadurch aus gewissen Portionen seiner Thätigkeit Ganze zu bilden; und diese Bildungen einzeln sich selbst unter einander, alle zusammen aber, als Objecte, dem denkenden Subjecte entgegenzusetzen“ (ebd.). Das Wort, das sprachliche Zeichen, die „sinnliche Bezeichnung der Einheiten“, zu denen „gewisse Portionen des Denkens vereinigt werden, um als Theile andern Theilen eines grösseren Ganzen, als Objecte dem Subjecte gegenübergestellt zu werden“ (ebd.), ist dabei ein notwendiges Instrument oder Organ der Erkenntnis: „gleichsam der erste Anstoss, den sich der Mensch giebt, plötzlich still zu stehen, sich umzusehen und zu orientiren“ (ebd., 582), in den „Act der Reflexion“ einzutreten, so dass er „aus der Dumpfheit der Begierde, in welcher das Subject das Object verschlingt, zum Selbstbewusstseyn erwacht“ (ebd., 581 f.). Sprache und Denken stehen in lebendiger Wechselwirkung, indem sich das Denken in der Sprache manifestiert und sie prägt, von als seinem Instrument zugleich aber wiederum bestimmt wird: Die Sprache ist das „Werkzeug des menschlichen Geistes, aber wie es sich für diesen geziemt, kein todtes und mechanisches, sondern ein organisches, worin folglich eine Einheit und allgemeine Wechselbeziehung Statt findet. [...] Der Gebrauch der Sprache ist wie ihre erste Hervorbringung ein immer fortgesetztes Handeln des menschlichen Geistes; und da dieses [...] durch die Sprache objectivirt, ein Typus davon in ihr aufgestellt ist, so ist es natürlich, daß sie wieder rückwärts auf den Geist, der sich ihrer bedient, eine große Gewalt ausübt“ (A. W. Schlegel 1803/04b, 286).
Denn die Sprache, wie Wilhelm von Humboldt prominent formuliert, ist „kein freies Erzeugniss des einzelnen Menschen, sondern gehört immer der ganzen Nation an; auch in dieser empfangen die späteren Generationen dieselbe von früher da gewesenen Geschlechtern. [...] Indem nun die Nationen sich dieser, schon vor ihnen vorhandenen Sprachelemente bedienen, indem diese ihre Natur der Darstellung der Objecte beimischen, ist der Ausdruck nicht gleichgültig, und der Begriff nicht von der Sprache unabhängig. Der durch die Sprache bedingte Mensch wirkt aber wieder auf sie zurück, und jede besondre ist daher das Resultat drei verschiedner, zusammentreffender Wirkungen, der realen Natur der Objecte, insofern sie den Eindruck auf das Gemüth hervorbringt, der subjectiven der Nation, und der eigenthümlichen der Sprache durch den fremden ihr beigemischten Grundstoff, und durch die
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Kraft, mit der alles einmal in sie Uebergangene, wenn auch ursprünglich ganz frei geschaffen, nur in gewissen Gränzen der Analogie Fortbildung erlaubt. Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst.“ (Humboldt 1822, 24 ff.)
Der Gedanke, dass die Sprache das Denken bedingt, ist in der Sprachreflexion der Romantiker und ihrer Zeitgenossen fest etabliert. Wenngleich nicht im Sinne eines radikalen erkenntnistheoretischen Idealismus behauptet wird, „dass der Mensch ohne Sprache nicht denken, und ohne sie keine allgemeinen abstracten Begriffe haben könne“ (Fichte 1795, 103), so wird doch immer wieder darauf hingewiesen, „daß Uebung der Vernunft und Denken [...] ohne Sprache [...] in einem hohen Grade eingeschränkt sein müsse [...]. Denn rauben wir dem Menschen die Sprache, so würde er sich schwerlich über eine thierische Einsamkeit erheben, höchstens nur bis zur Geselligkeit der Thiere emporschwingen. Er würde nach den Gesetzen eines sinnlichen Triebes, sich zur Fortpflanzung oder Nahrung vereinigen; oder [...] instinktmäßig wie Ameise und Biber, in stumme Horden durch das Bedürfniß getrieben, zusammentreten.“ (Bernhardi 1801, 4.)
Das wahre Menschsein, die Entfaltung seiner Wesensanlagen, ist nämlich dem Menschen nur in der Gemeinschaft mit seinesgleichen möglich, da „die Bildung des Einzelnen, [...] nur durch die Bildung des Ganzen entsteht“ (ebd., 4 f.). Das Einzelwesen Mensch hat als solches zwar Vernunft, kann sie aber ohne Sprache – sprachlichbegriffliche Fassung ebenso wie sprachliche Interaktion – nicht entwickeln: „[D]er Einzelne in sich zurückgedrängte würde keine Vernunft zu besitzen scheinen, weil alles nur in sofern ist, als es sich äussern und an etwas Fremdartigen sich sichtbar machen kann. Die äußern Dinge würden den Menschen nur sinnlich berühren, nicht sich mit ihm innig vereinigen, und sein Leben würde mehr aus Empfindungen, als aus Gedanken bestehen. [...] [M]it der Gabe der Sprache wird freilich nicht die Vernunft erschaffen, sie erhält aber Spielraum, die Scheidewand stürzt ein, der Mensch wird die Welt, schaft den Staat, die Moralität, die Kunst, alles leichte Ableitungen aus der ewigen Urkraft, welche in unserm Geschlechte lebt, aus demselben leuchtet und erschaft, indem sie sichtbar macht.“ (Ebd., 5.)
Diese kommunikationsorientierte Fassung eines sprachlich-kognitiven Idealismus ist spezifisch für die romantische Sprachreflexion. Hatte Herder noch die „sprecherzentrierte Funktion“ der Sprache betont (Gardt 1995, 157 ff., insbes. 160), so steht für die Romantik außer Frage, dass die kognitive und die kommunikative Funktion der Sprache gleichursprünglich sind. A. W. Schlegel mag hier insofern als Ausnahme erscheinen, als sich bei ihm gleichfalls Äußerungen finden, die sich im Sinne eines Primats der sprecherzentrierten Funktion der Sprache deuten lassen: „Das Bedürfnis der Sprache als Gedanken-Organs, als eines Mittels, selbst zur Besinnung zu gelangen, geht in der philosophischen Ordnung dem Bedürfnisse der geselligen Mittheilung nothwendig vorher“ (A. W, Schlegel 1801/02, 399); der Mensch spricht „zunächst mit sich selbst“ und muss „auch, wenn er sich andern mitzutheilen strebt, die Wirkung seiner Sprache zuerst an
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sich selbst erproben“ (ebd.). Allerdings ist auch für diesen Autor die Kommunikationsfunktion der Sprache zentral; auf die Frage „Was heißt sprechen?“ antwortet er: „Seine Gedanken durch Worte mittheilen“ (A. W. Schlegel 1803/04b, 286; Kursivierung von mir, jab). Es sind gleichwohl weit mehr sein jüngerer Bruder Friedrich, Schleiermacher und Novalis, auch Ludwig Tieck, Clemens Brentano, Sophie Mereau und einige andere, bei denen sich die besondere Betonung der kommunikativen Relevanz findet (vgl. das Folgende). 2.2. Dass die Sprache als ursprünglich poetisch gedacht wird, als unter der Vorherrschaft der Phantasie stehend und damit als welt- bzw. realitätskonstitutiv, ist nach romantischer Auffassung gleichbedeutend mit einer besonderen Affinität der Sprache zur Dichtung. Die ursprüngliche Poetizität wird als Klang- und Metaphernreichtum verstanden. A. W. Schlegel (1795, 70) leitet die Beschaffenheit der ursprünglichen Sprache aus einem natürlichen Bedürfnis des Menschen nach gleichförmiger, gegliederter Bewegung sowohl des Körpers im Ganzen (Tanz) als auch der lautlichen Äußerung insbesondere (Rhythmus) ab. Im Urzustand lasse sich der Mensch „von natürlichen Trieben [...] unumschränkt beherrschen“. Eben deshalb bedarf er der Möglichkeit des Ausdrucks: „Sey es nun Freude oder Betrübniß, was sich seiner bemächtigt, so würden die aufgeregten Lebensgeister ihre Gewalt nach innen wenden, und seine ganze Zusammensetzung zerrütten, wenn er ihnen nicht durch den heftigsten Ausdruck in Worten, Ausrufungen und Gebährden Luft machte. Er folgt der Anfoderung eines so dringenden Bedürfnisses; durch jede äußre Verkündigung der Leidenschaft fühlt er sich eines Theils ihrer Bürde entledigt, und hält daher instinktmäßig Stunden, ja tagelang mit Jauchzen oder Wehklagen an, bis sich der Aufruhr in seinem Innern allmählig gelegt hat.“ (Ebd., 70 f.)
Da er den Ausdruck in diesem Zustand herrschender Leidenschaft allerdings nicht unter besonnener Kontrolle hat, läuft er Gefahr, sich durch die Äußerung von Schmerz oder Freude vollständig zu verausgaben und physisch zu schädigen: „[I]hr sinnloser Taumel kann [...] bis zu einer erschöpfenden Verschwendung der unaufhaltsam überströmenden Lebensfülle gehen. Selbst Jubeln und Springen, so ausgelassen und anhaltend, wie es der wilde Natursohn treibt, wird zu einer Art von Arbeit. Dennoch, wie ermüdet auch der Körper sich fühlen möge, reißt ihn die Seele mit sich fort, und gönnt ihm keine Ruhe.“ (Ebd., 71.)
Um eben dieser Gefahr zu begegnen, entwickelt der „wilde Natursohn“ instinktiv eine Neigung zum Rhythmus: „So leitete den Menschen dann der Instinkt, oder, wenn man lieber will, eine dunkle Wahrnehmung auf das Mittel, sich dem berauschendsten Genusse ohne abmattende Anstrengung lange und ununterbrochen hingeben zu können. Unvermerkt gewöhnten sich die Füße nach einem Zeitmaaße zu hüpfen, wie es ihnen etwa der rasche Umlauf des Bluts, die Schläge des hüpfenden Herzens angaben; nach einem natürlichen Gesetze der Organisazion mußten sich die übrigen Gebährden, auch die Bewegungen der Stimme in ihrem Gange darnach richten;
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und durch diese ungesuchte Uebereinstimmung kam Takt in den wilden Jubelgesang, der anfangs vielleicht nur aus wenigen oft wiederholten Ausrufungen bestand.“ (Ebd., 71 f.)
Dass die Sprache neben einer ursprünglichen Tendenz zur Rhythmisierung, in der die Wurzel des Gesangs ebenso wie des Silbenmaßes zu sehen ist, eine ebenso ursprüngliche Tendenz zur Bildlichkeit aufweist, lässt sich bereits bei Herder finden. Dieser nimmt an, der Mensch habe im Naturzustand alles Erlebte nur in unmittelbarer Beziehung auf ihn selbst, den Erlebenden aufgefasst: „Indem der Mensch [...] alles auf sich bezog: indem alles mit ihm zu sprechen schien und würklich für oder gegen ihn handelte: indem er also mit oder dagegen Theil nahm, liebte oder haßte und sich alles Menschlich vorstellte; alle diese Spuren der Menschlichkeit drückten sich auch in die ersten $amen! Auch sie sprachen Liebe oder Haß, Fluch oder Segen, Sanftes oder Widrigkeit, und insonderheit wurden aus diesem Gefühl in so vielen Sprachen die Artikel! Da wurde Alles Menschlich, zu Weib und Mann personificirt: überall Götter, Göttinnen, handelnde, bösartige oder gute Wesen! Der brausende Sturm, und der süße Zephyr, die klare Waßerquelle und der mächtige Ocean – ihre ganze Mythologie liegt in den Fundgruben [...] der alten Sprachen, und das älteste Wörterbuch war so ein tönendes Pantheon, ein Versammlungssaal beider Geschlechter, als den Sinnen des ersten Erfinders die Natur.“ (Herder 1772, 53 f.)
Auch die Romantiker sind der Auffassung, dass sich durch die gesamte Sprache ein weit gespanntes Netz von Vergleichen und Metaphern zieht: „Da der erste Mensch, ehe er noch den Grund von irgend einer äußern Bewegung oder Veränderung, voraus einsehen kann, den Grund seiner eignen Bewegung in sich fühlt, so stellt er sich alle Veränderungen unter dem Bilde seiner eignen Bewegung vor, d. h. als Handlung. Seine Sprache ist also auch in dem Sinne poetisch, daß alles belebt und handelnd dargestellt wird; er kennt sich nur als ein wirkendes und wollendes Wesen und macht alle Bewegungen und Veränderungen zu Handlungen; alle Veränderungen in der Natur vermenschlicht er, betrachtet sie als Handlungen, die er gewissen Vernunftwesen beilegt.“ (A. W. Schlegel 1798/99, 8 f.)
Die Analogien, die der Mensch zwischen der Außenwelt und seiner eigenen Befindlichkeit setzt, prägen die Sprache nicht nur im Wortschatz, sondern auf allen Ebenen: „So in der Grammatik die Person bei den Verbis, ich, du usw., die Geschlechter der Nennwörter usw. Es liegt dabei eine Analogie der Wirkungsart zugrunde, indem das weibliche Geschlecht mehr leidend, empfangend als wirkend vorgestellt wird. [...] Der umbildende Mensch modelt alles nach sich.“ (Ebd., 9.)
Ausgehend von diesen Anfängen setzt dann auch jede „Erweiterung der Sprache [...] eine ununterbrochene Kette von Vergleichungen voraus“ (ebd.). Die erste Metapher in dieser Kette ist die Übertragung des Ausdrucks für akustisch Wahrnehmbares auf Wahrnehmungen, die durch andere Sinnesorgane vermittelt werden. Da sprachliche Zeichen primär „Tonzeichen“ sind, haben sie eine „unmittelbare und eigentliche Ähnlichkeit [...] nur mit dem Hörbaren“ (A. W. Schlegel 1801/02, 400). Um etwas zu bezeichnen, das gesehen, gerochen, gefühlt oder geschmeckt werden kann, muss dieses ins Hörbare umgedeutet werden. Die Analogie bei dieser „umbildenden Darstellung“ besteht dann entweder zwischen der empfundenen Ähnlichkeit unterschiedlicher Sin-
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neseindrücke – als kräftig oder leuchtend wahrgenommene Farben oder Berührungen werden beispielsweise durch aggressiv anmutende Laute bezeichnet (A. W. Schlegel 1801/02, 401) –, oder aber die Ähnlichkeit „liegt in der Handlung oder Bewegung der Sprechorgane mit der dem Gegenstande zugeschriebenen (ebd.), so das beispielsweise der Laut [l] in „Verbindung [...] mit einem andern Consonanten“ für „leichte Bewegung“ steht (ebd.). Als Beispiele werden fließen und gleiten genannt (ebd.) und ebenso das griechische γλωσσα (›Zunge‹), das „die leichte, schlüpfrige Bewegung der Zunge anzudeuten“ scheint (A. W. Schlegel, 1798/99, 9).2 Weiterhin und insbesondere aber wird durch die Metapher der Übergang vom Endlichen, Realen oder Sinnlichen zum Unendlichen, Idealen oder Geistigen vollzogen. Die Sprache verhilft dadurch „dem gestaltlosen Innern zur Erscheinung im Äußern, somit versinnlicht sie das Unsinnliche“ und „erweist [...] sich als Mittlerin zwischen der Welt des Geistes und der der Sinnlichkeit“ (Kainz 1937, 118). 2.3. Allerdings bleibt die ursprünglich-poetische Sprache nach romantischer Auffassung, je weiter sie sich von ihrem Ursprung bzw. ihrer Ursprünglichkeit entfernt, nicht poetisch, und das hat damit zu tun, dass sie nach dieser Auffassung von der ursprünglichen Fassung sinnlicher Eindrücke immer stärker zur reinen Begrifflichkeit tendiert, d. h. zu einem Werkzeug des Verstandes wird. Der Ursprache selbst schreibt A. W. Schlegel „etwas Gesang-ähnliches“ zu, womit er meint, sie sei „sonor und stark accentuirt“ (1801/02, 400), also im oben erläuterten Sinne rhythmisiert, gewesen. Im Laufe ihrer historischen Entwicklung schleift sie sich aber immer mehr ab; aus ursprünglicher Poesie wird Prosa (wobei klar ist, dass das Wort Prosa hier in einem ähnlich weiten und von seiner heutigen Bedeutung verschiedenen Sinne verstanden wird wie zuvor das Wort Poesie). Das Prosaische kommt dadurch in die Sprache, dass sich, so Schlegel (1801/02, 403), „der Verstand der Zeichen bemächtigt, welche die Einbildungskraft ursprünglich geschaffen hat“. Die Symbolik in der Sprache, das Produkt der Phantasie, muss „den strengeren aber todten Bestimmungen des Verstandes weichen“ (ebd., 404). So wird Sprache „im Fortgange der Cultur“ von einer „Einheit lebendiger Bezeichnung“ zu einer „Sammlung willkührlicher conventioneller Zeichen“. Am weitesten geht dies in der wissenschaftlichen Sprache, die „vom beseelten Hauch zur algebraischen Chiffer herabsinkt“ (ebd.). Es wäre allerdings nicht gerechtfertigt, Schlegel aufgrund solcher Aussagen einen unreflektierten Kulturpessimismus zu unterstellen. Die ursprüngliche Poetizität wirkt 2
Wie die Beispiele erkennen lassen, nimmt Schlegel hier keine einzelsprachspezifische, sondern eine sprachuniversalistische Perspektive ein. Nicht Phoneme als bedeutungsdistinktive Lautzeichen einer bestimmten Sprache wie Deutsch oder Altgriechisch stehen in Rede, sondern Phone als Phänomene menschlicher Sprache überhaupt. Die Perspektive ist typisch für die frühe Romantik: Bis ins zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hinein erscheint romantische Beschäftigung mit Sprache mehr als Philosophie denn als Philologie.
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seiner Meinung nach immer gewissermaßen als ‚Gegenkraft‘ der Prosa, so dass er eine Repoetisierung der Sprache für möglich hält. Selbst in der prosaischsten Sprache findet sich noch poetisches Grundmaterial: „Begreift man denn nicht, daß, da die Poesie ursprünglich in der Sprache daheim ist, diese nie so gänzlich depoesirt werden kann, daß sich nicht überall in ihr eine Menge zerstreute poetische Elemente finden sollten, auch bey dem willkührlichsten und kältesten Verstandesgebrauch der Sprachzeichen, wieviel mehr im gemeinen Leben, in der raschen, unmittelbaren oft leidenschaftlichen Sprache des Umgangs. Viele Wendungen, Redensarten, Bilder und Gleichnisse, die, sogar im plebejesten Tone, vorkommen, sind unverändert auch für die würdige und ernsthafte Poesie brauchbar; und unstreitig ließe sich bey einem Gezänk von Hökerweibern die Lebhaftigkeit der Vorstellungen eben so gut als Prinzip demonstriren, wie bey jenen ausgehobnen Dichterstellen“ (A. W. Schlegel 1801/02, 389).
Will man Schlegels Vorstellung vom historischen Werdegang der Sprache auf den Punkt bringen, so besteht sie in einem gleichsam dialektischen Dreischritt: Ursprüngliche Poesie – Prosa (für ihn der aktuelle Stand) – Neue Poesie. Im Sinne der Dialektik soll allerdings im angestrebten Endzustand nicht der Ausgangszustand als solcher wiederhergestellt, sondern der Sprache durch eine Synthesis von ursprünglicher Poetizität und Prosa eine neue Qualität gegeben werden.3 Auf den Punkt gebracht ist das Konzept der Repoetisierung in einer Notiz von Novalis, der diesbezüglich ganz ähnliche Auffassungen vertritt wie Schlegel: „Unsre Sprache war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so prosaisirt – so enttönt. [...] Sie muß wieder Gesang werden“ (Novalis 1798a, 283 f.). Derselbe Gedanke findet sich bei Hölderlin (vgl. Bär 1999a, 330 f.) und auch bei August Ferdinand Bernhardi: „Der Mensch ist [...] in allem seinem Thun und Treiben nichts als eine Kraft, welche, nur mit Verschiedenheit der äußern Bedingungen, ewig in sich zurückkehrt. [...] Im Physischen hat man dies längst eingesehn, und das Alter oft eine zweite Kindheit genannt. [...] was ist Weisheit anders, als die wiederhergestellte, durch Freiheit und innere Kraft gewonnene Unschuld der Kindheit? Dieser Cyklus, welcher aus der innersten Natur des Menschen erklärbar ist [...], muß sich ebenfals in der Sprache vorfinden. Denn sie ist Allegorie des Menschen und seiner Natur, eine sinnliche Konstruktion seines Wesens, und den Gesetzen desselben, eben so gut wie eine jede andere Aeußerung, unterworfen. Und so müßte demnach [...] die gebildeteste Sprache, eben in dem höchsten Punkte ihrer Bildung und um desselben willen, freier und schöner zu ihrem Ursprunge zurücklaufen“. (Bernhardi 1801, 68 f.)
2.4. Das harmonische Zusammenwirken der menschlichen Seelenkräfte, aus dem A. W. Schlegel (1801/02, 388) zufolge die Sprache hervorgeht, findet sein Ende in dem Augenblick, in dem eine dieser Kräfte – für Schlegel, wie erläutert, der Verstand – die Vormacht im Ensemble anstrebt und tatsächlich gewinnt.
3
Das Anliegen ist am angemessensten vielleicht als „rückwärtig orientierte Progression“ zu fassen (vgl. Bär 1999a, 49 u. ö.).
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Repoetisierung heißt demzufolge nichts anderes, als der Sprache wieder zu sinnlicher Qualität zu verhelfen. Die konkreten Vorschläge, die Schlegel hierzu unterbreitet, nehmen vor allem in den Blick: den Bereich der Symbolik und Tropik, die Frage nach einem spezifischen Inventar der poetischen Diktion im Wortschatz (ausdrücklich behandelt werden Archaismen, Neologismen und Provinzialismen) wie in der Grammatik (ausdrücklich behandelt werden Flexion, Wortbildung und Satzstellung), die Theorie des Wohlklangs (insbesondere Reim und Silbenmaß), die Verwendung von Epitheta und die (Re)motivierung arbiträrer sprachlicher Zeichen durch Rückbesinnung auf etymologische Zusammenhänge (vgl. Bär 1999a, 119–139). Ziel der in sich durchaus divergenten Überlegungen ist neben der Stärkung der sinnlichen Qualitäten der Sprache zugleich eine Elitarisierung des Sprachgebrauchs, da Schlegel als prosaisch auch das allgemein Übliche ansieht. Die intensive gedankliche Beschäftigung mit den Fragen der Repoetisierung zeigt deutlich, wie wichtig dieser Aspekt aus romantischer Sicht ist. Das Gewicht, das darauf gelegt wird, kann jedoch nur verständlich werden, wenn man im romantischen Sinne die Sprache als conditio humana begreift: Sie ist dasjenige, wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt, und als solches ist sie Poesie in dem erläuterten umfassenden Verständnis, das mit der heutigen Bedeutung des Wortes nicht viel gemein hat.
3. Sprachskepsis Im Jahre 1801 beginnt August Wilhelm Schlegel, dessen eigene Ehe in Jena längst zerrüttet ist, in Berlin eine Liaison mit Sophie Tieck-Bernhardi, der Schwester seines Freundes und literarischen Mitstreiters Ludwig Tieck und Frau des ebenfalls dem Frühromantikerkreis nahestehenden Sprachtheoretikers und Kunstkritikers August Ferdinand Bernhardi. Da niemand, insbesondere nicht der Ehemann, davon erfahren soll, müssen alle Liebesbriefe heimlich ausgetauscht werden. Schlegel versucht dabei – für den Fall, dass doch einmal ein Brief in falsche Hände geraten sollte – kompromittierende Äußerungen und Bekenntnisse möglichst zu vermeiden, was ihm jedoch die exaltierte Sophie Bernhardi als Gefühlskälte auslegt und zum Vorwurf macht. Schlegel ist darüber verärgert: „Ich stellte mir vor, mein Eifer, die Rückkehr zu veranstalten, kaum da ich von der Reise hier zur Ruhe gekommen war, würde hinreichen, Dir die wahre Überzeugung von meinen Gesinnungen zu erhalten, und statt alles Schreibens gelten können. Aber so seyd ihr, immer mehr auf Reden als auf Handlungen zu geben.“ (In: Körner 1936, 17 f.)
Die Briefpartnerin will sich jedoch auf Klischees dieser Art nicht reduzieren lassen, sondern will intellektuell ernst genommen werden: „Du hast mich [...] mit Deinem so seid ihr immer unter die Rubrik von Weibern bringen wollen und ich kan nicht läugnen
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daß Du mir mit diesem Bemühen recht wie ein Mann vorgekommen bist“ (ebd., 23).4 Ihre Aussagen seien sprachtheoretisch reflektiert zu verstehen: „Freilich bin ich so albern daß ich weit mehr auf Worte als auf Handlungen gebe. Ich läugne es nicht und da es uns einmal nicht möglich ist etwas anders als auß unserm Innern herauß zu betrachten so läßt sich dies sehr leicht erklären da ich mit meinen Handlungen eben weil ich sie als Äusserligkeit betrachte weit freigebiger bin als mit meinen guten Worten die ich als eine Äusserung meines Gemüths betrachte und nur gegen sehr wenige verbrauche.“ (Ebd.)
Die sprachliche Äußerung ist aufgrund ihrer Möglichkeit, das Innere zu offenbaren, prinzipiell problematisch, denn sie offenbart eben damit zugleich die Verschiedenheit der Menschen, die Unmöglichkeit, einem anderen im innersten Wesen zu entsprechen. „Vergeblich ist es, zu wünschen, daß der Freund, den wir lieben, uns ganz in unserer eigensten Eigentümlichkeit verstehen möchte; wir wünschen es auch im Grunde nicht, sondern immer möchten wir nur die Falten unsers Herzens vor ihm auseinander schlagen, wo wir die Verwandschaft zu ihm fühlen. Das was unsere Scheidung von allen andern Wesen ausmacht, wodurch wir auch von dem geliebtesten Freunde abgesondert und einzeln stehen, suchen wir sorgfältig zu verhüllen, damit er sich nicht vor dem fremden Wesen entsetzen möge – und wäre es einem Menschen möglich, die innerste Eigenthümlichkeit seines geliebtesten Freundes aufzufassen und auszusprechen, so würde den Freund ein Schauder wie vor einem Zauberer ergreifen, der die Gewalt hätte, den Geist aus unsern Körpern zu ziehen und ihn uns selbst anschaulich hinzustellen, und wir würden auf immer entfremdet von ihm zurücktreten.“ (TieckBernhardi 1800, 210.)
Gemeinschaft kann allerdings, wenngleich nicht einseitig gestiftet werden, so doch zwischen Menschen, die einander nahestehen, sich augenblicksweise ereignen. Das ist der Grund für das Aufsparen der persönlichen, Zugang zum eigenen Inneren gewährenden Worte für wenige, ausgewählte Menschen, bei denen auf eine besondere Kompetenz und Bereitschaft zur angemessenen Deutung vertraut wird. Der bei Sophie Bernhardi zum Ausdruck kommende Zweifel an den Möglichkeiten der Sprache und des Verstehens ist in der deutschen Romantik weit verbreitet. Eine Verständigung ist nach dieser Auffassung, die in der Regel von problematischen Existenzen ausgeht, nur dort einigermaßen problemlos möglich, wo es um Unwesentliches, Unpersönliches geht. „Man spricht wohl gerne, man plaudert, wie die Vögel, so lange die Welt, wie Mailuft, einen anweht; aber zwischen Mittag und Abend kann es anders werden, und was ist verloren am En4
Die Auseinandersetzung erscheint nicht nur auf den ersten Blick als ein früher Genderkonflikt. In der Tat kann Sophie Tieck-Bernhardi, die als Autorin unter anderem von Romanen und Versepik hervorgetreten ist und im Gegensatz zu ihren Brüdern Ludwig Tieck und Friedrich Tieck, dem Bildhauer, zu Unrecht bis heute kaum bekannt ist, durchaus als Paradebeispiel einer um Emanzipation bemühten Frau gelten: Gegen erhebliche gesellschaftliche Widerstände, nach ihrer Trennung von A. F. Bernhardi von diesem gerichtlich verfolgt, kämpfte sie um intellektuelle, sexuelle und wirtschaftliche Eigenständigkeit. August Wilhelm Schlegel, mit dem sie lediglich eine kurze Affäre hatte, blieb ihr lange Jahre freundschaftlich verbunden und unterstützte sie finanziell in erheblichem Umfang (wohl nicht zuletzt, weil er sich fälschlich für den Vater ihres jüngsten Sohnes hielt).
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de? [...] [D]ie Sprache ist ein großer Überfluß. Das Beste bleibt doch immer für sich und ruht in seiner Tiefe, wie die Perle im Grunde des Meers.“ (Hölderlin 1799, 118.)
Das „Beste“ sind nicht die rational erfassbaren Dinge, sondern die immer unscharf und daher auch sprachlich nicht mit letzter Bestimmtheit auszudrückenden Empfindungen. Die Möglichkeiten einer Äußerung des Inneren, einer Mitteilung dessen, was den Menschen emotional bestimmt, sind überaus beschränkt: „Der Mensch ist sehr arm [...]; denn wenn er auch einen recht kostbaren Schatz im Busen trägt, so muß er ihn wie ein Geiziger verschließen, und kann seinem Freunde nichts davon mittheilen oder zeigen. Thränen, Seufzer, ein Händedruck sind dann unsre ganze Sprache.“ (Tieck 1797 [1796], 70.) Dies gilt auch und insbesondere – hier wird die Kunstkritik selbstkritisch – für das Sprechen über Kunstwerke, bei denen, der Genietheorie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zufolge, immer eine unbestimmbare Komponente, ein Je ne sais quoi5 im Spiel ist: „[D]er Eindruck ist nur ein Schatte von dem Gemählde oder der Statue; und wie unvollkommen bezeichnen wieder Worte den Eindruck! Das Rechte kann man gar nicht nennen.“ (A. W. Schlegel 1799, 47.) Aus romantischer Sicht steht die Sprache zwischen emotionaler und rationaler Sphäre, zwischen Empfindung und Begriff6 in der Mitte. Sobald es vorrangig um die Darstellung von Empfindungen geht, erscheint daher die Wortsprache, die sich von ihrer begrifflich-rationale Prägung nicht befreien kann, als wenig geeignetes Medium: „Die Empfindung inhäriert [...] in der Sprache immer der Bezeichnung der Begriffe. Die Sprache kann daher auch nur indirekt zum Ausdruck der Empfindungen dienen, sie ist gegen die unendlichen Nuanzen der Empfindung erstaunlich arm.“ (A. W. Schlegel 1798/99, 72.) Daher ist Sprache auch und insbesondere als Kommunikationsmittel zwischen Liebenden kaum brauchbar. „Wir sprachen sehr wenig zusammen“, berichtet Hyperion über seinen Umgang mit Diotima: „Man schämt sich seiner Sprache. Zum Tone möchte man werden und sich vereinen in Einen Himmelsgesang.“ (Hölderlin 1797, 53.) Dieser Gedanke: den Ausdruck des „geheimnißvollen Strome[s] in den „Tiefen des menschlichen Gemüthes“ (Wackenroder 1799, 220), für den die Wortsprache als Organon des Verstandes nur unzureichend geeignet ist, der Musik als einer „reichere[n] Sprache“ zu überlassen (ebd., 219), ist ein Topos der romantischen Theorie. Die Musik ist Darstellung des Un- oder Halbbewussten für das Un- oder Halbbewusste; sie ist Medium einer im Sinne des Rationalismus undeutlichen Erkenntnis, gerade dadurch aber – indem sie die „Tiefen des menschlichen Gemüthes“ anzusprechen vermag (Wackenroder 1799, 220) – die „reichere Sprache“ (ebd., 219). „Sie greift beherzt in die geheimnißvolle Harfe, schlägt in der dunklen Welt bestimmte, dunkle Wunderzeichen in bestimmter Folge an, – und die Saiten unsres Herzens erklingen, und wir verstehen ihren Klang. 5
6
Zur langen und komplexen Begriffsgeschichte des Je ne sais quoi vgl. die ausführliche Darstellung bei Köhler (1984). Vgl. auch Mereau (1800, 138): „Warum uns so wenig ergreift? Weil der Begriffe so viele; | denn es begeistert nur das, was unbegreiflich uns bleibt.“
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In dem Spiegel der Töne lernt das menschliche Herz sich selber kennen; sie sind es, wodurch wir das Gefühl fühlen lernen; sie geben vielen in verborgenen Winkeln des Gemüths träumenden Geistern, lebendes Bewußtseyn, und bereichern mit ganz neuen zauberischen Geistern des Gefühls unser Inneres.“ (Ebd., 220.)
Die Rückführung der Sprache in einen Zustand, in dem sie nicht vorrangig vom Verstand beherrscht ist, soll unter anderem durch eine Remotivierung der sprachlichen Zeichen erreicht werden (vgl. oben, 2.4). Vorbildhaft für ein solches Sprachverständnis ist ein ungebrochenes Verhältnis zum Wort und seiner Semantik, wie es naive Menschen haben. Selbst Gruß- und Abschiedsfloskeln erscheinen hier in einer ursprünglichen Bedeutung: „Annonciata ward durch die Rede ihres Vaters sehr gerührt, die letzten Worte nämlich, ‚gehe mit Gott, mein Kind‘, bewirkten ihr eine heftige Bewegung, denn in diesen selbstgebildeten Ausdrücken des Herzens, die wie die Wünsche: guten Morgen, guten Abend, die Frage: wie geht es? bey den meisten Menschen durch die Gewohnheit ganz bedeutungslos werden, lag für sie eine tiefe Bedeutung, und ich glaube dieses mit Recht für den Zug eines kindlichen und tiefen Gemüths halten zu dürfen, welches fromm an das Wort glaubt, und dem der Sinn nie verloren geht.“ (Brentano 1801, 411.)
Für die Frühromantiker selbst ist ein derart ungebrochenes Vertrauen auf das Wort freilich Wunschdenken. Selbst Autoren, die wie Sophie Bernhardi „weit mehr auf Worte als auf Handlungen gebe[n]“ (vgl. oben), stimmen immer wieder in die Klagen über die Unzulänglichkeit der Sprache ein.7 „Wozu Worte?“, heißt es apodiktisch bei ihrem Bruder Ludwig Tieck (1798, 981): „Wer versteht die Rede des andern?“
4. Verstehenslehre 4.1. Verstehen ist angesichts dieser Unzulänglichkeit eine mit jeder sprachlichen Äußerung untrennbar verbundene Aufgabe und Forderung. Es geht dabei nicht allein um zwischenmenschliche Kommunikation im alltäglichen Sinne, sondern auch (und für die Romantiker insbesondere) um die Deutung literarischer Texte. Die Aufgabe besteht dabei nicht darin, einen Autor „besser als er [sich] selbst“, sondern ihn „grade so gut wie er [sich] selbst“ zu verstehen (F. Schlegel 1798a, 123; vgl. auch Behler 1987a, 148 ff.) – auch wenn sich herausstellen sollte, dass der Autor sich selbst „gar nicht sonderlich verstanden“ hat (A. W. Schlegel 1802/03, 715). Die Interpretation darf daher auf keinen Fall gewaltsam erfolgen. Erst vor diesem Hintergrund wird die Rede von einer „Wuth des Verstehens“ (Schleiermacher 1799, 144) begreiflich. Die Romantiker machen eine solche „Wuth“ dort aus, wo „vermittelndes Verstehen-Wollen [...] an die Stelle von Gefühl, Anschauung und Abhängigkeit vom schlechterdings hermeneutisch uneinholbaren Sein des Sinns tritt“ (Hörisch 1987, 25). 7
Zu den sprachtheoretischen und -philosophischen Hintergründen und Implikationen dieser Position vgl. ausführlich Bär 2011.
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Wie eine ideale hermeneutische Leistung aus romantischer Sicht beschaffen ist, legt F. Schlegel am Beispiel des Goethe’schen Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre dar: Die Auslegungen sollen „keinesweges alles allen hell und klar machen [...]: sie dürften vielmehr eben dann vortrefflich genannt zu werden verdienen, wenn sie dem, der den [Wilhelm] Meister ganz versteht, durchaus bekannt, und dem, der ihn gar nicht versteht, so gemein und leer, wie das, was sie erläutern wollen, selbst vorkämen; dem hingegen, welcher das Werk halb versteht, auch nur halb verstän[d]lich wären, ihn über einiges aufklärten, über anders aber vielleicht noch tiefer verwirrten“ (F. Schlegel 1798b, 162).
Die romantische Hermeneutik ist mit Grund als „Antihermeneutik“ bezeichnet worden (Hörisch 1987; ders. 1988, 50 ff.). Damit ist nicht gesagt, dass die Romantiker die Möglichkeit des Verstehens prinzipiell geleugnet hätten, sondern nur, dass sie die Möglichleit des Nichtverstehens anerkannt und reflektierend in den Blick genommen haben. Antihermeneutische Entwürfe sind nicht ahermeneutisch, sondern Gegenentwürfe zur herkömmlichen Hermeneutik (vgl. Behler 1987a, 146). Als Kernsatz eines derartigen Konzepts kann die Aussage gelten, dass man „sehr viel Verstand haben [muß], um manches nicht zu verstehen“ (F. Schlegel 1796/98, 114). 4.2. Für eine Deutungsleistung im Sinne der Romantik wird ein Leser vorausgesetzt, der mit dem Autor bzw. dem Text in einen Dialog zu treten bereit und imstande ist, der „entgegenkommt, ergänzt, aufs halbe Wort versteht“ (A. W. Schlegel 1803/04a, 108) und auf diese Weise „durch Selbstthätigkeit seiner Fantasie“ (A. W. Schlegel 1802/03, 719) aktiven Anteil an der Sinnstiftung und (bei poetischen Texten) an der Konstitution überhaupt des literarischen Kunstwerks nimmt (vgl. auch Huyssen 1969, 63 f.). Ein solchermaßen tätiger Leser setzt aber wiederum einen Autor voraus, der eine produktive Rezeption fordert und fördert und bereit ist, den Leser als Teilnehmer eines hermeneutischen Dialogs zu akzeptieren und ernstzunehmen: „Der analytische Schriftsteller beobachtet den Leser, wie er ist; danach macht er seinen Calcül, legt seine Machinen an, um den gehörigen Effekt auf ihn zu machen. Der synthetische Schriftsteller konstruirt und schafft sich einen Leser, wie er seyn soll; er denkt sich denselben nicht ruhend und todt, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn es selbst zu erfinden. Er will keine bestimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältniß der innigsten Symphilosophie oder Sympoesie.“ (F. Schlegel 1797a, 162 f.)
Vorbilder für die Konzeption eines solchermaßen synthetischen Autors, der an die Einbildungskraft seiner Leser appelliert und sie zur Mitarbeit nötigt, sind u. a. Petrarca (A. W. Schlegel 1803/04a, 157 f.) und Goethe (A. W. Schlegel 1809/11b, 416 f.). Das Ideal eines klassischen Werkes besteht eben darin, dass man es immer wieder lesen kann bzw. sollte, weil man niemals damit zu Ende kommt, mit anderen Worten: weil man ihn niemals völlig versteht bzw. interpretativ erschöpft (F. Schlegel 1797a, 136; ders. 1797d,
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79; ders. 1798a, 124; ders. 1804, 53): weil „jedes vortreffliche Werk [...] mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß“ (ders. 1798b, 168 f.). Vor allem eine Eigenschaft muss der ideale Autor aufweisen, um keine „bestimmte Wirkung“ auf den Leser zu machen: Er darf seine Aussagen nicht auf eine einzige Interpretationsmöglichkeit reduzieren lassen. Der Sinn eines Textes darf nicht ein einziger sein, den der Autor vorgibt, sondern muss in einer Pluralität von Möglichkeiten bestehen. Es geht den Romantikern dabei nicht um tatsächliche Unverständlichkeit, sondern um Viel-, idealiter um Alldeutigkeit; die apotheotisch anmutende Rede von der „Unverständlichkeit“ (F Schlegel 1800b, passim) ist als ironisch-perspektivische Redeweise zu interpretieren. Nicht nur auf eine Weise, sondern von mehreren Seiten gleichermaßen deutbar zu sein ist somit etwas, das einen Autor besonders auszeichnet. Gelingt es ihm, so ruft er eine Vielfalt von Meinungen hervor und schafft neue Möglichkeiten des hermeneutischen Dialogs, auf den letztlich alles ankommt. 4.3. Dass die Vieldeutigkeit seiner Texte beim „Leser, wie er ist“ (F. Schlegel 1797a, 163) nicht auf Gegenliebe stößt, ist für den sich selbst als ideal empfindenden Autor lediglich ein Beweis für die Richtigkeit der Vermutung, „der Grund der Unverständlichkeit liege im Unverstand“ (ders. 1800b, 363) – in dem des Lesers. Er fasst den Entschluss, sich „mit dem Leser in ein Gespräch über diese Materie zu versetzen, und vor seinen eignen Augen, gleichsam ihm ins Gesicht, einen andern neuen Leser [...] zu construiren, ja [...] sogar zu deduciren“ (ebd.). Die Vision des idealen Lesers ist Teil des großangelegten romantischen Geschichtsprojektes einer ins Unendliche hin unabgeschlossenen Vervollkommnung des Menschen. Ziel der Romantik ist dabei eine Ausbildung des modernen Menschen nach dem Vorbild der (vor allem in ästhetischer, jedoch auch in moralischer Hinsicht) für exemplarisch gehaltenen klassischen Antike. Die dadurch in Aussicht genommene neue Qualität der Moderne, als deren Wegbereiter sich die Romantiker verstehen, wird als so bedeutend empfunden, dass in diesem Zusammenhang die Rede von einer anbrechenden „neue[n] Zeit“ ist (ebd., 370). Der Gedanke der unendlichen Vervollkommnung ist ganz und gar aufklärerisch; in der Tat ist ja die Romantik – zumindest in ihren Anfängen – weithin eine Fortsetzung der Aufklärung mit anderen Mitteln (vgl. Bär 1999a, 24 f.). Nicht von ungefähr wird der erwartete und angekündigte Anbruch der neuen Zeit in Anlehnung an aufklärerische Lichtmetaphorik mit dem Bild der „Morgenröthe“ beschrieben (F. Schlegel 1800b, 370; ders. 1800c, 272). In seinem Aufsatz Ueber die Unverständlichkeit stilisiert Friedrich Schlegel das bevorstehende 19. Jahrhundert zu einer Epoche des Verstandes. Wo aber dieser ist, kann das Verstehen nicht fehlen, und so beschwört Schlegel eine Zeit, in der die ihm und seinen literarischen und philosophischen Freunden vorgeworfene Unverständlichkeit nicht mehr als solche empfunden wird: „Dann nimmt das neunzehnte Jahrhundert in der That seinen Anfang, und dann wird auch jenes kleine Räthsel von der Unverständlichkeit des Athenaeums gelöst sein. [...] Dann wird es
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Leser geben die lesen können. Im neunzehnten Jahrhundert wird jeder die Fragmente mit vielem Behagen und Vergnügen in den Verdauungsstunden genießen können, und auch zu den härtesten unverdaulichsten keinen Nußknacker bedürfen. Im neunzehnten Jahrhundert wird jeder Mensch, jeder Leser die Lucinde unschuldig, die Genoveva protestantisch und die didaktischen Elegien von A. W. Schlegel fast gar zu leicht und durchsichtig finden.“ (F. Schlegel 1800b, 370 f.)
Die Rede vom 19. Jahrhundert ist freilich nicht wörtlich, sondern symbolisch zu nehmen. Dass er nicht ernsthaft damit rechnet, im Jahr nach der Veröffentlichung seines Aufsatzes ein Zeitalter des Verstandes und des Verstehens anbrechen zu sehen, sagt Schlegel selbst. Der beschwörende Unterton lässt allerdings erkennen, dass er die Hoffnung nicht aufgeben will: „Ich [...] erkläre [...], alles sey nur noch Tendenz, das Zeitalter sey das Zeitalter der Tendenzen. Ob ich nun der Meynung sey, alle diese Tendenzen würden durch mich selbst in Richtigkeit und zum Beschluß gebracht werden, oder vielleicht durch meinen Bruder oder durch Tieck, oder durch sonst einen von unsrer Faction, oder erst durch einen Sohn von uns, durch einen Enkel, einen Urenkel, einen Enkel im siebenundzwanzigsten Gliede, oder erst am jüngsten Tage, oder niemals; das bleibt der Weisheit des Lesers, für welche diese Frage recht eigentlich gehört, anheim gestellt.“ (Ebd., 367.)
Dass am ehesten der jüngste Tag in Frage kommt, ist zumindest für Friedrich Schleiermacher, den Theologen unter den Frühromantikern, offensichtlich. In einer erkennbar an 1. Kor. 13,12 angelehnten Eloge entwirft er die ersehnte Zukunft: „Möchte die Zeit kommen, die eine alte Weissagung so beschreibt, daß keiner bedürfen wird, daß man ihn lehre, weil alle von Gott gelehrt sind! [...] Jeder leuchtete dann in der Stille sich und den Andern, und die Mittheilung heiliger Gedanken und Gefühle bestände nur in dem leichten Spiele, die verschiedenen Strahlen dieses Lichts jetzt zu vereinigen, dann wieder zu brechen, jezt es zu zerstreuen, und dann wieder hie und da auf einzelne Gegenstände zu konzentriren. Das leiseste Wort würde verstanden, da jezt die deutlichsten Äußerungen der Misdeutung nicht entgehen. Man könnte gemeinschaftlich ins Innere des Heiligtums eindringen, da man sich jezt nur in den Vorhöfen mit den Elementen beschäftigen muß. Mit Freunden und Theilnehmern vollendete Ideen tauschen, wie viel erfreulicher ist dies, als mit kaum entworfenen Umrißen herausbrechen müßen in den leeren Raum!“ (Schleiermacher 1799, 13 f.)
4.4. Das romantische Verstehensbedürfnis bleibt eine unstillbare Sehnsucht. Sie ist ins Unendliche hin offen und tendiert damit dann zur Grenzenlosigkeit auch hinsichtlich ihres Gegenstandes. Nicht allein in der zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern in einer im wörtlichen Sinne universellen Kommunikation besteht das romantische Ideal. „Jedes Thier vernimmt die Stimme seines Geschlechts. Der Mensch die Stimmen aller“ (F. Schlegel 1795, 223). Die Möglichkeit des Menschen, sich in alles einzuhören, erstreckt sich darüber hinaus auch auf die Pflanzenwelt; auch sie hat, metaphorisch ausgedrückt, ihre Sprache, die der Mensch verstehen lernen kann: „Sind vielleicht Blüthen und Kräuter Worte? – Sprache, in der die Gefühle, der Geist der Erde, des Wassers sich deutlich machen? – Ist der Duft der Blumen, ihr Schmelz, wohl das Sehnen
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der Erde – die Begeistrung des Wassers, die in den offnen Kelchen Freiheit hat, aufzusteigen zur Sonne, zu dem was sie lieben? – Die dunkle Erde stößt aus dem Innersten ihre duftenden Seufzer auf aus den Kelchen ihrer Pflanzen, die aus ihrem Busen aufblühen, hinauf in die fessellose Freiheit? – Das Wasser das von seinen kräuselnden Wellen sich immer weiter treiben läßt, hier in der Blume Stengel, im Saft des Baumes gemischt mit allen Kräften der Natur, steigt, nimmt Gestalt an, wird zum Geist, zum Wort, das die Andacht seiner Triebe aushaucht.“ (B. v. Arnim 1840, 185 f.)
Dieser panhermeneutische Ansatz kann in seiner radikalsten Ausprägung bis hin zur Forderung nach Kommunikation selbst mit der unbelebten Natur gehen: „Wird nicht der Fels ein eigenthümliches Du, eben wenn ich ihn anrede?“ (Novalis 1798b, 100). Solche Allverständigung setzt voraus, dass alles Bedeutung hat und dass diese Bedeutung prinzipiell auch erschlossen werden kann. „Ich hab mit Bäumen und Sträuchern zu reden, hören sie meine Rede zu ihnen nicht mehr, so werden all sie meine Sprache wieder vergessen. – Oft am Fenster früh, wenn der kühle Wind von Osten her den Tag ankündigte, sah ich den Mond noch am Himmel mit dem Morgenstern sich unterhalten. Alles ist Mittheilung in der Natur, alles hat Flammenzungen, selbst der kalte Quell, in dem Du Dein Antlitz badest!“ (B. v. Arnim 1844, 398.)
Das verstehende Sicheinfühlen in die Natur ist nach romantischer Auffassung möglich durch Liebe, die Fähigkeit zur Allsympathie. Durch Liebe „versteht die Seele die Klage der Nachtigall und das Lächeln des Neugebornen, und was auf Blumen wie an Sternen sich in geheimer Bilderschrift bedeutsam offenbart, versteht sie; den heiligen Sinn des Lebens wie die schöne Sprache der Natur. Alle Dinge reden zu ihr und überall sieht sie den lieblichen Geist durch die zarte Hülle“ (F. Schlegel 1799, 82).
Eine anschauliche Zusammenstellung der gesamten Allsympathie-Topik präsentiert Sophie Mereau in ihrem Roman Das Blüthenalter der Empfindung: „Gleich einem rein gestimmten Instrument, das nur auf den Künstler wartet, welche Harmonien er darauf hervorrufen will, war mein Herz für jeden Eindruk empfänglich, von süßen Ahndungen beflügelt, und mit heitern Bildern erfüllt. Ich drükte die ganze Welt an meinen Busen, und dürstete nach dem Genuß aller der Herrlichkeiten, die ich in süßer Trunkenheit verworren vor mir verbreitet sah. Die ganze Natur schien in mein Schiksal verwebt zu seyn. Das frohe Aufstreben ihrer Krae fte, das lebendige Spiel ihrer Erzeugnisse, der jugendliche Reiz ihrer Formen, alles trug so sichtbar die Farbe meiner innern Erscheinungen. Im frohen Taumel gab ich mich allem hin, und fand mich in allem wieder“ (Mereau 1794, 4 f.). – „Die Kehle des Vogels hatte willkue hrlichen Ausdruk; das Wehen des Blüthenbaums war Zeichen innrer Gefühle. Beides wirkte innig auf mich; mit beiden fue hlte ich mich verwandt, und es schien mir, als verstünde ich ihre stille Sprache, ohne sie in Worte übersezzen zu können. Gieng ich dann aus meinen Blüthenwäldern hervor, und trat auf die Höhen hin, wo ich in die unermeßliche Sphäre von Gewässer hinaussah – ha! wie ergriff mich da der Anblik dieser ungeheuern Wasserwelt, die, wie die Phantasie keine Gränzen hat! – Es drohte mir die Brust zu zersprengen; verschlungen in die Unermeßlichkeit des Weltalls, verschmolzen in die allgemeine Harmonie der Wesen, fühlte ich mich selbst in dieser Größe untergehen. Ich kannte keinen entzükkendern Gedanken als den, mit allen Geistern ein Ganzes auszumachen“ (ebd., 7 f.).
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All dies ist keineswegs nur phantastische „Exaltation“, sondern vielmehr, wie es Ludwig Tieck in einem Brief an Friedrich Schlegel (Mitte März 1801) ausdrückt, „wahrer poetischer Ernst“ (Lohner 1972, 57). Das Sich-Einfühlen ins Universum, das Sich-einsFühlen mit demselben bleibt für die Frühromantiker nicht nur Theorie, sondern wird zum wirklichen Erlebnis: „Ich kann es dir nicht ausdrücken, wie mir alles in der Welt immer mehr Eins wird, wie ich gar keine Unterschiede von Räumen oder Zeiten mehr statuiren kann, es wird mir Alles bedeutend, alles was Geschichte giebt und Poesie, so wie alle Natur, und alles in mir, sieht mich aus einem einzigen tiefen Auge an, voller Liebe, aber schreckvoller Bedeutung.“ (Ebd.)
Die auch hier anklingende Klage über die Unzulänglichkeit der Sprache („Ich kann es dir nicht ausdrücken ...“) angesichts der Erfahrung undeutlich empfundener Einheit mit dem Universum ist symptomatisch. Für die Dunkelheit und Ahnungsfülle solcher Erfahrungen, die deutlich nicht ausgesprochen werden können, dienen bevorzugt Schilderungen nächtlicher Naturerlebnisse als Chiffre. „[W]enn der Mond in die Stube scheint, kann ich nicht ruhen, und muß ans Fenster hin. Es ist mir, als rufe er mich, ich müsse ihn wieder ansehen, die ganze schöne Nacht spräche mit mir, und frage mich scharf aus; die Antwort aber liegt mir tief im Herzen begraben, und es ist mir oft, als müsse mir das Herz brechen, damit ich es nur sagen könnte.“ (Brentano 1801, 386.)
5. Rhetoriktheorie 5.1. Bis heute steht die Romantik im Ruf einer „rhetorikverachtenden Epoche“, die pauschal als „rhetorikfern“ eingestuft wird (Schanze 1994, 336). Viele Belege scheinen tatsächlich dafür zu sprechen. Stereotype Kollokationen wie „Redekunst und Sophisterei“ (Tieck 1839, 209) zumindest legen den Gedanken nahe, dass das Verhältnis der Romantik zur Rhetorik nicht das beste ist. Der kantische Gedanke der zweckfreien ‚schönen‘ Kunst spielt in der Romantik eine zentrale Rolle, und die Skepsis gegenüber der zweckorientierten Rhetorik ist daher weit verbreitet. Dabei wird nicht nur auf Kant, sondern auch auf den platonischen Gorgias (465b–e) zurückgegriffen: „Angenehme Redekunst ist mit der schönen Poesie nicht näher verwandt als jede andre sinnliche Geschicklichkeit, welche Plato Kunst zu nennen verbietet und mit der Kochkunst in eine Klasse ordnet. [...] Die Kunst ist [...] entweder eine freie Ideenkunst oder eine mechanische Kunst des Bedürfnisses, deren Arten die nützliche und die angenehme Kunst sind.“ (F. Schlegel 1795/97, 243.)
Die Rhetorik ist zwar „durch ihren Stoff oder ihr Werkzeug [Sprache] mit der Poesie verwandt“, aber „indem sie einem bestimmten Zwecke dient“, lässt sie sich „am meisten mit der Architektur vergleichen“ (A. W. Schlegel 1798/99, 119).
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Seit der Antike zielt die Redekunst auf „das Überreden, das Gewinnen des Zuhörers“ (Dockhorn 1944, 13). Dafür werden traditionell zwei „Hauptmittel“ unterschieden, die „als Grundkategorien die Disposition antiker Rhetoriken beherrschen“: der „Appell an den Verstand, das ‚docere‘, das durch Beweise [...] erfolgt“, und „die Erregung der Gefühle, die Weckung der Affecte, das ‚movere‘“ (ebd.). Eben diese Unterscheidung wird erkennbar, wenn Schelling den Zweck des Redners darin sieht, „sich anschaulich zu machen, oder [...] zu täuschen und Leidenschaft zu erwecken“ (Schelling 1803/04, 639). Rhetorik ist die „praktische Erkenntnis der Sprache“ (F. Schlegel 1805/06, 187), die „mit der Lehre von der Anwendung“ verbundene Sprachlehre im Gegensatz zur Grammatik, die ihrerseits als „theoretische Erkenntnis der Sprache“ definiert wird, als „Wissenschaft der Sprache bloß in der Absicht, die Sprache zu kennen und zu verstehen“ (ebd., 186). In der Rhetorik ist dabei „nicht nur von der Richtigkeit, sondern auch von der Schönheit und Künstlichkeit des Ausdrucks die Rede“ (ebd., 187), denn „oft ist es für praktische Zwecke nicht hinreichend, sich bloß verständlich und richtig auszudrücken, sondern man muß der Rede durch die Schönheit und Kunst des Ausdrucks eine höhere Bedeutung und Würde geben“ (ebd.). Damit wird die Rhetorik gewissermaßen in die (früh)romantische Kunsttheorie integriert. „Romantik ist eine Transformation der Rhetorik. Sie hebt Rhetorik auf, im Hegelschen Doppelsinn des Wortes“ (Schanze 1994, 339) – eine Tatsache, die dadurch möglich ist, dass Rhetorik schlechterdings mit „Kunstgriff“ (F. Schlegel 1795/97, 315) gleichgesetzt wird. F. Schlegel „versteht ‚Rhetorik‘ zunächst ganz traditionell als die Kunstlehre der Prosa“ (Schanze 1974, 132). Da es – im Sinne des kantischen Begriffs der ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ – eine Technik oder Kunstlehre auch im Bereich der ‚schönen Kunst‘ gibt und geben muss, hat auch die Poesie im eigentlichen Sinne, die „nie einen Zweck außer sich“ hat (Schelling 1803/04, 639), stets eine rhetorische Komponente: „Alle Poesie, die auf einen Effekt geht, [...] ist rhetorisch“ (F. Schlegel 1798a, 72). Es gibt demnach eine Rhetorik „im höhern Sinn“ (ebd., 208), eine „materiale, enthusiastische Rhetorik die unendlich weit erhaben ist über den sophistischen Mißbrauch der Philosophie, die deklamatorische Stylübung, die angewandte Poesie, die improvisierte Politik, welche man mit demselben Namen zu bezeichnen pflegt“ (ebd., 187). Mit eben dieser Rhetorik im höheren Sinne will F. Schlegel die Poesie im Rahmen seines Programms einer „progressive[n] Universalpoesie“ „in Berührung [...] setzen“ (ebd., 182). 5.2. Was die zweckfreie Poesie von der angewandten, zweckorientierten Redekunst äußerlich unterscheidet, ist die Möglichkeit des gehobenen Tons, einer von der Alltagssprache deutlich unterschiedenen ‚poetischen Diktion‘. Insbesondere A. W. Schlegel fordert eine solcherart eigenständige Dichtersprache. Dabei hält er es zwar für selbstverständlich, dass die Poesie „ihren eignen Zweck vernichten [würde], wenn sie so weit von aller Analogie des Sprachgebrauchs abwiche, daß sie völlig unverständlich werden
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müßte“ (A. W. Schlegel 1801/02, 406). Die ‚poetischen Lizenzen‘ gehen aber sehr weit: Lediglich „absolute Dunkelheit und Verworrenheit welche durch kein Nachdenken sich ins klare setzen läßt“ ist „fehlerhaft“, und selbst sie ist es nicht, wenn sie „partienweise in einem Gedicht angebracht“ ist, um „dem Eindrucke des Ganzen zu dienen“ (ebd.). Jede darüber hinausgehende Unverständlichkeitskritik wird mit elitärer, dem horazischen „odi profanum volgus et arceo“ (Horaz, Oden III/1, 1) verwandter Geste zurückgewiesen: Der Dichter „braucht nicht für alle zu schreiben“ (A. W. Schlegel 1801/02, 406). Auch der Rhetor muss sich nicht an alle wenden, aber da er einen ‚äußeren Zweck‘ verfolgt, kann es ihm im Unterschied zum Dichter nicht gleichgültig sein, ob er sein tatsächlich angesprochenes Publikum erreicht. Dies hebt besonders A. F. Bernhardi hervor: Die Rede will „überreden“ (Bernhardi 1803, 227), daher „muß ihre Sprachdarstellung [...] die Sprache des gemeinen Lebens in sich aufnehmen“ und darf sich, obgleich sie dieselbe zu „erhöhen und veredeln“ streben soll, nicht so weit „von derselben [...] entfernen, daß sie unverständlich, daß dem Zuhörer die Folge der Ideen schwierig aufzufassen würde“ (ebd., 229). Die einigermaßen paradoxe Konsequenz des hier entworfenen Poesie- und Rhetorikverständnisses ist, dass die Sprache des Dichters weitaus künstlicher – u. a. mittels der klassischen Redefiguren (vgl. Bär 1999a, 121 ff.) – durchgebildet sein darf und soll als die des Redners. In dieser Auffassung unterscheiden sich die deutschen Romantiker deutlich von den englischen, v. a. von William Wordsworth. Dieser fordert etwa zeitgleich eine möglichst volkstümliche Dichtung mit einer der Alltagssprache möglichst nahe verwandten Dichtersprache: „The Poet thinks and feels in the spirit of human passions. How, then, can his language differ [...] from that of all other men who feel vividly and see clearly?“ (Wordsworth 1802, 398.) Wordsworths Postulat einer „language really used by men“ (ebd., 386) steht in einer direkten „Tradition der antiken Rhetorik“ (Dockhorn 1944, 42). Er will „human passions“ und „human characters“ darstellen (Wordsworth 1798, 383) und knüpft damit, wie Klaus Dockhorn zeigt, an die auf Aristoteles zurückgehende und von Quintilian adaptierte Unterscheidung von ‚Pathos‘ und ‚Ethos‘ an: „Die stark erregte Leidenschaft und das sanfte, humane Gefühl, ‚perturbatio‘ und ‚benevolentia‘, das sind bei Quintilian πάθη und ήθη, zusammengefaßt unter dem Oberbegriff der ‚affectus‘, zum leidenschaftlichen Erregen und sanften Rühren bestimmt.“ (Dockhorn 1944, 16.) Die dem Redner – und bei Wordsworth eben auch dem Dichter – aufgegebene ‚Verständlichkeit‘ ist freilich nicht allein Angelegenheit einer ‚natürlichen‘ Sprache, sondern wird gleichgesetzt mit einer möglichst unmittelbaren Ansprache des Hörers. Adam Müller (1812, 308) identifiziert die „wahre Rede“ daher mit einem „Gespräch“ des Redners mit seinem Zuhörer und stellt als wichtigste rhetorische Regel auf: „Wisse zu hören, wenn du reden willst; versetze dich in das Herz, dahinein du greifen willst [...]. Verstehe, Redner, mich, deinen Gegner, wenn du dich mir verständlich machen willst: bist du verständlich, dann will ich glauben, dann werde ich es im innersten Herzen empfinden,
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daß du verstehst. Kurz, es gibt kein Mittel, den Verstand zu beweisen, als die Verständlichkeit [...].“ (Ebd., 307.)
Das Vorhandensein dieser „Verständlichkeit“ wird in der Reaktion des Auditoriums erkennbar: Die „herrlichen begeisterten Reden“ eines „vortrefflichen Redner[s]“ dringen seinen Zuhörern „ins Innerste“, wo sie die „inbrünstigste Andacht“ erzeugen; der „Feuerstrom seiner Worte“ reißt alle „unwiderstehlich fort“ (E. T. A. Hoffmann 1815/16, 37). Die unmittelbare Wirkung einer guten Predigt sind „[h]eftiges Weinen“ und „unwillkürlich den Lippen entfliehende Ausrufe der andachtvollsten Wonne“ (ebd., 38). Demgegenüber wird auch die Wirkung des schlechten Redners direkt an der Reaktion des Publikums sichtbar: „[S]eine Reden schlichen wie ein halbversiegter Bach mühsam und tonlos dahin, und die ungewöhnlich gedehnte Sprache, welche der Mangel an Ideen und Worten erzeugte, da er ohne Konzept sprach, machten seine Reden so unausstehlich lang, daß vor dem Amen schon der größte Teil der Gemeinde, wie bei dem bedeutungslosen eintönigen Geklapper einer Mühle, sanft eingeschlummert war, und nur durch den Klang der Orgel wieder erweckt werden konnte.“ (Ebd., 37.)
5.3. Die Frage, wie die Kommunikation mit der Zuhörerschaft gelingen könne, wird in unterschiedlicher Weise beantwortet. Allen Positionen gemeinsam ist die in Kants Rhetorikkritik8 präformierte Forderung nach unbedingter Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit des Redners. Diese Forderung kann jedoch zum einen praktisch-ethisch, zum anderen ästhetisch motiviert sein. Im ersten Fall liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Verhältnis von Redner und Auditorium, im zweiten auf der Person des Redners selbst. 5.3.1. Eine praktisch-ethische Rhetorik-Auffassung vertritt z. B. Adam Müller. Er nennt vor dem Hintergrund seiner dialogischen Rhetoriktheorie als Bedingung der gelingenden Ansprache die Bereitschaft des Publikums, sich ansprechen zu lassen, was v. a. Vertrauen in die Integrität des Redners voraussetzt: „Wer nicht über gewisse Dinge mit mir einig ist, mit dem kann ich über die anderweiten nicht streiten. Glaubt ihr an mich, so bin ich ein Redner; zweifelt ihr an mir, so bin ich stumm: [...] weil mir wirklich das Vermögen, das Talent der Rede im Munde verlöscht. Glaubt ihr an mich, kann wohl nichts anderes heißen als glaubt ihr, daß ich etwas Höheres will als mich: nämlich die Wahrheit oder die Gerechtigkeit.“ (Müller 1812, 312 f.)
An der „Wahrheit“ muss dem Redner aufrichtig liegen, insofern er kein bloßer „Sophist“ sein will (Bernhardi 1803, 174). Allenfalls in der „vornehmen Gelehrtenpoesie“ ist es möglich, dass ein Mangel an „sittliche[r] Haltung und Würde“ sich „mit verschnörkelter Rhetorik verhüllen oder gar verschönern läßt“ (Eichendorff 1857, 723). 8
„Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeynt, oder auch wirklich gut seyn, als sie wollen) gar keiner Achtung würdig.“ (Kant 1790, 215.)
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Ein lediglich „durch rhetorische Künste erschlichnes Ansehn“ ist dagegen nur „von kurzer Dauer“ (F. Schlegel: 1795/97, 273). Das heißt nicht, dass die Techniken der Pathopöie prinzipiell verpönt wären. „Affecte“ sind aber „Arzeneyen“, d. h., „man darf mit ihnen nicht spielen“ (Novalis 1799a, 560). Wo dies doch geschieht, ist der letzte Zweck des Redners, die Gewinnung der „Herzen“ seines Publikums, nicht zu erreichen: „Das Anregen der Leidenschaften und Rührungen ist ein armseliges Substitut dessen, was ich hier meine [...]. Entweder ihr ergreift den Gegner bei seiner gewaffnetsten Seite [...], indem ihr vorwegnehmt seine Gründe, sie verstärkt, sie durch den Zusammenhang eurer Anklage belebt, indem ihr alle die Wunden zeigt, die er erst schlagen will; und ihr erhebt euren Gegner an seiner schwächsten Seite, [...] die empfänglich ist für das Göttliche und an welcher stärker zu sein als er, euch zum Redner macht und ihn zum Hörer – oder ihr ergreift ihn gar nicht, ihr spielt nur an der Oberfläche seines Herzens umher, ihr bestimmt das Tun seiner Hände, aber nicht seinen Willen, ihr habt Maschinen in Bewegung gesetzt, aber nicht Herzen.“ (Müller 1812, 319.)
Verwerflich ist die Rhetorik als manipulative Technik allerdings nicht nur, wenn sie auf positiver, zweckorientierter Unaufrichtigkeit beruht, sondern auch dann, wenn sie mit negativer Unaufrichtigkeit, d. h. Gesinnungslosigkeit, Austauschbarkeit der Überzeugungen, zumindest einem Mangel an „Consistency“ (Heine 1831, 140) einhergeht: „Burke besaß nur rhetorische Talente, womit er in der zweyten Hälfte seines Lebens die liberalen Grundsätze bekämpfte, denen er in der ersten Hälfte gehuldigt hatte. Ob er durch diesen Gesinnungswechsel die Gunst der Großen erkriechen wollte, ob Sheridans liberale Triumphe in St. Stephan, aus Depit und Eifersucht, ihn bestimmten, als dessen Gegner jene mittelalterliche Vergangenheit zu verfechten, die ein ergiebigeres Feld für romantische Schilderungen und rednerische Figuren darbot, ob er ein Schurke oder ein Narr war, das weiß ich nicht. Aber ich glaube, daß es immer verdächtig ist, wenn man zugunsten der regierenden Gewalt seine Ansichten wechselt“ (ebd., 140 f.).
Diese Kritik greift auch dort, wo den Worten, die Taten versprechen, eben diese Taten nicht folgen: „Seit mehreren Jahren warte ich vergebens auf das Wort jener kühnen Redner, die einst in den Versammlungen der deutschen Burschenschaft so oft ums Wort baten und mich so oft durch ihre rhetorischen Talente überwunden und eine so vielversprechende Sprache gesprochen; sie waren sonst so vorlaut und sind jetzt so nachstill.“ (Heine 1830, 270.)
Solche Vorbehalte gelten allerdings nicht lediglich der Rhetorik im besonderen, sondern gehören in den allgemeineren Kontext der romantischen Sprachskepsis (s. o.), für die ein „volles, kostbares, glühendes Schweigen [...] mehr sagt als alle Beredsamkeit, als jeder rhetorische Wortschwall“ (Heine 1839, 37). Die geforderte Wahrhaftigkeit des Redners setzt voraus, dass er die Empfindungen, die er bei seinen Zuhörern wachruft, tatsächlich empfindet. Jede Art von Autosuggestion, also künstlichem Sich-Versetzen in die auch beim Publikum beabsichtigte Stimmung, wird dadurch von vorneherein ausgeschlossen. Das gilt auch für die zweite in der Romantik vertretene Ansicht, wie der Zuhörer zu erreichen sei: für die dem GenieKonzept des 18. Jahrhunderts verpflichtete ästhetische Rhetorik-Auffassung.
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5.3.2. Das Wirken des rhetorischen Genius ist ein unverfügbares Ereignis, das nur eintreten kann, wenn es der Redner vermag, sich ganz „dem Feuer der Beredsamkeit“ zu überlassen (Hoffmann 1815/16, 43). Dabei wird freilich der Verstand, das klare Bewusstsein, die „Besonnenheit“ (Jean Paul 1813, 46 ff.) keineswegs ausgeblendet; „[n]ur der unverständigte Jüngling kann glauben, geniales Feuer brenne als leidenschaftliches“ (ebd., 48), d. h. unreflektiert, ohne Maß und Ziel. Vielmehr wird die „Begeisterung“ des Genies, sein „Enthusiasmus“ (ebd.) als „geniale Ruhe“ verstanden. Sie „gleicht der sogenannten Unruhe, welche in der Uhr blos für das Mäßigen und dadurch für das Unterhalten der Bewegung arbeitet“ (ebd.). Dass das Wirken des Genies kein unbewusstes Ereignis ist, zeigt sich auch daran, dass sich der Redner beim Reden gleichsam selbst beobachten kann: „Bald [...] war es, als strahle der glühende Funke himmlischer Begeisterung durch mein Inneres – ich dachte nicht mehr an die Handschrift, sondern überließ mich ganz den Eingebungen des Moments. Ich fühlte, wie das Blut in allen Pulsen glühte und sprühte – ich hörte meine Stimme durch das Gewölbe donnern – ich sah mein erhobenes Haupt, meine ausgebreiteten Arme, wie von Strahlenglanz der Begeisterung umflossen.“ (Hoffmann 1815/16, 33.)
Selbst scheinbare Kunstfehler gereichen dem mit rednerischem Genie gesegneten Rhetor unbeabsichtigt zur positiven Wirkung: „Im Anfange blieb ich meiner Handschrift getreu, und Leonardus sagte mir nachher, daß ich mit zitternder Stimme gesprochen, welches aber gerade den andächtigen wehmutsvollen Betrachtungen, womit die Rede begann, zugesagt, und bei den mehrsten für eine besondere wirkungsvolle Kunst des Redners gegolten habe.“ (Ebd., 38.)
Dabei dürfen aber solche Kunstfehler (ebenso wie die Kunstgriffe) nicht absichtsvoll erfolgen. Der Redner darf sich seines Handelns bewusst sein, aber er darf es nicht kontrollieren: „[H]ier braucht man die Beispiele ruchloser Geistes Gegenwart nicht aus dem Denken, Dichten und Thun der ausgeleerten Selbstlinge jetziger Zeit zu holen, sondern die alte gelehrte Welt reicht uns besonders aus der rhetorischen und humanistischen in ihren frechen kalten Anleitungen, wie die schönsten Empfindungen darzustellen sind, besonnene Gliedermänner wie aus Gräbern zu Exempeln. Mit vergnügter ruhmliebender Kälte wählt und bewegt z. B. der alte Schulmann seine nöthigen Muskeln und Thränendrüsen (nach Peucer oder Morhof), um mit einem leidenden Gesicht voll Zähren in einer Threnodie auf das Grab eines Vorfahrers öffentlich herabzusehen aus dem Schul-Fenster, und zählt mit dem Regenmesser vergnügt jeden Tropfen.“ (Jean Paul 1813, 49.)
Bereits in dem Augenblick, in dem die Selbstbeobachtung in Selbstgefälligkeit und Selbstgewissheit umschlägt und die rednerische Begeisterung planmäßig ins Kalkül gezogen wird, erfolgt der Umschlag zur absichtsvoll-künstlichen Rhetorik. Der Redner geht seines Genies verlustig und fällt stattdessen dem „Geist des Truges“ (Hoffmann 1815/16, 50) anheim. Dadurch verliert er zwar nicht unmittelbar seine Wirkung auf das große Publikum, aber vor dem scharfen Blick des Kundigen kann er nicht länger bestehen. Eben dies widerfährt dem Mönch Medardus in Hoffmanns Erzählung Die Elixiere
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des Teufels. Voll Vertrauen auf sein rednerisches Talent bereitet er sich auf eine Predigt vor, „[o]hne das mindeste aufzuschreiben, nur in Gedanken die Rede, in ihren Teilen ordnend“ (ebd., 49). Er verlässt sich ganz „auf die hohe Begeisterung, die das feierliche Hochamt, das versammelte andächtige Volk, ja selbst die herrliche hochgewölbte Kirche in mir erwecken würde“ (ebd.). Das Laienpublikum ist zwar beeindruckt – „in allen auf mich gerichteten Blicken, las ich Staunen und Bewunderung“ (ebd.) –, aber die Äbtissin des Klosters, in dem die Predigt stattfindet, tadelt ihn scharf: „Der stolze Prunk Deiner Rede, Deine sichtliche Anstrengung, nur recht viel auffallendes, glänzendes zu sagen, hat mir bewiesen, daß Du, statt die Gemeinde zu belehren und zu frommen Betrachtungen zu entzünden, nur nach dem Beifall, nach der wertlosen Bewunderung der weltlich gesinnten Menge trachtest. Du hast Gefühle geheuchelt, die nicht in Deinem Innern waren, ja Du hast selbst gewisse sichtlich studierte Mienen und Bewegungen erkünstelt, wie ein eitler Schauspieler, Alles nur des schnöden Beifalls wegen.“ (Ebd., 50.)
Medardus allerdings will diesen Tadel nicht akzeptieren; er geht auf dem einmal eingeschlagenen Weg weiter und fährt fort, seine Predigten „mit allen Künsten der Rhetorik auszuschmücken“ (ebd.) und sein „Mienenspiel“ und seine „Gestikulationen sorgfältig zu studieren“ (ebd., 51). 5.4. Die Ablehnung absichtsvoll eingesetzter rhetorischer Kunstgriffe ist in der Romantik allgemein verbreitet, und meist wird die Kritik an ihnen mit romantischer Ironie vorgebracht. Dies kann z. B. durch die übertreibende Affirmation rhetorischer Topoi erfolgen – „ein Redner darf dem Zuhörer nochmals sagen, was dieser schon erfahren bis zum Überdruß“ (Hoffmann 1820/22, 352) –, ebenso durch ihre scheinbare Verteidigung, die sie in Wahrheit lächerlich macht: „Es ist gebräuchlich, daß der Trauerredner den Anwesenden die ganze vollständige Biographie mit lobpreisenden Zusätzen und Anmerkungen vorträgt, und dieser Gebrauch ist sehr gut, da durch einen solchen Vortrag auch in dem betrübtesten Zuhörer der Ekel der Langeweile erregt werden muß, dieser Ekel aber nach der Erfahrung und dem Ausspruch bewährter Psychologen am besten jede Betrübnis zerstört, weshalb denn auf jene Weise der Trauerredner beide Pflichten, die, dem Verewigten die gehörige Ehre zu erweisen, und die, die Hinterlassenen zu trösten, auf einmal erfüllt. Man hat Beispiele, und sie sind natürlich, daß der Gebeugteste nach solcher Rede ganz vergnügt und munter von hinnen gegangen ist; über der Freude, erlöst zu sein von der Qual des Vortrags, verschmerzte er den Verlust des Hingeschiedenen.“ (Ebd., 351.)
Eine weitere Möglichkeit der Ironisierung besteht im Ausdruck rhetorischen Selbstbewusstseins, in der öffentlich vorgetragenen Reflexion des Redners über seine Rolle, die ihn aus eben dieser fallen lässt: „[I]ch will statt alles weitern langweiligen Sermons nur mit wenigen schlichten Worten sagen, was für ein schmähliches Ende der arme Teufel der hier starr und tot vor uns liegt, nehmen mußte und was es für ein wackrer, tüchtiger Kerl im Leben war! – Doch o Himmel! ich falle aus dem Ton der Beredsamkeit, unerachtet ich derselben beflissen und, will es das Schicksal, Professor poeseos et eloquentiae zu werden hoffe!“ (Ebd., 352.)
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Die ironische Brechung9 wird dadurch verstärkt, dass der Redner nach kurzer Sammlung „mit erhöhtem Tone“ weiterspricht (ebd.), des weiteren dadurch, dass die Zuhörer als naiv genug geschildert werden, die vom Redner beabsichtigte Wirkung uneingeschränkt zu zeigen10 und das offensichtliche rhetorische Manöver nicht zu durchschauen11 oder erst allmählich zu durchschauen12. Allerdings kann die Künstlichkeit auch unverblümt thematisiert werden: „[E]ndlich brach sein Jammer, nach der Vorschrift seines rhetorischen Lehrers bearbeitet, in folgenden Worten aus: [...]“ (A. v. Arnim 1812, 510); „Der Erzherzog verlangte [...] von dem Herren von Cornelius Nepos, daß er seine Klage vortrage. Dieser hatte nicht umsonst Stunden in der Rhetorik genommen, das wollte er allen zeigen und bewähren; sehr pathetisch ergriff er die [...] Mitgefühle der Versammelten [...].“ (Ebd., 541.)
Nicht einmal durch das Prisma rhetorischen Handwerks lässt derjenige seine angeblichen Empfindungen erblicken, der bei ihrem Ausdruck dramatische Figuren nachahmt: „Er verschwur [...] nacheinander in zehn Karaktern aus den neuesten Dramen und Tragödien seine Seele, wenn er jemals treulos; zulezt redete er gar noch in der Manier des Don Juan, dem er diesen Abend beigewohnt hatte, und schloß mit den bedeutenden Worten: ‚dieser Stein soll als furchtbarer Gast erscheinen bei unserm nächtlichen Mahle, meine ich’s nicht redlich.‘“ (Klingemann 1805, 30.)
5.5. Damit ist ein Komplex angesprochen, der für eine besondere Ausformung der romantischen Rhetorik-Reflexion steht: die Dramentheorie. Den Zusammenhang zwischen Redekunst und Tragödie stellt bereits Quintilian her, und ausdrücklich auf ihn beruft sich A. W. Schlegel: Er berichtet, dass Euripides „seine Poesie den Athenern durch die Aehnlichkeit mit ihrem täglichen Lieblingsgeschäft, dem Processe-Führen, Ent9
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Mit Ironie ist – wohl in kritischer Wendung gegen die Gefühls- oder Gefühligkeitskultur der Empfindsamkeit – auch bei Zeitgenossen außerhalb des romantischen Diskurses die Rede von Rührung bzw. dem, was sie hervorruft. So berichtet Clemens Brentano über die mit seiner Familie befreundete Mutter Goethes: „Als ich und meine Betrübnis so herangewachsen, daß die Frau Rat uns nicht mehr Du, sondern Er nannte, sagte sie einstens: ‚Wenn ich Ihn ansehe, geht mir es schier wie jenem alten General, der sah einmal einen höchst kummervollen Menschen in den Schloßhof hereinschleichen, und als dessen elendes Aussehen sein starkes Herz rührte, zeigte er einem Bedienten den Armen und sprach: ‚Prügle er mir den Menschen dort vom Hofe hinweg, denn der Kerl erbarmt mich.‘ [...]‘“ (Brentano 1838, 350.) „Ich, wir alle konnten uns bei diesen letzten Worten Hinzmanns nicht lassen vor grimmen [sic] Schmerz, sondern brachen all in solch ein klägliches Geheul und Jammergeschrei aus, daß ein Felsen hätte erweicht werden können“ (Hoffmann 1820/22, 353). „Der Teufel hat aus dem kleinen Kerl gesprochen, sagte Chievres leise, mich rührt doch sonst so leicht nichts, aber er macht einem seine Not so plausibel“ (Arnim 1812, 541). „Mir kam es [...] vor, daß Hinzmann gesprochen, mehr, um ein glänzendes Rednertalent zu zeigen, als den armen Muzius noch zu ehren nach seinem betrübten Hinscheiden. [...] Überdem war auch das Lob, das Hinzmann gespendet, von zweideutiger Art, so daß mir eigentlich die Rede hinterher mißfiel, und ich während des Vortrags bloß durch die Anmut des Redners und durch seine in der Tat ausdrucksvolle Deklamation bestochen worden.“ (Hoffmann 1820/22, 356 f.)
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scheiden, oder wenigstens Anhören, unterhaltend zu machen [suchte]. Deswegen empfiehlt ihn Quintilian vorzüglich dem jungen Redner, der aus seinem Studium mehr als aus den ältern Tragikern lernen könne [...].“ (A. W. Schlegel 1809/11a, 143.) Die kritische Wendung bleibt nicht aus: „[M]an sieht, daß eine solche Empfehlung nicht sonderlich empfiehlt: denn Beredsamkeit kann zwar ihre Stelle im Drama finden, wenn sie der Faßung und dem Zweck der redenden Personen gemäß ist; tritt aber Rhetorik an die Stelle des unmittelbaren Ausdrucks der Gemüthsbewegungen, so ist dieß nicht eben poetisch.“ (Ebd., 143 f.)
Für die dramatische Rede gilt ebenso wie für die real vorgetragene: „Der wahre begeisterte Redner wird sich über seinem Gegenstande vergeßen. Rhetorik nennen wir es, wenn er, mehr als an die Sache, an sich und seine selbstgefällige Kunst denkt.“ (A. W. Schlegel 1809/11b, 53.) Insbesondere in der französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts, namentlich bei Corneille, herrscht Schlegel zufolge „Rhetorik, und zwar Rhetorik in Hoftracht, statt der Eingebungen edler, aber einfacher unverkünstelter Natur“ (ebd.). Dies läuft dem Charakter des Trauerspiels und auch seinen Aufgaben zuwider, denn „[w]enn der tragische Held sein Unglück schon in Antithesen und sinnreichen Gedankenspielen zurechtgelegt hat, so können wir unser Mitleiden sparen“ (ebd.). Vom Schauspiel wird nicht anders als vom rednerischen Auftritt „Naturwahrheit“ gefordert; sobald diese sich „vorgefaßten Theorien beugen und anbequemen“ muss, besteht die Gefahr, dass die dramatischen Figuren zu „abstracten, ganz unsinnlichen Begriffsgestalten“ werden und „anstatt des unmittelbaren Naturlauts“ eine „prächtige Rhetorik“ hervorbringen (Eichendorff 1857, 261). Zudem liegt die „göttliche Kraft des Dramas die uns so wie kein anderes Kunstwerk unwiderstehlich ergreift“, in der Unmittelbarkeit der Darstellung, darin, „daß wir, mit einem Zauberschlage der Alltäglichkeit entrückt, die wunderbaren Ereignisse eines fantastischen Lebens vor unseren Augen geschehen sehen“ (Hoffmann 1819, 463). Daher ist es „recht dem innigsten Wesen des Dramas entgegen, [...] wenn uns die Tat, die wir mit eignen Augen zu schauen gedachten, nur erzählt wird“ (ebd.). Diese Charakterisierung gilt für „die mehresten unserer neuern großen Haupt- und Staatsaktionen“ (ebd., 463 f.); „an Tat und Handlung bettelarm“ (ebd., 464) überschütten sie den Zuschauer „mit schönen Worten und Redensarten [...], die kein lebendiges Bild in unsrer Seele zurücklassen“ (ebd., 463). Manches dieser Trauerspiele „enthält eigentlich nichts weiter, als die wohlgeordnete in schönen Worten und absonderlichen Redensarten verfaßte Relation eines fatalen Kriminalverbrechens die mehreren Personen verschiedenen Alters und Standes in den Mund gelegt ist, worauf dann die Vollziehung des gesprochenen Urteils an dem schuldigen Missetäter erfolgt“ (ebd., 465). Sie sind daher „nur rhetorische Kunstübungen zu nennen, in denen einer nach dem andern auftritt und, sei er König, Held, Diener etc. etc., in zierlicher geschmückter Rede sich ausbreitet“ (ebd., 464). Der Vorwurf der „rhetorischen Idealität“ (Eichendorff 1857, 268) trifft nicht nur das „imitatorum pecus“ (Hoffmann 1819, 464), sondern auch, „seiner Herrlichkeit und Größe unerachtet“ (ebd.), das Vorbild
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Schiller: „Eine gewisse Prägnanz, mittelst der Verse Verse gebären, ist ihm ganz eigentümlich.“ (Ebd.) Von „dem wahrhaft Dramatischen ab zu dem Rhetorischen“ hin sich gewendet (ebd., 465) und den „tuono academico des Theaters“ (ebd., 475) angestimmt haben aber nicht nur die Dramendichter, sondern auch die Schauspieler, „die ihrer Seits [...] dem rhetorischen Teil ihrer Kunst zu viel Wert geben“ (ebd., 465). Zwar ist „richtige Deklamation“, also das Beherrschen der Regeln, „die Basis worauf alles beruht“ (ebd.), aber sie allein genügt im Sinne der auch für den Schauspieler geltenden Genielehre keineswegs: Der „echte Schauspieler“ muss „geboren werden“: „Erlernen läßt sich da nichts, es ist immer nur von der Ausbildung der innern natürlichen Kraft die Rede“ (ebd., 473). Man kann daher „eine Rolle sehr richtig deklamieren und doch Alles auf das erbärmlichste verhunzen“ (ebd., 465). Alles kommt hier auf Natürlichkeit und Echtheit der Empfindung an: „Ein mittelmäßiges Talent, das nur von der Handlung ergriffen ist und sich wirklich rührt und bewegt wie ein lebendiger tätiger Mensch, kann hier den im Grunde bessern Schauspieler übertreffen, der in dem beständigen Mühen durch die Rede zu ergreifen alles Übrige um sich her vergißt.“ (Ebd., 466.)
Wer sich als Schauspieler in die Rolle, die er zu spielen hat, nicht finden, wer sie nicht lebendig ausfüllen kann, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen, denn „statt den Heros vor Augen zu sehen erblickt der Zuschauer nur einen, der von dem Heros hübsch erzählt und sich dabei müht zu tun, als sei er der Heros selbst, aber das glaubt ihm der Zuschauer nun und nimmermehr. Verlangt nun gar die Rolle irgend einen Ausbruch der physischen Kraft die dem Schauspieler mangelt und behilft der sich mit irgend einem, in der Regel schlecht gewählten Surrogat, so läuft er Gefahr lächerlich zu werden und das Ganze auf heillose Weise zu verstören.“ (Ebd.)
Dabei wird viel an vorfallender Theaterrhetorik, die der Dichter und – ihm folgend (ebd., 465) – der Schauspieler produziert, dem Publikum und seinen Erwartungen angelastet: „[A]uf dem Theater wirkt mehr das Rhetorische als das Poetische, und die Vorwürfe, die bey dem Fiasko eines Stückes dem Dichter gemacht werden, träfen mit größerem Rechte die Masse des Publikums, welches für naive Naturlaute, tiefsinnige Gestaltungen, und psychologische Feinheiten minder empfänglich ist, als für pompöse Phrase, plumpes Gewieher der Leidenschaft und Coulissenreißerey.“ (Heine 1837, 258.)
Wie und warum einer dieser „rhetorischen Dichter“ (Hoffmann 1819, 475) die Gunst des Publikums gewinnt, beschreibt Hoffmann in der Prinzessin Brambilla: „Der Abbate Chiari [...] hatte von Jugend auf mit nicht geringer Mühe Geist und Finger dazu abgerichtet, Trauerspiele zu verfertigen, die, was die Erfindung, enorm, was die Ausführung betrifft, aber höchst angenehm und lieblich waren. Er vermied sorglich irgendeine entsetzliche Begebenheit anders, als unter mild vermittelnden Umständen vor den Augen der Zuschauer sich wirklich zutragen zu lassen, und alle Schauer irgendeiner gräßlichen Tat wickelte er in den zähen Kleister so vieler schönen Worte und Redensarten ein, daß die Zuhörer ohne Schauer die süße Pappe zu sich nahmen und den bittern Kern nicht heraus schmeckten. Selbst die
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Flammen der Hölle wußte er nützlich anzuwenden zum freundlichen Transparent, indem er den ölgetränkten Ofenschirm seiner Rhetorik davorstellte [...]. – So was gefällt Vielen, und kein Wunder daher, daß der Abbate Antonio Chiari ein beliebter Dichter zu nennen war. [...] Reden voll hochtönender Worte, die weder der Zuhörer, noch der Schauspieler versteht, und die der Dichter selbst nicht verstanden hat, werden am mehrsten beklatscht.“ (Hoffmann 1821, 832 f.)
Selbst bei anderen Gattungen als dem Drama greift diese Kritik: überall dort nämlich, wo von der literarischen Darstellung nicht Schilderung von Bildern oder Zuständen, sondern von Handlungen erwartet wird; den Erörterungen in Lessings Laokoon (1766) zufolge also auch im Epos. Der Vorwurf einer „auffallende[n] Armuth an Handlung und lebendiger Anschauung“ (Eichendorff 1857, 105) trifft beispielsweise Klopstocks Messias (1748–73): „Gott und Menschen und Engel und Teufel machen eben nichts, als lange rhetorische Debatten über das, was und warum sie es thun wollen.“ (Eichendorff 1857, 105.) Bei Klopstock sei nichts „objectiv“, sondern alles „ideal“: „ein abstracter Himmel und die bloße Rhetorik gestaltloser Engel und Dämonen, aus protestantischer Unkenntnis oder Abneigung aller altkirchlichen Tradition entkleidet, womit uns z. B. Dante so gewaltig durch Himmel und Hölle führt. Daher bei Dante und im Parcival lauter Handlung und in der Messiade lauter Empfindung und endlose Reden über diese Empfindung, mithin das Elegische vorwaltend.“ (Ebd., 213.)
6. Philologie 6.1. Die Beschäftigung mit deutscher und europäischer Literaturgeschichte, die den zuletzt zitierten rhetorikkritischen Wendungen zugrunde liegt, führt zum letzten im gegenwärtigen Zusammenhang zu behandelnden Aspekt romantischer Sprachreflexion: der Philologie. Damit ist allerdings nicht allein historische Literaturwissenschaft, sondern auch und in nicht geringerem Maße historische Sprachwissenschaft gemeint; auf letztere wird hier das Hauptaugenmerk zu richten sein. Der Ausgangspunkt der romantischen Beschäftigung mit der eigenen, der deutschen Sprach- und Literaturgeschichte ist in den wenigsten Fällen eine unvoreingenommene Begeisterung, weit mehr ein ästhetisch-kritisches (Vor)urteil. In der gegen Ende des 18. Jahrhunderts neu aufgekommenen querelle des anciens et des modernes vertraten die Frühromantiker, insbesondere Friedrich Schlegel, ursprünglich entschieden die Partei der ‚Anciens‘. Der erste Frühromantiker, der sich mit der Geschichte der deutschen Sprache und Literatur befasste, ist Wilhelm Heinrich Wackenroder. Angeregt durch seinen Lehrer Erduin Julius Koch entdeckte er, „daß dieses Studium, mit einigem Geist betrieben, sehr viel anziehendes hat“ (Brief an L. Tieck, in: Vietta/Littlejohns 1991, Bd. 2, 97), und
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begeisterte sich für die ‚altdeutsche‘ Poesie bereits zu einer Zeit, da Autoren wie Tieck und F. Schlegel noch vorrangig die klassisch-antike Literatur, allenfalls Shakespeare zu schätzen wussten. Eine allgemeinere Aufwertung erfuhr die ältere deutsche Literatur bei den Frühromantikern erst, als sie neben der antiken auch die ‚moderne‘ oder (wie sie sie etwas später bevorzugt nannten) ‚romantische‘ Poesie für sich entdeckten14 und, um die Originalquellen lesen zu können, sich mit deren Sprache vertraut zu machen strebten. Philologische Quellenstudien trieben v. a. A. W. Schlegel, F. Schlegel und Tieck. Letzterer gab 1803 nach mehrjährigen Vorarbeiten die Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter heraus, jene Bearbeitung der Bodmerschen Sammlung von Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte (1758/59), von der der „entscheidende Impuls zur Rezeption des Minnesangs“ (Rother 1988, 400) ausgeht. Zwar stieß Tiecks Ausgabe keineswegs auf die von ihm erhoffte große Publikumsresonanz (vgl. BrinkerGabler 1980, 145), aber ihre Wirkung in Romantikerkreisen war beachtlich. Beispiele sind Clemens Brentano und Stefan August Winkelmann, die sich als Übersetzer mit mittelhochdeutscher Minnelyrik befassten (vgl. Rother 1988, 402), und Jacob Grimm, der 1811 eine Abhandlung Ueber den altdeutschen Meistergesang publizierte. Tieck selbst widmete sich neben dem Minnesang unter anderem der Edda und dem Nibelungenlied, das er zusammen mit F. Schlegel in einer kritischen Edition herauszubringen erwog. Dieses Projekt blieb freilich unausgeführt; erst Friedrich Heinrich von der Hagen legte 1810 eine Edition des Nibelungenliedes vor, auf das er als Hörer von A. W. Schlegels Berliner Vorlesungen 1803/04 aufmerksam gemacht worden war. 6.2. Die romantische Philologiekonzeption hängt eng mit der romantischen Mittelalterauffassung zusammen, wie sie Novalis in seinem Vortrag Die Christenheit oder Europa (1799), Tieck in der Vorrede zu seiner Minnelieder-Ausgabe und A. W. Schlegel (1803/04a) im dritten Zyklus seiner Berliner Vorlesungen exemplarisch vorgetragen haben. Kennzeichnend für diesen Ansatz ist, dass er „weitab von aller Deutschtümelei das Mittelalter nur insofern als Ideal hinstellt, als es als Vorbild für ein übernationales friedliches Europa christlicher Gesinnung dienen kann“ (Rother 1988, 402). Nationalistische Überlegenheitsgefühle sind, anders als bei einigen Vertretern der späteren Romantik, kaum zu erkennen. Das zeigt sich daran, dass die Geschichte der Muttersprache für die Frühromantiker nur einen Interessenschwerpunkt unter anderen ausmacht: Abgesehen von 13
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Den Zeitgenossen um 1800 ist die heute übliche Epochengliederung des Deutschen noch nicht bekannt. Die Frühromantiker meinen mit altdeutsch alle Texte vom Althochdeutschen bis zum 16. Jahrhundert; das Spektrum ihres Interesses reicht vom Abrogans bis zu Hans Sachs. Eine Vorreiterrolle kommt hier zweifellos Friedrich Schlegel mit seinem 1795 entstandenen großen Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie zu. Zwar wurde auch dieser Beitrag von den Zeitgenossen, insbesondere von Schiller, noch als Äußerung eines entschiedenen ancien verstanden und kritisiert, doch vertritt Schlegel hier bereits die spezifisch frühromantische Position eines dialektischen Verhältnisses von Antike und Moderne, die in beiden nicht mehr Epochen, sondern Formen der Kunst (v. a. der Literatur) sieht und sie als solche zu einer idealtypischen Synthese bringen will (vgl. Behler 1986, 169.)
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ihren Beiträgen zur jungen deutschen Philologie sind sie auch und gerade auf komparatistischem Gebiet hervorgetreten. Die frühesten deutschen Anregungen und Ansätze zu einer historischen Grammatik im Sinne des 19. Jahrhunderts stammen nicht von Franz Bopp oder Jacob Grimm, die dann die Disziplin im eigentlichen Sinne konstituierten, sondern von den Brüdern Schlegel. Der Terminus vergleichende Grammatik ist im romantischen Diskurs zuerst bei A. W. Schlegel nachzuweisen: Im Zusammenhang mit der Forderung, eine Sprache nicht nur hinsichtlich bestimmter struktureller Gemeinsamkeiten mit anderen Sprachen, sondern zugleich in ihrer historischen Dimension, in ihren konkreten Spezifika zu erfassen, entwirft er das Konzept einer „vergleichende[n] Grammatik, eine[r] Zusammenstellung der Sprachen nach ihren gemeinschaftlichen und unterscheidenden Zügen“ (A. W. Schegel 1803, 203): Man müsse „das Griechische und Lateinische; [...] das Deutsche, Dänische, Schwedische und Holländische; [...] das Provenzalische, Französische, Italiänische, Spanische, Portugiesische; dann das in der Mitte liegende Englische; endlich wieder alle zusammen als eine gemeinschaftliche Sprachfamilie nach grammatischen Uebereinstimmungen und Abweichungen und deren innerm Zusammenhange vergleichen. Eben so die orientalischen erst unter sich, hernach mit den occidentalischen.“ (Ebd.)
Friedrich Schlegel, der jüngere Bruder, übernimmt den Ausdruck vergleichende Grammatik und macht ihn 1808 in seinem vielbeachteten Buch Ueber die Sprache und Weisheit der Indier publik. Seine Begabung, intuitiv sprachhistorische Zusammenhänge zu erkennen, führt ihn bereits Jahre vor Jacob Grimm zur faktischen Entdeckung von Phänomenen wie der 1. Lautverschiebung (die er freilich aufgrund unzureichender Materialbasis nicht in ihrer ganzen Tragweite detailliert erfassen und empirisch belegen kann). Schon in seinen Pariser Jahren (1802–04) lernt er Altpersisch und Sanskrit und arbeitet in der Nationalbibliothek mit den Originalhandschriften. Sein Indien-Buch hat den ersten Impuls zur Begründung der vergleichenden Sprachwissenschaft in Deutschland gegeben. Philologische Arbeit ist bei den Frühromantikern allerdings weit weniger wissenschaftlich als künstlerisch, genauer gesagt dichterisch konzipiert. Die historische Beschäftigung mit der eigenen Sprache und Literatur hat keinen Selbstzweck, sondern soll in die poetische Tätigkeit einfließen. Dieser Anspruch ist durchgängig. Stets wird das Studium der älteren Literatur in erster Linie dem Dichter empfohlen, der „auf neue Bildung seiner Sprache aus ihren Quellen ausgeht“ (A. W. Schlegel 1803/04a, 32). Das althochdeutsche Ludwigslied, die mittelhochdeutsche Minnelyrik und die Werke des Hans Sachs – sie alle können als Vorbilder dienen, wenn ein Autor „seine Sprache aus innern Hülfsquellen zu bereichern strebt“ (ebd., 37) und sich „auf das Erneuern des Alten versteht“ (ebd., 44). ‚Erneuerung‘ des Alten heißt natürlich Modifikation: In einem Brief an den älteren Schlegel betont beispielsweise Ludwig Tieck, dass er bei seiner Minnelieder-Bearbeitung vorsätzlich von den Quellen abgewichen sei und den Wortlaut absichtlich verän-
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dert habe (in: Lohner 1972, 132 ff.), und auch der Adressat seinerseits findet nichts dabei, ein Stück aus dem Nibelungenlied „in etwas erneuerter Sprache“ an die Öffentlichkeit zu geben: „Ich hab mir zum Gesetz gemacht, nichts grammatisch durchaus veraltetes stehen zu lassen und mußte daher auch oft die Reime ändern“. (A. W. Schlegel an L. Tieck, ebd., 149 f.) Von wissenschaftlich-historischer Philologie im heutigen Sinne kann hier also keine Rede sein. Eine solche ist aber eben auch gar nicht beabsichtigt. Wesentlich für eine angemessene Bewertung frühromantischer Praktiken des Umgangs mit historischen Texten ist stets der aktuelle Rezipientenbezug: Tieck äußert mehrfach, dass seine Minnelieder keine wissenschaftliche Edition, sondern eine Sammlung für Liebhaber sein sollen, und A. W. Schlegel hat die Hörer seiner Vorlesungen (mehrheitlich Laien) im Auge, die er für die alten Texte interessieren will, und denen er daher nichts völlig Unverständliches vortragen darf. Aus solchen Tatsachen wird deutlich: Die Begründung der germanistischen Mediävistik ist, was die Frühromantiker betrifft, lediglich ein Nebenprodukt literarischer Arbeit; es geht ihnen nicht um Wiedergabe, sondern um Aneignung, nicht um Bewahrung, sondern um Erneuerung. Sie wollen nicht lediglich etwas über die Geschichte der Sprache und Literatur wissen, sondern suchen in ihr Stoff für eigene poetische Arbeit. Hier wird das individualistische Moment der frühromantischen Sprachreflexion greifbar: die besondere Hervorhebung der Tatsache, „daß jeder Einzelne auch sprachbildend ist“ (Schleiermacher 1805/09, 46). Das geschieht freilich nie willkürlich. Man muss, wie Wilhelm von Humboldt erklärt, die „Erscheinung der Freiheit“ in der Sprache „erkennen und ehren“, ebenso aber auch „ihren Gränzen sorgfältig nachspüren, um nicht in den Sprachen durch Freiheit für möglich zu halten, was es nicht ist“ (Humboldt 1827/29, 184). Während aber Humboldt aus dieser Erkenntnis die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Sprachbetrachtung ableitet, ziehen die frühen Romantiker die Konsequenz regelbewusster Spracharbeit, die vor allem A. W. Schlegel als Repoetisierung versteht (vgl. oben): Die Sprache, die in ihrem Wesen als in sich geschlossenes, der Dienlichkeit zu fremden Zwecken enthobenes „Kunstwerk“ durch „beständigen sorglosen Gebrauch im Dienste des bloßen Bedürfnisses“ beeinträchtigt wird, soll ihre ursprüngliche Poetizität wiedergewinnen (A. W. Schlegel 1803, 196 f.). Wer mit dieser Aufgabe befasst ist, muss notwendig Sprachexperte sein: „Sprachen werden nicht erfunden, und auch alles rein willkührliche Arbeiten an ihnen und in ihnen ist Thorheit“ (Schleiermacher 1813, 223). Allein der wirkliche Kenner ist imstande, die Sprache ihren inneren Regeln gemäß zu bilden. Seine Kenntnis ist dabei nicht allein eine von bloßen Strukturen, sondern zugleich und vor allem eine historische: Sprache ist „ein geschichtliches Ding“, und daher „giebt es auch keinen rechten Sinn für sie, ohne Sinn für ihre Geschichte“ (ebd.). 6.3. Die Vorstellung vom poetisch-philologischen Sprachbildner unterscheidet den spezifisch frühromantischen Ansatz von Auffassungen des späteren 19. Jahrhunderts. Die
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historischen Grammatiker behandeln üblicherweise nicht das Individuum, sondern eine Gesamtheit von Sprechern, die ihrem ‚Nationalcharakter‘ oder ‚Volksgeist‘ gemäß, also nach naturbedingten15, dem Einzelnen unverfüglichen Prinzipien diese Sprache bildet. Zwar ist dieser Aspekt der Frühromantik ebenfalls nicht fremd; dennoch ist das eigentlich Charakteristische der frühromantischen Sprachauffassung nicht der Gedanke vom Volk als Sprachgestalter, und auch nicht der damit zusammenhängende einer gesetzmäßigen ‚organischen‘ Entwicklung der (National)sprache – dergleichen klingt immer nur nebenher mit, weil es freilich zu den zeitüblichen Selbstverständlichkeiten gehört. Zumindest für die Frühphase der deutschen Romantik gilt: Sie arbeitet nicht stärker mit dem Begriff der Nation als beispielsweise Weimarer Klassik, Spätaufklärung und deutscher Idealismus (vgl. Schulz 1989 sowie Bär 2000). Unter Nationen verstehen die Autoren vor allem unterschiedliche Ausprägungen des einen und selben menschlichen Geistes; an ihrer Betrachtung ist ihnen hauptsächlich um seinetwillen gelegen. Auch und gerade in der Philologie geht es darum, anderes Denken kennenzulernen und das eigene dadurch zu bereichern: „Das Studium der Sprachen ist [...] der goldne Schlüssel, der uns die Geistesschätze fremder Nationen öffnet“ (A. W. Schlegel 1802/03, 478). Ebenso wie bei Wilhelm von Humboldt geht es hier vorrangig um die Frage, ob und wie in der Vielfalt der verschiedenen Sprachen und Denkarten/Weltentwürfe so etwas wie Einheit gefunden oder hergestellt werden kann: „Wenn immer die Einheit etwas höheres ist als die Trennung und Entgegensetzung, so ist es unstreitig eine von den dem menschlichen Geiste vorliegenden Aufgaben, daß alle verschiednen Darstellungsarten desselben in verschiednen Idiomen sich in einander müssen auflösen lassen, und gleichsam ein grammatischer Kosmopolitismus gestiftet werden soll.“ (A. W. Schlegel 1803/04b, 337.)
Diese Leitidee des grammatischen Kosmopolitismus spielt insbesondere für das Konzept einer deutschen Philologie eine wichtige Rolle. Das Wort deutsch konnte in der Sprachreflexion und Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts extensional weit mehr umfassen als heute. Als deutsch konnten prinzipiell alle zum westgermanischen Sprachenverband zählenden Einzelsprachen bezeichnet werden.16 Die weitgefasste Bedeutung hat – womit man freilich heute aufgrund der unerfreulichen jüngeren Wissenschaftsgeschichte kaum rechnen zu dürfen meint – keine annexionistischen, sondern transzendierende (die eigene Nationalität überschreitende) Implikationen. Diese Paradoxie einer metanationalen Nationalität wird besonders gut in einem Seitenzweig der romantischen Philologie erkennbar: der Übersetzungsarbeit. Das Deutsche gilt den 15
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Die Ausläufer der auf Montesquieu zurückgehenden Klimatheorie, nach der nationale Charakteristika durch Umwelteinflüsse des jeweiligen Lebensraums bedingt sind, lassen sich in den Reflexionen der Romantiker über den Zusammenhang von Sprache und Nation allenthalben erkennen. So etwa in Jacob Grimms Geschichte der deutschen Sprache (1848), die aus heutiger Sicht lediglich die germanische Vorgeschichte des Deutschen thematisiert, aber auch noch das 1896/97 begründete Deutsche Rechtswörterbuch, zu dessen Quellen neben deutschen auch friesische, niederländische, altsächsische und angelsächsische Texte gehören.
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Romantikern als eine Sprache, die sich in besonderer Weise zur Übersetzung eignet. Ihre sogenannte „Biegsamkeit“ wurzelt jedoch nicht in sprachlichen Strukturen, vielmehr in der „Bereitwillligkeit“ ihrer Sprecher, „sich in fremde Denkarten zu versetzen und ihnen ganz hinzugeben“ (A. W. Schlegel 1802/03, 480). Als Ursache dieser Bereitwilligkeit wird eine geographisch-klimatische Mittelposition der Deutschen zwischen Nord und Süd ausgemacht. Sie bringt nach Meinung der Autoren mit sich, dass diese Nation keine einseitigen Nationaleigentümlichkeiten aufweist, sondern alle Züge ihrer Nachbarn in sich vereinigt; ihre Nationalität besteht darin, so Schlegel, „sich derselben willig entäußern zu können“ (A. W. Schlegel 1801/02, 195). Diese Universalität nun wirkt sich auf die Sprache aus, die dadurch „zur geschicktesten Dolmetscherin und Vermittlerin für alle übrigen wird“ (A. W. Schlegel 1802/03, 480).17 Die Stilisierung der Deutschen zur Übersetzernation ist keine Erfindung der Frühromantiker. Sie verarbeiten damit einen in der patriotisch orientierten Literaturreflexion des ganzen 17. und 18. Jahrhunderts verbreiteten Gedanken, der im Zusammenhang mit der allgemein anerkannten Meinung steht, Deutschland besitze keine mit anderen europäischen Nationen, etwa Italien, Spanien, Frankreich und England vergleichbare Nationalliteratur. Die Deutschen seien dafür, so der gängige Topos der Kompensation und Überbietung, die besten Übersetzer, und ihre Nationalliteratur sei daher sogar von allen die reichste: Sie umfasse Werke der ganzen europäischen Literatur. In der Frühromantik weitet sich dieser Universalitätsgedanke dann einerseits idealiter auf die gesamte Weltliteratur aus, andererseits kommt zum literarisch-ästhetischen der erkenntnistheoretischhermeneutische Aspekt – Bereicherung der eigenen Denkart durch das Kennenlernen anderer – hinzu. Dabei tritt jedoch der traditionell im Vordergrund stehende patriotische Gedanke, der Wunsch, anderen Nationen überlegen zu werden, erkennbar zurück. Den Frühromantikern (zumindest solange sie solche sind) geht es nicht in erster Linie darum, als Deutsche den ersten Platz in Kultureuropa einzunehmen. Sie blenden diesen Aspekt zwar nicht aus18, interessieren sich aber vorrangig für anderes: dafür, in der Vielfalt der verschiedenen Sprachen und der mit ihnen verbundenen Weltansichten eine Einheit zu finden. Das Problem der Übersetzbarkeit ist eine der größten Herausforderungen für das romantische Synthesis-Programm, und das Studium der Sprachen (fremder sowohl wie der eigenen) und ihre souveräne Beherrschung steht folglich im Dienste der Vermittlung. Das Übersetzen ist „auf nichts geringeres angelegt, als die Vorzüge der verschiedensten Nationalitäten zu vereinigen, sich in alle hineinzudenken und hineinzufühlen, und so einen kosmopolitischen Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften“ (A. W. Schlegel 1803/04a, 24; ebenso auch 1803/04b, 336; die bereits zitierte Parallelstelle mit der eingängigen Prägung grammatischer Kosmopolitismus, die interessanterweise Hapaxlegomenon bleibt, ebd. 337). 17
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Der Vermittlungsgedanke findet sich übrigens auch bei Goethe und Schiller (vgl. Bär 1999b, 230 und Koch 2000, 30 f. [mit weiteren Literaturhinweisen]). Ebensowenig wie beispielsweise Schiller (1801, 432): „Unsre Sprache wird die Welt beherrschen.“
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Hervorzuheben ist jedoch, dass damit keine Universalsprache oder Pasigraphie gefordert wird – nichts läge dem Aufklärungskritiker Schlegel ferner –, sondern eine ins Unendliche hin unabgeschlossene hermeneutische Aufgabe. Das bedeutet zugleich, dass es nicht darum geht, wahllos fremde Weltaspekte zu übernehmen und das eigene Sprechen und Denken so lange zu modifizieren, bis es nichts Eigenes mehr hat. Zwar ist in den Augen der Frühromantik „Universalität, Kosmopolitismus [...] die wahre Deutsche Eigenthümlichkeit“ (A. W. Schlegel 1803/04a, 24), aber es ist, wie Novalis erläutert, „Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualitaet gemischt“ (Brief an A. W. Schlegel, in: Samuel 1975, 237). Kosmopolitisch heißt nicht wurzellos: „Gränzenlose Bildsamkeit wäre Karakterlosigkeit“ (A. W. Schlegel 1798, 59). Unschwer erkennt man hier die typisch frühromantische Art des Umgangs mit Differenzen: Sie werden im Doppelsinn des Wortes ‚aufgehoben‘. Das frühromantische Programm der Einheit in der Vielfalt beabsichtigt, die Unterschiede zu überwinden, ohne sie doch als solche zu beseitigen.19 Dementsprechend ist die romantische Philologie transnational, selbst dort, wo sie als Philologie einer Einzelsprache auftritt. Es handelt sich gewissermaßen um eine Philologie des Abendlandes, geprägt vom Gedanken des historischen Sprachvergleichs und der Verwandtschaft nahezu aller europäischen Sprachen. Damit genügt es nicht, sich lediglich mit einer einzigen Sprache und Literatur – welcher auch immer – zu befassen, sondern man muss ihrer möglichst viele studieren. Vor allem die deutsche Philologie soll keine beschränkt nationale Philologie sein. Ihr ist das Ethos der hermeneutischen Synthesis in besonderem Maße aufgegeben, wobei die Vorstellung von Deutschland als der mittleren und daher vermittelnden Nation eine wichtige Rolle spielt: „Wo es auf das höchste Interesse der menschlichen Natur, auf die Entwicklung der edelsten Kräfte ankommt, in der Kunst und Wissenschaft unter andern, dächte ich, wäre es eine Deutschere Gesinnung, gar nicht zu fragen, ob etwas Deutsch oder ausländisch, sondern ob es ächt, groß und gediegen sey, als sich zu ängstigen, ob nicht etwa durch liberale Anerkennung des Fremden dem Ruhm des Einheimischen Abbruch geschehe“ (A. W. Schlegel 1803/04a, 16). 6.4. Eine kosmopolitische Haltung, Liberalität gegenüber dem Fremden ist nicht das, woran man im Zusammenhang mit Romantik, insbesondere mit romantischer Sprachreflexion zuerst denkt. Eben sie steht aber am Anfang des romantischen Diskurses, und es ergäbe ein einseitiges Bild, wollte man dies aus Unkenntnis oder ideologiekritischer Einäugigkeit übersehen (vgl. Knobloch 2002, 226 f.). Freilich darf andererseits selbstverständlich nicht vergessen werden, dass seit etwa 1805, spätestens mit Beginn der napoleonischen Kriege in Deutschland, deutlich nationalistischere Tendenzen erkennbar werden, die sich bei einigen Autoren zu ausgeprägtem Nationalchauvinismus auswachsen:
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Zum frühromantischen Synthesis-Konzept vgl. Bär 1999a, 34–42.
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„[I]ch schäme mich nicht, den Glauben zu bekennen, daß das teutsche Volk in der Weltgeschichte mehr bedeutet hat und mehr bedeuten wird, als das französische. [...] Im Allgemeinen ist die Frage thörigt, welches Volk besser sey, der Engländer oder der Spanier, der Teutsche oder der Franzose, weil die Vergleichungen gewöhnlich einen lächerlichen Streit der Eitelkeiten geben, so wie es thörigt ist, wenn ich frage: ist die Eiche besser als der Dornstrauch, das Veilchen als der Schierling, die Distel als der Rosenbusch? Aber wie? wenn es den Disteln einfiele, sich mit den edlen Kindern des Rosenbusches vermählen zu wollen? sollte der Roschenbusch da seine Dornen nicht gebrauchen? Wie wenn wir der Rosenbusch wären, und die Franzosen die Disteln? Auf jeden Fall schadet uns das Vorurtheil nicht, wir seyen es; wir wehren uns desto baß der ungebührlichen Vermischung mit dem Ungleichen.“ (Arndt 1813, 16 f.)
Die gedanklichen Eskapaden Johann Gottlieb Fichtes, der in seiner vierten Rede an die deutsche $ation (1808) in Anlehnung an Topoi des 17. Jahrhunderts der französischen Sprache unterstellt, man könne in ihr nur lügen (vgl. Bär 2000, 217 ff.)20, die Behauptung, zwischen Deutschland müsse nicht etwa nur Feindschaft bestehen, solange Napoleon sie regiere21, sondern Erbfeindschaft durchaus und für immer22, die fremdenfeindlichen, engstirnigen, zwischen Gewaltsamkeit und Kitsch oszillierenden sprachlichen Exzesse eines Friedrich Ludwig Jahn23, die die Behauptung, die deutsche Nation sei im 20
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Vgl. beispielsweise auch Arndt (1818, 360): „[D]ie Sünde mit einem Halbschein von Tugend und Anmuth [zu] verzieren wird unserer Sprache gottlob tausendmal schwerer als es der französischen ist.“ Denn die deutsche Sprache ist „rauh und unmild, wie ihr Land, dem Lieblichen und Süßen spröd und widerstrebend; das anmuthige Spielen, das leichte Einherhüpfen in Tönen, die bloß als Töne ergötzen, ist ihr nicht eigen“ (Arndt 1805, 39 f.). Sie ist „für Menschen gemacht [...], die viel schweigen und, wann sie sprechen, schlecht und recht verständig sprechen sollen“; sie ist „einfältig, treu und unscheinbar“ und darf sich „nur in dem Höchsten und Tiefsten [...] erheben“ (ebd., 40). In Kleists Katechismus der Deutschen heißt es auf die Frage „Wer sind deine Feinde, mein Sohn?“: „Napoleon, und solange er ihr Kaiser ist, die Franzosen“ (Kleist 1809, 391). Vgl. Arndt (1813, 15): „Die Franzosen sind unsere mächtigsten und gefährlichsten Nachbarn, und sie werden es bleiben, auch wenn die Hand des Verhängnisses den Giganten Napoleon und alle seine stolzen Entwürfe hingestreckt hat: sie können nie aufhören, unruhig, eitel, herrschsüchtig, und treulos zu seyn. Gottlob, die Zeit ist erschienen, wo der Widerwille, den das brave teutsche Volk immer noch gegen die Wälschen und ihre Sitten empfunden hat, zu einem brennenden Haß werden kann, wo er in die Seelen der Kinder so eingepflanzt werden kann, daß er aus teutschen Brüsten künftig nicht mehr auszurotten ist; die Zeit ist erschienen, wo die allmächtige Meinung der Menschen der französischen Aefferei und Ziererei, und aller der eitlen Nichtigkeit, wodurch die sogenannten gebildeten Teutschen entteutscht waren, das Todesurtheil spricht, wo das ehrliche Teutsche oben schwimmen wird und nicht das lügnerische Wälsche.“ „Ohne Sprache giebt es kein Festhalten der Begriffe, kein Bestimmen derselben zum Urteil, kein Aneinanderreihen von diesen zu Schlüssen.“ (Jahn 1810, 184) – „Sollen in früher Jugend zwei oder mehrere Sprachen zugleich ihre Wirksamkeit äußern, so müssen sie sich mit den Vorstellungen kreuzen, den Gedankenzusammenhang stören, den ganzen Menschen verwirren.“ (Ebd., 185.) – „In der Muttersprache widerhallen alle Hochgefühle, des Herzens ausgeschollene Klänge, vom ersten Wiegenlaut bis zur Liebe wundersüßem Wonnekosen.“ (Ebd., 186) „Unsere Affenliebe für fremde Sprachen hat lange schon Windbeutel, Aufblase-frösche und Landläufer wichtig gemacht, in den fremden Sprachlehrern gefährliche Kundschafter ins Land gezogen, durch die Immerzüngler und Näseler unser biederherziges Volk verdorben, unsere sinnigen Weiber verpuppt. Fremde Sprachen
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Gegensatz zur französischen per se unpolitisch und nicht für die Demokratie bestimmt, die sich beispielsweise bei Friedrich de la Motte Fouqué und noch in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) findet (Bär 2000, 223 f.) – all dies muss hier mit Blick auf die ideologischen Entwicklungen des späteren 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Erwähnung finden, in denen die hier bereits greifbare gedankliche Perversion auf die Spitze getrieben wurde. Erwähnung finden muss auch, dass der ‚grammatische Kosmopolitismus‘ der frühen Romantik in Wahrheit doch eher ein ‚Europolitismus‘ gewesen ist. Der Ansatz eines Wilhelm von Humboldt, der die vergleichende Sprachwissenschaft vom Anspruch her auf alle Sprachen der Welt bezogen sehen wollte und die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Sprachen postulierte, erscheint unter seinen Zeitgenossen einigermaßen singulär; beide Brüder Schlegel können sich in ihren Ansichten zur vergleichenden Sprachwissenschaft von dem Gedanken nicht freimachen, dass die flektierenden Sprachen den flexionslosen deutlich überlegen seien (vgl. unten, 6.5). Der nationalistischen Reduktion ist in späteren Jahren jedoch selbst Humboldts Sprachauffassung nicht entgangen. Seine Theorie von der nationalspezifischen ‚Weltansicht‘, die in jeder Sprache sich manifestiert (so dass der Mensch, um seine ‚Weltansicht‘ zu erweitern, zum Erlernen anderer Sprachen aufgefordert ist)24, wird nicht allein
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sind für den, der sie nur aus Liebhaberei und Plappermäuligkeit treibt, ein heimliches Gift.“ (Ebd., 187.) „Da aller objectiven Wahrnehmung unvermeidlich Subjectivitaet beigemischt ist, so kann man schon unabhängig von der Sprache jede menschliche Individualität als einen eignen Standpunkt der Weltansicht betrachten. Sie wird aber noch viel mehr dazu durch die Sprache, da das Wort sich, der Seele gegenüber, auch wieder selbst zum Object macht, und eine neue, vom Subject sich absondernde Eigenthümlichkeit hinzubringt, so dass nunmehr in dem Begriffe ein Dreifaches liegt, der Eindruck des Gegenstandes, die Art der Aufnahme desselben im Subject, die Wirkung des Worts, als Sprachlaut. In dieser letzten herrscht in derselben Sprache nothwendig eine durchgehende Analogie, und da nun auch auf die Sprache in derselben Nation eine gleichartige Subjectivitaet einwirkt, so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht. [...] Weltansicht [...] ist die Sprache nicht bloss, weil sie, da jeder Begriff soll durch sie erfasst werden können, dem Umfange der Welt gleichkommen muss, sondern auch deswegen, weil erst die Verwandlung, die sie mit den Gegenständen vornimmt, den Geist zur Einsicht des von dem Begriff der Welt unzertrennlichen Zusammenhanges fähig macht. Denn erst indem sie den Eindruck der Wirklichkeit auf die Sinne und die Empfindung in das, als Organ des Denkens eigen vorbereitete Gebiet der articulirten Töne hinüberführt, wird die Verknüpfung der Gegenstände mit den klaren und reinen Ideen möglich, in welchen der Weltzusammenhang ans Licht tritt. Der Mensch lebt auch hauptsächlich mit den Gegenständen, so wie sie ihm die Sprache zuführt, und da Empfinden und Handlen in ihm von seinen Vorstellungen abhängt, sogar ausschliesslich so. Durch denselben Act, vermöge welches der Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede Sprache zieht um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer andren Sprache hinübertritt. Die Erlernung einer fremden Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht seyn, da jede das ganze Gewebe der Begriffe und der Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit enthält. Da man aber in eine fremde Sprache immer mehr oder weniger seine eigne Welt- ja seine
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bereits von einigen seiner Zeitgenossen all ihrer Urbanität beraubt (vgl. Anm. 23), sondern wird auch in intellektuell verflachter, dafür ideologisch passgenauer Form von der Sprachwissenschaft des späteren 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts übernommen (vgl. z. B. Ivo 1994). Die sprachidealistische Weltbild-Theorie, für die im 20. Jahrhundert Namen wie Leo Weisgerber oder Fritz Stroh stehen, geht davon aus, dass der Mensch in die Denk- und (wichtiger noch) Wertegemeinschaft seines ‚Sprachvolks‘ hineinwachse, deren Ansprüchen er sich nicht entziehen könne. Er muss denken, fühlen und wollen wie das Kollektiv; individuelle Eigenständigkeit tritt demgegenüber, anders als bei Humboldt, in den Hintergrund und erscheint sogar implizit als unnatürlich bzw. unmoralisch: „Menschliches Wertwissen und auch bis zu einem gewissen Grade die Äußerungsformen des Empfindens und Fühlens, die gefühlshaltigen Stimmungen, sind an die Sprache der Gemeinschaft gebunden, sind gruppenüblich und nicht nur einzelpersönlich bedingt. Die Erfahrungsordnungen der Sprachen sind die zwangsläufig gegebenen Voraussetzungen menschlichen Denkens und Wertens und bestimmen als solche die Besonderheit der Bewegungsweise des Geistes und der Seele der Sprachvölker. Wert zeugt Wollen: die in die Sprachbegriffe, die Worte gebundenen Wertladungen sind Träger von Handlungsintentionen, die milliardenhafte gleichgerichtete Wirkungen auslösen und Handlungen fordern. Der wertgeladene Wortbegriff ist selbst Wille, der Wille und Kraft gebiert und von einem auf viele überträgt. In diesem Sinne ist das Wort aus Handlung geborene und Handlung zeugende Kraft. Die Gemeinschaftssprache bestimmt den Wesenswillen der Gruppe. Da die Muttersprache zu einer bestimmten Weise des Wertens hinführt, ist offenbar auch die sittliche Bildung des Menschen, sind die Entscheidungen des Gewissens in hohem Maße durch die Wertungsgewohnheiten seiner Muttersprache bedingt, sind Sitte und Brauch aus Sprache geboren und ihre Wertordnungen sprachbezogen [...].“ (Stroh 1933, 48) – „Offenbar ist [...] das geistige Weltbild sowie das Wertwissen des Einzelnen stärker durch seine Muttersprache bestimmt als durch seine Eigenpersönlichkeit. Im Geistig-Seelischen ist der nachgeburtliche Einfluß der Muttersprache in hohem Grade bestimmend. Der Bewegungsraum des einzelpersönlichen Werturteils steckt zwar innerhalb einer allgemeinen Breite [...]. Doch empfängt der Einzelne seine Erkenntnis- und Wertungsformen überhaupt mit der Muttersprache als fertige Ordnungen und geprägte Erfahrungen seiner Gruppe. Er holt aus ihr bereits vorhandene, von der Gruppe hineingelegte und überlieferte Wertgehalte heraus. Sein Menschentum beginnt erst mit seiner Sprache, seine Persönlichkeit mit seiner besonderen Muttersprache. Mit der Spracherlernung übernimmt der Mensch [...] das Weltbild, das in den Begriffen und Denkformen seiner Muttersprache niedergelegt ist. Damit gelangt er unbewußt in den Besitz der Erfahrungen, die von unzähligen Geschlechtern in diese Sprache niedergelegt wurden. So verläuft sein Denken von Kindheit an ausschließlich in den Formen und Inhalten seiner Muttersprache. Mit der Spracherlernung übernimmt der Mensch aber auch zugleich ebenso unmerklich und unbewußt die Wertungsgewohnheiten seiner Muttersprache, wird durch sie in die Wertwelt der Gemeinschaft ‚hineingeformt‘, ‚hineingenormt‘ [...]. [...] Seiner Sprache nach ist der Einzelne Glied im Ganzen der Volkssprache und in diese hineingebunden. Ihr gegenüber ist er wesentlich nur Geschöpf und immer nur in sehr geringem Maße Schöpfer. Die Einwirkung der Gemeinschaft auf ihn bei der Bildung seines geistigen Weltgefüges und seiner Wertordnungen ist außerordentlich viel stärker als umgekehrt die eigne Sprachansicht hinüberträgt, so wird dieser Erfolg nie rein und vollständig empfunden.“ (Humboldt 1827/29, 179 f.)
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Einwirkung des Einzelnen auf die Gemeinschaft. Diese Leistung der Gemeinschaftssprache bei der Bildung der geistig-seelischen Persönlichkeit des Einzelnen ist aber auch von entscheidenderer Bedeutung als die Leistung, die der Einzelne unmittelbar von sich aus hierbei vollbringt. Daher läßt sich der Begriff der Muttersprache auch nur durch das Verhältnis von Sprache und Gemeinschaft, von Sprache und Volk bestimmen und nicht nur individualsprachlich, das heißt, durch die Betrachtung lediglich der Einzelpersönlichkeit und ihres Sprachbesitzes.“ (Ebd., 50 f.)
6.5. Noch in anderer Hinsicht gibt es Unterschiede zwischen der frühen Romantik um 1800 und der späteren. Ab etwa dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verlagert sich das romantische Interesse an philologischer Beschäftigung mit Sprache immer deutlicher vom Praktisch-Poetischen hin zum Historisch-Empirischen. Gleichwohl bleibt der ästhetische Grundansatz erhalten. Er zeigt sich exemplarisch in A. W. Schlegels bekannter und bis heute in der Sprachtypologie gebräuchlicher Unterscheidung zwischen synthetischem und analytischem Sprachbau, die er von Adam Smith übernommen und erstmals in dem französisch geschriebenen Aufsatz Observations sur la Langue et la Littérature Provençales (1818) vorgetragen hat. Die Sprachen der Welt lassen sich demnach in drei Klassen einteilen: „les langues sans aucune structure grammaticale, les langues qui emploient des affixes, et les langues à inflexions“ (A. W. Schlegel 1818, 58 f.). Erstere weisen keine Deklination, Konjugation oder Derivation auf; ihre Syntax besteht lediglich aus einer Aneinanderreihung unveränderlicher Einzelwörter („toute la syntaxe consiste à placer les éléments inflexibles du langage les uns à côté des autres“; ebd., 159). Die affigierenden Sprachen zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen selbständig bedeutungstragende lexikalische Einheiten („pris isolément, ils renferment encore un sens complet“) die Funktion übernehmen können, Nebenbegriffe und Beziehungen zum Ausdruck zu bringen („exprimer les idées accessoires et les rapports“), indem sie an andere Wörter angehängt werden („en s’attachant à d’autres mots“), die sie inhaltlich modifizieren (ebd.). Die flektierenden Sprachen schließlich verwenden Silben, die für sich genommen durchaus keine Bedeutung haben („syllabes qui, considérées séparément, n’ont point de signification“), die aber den Sinn der Wurzelsilbe, an die sie angefügt werden, modifizieren und jeweils genau bestimmen („qui déterminent avec précision le sens du mot auquel elles sont jointes“); dadurch kann mit einem einzigen Wort ein – oftmals schon sehr komplexer – Hauptbegriff („idée principale“) mit seinem gesamten Gefolge („cortége“) von Nebenbegriffen („idées accessoires“) und veränderlichen Beziehungen („relations variables“) zum Ausdruck gebracht werden (ebd., 160). Die flektierenden Sprachen nun unterteilen sich in zwei Gattungen („se subdivisent en deux genres“), nämlich die synthetischen und die analytischen Sprachen (ebd.). Die analytischen sind diejenigen, die zur Flexion Artikel, Pronomina, Hilfsverben, Adverbien usw. verwenden, d. h. die verschiedenen grammatischen Funktionen getrennt voneinander zum Ausdruck bringen, wohingegen die synthetischen diese Aspekte in einem und demselben Wort vereinigen.
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Im Unterschied zu den affigierenden Sprachen, die von alters her für sich selbst bestehen können – als Beispiele werden Eingeborenensprachen Amerikas und das Baskische genannt (ebd., 213 f.) –, sind die analytischen Sprachen laut Schlegel jünger: moderne Schöpfungen („de création moderne“), wie er sagt; sie entstammen der Auflösung synthetischer Sprachen („sont nées de la décomposition des langues synthétiques“; ebd., 161). Standardbeispiel sind für ihn im Kontext seiner Untersuchung über das Provenzalische natürlich die romanischen Sprachen. Interessant ist die Motivation der Termini synthetisch und analytisch sowie ihre Korrespondenz mit dem Terminus-Paar antik/modern. Es geht Schlegel weniger um ausdrucksseitige Einheiten, also Morpheme, die in einem Wort zusammengesetzt (synthetisiert) werden, bzw. Lexeme, in die ein grammatischer Komplex aufgespalten (analysiert) ist; vielmehr geht es ihm um das dahinterstehende Denken. Die synthetischen Sprachen vereinigen verschiedene gedankliche Aspekte in einem Wort, während die analytischen sie auf verschiedene Wörter verteilen. Diese Unterscheidung ist konzeptionshistorisch keineswegs neu. In der Tat ist sie nichts weiter als eine Anknüpfung an die Wortstellungsdiskussion des 18. Jahrhunderts, die, ausgehend von der Theorie der Port-Royal-Grammatiker vom ordre naturel, hauptsächlich in Frankreich, aber auch in Deutschland – beispielsweise in J. G. Hamanns Vermischten Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache (1762) – geführt wurde. Monreal-Wickert (1977, 58–73) hat den Zusammenhang der Schlegel’schen Klassifikation mit Theoremen des französischen Enzyklopädisten Nicolas Beauzée plausibel gemacht. Dieser hatte in seinen Encyclopédie-Artikeln die Ansicht vertreten, dass diejenige Sprache die natürlichste (und damit auch die verständlichste) sei, die sich in ihrer Satzstellung nach der natürlichen Ordnung der Gedanken richtet. Insofern sie der „analyse de la pensée“ folgt, heißt diese Ordnung auch „ordre analytique“ (Beauzée, Encyclopédie IX, 257b, s. v. Langue; vgl. Monreal-Wickert 1977, 99, mit weiteren Literaturhinweisen). Solche Vorstellungen nun greift Schlegel mit seiner Unterscheidung der analytischen und synthetischen Sprachen auf – allerdings mit einer inhaltlichen Neufassung des Wortes analytique25 und mit umgekehrten Vorzeichen, was die Bewertung angeht. Für ihn ist es nicht, wie für Beauzée, eine abzulehnende Verkehrung der Natur, wenn die Wortstellung die Abfolge der Gedanken nicht eins zu eins wiedergibt, sondern vielmehr eine begrüßenswerte Freiheit. Derjenigen Sprache, die eine solche freie Wortstellung erlaubt, indem sie mehrere Vorstellungen in einem und demselben Wort zusammenzieht 25
Beauzée unterscheidet eine bessere und eine schlechtere Möglichkeit, einen gedanklichen Inhalt mit syntaktischen Mitteln sprachlich zu fassen und zum Ausdruck zu bringen; er versteht analytique im Sinne von ›im Satzbau die gegliederte Abfolge der Gedanken eins zu eins abbildend‹. Schlegel hingegen unterscheidet zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, einen komplexen Gedanken auszudrücken (eine mit morphologischen und eine mit syntaktischen Mitteln); bei ihm bedeutet analytique: ›eine gedankliche Gegliedertheit dadurch absolut setzend, dass die verschiedenen Aspekte jeweils in einer eigenständigen ausdrucksseitigen Einheit gefasst werden‹.
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und dabei mit morphologischen Mitteln (eben den Flexionssilben) gleichwohl die Bedürfnisse der Logik befriedigt, bewertet Schlegel daher eindeutig höher. Er preist die große Freiheit („grande liberté“; A. W. Schlegel 1818, 167), die den klassisch-antiken Sprachen in der Anordnung der Wörter („dans l’arrangement des mots“) eignete, als glänzenden Vorzug („brillant avantage“). Die Unterscheidung von synthetischen und analytischen Sprachen ist in der Sprachtypologie bis heute präsent. Allerdings wird sie (wiewohl fast stets mit Hinweis auf A. W. Schlegel) meist ohne Kenntnis der theoretischen Zusammenhänge bemüht, in denen sie ursprünglich entworfen wurde. Es handelt sich dabei um Zusammenhänge, welche die genannte Unterscheidung mit heutigen Auffassungen von Sprachwissenschaft kaum kompatibel erscheinen lassen: um das bereits erläuterte Ideologem der Repoetisierung der Sprache. Dass der Autor die allgemein philosophischen Bezüge, in deren Rahmen er seine frühromantische Sprachtheorie entworfen hatte, bei seinen späteren, mehr empirisch geprägten philologischen Arbeiten nicht aus den Augen verloren hat, macht er selbst deutlich. So weist er eigens darauf hin, dass die Sprachgeschichte identisch sei mit der Geschichte des menschlichen Geistes („que l’histoire des langues est celle de l’esprit humain“; A. W. Schlegel 1818, 161). Die geistesgeschichtliche Entwicklung von der ursprünglich-poetischen Synthesis, dem harmonischen Zusammenwirken der menschlichen Gemütskräfte, hin zur Vorherrschaft der Ratio und der damit verbundenen analytischen Denkweise sieht Schlegel in der Abfolge der Epochen der klassischen Antike und der seit dem Mittelalter angesetzten Moderne realisiert, die er nun auch als sprachhistorische Epochen deutlich akzentuiert: „Les grandes synthèses créatrices sont dues à la plus haute antiquité: l’analyse perfectionnée était réservée aux temps modernes“ (ebd., 169). In den synthetischen Sprachen manifestiert sich nach seiner Auffassung eine gleichzeitige Tätigkeit, ein unmittelbarer Antrieb aller Seelenkräfte („il s’y manifeste une action [...] simultanée, une impulsion [...] immédiate de toutes les facultés de l’âme“; ebd.). Dem entspricht die auf innerer, gleichsam organischer Einheit gründende „grande liberté“ der synthetischen Sprachen in der Wortstellung, die es dem Dichter erlauben, mit immer neuem Reiz auf die „imagination“ und die „sensibilité“ seiner Leser bzw. Hörer zu wirken, indem er die Sätze ins Unendliche hin abwandelt und die Wörter mit erlesenem Geschmack ineinanderflicht („en variant les phrases à l’infini, en entrelaçant les mots avec un gout exquis“; ebd., 167), ohne allerdings die Bedürfnisse des Verstandes zu vernachlässigen: „La logique était satisfaite, la clarté assurée par des inflexions sonores et accentées“ (ebd.).26 26
Eine inhaltlich und auch in den (dort deutschen) Formulierungen weitgehend parallele Stelle findet sich bereits in den Berliner Enzyklopädie-Vorlesungen: Wünschenswert für die Poesie ist demnach eine möglichst große Freiheit der Wortfolge nach dem Vorbild des Lateinischen und Griechischen, wo es „der Deutlichkeit keinen Abbruch thut“, wenn man „das zusammen Gehörige auch ziemlich weit trennt“ (A. W. Schlegel 1803/04b, 325). Diese Freiheit erlaubt es dem Dichter, „für das Gefühl und die Fantasie [...] noch so manches auszudrücken, was nicht in den bloßen Begriffen liegt“
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Die modernen oder analytischen Sprachen können demgegenüber nicht mehr (zumindest nicht mehr in gleicher Weise wie die synthetischen) als organische Kunstwerke verstanden werden27, sondern sind „der Logik strenge unterworfen“ (A. W. Schlegel 1818/19, 64) bzw. „sévèrement assujetties à la marche logique“ (ders. 1818, 168). In ihnen herrscht der Verstand vor („préside le raisonnement“), der gesondert von den anderen Vermögen („à part des autres facultés“) arbeitet und infolge dessen („se rendant [...] mieux compte de ses propres opérations“) seine spezifischen Ziele besser verfolgen kann (ebd., 169). Was die Forderung nach Repoetisierung selbst betrifft, so erhebt Schlegel sie in den Observations ohne Zweifel weit weniger explizit als er könnte. Immerhin weist er aber deutlich darauf hin, dass er den alten, also den synthetischen Sprachen gegenüber den modernen, den analytischen den Vorzug gibt: „Je l’avoue, les langues anciennes, sous la plupart des rapports, me paraissent bien supérieures“ (ebd., 167). Zudem konstatiert er – ganz in Übereinstimmung mit früher geäußerten Ansichten (vgl. Bär 1999a, 253– 255; Bär 2000, 214–216) –, dass nicht nur die Entwicklung des menschlichen Geistes Einfluss auf die Entwicklung der Sprache, sondern auch die Entwicklung der Sprache Einfluss auf die Entwicklung des menschlichen Geistes habe: „Le meilleur éloge qu’on puisse faire des langues modernes, c’est qu’elles sont parfaitement adaptées aux besoins
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(ebd.), indem er, wie durch Tropik, Reim und Wortbildung, so auch im Satzbau Verknüpfungen herstellt und Auseinanderliegendes aufeinander bezieht: „In der Poesie liegt eben in der Verschlingung eine große Schönheit, indem dadurch ein ganzes Bild aufs innigste vereinigt und gleichsam zu einem einzigen großen Worte gemacht wird“ (ebd.). – Ebenfalls parallel die Bonner Vorlesungen über Geschichte der deutschen Sprache und Poesie: „Die synthetischen Sprachen leisten den Foderungen logischer Bestimmtheit und Deutlichkeit schon durch die Flexionen Genüge, und können in der freyeren Wortstellung die Einbildungskraft und das Gefühl ganz anders in Anspruch nehmen“ (A. W. Schlegel 1818/19, 64). Immerhin bezeichnet A. W. Schlegel (1818, 159) die flektierenden Sprachen insgesamt, also auch die analytischen Sprachen als „une espèce d’organisme“, weil er in ihnen ein lebendiges Prinzip der Entwicklung und Vermehrung erkennt, das ein reiches und fruchtbares Wachstum zur Folge hat („parce qu’elles renferment un principe vital de développement et d’accroissement, et qu’elles ont seules, si je puis m’exprimer ainsi, une végétation abondante et féconde“; ebd.). Im Hintergrund steht hier Friedrich Schlegels Unterscheidung von „organischen“ und „mechanischen“ Sprachen, auf die sich sein Bruder ausdrücklich bezieht (A. W. Schlegel 1818/19, 25), und in der bereits alle wesentlichen Topoi präformiert sind. Eine „organische“ Sprache wird „durch Flexionen oder innre Veränderungen und Umbiegungen des Wurzellauts in allen seinen Bedeutungen ramifiziert, nicht bloß mechanisch durch angehängte Worte und Partikeln zusammengesetzt [...], wo denn die Wurzel selbst eigentlich unverändert und unfruchtbar bleibt“ (F. Schlegel 1808, 149; vgl. auch Bär 1999a, 212 f.). – Obgleich nun die analytischen Sprachen für A. W. Schlegel zu den organischen zählen, schreibt er den synthetischen Sprachen die größere Natürlichkeit zu: Er führt an dass taubstumme Kinder, die den Gebrauch von Zeichen der logischen Ordnung gemäß gelernt hatten, sich selbst überlassen diese in anderer Weise, nämlich mit kühnen Inversionen anordneten („ils font les inversions les plus hardies“), die dem lateinischen Satzbau ähnelten (A. W. Schlegel 1818, 168). Die Inversionen, so Schlegels Konklusion, sind also nicht lediglich rhetorischer Zierrat („ornements de rhétorique“), sondern der ursprünglichen Natur des menschlichen Geistes gemäß.
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actuels de l’esprit humain, dont elles ont, sans aucun doute, modifié la direction.“ (A. W. Schlegel 1818, 167). Zieht man nun in Erwägung, dass die Modifikation der synthetischen Sprachen in Richtung auf analytische Strukturen aus Schlegels Sicht in der Hauptsache ein Sprachwandel aufgrund mangelnder Sprachbeherrschung war28, und dass er zudem die synthetischen Strukturen als dem menschlichen Geiste angemessener betrachtet (vgl. Anm. 26), so kann kein Zweifel daran bestehen, dass die „aktuellen Bedürfnisse“ des menschlichen Geistes aus Sicht des Autors nicht den Gipfelpunkt von dessen Entwicklung darstellen, sondern allenfalls eine Durchgangsstation, und auch die Implikation der Sätze, mit denen er die Observations beschließt (A. W. Schlegel 1818, 209), kann kaum missverstanden werden: In einer Epoche, in der alle Geister auf neue Ideen ausgerichtet seien („où tous les esprits sont tournés vers des nouvelles idées“), sei es vielleicht besonders nützlich („particulièrement utile“), die Erinnerung an eine schon weit zurückliegende Vergangenheit wiederzubeleben („réveiller le souvenir d’un passé déjà éloigné“). Das sicherste Mittel, keinen Nutzen aus der Geschichte zu ziehen, sei, ihr feindselig gegenüberzutreten („porter un esprit d’hostilité“). Wenn man seine Vorfahren verachte, solle man sich in acht nehmen, dass es einem die Nachwelt nicht heimzahle („Si nous dédaignons nos ancêtres, prenons garde que la postérité ne nous le rende“). 6.6. A. W. Schlegels Sprachtypologie ebenso wie sein Repoetisierungsprogramm ist vor dem Hintergrund der allgemeinen frühromantischen Kulturgeschichtstheorie zu sehen: der hauptsächlich von Friedrich Schlegel entwickelten Unterteilung der Kulturgeschichte in zwei Epochen, nämlich eine antike oder klassische und eine (vom Mittelalter an datierte) moderne oder romantische; eine noch nicht angebrochene dritte Epoche, als deren Verkündiger sich die Frühromantiker verstehen, ist als die zu vollziehende Verschmelzung (Synthese) von Antike und Moderne gedacht (vgl. Bär 1999a, 34–42; ebd., 285–289). Die Philologie (verstanden im alten Sinne als Einheit von Sprach- und Literaturwissenschaft) spielt im Rahmen dieses teleologischen Geschichtsbildes die wesentliche, nämlich die Vermittlerrolle. Die Frühromantiker schreiben ihr, wie bereits erläutert, hinsichtlich der Sprache poietische, bildnerische Funktion zu und sehen damit in ihr zugleich 28
Der Übergang vom synthetischen zum analytischen Bau erfolgt dann, wenn eine Sprache nicht durch eine die Grundlage der nationalen Bildungstradition darstellende Literatur fixiert ist (A. W. Schlegel 1818, 161 f.; ders. 1818/19, 25 u. 66); bei den romanischen Sprachen und beim Englischen kommt zusätzlich die durch Eroberung und Fremdherrschaft bedingte Sprachmischung hinzu. Aufgrund der Themenstellung seines Aufsatzes von 1818 widmet sich der Autor besonders den romanischen Sprachen; hier konstatiert er eine allgemeine Unfähigkeit der barbarischen Eroberer der Völkerwanderungszeit, das in den weströmischen Provinzen gesprochene Latein korrekt zu erlernen; „surtout ils ne savaient pas manier ces inflexions savantes, sur lesquelles repose toute la construction latine“ (ebd., 166). Die eingesessene Bevölkerung habe dann, dadurch dass sie ihre Sprache schlecht gesprochen hörte, ihrerseits die Regeln vergessen und die Redeweise ihrer neuen Herren nachgeahmt (ebd.).
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ein Mittel für die „Ausbildung des Menschen als Menschen“ (F. Schlegel 1805/06, 186). Denn die Sprache ist eben, wie bereits ausgeführt, nichts anderes als „das große, nie vollendete Gedicht, worinn die menschliche Natur sich selbst darstellt“ (A. W. Schlegel 1795, 84), und die intime Kenntnis der Grammatik ebenso wie der Literatur ist „ein unerläßliches Erforderniß für jeden, der eine höhere Bildung sich zum Ziele [...] gesetzt hat“ (F. Schlegel 1805/06, 186). Die philologische Beschäftigung mit der Antike ist die Beschäftigung mit einem Vorbild, dem das Eigene, das Moderne nachzugestalten ist: „Klassisch zu leben, und das Altertum praktisch in sich zu realisieren, ist der Gipfel und das Ziel der Philologie“ (F. Schlegel 1798a, 38). Man solle, „um die moderne[n] Sprach[en] antik zu bilden, sich selbst das Klassische praktisch zueignen in Saft und Blut, und die größere Verbreitung desselben befördern“, d. h. die antiken Texte nicht nur studieren, sondern auch übersetzen (F. Schlegel 1797b, 67); diese Tätigkeit gehört „ganz zur φλ [Philologie]“ und ist eine „durchaus φλ [philologische] Kunst“ (ebd., 64). Freilich geht es nicht um eine bloße Wiederbelebung der Antike, sondern um die Möglichkeit, über unterschiedliche Manifestationen und Ausdrucksweisen des menschlichen Geistes zu verfügen und sich ihrer gleichsam wie verschiedener Register bedienen zu können: „Ein recht freyer und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkührlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit, und in jedem Grade“ (F. Schlegel 1797a, 147).29 Entsprechendes gilt für die Übersetzung als Bestandteil der Philologie: „Um aus den Alten ins Moderne vollkommen übersetzen zu können, müßte der Übersetzer desselben so mächtig seyn, daß er allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber das Antike so verstehn, daß ers nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte“ (F. Schlegel 1798a, 121).
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Ernst Behler hat gezeigt, dass die von Friedrich Schlegel angestrebte Restitution der Antike keineswegs eine Abwendung von der Moderne beinhaltet, und auch bereits auf Friedrichs Bedeutung für seinen Bruder hingewiesen: „Im Unterschied zu Schillers Idee eines unendlichen Fortschreitens auf das Ideal hin bleibt bei Schlegel die Antike als Vorbild präsent im Sinne der ‚ewig anwesenden Schönheit‘ [...]. Antike und Moderne treten damit in einen dialektischen Spannungsbezug, den es in der französischen, englischen und bisherigen deutschen Behandlung des querelle-Themas nicht gegeben hatte. Die Moderne scheidet sich hier nicht von der klassischen Antike ab, sondern setzt sich – in Fichtescher Terminologie – in die lebendigste ‚Wechselwirkung‘ mit ihr. Schlechte Modernität, so könnte man es formulieren, besteht im bloßen Abscheiden, im bloßen Fortschreiten, in der ständigen Steigerung des Interessanten und Pikanten. Genuine Modernität befindet sich in einem ebenbürtigen Verhältnis zur Klassik und manifestiert sich in einem Wettstreit mit ihr. Das wahre Griechenland rückt vom Anfang der europäischen Literaturgeschichte an deren unerreichbares Ende. Paradox ausgedrückt ließe sich sagen [...], daß Schlegel nicht auf einer Seite der querelle des anciens et des modernes focht, sondern auf beiden. August Wilhelm Schlegel folgte diesen geschichtsphilosophischen Ansichten seines Bruders“ (Behler 1986, 169).
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Aufgabe des Philologen ist also die produktive Vermittlung der Antike und der Moderne bzw. (da es hier weniger um zwei Zeitabschnitte als um zwei einander entgegengesetzte kognitive Prinzipien geht) dessen, wofür die beiden Epochen stehen: Einheitlichkeit und Divergenz. Die moderne Poesie lässt den Leser unbefriedigt. „Befriedigung findet sich nur in dem vollständigen Genuß, wo jede erregte Erwartung erfüllt, auch die kleinste Unruhe aufgelös’t wird; wo alle Sehnsucht schweigt. Dies ist es, was der Poesie unsres Zeitalters fehlt!“ (F. Schlegel 1795/97, 217). Sie kann zwar mit einer „Fülle einzelner trefflicher Schönheiten“ aufwarten, aber es fehlen ihr „Übereinstimmung und Vollendung“ sowie „die Ruhe und Befriedigung, welche nur aus diesen entspringen können“, kurz: „eine vollständige Schönheit, die ganz und beharrlich wäre“ (ebd.). Die Unabgeschlossenheit und Unvollkommenheit der modernen Poesie ist nicht unabhängig vom modernen Publikum zu sehen. Dieses, „auch das feinere“, ist „völlig gleichgültig gegen alle Form, und nur voll unersättlichen Durstes nach Stoff“ und verlangt vom literarischen Werk keine „Übereinstimmung der einzelnen Wirkungen zu einem vollendeten Ganzen“, sondern lediglich „interessante Individualität“ (ebd., 222). Spezifika der modernen Poesie sind ein „Mangel der Allgemeingültigkeit“ der ihr zugrundeliegenden ästhetischen Gesetze, daraus resultierend eine „Herrschaft des Manierierten, Charakteristischen und Individuellen“ sowie eine „durchgängige Richtung [...] aufs Interessante“ (ebd., 252), d. h. auf „subjektive ästhetische Kraft“ (F. Schlegel 1797c, 208). Derartige Aussagen sind allerdings nicht als Abwertung der modernen Poesie aufzufassen. Die Aufforderung des Autors, den Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie nicht als sein „Endurteil über die moderne Poesie [zu] mißdeuten“ (ebd., 207), ist keine nachgereichte, als Schadensbegrenzung gedachte captatio benevolentiae, die Friedrich Schlegel für nötig gehalten hätte, nachdem er kurz vor Drucklegung des Studiumsaufsatzes Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung mit ihrem Postulat einer Gleichwertigkeit beider Dichtarten zu lesen bekommen hatte. Zwar leugnet er selbst nicht, dass Schiller ihm „wirklich Aufschlüsse gegeben“ habe (Brief an A. W. Schlegel, in: Behler 1987b, 271), aber er bezieht diese Aussage auf konkrete Aspekte des Verhältnisses von antiker und moderner Poesie, nicht darauf, dass Schiller ihm die moderne Poesie erst nahegebracht habe. Tatsächlich enthält der Studiumsaufsatz, der vor Schlegels Schiller-Lektüre abgeschlossen war und vor der Drucklegung nicht mehr verändert wurde, bereits den Ansatz zu seiner positiven Bewertung der modernen Poesie, die er einige Zeit später die romantische nennt und bekanntlich als eine unendlich perfektible, ständig im Werden begriffene progressive Universalpoesie (F. Schlegel 1798a, 28) fasst: „Die erhabne Bestimmung der modernen Poesie ist [...] nichts geringeres als das höchste Ziel jeder möglichen Poesie, das Größte was von der Kunst gefordert werden, und wonach sie streben“, was aber als das „unbedingt Höchste“ zugleich „nie ganz erreicht werden“ kann (F. Schlegel 1795/97, 255).
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Diese „erhabne Bestimmung“ hängt eng mit der Charakterisierung der modernen Poesie als interessant zusammen. Interessant, der Aufmerksamkeit und des Nachstrebens wert, ist nach Schlegels Auffassung „jedes originelle Individuum, welches ein größeres Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästhetischer Energie enthält [...] als das empfangende Individuum bereits besitzt“ (ebd., 252 f.), das also als Vorbild für eine partielle Vervollkommnung dieses empfangenden Individuums, des Rezipienten dienen kann. Partiell deshalb, weil der Mensch eben unendlich perfektibel ist, seine Vervollkommnung daher immer noch vergrößert werden kann und nie völlig zum Ziel gelangt: „Da alle Größen ins Unendliche vermehrt werden können, so ist klar, warum auf diesem Wege nie eine vollständige Befriedigung erreicht werden kann; warum es kein höchstes Interessantes gibt“ (ebd., 253). Ebenso ist klar, warum der Charakter der modernen Poesie Unabgeschlossenheit, Progressivität ist. Gerade diese Progressivität aber, das ins Unendliche hin unbefriedigte Streben, bringt es mit sich, dass die moderne Poesie auf ein konkretes Ziel hinarbeitet, durch dessen Erreichung sie zwar nicht der Befriedigungslosigkeit überhaupt enthoben wäre, aber doch in einem bestimmten Punkt Befriedigung fände. Dieses Ziel ist das Schöne: Es allein kann das „in der menschlichen Natur gegründete Verlangen nach vollständiger Befriedigung“ (ebd.) in einer bestimmten Hinsicht stillen, da es als der „allgemeingültige Gegenstand eines uninteressierten Wohlgefallens“ definiert wird, das „von dem Zwange des Bedürfnisses gleich unabhängig, frei und dennoch notwendig, ganz zwecklos und dennoch unbedingt zweckmäßig“ ist (ebd.). Zwar kann im Schönen die angestrebte Vollkommenheit nicht absolut, sondern immer nur relativ erreicht werden, und die moderne Poesie würde daher ihrer Progressivität prinzipiell durch eine Hinwendung zum Schönen nicht enthoben; indessen ist gleichwohl eben diese Hinwendung für die moderne Poesie ein notwendiger Schritt auf dem Weg der angestrebten Vervollkommnung. Ein Schritt, den sie allerdings nicht aus eigener Kraft vollziehen kann. Da sie interessant ist, kann sie per definitionem nicht schön sein: Gemäß kantischer Tradition ist das Schöne gerade dadurch bestimmt, dass „das Wohlgefallen an demselben uninteressiert sei“ (F. Schlegel 1797c, 213). Das Schöne kann daher in der modernen Poesie nur durch diskontinuierliche Entwicklung, durch einen plötzlichen „Sprung“ (F. Schlegel 1795/97, 255) erreicht werden; es kann nicht aus ihr selbst kommen, sondern sie bedarf eines Vorbildes, nach dem sie sich richten und dem sie sich nachbilden kann. Dieses Vorbild nun sind die „Werke des goldnen Zeitalters der Griechischen Kunst“ (ebd., 287): Sie stellen das „vollständige Beispiel der unerreichbaren Idee, [...] das Urbild der Kunst und des Geschmacks“ dar (ebd., 288). Damit wird die Hinwendung der modernen Literatur zum Schönen zu einer Rückwendung auf die Antike. Hervorzuheben ist jedoch erneut, dass es Schlegel nicht um eine bloße Wiederholung der klassisch-antiken Kunst geht (vgl. Anm. 29): Eine solche würde lediglich das Beharren auf einem relativ-höchsten Standpunkt ermöglichen und widerspräche dem progressiven Charakter der modernen Poesie. Die scheinbar schran-
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kenlose Vorliebe des Studiumsaufsatzes für die klassisch-antike Literatur und die damit verbundene Kritik der modernen Dichtung ist nur ein erster Schritt, bei dem der Autor nicht stehen bleibt. Es geht ihm nicht um eine Abwertung der modernen Poesie im Gegensatz zur antiken, sondern vielmehr um den Aufweis der exemplarischen Qualität antiker Texte, die sie geeignet macht, die moderne Literatur nach ihnen zu bilden. Im Zusammenhang dieser Bildung ist der Literarhistoriker gefordert, der Experte für alte Poesie, der nicht nur einzelne klassische Werke besser als seine Zeitgenossen kennt und diese Kenntnis exemplarisch zur Verfügung stellen kann, sondern der zugleich die klassische Literatur, Kunst und Bildung insgesamt überblickt: Sie ist „ein Ganzes, in welchem es unmöglich ist, einen einzelnen Teil stückweise vollkommen richtig zu erkennen“ (F. Schlegel 1797c, 206). Nur derjenige, der die Antike so gut kennt, dass er sie „allenfalls wiederschaffen“ könnte (F. Schlegel 1798a, 121), ist daher imstande, die Moderne nach ihr zu bilden. Eine „vollendete Geschichte der Griechischen Poesie“ würde daher nicht „dem Gelehrten allein Gewinn bringen“, sondern erscheint zugleich als „wesentliche Bedingung der Vervollkommnung“ modernen Geschmacks und moderner Kunst (F. Schlegel 1797c, 206).
7. Sprachgebrauch Klaus J. Mattheier unterscheidet in einem Beitrag zur sprachhistorischen Grundlagenforschung (Mattheier 1995) vier große „Gegenstandsbereiche der Sprachgeschichte“: „Sprachsystemgeschichte“, „Sprachgebrauchsgeschichte“, „Sprachkontaktgeschichte“ und „Sprachbewußtseinsgeschichte“ (ebd., 15). Unter Sprachsystemgeschichte ist die strukturelle Beschreibung des sprachlichen Gesamtsystems auf sämtlichen hierarchischen Ebenen (vom Laut bzw. Schriftzeichen bis hin zum Text und darüber hinaus zu sprachpragmatischen Phänomenen wie Sprechakten) verstanden – wobei ‚gesamtsystematische Beschreibung‘ die Beschreibung von Subsystemen („Varietäten und Sprachstile“; ebd., 16) impliziert. Sprachgebrauchsgeschichte ist die Beschreibung des Wandels in der „soziosituativen“ Geltung der Subsysteme (ebd.), Sprachkontaktgeschichte hingegen die Beschreibung der Wechselwirkung mit anderen Sprachen. Mit Sprachbewusstseinsgeschichte meint Mattheier „das systematische und das unsystematische Sprachwissen und die Handlungs- bzw. Urteilsmotivationen, die bei einem Sprachgemeinschaftsmitglied bzw. in einer Sprachgemeinschaft verbreitet sind“ (ebd.). Will sagen: „Sprache kann [...] nicht nur als das gesehen werden, was sprachlich geschehen ist, geschieht und nach den grammatischen Regeln geschehen könnte. Zu einer Sprache gehört auch, was Menschen, die sie gebrauchen, von ihr meinen, was sie von ihrem eigenen Sprachgebrauch und dem anderer Menschen halten, kurzum ihre Spracheinstellungen.“ (Stickel 1999, 17.)
Für die Sprachgeschichtsschreibung ist die Sprachbewusstseinsgeschichte vor allem deshalb aufschlussreich, weil „immer deutlicher die große Bedeutung erkennbar wird,
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die diesem Bereich für die Steuerung von Sprach- und Sprachgebrauchswandel zukommt“ (Mattheier 1995, 16). Für die deutsche Romantik lässt sich eine enge Verbindung von Sprachreflexion und Sprachgebrauch feststellen, und keineswegs nur dahingehend, dass beispielsweise Autoren, die fremdwortpuristische Positionen vertreten oder mit ihnen sympathisieren, selbst auf Fremdwörter verzichten bzw. sie tendenziell eher vermeiden.30 Die Thematik ist derzeit allenfalls in Ansätzen erforscht; aber allein schon in einer ersten Annäherung lassen sich mehrere Gegenstandsbereiche namhaft machen, in denen das, was Autoren der Romantik über Sprache sagen, dem entspricht, wie sie es sagen. 7.1. Seit jeher gibt es in der Romantikforschung Kritik an der „Unbestimmtheit und Willkürlichkeit des romantischen Sprachgebrauchs“ (Haym 1870, 446). Bezeichnenderweise am Beispiel des Wortes Sprache führt Kainz (1937, 118) die Vagheit romantischer Wortverwendung vor Augen: „Unbedenklich opfert man die differentia specifica, welche die Sprache im eigentlichen Sinn von den übrigen Ausdrucksmitteln unterscheidet“. Eine Terminologie im Sinne des aufklärerischen Ein-Eindeutigkeitsideals (ein Ausdruck hat idealiter nicht mehr als eine Bedeutung, und für eine Bedeutung gibt es idealiter nicht mehr als einen Ausdruck) ist die Sache der Romantiker nicht: Es kommt ihnen nicht auf „klare Eindeutigkeit“, sondern auf „verschwimmende ,Sphäre‘“ an (Kainz 1937, 119). Die romantische Meinung, dass der wesensgemäße Blick auf die Welt nicht die analytisch-definitorische Perspektive ist, wie sie wissenschaftlichen Herangehensweisen eignet, sondern das intuitive Erfassen der Dinge in ihrem unablässigen lebendigen Werden und Ineinanderfließen31, die Absicht, sich, wie es Ludwig Tieck in einem Brief an A. W. Schlegel vom Juni 1801 formuliert, „mit dem Universum auf dunkle Weise verknüpfen“ zu lassen (in: Lohner 1972, 74), findet ihre unmittelbare Entsprechung in der Forderung nach einem Sprachgebrauch (hier: Wortgebrauch), der möglichst viel auf einmal zum Ausdruck bringt32, und dieser Sprachgebrauch wiederum wird nicht nur gefordert, sondern auch aktiv praktiziert: 30
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So verzichtet beispielsweise Jean Paul in der zweiten Auflage (1813) seiner Vorschule der Ästhetik gegenüber der ersten Auflage (1804) auf „so viele fremde Wort-Eingewanderte [...], als nur die Reinheit der Sprache [...] begehren konnte“ (Jean Paul 1813, 299); selbst auf solch allgemein übliche Wörter wie Autor oder Vokal (2. Aufl.: Schriftsteller, Selbstlauter) verzichtet er. Vgl. beispielsweise F. Schlegel (1800a, 61): „Das Spiel der Mittheilung und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollendung ist nur im Tode“ sowie ders. (1805/06, 336): „[D]as Sein ist an und für sich selbst nichts, es ist nur Schein; es ist nur die Grenze des Werdens, des Strebens. Wenn das Streben am Ziele anlangt, verschwindet dieses und es entsteht wieder ein neues Ziel. Das Sein ist demnach für uns beschränkte Menschen, für die Praxis, als Ziel nur ein notwendiger, nützlicher Schein. In der Beschränktheit des Menschen scheint ihm das Ziel fest und beharrlich, sobald es aber erreicht ist, verschwindet im Handeln der Schein und was Sein schien, wird ein neues unendliches Werden“. Vgl. beispielsweise Novalis (1800, 675): „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren | Sind Schlüssel aller Kreaturen, | Wenn die so singen, oder küssen, | Mehr als die Tiefgelehrten wissen, | Wenn sich
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„Wenn kein Unterschied zwischen den Begriffen Sprache und Sprechen in der Bezeichnung gewahrt wird, wenn die Ausdrücke: Vernunft, Besonnenheit, Sprachfähigkeit, selbsttätige Richtung, und wie auch immer jenes Vermögen bezeichnet wird, scheinbar willkürlich füreinander eintreten können, so spricht sich darin letzten Endes eben der Glaube aus, daß solche Worte nicht zur endgültigen Lösung von Fragen führen sollen, weil diese Lösung jenseits der wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten liegt“ (Fiesel 1927, 4).
Das hier zur Sprache kommende Phänomen der Synonymie (unterschiedliche Wörter haben eine und dieselbe Bedeutung) wird als einem eineindeutigen Wortgebrauch entgegenstehend und daher zu vermeidend von Verfechtern des Sprachexaktheitspostulats traditionell zusammen mit einem weiteren Phänomen genannt: dem der Polysemie (ein und dasselbe Wort hat unterschiedliche Bedeutungen). Die Romantiker, in ihrer Wendung gegen ebendieses Postulat, verwenden demgegenüber Wörter mit voller Absicht polysem und/oder synonym. Dieses Verfahren hängt unmittelbar mit der romantischen These zusammen, dass alles mit allem in Beziehung stehe und wesensmäßig verwandt sei (vgl. Bär 1999a, 44 f.). Es ist der Versuch, mit einem Wort mehr zum Ausdruck zu bringen oder zumindest anzudeuten, als gemeinhin darunter verstanden wird, und lässt sich daher im Zusammenhang mit den (früh)romantischen Bemühungen um Poetisierung bzw. Repoetisierung der Sprache sehen. Poetisch ist eine Sprache demnach dann, wenn sie nicht nur die wesensmäßige Einheit, sondern die konkrete Vielfalt der Phänomene fassen und die ganze Mannigfaltigkeit der Beziehungen zwischen ihnen zum Ausdruck bringen kann. Erste, bislang nur vorläufige Untersuchungen zum Wortgebrauch der deutschen Romantik zeigen, dass lexikalisch-semantische ‚Unschärfe‘ signifikant oft zu beobachten ist. Das Wörterbuchprojekt Zentralbegriffe der klassisch-romantischen „Kunstperiode“ (1760–1840). Wörterbuch zur Literatur- und Kunstreflexion der Goethezeit, kurz: ZBK (Bär 2010 ff.), das auf eigene Vorarbeiten (Bär 1999a, 365–513) zurückgreift, dokumentiert dies auf breiter Quellengrundlage (über 66.000 Texte von über 400 Autoren des genannten Zeitraums, insgesamt ca. 100 Mio. laufende Wortformen; vgl. Bär/v. Consbruch 2011) am Beispiel des Adjektivs romantisch. Eine semantische Bestimmung erschien bereits den Zeitgenossen in besonderer Weise schwierig. F. Schlegel scherzt 1797 in einem Brief an seinen Bruder (in: Immerwahr 1985, 53), dass eine „Erklärung des Worts Romantisch“ von ihm „125 Bogen lang“ sei, d. h. 2000 Druckseiten (freilich existiert kein solcher Text), und ein anonymer Beitrag in der Zeitschrift für die elegante Welt spricht vom „dunkeln Sinn“ dessen, „was wir romantisch zu nennen pflegen“ (Anonym. 1806, 561). In den ZBK wurden für das Lexem 12 Bedeutungen angesetzt (Bär 2010 ff., s. v. romantisch [Stand: 5. 11. 2011]), wobei vermerkt wird, dass es
die Welt ins freye Leben, | Und in die Welt wird zurück begeben, | Wenn dann sich wieder Licht und Schatten | Zu ächter Klarheit wieder gatten, | Und man in Mährchen und Gedichten | Erkennt die wahren Weltgeschichten, | Dann fliegt vor Einem geheimen Wort | Das ganze verkehrte Wesen fort.“
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„teilweise kaum möglich“ ist, „einzelne Verwendungsweisen des Wortes zu unterscheiden“ (ebd.). Nicht allein die Polysemie als solche ist jedoch aufschlussreich, sondern auch die Relationen, in denen die einzelnen Bedeutungen zueinander stehen. An lexikalisch-semantischen Relationen lassen sich in Anlehnung an Roelcke (1992) solche, die zwischen den Bedeutungen unterschiedlicher Lexeme bestehen (Onymierelationen), von solchen unterscheiden, die man zwischen den Bedeutungen desselben Lexems ansetzen kann (Semierelationen). Betrachtet man beispielsweise die drei Lexeme klassisch, romantisch und progressiv hinsichtlich ihrer in den ZBK vorgelegten semantischen Beschreibung, so stellt man ein ganzes Ensemble von einander implizierenden lexikalisch-semantischen Relationen fest. Zunächst erkennt man (für das herkömmliche Allgemeinwissen bezüglich der Diskurse ‚Klassizismus‘ und ‚Romantik‘ erwartungsgemäß), dass klassisch und romantisch in mehrfacher Hinsicht Antonyme sind.
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Klassisch6 (›antik, im griechisch-römischen Altertum real oder fiktional zeitlich verortet; aus der griechisch-römischen Antike stammend, historisch bis in sie zurückreichend‹33) ist antonym zu romantisch2 (›modern‹, d. h. im kulturgeschichtlichen Sinne einen Zeitraum potentiell vom Beginn der Völkerwanderungszeit bis zum 18. Jh. charakterisierend, besonders in Bezug auf Literatur und Kunst, ›in die oder zur Moderne – im angegebenen Sinn – gehörend, in ihr real oder fiktional zeitlich verortet‹),
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klassisch7 (›klassizistisch, die griechisch-römische Antike und/oder das nach ihrem tatsächlichen oder vermeintlichen Vorbild Gearbeitete in besonderer Weise wertschätzend‹ bzw. ›nach griechisch-römisch-antikem Vorbild beschaffen oder geschaffen, griechischrömisch-antiken Mustern nachgebildet oder -empfunden‹) ist antonym zu romantisch3 (›modernistisch: die romantische2 Literatur und Kunst und/oder das nach ihrem tatsächlichen oder vermeintlichen Vorbild Gearbeitete in besonderer Weise wertschätzend‹),
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klassisch4 (›kategorial klar begrenzt, hinsichtlich der Gattungsspezifika rein, unvermischt, regelhaft, einheitlich, einfach, klar strukturiert, harmonisch proportioniert, in sich ruhend, für sich ein Ganzes ausmachend, in sich geschlossen, statisch‹) ist antonym zu romantisch5/6 (›bunt, mannigfaltig, abwechslungsreich; pittoresk, reizend, interessant, phantasieanregend; ausgefallen, bizarr, abenteuerlich, phantastisch; surreal, nicht wie im wirklichen Leben; übertrieben, irreal, absurd; ungeordnet, (tendenziell) chaotisch; unregelmäßig, gegen Normerwartungen verstoßend, nicht den Maßgaben eines – meist klassizistisch-gattungspoetischen – Regelkanons folgend, (scheinbar) willkürlich, ästhetisch autonom‹ bzw. ›gemischt, zusammengefügt, aus unterschiedlichen Teilen bestehend; kontrastiv, paradox, widersprüchlich, spannungsvoll‹),
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klassisch5 (›am Konkreten, Realen, an äußeren Gegebenheiten, an Phänomenen der $atur, am Lebendigen, Kräftigen, Gesunden, an der idealen Form orientiert; auf das anschauliche Einzelphänomen bezogen, es darstellend oder verkörpernd‹) ist antonym zu romantisch8/9/10 (›ideal, idealisch; geistig, abstrakt, immateriell, ätherisch; überspannt, weltfremd‹ bzw. ›gefühlsorientiert, gefühlsbetont, emotional; ohne begriffliche Klarheit, unscharf, undeut-
Einer möglichst einfachen und anschaulichen Darstellung zuliebe wird hier und im Folgenden für eine Bedeutung jeweils nur eine Kurzform der Bedeutung angegeben. Zu den vollständigen Bedeutungsangaben vgl. Bär 2010 ff., s. v. klassisch, progressiv und romantisch (Stand: 5. 11. 2011).
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Jochen A. Bär lich, vage, ahnungsvoll, dunkel, geheimnisvoll, wunderbar, unerklärlich; eine unbestimmte und unbestimmbare Sehnsucht zum Ausdruck bringend‹ bzw. ›selbstreflexiv, subjektiv gebrochen‹),
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klassisch2 (›von ausgezeichneter, erster, bester Kategorie: unübertrefflich, vollkommen in seiner Art, daher exemplarisch, beispielhaft, überindividuell, überzeitlich, allgemein gültig, ideal(typisch)‹) ist partiell antonym zu romantisch12 (›in beständiger Weiter- und/oder Höherentwicklung begriffen, unabgeschlossen, unvollendet, unendlich perfektibel; umfassend, universal, allseitig‹).
Ebenso fällt jedoch ins Auge, dass zwischen beiden Lexemen ein Verhältnis partieller Synonymie besteht: •
klassisch5 ist partiell synonym zu romantisch7 (›am Konkreten, Realen, an äußeren Gegebenheiten orientiert; auf das anschauliche Einzelphänomen bezogen, es darstellend oder verkörpernd; individuell‹).
Soll ein Lexem zu einem anderen sowohl antonym als auch synonym sein, so ist dies nur möglich, wenn eines von beiden in sich selbst entgegengesetzte Bedeutungen aufweist, mit anderen Worten: wenn es als antisem erscheint. Eben dies ist der Fall: romantisch7 lässt sich als antisem zu romantisch8/9/10 interpretieren. Mit dem Phänomen der Antisemie, von der dialektischen Philosophie geschätzt, aus deren Sicht darin „ein spekulativer Geist der Sprache“ (Hegel 1832, 12) erkennbar wird34, ist aber die semantische Komplexität noch keineswegs erschöpft. Das Lexem romantisch weist zusätzlich zu den entgegengesetzten Bedeutungen noch eine weitere Bedeutung auf (romantisch11), die als Synthese der Gegensätze interpretiert werden kann: ›Ideales und Reales vereinigend in einer simultanen Gegenläufigkeit, einem Spannungs- und Wechselverhältnis von Transzendenz und Immanenz; Antikes und Modernes, Klassisches4/5/2/7 und Romantisches5/6/8/9/10/12/2/3 umfassend und vereinigend‹. Relationalsemantisch lässt sich dergleichen am ehesten beschreiben als ein Sonderfall der Hypersemie, d. h. der Tatsache, dass ein Lexem in Bedeutung ›a‹ für eine übergeordnete, in Bedeutung ›b‹ für eine untergeordnete Kategorie steht. Der Sonderfall 34
„[E]s kann dem Denken eine Freude gewähren, auf solche Wörter zu stoßen und die Vereinigung Entgegengesetzter, welches Resultat der Spekulation für den Verstand aber widersinnig ist, auf naive Weise schon lexikalisch als Ein Wort von den entgegengesetzten Bedeutungen vorzufinden“ (Hegel 1832, 12). Prominentes Beispiel ist das Verb aufheben: „Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet und so viel als aufhören lassen, ein Ende machen“ (Hegel 1812, 46). Die vermeintlich gegensätzlichen Bedeutungen berühren sich gleichwohl: „Das Aufbewahren schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äusserlichen Einwirkungen offenen Daseyn entnommen wird, um es zu erhalten“, und umgekehrt ist „das Aufgehobene [›aufhören Gemachte, Beendete‹] ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht verschwunden ist“ (ebd.). Indem etwas in der dialektischen Betrachtung in diesem Doppelsinn aufgehoben, also zugleich beendet und aufbewahrt ist, erscheint es zugleich in einer neuen Qualität, wird also in der Reflexion ›emporgehoben, auf eine höhere Stufe gehoben‹, wodurch noch eine für den dialektischen Philosophen glückliche dritte Bedeutung des Verbs ins Sprachspiel kommt.
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liegt dadurch vor, dass die bewusste Relation idealtypisch zwischen drei Bedeutungen ›a‹, ›b‹ und ›c‹ besteht, von denen sich ›a‹ zu ›b‹ und ›c‹ jeweils hypersem verhält und ›b‹ und ›c‹ zueinander im Verhältnis der Antisemie stehen. Eine solche Relation ließe sich terminologisch als Tekaisemie fassen (grch. τε ... καί ... ›sowohl ... als auch ...‹) und in unmittelbarer Nähe zum dialektischen Dreischritt von These, Antithese und Synthese sehen. Ein entsprechendes Verhältnis kann auch zwischen drei verschiedenen Ausdrücken bestehen und wäre dann analog als Tekaionymie zu bezeichnen: Ausdruck a bedeutet das Eine, Ausdruck b steht für das Gegenteil, Ausdruck c für die Verbindung, den Ausgleich zwischen beidem. Auch dieses Verhältnis findet sich im romantischen Sprachgebrauch. Das Adjektiv progressiv beispielsweise ist in der frühromantischen Theoriebildung vor 1800 in verschiedener Hinsicht synonym zu romantisch, unter anderem weist es unmittelbare Entsprechungen zu romantisch2 und zu romantisch11 auf: progressiv5 ›modern im zeitlichen bzw. kulturgeschichtlichen Sinne als Charakterisierung eines Zeitraums vom Beginn des Mittelalters bis zur unmittelbaren Gegenwart des frühen 19. Jahrhunderts‹; progressiv6 ›Antikes und Modernes, Klassisches7 und Romantisches2/3, auch das, wofür die Epochen prototypisch stehen (Klassisches4/5/2 und Romantisches5/6/8/9/10/12), umfassend und vereinigend‹. Damit lassen sich dann romantisch11 als Tekaionym zu den Antonymen klassisch7 und progressiv5 und progressiv6 als Tekaionym zu den Antonymen klassisch4/5 und romantisch5/6/8/9/10 bzw. klassisch2 und romantisch12 deuten. Zu bemerken ist, dass mit diesen Onymie- und Semierelationen keine ‚passgenauen‘ Entsprechungen zwischen den Einzelbedeutungen (Sememen) verschiedener Lexeme bzw. eines und desselben Lexems vorliegen, sondern dass es sich um partielle Entsprechungen handelt: um solche hinsichtlich bestimmter semantischer Aspekte (Seme), von denen immer mehrere zusammen ein Semem ausmachen. Es handelt sich mithin auch nicht um eine Eins-zu-Eins-Darstellung, sondern um eine modellhafte Abstraktion, wenn man versucht, die vorstehend beschriebenen Relationen ins Bild zu bringen. Das Ergebnis, das ohne Zweifel Anspruch auf einen Platz in der Reihe der „wirrsten Graphiken der Welt“35 erheben könnte, kann zwar nicht in die Klarheit führen (Faust I, V. 309), leistet aber genau das, worum es hier geht: eine anschauliche Illustration der semantischen Komplexität, die den Sprachgebrauch der deutschen Romantik kennzeichnet. Dabei handelt es sich bei der Betrachtung nur dieser drei Lexeme lediglich um einen kleinen Ausschnitt aus dem tatsächlich noch etliche Einheiten mehr umfassenden Wortfeld. Künftige Untersuchungen im Rahmen der ZBK dürften hier Weiterungen ergeben, die in der graphischen Darstellung nicht mehr zu fassen sein werden.
35
So der Titel einer Reihe in der taz, in die unter anderem der Vorschlag eines Heidelberger Professors für Germanistische Linguistik – nicht Oskar Reichmanns – für die bildliche Darstellung einer Textverbundkonstituentenstruktur Eingang fand (vgl. Henschel 2003, 65).
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7. ›klassizistisch‹
2. ›vollkommen‹
4. ›kategorial rein‹
klassisch 5. ›realorientiert‹
6. ›antik‹
11. ›synthetitiv‹
12. ›unabgeschlossen‹
2. ›modern‹
3. ›modernistisch‹
10. ›selbstreflexiv‹ romantisch 9. ›unbestimmt, vage‹
3. ›unabgeschlossen‹
8. ›idealisch/ idealisierend‹
progressiv
6. ›synthetitiv‹
5. ›poetisch, romanhaft‹ 7. ›gemischt‹
6. ›realorientiert‹
5. ›modern‹
Synonymie Antonymie Hyponymie
Hyperonymie/ Tekaionymie
Antisemie Hyposemie
Hypersemie/ Tekaisemie
Wie die Romantiker mehrfach hervorheben, ist es das „Wesen der Romantik“, dass man „durch Gegensätze zum Ziel kommt“ (Schelling 1803/04, 662). Das „romantische Prinzip, welches das entgegengesetzte des plastischen Isolierens ist“, charakterisiert A. W. Schlegel (1801/02, 439) als „Allgemeines Verschmelzen, hinüber und herüber ziehen, Aussichten ins Unendliche“; an anderer Stelle heißt es bei demselben Autor (1798/99, 82) bündig: „Das Romantische überhaupt besteht im Kontraste.“ Damit lässt sich der Nachweis von Phänomenen wie Tekaionymie und insbesondere Tekaisemie (ein und dasselbe Lexem bedeutet Gegensätzliches und zudem die Synthese der Gegensätze) als
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Indiz dafür sehen, dass für die Romantiker die Art und Weise ihres Sprechens bzw. Schreibens in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Sprechens bzw. Schreibens steht. 7.2. Im Zusammenhang seiner Vorstellungen zur Repoetisierung der Sprache nicht anders als aus seiner Praxis als Übersetzer heraus befasst sich August Wilhelm Schlegel des öfteren mit dem Thema der Onomatopöie (vgl. S. 504). Besonders intensiv widmet er sich ihr in seinen frühen Betrachtungen über Metrik (1793)36, in denen er regelrecht synästhetische Überlegungen anstellt: „Die Vokale sind das Gefühlausdrückende in einer Sprache. Wenn man den unartikulierten Laut der heftigen Leidenschaften beobachtet, so wird man finden, daß jeder darunter verschieden gebraucht wird, und einer besondern Gattung von Gefühlen am analogsten ist. Man hat wohl Tonleitern der Vokale gegeben [...] – wenn du mit Tändeleien der Phantasie Nachsicht haben kannst, so will ich dir eine Vokal-Farbenleiter, nebst dem Charakter eines jeden hersetzen.“ (A. W. Schlegel 1793, 175.)
Das a wird als „roth“, das o „purpurn“, das i als „himmelblau“, das ü als „violett“ und das u als „dunkelblau“ charakterisiert (ebd.): „Man könnte auch dem A die weiße, dem U die schwarze Farbe geben. Damit trifft das ganz gut überein, daß das E zwischen diesen beiden Vokalen in der Mitte steht, wie Grau zwischen den Farben. Denn das E gehört durchaus nicht unter die Farben des Regenbogens – es ist grau.“ (Ebd.)
Damit ist der Autor bei einem seiner Lieblingsthemen angelangt: dem Kampf gegen das unbetonte, das „unbedeutende E“ (A. W. Schlegel 1798, 13). Unter unbedeutend ist hier so viel wie ›bedeutungslos, nichtssagend, ohne semantischen Gehalt‹ zu verstehen: „Dem E kann ich weiter keinen Ausdruck zugestehn, als daß es offen oder gedehnt und mit dem Tone etwan Ernst und Nachdenken bezeichnet; z. B. ehren, Seele. Geschloßen aber, und hauptsächlich ohne den Ton, wie der Infinitiv aller unsrer Verba: sagen u. s. w. sagt es gar nichts, sondern ist das treffendste Bild der Gleichgültigkeit.“ (A. W. Schlegel 1793, 176.)
Aussagen wie diese treten in Zusammenhang mit Schlegels Ansicht, dass der Wohlklang einer Sprache (der seiner Ansicht nach insbesondere für deren Poetizität unerlässlich ist: vgl. z. B. A. W. Schlegel 1798/99, 16 f.) von einem „ungefähr gleichen Verhältnisse der Konsonanten und Vokale“ abhängt (1798/99, 20; analog 1798, 21). Diese Auffassung ist die Basis für eine spezifische Kritik an der deutschen Sprache: Sie lässt eben jenes „schöne Gleichgewicht“ der Vokale und Konsonanten vermissen (A. W. Schlegel 1798/99, 20). Das Verhältnis fällt eindeutig zu Ungunsten der Vokale aus, die „obendrein nicht die rechten“ sind (A. W. Schlegel 1798, 32): „Man kann Verse, ja ganze Strophen durchwandern, ohne auf ein einziges A zu stoßen, aber fast nie einen, ohne zu oft von dem E heimgesucht zu werden“ (ebd.). 36
Zur Datierung vgl. Bär 1999a, 188 f.
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Diese Phonemkritik, mit der Schlegel weder historisch gesehen noch in der Sprachreflexion seiner eigenen Zeit allein dasteht37, führt Schlegel zwar nicht dazu, eine Rückkehr zu den vollen Nebensilben der althochdeutschen Zeit zu fordern, lässt ihn aber gezielt nach Möglichkeiten der Vermeidung des unbetonten e suchen. Er selbst verzichtet darauf vor allem im Inlaut: Allenthalben belegbar sind bei ihm die Synkope (Innres, Äußres, zusammengezogne ...) bzw. Ekthlipsis (dieß) und die Kontraktion (giebts, machts, läßt sichs ...); die Synärese (gesaget > geseit) verwendet Schlegel zwar nicht selbst, bemerkt sie jedoch wohlwollend in den oberdeutschen Mundarten (1808, 164). Sprachliche Phänomene dieser Art sind zwar in den Jahrzehnten um 1800 durchaus keine Seltenheit, jedoch lassen sie sich bei A. W. Schlegel mit durchaus signifikanter Häufigkeit nachweisen. Kontrastive Untersuchungen der Synkope bei ihm und bei seinem Zeitgenossen Friedrich Schiller haben ergeben, dass Schlegel in 73,2 % aller überhaupt möglichen Fälle synkopiert, Schiller hingegen nur in 58,3 % (vgl. Bär 2004, 315). Man wird also in diesem Fall nicht anders als hinsichtlich der Semantik „davon ausgehen können, dass die sprachtheoretischen Überlegungen des Autors auf seinen Sprachgebrauch unmittelbar gewirkt haben“ (ebd., 316). 7.3. Ein letztes Beispiel soll zeigen, dass die Romantik auch hinsichtlich der Textgestalt dazu neigt, die Art und Weise des Sprechens über Sprache mit dem Inhalt der Aussage zu korrelieren. Dies wird besonders deutlich in dem bekannten Monolog (1799) des Novalis. „Es ist eigentlich um das Sprechen u[nd] Schreiben eine närrische Sache. Das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meynen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert weiß keiner. Darum ist sie so wunderbares u[nd] fruchtbares Geheimniß – daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, originellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas bestimmten sprechen, so läßt ihn die launige Sprache das lächerlichste u[nd] verkehrteste Zeug sagen. Daraus entsteht auch der 37
So ist bereits Grimmelshausen (1673, 103) der Meinung, „daß wir Teutsche mit dem E mehr verschwenderisch / als freygebig / umbgehen“ und spottet über Zeitgenossen, die „dem E dermassen gewogen seyn / daß sie es immerzu hinden anflicken / ob es gleich so wenig als der Wagen des fünfften Rads nöthig“ (ebd., 65 f.). Für die Zeit um 1800 vgl. Jean Paul (1804, 534 ff.): „Ein Ausländer könnte sagen, nichts ist in eurer Sprache so wohlklingend als die Ausnahmen, nämlich die der Zeitwörter. [...] Adelung und halb die Zeit wollen uns zum Vortheil der Grammatiker, der Ausländer und der Gemeinheit diese enharmonischen Ausweichungen untersagen; aber das leide kein Autor, er schreibe ‚unverdorben‘, niemals ‚unverderbt‘. | Diese Irr-Verba bewahren und bringen uns alte tiefe, kurze, einsylbige Töne, noch dazu mit der Wegschneidung der grammatischen Erinnerung, z. B. statt des langweiligen, harten, doppelten schaffte und schaffte, backte und backte: schuf und schüfe; buk und büke. Freilich flieht der Gesellschafts-Ton – auch der der Meißner höhern Klassen – den Feier-Ton eines tiefen reichen Vokals; aber in den Fest- und Feier-Tagen der Dichtkunst ist er desto willkommner. Wie viele e werden unserer Eeeee-Sprache damit erspart und italienische Laute dafür zugewandt! Darum gebrauchte Klopstock so häufig und zu häufig [...] das großlautende Wort sank (so wie oft scholl).“
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Haß, den so manche ernsthafte Leute gegen die Sprache haben. Sie merken ihren Muthwillen, merken aber nicht, daß das verächtliche Schwatzen das die unendlich ernsthafte Seite der Sprache sey ist. Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln ist sey – Sie machten eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge. Nur durch ihre Freyheit sind sie Glieder der Natur u[nd] nur in ihren freyen Bewegungen äußert sich der Naturgenius die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maaßstab u[nd] Grundriß der Dinge. So ist es auch mit der Sprache – wer ein feines Gefühl ihrer Applicatur, ihres Takts, ihres musicalischen Geistes hat, wer in sich das zarte Wirken ihresr G Nat innern Natur vernimmt, und darnach seine Zunge oder seine Hand bewegt, der wird ein Profet sein, dagegen wer es wohl weis, aber nicht Ohr u[nd] Sinn genug für sie hat, Wahrheiten wie diese schreiben wird, aber von der Sprache selbst gehalten u[nd] von den Menschen, wie Cassandra von den Trojanern, verspottet werden wird. Wenn ich damit das Wesen u[nd] Amt der Poësie auf das deutlichste angegeben zu haben glaube, so weiß ich doch, daß es kein Mensch verstehn kann, und ich ganz was albernes gesagt habe, weil ich es habe sagen wollen, und so keine Poësie zu stande kömmt. Wie wenn ich aber reden müßte? und dieser Sprachtrieb zu sprechen das Kennzeichen der Eingebung der Sprache, der Wircksamkeit der Sprache in mir wäre? und mein Wille nur auch alles wollte, was ich müßte, so könnte dies ja am Ende ohne mein Wissen u[nd] Glauben Poësie seyn und ein Geheimniß der Sprache verständlich machen? und so wär ich ein berufener Schriftsteller, denn ein Schriftsteller ist wohl nur ein Sprachbegeisterter?“ (Novalis 1799b, 346 ff. – Wiedergegeben wird hier die jahrzehntelang verschollene, in der historisch-kritischen Novalis-Ausgabe noch nicht berücksichtigte Originalhandschrift. Durchstreichungen und Unterstreichungen sind original; nachträgliche Einfügungen sind durch Winkelklammern < > gekennzeichnet; Abkürzungen werden in eckigen Klammern [ ] aufgelöst.)
Der mehrfach (z. B. bei Strohschneider-Kohrs 1977 und Di Cesare 1995) ausgelegte Text weist eine auffällige Struktur auf. Zunächst werden zwei Aussagen – (1) Es ist ein „Irrthum“ zu glauben, man spreche „um der Dinge willen“; (2) Die Sprache ist autonom, bekümmert sich „blos um sich selbst“ –, von denen die zweite die erste begründet, indem sie deren innerer Aussage (man spricht „um der Dinge willen“) widerspricht, in der Weise fortgeführt, dass zunächst die zweite, dann erst die erste aufgegriffen wird: (3) [Folge aus (2)] Wer nur um des Sprechens willen spricht, gibt unbeabsichtigt die „herrlichsten, originellsten Wahrheiten“ von sich; (4) [Folge aus 1] Wer etwas Bestimmtes aussagen will, den lässt die „launige Sprache“ seiner Absicht entgegen das „lächerlichste u[nd] verkehrteste Zeug“ sagen. Diese Abfolge (1)
(2)
(3)
(4),
die sich als Chiasmus deuten lässt, findet ihrerseits ihre Fortsetzung in der Weise, dass nunmehr in paralleler Weise weitere Folgerungen gezogen werden: (5) [Folge aus (3)]
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„wer ein feines Gefühl ihrer [Sprache] Applicatur, ihres Takts, ihres musicalischen Geistes hat, wer in sich das zarte Wirken ihrer innern Natur vernimmt, und darnach seine Zunge oder seine Hand bewegt“, wer also die ‚Sprache selbst‘ aus sich sprechen lässt, „der wird ein Profet sein“; (6) [Folge aus (4)] „wer es wohl weis, aber nicht Ohr u[nd] Sinn genug für sie hat, Wahrheiten wie diese schreiben wird, aber von der Sprache selbst gehalten u[nd] von den Menschen, wie Cassandra von den Trojanern, verspottet werden wird“. (1)
(2)
(3)
(4)
(5)
(6)
Der indirekte Gegensatz der Aussagen (1) und (2), der dadurch zustande kommt, dass (2), wie erwähnt, nicht (1) im Ganzen, sondern nur der in (1) selbst bereits verneinten inneren Aussage von (1) widerspricht, wird durch die chiastische Verschränkung in eine verquere Fortsetzung gebracht, zu der es dann wiederum eine strukturell gegenläufige Fortsetzung gibt (durch einen Parallelismus wird gerade k e i n e Parallelität der Fügung erzielt). Der Text entwickelt im Wechselspiel von Aussageinhalt und Struktur mithin eine mehrfach potenzierte, gleichwohl gebrochene Antithetik. Diese schillernde Verschränkung und Gegenläufigkeit von Antithesen auf verschiedenen Ebenen (der inhaltlichen Aussage und der formalen Textgestalt) präludiert einer ebenso kunstvollen wie undichten Fuge, in welcher die Spannung zwischen den Gegensätzen ins Unendliche hin offen ist und nur im Unendlichen selbst, also jenseits des vorliegenden Textes, zum Ausgleich kommt. – Zunächst kommt in (6) zu der scheinbar nur inhaltlichen Weiterführung der Eingangsbehauptungen unversehens ein bislang nicht vorhandener Aspekt: Autoreferentialität („Wahrheiten wie diese“, also den Monolog). Der Text wendet sich zurück auf sich selbst. Strohschneider-Kohrs (1977, 261 f.), die hier mit Recht eine „Peripetie“ sieht, macht deutlich, dass sich der Umschlag aufgrund der ungewöhnlichen Endstellung des finiten Verbs bis in die Syntax hinein verfolgen läßt: „[...] dagegen wer es wohl weis, [...] Wahrheiten wie diese schreiben [...] u[nd] [...] verspottet werden wird“. Die Verwendung von dagegen als Subjunktion, also mit Verbletztstellung, ist zwar in der Goethezeit nicht einmalig, aber doch alles andere als die Regel. Im ZBK-Korpus (vgl. S. 544) ist in lediglich etwa 2 % aller Fälle (76 von 3740) dagegen als Subjunktion
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belegt.38 Wie die Handschrift des Monolog-Textes erkennen lässt, erfolgt die Verbletztstellung im vorliegenden Fall offenbar mit Absicht: Das Verb wurde an früherer Stelle im Satz durchgestrichen und ganz ans Ende gesetzt.39 Durch die Autoreferentialität liegt nicht mehr lediglich die Fortsetzung einer Reihe kontrastierender Aussagen vor, sondern eine Anwendung der erzeugten Spannung auf die aktuelle Redesituation und damit ihre Potenzierung: Der Zirkel, in den diese Wendung führt, bleibt nicht verborgen: Die vorliegende Behauptung soll wahr sein, also muss sie – dem Text zufolge – als eine beabsichtigte unverständlich oder lächerlich sein. – Um der Paradoxie zu entgehen, macht das monologische Ich einen typisch romantischen, d. h. wiederum paradoxen Vergleichsvorschlag. Sein aktuelles Sprechen könnte auf „[T]rieb zu sprechen“, auf „Wircksamkeit der Sprache in mir“ beruhen und in dieser Qualität dann mit seinem Aussagewillen übereinkommen. Das Gesagte wäre damit – contradictio in adjecto – gleichermaßen notwendig und willkürlich-frei (vgl. auch Di Cesare 1995, 156 f.): Die romantische Konzeption des unbewusst und bewusst zugleich produzierenden Genies kommt deutlich zum Vorschein. Dennoch ist auch am Ende des Textes noch nichts entschieden. Alles wird in der Schwebe gehalten, da die letzte Aussage, eben der Vergleichsvorschlag, in der klassischen ironischen Redefigur der Frage erscheint. Doch selbst hier ist noch kein Fixpunkt der Interpretation erreicht. Die drei Fragezeichen, mit denen der Text angesichts der Symbolik und nicht zuletzt auch der dialektischen Implikation der Dreizahl füglich enden könnte, wird ebenfalls konterkariert durch ein abschließendes viertes Fragezeichen, mit dem der Text tatsächlich endet. Ob man darin eine bloße Fragilisierung der Deutungs-Richtgröße „dialektischer Dreischritt“, einen chiffrierten Hinweis auf den Gedanken der Einheit in der Dreiheit oder etwas anderes, Sublimeres erkennen will, „bleibt der Weisheit des Lesers, für welche diese Frage recht eigentlich gehört, anheim gestellt“ (F. Schlegel, 1800b, 343). Im gegenwärtigen Zusammenhang genügt der Hinweis, dass der romantische Gedanke der unendlichen Progressivität und Potenzierbarkeit nicht nur ein Gegenstand romantischen Sprechens ist, sondern auch in der Art und Weise romantischen Sprechens zur Entfaltung kommt.
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Novalis zeigt diesen Sprachgebrauch mehrfach; beispielsweise: „Heinrichen ward [...] in Rücksicht seiner Jugend das jedesmalige Bescheidthun erlassen, dagegen die Kaufleute sich nicht faul finden, sondern sich den alten Frankenwein tapfer schmecken ließen“ (Novalis 1802, 230); „Den Reichthum der Erfindung macht nur eine leichte Zusammenstellung faßlich und anmuthig, dagegen auch das bloße Ebenmaaß die unangenehme Dürre einer Zahlenfigur hat“ (ebd., 286). Zwar hätte auch in der ursprünglichen Fassung bereits Verbletztstellung vorgelegen, so dass sich die Korrektur nicht auf die Satzstellung als solche bezieht, sondern lediglich eine Erweiterung des ursprünglich geplanten Satzrahmens vornimmt. Gleichwohl: Der Autor hat im „zweiten Anlauf“ die Satzstellung nicht verändert, so dass mit größerer Wahrscheinlichkeit auf Absicht zu schließen ist.
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8. Fazit Dichtung und Deutung – mit diesen drei Wörtern lässt sich die romantische Sprachtheorie auf den Punkt bringen. Freilich sind dann noch einige erläuternde Worte hinzuzufügen, wie es in diesem Beitrag versucht wurde. Das Interesse der Romantik an der Sprache ist unmittelbar anwendungsbezogen: Es geht nicht um abstrakte, wertneutrale Beschreibung, sondern um Sprachbewertung und, als Konsequenz derselben, um Spracharbeit. Dabei steht eine als sehr umfassend, geradezu als universell konzipierte po(i)etische Funktion der Sprache im Zentrum, die alle anderen sprachlichen Funktionen – Kommunikation, Erkenntnis, Darstellung – umfasst. Die Sprache ist ursprünglich und in erster Linie poetisch, d. h. schöpferisch: Sie macht den Menschen zum Menschen, indem sie ihn zum Bewusstsein seiner selbst bringt, und sie konstituiert zugleich seine Welt. Es ist eine sprachphilosophisch gewendete transzendentalidealistische Dialektik von Ich und Nicht-Ich, die sich hier erkennen lässt. Die Sprache bleibt aber ebensowenig wie das Ich des deutschen Idealismus bei sich selbst, sondern entäußert sich, d. h., ihre ursprüngliche Poetizität kommt weitestgehend abhanden. Wo die Romantiker die Sprache im Sinne der Sprachskepsis als defizitär betrachten, tun sie es hinsichtlich ihrer als zu gering eingestuften poetischen Qualität. Dabei ist ihre gesamte Sprachkritik – anders als die der „Sprachkrise“ an der Wende zum 20. Jahrhundert, z. B. bei Hugo von Hofmannsthal – von einer optimistischen Grundstimmung getragen: Die Sprache soll und kann wieder poetisch werden; der Mensch soll und kann auf diese Weise zu seinem Menschsein im vollen Sinne gelangen. Daran zu arbeiten ist die Aufgabe des Dichters, Schriftstellers und/oder Redners. Allerdings ist es eine unendliche, nie vollständig zum Abschluss zu bringende Aufgabe, und es ist auch keine Aufgabe, die einzelne Personen allein übernehmen können. Sie bedürfen immer eines Gegenübers – das allerdings nicht als Nicht-Ich, sondern als Du gedacht, damit eigenständig und letztlich unverfügbar ist. Der Dreischritt von Poesie, Prosa und Repoetisierung (als Potenzierung der ursprünglichen Poesie) findet seine Entsprechung in dem Dreischritt von Sprechen, Nichtverstanden-Werden und ergänzender Auslegung durch den Hörer oder Leser. Deutung, ergänzendes Verstehen ist gewissermaßen eine Nach-Dichtung, also gleichfalls eine Poesie der Poesie. Repoetisierung und Verstehen – an beidem arbeiten die Romantiker, und sie tun es durchaus mit einer Art salvatorischem Ethos. Dabei wissen sie genau, dass sie die angestrebte Erlösung aus den Fesseln der Endlichkeit, der Unvollkommenheit und (nicht philosophisch-abstrakt, sondern menschlich-konkret gesprochen) der Einsamkeit nicht allein in der Hand haben. Die Paarformel „Dichtung und Deutung“ zur Beschreibung der Inhalte romantischer Beschäftigung mit Sprache ist unter diesem Aspekt nicht hinreichend, wenn sie nicht als Bezeichnung eines deontischen Konzepts im Sinne von Hermanns (1995b) charakterisiert wird: als Postulat, als Anspruch, als Programm.
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Roelcke, Thorsten (1992): Lexikalische Bedeutungsrelationen. Varietätenimmanenz und Varietätentranszendenz im onomasiologischen und im semasiologischen Paradigma. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 59, 183–189. Rother, Michael (1988): Die literarische Interpretation – von Bodmer bis Keller. In: Codex Manesse. Die Große Heidelberger Liederhandschrift. Texte. Bilder. Sachen. Katalog zur Ausstellung vom 12. Juni bis 4. September 1988 in der Universitätsbibliothek Heidelberg. Hrsg. v. Elmar Mittler/Wilfried Werner. [Heidelberg], 396–422. Samuel, Richard (Hg. in Zusammenarb. mit Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz) (1975): Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. 2. Aufl. Stuttgart. Schanze, Helmut (1974): Romantik und Rhetorik. Rhetorische Komponenten der Literaturprogrammatik um 1800. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jahrhundert. Hrsg. v. Helmut Schanze. Frankfurt a. M., 126–144. Schanze, Helmut (1994): Romantische Rhetorik. In: Romantik-Handbuch. Hrsg. v. Helmut Schanze. Stuttgart, 336–350. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1803/04): Philosophie der Kunst. In: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. 1. Abt. Bd. 5 Stuttgart/Augsburg 1859, 353–736. Schiller, Friedrich (1801): Deutsche Größe. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen, fortgef. v. Lieselotte Blumenthal/Benno von Wiese, hrsg. [...] v. Norbert Oellers/Siegfried Seidel. Bd. 2.1. Weimar 1983, 431–436. Schlegel, August Wilhelm (1793): Betrachtungen über Metrik. An Friedrich Schlegel. In: August Wilhelm von Schlegel’s sämmtliche Werke. Hrsg. v. Eduard Böcking. Repr. Nachdr. der 3. Ausgabe Leipzig 1846, Hildesheim/New York 1971. Bd. 7, 155–184. Schlegel, August Wilhelm (1795): Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. In: Die Horen. Eine Monatsschrift herausgegeben von [Friedrich] Schiller. 4. Bd., 11. Stück, 77–103. Schlegel, August Wilhelm (1796a): Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. In: Die Horen. Eine Monatsschrift herausgegeben von [Friedrich] Schiller. 5. Bd., 1. Stück, 54–74. Schlegel, August Wilhelm (1796b): Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. In: Die Horen. Eine Monatsschrift herausgegeben von [Friedrich] Schiller. 5. Bd., 2. Stück, 56–73. Schlegel, August Wilhelm (1798): Die Sprachen. Ein Gespräch über Klopstocks grammatische Gespräche. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Erstes Stück. Berlin, 3–69. Schlegel, August Wilhelm (1798/99): Vorlesungen über philosophische Kunstlehre. In: August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hrsg. v. Ernst Behler in Zusammenarbeit mit Frank Jolles. Bd. 1. Paderborn/München/Wien/Zürich 1989, 1–177. Schlegel, August Wilhelm (1799): Die Gemählde. Gespräch. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Zweiten Bandes Erstes Stück. Berlin 1799, 39– 151. Schlegel, August Wilhelm (1801/02): Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Erster Theil: Die Kunstlehre. In: August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hrsg. v. Ernst Behler in Zusammenarbeit mit Frank Jolles. Bd. 1. Paderborn/München/Wien/Zürich 1989, 181–472. Schlegel, August Wilhelm (1802/03): Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Zweiter Theil: Vorlesungen über die schöne Literatur. In: August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hrsg. v. Ernst Behler in Zusammenarbeit mit Frank Jolles. Bd. 1. Paderborn/München/ Wien/Zürich 1989, 473–781. Schlegel, August Wilhelm (1803): Ankündigung. Sprachlehre von A. F. Bernhardi. In Europa 2, Heft 1, 193–204.
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Schlegel, August Wilhelm (1803/04a): Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Dritter Teil: Vorlesungen über die romantische Poesie. In: August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Hrsg. v. Georg Braungart, begr. v. Ernst Behler in Zusammenarbeit mit Frank Jolles. Bd. 2/1. Paderborn/München/Wien/Zürich 2007, 1–194. Schlegel, August Wilhelm (1803/04b): Vorlesungen über Enzyklopädie der Wissenschaften. In: August Wilhelm Schlegel. Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Begr. v. Ernst Behler/Frank Jolles. Hrsg. v. Claudia Becker. Bd. 3. Paderborn/München/Wien/Zürich 2006, 1–373, 1–373. Schlegel, August Wilhelm (1809/11a): Ueber dramatische Kunst und Litteratur. Erster Theil. In: August Wilhelm von Schlegel’s sämmtliche Werke. Hrsg. v. Eduard Böcking. Repr. Nachdr. der 3. Ausgabe Leipzig 1846, Hildesheim/New York 1971. Bd. 5. Schlegel, August Wilhelm (1809/11): Ueber dramatische Kunst und Litteratur. Zweiter Theil. In: August Wilhelm von Schlegel’s sämmtliche Werke. Hrsg. v. Eduard Böcking. Repr. Nachdr. der 3. Ausgabe Leipzig 1846, Hildesheim/New York 1971. Bd. 6. Schlegel, August Wilhelm (1818): Observations sur la Langue et la Littérature Provençales. In: Œuvres de M. Auguste-Guillaume de Schlegel, écrites en Français. Hrsg. v. Eduard Böcking. Leipzig 1846, Repr. Nachdr. Hildesheim/New York 1972. Bd. 2, 149–250. Schlegel, August Wilhelm (1818/19): Geschichte der deutschen Sprache und Poesie. Hrsg. v. Josef Körner. Berlin 1913. (Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts 147.) Schlegel, Friedrich (1795): Von den Organen der Griechischen Poesie. (Vom Rhythmus). In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 11. München/Paderborn/Wien/Zürich 1958, 219–225. Schlegel, Friedrich (1795/97): Über das Studium der Griechischen Poesie. In: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 1. München/Paderborn/Wien/Zürich 1979, 217–367. Schlegel, Friedrich (1796/98): Philosophische Fragmente. Erste Epoche. II. In: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 18. München/Paderborn/Wien/Zürich 1963, 17–119. Schlegel, Friedrich (1797a): Kritische Fragmente. In: Lyceum der schönen Künste. Ersten Bandes, zweyter Theil. Berlin 1797, 133–169. Schlegel, Friedrich (1797b): Zur Philologie II. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 16. München/ Paderborn/Wien/Zürich 1981, 57–81. Schlegel, Friedrich (1797c): Die Griechen und Römer. Historische und kritische Versuche über das Klassische Alterthum. [Vorrede]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 1. München/Paderborn/Wien/ Zürich 1979, 205–216. Schlegel, Friedrich (1797d): Georg Forster. Fragment einer Charakteristik der deutschen Klassiker. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 2. München/Paderborn/Wien/Zürich 1967, 78–99. Schlegel, Friedrich (1798a): Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 2. München/Paderborn/ Wien/Zürich 1967, 165–255. Schlegel, Friedrich (1798b): Über Goethe’s Meister. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Willhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Ersten Bandes Zweytes Stück. Berlin 1798, 147–178. Schlegel, Friedrich (1798/99): Philosophische Fragmente. Zweite Epoche. I. In: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 18. München/Paderborn/Wien/Zürich 1963, 195–321.
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Schlegel, Friedrich (1799): Lucinde. Ein Roman von Friedrich Schlegel. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 5. München/Paderborn/Wien/Zürich 1962, 1–82. Schlegel, Friedrich (1800a): Gespräch über die Poesie. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Bd. 3, Berlin 1800, 58–128 u. 169–187. Schlegel, Friedrich (1800b): Ueber die Unverständlichkeit. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 2. München/Paderborn/Wien/Zürich 1967, 363–372. Schlegel, Friedrich (1800c): Ideen. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 2. München/Paderborn/Wien/ Zürich 1967, 256–272. Schlegel, Friedrich (1804): Lessings Gedanken und Meinungen aus dessen Schriften zusammengestellt und erläutert. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 3. München/Paderborn/Wien/Zürich 1975, 46–102. Schlegel, Friedrich (1804/05): Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern. 1.–5. Buch. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 12. München/Paderborn/Wien/Zürich 1964, 107–480. Schlegel, Friedrich (1805/06): [Vorlesungen über] Propädeutik und Logik. In: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 13. München/Paderborn/Wien/Zürich 1964, 177–384. Schlegel, Friedrich (1808): Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde [...]. Nebst metrischen Uebersetzungen indischer Gedichte. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 8. München/Paderborn/Wien/Zürich 1975, 105–433. Schleiermacher, Friedrich (1799): Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin. Schleiermacher, Friedrich (1805/09): Zur Hermeneutik. In: Fr. D. E. Schleiermacher. Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hrsg. u. eingel. v. Heinz Kimmerle. Heidelberg 1959, 27–50. Schleiermacher, Friedrich (1813): Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. In: Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke. 3. Abt., Bd. 2. Berlin 1838, 207–245. Schlieben-Lange, Brigitte/Harald Weydt (1988): August Ferdinand Bernhardi (1770–1820). In: Histoire Épistémologie Langage 10, 81–100. Schmidt, Hartmut (1986): Die lebendige Sprache. Zur Entstehung des Organismuskonzepts. Berlin. (Linguistische Studien, Reihe A, 151.) Schmitter, Peter (1993): Der ‚romantische‘ Forschungsansatz. Seine Entfaltung und Reduktion in der deutschen Sprachwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts. In: Geschichte der Sprachtheorie: Studien zum Sprachbegriff der Neuzeit. Hrsg. v. Ulrich Hoinkes. Münster/Hamburg (Münstersches Logbuch zur Linguistik 4/1993), 87–111. Schulz, Karlheinz (1989): Voraussetzungen kultureller Vermittlung in der deutschen Frühromantik. Kosmopolitismus und Nationalismus bei den Brüdern Schlegel. In: Recherches Germaniques 19, 31–67. Stickel, Gerhard (1999): Zur Sprachbefindlichkeit der Deutschen. Erste Ergebnisse einer Repräsentativumfrage. In: Sprache – Sprachwissenschaft – Öffentlichkeit. Hrsg. v. Gerhard Stickel. Berlin/ New York, 16–44. Stroh, Fritz (1933): Der volkhafte Sprachbegriff. Halle a. d. S. Strohschneider-Kohrs, Ingrid (1977): Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. 2., durchges. u. erw. Aufl. Tübingen 1977 (Hermaea, N. F. 6).
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Tieck, Ludwig (1797 [1796]): Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders [Teil 6]. In: Wilhelm Heinrich Wackenroder. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Bd. 1: Werke. Hrsg. v. Silvio Vietta. Heidelberg 1991, 70–72. Tieck, Ludwig (1798): Franz Sternbalds Wanderungen. Eine altdeutsche Geschichte. In: Ludwig Tieck. Werke in vier Bänden. Nach dem Text der Schriften von 1828–1854, unter Berücksichtigung der Erstdrucke, hrsg. v. Marianne Thalmann, München 1963, Bd. 1, 701–986. Tieck-Bernhardi, Sophie (1800): Lebensansicht. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. Dritten Bandes Zweites Stück. Berlin, 205–215. Vietta, Silvio (1970): Sprache und Sprachreflexion in der modernen Lyrik. Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich. (Literatur und Reflexion 3.) Vietta, Silvio/Richard Littlejohns (Hgg.) (1991): Wilhelm Heinrich Wackenroder. Sämtliche Werke und Briefe. Heidelberg 1991. Wackenroder, Wilhelm Heinrich (1799): Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst [Teil 16]. In: Wilhelm Heinrich Wackenroder. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Bd. 1: Werke. Hrsg. v. Silvio Vietta. Heidelberg 1991, 216–223. Wild-Schedlbauer, Roswitha (1990): [Einleitung.] In: August Ferdinand Bernhardi. Anfangsgründe der Sprachwissenschaft. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1805. Stuttgart-Bad Cannstatt, 7*–56*. (Grammatica universalis 18.) Wordsworth, William (1798): Advertisement to the Lyrical Ballads. In: The Poetical Works of William Wordsworth. Ed. from the manuscripts with textual and critical notes by Ernest de Selincourt. Bd. 2. Oxford 21952, 383–384. Wordsworth, William (1802): Preface to the Lyrical Ballads. In: The Poetical Works of William Wordsworth. Ed. from the manuscripts with textual and critical notes by Ernest de Selincourt. Bd. 2. Oxford 21952, 384–404.
NILS LANGER
Die Lesebuchfrage in Schleswig-Holstein (1864–1870)1
1. Einführung 2. Schleswig-Holsteinische Soziolinguistik im 19. Jahrhundert 3. Das Korpus 4. Die Lesebuchfrage 5. Schluss 6. Zitierte Literatur
1. Einführung „Der damals für die Volksschule vorgeschriebene ‚vaterländische‘ Geschichtsunterricht beschränkte sich auf einige Bilder aus der dänischen Geschichte. [Lehrer] Schultz setzte sich über diese Vorschrift hinweg“, schreibt der Holsteiner Lehrer Johannes Schmarje in seinen Lebenserinnerungen über seine Schulzeit in den 1850er Jahren (Schmarje 1925, 35) und fasst damit bereits das zentrale Thema dieses Aufsatzes knapp zusammen: die Politisierung des Schulunterrichts während und nach der Dänenzeit in Schleswig-Holstein zwischen ca. 1850 und 1870, die hier anhand der Lesebuchfrage erörtert werden soll. Diskussionen über das „richtige“ Lesebuch für den Volkschulunterricht finden sich an mehreren historischen Übergängen in der Geschichte der deutschen Schulpädagogik. Ursprünglich als Hilfe zum Lesenlernen gedacht, entwickelte sich das Lesebuch über die Funktion einer Chrestomathie zu einem Vermittler von kanonischer Literatur (Helmers 1970). Neben didaktischen Erwägungen über die primäre Funktion des Lesebuchs und den Schwierigkeitsgrad der Texte wurde auch Inhaltliches erörtert. So wurde z. B. nach 1945 in der BRD nicht nur diskutiert, was alles unter zu entfernende faschistische Inhalte fiel, sondern auch, ob Autoren wie Brecht in einem Volkslesebuch abgedruckt werden dürften (Helmers 1969, VII). Diskussionen über die Unterschiede zwischen Le1
Mein Dank gebührt der Alexander-von-Humboldt Stiftung (Bonn) und der British Academy (London) für finanzielle Unterstützung sowie Robert Langhanke (Kiel), Viola Wilcken (Kiel) und Silke Göttsch-Elten (Kiel) für wissenschaftliche Inspiration.
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sebüchern für Volksschule und Gymnasium oder über die Proportion von Realunterricht vs. Leseunterricht finden sich fast im gesamten 19. Jahrhundert, wie die Studien über den muttersprachlichen Unterricht an den höheren Schulen in Preußen in Erlinger/Knobloch (1991) zeigen. Aber nicht nur für Sprachdidaktiker und Pädagogen ist die Lesebuchfrage von Interesse. Auch für die historische Soziolinguistik gibt es Aufschlussreiches, da die Diskussionen zeigen, welche metasprachlichen Vorstellungen gerade in den Köpfen von Lehrern vorhanden waren und welche praktischen Verhältnisse sie in den Schulen vorfanden. Hier sind vor allem die Diskussionen zur Volksschule von Interesse, da im Rahmen einer erwünschenswerten „Sprachgeschichte von unten“ (Elspaß 2005; Elspaß et al. 2007), die sich gerade dem Sprachgebrauch der „kleinen Leute“ zuwendet, die Rolle der Schule im Hinblick auf die Vermittlung von sprachlichen Normen noch immer weiterer Untersuchungen bedarf. Im Zentrum dieses Aufsatzes stehen die Lesebuchfrage und die Frage der Berücksichtigung des Plattdeutschen in der Volksschule, die von Lehrern in einem besonders historisch und soziolinguistisch interessanten Kontext diskutiert wurden: in der Sprachkontaktregion Schleswig-Holstein direkt nach der „dänischen Zeit“.
2. Schleswig-Holsteinische Soziolinguistik im 19. Jahrhundert Die Mehrsprachigkeit Schleswig-Holsteins, charakterisiert durch die Zweisprachigkeit Niederdeutsch-Hochdeutsch im Landesteil Holstein und die spektakulärere Fünfsprachigkeit (Friesisch, Niederdeutsch, Hochdeutsch, Reichsdänisch und Sønderjysk) im Landesteil Schleswig, ist in sprachwissenschaftlichen Kreisen auch international wohl bekannt. Aus soziolinguistischer Sicht sind vor allem die unterschiedlichen Domänenzuteilungen von Interesse, also welche Sprachvarietät von welchem Sprecher in welchen Situationen verwendet wird. Im Landesteil Holstein finden wir im 19. Jahrhundert eine Aufteilung von Niederdeutsch als Nähesprache und Hochdeutsch als Distanzsprache, wie sie wohl auch in allen anderen deutschsprachigen Regionen bezüglich der Dichotomie Dialekt – Hochsprache vorhanden war. Auf dem Lande war das Niederdeutsche zumindest für die meisten Menschen die alltägliche Sprechsprache2, in den (wenigen) Städten nahm der Gebrauch des Niederdeutschen zugunsten eines Missingsch, also einer auf hochdeutscher Grundlage, jedoch mit niederdeutschen Elementen stark versetzten neuen Varietät, vor allem in den unteren Schichten stark ab. Schrift-, Kirchen-, Schulund Amtssprache war hingegen das Hochdeutsche. Dies galt auch für das nördliche Herzogtum Schleswig. Die erwähnte Fünfsprachigkeit überlappte hier nur in einem relativ klein umgrenzten Raum, im westlichen Teil des heutigen Grenzlandgebietes. Die 2
Dass dies nicht nur für die unteren Schichten, sondern häufig auch für den Adel galt, lässt sich aus zahlreichen zeitgenössischen Dokumenten erschließen.
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geographische Sprachenaufteilung, nach der das Niederdeutsche im Süden, das Friesische im Westen und das Sønderjysk im Norden verankert war und ist, zeigt eine über Jahrhunderte währende Beständigkeit, die weniger durch die Überdachung dieser indigenen Varietäten durch das Hochdeutsche als Schriftsprache aller offizieller Domänen, als durch die im 19. Jahrhundert auftretende und mit großer Leidenschaft und blutigen Konsequenzen ausgefochtene Politisierung der national aufgeladenen Sprachen Deutsch (Hochdeutsch, Niederdeutsch) vs. Dänisch (Reichsdänisch, Sønderjysk) hinterfragt wurde. Die Stellung des Hochdeutschen als offizielle Sprache war selbst in Kopenhagen bis zum Ende des 18. Jahrhundert in vielen Domänen unproblematisch (vgl. Winge 1992; 2009), aber im 19. Jahrhundert änderte sich vor dem Hintergrund der neu empfundenen Verbindungen zwischen Nation, Volk und Sprache die Bedeutung der Sprachvariation im Herzogtum Schleswig: „Das Herzogtum Schleswig, das seit dem Mittelalter ein […] Sprachkontaktgebiet gewesen war, entwickelte sich im 19. Jh. deutlich zu einem Gebiet des Sprachkonflikts, wo Sprache zunehmend [...] zum ideologischen Instrument politischer Auseinandersetzungen gemacht wurde.“ (Dyhr 1998, 101.)
Anfang des 19. Jahrhunderts kam es zu Diskussionen darüber, dass doch zumindest in den rein oder mehrheitlich dänisch sprechenden Gegenden des Herzogtums Schleswig das Dänische auch zur Kirchen-, Schul- und Amtssprache erhoben werden möge. Ein erstes dahin zielendes Sprachreskript von König Friedrich VI. (1814) scheiterte allerdings am Widerstand des deutschsprechenden Beamtentums, das argumentierte, dass zum einen es praktisch unmöglich sei, den Verwaltungsapparat in eine ihm fremde Sprache zu überführen; zum anderen aber, und das war sicherlich ein ausschlaggebenderer Faktor, sei das Dänische, zumindest das vor Ort gesprochene Sønderjysk, ja überhaupt keine ernstzunehmende Sprache und deshalb für offizielle Anlässe ungeeignet. Dieser Konflikt flammte in den 1840er Jahren auf, nachdem durch verschiedene Petitionen an die kurz vorher installierten Ständeversammlungen der leidenschaftlich formulierte Wunsch geäußert wurde, dass die dänischsprechende Bevölkerung ihre Muttersprache auch in Kirche, Schule und Amt verwenden dürften (Rohwedder 1976). König Christian VIII. reagierte positiv auf dieses Anliegen und erließ 1840 ein entsprechendes Reskript, das sofort von der Gegenseite kritisiert wurde, die ein Unterdrücken der deutschsprachigen Bevölkerung befürchtete. Nachdem die schleswig-holsteinischen Truppen 1850 von Dänemark besiegt wurden, betrieb das Königreich eine gezielte Nationalisierungspolitik, deren Ziel die Erweiterung des dänischen Kulturraums bis an die holsteinischen Grenzen war (Eiderdänentum). Das Sprachreskript wurde 1851 und 1854 zum Gesetz erhoben, so dass ab nun die Unterrichtssprache in den Volksschulen Dänisch zu sein hatte, und zwar im Elementarunterricht ab sofort, im höheren Unterricht nach einer gewissen Eingewöhnungszeit, und die deutsche Sprache auf bis zu vier Stunden wöchentlichen Sprachunterricht beschränkt wurde. Die Kirchensprache wurde Dänisch, doch konnte in Gemeinden, wo dies gewünscht wurde, die Predigt alle zwei Wochen auf deutsch gehalten werden; die Sprache der gottesdienstlichen Handlungen (Taufe, Konfirmation,
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usw.) durfte sich immer nach Wunsch der Betroffenen richten.3 Das Kirchenvisitatorium als Oberaufsicht für schulische Angelegenheiten wurde damit beauftragt, die Eignung der Lehrer zu überprüfen4 sowie das Vorhandensein von geeigneten Schulbüchern, vor allem Lesebüchern, sicher zu stellen. Die nach-dänische Zeit ab 1864 markiert die dritte Phase der schleswig-holsteinischen Sprachpolitik: Nach seiner Niederlage im Krieg gegen den Deutschen Bund unter Führung von Österreich und Preußen räumte 1864 Dänemark die Herzogtümer, die zuerst von den Siegermächten besetzt, aber 1867 dann als Provinz in das Königreich Preußen einverleibt wurden. Die sprachpolitischen und schulischen Maßnahmen Dänemarks wurden weitergehend rückgängig gemacht und im Laufe der Zeit dahingehend umgekehrt, dass nun wiederum das Dänische aus dem öffentlichen Leben verschwinden sollte. Das Quellenkorpus für diesen Aufsatz stammt aus der Anfangszeit dieser erneuten Germanisierungsphase.
3. Das Korpus Lehrer erweisen sich für die historische Soziolinguistik als eine ergiebige Quelle, da sie als Bildungsvermittler ein reflektiertes Bewusstsein und Wissen über politisch und kulturell wichtige Themen haben. Volkschullehrer sind dabei besonders interessant, da sie sich oft – zumindest in eigener Einschätzung – als gut informierte, aber wenig geachtete und schlecht bezahlte Autoritätspersonen einer Gemeinde sehen (vgl. entsprechende Zitate aus Schulinspektionsberichten in Hansen 1991 und Langer 2011). Dies zeigt sich auch in den Quellen dieses Aufsatzes, die aus Texten der schleswig-holsteinischen Schulzeitung bestehen, die also von Lehrern für Lehrer geschrieben wurden. Das Korpus beschränkt sich dabei auf die politisch signifikante Zeit direkt nach der dänischen Zeit, in der die schleswig-holsteinischen Hoffnungen auf eine politische Unabhängigkeit noch eine Weile anhielten, und besteht aus Primärtexten der Schleswig-Holsteinischen Schulzeitung zwischen 1864–1870. Die Schulzeitung war seit 1850 das Vereinsorgan des allgemeinen holsteinischen Lehrervereins, nach dem Ende der Dänenzeit5 seit 1864 des schleswig-holsteinischen Lehrervereins, erschien wöchentlich in Kiel und enthielt neben Stellenanzeigen und Correspondenzberichten mit Nachrichten aus dem lokalen und 3
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Diese Toleranz bezog sich auf die Befürchtung, dass gottesdienstliche Handlungen in einer für den Betroffenen unverständlichen Sprache womöglich keine religiöse Gültigkeit hätten, so dass z. B. eine Konfirmation den Gläubigen gar nicht konfirmierte. Dass dies nicht nur eine Formalität war, zeigt sich in den zahllosen Entlassungen von nicht dänisch gesinnten Beamten, Lehrern und Pfarrern während der Dänenzeit. Der ein wenig salopp klingende Begriff Dänenzeit bezieht sich auf die Zeit zwischen dem dänischen Sieg 1850 gegen die deutschgesinnten schleswig-holsteinischen Truppen und der dänischen Niederlage gegen den Deutschen Bund 1864 und wird auch in der Wissenschaft so verwendet. Selbstverständlich gehörten die Herzogtümer Schleswig und Holstein auch vor dieser Zeit dem König von Dänemark (in seiner Rolle als Herzog von Schleswig-Holstein).
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regionalen Vereinsleben und Berichten von Lehrerwahlen auch längere Aufsätze über aktuelle Probleme der Schule und Lehrerschaft, so z. B. die Versorgung von Witwen verstorbener Lehrer, die Rolle kirchlichen Unterrichtsstoffes in der Schule oder die richtige Größe von Schulklassen. Die Autoren der Schulzeitung waren in der Regel Volksschullehrer der Region, die aber häufig eine ernstzunehmende Expertise in den von ihnen kommentierten Themen hatten. Wie Doormann (1907) in seiner Geschichte des Lehrervereinswesens Schleswig-Holsteins zeigt, war die Lesebuchfrage bereits Gegenstand der allerersten Lehrerkonferenzen in den 1830er und 1840er Jahren. Auch die Frage nach der Berücksichtigung des Plattdeutschen im Volksschulunterricht wurde schon 1840 diskutiert, wenn auch abschlägig.6 Viele der an der Lesebuchfrage teilnehmenden Schreiber waren selbst Autoren von Lesebüchern oder Fibeln. Selten wurden externe Texte abgedruckt, so z. B. ein Aufsatz des Berliner Pädagogen Adolph Diesterweg oder ein noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmter Lehrplanentwurf der Landesregierung. Gelesen wurde die Schulzeitung in der Regel nur von Lehrerkollegen, und dementsprechend fachlich orientiert sind ihre Texte auch. Gelegentlich wird dazu aufgerufen, ein größeres Interesse unter Nichtkollegen zu schaffen, doch wird dies nur von geringem Erfolg beschieden gewesen sein. Exzerpiert wurden alle Ausgaben der Zeitung in dem beschriebenen Zeitraum, so dass die vorliegende Beschreibung der Diskussion auf einem vollständigen Korpus beruht. Hinzugezogen wurden zeitgenössische Ausgaben von in Schleswig-Holstein benutzten Lesebüchern.
4. Die Lesebuchfrage 4.1. Ein vaterländisches Lesebuch Dass ein Lesebuch auch ein politisches Buch ist7, zeigen die Worte des vom schleswígholsteinischen Lehrerverein besonders geschätzten Berliner Pädagogen Adolph Diesterweg: „Das Lesebuch […] muß ein patriotisches Buch sein, sein Inhalt soll vorzugsweise mit vaterländischen Gegenständen bekannt machen und diese – Prosa wie Poesie – in anziehenden Formen darstellen. Ich verwerfe alles hohe Pathos, alle eitle Selbstbespiegelei und Aufschneiderei mit vaterländischen Dingen; aber die Ehren des Vaterlandes, die wirklichen Großthaten seiner
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Diese Thematik war bekannterweise auch Gegenstand der Diskussion in anderen Foren, vgl. z. B. Wienbarg (1834). Auf der Webseite www.spsh.uni-kiel.de finden sich zahlreiche seltene Materialien zu dem allgemeinen Thema der Sprachpolitik in Schleswig-Holstein im 19. Jahrhundert. Vgl. auch die Diskussion zur Repräsentation deutscher Nationalität und Kultur in deutschsprachigen Lesebüchern aus den USA von 1860–1914 in Langer (2008).
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ersten Männer, Leute und Land der Väter soll dem jugendlichen Gemüth in den schönsten Formen seiner Dichter und Denker vorgeführt werden.“ (SHSZ814, 5. 4. 1866, 53.)
Den Begriff vaterländisches Lesebuch wird Diesterweg anders als die schleswig-holsteinischen Lehrer verstanden haben, wie unten gezeigt wird. Gemeinsam ist jedoch, dass das Lesebuch nicht als neutrale Sammlung von Texten zur Einübung der Lesefähigkeiten angesehen wird.9 Die pädagogischen und schulpolitischen Diskussionen in der Schulzeitung ab 1864 müssen vor dem Hintergrund der oben erwähnten Sprachpolitik Dänemarks seit 1840 gesehen werden, die zu jeder Zeit von leidenschaftlichen Protesten der jeweiligen Verliererseite begleitet wurden (vgl. Rohwedder 1976 und Bracker 1972/3). Die Diskussion zur Lesebuchfrage in der Schulzeitung wird am 30. 4. 1864 von dem Schleswiger Lehrer C. F. Müller eingeläutet, der sich kurz nach Ende des Krieges mit Dänemark explizit auf die dringende Notwendigkeit bezieht, die in der Dänenzeit von der Obrigkeit vorgeschriebenen Werke aus dem Schulunterricht zu entfernen: „Die politische Umgestaltung in unserm Herzogthum hat natürlich auch die Volksschule nicht unberührt gelassen. […] Heute wollte ich unsere Schulbücher besprechen und Wünsche und Vorschläge daran knüpfen. Daß ein großer Theil dieser Bücher entfernt werden wird und muß, wird wohl keine Frage sein. […] Unter den deutschen Lesebüchern werden die von Grün und Lorenzen ebenfalls zu den Unmöglichkeiten gehören. Sie sind im eiderdänischen Sinne abgefaßt, dänisch gedacht und undeutsch geschrieben.“ (SHSZ 31, 30. 4. 1864, 122.)
Die Autoren der hier genannten Werke, Grün (Eckernförde) und Lorenzen (Silberstedt), waren Lehrer im Landesteil Schleswig. Ihre Lesebücher enthalten eine Vielzahl von kleinen Aufsätzen, die den Schülern die Flora und Fauna, Geographie und Literatur, Kultur und Geschichte ihres Vaterlandes Dänemark beschreiben. Die Herzogtümer werden gesondert aufgeführt, aber ihre kulturelle und historische Verbundenheit mit dem nordeuropäischen Raum tritt deutlich hervor. Die in der Schulzeitung bemängelte „Undeutschheit“ der Lesebücher bezieht sich also nicht auf eine „Anti-Deutschheit“, sondern wohl eher auf die empfundene und gewollte Einbeziehung des Doppelherzogtums in die Geschichte des dänischen Staates und der nordischen Kultur. Dabei werden z. B. von Grün (1854) die Schleswig-Holsteiner durchaus als ein Volk bezeichnet, also nicht als Teil des dänischen Volkes. Hingegen ist das schleswig-holsteinische Volk – das von Grün nur indirekt als „unser Volk“ bezeichnet wird, aber der Kontext macht deutlich, was er damit meint – (nur) durch die Sprache getrennt, so dass plattdänisch Sprechende und plattdeutsch Sprechende zu unterschiedlichen Nationen gehören10: 8 9
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SHSZ = Schleswig-holsteinische Schulzeitung. Dies wurde allerdings nicht von allen Lehrern so gesehen und eine Reihe von Aufsätzen aus der Schulzeitung widmet sich der Diskussion, ob ein Lesebuch primär dem Leseunterricht, dem Sprachunterricht oder dem Anschauungsunterricht zu dienen haben. Dass er hierbei die Friesen ignoriert, ist auffällig. An anderer Stelle (S. 11–13) widmet sich Grün detailliert den Friesen in einem separaten Abschnitt. Die friesische Sprache, die „weder dem Dänen
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„Die Sprache trennt unser Volk in zwei Nationen – von der Schlei bis zur Elbe nach Süden ist Plattdeutsch, und von der Schlei nach Norden fast überall Plattdänisch die Volkssprache – und dennoch stehen sich beide vollkommen eben so nahe, als die Deutschen in ihren Mundarten unter sich.“ (Grün 1854, 216 f.)
Er benutzt demnach die mangelnde gegenseitige Verständlichkeit hochdeutscher Dialekte als Argument dafür, dass die verwandtschaftliche Distanz zwischen Plattdeutsch und Plattdänisch nicht größer sei, so dass ergo Schleswiger und Holsteiner durchaus auch nach den gängigen Kriterien des Volks- und Nationsbegriffes des 19. Jahrhunderts Teil desselben Volkes sein können. Verquickungen zwischen den Völkern werden von Grün erwähnt, aber einen aggressiven Patriotismus wie man ihn sonst aus dem Zeitalter des Imperialismus kennt, findet man in seinem Lesebuch nicht: „Von [sic!] Charakter gilt unser Volk für ehrlich, bieder, fleißig, ausdauernd und besonnen. Wie manches Herrliche berichtet die Geschichte sowohl von Holstentreue und Tapferkeit, als von nordischer Treue und Tapferkeit. Doch ist es schwer, solche Eigenschaften ganzer Nationen gegen einander abzuschätzen, es hat auch treue Franzosen gegeben, und an der Tapferkeit der Preußen sowohl als der Franzosen und Engländer ist wohl kein Zweifel.“ (Grün 1854, 219.)
Trotz dieser inhaltlichen Gemeinsamkeiten der Lesebücher von Grün und Lorenzen mit den Vorstellungen der deutschgesinnten Bevölkerung werden diese von jener als eiderdänisch abgelehnt. Es zeigt sich die betonte politische Dimension eines Volksschullesebuchs, da erkannt wurde, welche Rolle der Schulunterricht selbst für die ländliche und wenig gebildete Bevölkerung11 für die nationale Bewusstseinsbildung hatte. Versuchten die Dänen durch ihre Sprach- und Schulpolitik in den 1850er Jahren den dänischen Kulturraum nach Süden auszuweiten, kehrten die Deutschgesinnten nach 1864 die Entwicklung um. Kritik am ehemaligen Regime wurde neben den pro-dänischen Inhalten auch an der zentralistischen „Octroyirung“ von Lesebüchern laut, die die Selbständigkeit der Lehrer einschränkte: „In früheren Zeiten war die Einführung neuer Schulbücher eine Angelegenheit, welche meistens zwischen dem Schulinspector und Lehrer ihre Erledigung fand. […] Andere Zeiten kamen, Zeiten schweren Drucks. Ohne Erlaubnis des Ministeriums durfte kein Schulbuch eingeführt werden; alle Lehrmittel waren obligatorisch. Spärlich ist im Vergleich zu früheren Zeiten die Zahl der neuentstandenen Schulbücher – für die Anfertigung fehlte ein wichtiger Sporn; die Aussicht auf Absatz – und diejenigen, welche ‚mit Unterstützung des hohen Königl. Ministe-
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noch dem Deutschen verständlich“ sei, wird als „Gemisch oder Uebergangsform vom Skandinavischen zum Deutschen“ bezeichnet (S.12). Grün bezeichnet die Friesen als ein Volk mit eigener Nationalität und Sprache, berichtet aber, dass die Friesen im Süden die plattdeutsche, die im Norden die dänische Sprache angenommen hätten, „so daß jetzt fast nur die Inselbevölkerung und die, einiger schmaler Küstenstriche, noch frisisch spricht“ (S. 13). Dass der Volksschulbesuch auf dem Lande nur wenig leisten konnte, lag nicht nur daran, dass die Kinder in der Regel mit 14 Jahren von der Schule abgingen, sondern auch daran, dass – wie fast an allen ländlichen Schulen von Lehrern beklagt – der Schulbesuch höchst unregelmäßig war und vielerorts im Sommer fast ganz eingestellt wurde.
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riums‘ herausgegeben wurden, trugen größtentheils das Gepräge des Rückschritts in der Methode – den Verfassern war der Absatz gesichert. Wie mancher Lehrer wünschte damals ein Lesebuch für seine Schule, mußte aber den Wunsch unterdrücken, weil er kein anderes bekommen konnte, als das Lorenzen’sche Machwerk, berüchtigten Andenkens, und so in andern Fällen.“ (SHSZ 31, 30. 4. 1864, 123 f.)
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass neben der Erleichterung seitens der deutschgesinnten Lehrerschaft über den Sieg gegen Dänemark und damit einer Liberalisierung der Lesebuchauswahl auch die Befürchtung mitschwingt, dass die preußische und österreichische Besatzung nun selbst die Schulpolitik bestimmen könnte und in die Lesebuchfrage eingreift. Der schleswig-holsteinischen Lehrerverein verabschiedete dementsprechend eine Resolution an die kaiserlich österreichische und königlich preußische Oberzivilbehörde in Flensburg mit der Bitte, vor einem endgültigen Frieden (und erhoffter schleswig-holsteinischer Unabhängigkeit unter Herzog Friedrich VII.), kein neues Lesebuch vorzuschreiben: „[...] Nachdem durch eine Ober-Civilbehörde der eben so unnatürliche als unerträgliche Druck von den Schulen Schleswigs genommen ist, wofür wir unsern tiefgefühlten Dank abstatten, und eine freiere volksthümliche Entwickelung auf dem Gebiete der Volksschule und ihrer Lehrer zur Geltung kommen wird; nachdem namentlich die von den dänischen Behörden octroyirten Schulbücher, die alle nur dem Danisierungssystem dienten, durch die hohe Ober-Civilbehörde beseitigt sind, ist die Herstellung und Einführung neuer Schulbücher eine Angelegenheit, die die gesammte Lehrerwelt Schleswig-Holsteins auf das lebhafteste beschäftigt. […] Die ganze aus 400 Lehrern Schleswig-Holsteins bestehende Versammlung war indessen der einstimmigen Ansicht, daß die gegenwärtige Zeitlage der Herstellung und Einführung neuer Schulbücher nicht sehr günstig ist. Dies sei nur dann der Fall, wenn die Unzertrennlichkeit und Unabhängigkeit unter dem Herzog Friedrich VIII. durch einen gerechten Frieden gesichert sei. So lange dieses Ziel nicht erreicht ist, fehlt nicht nur die alleinige sichere Basis für die Einführung, sondern auch die alle Gemüther beherrschende Erregung ist nicht geeignet für das ruhige Schaffen und die vorurtheilsfreie Beurtheilung vaterländischer Schulbücher. […]. Dazu kommt, daß die Einführung bevor wirklicher Friede sei, von den Schulcommunen mit mißtrauischen Augen betrachtet würde, da die Erfahrung der letzten 14 Jahre, wo zu wiederholten Malen durch die Dänische Willkühr mit den Schulbüchern gewechselt wurde, noch in zu frischer Erinnerung ist.“ (Abgedruckt in SHSZ 1, 5. 1. 1865, 1.)
Die Befürchtung des Lehrervereins, dass ihnen erneut ein Lesebuch vorgeschrieben werde, basiert damit auf den Erfahrungen aus der Dänenzeit (Doormann 1907, 114 ff.), gründet sich aber auch in den Bestrebungen nach politischer Unabhängigkeit, die bekanntlich mit der Annektierung durch Preußen 1867 ein jähes Ende fand. Zum einen bedeutete dieser Wunsch nach Unabhängigkeit, sich von Dänemark dauernd zu lösen, zum anderen wurde aber auch mehrfach betont, dass nur ein Lesebuch, das für beide Landesteile, Schleswig und Holstein, gültig ist, akzeptabel wäre: „a. Keine Schulbücher dürfen länger in der Schule gebraucht werden, die der dänischen Propaganda gedient haben. b. Keine Schulbücher dürfen neu eingeführt werden, die speciell für Schleswig bearbeitet und bestimmt sind.“ (SHSZ 35, 28. 5. 1864, 140.)
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Ähnlich heißt es in einem Bericht der dänisch-wohldener12 Lehrerversammlung, dass man appelliere „nach Kräften für die Einführung eines schleswig-holsteinischen Lesebuchs thätig zu sein. Es soll nämlich die Absicht der leitenden Behörde des schleswigschen Schulwesens sein, ein neues Lesebuch für die Schulen Schleswigs einzuführen. Wir würden einen solchen Particularismus auf dem Gebiete der schleswig-holsteinischen Schulen nur bedauern.“ (SHSZ 40, 2. 7. 1864, 160.)
Als Autoren sollten sich Lehrer bereitstellen, die Entwürfe oder ausgearbeitete Manuskripte an den Vorstand des Lehrervereins schicken mögen, der dann mittels einer entsprechenden Kommission über die beste Arbeit entscheiden wollte. So könnte man gewährleisten, dass das Lesebuch den Ansprüchen und der Wirklichkeit des schleswigholsteinischen Schulunterrichts Genüge tun würde. In der inhaltlichen Diskussion gibt es über den „vaterländischen“ Charakter des Lesebuchs keine Kontroverse. Das Lesebuch sei dazu da, „die nationale Bildung des Schülers fördern [zu] helfen und namentlich auch Liebe zum Vaterland und zur vaterländischen Heimathskunde und Geschichte [zu] erwecken“, wird aus Dithmarschen berichtet (SHSZ 8, 22. 2. 1866, 29 f.). Weiterhin heißt es, „[u]m die Liebe zum engern Vaterlande zu fördern, muß das Lesebuch eine Auswahl von Schilderungen und Characteristiken geschichtlichen und naturhistorischen Inhalts aus der Heimath enthalten. Schleswig-Holstein hat eine reiche Geschichte und namentlich hat auch das kleine Dithmarschen eine reiche Vergangenheit, aber wie wenig aus der Geschichte unsers Heimathlandes ist in das Volk gedrungen. Vielleicht ist der Dithmarscher in dieser Hinsicht noch am glücklichsten situirt; er hat in seinen Chroniken, die fast ein Familienbuch geworden sind, einen nothdürftigen Ersatz und es mögen nicht viele Dithmarscher sein, welche nicht von dem Tage von Hemmingsstedt zu erzählen wissen.“ (Ebd.)
Das Lesebuch solle nicht bloß Lesefertigkeit erzielen, „sondern den Kindern einen Gewinn im Lesen zu erzielen, indem es sie in den vollen Inhalt des Lebens nach den verschiedenen Seiten hin einführt, Kenntniß der realen Gegenstände ihnen mittheilt und das Bewußtsein, welchem Volke sie angehören, in ihnen weckt und stärkt“ (SHSZ 35, 28. 5. 1864, 139). Der Begriff Vaterland bzw. sogar unser specielles Vaterland wird grundsätzlich mit der Bedeutung Schleswig-Holstein, also nicht Deutschland, verwendet (im Gegensatz zum „Eiderdänen“ Grün (1854), der Dänemark als Vaterland bezeichnet). Die Zeit der Unterdrückung während der Dänenzeit wird immer wieder angesprochen, um die Sonderstellung des schleswig-holsteinischen Vaterlandes herauszustreichen und dementsprechend eine besondere Behandlung seiner Geschichte in einem noch zu schreibenden Lesebuch einzufordern: „Bisher durften wir unser Vaterland nicht einmal bei seinem rechten Namen nennen, geschweige denn unsere vaterländischen Verhältnisse darstellen, wie sie sind. Das Recht sollte todtgeschwiegen, die Wahrheit ausgetilgt werden. Ein Bann lag auf den Schulen. Doch – Dank dem Lenker der Geschicke – wir sind frei!! Der Bann ist gelöst, die Nacht entschwunden. Da 12
Trotz des Namens zu dieser Zeit ein rein deutschsprachiges Gebiet.
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dürfen wir denn nicht säumen, auch für die Schulen alle Thüren zu öffnen, daß das neue junge Morgenroth einziehe und vaterländischen Sinn wecke und pflege auch in den Herzen der Kinder. Welches Mittel wäre aber außer dem Unterricht zu diesem Zwecke wohl geeigneter als ein vaterländisches Lesebuch.“ (SHSZ 2, 8. 10. 1867.)
In seiner Rezension zu Dückers Geschichtsbildern reflektiert Lehrer Thiessen über die schleswig-holsteinische Geschichte und sieht den Grund für den besonderen Nationalstolz der Schleswig-Holsteiner in seinem unnatürlichen Verhältnis zu dem ‚fremden Volke der Dänen‘, das das Wissen über die eigene vaterländische Geschichte verdränge: „Man hat es freilich schon lange in Schleswig-Holstein gefühlt, daß wir durch unser unnatürliches Verhältniß zu einem fremden Volke immer mehr von unserer heimischen Geschichte und dadurch von dem Urquell, woraus der Volksgeist immer neue Nahrung schöpfen soll, abgedrängt worden waren, und daß die Sagen und Erzählungen von den Schicksalen und Bestrebungen unserer Vorfahren immer mehr im Volksbewußstein verloschen.“ (SHSZ 19, 19. 5. 1866, 73.)
Die Schule spiele hierbei eine besondere Rolle, denn ihr obliege es, im Unterricht die Vaterlandgeschichte zu lehren und so zur Bildung des Volkes beizutragen: „Daß in unsern Schulen dennoch so äußerst wenig für die eigentliche Vaterlandsgeschichte geschah und dem Volke seine Vergangenheit so dunkel blieb, das lag indeß nicht allein in dem unnatürlichen Verhältniß zu dem fremden Staat, sondern in weiterer Folge auch mit daran, daß dem Lehrer die nöthige Kunde und die nothwendigen Hülfsmittel mangelten. Freilich hing dieser Mangel wieder eng zusammen mit dem zuerst genannten Hinderniß einer bildenden Heimathgeschichte. Aber dennoch ward das Bedürfniß im Volke immer lebhafter und die Anforderung an die Schule immer dringender, und namentlich in den letzten Jahren, wo sich in allen Orten des Landes Vereine zum Kampf für unsre nationalen Güter bildeten, wo an jeden Bewohner des Landes lauter denn je die Mahnung heran trat, mit für des Landes Nationalheiligthum in die Schranken zu treten, mußte wol mancher mit Scham seine Unkunde in der vaterländischen Geschichte erkennen, und wurde die Schule sich ihrer Verpflichtung gegen die Nation immer klarer bewußt. […] Die Kämpfe mit den Dänen, die Bedrückungen durch die Dänen etc. sind mit großem Fleiß angemerkt und geschildert, und wer wollte es auch leugnen, daß eben in diesen Kämpfen und Gegenbestrebungen von Seiten der Schleswig-Holsteiner sich der Volkscharacter am anschaulichsten auffschließt.“ (Ebd, 74 ff.)
Diese Beispiele, die für die Diskussionen und Berichte in der Schulzeitung durchaus repräsentativ sind, mögen genügen, um zu zeigen, in welchem politischen Kontext die Lehrer Schleswig-Holsteins sich der Lesebuchfrage stellten. Doch nicht nur nationalpolitische Erwägungen bestimmten die Diskussion, auch praktische und pädagogische Faktoren spielten eine wichtige Rolle, die allerdings nicht nur in schleswig-holsteinischen Lehrervereinen debattiert wurden. Ein häufig erwähntes Thema bezog sich auf die Notwendigkeit bzw. die Nutzlosigkeit, kirchliche und biblische Themen in den Textapparat mit aufzunehmen. Die Schulaufsicht oblag bis zur preußischen Annektion für die allermeisten Schulen noch der Kirche, Schulinspektoren waren in der Regel Generalsuperintendenten oder Bischöfe, und der von den Lehrern bei Visitationen zu beantwortende Fragebogen enthielt die Frage: „Welche Hindernisse und Mängel beeinträchtigen die Wirksamkeit des religiösen Unterricht?“ (meine Her-
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vorhebung; NL). Gegner des kirchlichen Stoffes im Lesebuch argumentierten hingegen, dass doch genügend solch Material im Gesangbuch, im Katechismus und in der Bibel zu finden sei, das im separaten Religionsunterricht durchgenommen werden würde. Eine weitere, immer wieder auftauchende Diskussion (vgl. Doormann 1907) bezieht sich auf die grundsätzliche Stellung des Lesebuchs: Soll es primär dem Lesenlernen dienen oder dem Anschauungsunterricht? In der Praxis haben alle Lesebücher einen Textapparat (im Gegensatz zur Fibel, die tatsächlich häufig nur Buchstaben, Silben, und einzelne Wörter enthält), aber die Forderung, dass doch die Schüler auch verstehen sollten, was sie lesen, lässt darauf schließen, dass der inhaltliche Anspruch der Lesetexte nicht immer den Fähigkeiten der Schüler entsprach. Ein Thema, dass in der Sprachkontaktregion Schleswig-Holstein sicherlich intensiver diskutiert wurde als anderswo, betraf die sprachliche Vielfalt. Da der schleswig-holsteinische Lehrerverein überwiegend nur im Landesteil Holstein aktiv war – zu seinem eigenen Bedauern – wird die Rolle des Plattdeutschen in der Schule häufiger diskutiert als das Dänische.13
4.2. Die Rolle des Plattdeutschen Die Rolle des Plattdeutschen im Gesellschaftsleben ist bekanntermaßen ein wunder Punkt in Norddeutschland. Seit der Reformation als seriöse Schriftsprache verschwunden finden, sich bereits im frühen 18. Jahrhundert metasprachliche Beschwerden darüber, dass das Plattdeutsche doch die eigentliche Sprache der Norddeutschen sei, deren Status und Gebrauch zu schützen sei (so z. B. Raupach 1704). Aus der Schriftlichkeit – bis auf sehr markierte Ausnahmen – verdrängt, fand man aber selbst im 19. Jahrhundert noch eine sprechsprachliche Kompetenz des Plattdeutschen im Bürgertum und Adel, die sich dieser Sprache teils untereinander aber häufig mit Untergebenen bedienten. Beispiele dafür finden sich in der Belletristik (z. B. Buddenbrooks), aber auch in der Schulzeitung lernen wir über den Sprachgebrauch des Adels: „Fanny Lewald, die bekannte Schriftstellerin, sagt noch im Jahre 1866 in ihrer Lebensbeschreibung, indem sie von der Gräfin von Holstein, der Freundin Immermanns, erzählt: sie sprach den schönen weichen holsteinischen Dialect. Dieses so hingeworfene Wort dürfte uns auf einen Vorzug aufmerksam machen, den die Mundart und Sprache des gemeinen holsteinischen Bauern auf den holsteinischen Aristokraten, der es nicht verschmäht, auf seinen Gütern in der Volkssprache zu Arbeitern und Insten zu sprechen, überträgt und womit er in der Fremde den feinen Mann schon durch den Ton und Klang seiner Stimme offenbaren kann.“ (SHSZ 14, 2. 4. 1868, 56 [Nicht-Pädagoge].)
Das sich den Lehrern stellende Problem besteht darin, dass die plattdeutsche Sprache zum einen das kulturelle Element war, das die Schleswig-Holsteiner sowohl von den 13
Allerdings gibt es hierzu auch eine Reihe von Kommentaren, deren Auswertung aber den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde.
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Dänen als auch von Restdeutschland abgrenzt. Die Stärkung und die Wertschätzung des Plattdeutschen bieten sich also dazu an, die Eigenständigkeit und die Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins gegenüber seinen Nachbarn zu demonstrieren. Zum andern ist das Plattdeutsche natürlich nicht die Sprache der Wissenschaft, Politik, Schule und Kirche, was von den Lehrern auch nie in Frage gestellt wurde. Diese Spannung zwischen der sehr positiven Einschätzung des Niederdeutschen als Kulturschatz des norddeutschen „Volkes“ und seiner negativen Einschätzung als reine Sprechsprache, als Sprache ohne Grammatik, und als Sprache der Unbildung und des Landlebens durchzieht die Diskussionen in der Schulzeitung. Die hier zitierten Belege unterscheiden sich insofern von vorhergehenden, aber auch späteren Diskussionen – denn die Rolle des Niederdeutschen im Schulunterricht und als öffentliche Sprache wird ja noch heutzutage leidenschaftlich debattiert –, als sie politische und kulturelle Eigenständigkeit gegenüber Dänemark, aber auch den anderen deutschen Staaten zumindest impliziert herausstellen. Die heftigste Diskussion zu diesem Thema wird zwischen 1864 und 1868 zwischen den Lehrern Tiessen und Schmarje auf der einen Seite und einem anonym bleibenden, sich selbst als $icht-Pädagogen (NP) bezeichnenden Opponenten. Es erschienen mehrere Artikel, so dass Lehrer Petersen in seinem Kommentar konstatierte, dass dieser Zeit das Schreiben von Aufsätzen über das Niederdeutsche eine wahre Mode sei (SHSZ 34, 20. 8. 1868, 137). In jedem Beitrag wird vom Verfasser darauf hingewiesen, dass er ein Freund des Plattdeutschen sei und die Rolle des Lehrers in der Schulbildung und dem Sprachunterricht schätze und anerkenne. Man sei sich prinzipiell in der Sache einig, dass das Niederdeutsche ein wichtiger Teil norddeutscher Kultur bzw. des norddeutschen Volksgeistes sei: „Die Volkssprache – und also auch die plattdeutsche Mundart – ist nicht etwas Angelerntes, willkührlich Gemachtes, sondern sie ist aus dem Volksgeiste naturgemäß heraus geboren; sie ist nicht stabil, sondern stets sich fortentwickelnd. Volkssprache und Volksgeist decken sich einander und stehen in kausalem Zusammenhange.“ (SHSZ 52, 26. 12. 1864, 212 [Tiessen].)
Damit einher geht die Kritik an fremden Sprachen, womit hier auch das Hochdeutsche gemeint ist, die durch ihre Unnatürlichkeit eine schädliche Wirkung auf den Volkscharakter ausüben könnten: „[D]ie fremde Sprache [bleibt] mit ihren fremdartigen Formen ein äußeres Element, das mit dem unter seinen Volksgenossen aufwachenden Volkskinde nie eine naturgemäße Vermählung eingehen kann. Die Sprache ist hier nicht ein natürliches Product, sondern sie ist einseitig Ursache, die den Schüler in den Volkscharakter einer fremden Nation einführt und auf seinen Charakter und seine Muttersprache nicht selten modificirend einwirkt.“ (SHSZ 52, 26. 12. 1864, 212 [Tiessen].)
Das Plattdeutsche hingegen wird als die „Umgangssprache des Norddeutschen“ bezeichnet, als „die Muttersprache, in welcher schon unsere Vorväter sich als stammverwandte Brüder begrüßten, in welcher sie sich gegenseitig verstanden und ihre geschäftlichen Beziehungen vermittelten und in welcher sie ihren heiligsten Herzensangelegenheiten einen Ausdruck gaben.
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[…] so ist in der plattdeutschen Sprache auch die Volksgeschichte des Niederdeutschen ausgeprägt. Eben deshalb ist sie mit dem Volke verschmolzen, ganz zu seinem Bildungsstandpunkt passend, ganz seine Gemüthswelt offenbarend, ganz sein geistiges Eigenthum geworden. […] Durch die plattdeutsche Sprache fühlen wir uns als Brüder Eines Stammes, durch den Gebrauch eines fremden Idioms documentiren wir unsere Entfremdung von dem Vaterlande und dem Vatervolke, das auch uns leiblich und geistig groß gezogen hat.“ (SHSZ 52, 26. 12. 1864, 212 f. [Tiessen].)
Sie ist „kein Kunstproduct, sondern ein Naturkind, das naturwüchsige Geisteskind des niedersächsischen Volkes“ (SHSZ 10, 5. 3. 1868, 37 [Schmarje]), und ein „SchleswigHolsteiner, der logisch zu denken gelernt hat, ist zugleich auch befähigt, seine plattdeutsche Landessprache richtig zu sprechen“ (ebd., 38). Diese Vorstellungen über Muttersprache und Orts- oder Regionalsprachen ist der heutigen Forschung nicht nur aus dem 19. Jahrhundert und nicht nur über das Plattdeutsche bekannt. Auffallend ist hingegen die fehlende Schlussfolgerung des Verfassers, der trotz des Vorhergesagten nicht eine Einschränkung des Hochdeutschen postuliert. Vielmehr unterscheidet er zwischen dem Niederdeutschen als „Eigenthum eines Volksstammes“ und dem Hochdeutschen als einem „Gemeingut eines ganzen Volkes“ (ebd.), und somit fungiere das Hochdeutsche als politisch und kulturell einigendes Band für das ganze deutsche Volk. Weiterhin sei nur das Hochdeutsche geeignet, auf dem Gebiet der Wissenschaft eine höhere Erkenntnis zu ermöglichen „und so gehen Wissenschaft und hochdeutsche Sprache Hand in Hand zur Erlösung der Nation“ (ebd., 213). Für die Schule bedeute dies, dass nur die hochdeutsche Sprache im Unterricht benutzt werden dürfe, wobei der Verfasser konzediert, dass durch das mangelnde Vorwissen der Kinder aus praktischen Gründen das Hochdeutsche erst nach und nach eingeführt werden könne: „Wenn das Kind die Schule erst betritt und mit seiner ganzen Gedankenwelt noch auf dem Spielplatz weilt, möchte es gerathen sein, in seiner Sprache, wofür es einen correspondirenden Inhalt hat, mit ihm zu conversiren. Aber sobald der Unterricht eintritt, muß es auch nach und nach mit der Erweiterung des Unterrichts stufenmäßig in die hochdeutsche Sprache eingeführt werden.“ (Ebd., 214.)
Für Tiessen bedeutet dieser Ausschluss des Niederdeutschen aus der Schule nicht das Ende der Sprache. Wie noch heute von vielen Norddeutschen so empfunden, ist Plattdeutsch eine Sprache des Familiären und des Privaten: „Ich liebe die plattdeutsche Sprache, aber ich habe mich nie für den Schulgebrauch derselben begeistern können. Sie gehört auf den Markt des Lebens, in die Conversationszimmer zur gemüthlichen Unterhaltung, nicht in die Schule, nicht auf die Kanzel. Klaus Groth, wenn er die Denkweise und das Alltagsleben seines Volksstammes schildern will, mag ganz recht thun, wenn er seine Schilderungen im plattdeutschen Idiom giebt; Fritz Reuter, wenn er von dem Alltagsleben des Mecklenburgers, wie von seinem Charakter und seiner Moral ein Bild uns vorführen will, spricht er zu uns in dem Platt des Mecklenburgers. Aber ein Buch, dessen Zweck Belehrung ist, würde sich schlecht empfehlen, wenn es in plattdeutscher Sprache unsere Begriffs- und Ideenwelt veredeln wollte.“ (Ebd., 214.)
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Der Bezug auf die populären und erfolgreichen zeitgenössischen Dichter und Schriftsteller Groth und Reuter ist besonders aufschlussreich, da sie zum einen als wichtige Repräsentanten norddeutscher Literaturkultur unangreifbar sind und ihre Werke sehr wohl in Auswahl den Schulkindern zugänglich gemacht werden mögen (SHSZ 10, 5. 3. 1868, 38 [Schmarje], vgl. auch Langhanke 2011), zum anderen aber die Neuverschriftlichung des Niederdeutschen in den Augen von Tiessen – und anderer Lehrerkollegen – eben nicht dazu führen dürfe, das Hochdeutsche aus der Schriftlichkeit zu verdrängen. Plattdeutsche Gedichte und kurze Texte seien für das vaterländische Volksschullesebuch erlaubt, und der Beitritt zu niederdeutschen Sprachvereinen für Lehrer durchaus empfehlenswert (SHSZ 18, 30. 4. 1868, 70 [Tiessen], aber das schleswig-holsteinische Volk sei zweisprachig14 und die beiden Sprachen Hochdeutsch – Niederdeutsch wären deutlich und stabil nach Gebrauchsdomänen aufgeteilt und es sei deshalb nicht zu befürchten, dass die Nichtbehandlung des Niederdeutschen zu seinem Tod führen würde. Die Menschen seien zu konservativ und ihre Modersprak habe einen zu hohen emotionalen Wert („wie ein Zaubermährchen“, SHSZ 10, 5. 3. 1868, 37 [Schmarje]), als dass „wie Einige wollen, Andere befürchten, es dahin kommen sollte, daß auf der Gasse und in dem trauten Familienkreise statt seiner die hochdeutsche Sprache Aufnahme fände, Bürgerrecht bekäme“ (ebd.). Eine Aufnahme in den Schulunterricht bedürfe es hierzu nicht: „Die plattdeutsche Sprache wird in unsern Herzogthümern nicht aussterben, wenn auch die Schule dieselbe als Unterrichtsgegenstand in ihren Lectionsplan nicht aufnimmt.“ (Ebd.)
Bemerkenswerterweise ist es der „Nicht-Pädagoge“, der sich als ihr stärkster Befürworter für die plattdeutsche Sprache einsetzt. Sein zentrales Anliegen ist, dass im Gegensatz zu ihm der Lehrerstand wahre Macht über die Zukunft des Landes habe und tatsächliche Veränderungen bewirken könne. Lehrer sollten die Kinder ihre Muttersprache schätzen lehren und nicht mehr „die Sprache ihrer Eltern als roh verachten, daß Eltern das schlechte Hochdeutsch ihrer Kinder mitzustammeln suchen, daß ihre eigenen Kinder sie über erbärmliche Schnitzer im Genus und in den Casus beschulmeistern“ (SHSZ 14, 2. 4. 1868, 55 [Nicht-Pädagoge]). Die Stigmatisierung des Plattdeutschen führe dazu, dass man den Sprechern die Selbstachtung nähme, und danach wäre es „nur ein Schritt und er verlor die Achtung vor Vater und Mutter, vor ihren altväterlichen Sitten, ihrer Tracht, ihren Möbeln und Hausrath, ihrem altväterlichen Aberglauben und fertig war der gebildete hochdeutsche Landmann, denn mit der Sprache fing man an. So lange man plattdeutsch mit ihm gesprochen, würde man ihm nicht haben einreden können, daß sein Vater und er einfältige Pinsel und daß seine Schränke häßlich seien, wie seine Tracht altmodisch. Als man ihm aber erst den nöthigen Respect vor dem Hochdeutschen beigebracht und er darin etwas Höheres, Feineres sah, als in seinem Platt, da konnte auch bald der Jude aus Hamburg an 14
Man beachte, dass die Existenz des Dänischen und Friesischen fast vollständig ausgeklammert bleibt, was z. T. daran liegen wird, dass die sich an der Diskussion beteiligenden Lehrer größtenteils aus Holstein kommen, z. T. aber auch daran, dass nach den Erfahrungen aus der Dänenzeit die deutschgesinnten Lehrer kein Interesse an einer gleichgestellten Behandlung des Dänischen hatten.
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ihn herankommen, ihm seinen krausen Schrank ab- und einen platten ‚Seländer‘ oder ‚Secretär‘ aufschwatzen. Da kam die Langeweile, das Kartenspiel, der Branntewein: Das Erzählen von Märchen und Sagen kürzte nicht mehr den Abend und Leeder und ‚Riemels‘ wurden nicht mehr gefertigt.“ (SHSZ 15, 9. 4. 1868, 57 [Nicht-Pädagoge].)
Der Gebrauch des Hochdeutschen als Hochsprache führe also zur Entwertung nicht nur der niederdeutschen Sprache, sondern auch der niederdeutschen Kultur. Dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, könnten allein die Lehrer, denn „die Hauptschuld, wenn auch nicht alleinige, an diesem nationalen Unglück tragen die Volksschullehrer. [...] Es ist mathematisch gewiß: es wäre nie daran zu denken gewesen, daß das Plattdeutsche untergehen könnte, wenn die Schulen plattdeutsch geblieben wären.“ (Ebd., Hervorhebung im Original.)
Die hochdeutsche Sprache durch die niederdeutsche zu ersetzen, ist allerdings auch nicht das Ansinnen des Nicht-Pädagogen: „die hochdeutsche Sprache ist nicht oder soll nicht sein die Sprache des Unterrichts und ferner will ich nicht die plattdeutsche Sprache wieder als Unterrichtssprache einführen.“ (SHSZ 23, 4. 6. 1868, 91 [Nicht-Pädagoge].)
Vielmehr gehe es darum, die Achtung vor der niederdeutschen Sprache bei allen Generationen zu gewährleisten, denn sollte diese Sprache aussterben, würde dies nicht zu einer monolingualen Hochsprachlichkeit der Bevölkerung führen, sondern es „ersteht mit dem Verfall des Plattdeutschen der Schule und den Lehrern und dem Lernen auf der Stelle erst ein Feind und ein wahrhaft widerlicher, viel schwerer und nieder zu kämpfender wirklicher Feind. Die plattdeutsche Sprache ist kein Feind der hochdeutschen Sprache, wie zwei Sprachen nie einander Feind sein können. Das Patois aber, das Messingsch ist es.“ (SHSZ 14, 2. 4. 1868, 53 [Nicht-Pädagoge]; Hervorhebung im Original.)
In Berlin, dieser ehemals „plattdeutschen Stadt“ sei dies bereits geschehen und ähnliche Tendenzen ließen sich wohl auch in Kiel, Elmshorn und vielleicht sogar in Heide, dem Geburtsort Klaus Groths, ausmachen (ebd.). Der Verfasser berichtet von persönlichen Beobachtungen, nach denen dort, wo sich durch die Präsenz von eingewanderten Beamten, Handwerkern, Krämern, Ärzten, Predigern und Lehrern ein „hochdeutscher Mittelpunkt“ bildet, die Gesellen und Lehrlinge begönnen, „ehre lewe Modersprak aufzugeben und Messingsch zu radebrechen, in dem Wahne, dieses Messingsch sei das die höhere Bildung kennzeichnende Hochdeutsch“ (ebd.). Hochdeutsch und Platt müssen rein bleiben, und aus dem Letzteren sei „in der Aussprache namentlich das r und die widerlichen scht und schp“ fern zu halten (ebd., 56). Das Plattdeutsche ist eine eigenständige Sprache, die im „plattdeutschen Lande“ „die Sprache des Verkehrs“ darstellt: „Jedes Volk bedarf zweier Sprachen, eine, wie Klaus Harms[15] sagt, hinter Topf und Pflug, die andere für höhere Bedürfnisse. Wenn ihm eine dieser Sprachen fehlt, macht es sie sich, d. h.
15
Claus Harms (1778–1855), Autor von Schleswig-Holsteinischer Gnomon: ein allgemeines Lesebuch insonderheit für die Schuljugend (1843).
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also, wenn man ihm seine schöne plattdeutsche Werkeltagssprache nimmt, so macht es sich dafür einen Jargon, ein Messingsch.“ (Ebd.)
Die Gefahr des Messingsch könne man aber abwenden, indem die Schule sich des Plattdeutschen annehme. Zwar sollte das Plattdeutsche nicht als Unterrichtssprache verwendet werden, doch solle man anerkennen, dass es eine eigene Grammatik16 habe, deren Erörterung den Schülern für das Begreifen der hochdeutschen Sprache sehr dienlich sein würde. Die hier ausgesprochene Angst vor dem Messingsch mag ein wenig überraschen, da die vorherrschende Kritik gegen das Niederdeutsche als solches ging, lässt sich aber mit der zeitgenössischen, biologisierenden Vorstellungen von ‚reinen Sprachen‘ erklären, bei denen Sprachkontakt und -vermischung in der Regel mit Sprachschäden und Sprachverlust assoziiert wurden. Diese Befürchtung tritt auch an anderer Stelle hervor, z. B. in der Resolution der Segeberger Propsteiconferenz in Kaltenkirchen: „1) Die Schule hat dahin zu wirken, daß nicht ein sogenanntes Messingsch an die Stelle des Plattdeutschen trete. 2) Diese Aufgabe wird sie am besten dadurch lösen, wenn sie ihren Schülern die plattdeutsche Sprache achten und lieben lehrt. 3) Ein plattdeutscher Sprachunterricht ist nicht nothwendig, auch wegen Zeitmangel nicht wohl möglich. 4) Soweit es zum gegenseitigen Verständniß beider Sprachen und zur Befestigung der Orthographie ersprießlich ist die plattdeutsche Sprache im hochdeutschen Sprachunterricht zu berücksichtigen. 5) Daß in einem Volksschullesebuche die plattdeutsche Literatur berücksichtigt werde, um auch der Schule Gelegenheit zu bieten, die Kinder mit derselben bekannt und vertraut zu machen, ist dringend wünschenswerth. 6) Daß die hochdeutsche Sprache auch als Umgangssprache bedeutend mehr Terrain gewonnen hat, ist großentheils natürlich Folge der sich immer weiter verbreitenden Bildung. 7) Die Erhaltung und Pflege der plattdeutschen Sprache ist so lange nothwendig, bis die Hochdeutsche ihre Stelle zu vertreten im Stande, d.h. geistiges Eigenthum auch der jetzt plattdeutsch redenden Bevölkerung geworden ist.“ (SHSZ 22, 28. 5. 1868, 87) 16
Der Begriff Grammatik wird in diesem Zusammenhang unterschiedlich verstanden: zum Einen meinen die Kommentatoren, dass eine geschriebene Grammatik für den Unterricht. Zum Anderen wird mit Grammatik hier eine morphologische Reichhaltigkeit verstanden, so dass das Lateinische besonders viel Grammatik, die englische Sprache – wie das Niederdeutsche – keine oder nur sehr wenig Grammatik habe. Der Nicht-Pädagoge stellt sich dem letzteren Vorwurf, indem er ausführt, dass das Niederdeutsche sogar einen Kasus, und zwar den Genitiv habe: „Das Plattdeutsch unterscheidet den Genitiv der Person und den Genitiv der Sache. Letzterer wird gebildet mit von, wie de Herr von dat Hus; dat Dack von dat Hus; de Pann’n von dat Dack – und ersterer verlangt die Person im abhängigen Casus und läßt sie oder er folgen, wie den Kopmann sin Hus, de Kutscher er Per, min Broder sin Tüg. Es sei noch bemerkt, daß der Genitiv der Sache auch für den Genitiv der Person gebraucht wird, nicht aber umgekehrt, also wohl: Den Kopman sin Hus und dat Hus von den Kopman, doch nur de Herr von dat Hus, aber nicht dat Hus sin Herr.“ (SHSZ 16, 16. 4. 1868, 62 [Nicht-Pädagoge]). – Auch wenn er mit Genitiv wohl Possessiv meint, sind seine Beobachtungen als solche und im Detail bemerkenswert.
Die Lesebuchfrage in Schleswig-Holstein (1864–1870)
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Diese das Plattdeutsche im Unterricht stärker berücksichtigt sehen wollenden Meinungen führten allerdings in der Folge nicht weiter, als dass die Lesebücher einige wenige, meist poetische plattdeutsche Texte in ihrem Textapparat mitaufführten. Aus den Beiträgen in der Schulzeitung geht deutlich hervor, dass die Lehrerschaft sich darüber einig war, dass nur das Hochdeutsche die Sprache der Wissenschaft und Bildung sein könne. Petersens Einschätzung, dass das Plattdeutsche „beim Volke nur beliebt ist als Sprache des alltäglichen Lebens, als Schriftsprache nur per Humor, und zwar in dem Bewußtsein, daß sie keine Cultursprache ist, noch jemals werden wird“ (SHSZ 34, 20. 8. 1868, 137 [Petersen]), wurde von vielen Zeitgenossen geteilt. Minderheiten- und Regionalsprachen wurden, so sie überhaupt bemerkt wurden, als lästig oder den Fortschritt störend empfunden. Nur die nationale Hochsprache kann die Sprache der Wissenschaft, Religion, Literatur und Kultur sein, und dies nicht nur in Deutschland: „[D]ie dänische Schule hat das literarische Dänisch, nicht das jütländische Idiom, auch in Jütland nicht; die englische Schule die Sprache der englischen Literatur, nicht die Zunge in Wales; die französische Schule die französische Gelehrtensprache, nicht wie in der Provence: das Gegentheil ist staatsgefährlich und Schädigung (also Versündigung) an der betreffenden Nationalität.“ (Ebd.)
Und somit gelte auch für Schleswig-Holstein, dass es, als Teil der deutschen Nation, ein Recht auf das Hochdeutsche als Hochsprache und damit auch als Schulsprache habe: „Und die schleswig-holsteinische Schule? – Das schleswig-holsteinische Volk hat bis auf’s Blut gekämpft für deutsche Nationalität; hat in anderthalbe Decennien unter schrecklichem Druck seine deutsche Nationalität bewahrt; gehört jetzt auch politisch zu Deutschland: Es verlangt jetzt mit Recht für seine Schule ausschließlich die hochdeutsche Sprache [...] Wenn auch das Plattdeutsch kein Idiom der hochdeutschen Sprache ist, gilt es der Schule durchaus nicht höher, als die Idioma in Jütland, Wales und der Provence.“ (Ebd.)
Die Beschäftigung mit dem Niederdeutschen in der Schule solle so gering wie möglich gehalten werden, um „die Kinder thunlichst bald zu der einzigen, den Kindern von Haus aus mehr oder weniger auch bekannten deutschen Cultursprache, der hochdeutschen, hinüberzuführen“ (ebd.). Muttersprache sei eben nicht die Sprache der Mutter – denn dann wäre für den Verfasser das Dänische die Muttersprache – sondern die Sprache, in der man beten und lesen lerne (ebd., 138). Die Kraft der Hochsprache sähe man deshalb auch darin, dass die Dänen nicht nur von zwei Mächten (Österreich und Preußen) besiegt wurden, sondern von dreien, da „die dritte Großmacht, das Hochdeutsche, größer als die beiden anderen, im Bereich Bildung und Gesittung geholfen hätte“ (ebd.). Die Anbindung an die deutsche Nation sei das Wichtigste und ein Anhängen an der niederdeutschen Sprache würde nur den Vorwurf des Separatismus provozieren: „[B]is die nordschleswigsche Frage für immer beantwortet ist, stehen wir zu diesem Riesen und nicht dem Zwerg Niederdeutsch, der uns den Vorwurf des Separatismus einbringen würde.“ (Ebd.)
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5. Schluss Die Texte der schleswig-holsteinischen Schulzeitung zeigen das große Interesse der Volksschullehrer an der Gestaltung ihres Unterrichts. In durchweg deutsch gesinnten Ansichten formulieren sie auf ihren Versammlungen und in Zeitungsartikeln ihr Anliegen, die Zeit der Dänenherrschaft hinter sich zu lassen. Vor allem soll ein neues, für das unteilbare Schleswig-Holstein geltendes, vaterländisches Lesebuch die politische und kulturelle Unabhängigkeit und Einheitlichkeit des Doppelherzogtums auch der Schuljugend verdeutlichen. Neben ihrer Abgrenzung von dänischer Geschichte, Kultur und Sprache in der Lesebuchfrage diskutierten die Lehrer auch den Wert und die Nützlichkeit des Niederdeutschen, der Muttersprache fast aller deutschsprachigen SchleswigHolsteiner. Der Neuverschriftlichung der Sprache durch Klaus Groth und der zunehmenden Vielfalt niederdeutscher Gedichte und Prosa steht die Lehrerschaft ein wenig unentschlossen gegenüber. Zum einen erkennt sie an, dass das Niederdeutsche ihre Heimatsprache ist und in ihr verfasste Gedichte durchaus in ein Lesebuch mitaufgenommen werden sollten, zum anderen bleibt sie fest überzeugt, dass die einzige Schulsprache nur das Hochdeutsche sein kann, da es neben der Sprache der Wissenschaft und Kultur auch die einigende Sprache der deutschen Nation ist. Auch wenn das Niederdeutsche als Sprache „für’s tägliche Leben, wenn von Kohl und Reh die Rede ist“, geduldet wird (SHSZ 34, 20. 8. 1868, 138 [Petersen]), so kann es doch nicht Eingang in den Schulunterricht finden. Sowohl die dänischen Sprachreskripte als auch die preußischen Äquivalente (z. B. das Geschäftssprachengesetz 1875) wurden von heftigsten Diskussionen begleitet, die anprangerten, dass eine dem Volke unverständliche Sprache für das öffentliche Leben bindend vorgeschrieben wurde. Obwohl eine ähnliche Unverständlichkeit zwischen dem Niederdeutschen und Hochdeutschen bestand, wurden solche Argumente in den oben zitierten Texten nicht angebracht. Es war die Zugehörigkeit zur deutschen Nation, nicht ein pädagogisch durchdachter Zugang zur Niederdeutschsprachlichkeit der Kinder, die die sprachpolitischen Diskussionen in der Schulzeitung schließlich für das Hochdeutsche entschieden. Die schleswig-holsteinischen Volksschullehrer waren sich wohl bewusst, welchen politischen Einfluss sie auf die Jugend haben konnten. Die Diskussionen in der Schulzeitung führen hierbei deutlich vor Augen, dass Nationalpolitik auch in Sprachpolitik ausgefochten wurde, und dass sprachpolitische Maßnahmen ein wichtiger Faktor für eine Sprachgeschichte von unten sind.
Die Lesebuchfrage in Schleswig-Holstein (1864–1870)
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6. Zitierte Literatur Bracker, Jochen (1972/3): Die dänische Sprachpolitik 1850–1864 und die Bevölkerung Mittelschleswigs. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 97, 127–126; 98, 87–214. Doormann, Johannes (1907): Beiträge zur Geschichte des Lehrervereinswesens in Schleswig-Holstein insbesondere Geschichte des Allgemeinen Schlesw.-Holstein. Lehrervereins. Eckernförde. [www.spsh.unikiel.de] Dyhr, Mogens (1998): Der deutsch-dänische Sprachkonflikt in Schleswig im 19. Jahrhundert. In: Sprache und bürgerliche Nation. Hrsg. v. Dieter Cherubim et al. Berlin, 101–121. Elspaß, Stephan (2005): Sprachgeschichte von unten. Tübingen. Elspaß, Stephan/Nils Langer/Joachim Scharloth/Wim Vandenbussche (Hgg.) (2007): Language Histories from Below (1700–2000). Berlin/New York. Erlinger, Hans-Dieter/Clemens Knobloch (1991): Muttersprachlicher Unterricht im 19. Jahrhundert. Tübingen. Grün, P. C. (1854): Das Vaterland, ein Lesebuch für die oberen Classen der Volksschule. Altona. [www.spsh.uni-kiel.de] Hansen, Nils (1991): Schleswig-holsteinische Visitationsberichte des 19. Jahrhunderts als volkskundliche Quellen. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 23, 103–12. Helmers, Hermann (Hg.) (1969): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch. Darmstadt. Helmers, Hermann (1970): Geschichte des deutschen Lesebuchs in Grundzügen. Stuttgart. Langer, Nils (2008): German Language and German Identity in America – Evidence from school grammars 1860–1918. In: German Life and Letters 61, 497–513. Langer, Nils (2011): Historical Sociolinguistics in Nineteenth-Century Schleswig-Holstein. In: German Life and Letters 164, 169–187. Langhanke, Robert (2011): Mundartdichtung als Minderheitensprachenprojekt: Konzepte des niederdeutschen Kulturbetriebs in historischer Perspektive. In: Vom Sinn und Unsinn von MinderheitenProjekten. Hrsg. v. Erszébet Drahota-Szabó/Eszter Propszt. Szeged, 89–209. Menke, Hubertus (1996): „Ich bin ein Däne und spreche Deutsch.“ Zur Sprachgeschichte und Sprachenpolitik im deutsch-dänischen Grenzraum. In: Sprachenpolitik in Grenzregionen. Hrsg. v. Roland Marti. Saarbrücken, 137–162. Rohwedder, Jürgen (1976): Sprache und Nationalität. Nordschleswig und die Anfänge der dänischen Sprachpolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Glückstadt. Schmarje, Johannes (1925): Lebenserinnerungen eines schleswig-holsteinischen Schulmannes. Altona. Wienbarg, Ludolf (1834): Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Hamburg. Winge, Vibeke (1992): Dänische Deutsche, deutsche Dänen. Heidelberg. Winge, Vibeke (2009): Deutsch und Dänisch. In: Deutsch und seine Nachbarn. Hrsg. v. Michael Elmentaler. Frankfurt a. M., 1–14.
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Die „Idee von Sprachgeschichte“ in Egon Friedells Kulturgeschichte
1. Zur Einleitung 2. Sprachliche Erinnerungsbilder in der Kulturgeschichte der $euzeit 3. Sprachliche Erinnerungsbilder in der Kulturgeschichte Griechenlands 4. Zitierte Literatur
1. Zur Einleitung Im Zuge seiner Begriffsbestimmung der Sprachgeschichte unterscheidet Oskar Reichmann Sprachgeschichte als objektsprachliche Gegebenheit, darüber hinaus die Idee von Sprachgeschichte und schließlich die Verwirklichung von Sprachgeschichte in sogenannten Sprachgeschichten (Reichmann 1998, 1). Die Idee von Sprachgeschichte „beruht in ihren einfachsten Formen darauf, daß ein Individuum aus der Fülle der ablaufenden, meist dem Vergessen anheimfallenden und damit geschichtslosen Sprechereignisse bestimmte, ihm wichtig erscheinende ausgliedert, sie anderen der Vergewisserung, der Gewinnung von Aufmerksamkeit, der Identifizierung halber oder aus weiteren Gründen erzählt, sie sich damit immer in bestimmter Prägung einerseits selbst vergegenwärtigt und andererseits als gesellschaftliche, beliebig wiederholbare Erinnerungsbilder konstituiert“ (ebd.).
Diese Idee von Sprachgeschichte mündet in den Philologien in unterschiedliche Formen ihrer schriftlich ausformulierten Verwirklichung, in den anderen historischen Disziplinen ist sie nur dort von Interesse, wo sie unmittelbar mit dem jeweiligen – historischen – Gegenstand verknüpft ist. In der Geschichtswissenschaft kommen Sprache und Sprachgeschichte vor allem dort zur Geltung, wo eine – wünschenswerte – Reflexion über die sprachliche Verfasstheit der Historiographie versucht wird. Dieser Hinwendung zur Sprache liegt die Einsicht zu Grunde, „daß die historischen Fakten nicht einfach in der sogenannten Realität daliegen und dann nur noch vom Historiker objektiv wissenschaftlich bezeichnet zu werden brauchen, sondern daß sich vor die historische Welt, die res gestae, durch das Schreiben der Geschichte notwendigerweise eine Welt aus Sprache schiebt, die historia rerum gestarum, so daß die res gestae nur durch die sprachliche Darstellung zugänglich sind“ (Trabant 2005, IX f.; dort mit einem ausführlichen Kommentar dieser Diskussion).
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Die in den Philologien selbstverständliche Grundannahme von Sprache und Sprachgeschichte als objektsprachliche Gegebenheiten ist dagegen in der Geschichtswissenschaft angesichts unterschiedlicher primärer Erkenntnisinteressen erst vergleichsweise spät thematisiert und problematisiert worden. Die Hinwendung zur Sprachlichkeit der historischen Gegenstände hat inzwischen jedoch zur Folge, „daß die Textualität der Quellen selbst verstärkt wahrgenommen wurde und daß die sogenannten Fakten selbst als sprachliche oder kommunikative Geschehnisse bewußt wurden“ (ebd., XIII). Es liegt auf der Hand, dass die Sprachlichkeit der Historiographie und die Sprachlichkeit ihrer Gegenstände in der Geschichtswissenschaft auf Grund der weit verbreiteten – naiven – Vorstellung von einer objektiv gegebenen außersprachlichen Welt, deren Gegebenheiten nur objektiv aufgeschrieben werden müssten, sehr viel mehr Sprengkraft besitzt, als in der Sprachwissenschaft selbst. Eine der „Idee der Sprachgeschichte“ vergleichbare dritte Ebene, auf der sich Sprache und Geschichte begegnen, ist mit dem bisher Genannten aber noch nicht gewonnen. Sie findet sich möglicherweise dort, wo in der Geschichtsschreibung mittelbar oder unmittelbar auf Sprachliches bei der Darstellung historischer Gegenstände und Zusammenhänge Bezug genommen wird. Dies lenkt den Blick auf „historiographische Diskurse“, die auch sonst im Zentrum des Interesses an „Sprache und Geschichte“ stehen (ebd., XXII)1, aber ebenso auf das einzelsprachliche Wort, an dem bestimmte, dem Wandel unterworfene einzelsprachliche Bedeutungen haften, die für die Interpretation in der Historiographie fruchtbar gemacht werden können. In einer lange um (Natur-)wissenschaftlichkeit bemühten Sprachwissenschaft selbst sind solche Überlegungen zur Etymologie und Wortgeschichte – durchaus nicht immer zu Unrecht – lange Zeit verpönt gewesen, weil man sie als Teil eines letztlich beliebigen sprachwissenschaftlichen „Atomismus“ betrachtet hat. Stellt man sie aber in Verbindung mit der Vorstellung von der „Idee von Sprachgeschichte“, und damit in den Kontext historischer Diskurse, dann dürfte auch ihnen bei der Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Geschichte eine neue Rolle zufallen. Derartige Überlegungen stehen in der Tradition der „Beachtung des Zusammenhangs von Sprachgeschichte und kulturellem Funktionszusammenhang der Sprache und des Sprechens“, der „Herausstellung des Wechselverhältnisses von Sprachgeschichte und Kulturgeschichte sowie von Sprachgeschichts- und Kulturgeschichtsschreibung“ (Besch/ Betten/Reichmann/Sonderegger 1998, XXX). Die für diesen Beitrag neu gelesene Kulturgeschichte Egon Friedells eignet sich für diesen Versuch deshalb, weil zumindest in
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Siehe dazu auch die Bände der geschichtswissenschaftlichen Reihe Historische Semantik, hrsg. v. Bernhard Jussen, Christian Kiening, Klaus Krüger und Willibald Steinmetz. Zur Beschreibung der Reihe heißt es: „Historische Semantik erforscht die Bedingungen, Medien und Operationen der Sinnerzeugung in vergangenen Gesellschaften. Sie fragt nach den Voraussetzungen jener Bedeutungsgeflechte, mit denen Kulturen ihr Wissen, ihre Affekte und Vorstellungen ausdrückten“ (http://www.v-r.de/ de/reihen/290/).
Die Idee von „Sprachgeschichte“ in Egon Friedells Kulturgeschichte
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der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ an keiner Stelle das Phänomen „Sprache“2 explizit als Thema der Kulturgeschichtsschreibung hervorgehoben oder kommentiert wird. Friedell gehörte zwar vorübergehend zu den Lesern und Bewunderern Houston Stewart Chamberlains3, aber er verfolgt in seinen Büchern weder ein Konzept von Nation, noch von Sprache. Sprache erscheint in seiner Sicht der Kulturgeschichte vielmehr als Teil des Alltags und der kulturellen Verfasstheit des europäischen Menschen – von der Zeit des Perikles bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges. Diese Zeitspanne umfassen die beiden ausgearbeiteten Bände zur europäischen Kulturgeschichte: die Kulturgeschichte Griechenlands (1938) und die voluminöse Kulturgeschichte der $euzeit (1927–31).4 Der nicht ganz vollständig ausgearbeitete Gesamtplan der Kulturgeschichte gehört zu den großen Würfen der Geschichtsschreibung und damit zu einer Gruppe ähnlicher und zugleich ganz unterschiedlicher Werke aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen: Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, Norbert Elias’ Studie Über den Prozess der Zivilisation und Arnold Toynbees A Study of History. Für Friedells Ausarbeitung dürften zudem Jacob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen und seine Griechische Kulturgeschichte eine Rolle gespielt haben. Von all diesen Autoren steht der Schauspieler und Kabarettist Friedell der akademischen Tradition mit großem Abstand am fernsten. Dies hat die Rezeption seines Werkes zunächst verzögert, aber auch – wie in vielen anderen Fällen – sein Schicksal als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.5 Leben und Werk Friedells seien hier nur ganz kurz, soweit für das Verständnis seiner Kulturgeschichte erforderlich, skizziert. Egon Friedell, mit bürgerlichem Namen Egon Friedmann, wurde 1878 in Wien geboren. Er war unter anderem Theaterkritiker, Schauspieler, Dramaturg, Conférencier, Aphoristiker, Feuilletonist, Herausgeber, Übersetzer, Schriftsteller und: Kulturhistoriker. Nachdem seine Mutter die Familie 1887 verlassen hatte, wuchs er zunächst bei einer Tante in Frankfurt auf, wurde aber 1894 vom Frankfurter Städtischen Gymnasium wegen „Unbotmäßigkeiten“ und „pietätloser Gesinnung gegen die Lehrer“ verwiesen, zudem als „sittlich belastet und ungesund“ bezeichnet (Zitate nach Weinzierl 2009, 1775). Dennoch konnte er 1899 in Bad Hersfeld das Abitur ablegen, vielleicht auch deshalb, weil er 1897 vom jüdischen zum lutherischen Glau2
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Unter den gedruckten Schriften Friedells konnte ich zudem keinen Text ausmachen, der sich mit Sprache und Sprachwissenschaft gesondert befasst. Allerdings befindet sich im Nachlass ein noch unveröffentlichter Essay über Fremdwörter; Wien ÖNB. ÖLA 233/04. Siehe Weinzierl (2009, 1780). Zu Chamberlains Leserschaft vergleiche man Lobenstein-Reichmann (2008, 43 f.). Das Interesse des Verfassers an Egon Friedell hat allerdings auch einen biographischen Hintergrund. Er ist der Kulturgeschichte Griechenlands erstmals 1984 im Proseminar „Alte Geschichte“ an der Philipps-Universität Marburg begegnet. Sie war eine von vielen ganz unstrukturierten und unmodularisierten Leseerfahrungen und hat schließlich die Verlagerung des Studienschwerpunkts von der Geschichte zur Sprachgeschichte ausgelöst. Auch die Einladung, an dieser Festschrift mitzuwirken, wäre also ohne den Einfluss Egon Friedells gar nicht zu Stande gekommen. Eine Friedell-Forschung gibt es bisher erst in Ansätzen: Dencker 1977; Illig 1987; Innerhofer 1990; Lorenz 1994; siehe auch Keel/Kampa 2007.
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ben übergetreten war. Schließlich begann er ein Studium der Philosophie und Germanistik an der Universität Wien, das er im Jahre 1904 mit seiner Dissertation zum Thema „Novalis als Philosoph“ bei Friedrich Jodl6 abschloss. Seine schriftstellerische Laufbahn beginnt 1905 mit dem Beitrag Vorurteile in Karl Kraus’ Fackel. Darin heißt es programmatisch: „Das schlimmste Vorurteil, das wir aus unserer Jugendzeit mitnehmen, ist die Idee vom Ernst des Lebens. Daran ist nur die Schule schuld. Die Kinder haben nämlich den ganz richtigen Instinkt: sie wissen, daß das Leben nicht ernst ist, und behandeln es als ein Spiel und einen lustigen Zeitvertreib. [...] Alles wirklich Wertvolle ist aus einer Spielerei hervorgegangen“ (Weinzierl 2009, 1775 f.).
Da ihm sein Vater, der 1891 verstorbene Tuchfabrikant Moriz Friedmann ein beträchtliches Erbe hinterlassen hatte, war er auf lange Sicht auf keinen Brotberuf angewiesen und konnte das Unernste, Spielerische zu seiner Profession erheben. Zu den Höhepunkten dieser Lebensphase gehören seine zusammen mit Alfred Polgar verfassten Stücke, vor allem die Satire Goethe. Eine Groteske in zwei Bildern von 1907/08. Hier vertritt Goethe einen Schüler in dessen Deutschprüfung und wird daher über sein eigenes Leben und Werk befragt. Da seine Antworten dem auswendig zu lernenden Lehrstoff nicht entsprechen, fällt er mit Pauken und Trompeten durch.7 Seit dem ersten Weltkrieg, in dem das väterliche Vermögen verloren geht, scheinen ihn jedoch sein Spieltrieb und Unernst zumindest vorübergehend auf Abwege zu führen. Zunächst wird er zwar von 1921 bis 1927 Schauspieler im Ensemble von Max Reinhardt in Berlin und Wien, daneben schlägt er aber immer wieder auch deutschnationale, aus heutiger Sicht geradezu antisemitische Töne an. Seine Verehrung für Paul de Lagarde und Houston Stewart Chamberlain bringt er wiederholt zum Ausdruck. Zeitgenössische Leser, etwa Alfred Döblin, Arthur Schnitzler oder Leopold Schwarzschild, haben daran aber offenbar keinen Anstoß genommen – im Gegenteil. Seine Kulturgeschichte der $euzeit findet ihren ungeteilten Beifall.8 Es selbst wurde sich allerdings sehr bald nach 1933 bewusst, dass seinem Spiel mit dem nationalsozialistischen Feuer eine gewaltige Fehleinschätzung zu Grunde lag. In gewisser Weise fühlte er sich vielleicht sogar mitschuldig, einige der Ideen der Nationalsozialisten in Wien salonfähig gemacht zu haben. Als am 16. März 1938 SA-Männer an seiner Wohnungstür läuten, hat er seinem Leben durch einen Sprung aus dem Fenster ein Ende gemacht.9 Friedell hatte die Kulturgeschichte der $euzeit als „betont antimodernes, antikapitalistisches, antitechnisches, antirationalistisches, kurz antiangelsächsisches Werk“ ver6
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Friedrich Jodl hatte bereits selbst einen Text unter dem Titel: Die Kulturgeschichtsschreibung, Halle 1878, vorgelegt. Man vgl. dazu Dingeldey 2007. Man vgl. Weinzierl 2009, 1778–1783. Ob man allerdings Heribert Illig folgen kann, Egon Friedells Selbstmord sei gewissermaßen als Eingeständnis einer schuldhaften Verstrickung zu deuten, bleibt dahingestellt. Man vgl. Weinzierl 2009, 1781.
Die Idee von „Sprachgeschichte“ in Egon Friedells Kulturgeschichte
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fasst (Weinzierl 2009, 1781). Dies führte ihn zeitweise in die Nähe völkisch-nationaler Anschauungen. Aber schon die in den 30er Jahren konzipierte Kulturgeschichte Griechenlands ist davon wieder ganz frei. Friedell schrieb selbst: „Diese ‚Kulturgeschichte des Altertums‘ steht zu meiner dreibändigen ‚Kulturgeschichte der Neuzeit‘ in keiner unmittelbaren Beziehung: [...] sie ist nach einer anderen Methode angelegt und ausgeführt. Man kann daher ebenso gut dieses Werk vor jenem lesen wie jenes vor diesem, aber auch nur dieses oder nur jenes und sogar beide nebeneinander; und man kann auch keines von beiden lesen“ (zitiert nach Friedell 1998, 1).
Und liest man die Kulturgeschichte der $euzeit wirklich, dann stößt man immer wieder auf Stellen, an denen sich Friedell ganz dezidiert gegen die aufkommende neue Weltanschauung wendet, so etwa sein Kommentar zu Max Nordaus 1893 erschienenem Buch Entartung, das er „eine mehrere hundert Seiten lange ununterbrochene Anpöbelung aller führenden modernen Künstler“ nennt und eine „Blamage“ (Friedell 1927–31, 1631). Im Jahre 1950 hat Alfred Polgar die Kulturgeschichte der $euzeit in seinem Essay Der große Dilettant mit einem „Feuerwerk von Widersprüchen“ (Ulrich Weinzierl) zu fassen versucht, deren Summe wohl bis heute gültig ist: „ein glänzend danebengelungenes, an überzeugenden Absurditäten und treffsicheren Fehlschlüssen reiches den Leser aufs Vergnüglichste ärgerndes Buch eines laienhaften Fachmanns, dessen Irrtümer so erheblich sind wie das geistige Kapital, das er aus ihnen zu schlagen weiß“ (zitiert nach Weinzierl 2009, 1784).
Wie auch immer man Egon Friedells Werk heute beurteilt, für die Suche nach der „Idee von Sprachgeschichte“ in seiner Kulturgeschichte sind diese Dinge vermutlich ohne Belang. Im Folgenden soll daher mit einer gewissermaßen textimmanenten Spurensuche nach metasprachlichen Aussagen gefahndet werden, die als Bausteine zu einer „Idee von Sprachgeschichte“ in der Kulturgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts verstanden werden sollen.
2. Sprachliche Erinnerungsbilder in der Kulturgeschichte der $euzeit Eine erste Annäherung an Friedells sprachwissenschaftliche Kenntnisse und Interessen kann über das ausführliche Personenregister der Kulturgeschichte der $euzeit erfolgen. Genannt werden: Franz Bopp, Konrad Burdach, Benedetto Croce, Friedrich Diez, Johann Christoph Gottsched, Jacob und Wilhelm Grimm, Wilhelm von Humboldt, Hermann Paul, Hans Sperber und Philipp von Zesen; in einem weiteren Sinne gehört hierher auch Wilhelm Wundt (Heidelberg, Zürich und Leipzig), an den als Autor von Sprachgeschichte und Sprachpsychologie (1901) und als Lehrer von Franz Boas erin-
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nert werden soll.10 Friedell (1927–31, 1603) erwähnt ihn aber nicht als Sprachwissenschaftler, sondert sieht in ihm einen Typus des deutschen Professors, dem er eine „Professorenphilosophie, aber von sympathischerer und fruchtbarerer Art“ attestiert. Damit wird er in positiver Hinsicht vom Marburger Neukantianer Hermann Cohen unterschieden, dessen Logik der reinen Erkenntnis (zuerst 1902), Ethik des reinen Willens (zuerst 1904) und Ästhetik des reinen Gefühls (zuerst 1912) angeblich „Gebrauchsanweisungen zur dialektischen Falschspielerei“ enthalten, „deren Gaunersprache nur engeren Metiergenossen zugänglich ist“ (ebd.). Solche Stellen sind zumindest offen für eine antisemitische Lesart. Aber auch die Abrechnung mit Wundt lässt kaum drei Seiten auf sich warten (ebd., 1606): „Während nämlich seine Zeitgenossen in ihm einen großen Wettermacher erblickten, war er wahrscheinlich von der Vorsehung nur dazu bestimmt, ein Barometer zu sein, an dem man einfach ablesen kann, welcher Luftdruck geherrscht hat, als es in Funktion stand.“ Die Liste der genannten Sprachwissenschaftler ist also durchaus überschaubar. Für Friedell konnten im Hinblick auf eine Kulturgeschichte der Neuzeit ohnehin nur drei Gruppen von Sprachwissenschaftlern interessant sein: – Autoren, die sich mit erkenntnistheoretischen Fragen in Verbindung mit der Sprachlichkeit der Historiographie und der Sprachlichkeit ihrer Gegenstände befasst haben; – Autoren, deren Werk Teil der Kulturgeschichte der Neuzeit ist und – Autoren, die sich als Sprachwissenschaftler mit Aspekten der Kulturgeschichte der Neuzeit beschäftigt haben. Damit sind zugleich drei Aspekte genannt, die auch bei heutigen sprachgeschichtlichen Darstellungen berücksichtigt werden sollten.
2.1. Über die Quellen der (Kultur-)Geschichtsschreibung Für die erste Gruppe stehen zunächst Benedetto Croce und Hermann Paul. Sie finden ihren Platz in einer Auseinandersetzung mit den Quellen der Geschichtsschreibung (Friedell 1927–31, 1089 ff.). Friedell unterscheidet hier – wohl auf Vicos Principi zurückgehend – zwischen „poetischer, historischer und journalistischer Wahrheit“. Sie wird in einem poetischen Sinne wirksam für das, „was sehr weit zurückliegt“, in einem historischen Sinne für das, „was einigermaßen zurückliegt“ und im „ausscheidenden, ausgleichenden, fällenden, reinigendem Gang der Kollektiverinnerung Wahrscheinlichkeit erlangt“ hat, und schließlich in einem journalistischen Sinne für den „schwebenden Prozeß“ der Geschichte der Gegenwart. Geschichte der Gegenwart ist „Reportage, also die allerunwissenschaftlichste, subalterne, suspekteste Form menschlicher Berichterstattung“ (ebd., 1089).
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Zu den Sprachtheoretiker zählt ihn auch Rolf 2008, 111–115.
Die Idee von „Sprachgeschichte“ in Egon Friedells Kulturgeschichte
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„Ist Geschichte alt genug geworden, um zur reinen Poesie zu kristallisieren, so spricht aus ihr unmittelbar das Wesen des Weltgeistes, der niemals irren kann, das Wort Gottes; und in diesem Sinne ist die Bibel nicht nur das erhabenste, sondern das zuverlässigste Geschichtswerk der Weltliteratur. Ist Geschichte neueren Datums, so redet aus ihr der Volksgeist, der zwar nur örtlichen, irdischen Ursprungs ist, aber von dem instinktsicheren Wissen der Gattung geleitet wird. Die Geschichte der Gegenwart hat zu ihrem Mundstück bloß den Geist des ‚Herausgebers‘, eines verschlagenen, zelotischen, mit eisernster Entschlossenheit zur Lüge gepanzerten Geschöpfes“ (ebd.).
Unter „Geschichte der Gegenwart“ soll hier offensichtlich die gesamte, auf schriftliche Quellen angewiesene Geschichtsschreibung der Neuzeit verstanden werden. Als Gewährsmann dient Nietzsche: „Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu tun [...]. Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive [...]. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existiert haben, außer in der Vorstellung“ (ebd., 1090).11
Friedell untermauert diese Haltung mit einer radikalen Quellenkritik. „Man muß sich nur einmal resolut fragen, welche Materialien denn überhaupt der sogenannten Geschichtswissenschaft zur Unterlage dienen. Es sind dies erstens: ‚Akten‘ und ‚Urkunden‘ wie: […] Verwaltungspapiere und Geschäftsverträge […]; zweitens: ‚Denkmäler‘, vornehmlich Inschriften […]; drittens: die Zeugnisse der ‚Tradition‘, die mit Bewußtsein und Absicht die historische Erinnerung festhalten wollen, also: Kalender und Stammbäume, Annalen und Chroniken, Tagebücher und Memoiren, Biographien und Geschichtswerke“ (ebd., 1090 f.).
Eine vergleichbare, hier etwas verkürzt wiedergegebene Reflexion über und Klassifikation von Textsorten ist mir aus der Sprachgermanistik der 20er Jahre nicht bekannt. Dabei bleibt Friedell jedoch nicht stehen: „Alle diese Quellen […] werden zu historischen Zeugnissen erst durch die Auffassung und Beurteilung des Betrachters; ohne diesen sind sie ein chaotischer Haufen von Interpolationen, Erfindungen, Selbsttäuschungen und zufälligen ‚Richtigkeiten‘: erst er weist ihnen ihren Platz an (und sehr oft einen falschen), erst er verbindet sie zu einem Zusammenhang und macht so aus ihnen Geschichte. Sie sind bloße Zeichen und Symbole für Tatsachen; diese Tatsachen selbst aber sind weder wahr noch unwahr, indem sie nämlich beides sind: alle gleich unwahr (denn wahr im naturwissenschaftlichen Sinne waren sie nur im Augenblick ihres Geschehens) und alle gleich wahr (denn als Ausdruck eines bestimmten Lebensmomentes können sie gar 11
Man vgl. Nietzsche (1881, 4, 307): „Facta! Ja Facta ficta. – Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun: denn nur diese haben gewirkt. Ebenso nur mit den vermeintlichen Helden. Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf wirkt, – ein fortwährendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existirt haben, ausser in der Vorstellung“. – Um die Arbeitsweise Friedells zu demonstrieren, werden Zitate in den Anmerkungen nach den Originalen wiederholt, wenn sich über die Zeichensetzung hinaus Abweichung zur Lesart Friedells feststellen lassen.
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nicht ‚falsch‘ gewesen sein). Sie werden zu bleibenden Erscheinungen erst durch ihre Aufnahme in ein historisches Bewußtsein, und zwar in irgendein historisches Bewußtsein: der Irrtum macht sie ebenso unsterblich wie die Erkenntnis“ (ebd., 1091).
Friedells Charakterisierung von Quellenkorpora als ein „chaotischer Haufen von Interpolationen, Erfindungen, Selbsttäuschungen und zufälligen ‚Richtigkeiten‘“ ist angesichts einer in der Sprachwissenschaft um sich greifenden Überbewertung der Bedeutung der „Korpuslinguistik“ nach wie vor aktuell. Als Gewährsmann für die Relativität der historischen Wahrheit kommt nun Hermann Paul zu Wort: „Genaugenommen gibt es für den Historiker nur Indizienbeweise: ‚Man befindet sich in einer Selbsttäuschung‘, bemerkt Hermann Paul in seinen ‚Prinzipien der Sprachgeschichte‘, ‚wenn man meint, das einfachste historische Faktum ohne eine Zutat von Spekulation konstatieren zu können. Man spekuliert eben nur unbewußt, und es ist einem glücklichen Instinkte zu verdanken, wenn das Richtige getroffen wird‘“ (ebd., 1091 f.).12
Dies führt unweigerlich zu Schopenhauer. „Schopenhauer sagt nicht ohne Schärfe: ‚Zu den Unvollkommenheiten der Geschichte kommt noch, daß die Geschichtsmuse Klio mit der Lüge so durch und durch infiziert ist wie eine Gassenhure mit der Syphilis. Die neue, kritische Geschichtsforschung müht sich zwar ab, sie zu kurieren, bewältigt aber mit ihren lokalen Mitteln bloß einzelne, hier und da ausbrechende Symptome; wobei noch dazu manche Quacksalberei mitunterläuft, die das Übel verschlimmert‘“ (ebd., 1092 f.).13
Ein ausschließlich „philologisches“ Verfahren, das allein auf „Quellenstudien“ beruht, kann angesichts dieser Eigenschaft Klios nur zum Scheitern führen (ebd., 1096). Als Kronzeuge wird Benedetto Croce aufgerufen und zudem als „einer der weisesten und redlichsten Denker der Gegenwart“ bezeichnet (ebd.). Diese Charakterisierung des „antifaschistisch denkenden“14 Croce zeigt nebenbei bemerkt wie schwer der Egon Friedell der Kulturgeschichte der $euzeit auf eine bestimmte „Weltanschauung“ festgelegt werden kann. Croce sagt über die „philologische“ Geschichtsforschung: „Wenn man die Methode der Zeugnisse in ihrer ganzen Strenge anwendet, so gibt es kein Zeugnis, das nicht verdächtigt und entkräftet werden könnte [...] wenn man willkürlich und um äußerer Merkmale willen gewisse Zeugen gelten läßt, so gibt es nichts Verschrobenes, das man nicht annehmen müßte, denn es gibt nichts Verschrobenes, das nicht die Autorität von recht12
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Man vgl. Paul (1920, 5). – Friedell unterschlägt allerdings Pauls Auffassung, dass sich dieses Problem zumindest in der Sprachwissenschaft durch die Rückführung jeder Spekulation auf „Grundprinzipien“ lösen lasse (ebd.). Man vgl. Schopenhauer (1874, II, § 238, S. 480): „Zu den oben angegebenen, wesentlichen Unvollkommenheiten der Geschichte kommt noch, daß die Geschichtsmuse Klio mit der Lüge so durch und durch inficiert ist, wie eine Gassenhure mit der Syphilis. Die neue, kritische Geschichtsforschung müht sich zwar ab, sie zu kuriren, bewältigt aber mit ihren lokalen Mitteln bloß einzelne, hie und da ausbrechende Symptome; wobei noch dazu manche Quacksalberei mit unterläuft, die das Uebel verschlimmert.“ – Die Gegenposition vertritt heute Kittsteiner (2005, 85): „Clio dichtet nicht“. Klibansky (2001, 133). – Zu Croce siehe auch Arens (1969, 425–430).
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schaffenen, reinen und intelligenten Männern auf seiner Seite hätte: mit der philologischen Methode kann man nicht einmal die Wunder zurückweisen, da sie sich auf ebenso beglaubigte Zeugnisse stützen wie die Kriege und Friedensschlüsse“ (ebd.).15
Erst ganz am Ende dieses Abschnittes wird mit Wilhelm von Humboldt eine weitere sprachwissenschaftliche Autorität zitiert.16 Nach einem Verweis auf Theodor Lessings Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen von 1919 – „ein Werk, von dem das Wort jenes anderen Lessing gilt: ‚groß und abscheulich‘, voll von giftigen Tiefgasen und nur in der Hand eines vorsichtigen Abschreibers, wie ich es bin, ohne ernste Gefahren“ (ebd., 1099) –, erklärt Friedell: „Und schon hundert Jahre früher sagte Wilhelm von Humboldt in seiner Abhandlung Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers“ von 1821: „Wenn man die unbedeutendste Tatsache zu erzählen versucht, aber nur streng das sagen will, was sich wirklich zugetragen hat, so bemerkt man bald, wie ... Falschheiten oder Unsicherheiten entstehen ... Daher ist nichts so selten als eine buchstäblich wahre Erzählung ... Daher gleicht die historische Wahrheit gewissermaßen den Wolken, die erst in der Ferne vor den Augen Gottes Gestalt erhalten; und daher sind die Tatsachen der Geschichte in ihren einzelnen verknüpfenden Umständen wenig mehr als die Resultate der Überlieferung und Forschung, die man übereingekommen ist, für wahr anzunehmen“ (ebd., 1100)17.
So ist der Boden bereitet für ein erstes Fazit: „Die Geschichtsschreibung der letzten Generationen, die sich die ‚positivistische‘ nannte, war in Wirklichkeit eine extrem negativistische, destruktive, skeptische. Sie erlitt das Schicksal, das dem ‚Wirklichkeitssinn‘ auf allen Gebieten zuteil wird, indem er erfahren muß, daß er seine intensivere Kenntnis gewisser subalterner Erlebensausschnitte mit dem Verlust aller anderen erkaufen muß und daher kein schärferer und reicherer, sondern ein unendlich stumpferer Sinn ist“ (ebd., 1100 f.).
Befremden könnte hier Friedells Gebrauch von in Wirklichkeit, was seine Einschätzung des „Wirklichkeitssinns“ zu konterkarieren scheint. Dieser Ausdruck kommt auf den knapp 1800 Seiten der Kulturgeschichte der $euzeit 38 Mal vor, darunter allerdings auch in Zitaten – etwa des Mathematikers Leonard Euler (ebd., 783) – und in mehrdeu15
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Croce (1915, 256): „denn es gibt nichts Verschrobenes, das nicht die Autorität von rechtschaffenen, reinen und intelligenten Männern auf seiner Seite haben könnte“. Zu den Hintergründen seiner Auffassung vgl. Croce 1927. Allerdings wird Wilhelm von Humboldts Beitrag für die philosophische und sprachwissenschaftliche Diskussion erst in den 20er Jahren durch Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen wiederentdeckt. Siehe dazu Trabant (1990, 67). – Friedells Chronologie ist also gewissermaßen folgerichtig; Cassirer selbst zitiert er jedoch nicht. Humboldt 1917. Nur ein Teil des Zitats wird hier aus Platzgründen erneut wiedergegeben, dieser aber, weil der Text mit den von Friedell ausgelassenen Stellen weit weniger radikal wirkt: „Wenn man die unbedeutendste Thatsache zu erzählen versucht, aber streng nur das sagen will, was sich wirklich zugetragen hat, so bemerkt man bald, wie, ohne die höchste Vorsicht im Wählen und Abmessen der Ausdrücke, sich überall kleine Bestimmungen über das Vorgegangene hinaus einmischen, woraus Falschheiten, oder Unsicherheiten entstehen (ebd., 28; Hervorhebungen hier und im Folgenden: J. R.).
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tigen Sätzen wie: „Auch dieses Werk [die Kulturgeschichte der $euzeit] tut ja nur so, als ob sie eine Kulturgeschichte wäre, während es in Wirklichkeit etwas ganz anderes ist“ (ebd., 568). Eine vermittelnde und weiterführende Position in diesem „Positivismusstreit“ – die Friedell allerdings selbst gar nicht angestrebt hat – vertritt Ernst Cassirer: „Soweit es sich um die bloße Ermittlung der Tatsachen der Sprachgeschichte, um die Kenntnis des Gegebenen handelt, kann freilich der Positivismus als Forschungsprinzip, als ‚methodologischer Positivismus‘ durchaus anerkannt werden. Was abgewehrt wird, ist nur jene positivistische Metaphysik, die mit der Ermittlung der Tatsachen auch die Aufgabe ihrer geistigen Deutung erfüllt zu haben glaubt“ (Cassirer 1953, 122).
Positivismus könnte hier leicht beispielsweise auch durch „Korpuslinguistik“ oder „Strukturalismus“ etc. ersetzt werden.
2.2. Sprachwissenschaftler als Teil der Kulturgeschichte Im folgenden Abschnitt geht es um Sprachwissenschaftler, die durch ihre Arbeiten selbst Teil der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ geworden sind. Für Friedell sind dies Philipp von Zesen, Johann Christoph Gottsched, Wilhelm von Humboldt, Franz Bopp, Jacob und Wilhelm Grimm sowie Friedrich Christian Diez. Im Abschnitt „Die Poeterey“, in der die deutsche Barockliteratur liebevoll als „ungehobelt und verschnörkelt, lärmend und koloriert, eine Mischung aus Roheit und Geziertheit“ (Friedell 1927–31, 513) bezeichnet wird, finden auch die deutschen Sprachgesellschaften und der Sprachpurismus als Teil der Kulturgeschichte Erwähnung. „Zur Reinigung der Sprache von den zahlreichen spanischen, italienischen und französischen Brocken wurden zwei große literarische Vereine gegründet, 1617 die Fruchtbringende Gesellschaft oder der Palmenorden, 1644 die Pegnitzschäfer oder der Gekrönte Blumenorden; aus dem Kreis des letzteren ging der berühmte Nürnberger Trichter hervor“ (ebd.).
Aus der differenzierten Würdigung, die Hans Sperber in der Friedell bekannten Geschichte der deutschen Sprache (1926) vornimmt, greift Friedell nur die negativen Züge heraus: „Aber der Purismus, den diese Reformer so eifrig betrieben, war nichts als gewendete Kauderwelscherei. Der rabiateste von ihnen, Philipp von Zesen, begnügte sich nicht damit, die Fremdwörter zu exkommunizieren, sondern wollte auch den griechischen Göttern nicht ihre ehrlichen Namen lassen, indem er Pallas in Kluginne, Venus in Lustinne, Vulkan in Glutgang verdeutschte, und duldete nicht einmal gute deutsche Lehnwörter, indem er Fenster in Tageleuchter, Natur in Zeugemutter und sogar Kloster in Jungfernzwinger übersetzte: eine besonders grausame Maßregel, durch die die ohnehin schon durch ihre Lehnwortbenennung kompromittierten Mönche auf die Straße gesetzt wurden“ (ebd.).
Nachdem der von Sperber wegen seiner Bedeutung herausgehobene Justus Georg Schottelius bei Friedell unerwähnt bleibt, erfährt als nächster Sprachforscher Gottsched
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eine genaueren Betrachtung. Sie ist eingebettet in eine kurze Abrechnung mit der absolutistischen Kultur des 18. Jahrhunderts. Unter der Überschrift „Pleiß-Athen“ heißt es: „Die geistige Hauptstadt Deutschlands war damals Leipzig, das sich als Sitz der großen Messen und der vornehmsten deutschen Universität, als Metropole der kunstsinnigen polnischsächsischen Könige und des Buchhandels und als modische und mondäne ‚galante Stadt‘ zum vielgerühmten ‚Pleiß-Athen‘ hervorgeschwungen hatte. Gleichwohl ist alles, was damals aus Sachsen hervorgegangen ist, pure Korrepetitorenliteratur, unterrichtet und methodisch, verkniffen und verprügelt, pedantisch und korrekturwütig und unermüdlich im ermüdenden Wiederholen der selben wohlfeilen Primitivitäten“. (Friedell 1927–31, 693.)
Einzig Gellert kommt – gerade im Gegensatz zu Gottsched – etwas besser davon. Gottsched bekleidete seit etwa 1730 „die Stellung eines absoluten Literaturdiktators“ (ebd., 694), seine Lehre „so platt und eng wie nur möglich gefaßt“ (ebd.). Bodmer und Breitinger wird das Verdienst zugeschlagen, „den selbstgefälligen, bornierten und intriganten Kunsttyrannen gestürzt zu haben“ (ebd., 694 f.); Friedell nennt sie drei „feindliche Brüder, uneinig in ihren Einzelurteilen und näheren Ausführungen, völlig verwechselbar jedoch in ihrer Kunstfremdheit, Besserwisserei und sterilen Philistrosität“ (ebd., 694). Die sprachwissenschaftliche Dimension des Streits übergeht Friedell, auch die „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ von 1748 nennt er nicht. Ihm genügt der Hinweis auf Goethe: 1765 konnte der junge Goethe über ihn berichten: ‚Ganz Leipzig verachtet ihn‘“ (ebd., 695). Breiteren Raum nimmt dann – während Adelung übergangen wird – Friedells Auseinandersetzung mit der „romantischen Wissenschaft“ und dem „dichtenden Volksgeist“ ein (ebd., 1130–1136). Man liest hier nach langer Zeit einmal wieder etwas Positives: „Nahezu alle Geisteswissenschaften wurden durch originelle und fruchtbare Gedanken neu belebt“ (ebd., 1130): die Rechtsgeschichte durch Karl Friedrich Eichhorn, die Staatslehre durch Adam Müller, die Erdkunde durch Karl Ritter; sodann werden viele Disziplinen durch große Editionsprojekte und gelehrte Einzelleistungen auf eine neue Grundlage gestellt. Friedell erinnert an Heinrich Pertz und die Monumenta Germaniae historica, an August Böckh und das Corpus inscriptionum graecarum, an Grotefend und die Entzifferung der Keilschrift, Champollion und die Entzifferung der Hieroglyphen, an Görres’ Mythengeschichte der asiatischen Welt und Friedrich Schlegels Sprache und Weisheit der Indier. An Lachmann jedoch „zeigt sich die Kehrseite der romantischen Theorie vom ‚dichtenden Volksgeist‘, die an sich ein vertieftes Verständnis gewisser Phänomene bedeutet, aber, ohne Takt gehandhabt, zur Auflösung des Begriffs ‚Kunstwerk‘ führen muß“ (ebd., S. 1133 f.). Zum Streit um Homer und die „Ilias“ kommentiert er: „Die ‚Bausteine‘ waren da, aber der Baumeister nicht, das Genie, das aus dem Chaos den Kosmos macht“ (S. 1125). Gegen Lachmann und für die Rolle des Künstlers, ob nun Homer oder Shakespeare, tritt er auch im Nibelungenstreit ein. Jacob „Grimm charakterisierte denn auch Lachmann sehr treffend, indem er sagte, er sei der geborene Herausgeber und schenke dem Inhalte nur insoweit Beachtung, als er daraus Regeln und neue Griffe für die Behandlung seiner Texte schöpfen könne; ließen sich alle Philologen in
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solche teilen, die die Worte um der Sachen, und solche, die die Sachen um der Worte treiben, so gehöre Lachmann unverkennbar zu den letzteren“ (ebd., 1136).
Die Brüder Grimm sieht Friedell folglich in einem ganz anderen Licht, sie „vereinigten die wärmste Einfühlung ins Objekt und das feinste Ohr für die Regungen der Sprache mit geduldiger Sorgfalt und mikroskopischer Strenge“ (ebd.). In seiner Deutschen Grammatik erforschte Jacob Grimm „mit zartestem Verständnis die Psychologie der Sprachbildung, in den ‚Deutschen Rechtsaltertümern‘ und der ‚Deutschen Mythologie‘ grub er tief in den dunklen Schacht des nationalen Lebens“ (ebd.). Auch die Kinderund Hausmärchen, Editionen alt- und mittelhochdeutscher Texte und das unlängst in seiner Neubearbeitung leider eingestellte „Riesenwerk des Deutschen Wörterbuchs“ (ebd., 1137) sind für ihn Teil der Kulturgeschichte der Neuzeit. Zum Abschluss dieses Abschnitts nun noch ein längeres zusammenfassendes Zitat: „Das Wort, mit dem die Wissenschaft jener Zeit alle Siegel zu lösen hoffte, hieß ‚vergleichend‘: es bezeichnete den Versuch, die Methode, die Cuvier in seiner ‚anatomie comparèe‘ so fruchtbar auf Gegenstände der Naturhistorie angewendet hatte, auf alle Historie auszudehnen. Durch Vergleichung der Konjugationsformen aller ihm zugänglichen alten Sprachen entdeckte Franz Bopp die Abstammung des Persischen, Griechischen, Lateinischen, Gotischen und Sanskrit und wurde damit der Schöpfer der allgemeinen vergleichenden Sprachwissenschaft. Jakob [sic] Grimm begründete die vergleichende germanische Philologie, Friedrich Diez die vergleichende historische Grammatik der romanischen Sprachen, deren gemeinsame Herkunft aus dem Lateinischen er nachwies und Wilhelm von Humboldt zog auf Grund ausgedehnter Studien, sogar des Chinesischen und der javanischen Kawisprache, in seiner Schrift Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts aus den linguistischen Forschungen der Romantik das philosophische Resümee“ (ebd., 1137).
Die Bedeutung dieser sprachwissenschaftlichen Entdeckungen für die Kulturgeschichte der Neuzeit legt den Gedanken nahe, ihren sprachhistorischen Wert – sofern sie das Deutsche betreffen – heute nicht mehr vorrangig in der Beschreibung der fast völlig verblassten germanisch-voralthochdeutschen Frühzeit zu sehen, deren Einfluss auf die deutsche Sprachgeschichte zudem kaum feststellbar ist. Stattdessen gehören sie zur Sprachgeschichte des 19. Jahrhunderts, indem sie das Sprachbewusstsein des Bürgertums nachhaltig geprägt haben dürften. Diese Sprachwissenschaft steht mit ihren Inhalten und mit ihren Methoden im Zentrum der Kulturgeschichte ihrer Zeit. „Wie die Sprachen wurden auch die übrigen Produkte der menschlichen Kollektivseele einer vergleichenden Betrachtung unterzogen: die antiken und neueren Verfassungen, nicht als Konstruktionen einzelner Gesetzgeber, sondern als Schöpfungen des Lokalgeists; die arischen und semitischen Mythologien, nicht als Erfindungen listiger Priester, wie die Aufklärung geglaubt hatte, auch nicht als Kristallisationen der Volkspoesie, wie Herder gemeint hatte, sondern als Erinnerungen an wahrhaft historische Zustände, an Lebensformen verschollener Urzeiten. Kurz: es war der ‚Zauberstab der Analogie‘ [Novalis], der überall neue Quellen des Verständnisses zum Fließen brachte“ (ebd., 1137f.).
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2.3. Sprachwissenschaftler als Kulturgeschichtsschreiber Immerhin noch zwei zeitgenössische Sprachwissenschaftler sind für Friedell interessant genug, um als Gewährsmänner in Erscheinung zu treten: Konrad Burdach und Hans Sperber. Warum Carl Vossler nicht genannt wird, weder in einem sprach-, noch in einem literaturwissenschaftlichen Zusammenhang, wäre Stoff für eine gesonderte Untersuchung.18 Nur der Vossler-Schüler Victor Klemperer findet an einer Stelle Beachtung für seine Interpretation französischer Dramen des 19. Jahrhunderts (Friedell 1927–31, 1325). Auch weitere Sprachhistoriker und ihre Sprachgeschichten wie Hermann Hirts Geschichte der deutschen Sprache (1905), Sigmund Feists Die deutsche Sprache (1906), Otto Behaghels Geschichte der deutschen Sprache in Pauls Grundriß der germanischen Philologie (etwa in der umgearbeiteten 3. Aufl. 1911 als selbständiges Buch) oder Friedrich Kluges Deutsche Sprachgeschichte (1920) werden nicht erwähnt. Konrad Burdach dagegen kommt zunächst zu Wort am Ende des dritten Kapitels „Die Inkubationszeit“, in dem das 14. Jahrhundert als Wegbereiter der Neuzeit beschrieben wird: „In seiner ausgezeichneten Untersuchung über den Begriff der Renaissance sagt Konrad Burdach [1926, 13]: ‚Grenzenlose Erwartung der Seelen – das ist der Grundzug des 14. Jahrhunderts.‘ Es ist dasselbe, was wir am Anfang dieses Kapitels als Weltuntergangsstimmung bezeichnet haben. Und Karl Kraus hat unsere Zeit in einem Werk von fanatischer Phantastik und übermenschlichem Pinselstrich, das ihre Züge für immer aufbewahren wird, ebenfalls apokalyptisch gesehen als ‚die letzten Tage der Menschheit‘“ (Friedell 1927–31, 213).
Zur Charakteristik des 14. Jahrhunderts wird einige Seiten später noch einmal – und noch einmal zustimmend – Burdach zitiert (ebd., 221 f.): „Und zu demselben Resultat wie der älteste Historiker der Renaissance [Vasari, 1550] gelangen die neuesten genauen und umfassenden Untersuchungen Burdachs [1926, 96 f.]: ‚Das Bild des neuen Lebens, die Wiedergeburt beherrscht bereits das Zeitalter Bonaventuras, Dantes, Petrarcas, Boccaccios, Rienzos, es bleibt im fünfzehnten Jahrhundert wirksam und wird im sechzehnten Jahrhundert zu dauernder Gültigkeit fixiert ... Wer ... das vierzehnte Jahrhundert ... ausschließt, setzt sich in Widerspruch mit zahlreichen übereinstimmenden Aussagen und Anschauungen der gleichzeitigen geschichtlichen Zeugnisse‘“. 18
Gerade Vossler hatte mit seiner programmatischen Schrift Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft. Eine sprach-philosophische Untersuchung (1904) eine scharfe Grenze durch die Sprachwissenschaft gezogen, deren zwei Parteien schon im polarisierenden Titel der Arbeit benannt werden. Beide unterschieden sich nach Vossler durch eine entgegengesetzte Forschungspraxis und einander zuwiderlaufende Forschungsziele. Der überkommene sprachwissenschaftliche Positivismus begnüge sich mit geduldiger „Materialsammlung“ (Vossler 1904, 43) und verzichte entweder ganz auf jede Erklärung oder verlege die Erklärung der beobachteten Sachverhalte in diese selbst, so wie die Junggrammatiker den Lautwandel letztlich tautologisch durch Lautgesetze „erklärten“. Gegenüber dieser scharf kritisierten „Afterwissenschaft des radikalen Positivismus“ (ebd., 4) sieht Vossler die Aufgabe echter Wissenschaft darin, die Fakten auf Ursachen zurück zu führen, die außerhalb ihrer selbst liegen, und er erhebt dies zum Programm einer idealistischen Sprachwissenschaft. Man vgl. dazu auch Ehlers (2005).
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In beiden Fällen wird Konrad Burdach allerdings nicht als Sprachwissenschaftler, sondern als Renaissance-Forscher zitiert. So ist es allein Hans Sperber, der mit einer genuin sprachgeschichtlichen Analyse Eingang in die „Kulturgeschichte der Neuzeit“ findet. Im Kapitel „Säkularisierung der Menschheit“ stellt Friedell die Frage nach der Bedeutung der Reformation für die europäische Kultur: „Sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Versuch, Leben, Denken und Glauben der Menschheit zu säkularisieren. Seit ihr und mit ihr kommt etwas flach Praktisches, profan Nützliches, langweilig Sachliches, etwas Düsteres, Nützliches, Zweckmäßiges in alle Betätigungen“ (Friedell 1927–31, 398).
„Alle Kindlichkeit weicht aus dem Dasein; das Leben wird logisch, geordnet, gerecht und tüchtig, mit einem Wort: unerträglich“ (ebd., 399). Es ist diese – hier stark gekürzt wiedergegebene – Sicht auf Luther und die Reformation, in die sich die in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung seltsam isolierte Polemik Arno Schirokauers nahtlos einfügt.19 Friedells Fazit lautet: „Die Reformation heiligt erstens die Arbeit, zweitens den Beruf und damit indirekt den Erwerb, das Geld, drittens die Ehe und die Familie, viertens den Staat“ (ebd.), um am Ende festzustellen, dass dies eigentlich „in allen diesen Punkten mit der Heiligen Schrift im schärfsten Widerspruch steht“ (ebd., 401). Nichtsdestoweniger werden die vier Punkte genauer untersucht und in ihrer Bedeutung jeweils auf den entscheidenden Einfluss Luthers zurückgeführt. „Auf Luther ist auch, wie Hans Sperber nachgewiesen hat, der Bedeutungswandel des Wortes ‚Beruf‘ zurückzuführen, das bis dahin soviel wie Berufung, Vokation bedeutete und erst bei ihm den heutigen Sinn von Handwerk, Fachtätigkeit annimmt: er erblickt in der Ausübung gewerblicher Arbeit, die im Altertum als deklassierend, als banausisch, im Mittelalter als profan, als ungöttlich galt, eine gottgewollte sittliche Mission. Bis dahin hatte man die Arbeit als Strafe, bestenfalls als notwendiges Übel angesehen; jetzt wird sie geadelt, ja heiliggesprochen“ (ebd.).
Von dort zieht er eine direkte Linie zum Marxismus und Kommunismus, „den zwei stärksten Verdüsterern Europas“ (ebd.). Friedell stellt sich hier in die Tradition der sich in Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts verdichtende Kritik am protestantischen Preußen, verkörpert etwa durch Hugo von Hofmannsthals Essay Preuße und Österreicher. Ein Schema20. Eine vergleichbare, gegenüber Preußen, der Reformation und Luthers sprachliche Wirkung skeptisch eingestellte Stimme ist in der österreichischen Sprachgermanistik jener Zeit meines Wissens nicht vorhanden. Nach Quellenkritik und der Würdigung einzelner sprachwissenschaftlicher Leistungen wird am Beispiel von fnhd. beruf in der Kulturgeschichte der $euzeit erstmals angedeutet, wie Sprachgeschichte und Kulturgeschichte zusammenfinden können. Mit der 19
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Erst kürzlich hat Oskar Reichmann (2011, 412, 455–458) wieder auf die Bedeutung Schirokauers hingewiesen. Zuerst in der Vossischen Zeitung Nr. 657 vom 25. 12. 1917. Zum Umkreis von Arbeit und Beruf passt auch ein Alexander Roda Roda zugeschriebener Sinnspruch: „Ohne Schweiß kein Preuß“.
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Erinnerung an den Bedeutungswandel des Wortes Beruf wird im Sinne einer „Idee von Sprachgeschichte“ unmittelbar auf Sprachliches bei der Darstellung historische Gegenstände und Zusammenhänge Bezug genommen.
2.4. Sprachgeschichte und Kulturgeschichte Hans Sperber gibt zwei Beispiele für Bedeutungsveränderungen, die er auf Luther zurückführt: Grund und Beruf. „Und wenn heute das Wort Beruf nicht mehr ‚Ruf, Berufung‘, sondern ‚Lebensstellung, Amt, Handwerk‘ und dergleichen bedeutet, so läßt sich dieser Bedeutungswandel schwer verstehen, wenn man nicht weiß, wie hoch Luther die treue Berufsarbeit auch der niedern Stände als etwas dem Menschen von Gott Angewiesenes, ein ihm wohlgefälliges Werk einschätzte“ (Sperber 1926, 96 f.). Peter von Polenz (1978, 90) hat diesen Satz von einer kleinen Änderung abgesehen wörtlich in seine Überarbeitung der Sperberschen Sprachgeschichte übernommen.21 Die Belege für Luthers Gebrauch von beruf sind jetzt im „Frühneuhochdeutschen Wörterbuch“ (FWB) unter beruf 3 leicht nachzulesen: Insgesamt wird unterschieden 1. ›Bekanntmachung, amtliche Mitteilung‹; 2. ›konstitutiver Akt, Schöpfungsakt (Gottes)‹; 3. ›jm. von Gott oder einer obrigkeitlichen Instanz zugewiesene Position, verliehener sozialer und beruflicher Stand, auferlegte Aufgabe, Funktion, zugeteiltes Amt; vollzogene berufliche Tätigkeit‹; 4. ›Berufung einer Person zu einer bestimmten Aufgabe durch Gott, von Gott kommender Ruf zu einem Amt‹; 5. ›Appellation, Berufung; Hilfe, Stütze durch Christus als oberste Berufungsinstanz‹.22 Man sieht, dass sich die von Sperber und Friedell pointierten Veränderungen in frühneuhochdeutscher Zeit erst langsam entwickeln, es ist noch nicht ohne weiteres möglich, zwischen einer „von Gott“ oder von einer „obrigkeitlichen Instanz zugewiesene Position“ zu unterscheiden.23 In Friedells pointierter Ausformulierung der Sperberschen Anregung zeigt sich jedoch das Potential einer kontext- bzw. diskurs-, nicht einzelwortbezogenen historischen Wort- und Bedeutungsforschung. Studien zu fnhd. arbeit hat Oskar Reichmann zudem selbst vorgelegt.24 Untersuchungen zu den anderen drei von Friedell herausgehobenen Begriffsfeldern stehen noch aus. Unter der Überschrift „Luther als Sprachschöpfer“ (Friedell 1927–31, 346 f.) wird Luther in sprachlicher Hinsicht einige Zeilen zuvor jedoch positiv gezeichnet, wenngleich Friedells eigener Standpunkt in der Schwebe bleibt:
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Ersetzt wurde nur die „treue Berufsarbeit“ durch „kärgliche Lohnarbeit“, selbst die „niedern“ Stände bleiben unverändert. FWB 3, Sp. 1543–1545. Für die weitere Entwicklung vgl. man Conze (2004). Man vgl. u. a. Reichmann (2001, 62 f., 82 f.) und Anderson/Goebel/Reichmann (1984).
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„So ist auch Luthers Bibelübersetzung eine Leistung, die man, je nach dem Gesichtspunkt, von dem aus man sie betrachtet, als mißlungen oder als Meisterwerk bezeichnen kann. Von dem Duft, dem Lokalkolorit, dem ganzen Ambiente der biblischen Welt, ja selbst von den Gefühlen und Gedanken der Verfasser ist nicht allzuviel herübergerettet worden: aber dafür ist es Luther gelungen, mit seiner in jederlei Sinn verdeutschten Bibel das deutscheste Buch der deutschen Literatur zu schreiben“ (ebd., 346).
Jacob Grimms Ausspruch, dass Luthers Sprache „ihrer fast wundervollen Reinheit, auch ihres gewaltigen Einflusses halber für Kern und Grundlage der neuhochdeutschen Sprachniedersetzung gehalten werden“ muß (ebd.), wird zitiert, aber mit „anderseits“ wird der Gedanke angeschlossen, dass Luthers Sprachvorbild, die „Sprache der sächsischen Kanzlei“, „nichts anderes war als ein trockener, schwerlebiger und wortarmer Kanzleijargon, während Luther der selben Sprache das Höchste und Tiefste, Stärkste und Zarteste an Ausdruck entlockt und sie zum Organ für alle erdenklichen Bewußtseinserlebnisse gemacht hat. Er hat aus dem Material, das er vorfand, gerade das Gegenteil eines Kanzleistils geschaffen“ (ebd., 347).
Das Verhältnis zwischen Kanzleisprache, Luthers Bibeldeutsch und der neuhochdeutschen Schriftsprache wird von Friedell nicht exakt bestimmt, aber der Hinweis auf Luthers „Lehr- und Streitschriften“ im nächsten Satz lässt aufhorchen: „wir stoßen hier wiederum auf jene eigentümliche, dramatische Begabung, die Luther innewohnte; sie äußert sich auch in seinen Lehr- und Streitschriften, die, indem sie immer einen fiktiven Gegner supponieren, einen unterirdischen Dialogcharakter an sich tragen und hierin an Lessing erinnern“ (ebd.). Sollte bereits Friedell in den nicht-biblischen Schriften Luthers eine Brücke zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache gesehen haben? Der Hinweis auf Lessing als Repräsentant des Neuhochdeutschen dürfte dagegen Friedrich Kluges Aufsatzsammlung entnommen sein (Kluge 1918). Weitere Begegnungen von Sprach- und Kulturgeschichte, von Friedell zudem oft nur angedeutet und skizziert, werden nun nur noch stichwortartig zusammengetragen. Sie eröffnen jede für sich Räume für sprachhistorische Untersuchungen; und dies obwohl sich Friedell zumindest an einer Stelle – in Zusammenhang mit Opitz – eher abfällig über die Sprachgeschichte in der Kulturgeschichte äußert: Sein vernichtendes Urteil: wir müssen „in ihm einen der vollkommensten Antipoeten erblicken, die jemals in die Poesie hineingeredet haben“ (Friedell 1927–31, 516); die Lehrer hängen an ihm, weil er selbst Schulmeister war. „Für die Geschichte der deutschen Sprache und Metrik mag er eine gewisse Bedeutung haben; für die Geschichte der europäischen Kultur besteht keine Veranlassung, sich mit dieser Panoptikumfigur näher zu befassen“ (ebd.). Genannt seien noch, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, folgende Beispiele: – der Zusammenhang von Mode, Hofzeremoniell und Ausdrucksweise im 17. Jahrhundert in Spanien („Weltherrschaft des spanischen Stils“; Friedell 1927–31, 435 f.) und im deutschsprachigen Raum („Das Ideal der Fettleibigkeit“; ebd., 647f.); – der Bedeutungswandel von politisch, Politesse, gemein, höflich und schlecht in der „Vorbarocke“ (etwa 1618–1660). Der Satz: „Damals erhielt das Wort ‚politisch‘ je-
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nen Nebensinn von versiert, gerieben, diplomatisch, weltläufig, den es noch heutigentags in der Volkssprache besitzt“ (ebd., 504) sei als Beispiel hervorgehoben25 („Die Staatsraison“; ebd., 503–505); Anredeformen und Latinisierungen von Familiennamen: „die einfache Anrede ‚Herr‘ genügte nicht mehr, man schrieb: ‚dem hochwohlgeborenen Herrn Herrn‘“; „Es will keiner mehr Roßkopf heißen, sondern Hippocephalus, nicht Schütz, sondern Sagittarius, sagt Moscherosch“26 („Das ‚alamodische Wesen‘“; ebd., 509); die Partikel als ob als Ausdruck der Denkfunktion „Fiktion“27 („Die Welt als Fiktion“; ebd., 566); Schlössernamen als Zeichen für die „Freuden der Zurückgezogenheit“ in der Zeit des Rokoko: „Schon die Namen dieser Schlößchen, wie ‚Eremitage‘, ‚monrepos‘, ‚solitude‘, ‚sanssouci‘ deuten auf die veränderte Geschmacksrichtung“ („La petite maison“; ebd., 662 f.); eine Wortgeschichte von Komfort: „Es heißt ursprünglich im Englischen soviel wie ‚Trost‘, ‚Ermutigung‘ und beginnt erst jetzt die Bedeutung von ‚Behagen‘, ‚Wohlbefinden‘, Bequemlichkeit‘, in der es ins Deutsche übertragen ist. Für den Engländer liegt eben tatsächlich die höchste Tröstung und Ermutigung, die letzte Legitimation seiner Existenz darin, daß es ihm wohlergeht“ („The comfort“; ebd., 730); ein Ansatz zu einer Begriffsgeschichte von Patriotismus, die davon ausgeht, dass der „heutige Begriff des Patriotismus“ in Deutschland im 18. Jahrhundert „gänzlich unbekannt“ war („Kosmopolitismus“; ebd., 827 f.) oder der Ansatz zu einer Wortgeschichte von frz. nature („Rousseaus Naturbegriff“; ebd, 841–843).
Das Panorama zeigt, welche Aspekte der Sprachgeschichte für Friedell kulturgeschichtlich bedeutsam schienen. In diesen – meist wortgeschichtlichen – Miniaturen verdichtet sich seine ansonsten nicht ausformulierte Idee von Sprachgeschichte in der Kulturge25
26 27
Man vgl. das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm, Bd. 7, Leipzig 1889, Sp. 1980. Der für seine komprimierten Texte bekannte Bearbeiter Matthias Lexer macht unter politisch 2) folgende Angaben: „der staatskunst und staatsklugheit gemäsz, staatskundig, staats-, weltklug, im gemeinen leben auch schlau, verschlagen, listig, pfiffig“. Nur durch den Einschub von „im gemeinen leben auch“ werden die beiden Verwendungsweisen getrennt, die Brisanz der Bedeutungsentwicklung wird erst durch Friedells Interpetation sichtbar. Das FWB 4 (Sp. 752), enthält nur die Bedeutungsangabe: ›den Staat betreffend, auf das öffentliche Amt bezogen‹. – Man vgl. auch die detaillierte Darstellung des Bedeutungswandels bei Sellin (2004, 826–830). Die Beispiele sind entnommen aus Kluge (1918, 175 f.). Zum kulturgeschichtlichen Hintergrund vgl. man das von Friedell so zitierte Werk: Die Philosophie des Als ob. System eines idealistischen Positivismus, herausgegeben von Hans Vaihinger; im Original als: Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und $ietzsche. 1911. Eine Übersetzung ins Englische von der 6. deutschen Auflage besorgte 1924 C. K. Ogden, in 4. Auflage 1965; man vgl. auch Ogden als Verfasser von The Meaning of Meaning, 1923.
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schichte. Dabei wird deutlich, dass vor allem Brennpunkte der Kulturgeschichte wie die Reformation und der Absolutismus nicht ohne sprachliche Folgen bleiben. Darüber hinaus bietet Friedell noch eine Reihe weiterer Anregungen, die für die Sprachgeschichtsschreibung fruchtbar gemacht werden können. So etwa dort, wo er unter der Überschrift: „Die Erfindung der Pest“ (Friedell 1927–31, 125 f.) den Beginn der Neuzeit skizziert: „die Geburtsstunde der Neuzeit wird durch eine schwere Erkrankung der europäischen Menschheit bezeichnet: die Schwarze Pest“ (ebd., 126). Überträgt man den Gedanken auf die Sprachgeschichte, so könnte man sagen, dass die sich um 1350 nördlich der Alpen ausbreitende Pest auch den sprachlichen Neuerungen des Frühneuhochdeutschen (Monophthongierung, Diphthongierung etc.) zum Durchbruch verholfen habe. Nicht als „Ursache“ oder Auslöser des Sprachwandels, sondern weil bereits vorhandene, aber noch nicht etablierte Neuerungen sich in der Zeit des Umbruchs und der durch die Pest ausgelösten demographischen Verwerfungen leichter durchsetzen konnten. Vergleichbare demographische Umbrüche begleiten und beschleunigen den Sprachwandel auch um das Jahr 1000, um 1650 und um 1950. Sie stützen damit die gelegentlich in Zweifel gezogenen klassischen Periodisierungsschnitte in der deutschen Sprachgeschichte. Bemerkenswert sind schließlich auch die Hinweise auf: „Die schöpferische Peripherie“ (ebd., 342). Dass die „große Bewegung“ der Reformation „nicht von dem gelehrten Paris oder dem weltbeherrschenden Madrid seinen Ausgang nahm, sondern von der armseligen, eben erst gegründeten Universität Wittenberg, beruht auf der sonderbaren historischen Tatsache, daß es fast immer die Peripherie ist, die die neuen schöpferischen Kräfte entbindet und die bedeutenden geistigen Umwälzungen inauguriert“ (ebd.). Auch bei der Interpretation von Sprachwandelerscheinungen ist daher Vorsicht geboten, zu schnell das Prestige von Machtzentren zum Ausgangspunkt einer Sprachwandeltheorie zu machen. Theodor Vennemanns Neuinterpretation der zweiten Lautverschiebung setzt beim Prestige der fränkischen Machthaber ein und spielt es gegen die Peripherie der Sprachlandschaften aus, in denen die frühesten Belege bezeugt sind (Vennemann 1988). Argumentiert man mit Friedell, ist schon Vennemanns Grundannahme unrichtig. Der Historiker Gottfried Schramm hat – leider ohne Hinweis auf Egon Friedell – den Peripherie-Gedanken in einen größeren Zusammenhang gestellt und seine Bedeutung in einer gewichtigen Monographie ausgearbeitet. Am Beispiel verschiedener welthistorischer Wendepunkte, etwa der Ausbreitung des frühen Christentums, des Protestantismus, der (amerikanischen) repräsentativen Demokratie oder des revolutionären Sozialismus wird gezeigt, dass gerade diese Ereignisse nicht das Ergebnis eines allgemeinen Kulturvorsprungs in einer Einzelregion waren. Vielmehr gehen welthistorische Wendepunkte in der Regel von der Peripherie aus, von dort, wo die Mutterkultur, aus der etwas Neuartiges ausbricht, nur relativ flach im Boden wurzelt (Schramm 2004, 22 f.).28 28
Schramm bezieht sich auf eine Arbeit des kulturhistorisch tätigen Anglisten Herbert Schöffler (Schöffler 1936), der offensichtlich Friedells Thesen zu Wittenberg und der Reformation wiederholt hat.
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Auch wenn ein sprachlicher Vorgang wie beispielsweise die zweite Lautverschiebung nicht unbedingt als „welthistorischer Wendepunkt“ gelten dürfte, so kann das Modell in der Sprachgeschichtsschreibung doch zeigen, dass selbst ein so durchgängiger und sinnfälliger Lautwandel von der Peripherie ausgehen kann und nicht auf das Prestige der Träger der politischen Macht angewiesen ist.
3. Sprachliche Erinnerungsbilder in der Kulturgeschichte Griechenlands Zum Abschluss und zur Abrundung soll nun noch ein kurzer Blick auf die „nach einer anderen Methode angelegte“ Kulturgeschichte Griechenlands geworfen werden. Friedell geht hier weit intensiver als in der Kulturgeschichte der $euzeit auf Sprachliches ein, naheliegender Weise meist auf die griechische Sprache. „Ernst Curtius sagt in seiner ‚Griechischen Geschichte‘: Die ganze Sprache gleicht dem Leibe eines kunstmäßig durchgeübten Ringers, an dem jede Muskel zu vollem Dienste ausgebildet ist.‘ So sind zum Beispiel die Partikeln, die sich in solcher Feinheit und Fülle in keiner zweiten Sprache finden, in der Tat die Gelenke des Sprachkörpers, die ihm eine bewunderungswürdige Biegsamkeit und Schnellkraft verleihen. Indem sie es auf mühelose Weise ermöglichen, allenthalben Dämpfer und Drücker, Lichter und Lasuren aufzusetzen, dienen sie auf unvergleichliche Weise der ‚Dramatisierung‘ der Sprache, so daß es ein ‚Papiergriechisch‘ kaum gibt; der ausgezeichnete Schulmann Paul Cauer nennt sie sehr treffend ‚zum Laut gewordene Gestikulation‘“ (Friedell 1938, 62 f.).
Auch die Aussprache des Griechischen, seine Schreibungen, die Möglichkeiten der Wortbildung, die Artikel und grammatischen Kategorien, das Verschwinden des „überflüssigen, aber prachtvollen“ Duals (ebd., 64), das Verhältnis von Standardsprache und den Dialekten und die Eignung des Griechischen als Wissenschaftssprache nehmen weit größeren Raum ein, als dies den neueren Sprachen in der Kulturgeschichte der $euzeit wiederfährt (Friedell 1938, 59–72). „Zur richtigen Beurteilung des Griechischen muß man sich aber vor Augen halten, daß es auch als es längst schriftlich fixiert war, immer noch in erster Linie eine gesprochene Sprache war (ebd., 62). Auch der Gedanke der konzeptionellen Mündlichkeit war Friedell also bereits vertraut. Die herausragenden Möglichkeiten der griechischen Sprache lassen sich allenfalls mit dem Deutschen vergleichen, etwa beim Artikelgebrauch und in der Wortbildung (ebd., 63 f.). „Ferner ist es in einer Sprache, die mit solcher Leichtigkeit Begriffe zu kombinieren, zu schattieren und zu verschieben vermag, fast unmöglich, nicht zu philosophieren, und auch hierin wird das Griechische nur vom Deutschen erreicht. Man kann sagen, daß die Ideen Platos bereits in der Griechischen Sprache vorgebildet waren, wie die Gedanken Meister Eckhardts in der deutschen“ (ebd., 64).29 29
Wenn der französische Historiker Michel de Certeau, Kulturphilosoph wie Friedell, Recht hat, war die Mystik Meister Eckhardts zudem das vormoderne Äquivalent zur Psychoanalyse, also je eine
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Vor allem aber werden jetzt Etymologie und Wortgeschichte wieder zur Deutung kulturgeschichtlicher Zusammenhänge eingesetzt. Während sich aus den Wortgeschichten von beruf, politisch oder Komfort Schlüsse auf die Entwicklung der Sozial- und Kulturgeschichte ziehen lassen, zielen Friedells wortgeschichtliche Hinweise in der Kulturgeschichte Griechenlands stärker auf die Bedeutung der Nomination. Die Benennung der Dinge wird als elementare Ausdrucksform einer Sprachkultur erkannt: „Jede griechische Landschaft läßt sich von den Gipfeln ihrer Berge mit einem Blick umfassen und in einer Tagreise zu Fuß oder auf dem Saumtier durchwandern. Und weiter als eine Tagreise ist auch keine griechische Polis von der See entfernt. Die Hellenen waren Meerwesen. Von frühester Zeit an waren sie in die schäumende Flut verliebt, die, in zahllosen schöngeformten Buchten tief ins Land schneidend, von Morgen bis Abend ihre Zauberfarben spielen ließ [...]. Aber nicht weil der Grieche überall Meer, sondern weil er überall Eilande und Gegenküsten erblickte, hat er so bald im Wasser sein ureigenes Element erblickt, das für ihn nicht eine Welt des Geheimnisses und Schreckens war wie für die Ägypter, sondern ein schmeichlerischer gastlicher Gefährte, der zu leichten Abenteuern lockte. Das griechische Wort für Meer, pontos, ist verwandt mit dem lateinischen pons, die Brücke, und dem griechischen patos, der Pfad“ (ebd., 13 f.).
Die etymologischen Wörterbücher bestätigen diese Verbindung und führen die Lexeme auf idg. *pent- ›treten, gehen, antreffen, finden‹ zurück (Pokorny 1959, 808 f.; Frisk 1967, 578 f.). Die spezifische – griechische – Wahrnehmung des Meeres geht – zumindest bei Pokorny – in der Vielzahl der ausdrucksseitigen Angaben geradezu unter.30 Sie wäre auch in Kontrast zur etymologischen Beschreibung von nhd. Pfad zu berücksichtigen (Pfeifer 1993, 993 f.). In den meisten etymologischen Wörterbüchern verstellt und verdunkelt die Konzentration auf die Ausdruckseite der Lexeme den Blick auf den semantischen Wandel. Zu den Kulturtechniken gehört dann wieder die Gewinnung von Essig (Friedell 1938, 34): „Die Alten kannten auch schon den Essig; man erzeugte ihn, indem man einfach Wein an der Luft sauer werden ließ. Er hieß oxos (die Russen gebrauchen noch heute das Lehnwort uksus)“.31 Auch die Einordnung von Sonne und Regen ist sprachund kulturspezifisch (ebd., 24): „Die ‚Poesie des Regentags‘ ist eine ganz unantike Vorstellung. Bei nassem Wetter wäre es niemand eingefallen, sich nicht sofort ins Haus zu flüchten oder gar, das Naturschauspiel betrachtend, mit dem Schirm spazieren zu gehen, der auch im Griechischen skias, Schattenspender, heißt wie auch im Lateinischen um-
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Form, Verborgenes zur Sprache zu bringen (de Certeau 2010; man vgl. auch ders. 1991). GeorgesArthur Goldschmidt (2006) geht zudem davon aus, dass Freuds Entdeckung der Psychoanalyse ganz eng an die syntaktische Struktur der deutschen Sprache geknüpft ist. Auch Frisk (1967, 578 f.), deutet den Zusammenhang etwas zurückhaltender: „Als urspr. Bed. ist ‚ungebahnter, durch Gelände, Wasser usw. führender Weg‘ anzusetzen […]; somit eig. ‚Fahrwasser‘ [...] mit Beziehung auf eine für ein seefahrendes Volk primäre Funktion des Meeres“. Griech. oxos ‚Weinessig‘ gehört zum Adjektiv oxys ›scharf, stechend‹ unbekannter Herkunft (Frisk 1967, 399–401).
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braculum und noch heute im Italienschen umbrello, während der Franzose bereits paraplui sagt“.32 Es deutet sich an, dass der Schwerpunkt der Beziehung zwischen Sprach- und Kulturgeschichte für die älteren Zeiten auf dem Gebiet der Nomination liegt, das heißt, es geht um die Frage, welche Vorstellung eine Sprachgemeinschaft mit einer bestimmten Bezeichnung verbunden hat. Diese Vorstellung ist nicht im Sinne des Kratylos die „richtige“ Vorstellung, die auf eine „natürliche“ Beziehung zwischen Sache und Wort abzielt. Sie kann es schon deshalb nicht sein, weil es diese „natürliche“ Beziehung nicht gibt, sie ist es aber auch deshalb nicht, weil es stets um die Versprachlichung einer kulturspezifischen Vorstellung geht. Diese Versprachlichung beruht auf gemeinsamen Deutungshorizonten einer Sprechergemeinschaft, erst ihre Lexikalisierung ist „konventionell“, aber deshalb nicht beliebig. Egon Friedells Beispiele geben einen guten Eindruck von dieser – nicht primär kommunikativen – Sprachfunktion. Anders ausgedrückt: „Die sprachliche Nomination ist daher eine konventionalisierte, dabei aber natürlich motivierte Zuordnung des begrifflich-emotionalen Wertes eines Phänomens zunächst zu einem simplen Lautkontinuum (primäre Symbolisierung über affektiv-initiative Mechanismen) und dann zu einer komplexen Wortstruktur (sekundäre Symbolisierung durch interne semantische Transparenz der Morpheme. Konvention und Natürlichkeit sind also keine kontradiktorischen Erscheinungen bei Entstehung und Entwicklung des Sprachzeichens. Die eine schließt die andere keinesfalls aus, was aber erst einleuchtend wird, wenn Sprache von vornherein als historisches Phänomen behandelt wird. […] Daher kann man nur von funktionaler, nicht aber von ontologischer Arbitrarität des Sprachzeichens reden.“33
In diesem Sinne sind Sprache, Etymologie und Wortgeschichte bei Egon Friedell Teil einer Sprachgeschichte als Kulturgeschichte und damit ein „Schlüssel zur Welt“.34
4. Zitierte Literatur Anderson, Robert R./Ulrich Goebel/Oskar Reichmann (1984): Frühneuhochdeutsch arbeit und einige zugehörige Wortbildungen. In: Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag. Hrsg v. Alfred Ebenbauer. Wien, 1–29. Arens, Hans (1969): Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 2. Frankfurt a. M. 32
33 34
„[...] während der offene Sonnenschirm, der parasol, etwas älter ist“ (Friedell 1927–31, 679). Dass im Englischen umbrella verwendet wird, spricht auf den ersten Blick dafür, dass die etymologische Bedeutung in der Neuzeit bereits verblasst ist. Allerdings wird das Wort im Englischen erstmals „by women in England from c. 1700” verwendet; „the first rain-umbrella carried by a man there was traditionally c. 1760, by Jonas Hathaway, noted traveler and philanthropist”, man vgl. Douglas Harper, Online Etymology Dictionary, http://www.etymonline.com; 2010. – Zu skias siehe Pokorny (1959, 917). Kotin 2005, 134. Dabei dürfte der für Friedell zentrale Autor der in der modernen Sprachgeschichtsschreibung wenig beachtete Giambattista Vico sein; zu Vico siehe Croce (1927, bes. 135 f.).
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Migration und Dialektwandel Aspekte der jüngsten Sprachgeschichte des Russlanddeutschen
1. Ausgangslage: Russlanddeutsche Sprachinseldialekte als historische Varietäten des Deutschen 2. Ein soziolinguistisches Modell der Re-Migration 3. Sprachbeispiele zum Dialektwandel 4. Zusammenfassung und Ausblick 5. Zitierte Literatur
1. Ausgangslage: Russlanddeutsche Dialekte als historische Varietäten des Deutschen Unter „Russlanddeutsch“ sind im vorliegenden Beitrag dialektale Varietäten des Deutschen zu verstehen, die mehr als zwei Jahrhunderte in den zahlreichen deutschen Sprachinseln der ehemaligen Sowjetunion existierten und die vor ca. zwei Jahrzehnten in einer mehr oder weniger blitzartigen Auswanderungsaktion der Sprecher nach Deutschland transportiert wurden. Infolge dieser intensiven Auswanderungswelle1 hat die gesamte deutsche Sprachinsellandschaft im Ural, in West- und Ostsibirien, Mittelasien und im Fernen Osten so gut wie aufgehört zu existieren. Somit verwandelten sich die dort ursprünglich gesprochenen Sprachinseldialekte in historische, nicht mehr existierende Varietäten des Deutschen. Nach der Migration verändert sich die soziolinguistische Situation der Dialekte und der russlanddeutschen Sprachgemeinschaft grundsätzlich. Im Beitrag soll die Frage untersucht werden, ob die äußeren Veränderungen, in denen das Russlanddeutsche in den letzten zwanzig Jahren existierte, Auswirkungen auf die linguistische Struktur und den Gebrauch der Dialekte in Deutschland hatten. Die folgenden Ausführungen basieren auf ersten Ergebnissen einer Longitudinalstudie, die zurzeit im Institut für deutsche Sprache (Mannheim) durchgeführt wird.2
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Ausführliche Angaben zu den Einwanderungszahlen aus der ehemaligen Sowjetunion vgl. Migrationsbericht 2009 (vgl. das Verzeichnis der zitierten Literatur). Das IDS-Forschungsprojekt „Migrationslinguistik“ ist in der Abteilung Pragmatik angesiedelt. Angaben s. unter http://www.ids-mannheim.de.
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Zunächst werden kurz die Existenzbedingungen (Hauptverbreitungsgebiete, Mobilität) und Besonderheiten als Sprachinseldialekte in Russland skizziert (Abschnitt 1). Danach sollen im Abschnitt 2 die Eckpunkte der Migrationskonfiguration (Re-Migration) und die neue Sprachkontaktsituation des Russlanddeutschen in Deutschland dargestellt werden. Im Abschnitt 3 werde ich Sprachwandelphänomene untersuchen, die sich infolge der Migration einstellen. Der Fokus wird dabei nicht so sehr auf den Sprechern liegen, sondern es werden die Sprach- und Dialektwandeleffekte und Phänomene in Bezug auf und aus der Perspektive des Russlanddeutschen als linguistischer Varietät untersucht. Zu den historischen Varietäten des Russlanddeutschen gehören Dialekte von mindestens sieben Typen, die bis 1990 existierten: Pfälzisch, Hessisch, Südfränkisch, Schwäbisch, Nordbairisch, „Wolhyniendeutsch“ (ostmitteldeutsch) und Niederdeutsch (vgl. Berend 2011a). Neben diesen mehr oder weniger klar ausgeprägten Dialekttypen, die seit der Einwanderungszeit ab Ende des 18. Jahrhunderts in Russland besonders in Sprachinseln existierten, gab es in Russland/der ehemaligen Sowjetunion auch weitere, z. T. gemischte Dialekte, die sich vor allem in der Diaspora entwickelten (Jedig 1986). Vom Zeitpunkt der Einwanderung nach Russland am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts existierten diese Dialekte schwerpunktmäßig im europäischen Teil Russlands in dialektal homogenen, abgeschlossenen Sprachinseln bzw. Sprachinselregionen, vor allem in der Wolgaregion (Zentralrussland), der südlichen Ukraine, im Schwarzmeergebiet, Kaukasus und auf der Krim. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Situation grundsätzlich verändert. Die Hauptverbreitungsgebiete der russlanddeutschen Dialekte befanden sich jetzt in Sibirien (West- und Ostsibirien, Ferner Osten), Kasachstan und Mittelasien (Kirgisien, Tadschikistan). Trotz der veränderten Situation gab es im östlichen Teil des Landes bis 1990 noch viele intakte Sprachinseln, in denen ein russlanddeutscher Dialekt das Hauptmittel der sprachlichen Alltagskommunikation war. Um 1990 begann dann der Auflösungsprozess der Sprachinseln durch die Abwanderung der Sprecher nach Deutschland. Der intensive Prozess der Auswanderung führte diesmal zur „Stilllegung“ der Sprachinseln im östlichen Teil der ehemaligen Sowjetunion. Es gibt kaum noch deutsche Sprachinseln in Russland. Die Dialekte haben eine neue sprachgeschichtliche Periode eingeschlagen und existieren seit nunmehr zwanzig Jahren in Deutschland. Zwei Eigenschaften, die für alle russlanddeutschen Dialekte in Russland typisch sind, haben in der jüngsten Sprachgeschichte dieser Dialekte eine entscheidende Rolle gespielt. Das ist erstens die Tatsache, dass es sich um Sprachinseldialekte handelt, d. h. um sogenannte „dachlose Mundarten“. Kloss (1976, 317) hat zum ersten Mal die Sprachinseldialekte als solche betrachtet. Er schreibt: „[…] Darunter sind Dialekte zu verstehen, deren Sprecher in ihren Volksschulen nicht die ihrem Dialekt linguistisch zugeordnete, gleichzeitig aber in einem anderen Lande, dem „Kernland“ der Sprachgemeinschaft, als Amts- und Schulsprache verwendete Hochsprache zu erlernen Gelegenheit haben, so dass diese Mundarten gleichsam ohne das schützende Dach dieser
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Hochsprache bleiben und somit den Einwirkungen einer unverwandten Hochsprache stärker ausgesetzt sind als ihre „überdachten“ Schwestermundarten.“
Da das Hochdeutsche bzw. Standarddeutsche in den russlanddeutschen Sprachinseln nicht als „Überdachungssprache“ existierte, hat es auch keinen Einfluss auf die Dialekte ausüben können, wie dies z. B. im innerdeutschen Sprachkontaktverhältnis zwischen den einheimischen Dialekten und der deutschen Standardsprache der Fall war. Die daraus resultierende Konsequenz für die Dialekte ist, dass seit ihrer getrennten Entwicklung außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraums keine strukturelle Annäherung an die Standardsprache erfolgt ist. Das hat verschiedene Folgen, unter anderem dass z. B. keine Variation auf vertikaler Ebene existierte, d. h., dass es sich praktisch um ursprüngliche Basisdialekte ohne ein nennenswertes Spektrum der Standard/DialektVariation handelt. Vom Gesichtspunkt der Sprecher betrachtet, handelt es sich dann um „nur Dialektsprecher“ („pure dialect speaker“), deren deutsches Repertoire eindimensional ist und sich nur am dialektalen Pol des Standard/Dialekt-Kontinuums befindet. Im Einwanderungsland Deutschland gehören solche Sprechertypen laut Auer (2000, 16) eindeutig der Vergangenheit an: „[…] It is quite likely that there is scarcely one speaker of German today who does not have several ways of speaking at his or her disposal which can be characterized according to their proximity to standard or dialect. The pure dialect speaker (in sociological terms typically the immobile villager employed in traditional branches of the economy such as farming, fishing or viniculture) is a thing of the past.“
Die zweite Eigenschaft, die allen russlanddeutschen Dialekten eigen ist, ist der fremdsprachige, d. h. hier der russische Einfluss, der sich in den Dialekten findet. Das Russische war die Umgebungssprache sowie die Kontaktsprache (nach Kloss 1976 die „unverwandte Hochsprache“, vgl. Zitat oben), die auch die Rolle der Überdachungssprache übernommen hatte. Sowie das Hoch- bzw. Standarddeutsche im deutschsprachigen Raum die Einflusssprache für die Basisdialekte war, so war dies der Fall mit dem Russischen für die Sprachinseldialekte. Es ist hier nicht das Ziel, auf die Details der genannten beiden Eigenschaften der russlanddeutschen Basisdialekte einzugehen. Für die Zwecke des vorliegenden Beitrages ist es wichtig festzuhalten, dass die beiden typischen linguistischen Eigenschaften dieser Sprachinseldialekte für ihre Sprecher gerade nach der Umsiedlung nach Deutschland eine relevante Bedeutung bekommen. Wie oben ausgeführt wurde, verfügen die russlanddeutschen Sprecher, die bei der Einreise nach Deutschland als „Deutsch“ einen Sprachinseldialekt sprechen, nicht über die Kompetenz einer „inneren Mehrsprachigkeit“.3 Praktisch bedeutet das, dass Sprecher nicht aus dem Dialekt ins Hochdeutsche bzw. in eine regionale Umgangssprache wechseln können, wie das in allen Regionen des deutschsprachigen Raumes üblich ist, sondern dann häufig ins Russische wechseln. Der Basisdialekt ist bei diesen Sprechern die einzige deutsche Varietät ihres Sprachre3
Zum Begriff der inneren Mehrsprachigkeit vgl. z. B. Roche (2006).
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$ina Berend
pertoires, dazu verfügen sie noch über Kenntnisse einer „Fremdsprache“. Es handelt sich also nicht um „innere“, sondern um „äußere“ Mehrsprachigkeit und entsprechend auch um „mehrsprachige“ (deutsch-russische) Variation, in die die hier untersuchen Sprachinseldialekte in der gesamten sprachgeschichtlichen Periode über 200 Jahre hinweg eingebunden waren.
2. Ein soziolinguistisches Modell der Re-Migration Im Unterschied zur soziolinguistischen Situation der Zweisprachigkeit und Diglossie, die die Sprachgeschichte des Russlanddeutschen besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte (Jedig 1986), befinden sich die russlanddeutschen Dialekte in den letzten zwanzig Jahren ihrer Geschichte in einer mehr oder weniger einsprachigdeutsch geprägten Kommunikationsgemeinschaft. Anders als bei „regulären“ Migranten (z. B. Italiener, Türken, Araber u. a.) verläuft die sprachliche Akkommodation bzw. Integration in die neue Sprachgesellschaft bei den Russlanddeutschen komplexer und ist von mehreren, zum Teil sich überlappenden Faktoren beeinflusst. Dieser Prozess soll hier nicht in seiner gesamten Komplexität entworfen werden, sondern es soll anhand des Modells (Abb. 1) die spezifische Situation des russlanddeutschen Dialekts und seine Verortung bzw. Eingebundenheit in den Prozess der Re-Migration untersucht werden. Damit soll die spezifische Migrationskonfiguration verdeutlicht werden, in der sich die Dialektwandelprozesse des Russlanddeutschen in Deutschland in der jüngsten Sprachgeschichte abspielten, und es soll gezeigt werden, welche Faktoren die Entwicklung beeinflussten. Die Abbildung zeigt die Sprach- und Varietätenkonstellation bei russlanddeutschen Dialektsprechern vor und nach der Migration. Der linke Block stellt die Situation im Herkunftsland dar, der rechte veranschaulicht die Situation in Deutschland. Im Herkunftsland herrschte bereits deutsch-russische (bzw. russisch-deutsche) Mehrsprachigkeit: Das Russische (I) beherrscht die Formalitätsdomäne und ist die „Überdachungssprache“. Das Russlanddeutsche (II) wird durch das Russische überdacht und auf die informelle, familiäre ingroup-Domäne beschränkt. Hier liegt eine Mehrsprachigkeitsund Diglossiesituation vor, wie sie häufig für Gebiete mit Dialekt als Minderheitensprache in Osteuropa und Russland typisch ist (Eichinger/Plewnia/Riehl 2008). Im Einwanderungsland Deutschland übernimmt die deutsche Standardsprache die Funktion der Überdachungssprache und der Sprache der öffentlich-formellen Kommunikation. Die mitgebrachte Herkunftssprache Russisch (I) wird in den inoffiziellen, informellen und familiären ingroup-Kommunikationsbereich verschoben (auf der Abbildung durch den Pfeil markiert). Soweit ist die Situation nicht untypisch und mit den Prozessen bei den „regulären“ Migrationskonstellationen durchaus vergleichbar, wenn herkömmliche Migrantensprachen ihre Funktionen einbüßen und auf wenige Domänen
Migration und Dialektwandel
613
(z. B. den Familienkontext) beschränkt werden. Nur in Bezug auf die uns hier besonders interessierende Varietät „Russlanddeutsch“ liegen gravierende Unterschiede vor, die auf den Faktor Re-Migration (Currle 2006) zurückzuführen sind. Um die Spezifik zu verdeutlichen, ist hier ein Vergleich z. B. zu italienischen Migranten in Deutschland nützlich (vgl. dazu Krefeld 2004). Viele Italiener der ersten Generation sprachen bei der Einwanderung nach Deutschland einen sizilianischen Dialekt, den sie auch in Deutschland für die ingroup-Kommunikation weiterhin beibehalten haben. Diese Migrantendialekte sind im Einwanderungsland Deutschland jedoch innerhalb des ingroup-Sprachgebrauchs geblieben und nicht in den Bereich der outgroup-Kommunikation mit Einheimischen transportiert worden. Ganz anders bei den russlanddeutschen Dialekten.
STANDARDRUSSISCH
o u t g r o u p i n g r o u p
STANDARDDEUTSCH
I Russisch
Reg. Standard Regionalsprache Umgangssprache Lokaldialekt
II B Russland-
II deutsch Russlanddeutsch
II A
Russisch
o u t g r o u p i n g r o u p
Abb. 1: Veränderungen in der Disposition der deutschen Dialekte und russischen Sprache in Russland/Sowjetunion und Deutschland (vor und nach der Re-Migration)
Obwohl es sich ja hier auch nur um ingroup-Varietäten handelt, die im Herkunftsland ausschließlich im familiären Kontext Anwendung fanden, haben die russlanddeutschen Dialekte in Deutschland eine ganz andere soziolinguistische Situation. Einerseits bleiben sie im engen familiären Bereich und in der ingroup-Situation als Kommunikationsmittel erhalten. Dieser Bereich ist auf Abb. 1 als II A gekennzeichnet: Hier handelt es sich um die ingroup-Kommunikation (Familie, Verwandte und Angehörige der russlanddeutschen Minderheit bzw. Migrantengruppe in Deutschland, die noch Dialekt sprechen). Gleichzeitig jedoch sind die russlanddeutschen Herkunftsdialekte – als deutsche Varietäten – der deutschen Standardsprache als Überdachungssprache zugeordnet (und werden somit aus der ingroup- in die outgroup- Domäne transportiert. Dieser Bereich ist mit II B dargestellt. Die Konsequenz daraus ist, dass die russlanddeutschen Herkunftsdialekte (anders als das erwähnte Beispiel des Sizilianischen der italienischen
614
$ina Berend
Migranten) in Deutschland eine Funktions- und Domänenerweiterung erleben. Die klare Trennungslinie, die bei der diglossischen Situation in Russland vorlag, wird jetzt aufgegeben. Das Russlanddeutsche gerät unter unmittelbaren Kontakt der überdachenden Standardsprache einerseits und der unterschiedlichen Lokalvarietäten des Deutschen andererseits (nach unten und nach links gerichtete Pfeile). Es wird die wichtigste, auf den Faktor Re-Migration zurückgehende Spezifik deutlich: die spiegelbildliche „Umdrehung“ der Zweisprachigkeitssituation in Deutschland mit weitgehenden soziolinguistischen Konsequenzen für beide Herkunftsvarietäten. Das Russlanddeutsche zieht unter das Dach („under the roof“, vgl. Auer 2007, 111) der Standardsprache ein und wird aus der Rolle der Minderheitensprache in Russland jetzt in die neue Domäne der Mehrheitssprache verschoben. Das Russische büßt seine Funktion als Überdachungssprache ein und wird zu einer durch das Standarddeutsche überdachte Sprache.4 Es wird aus der outgroup- in den ingroup-Kommunikationsbereich verschoben, wo es sich mit dem dort bereits fest verankerten russlanddeutschen Dialekt trifft. Beide Varietäten – das Russische und der russlanddeutsche Dialekt – teilen sich nun diese Domäne. Im folgenden Abschnitt werden einige Sprachbeispiele diskutiert, die die spezifischen, im Modell dargestellten Prozesse des Dialektwandels veranschaulichen.
3. Sprachbeispiele zum Dialektwandel des Russlanddeutschen 3.1. Standardkonvergenz: Von äußerer zur inneren Mehrsprachigkeit Die wichtigste Veränderung, die das Russlanddeutsche nach der Re-Migration erfuhr, könnte zunächst als „Entwicklung von äußerer zur inneren Mehrsprachigkeit“ bezeichnet werden. Wie oben ausgeführt, handelt es sich im Unterschied zur äußeren Mehrsprachigkeit, bei der zwei oder mehrere Sprachen involviert sind, bei der inneren Mehrsprachigkeit um den Kontakt zwischen verschiedenen Varietäten im Rahmen einer Sprache. Im Herkunftsland stand das Russlanddeutsche über Jahrhunderte im Kontakt zum Russischen, und es entwickelte sich die mehrsprachige Variation, bei der zwei Sprachen abwechselnd bzw. gleichzeitig gebraucht werden und zwischen ihnen variiert wird. Dagegen fehlte in der Sprachgeschichte des Russlanddeutschen die Dimension der Standard/ Dialekt-Variation, bei der dialektale und standardsprachliche Varianten nebeneinander bzw. abwechselnd gebraucht werden. Ein Standard/Dialekt-Kontinuum, wie es beson-
4
Daraus ergeben sich für die Existenz des Russischen in Deutschland gravierende Konsequenzen für seinen Status, Gebrauch und linguistische Entwicklung (zum Russischen in Deutschland vgl. Brehmer 2007; Anstatt 2008). Die Veränderungen des Russischen als Migrantensprache kann hier aus Platzgründen nicht behandelt werden.
Migration und Dialektwandel
615
ders im südlichen Teil des deutschsprachigen Raums vorliegt, konnte sich daher im russlanddeutschen Sprachinselraum nicht entwickeln. Eine unmittelbare Folge der Rückkehr der dachlosen Außenmundarten unter das Dach der Standardsprache ist der Kontakt zwischen den beiden Varietäten, dem russlanddeutschen Dialekt und der deutschen Standardsprache. Welche linguistischen Folgen das hat und welche kontaktbedingten Veränderungen auf den Dialekt zukommen, wird zurzeit im Forschungsprojekt „Migrationslinguistik“ im Institut für Deutsche Sprache (Mannheim) untersucht.5 Konkret wird der Gebrauch von 14 Laut- und 8 Wortvariablen bei den russlanddeutschen Dialektsprechern in der ingroup-Kommunikation im Jahr 1992 und 2010 verglichen. Die ersten Auswertungen der Sprachdaten zeigen, dass der Gebrauch des russlanddeutschen Herkunftsdialekts in Bezug auf diese Variablen bei allen untersuchten Sprechern in den anderthalb Jahrzehnten des Aufenthalts in Deutschland etwas zurückging. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Entwicklung des Dialektanteils bei einer Sprecherin. In der linken Spalte sind die untersuchten Laut- und Wortvariablen aufgeführt, wobei zunächst jeweils die standardsprachliche und danach die dialektale Variante angegeben wird. Für jede Lautvariable steht ein lexikalisches Beispiel (in vereinfachter Transkription). Die beiden Spalten mit prozentualen Anteil der entsprechenden Dialektvarianten sind jeweils grau unterlegt; die Differenz zwischen dem prozentualen Anteil der entsprechenden Dialektvariante im Jahr 1992 und nach 18 Jahren, im Jahr 2010, ist in der rechten Spalte angegeben.
5
Vgl. Anmerkung 2. Eine Publikation zu Ergebnissen des Projekts ist in Vorbereitung. Zum Projektdesign und ersten Beobachtungen vgl. Berend (2011b) und Berend (i. Dr.).
616
$ina Berend Variable
1992 Dialektanteil
∑
abs.
/nd/–/nn/
74
72
97,3%
91
86
94,5%
-2,8%
/st/–/št/
45
45
100,0%
99
80
80,8%
-19,2%
/g–/ch/
26
25
96,2%
49
38
77,6%
-18,6%
/b/–/w/
68
67
98,5%
64
58
90,6%
-7,9%
/ö/–/e/
29
28
96,6%
48
42
87,5%
-9,1%
/ü/–/i/
67
62
92,5%
67
54
80,6%
-11,9%
/eu, äu/–/ei/
63
61
96,8%
41
16
39,0%
-57,8%
/ei/–/e/
49
44
89,8%
88
81
85,7%
-4,1%
/au/–/a/
51
42
82,4%
154
122
79,2%
-1,6%
/ge-/–/g-/
264
258
97,7%
292
261
89,4%
-8,3%
/-e/–/ø/
126
106
84,1%
173
144
83,2%
-0,9%
/-n/–/ø/
573
560
97,7%
588
569
96,8%
-0,9%
/a/–/o/
196
106
54,1%
405
219
54,1%
0,0%
/o/–/u/
81
80
98,8%
87
79
90,8%
-8,0%
/aber/ – /awwer/
12
12
100,0%
45
45
100,0%
0,0%
/auf/ – /uff/
39
37
94,9%
52
49
94,2%
-0,7%
/denn/ – /dann/
3
3
100,0%
18
17
94,4%
-5,6%
/eine/ – /e, eeni/
23
20
87,0%
26
18
69,2%
-17,8%
/nein/ – /nee/
9
9
100,0%
6
6
100,0%
0,0%
/nicht/ – /net/
100
98
98,0%
119
115
96,6%
-1,4%
15
15
100,0%
58
57
98,3%
-1,7%
199
197
99,0%
117
117
100,0%
+1,0%
2112 1947
92,2%
2687
2273
/wir/ – /mir/
Mittelwert (%)
93,7%
abs.
abs.
Differenz
abs.
/wenn/ – /wann/
%
2010 Dialektanteil
∑
%
84,6%
-7,6%
85,6%
-8,1%
Tab 1: Übersicht über die Entwicklung des Dialektanteils bei 22 Variablen und die Veränderung des Mittelwerts von 1992 bis 2010 in den Sprachdaten der Sprecherin H in Deutschland
Migration und Dialektwandel
617
Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass bei allen untersuchten Variablen (mit Ausnahme von /wir/ und /aber/ sowie der Variable /nein/ im Jahr 2010 ein Rückgang des Dialektanteils stattgefunden hat. Es zeigt sich zudem, dass der Rückgang des Gebrauchs der untersuchten Variablen nicht gleichmäßig ist und dass die verschiedenen Dialektvarianten zu einem unterschiedlichen Grad reduziert wurden. Am stärksten ging der Dialektanteil bei der Variable Entrundung /eu, äu/–/ei/ zurück: Die entrundete Variante reduzierte sich um 57,8 Prozent (von 96,8 in 1992 auf 39,0 Prozent in 2010). Diese Variable zeigt den mit Abstand größten Rückgang des Dialektanteils im Vergleich zu anderen Variablen und auch zu beiden anderen Entrundungsvariablen /ö/–/e/ und /ü/–/i/, bei denen der Anteil der Dialektvariante nur um jeweils 9,1 und 11,9 Prozent zurückgegangen ist. Die geringste Veränderung des Dialektanteils zeigen die Daten bei den Variablen eund n-Apokope: Die Reduzierung der Dialektvariante liegt hier jeweils unter einem Prozent (0,9 Prozent). Die Frage der unterschiedlichen Reduzierung des Gebrauchs von Dialektvarianten ist natürlich besonders aus variationslinguistischer Perspektive interessant. Der starke bzw. weniger starke Rückgang des Dialektanteils im Gebrauch ist Gegenstand von variationslinguistischen Untersuchungen im Rahmen des oben erwähnten Projekts. Im vorliegenden Beitrag soll dieser Aspekt nicht weiter diskutiert werden. Wichtig ist zunächst einmal festzuhalten, dass der Mittelwert des Rückgangs des Gebrauchs von dialektalen Merkmalen bei der Beispielsprecherin 8,1 Prozent ausmacht. Das bedeutet, dass in der dialektal geprägten Sprache der Sprecherin H bereits zu 8,1 Prozent standardsprachliche Varianten erscheinen. Anhand der in der Tabelle dargestellten Daten lassen sich erste Schlussfolgerungen über die bei der Sprecherin H ablaufenden Prozesse des Dialektwandels und der daraus folgenden Konsequenzen ziehen. Sie können wie folgt zusammengefasst werden: 1) Da im Dialekt mehrere standardsprachliche Varianten erscheinen, wird die Distanz zwischen dem Russlanddeutschen und der Standardsprache reduziert und der potentielle Variationsraum zwischen den beiden Formen wird enger. 2) Da die Dialektvarianten nicht vollständig, sondern nur zu einem gewissen Teil aufgegeben werden, koexistieren die dialektalen und standardsprachlichen Varianten. 3) Durch die Verwendung von alten (russlanddeutschen) und neuen (standardsprachlichen) Formen nebeneinander entsteht Variation. 4) Das Repertoire der Sprecherin wird pluralistischer, d. h., es wird angereichert durch das Erscheinen von Varianten unterschiedlicher Provenienz.
Es ist wichtig zu unterstreichen, dass die in der Tabelle 1 dargestellten Ergebnisse den Sprachgebrauch in der ingroup-Kommunikation darstellen. Das heißt, bereits in der Kommunikation untereinander wird der erste Schritt in Richtung „innere“ Mehrsprachigkeit eingeleitet. Im Folgenden wird an einigen Beispielen untersucht, wie sich die aufgezählten Veränderungen in den konkreten linguistischen Strukturen niederschlagen. Die auffälligste Veränderung bezieht sich auf die standardsprachlich-dialektalen phonologischen Ent-
618
$ina Berend
sprechungen („Korrespondenzregeln“, siehe Auer 1990). Beispiele für die untersuchten Dialektphänomene sind in der Tabelle 1 aufgezählt (Entrundungen, Monophthongierungen, Spirantisierungen, Assimilation, u. a.). Durch die Akkommodation an den Standard werden diese Prozesse rückgängig gemacht bzw. nicht durchgeführt. Je nachdem, ob die Akkommodation vollständig bzw. nur zum Teil durchgeführt wird, bekommen „alte“ (d. h. typische, im russlanddeutschen Dialekt verbreitete) Dialektwörter eine vollständige oder teilweise neue (standardsprachliche) Lautung. Einige Beispiele für eine vollständige Angleichung an die standardsprachliche Aussprache (hier nur eine kleine Auswahl): Küche statt dial. Kich (kein entrundeter Vokal, keine e-Apokope) billige statt dial. billiche (keine intervokalische g-Spirantisierung) über statt dial. iwwe (kein entrundeter Vokal, keine intervokalische b-Spirantisierung) Auge statt dial. Aache (keine g-Spirantisierung, Diphthong au statt Monophthong a) nachgefragt statt dial. nochgfrocht (keine a-Verdumpfung, keine g-Spirantisierung) Samstag statt Samschtach (keine finale g-Spirantisierung, keine s-Palatalisierung vor -t)
Bei der nur teilweisen Anpassung entstehen Varianten, die weder als Dialekt- noch als Standardlexeme zu betrachten sind. Beispiele für eine teilweise Konvergenz an die Standardsprache sind: abgewwen für Inf. „abgeben“ (dial. abgewwe) – Abbau (bzw. Unterlassung) der n-Apokope (aber: Erhalt der b-Spirantisierung), gesehe für Part.II „gesehen“ (dial. gsehe) – Abbau der e-Synkope (Erhalt der n-Apokope), müsste für Part. II „müssten“ (dial. misste) – Abbau der Entrundung (Erhalt der n-Apokope), verkauf für die 1.P.Sg „verkaufe“ (dial. verkaaf) – Abbau der Monophthongierung (Erhalt der e-Apokope).
Die Dialekt- und Standardvarianten sowie die entstandenen Mischvarianten werden in der Sprachpraxis häufig nebeneinander, z. B. unmittelbar in einer Äußerung wie in (1) verwendet. Das Beispiel veranschaulicht den Einsatz der Variable ge- (Partizip Perfekt): die nicht synkopierte Standardvariante im Wort geholt erscheint neben der synkopierten russlanddeutschen Variante gholt (e-Synkope) in einem Satz: (1)
[…] und no haw ich eemol | haw ich ee zeitlang gehat | no hat er ihn wieder geholt und dann hat er ihn wieder | wie re | han ich ihn gholt jetzt wie re gstorwe ist ‚und dann habe ich einmal habe ich eine Zeitlang gehabt, dann hat er ihn wieder geholt und dann hat er – wie er – habe ich ihn geholt jetzt wie er gestorben ist‘ [GD/HaRo/MK/2010=AV]
Eine weitere Gebrauchsregel besteht im Ersatz von russlanddeutschen durch standardsprachliche bzw. durch Mischvarianten. Im Beispiel (2) wird veranschaulicht, wie eine russlanddeutsche Probandin während eines Gesprächs mit ihrer Tante, ebenfalls einer
Migration und Dialektwandel
619
Dialektsprecherin, die Lexeme Schtroos und kleene durch Entsprechungen mit hochdeutscher Lautung Straße und kleinen ersetzt: (2)
[…] si me noch zum serjoscha gfahre zu meim kleine | der wohnt uff unse straße ‚sind wir noch zum Serjoscha gefahren, zu meinem Kleinen, der wohnt auf unserer Straße‘ [GD/HaRo/MK/2010=AV]
Die ersten Ergebnisse zeigen somit, dass die russlanddeutschen Dialekte in Deutschland in der jüngsten Zeit einem neuartigen Wandel ausgesetzt waren, der sich in der Anpassung der dialektalen an die standardsprachliche Lautung äußert. Es handelt sich um das Phänomen der „Überführung“ von Dialektformen in ihre standardsprachlichen Lautentsprechungen, das bei allen untersuchten Sprechern der russlanddeutschen Dialekte in Deutschland festgestellt werden konnte. Es hat zur Folge, dass das Russlanddeutsche statt der anfänglichen Homogenität als Basisdialekt nach anderthalb Jahrzehnten der Existenz in Deutschland Variabilitätszüge auf der Lautebene aufweist. Auch im Wortschatz sind in der untersuchten Zeitperiode massive Veränderungen in Richtung Standardsprache aufgetreten, die allerdings in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht besprochen werden können. Die dokumentierten Veränderungen sind unmittelbar auf die Auswirkungen der standardsprachlichen (mündlichen und schriftlichen) Überdachung durch das Hochdeutsche zurückzuführen, wie im Modell (Abb. 1) dargestellt.
3.2. Interdialektale Variation: Vom Sprachinseldialekt zu binnendeutschen Regionaldialekten Neben der Standardkonvergenz waren die russlanddeutschen Dialekte in Deutschland in ihrer jüngsten Geschichte einem weiteren wichtigen Veränderungsprozess ausgesetzt, und zwar dem Phänomen der interdialektalen Akkommodation. Dabei handelt es sich um den Einfluss der neuen Umgebungsdialekte in Deutschland, mit denen das Russlanddeutsche in intensiven Kontakt kommt. Diese interessante Frage der Interaktion der Herkunftsdialekte der Aussiedler und der binnendeutschen Lokaldialekte der Aufnahmeregion ist leider bisher nicht untersucht worden. Im Rahmen des oben genannten Projekts wurden die interdialektalen Kontakte zwischen dem russlanddeutschen Herkunftsdialekt westpfälzisch-südfränkischer Provenienz und den entsprechenden rheinund moselfränkischen saarländischen Dialekten untersucht (zum Saarländischen vgl. Bellmann/Herrgen/Schmidt 1994–2002). Es konnte festgestellt werden, dass neben der Standardkonvergenz auch intensive Akkommodation an die lokalen Dialekte stattfindet und dass das Russlanddeutsche einige Sprachformen des Saarländischen aufnimmt. Bei allen untersuchten Sprechern konnte der Einfluss des Saarländischen nachgewiesen werden. Da es sich beim Russlanddeutschen um relativ homogene basisdialektale, variationslose Sprachvarietäten handelt, führen die Dialektkontakte auch hier zur Entstehung von Variation, d. h. zur abwechselnden Verwendung von russlanddeutschen und saarländischen Varianten. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Darstellung eini-
620
$ina Berend
ger Beispiele, die besonders erwähnenswert sind, da sie relativ häufig und bei verschiedenen Sprechern Eingang in das Russlanddeutsche finden. Eine sehr verbreitete Variante ist z. B. das Hilfsverb haben, das sowohl in der Singular- als auch in der Pluralform und im Infinitiv in saarländischer Form erscheint und vergleichsweise häufig in den Sprachdaten belegt ist. Ähnlich wie im Abschnitt 3.1 für die Standardkonvergenz beobachtet, stehen hier im Beispiel (3) die beiden regionalen Formen von „habe ich“ (saarl. han ich und russldt. haw ich) in einer Äußerung nebeneinander. (3)
[…] no han ich ihr geschrieben sie soll mol e photo von unsem haus mache haw ich gsagt welches haus is es „dann habe ich geschrieben, sie soll mal ein Photo von unserem Haus machen, habe ich gesagt, welches Haus ist es [es ist]“ [GD/ObLy/FK/2010=AV]
Auch die Form han (1., 3. P. Pl. „die haben“) wird häufig statt des russlanddeutschen hen gebraucht, so dass auch hier die Ersatzstrategie eingesetzt wird, wie oben für die Standardkonvergenz beschrieben (Beispiele 4 und 5). (4)
[…] die han immer so schene blume gehat gell? „die haben immer so schöne Blumen gehabt, gell?“ [GD/ObLy/FK/2010=AV]
(5)
[…] der *kommod kommt jetzt weg ich han me n neue *schkaff […] „die Kommode kommt jetzt weg, ich habe mir einen neuen Schrank (gekauft)“ [GD/ObLy/FK/2010= AV]
Eine weitere bei den Sprechern des Russlanddeutschen „populäre“ Saarlandvariante ist das „endungslose“ Partizip Perfekt, eine für die Varietäten der saarländischen Region sehr verbreitete Form. Diese Variante ist auch in der ingroup-Kommunikation der Dialektsprecher belegt, in den Beispielen (7) und (8) mit den Verben anrufen und werden: (7)
[…] dann hat sie dreimol angeruf joo ‚dann hat sie dreimal angerufen, ja‘ [GD/ObLy/ FK/2010=AV]
(8)
[…] awe tanja ist ganz ganz schenes hübsches mädje gworr ‚aber Tanja ist ein ganz ganz schönes hübsches Mädchen geworden‘ [GD/ObLy/FK/2010=AV]
Die bisher durchgeführten Untersuchungen zeigen, dass diese Variante vor allem in der Kommunikation mit einheimischen Dialektsprechern und mit Sprechern der Standardsprache verwendet wird. Aber auch im Dialektgespräch in der ingroup-Situation ist diese Variante belegt. Die Graphik (Abb. 2) zeigt ein Beispiel des Gebrauchs des endungslosen Partizip Perfekt in den drei untersuchten Situationstypen durch die russlanddeutsche Sprecherin H. Dargestellt ist der Gebrauch von endungslosen Partizipformen wie: abgeriss, angefang / angfang, angeruf, gemach (angemach / aufgemach / ausgemach / freigemach / reingemach / hingemach), gefahr/gfahr (hochgefahr / mitgefahr), geholf, glee (gelegen), genomm / zugenomm, gschtann (gestanden), geschtorb, gewoo (gewogen) u. a. Wie die Beispiele zeigen, kann dabei das „endungslose“ Partizip in Kombination mit der e-Synkope im Präfix ge- (wie im Russlanddeutschen) bzw. ohne e-Synkope wie im Saarländischen auftreten. Die Frequenz des endungslosen Par-
Migration und Dialektwandel
621
Gebrauch der endungslosen Partizipien (%)
tizip beträgt in der Aufnahmesituation outgroup-Gespräch 19,4 Prozent und im Standardinterview 22,2 Prozent. Aber auch in der ingroup-Situation ist diese saarländische Variante bereits vertreten (immerhin 2,8 Prozent aller belegten Partizipien). 25% 20% 15%
ingroup outgroup Interview
10% 5% 0% 1992-93
2009-10
Zeitphasen der Sprachaufnahmen
Abb. 2.: Entwicklung des Gebrauchs von endungslosen Partizipien in den Daten der Sprecherin H in den zwei Aufnahmephasen
Und schließlich muss noch die saarländische Variante gehat erwähnt werden (die dialektale Entsprechung im Russlanddeutschen ist ghat). Auch diese ist in den Sprachdaten einzelner russlanddeutscher Probanden häufig belegt (Beispiel 9, vgl. auch Beispiel 1 oben). (9)
[…] die han immer so schene blume gehat gell? ‚die haben immer so schöne Blumen gehabt, gell?‘ [GD/ObLy/FK/2010=AV]
3.3. Mehrsprachige Variation: Vom Russischen zum Deutschen In diesem Abschnitt soll schließlich noch eine Veränderung erläutert werden, die sich in der jüngsten Sprachgeschichte des Russlanddeutschen angebahnt hat. Diese Veränderung ist weniger auffällig. Es handelt sich um den Rückgang des russischen Anteils in den russlanddeutschen Dialekten. Die russlanddeutschen Dialekte existierten ca. zweieinhalb Jahrhunderte in Nachbarschaft mit dem Russischen bzw. waren als dachlose Außenmundarten durch das Russische überdacht, wie im Abschnitt 1 erörtert wurde. Es ist daher auch nicht überraschend, dass ihre Struktur durch das Russische stark beeinflusst ist. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, vor allem in russischer Sprache, die sich mit dem Einfluss des Russischen auf den verschiedenen Dialektebenen beschäftigen (vgl. Klassen 1969, Kirschner 1984, Blankenhorn 2003). In den letzten zwei Jahrzehnten jedoch setzte eine neue, entgegengesetzte Entwicklung ein: die Reduzierung des sprachkontaktbedingten Anteils des Russischen in diesen Dialekten. Dieser Prozess, der
622
$ina Berend
einerseits eine konvergente Entwicklung in Richtung Deutsch bedeutet, ist gleichzeitig in der anderen Richtung eine divergente Entwicklung, da die Struktur des Russlanddeutschen sich von den „Originaldialekten“ in der ehemaligen Sowjetunion durch die Reduktion des Russischen entfernt. Es ist vor allem lexikalischer Wandel, in dem sich diese Reduktion manifestiert. Die Sprecher selbst verdeutlichen häufig – bewusst oder unbewusst – diesen Vorgang, indem sie das russische Lexem mit einer Übersetzung ins Deutsche versehen wie im Beispiel (10): russ. бригадиры (‚brigadiry‘) – dt. Leiter. Auch hier ist somit die oben bereits erläuterte Vorgehensweise des parallelen Gebrauchs von alten und neuen Varianten feststellbar: (10) […] un dot wu die deitsche ware als brigadiry als leiter ‚und dort wo die Deutschen waren als Brigadiere als Leiter‘ [GD/HaRo/MK/2010=AV]
Bemerkenswert ist, dass das Beispiel (10) aus den Sprachdaten des Jahres 1992 stammt, d. h., dass der Prozess der Entwicklung von mehrsprachiger Variation zur einsprachigen unmittelbar nach der Einwanderung der Sprecherin (1991) eingesetzt hat. Es handelt sich dabei nicht um die Darstellung der Realien der neuen Umgebung, sondern es werden Ereignisse geschildert, die vor der Auswanderung nach Deutschland stattgefunden haben.6 In den meisten Fällen jedoch findet der Ersatz der russischen Lexeme durch deutsche ohne den Gebrauch der entsprechenden russischen Wörter wie im Beispiel (11). Die Lexeme Schlafzimmer und Wohnzimmer stehen hier für die entsprechenden Wörter russ. спальня (spaljnja) und russ. зал (sal), die beide als deutsche Wörter im russlanddeutschen Dialekt nicht existierten. (11) […] un mi hen unsre schlafzimmer ghat un des wohnzimmer des war aa groß | unt s hat uns sehr gefallen ‚und wir haben unser Schlafzimmer gehabt und das Wohnzimmer, das war auch groß, und es hat uns sehr gefallen‘ (GD/HaRo/KM//1992)
Der Prozess des Rückgangs des russischen Einflusses ist ein komplexer Vorgang, der von vielen Faktoren abhängig ist. Solche Faktoren sind vermutlich vor allem die Dialektkompetenz, die zweisprachige Kompetenz und die Strukturierung des individuellen Sprecherrepertoires. Je nach Strukturierung des Sprecherrepertoires wird sich dann der Übergang vom Russischen zum Deutschen vermutlich typischerweise unterschiedlich gestalten. Diese Fragen werden im Projekt „Migrationslinguistik“ untersucht (vgl. Anmerkung 2). Die dargestellten Daten lassen erste Schlussfolgerungen zu linguistischen Veränderungen der russlanddeutschen Dialekte in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland zu, die in drei Punkten zusammengefasst werden können. 6
Die Dialektsprecherin H war eine der Angehörigen der russlanddeutschen Minderheit in der ehemaligen Sowjetunion, die Ende der 1990er Jahre dem Versuch Jelzins gefolgt waren, eine neue wolgadeutsche Republik zu etablieren und zu diesem Zweck in diese Region aus Sibirien umgezogen ist. In diesem Gespräch schildert sie ihrer Mutter ihre Erinnerungen an diese Zeit (die Mutter der Sprecherin war in Sibirien zurückgeblieben und hatte keinen unmittelbaren Eindruck von dem Leben der Tochter in dieser Periode).
Migration und Dialektwandel
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1. Die russlanddeutschen Dialekte waren in jüngster Sprachgeschichte eindeutig einem Prozess der vertikalen Konvergenz ausgesetzt. Diese führte zur Entstehung und Verbreitung von zahlreichen standardkonvergenten Varianten im Wortschatz und in der Aussprache, die in der PräMigrationsphase nicht existierten. Der Prozess ist als indirekte Akkommodation der deutschen Herkunftsvarietät an die überdachende Standardsprache zu betrachten, wie sie auch für andere Migrantengruppen in Deutschland beobachtet wurden (Auer/Barden/Großkopf 1996). Durch die standarddeutsche Überdachung nähert sich das Russlanddeutsche in Deutschland somit der allgemeinen Situation der einheimischen bzw. binnendeutschen Dialekte und ihrer Sprecher, d. h. weg vom „pure dialect speaker“ (Auer 2000, 16) in Richtung von Standard/DialektVariation, Code-Shifting, Code-Switching u. a., wie sie derzeit für die deutschsprachigen und anderen europäischen Länder typisch sind (Auer/Hinskens/Kerswill 2006). 2. Neben der Standardkonvergenz ist auch die Konvergenz an den Regionaldialekt des Saarländischen festgestellt worden, d. h. die direkte Akkommodation (Auer/Barden/Großkopf 1996). Auch hier nimmt die Entwicklung des Russlanddeutschen Züge der varietätenlinguistischen Konstellation des aufnehmenden deutschsprachigen Raums auf und nähert sich den zurzeit im deutschsprachigen Raum ablaufenden Prozessen der horizontalen Konvergenz an. Dies ist ein bedeutender Unterschied im Vergleich zu der Anfangsphase der Existenz der russlanddeutschen Dialekte in Deutschland. (Während der ersten Aufnahmephase wurde nur „Verhochdeutschung“ des Russlanddeutschen festgestellt, s. Berend 1998.) 3. Neben diesen allgemeinen Parallelitäten der Entwicklung lassen sich auch gewisse remigrationsbedingte Konturen abzeichnen, die durch die spezifischen, sich zum Teil überlappenden varietäten- und sprachkontaktlinguistischen Phänomene bedingt sind. Nach 20 Jahren Entwicklung in Deutschland koexistieren im russlanddeutschen Repertoire, wie wir gesehen haben, Sprachvarianten von mindestens drei deutschsprachigen Varietäten (Russlanddeutsch, Saarländisch, Standarddeutsch) und einer Fremdsprache – des Russischen. Migrationsspezifisch dürften die Wechselwirkungen zwischen Deutsch und Russisch beim Abbau von „alten“ und Übernahme von „neuen“ Varianten sein, die sich im Prozess des Wandels des Russlanddeutschen vollziehen. Es ist hier besonders der Faktor der zweisprachigen Variation relevant, die im russlanddeutschen Herkunftsdialekt in der ingroup-Kommunikation sehr präsent ist und auf deren Hintergrund die einsprachig-deutschen Konvergenz- und Divergenzprozesse ablaufen.
Abschließend soll noch ein Beispiel vorgestellt werden, das veranschaulicht, wie der russlanddeutsche Dialekt im Jahr 2010 in Deutschland funktioniert und wie die drei oben dargestellten Prozesse des Wandels in einem konkreten Sprachereignis realisiert werden (vgl. Beispieltext 1). Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem längeren Gespräch zwischen der Sprecherin O und ihrer Tante F, das in der Wohnung von O an einem Sommernachmittag 2010 stattfindet. Beide stammen aus der Sprachinsel Udalnoe im Altai-Gebiet (Sibirien). Die Sprecherin F (Tante, ältere Generation) ist aus der westpfälzischen Sprachinsel Mariental (Wolgaregion) in 1941 in die südfränkisch geprägte Sprachinsel in Sibirien umgesiedelt worden. Der russlanddeutsche, westpfälzisch geprägte Dialekt ist ihre Familiensprache. Die Sprecherin O ist in dieser Sprachinsel geboren, war aber bereits als Jugendliche in die nächstgelegene Stadt Nowosibirsk umgesiedelt, wo sie dann bis zur Auswanderung nach Deutschland auch beruflich in einer Fabrik tätig war. Die Familiensprache von Sprecherin O war bis zur Auswanderung das
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Russische. Beide Sprecherinnen leben seit ca. 18 Jahren in Lebach (Saarland). Im Gespräch geht es um die Ohrringe, die die ältere Sprecherin von ihren Töchtern zum fünfundsiebzigsten Geburtstag als Geschenk bekam und die in einem „russischen Geschäft“ in Deutschland gekauft wurden. Beispieltext 1 „Ohrringe“ Transkript GD/ObLy/FK/2010=AV] O = Rd. Sprecherin 1 (54 J.) F = Rd. Sprecherin 2 (74 J.) Ü = Übersetzung ins Hochdeutsche 1
O: Ü:
awwe habt aber habt
*sergi7 habt Ihr immer noch *rossijskije gell↑ oder↑ ihr Ohrringe habt ihr immer noch russische, gell↑ oder ihr
2
F: Ü:
die die han die mädjer me gekaaft des kettje die die haben die Mädchen mir gekauft, das Kettchen
3
O: Ü:
ja↑ wann↑ jetzt↑ ja? wann? jetzt?
4
F: Ü:
wie ich wiwel war ich? finwunsechzich wie ich – wieviel war ich? – fünfundsechzig
5
O: Ü:
aaah *sdjesj *usche *da↑ JOO ach so, hier schon, ja? Ja
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F: Ü:
in de *russki *magasin in dem russischen Geschäft
7
O:
*odinakowyje↑ JOO // mit dem schtern oder nee des do sin jo schteine so *brilljante sin das do / ich HAN gleiche? ja – mit dem Stern oder – nein, das da sind ja Steine, so Brillianten sind das da, ich habe
Ü:
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7
F: Ü:
des han se me in de *russki *magasin gekaaft das haben sie mir in dem russischen Geschäft gekauft
Russizismen sind durch das Symbol * und Fettschrift hervorgehoben.
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O: Ü:
un ich HAN das do vum *nemezki *magasin [LACHT] und ich habe das da vom deutschen Geschäft
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F: Ü:
war ich fimwunsechzich war ich fünfundsechzig
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O: Ü:
*skoko *wam *schtschas↑ wieviel seid ihr jetzt?
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F: Ü:
ich gin jetz vierunsibzich ich gebe [werde] jetzt vierundsiebzig
13
O:
vierundsiebzig eto* *tscho *dwadzatj *let *wam *bylo *kada ja / im august gell↑ zweiter dritter august↑ vierundsiebzig das … was [also wie] zwanzig Jahre wart ihr als ich im August … gell? zweiter dritter August?
Ü:
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F: Ü:
de virte auguscht den vierten August
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O:
de virte *eto *mne *bylo *dwa/ nee ihr wart zwanzig johr alt wie ich zur welt KOMM bin gell↑ de virte das ich war zwa/ nein, ihr wart zwanzig Jahre alt, wie ich zur Welt gekommen bin, gell?
Ü:
Der Ausschnitt repräsentiert einerseits den typischen Dialektgebrauch, wie er in russischen Sprachinseln ausgeübt wurde. Sprecherin F – als Vertreterin der älteren Generation – spricht fast durchweg russlanddeutschen Dialekt. Der Gebrauch des Russischen begrenzt sich auf die in Deutschland unter den Angehörigen der älteren Generation der russlanddeutschen Dialektsprecher sehr verbreitete Realienbezeichnung in de russki magasin ‚in der [dem] russische[n] Geschäft‘. Für „Geschäft“ gab es im Russlanddeutschen in Russland das Wort Lawke, das „eingedeutschte“ (ins Deutsche strukturell integrierte) russische Wort (russ. лавка ‚lawka‘), das jedoch in Deutschland nicht mehr gebräuchlich ist. Stattdessen wird das Wort magasin (Geschäft) verwendet. Typisch ist hier auch die syntaktische Integration, d. h. der Gebrauch im Nom. statt im Dat. (im Russ.: w russkom magasine ‚in dem russischen Geschäft‘). Auch bei der Sprecherin O lassen sich zunächst viele sehr typische Merkmale des Gebrauchs des Russlanddeutschen feststellen. Typisch ist, dass sie mehrmals ins Russische wechselt, wobei sie sowohl russische Einzelwörter gebraucht wie z. B. sergi, rossijskije, odinakowyje und brilljante als auch ganze russische Sätze (s. Zeile 11, 13, 15). Die gebrauchten russischen Sätze repräsentieren das typische russlanddeutsch-russische Code-Switching. Die
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meisten Einzelwörter sind nicht strukturell ins Deutsche integriert, was ebenfalls typisch ist für die bilingualen deutsch-russischen Dialektsprecher der jüngeren Generation; nur das Wort brilljante bekommt das dialektale Plurasuffix -e (russ. -y: бриллианты ‚brillianty‘), d. h., es wird in die Dialektstruktur integriert. Betrachten wir das Textbeispiel im Lichte der oben skizzierten aktuellen Prozesse, so können schon in diesem kurzen Auszug einige interessante Innovationen festgestellt werden. Erstens ist bei den Lexemen habt, das und August 8 Akkommodation an die Standardlautung festzustellen (Standardkonvergenz). Das Hilfsverb habt (2. P. Pl. Indikativ „ihr habt“) ersetzt in den beiden Fällen das russlanddeutsche hätt (‚ihr hätt‘). Auch das Demonstrativpronomen das (rd. des) weist hier in zwei Fällen Standardlautung auf, kommt aber auch in der Dialektform des vor. Hier liegt somit Standard/DialektVariation vor, da die dialektale Form nicht verschwindet, sondern weiterhin verwendet wird. Im Falle des Lexems August wird die in diesem russlanddeutschen Dialekt obligatorische Regel der s-Palataliserung vor -t unterlassen, im Unterschied zu der Sprecherin F, die im Lexem Auguscht die s-Palatalisierung vor -t durchführt. Zweitens lassen sich im Beispieltext auch ausgeprägte Merkmale des Saarländischen feststellen, d. h., es liegt Konvergenz an den einheimischen lokalen Dialekt vor (Dialektkonvergenz). Das betrifft wiederum das Hilfsverb haben, und zwar hier in der Form 1. P. Sg. (‚ich habe‘): statt der früher üblichen9 russlanddeutschen Form hab/haw (z. B. ich hab bzw. haw-ich) wird die saarländische Form han10 (‚ich han‘) gebraucht. Auch die im Saarland typische rheinfränkische Form des endungslosen Partizip Perfekt komm ‚gekommen‘ und die Interjektion joo ‚ja‘ bestätigen den Prozess der Akkommodation an den saarländischen Sprachgebrauch. Und schließlich lassen sich auch für den dritten Typ des Dialektwandels – vom Russischen zum Deutschen – im Beispieltext Belege finden.
4. Zusammenfassung und Ausblick In diesem Aufsatz wurde untersucht, ob und wenn ja, welchen Veränderungsprozessen die russlanddeutschen Dialekte nach der Migration der Dialektsprecher nach Deutschland ausgesetzt waren. Im Herkunftsland Russland existierten sie als „dachlose“ Mundarten, indem sie sich über zwei Jahrhunderte hinweg ohne unmittelbare Einflüsse der deutschen Standardsprache und anderer binnendeutscher Dialekte und im Kontakt mit dem Russischen entwickelt haben. In Deutschland geraten die Dialekte einerseits unter den Einfluss der Standardsprache und der binnendeutschen Dialekte und andererseits verlieren sie den massiven Einfluss der früheren Kontakt- und Überdachungssprache
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Standardsprachliche Lexeme sind hervorgehoben durch Unterstreichung. In der mit der Sprecherin O 1992 durchgeführten Sprachaufnahme kommt nur die russlanddeutsche Form hab/haw vor. Saarländische Lexeme sind hervorgehoben durch Kapitälchen.
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Russisch. Diese Veränderungsprozesse wurden anhand einiger ausgewählter Beispiele untersucht. Es stellt sich nun abschließend die Frage, was diese Veränderungen in der jüngsten Sprachgeschichte für die Zukunft der russlanddeutschen Dialekte in Deutschland bedeuten. Wie steht es um den Dialekterhalt und Dialektverlust angesichts des Dialektwandels? Diese Fragen können noch nicht abschließend beantwortet werden, hier sind noch weitere Forschungen erforderlich. Die bisherigen Beobachtungen lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass mit der Re-Migration bei den russlanddeutschen Dialektsprechern der Einwanderungsgeneration ein Prozess der Re-Funktionalisierung des Dialekts eingetreten ist, der sich in der Domänenausweitung des Dialektgebrauchs äußert. Wenn das Russlanddeutsche vor der Migration nur als low variety in der ingroupund Familienkommunikation eingesetzt wurde, so zeigt sich in Deutschland, dass es mit der Länge der Aufenthaltsdauer immer mehr auch als outgroup-Varietät in alle Kommunikationssituationen Eingang findet. In dem vorliegenden Beitrag wurden nur Prozesse der Akkommodation und Konvergenz untersucht, die in der ingroup-Kommunikation stattfinden. Weitere Ergebnisse, die hier nicht vorgestellt werden konnten, deuten darauf hin, dass das Russlanddeutsche in der outgroup-Kommunikation noch viel stärker kontaktbedingtem Sprachwandel unterliegt und dass die russlanddeutschen Dialektsprecher ihren dialektale Sprechweise für die Kommunikation mit einheimischen Deutschen mit einer viel größeren „Portion“ von standardsprachlichen bzw. saarländischen Varianten versehen als dies in der hier vorgestellten ingroup-Situation der Fall ist. Wie schnell und wie weit der Prozess des Dialektwandels geht, bleibt abzuwarten. Sicher ist, dass er mit Identitätsfragen und auf jeden Fall auch mit der Etablierung des Russischen als neuer ingroup-Varietät verbunden ist.
5. Zitierte Literatur Anstatt, Tanja (2008): Russisch in Deutschland: Entwicklungsperspektiven. In: Bulletin der deutschen Slavistik 14, 67–74. Auer, Peter (1990): Phonologie der Alltagssprache. Berlin. Auer, Peter (2000): Processes of Horizontal and Vertical Convergence in Present Day Germany. Målbryting Nr. 4, Nordisk Institutt, Universitetet i Bergen, 9–26. Auer, Peter (2007): Mobility, contact and accommodation. In: The Routledge Companion to Sociolinguistics. Hrsg. v. Carmen Llamas/Louise Mullany/Peter Stockwell. London/New York, 109–115. Auer, Peter/Birgit Barden/Beate Großkopf (1996): Dialektanpassung bei sächsischen „Übersiedlern“ – Ergebnisse einer Longitudinalstudie. In: Areale, Kontakte, Dialekte. Sprache und ihre Dynamik in mehrsprachigen Situationen. Hrsg. v. Norbert Boretzky/Werner Enninger/Thomas Stolz. Essen, 139–166. Bellmann, Günter/Joachim Herrgen/Jürgen Erich Schmidt (1994–2002): Mittelrheinischer Sprachatlas. 5 Bde. Tübingen. Berend, Nina (1998): Sprachliche Anpassung. Eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Russlanddeutschen. Tübingen.
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$ina Berend
Berend, Nina (2011a): Russlanddeutsches Dialektbuch. Halle (Saale). Berend, Nina (2011b): Sprache nach der Re-Migration – am Beispiel der russischsprachigen Zuwanderung in Deutschland. In: Sprache und Migration. Linguistische Fallstudien. Hrsg. v. Eva-Maria Thüne/Anne Betten. Rom, 89–110. Berend, Nina (i. Dr.): „Ich habe meine Tage alle planiert“ – Eine Longitudinaluntersuchung des Sprachgebrauchs bei russlanddeutschen Zuwanderern in Deutschland. In: Kontaktvarietäten des Deutschen in historischer und gegenwärtiger Sicht. Hrsg. v. Elisabeth Knipf/Claudia Riehl. Wien. Blankenhorn, Renate (2003): Pragmatische Spezifika der Kommunikation von Russlanddeutschen in Sibirien. Entlehnung von Diskursmarkern und Modifikatoren sowie Code-switching. Frankfurt a. M. Brehmer, Bernhard (2007): Sprechen Sie Qwelja? Formen und Folgen russisch-deutscher Zweisprachigkeit in Deutschland. In: Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb, Formen, Förderung. Hrsg. v. Tanja Anstatt. Tübingen, 163–185. Currle, Edda (2006): Theorieansätze zur Erklärung von Rückkehr und Remigration. In: soFid. Migration und ethnische Minderheiten, 2006/2, 7–22. Eichinger, Ludwig M./Albrecht Plewnia/Claudia Maria Riel (Hgg.) (2008): Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa. Tübingen. Jedig, Hugo (1986): Die deutschen Mundarten in der Sowjetunion. In: Das Wort. Germanistisches Jahrbuch DDR-UdSSR. Hrsg. v. Gerda Uhlisch. Moskau/Berlin, 74–80. Kirschner, Vladimir (1984): Slovarnye zaimstvovanija iz slavjanskich jazykov v verchnenemeckom govore Kokčetavskoj oblasti Kazachskoj SSR. L'vov. Klassen, Heinrich (1969): Russische Einflüsse auf die deutschen Mundarten im Ural (Sowjetunion). In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 18, H. 6–7, 589–594. Kloss, Heinz (1976): Abstandsprachen und Ausbausprachen. In: Zur Theorie des Dialekts. Hrsg. v. Joachim Göschel/Norbert Nail/Gaston van der Elst. Wiesbaden, 301–322. Krefeld, Thomas (2004): Einführung in die Migrationslinguistik. Tübingen. Roche, Jörg (2006): Natürliche Mehrsprachigkeit als Mittel der Integration. In: Variation im heutigen Deutsch: Perspektiven für den Sprachunterricht. Hrsg. v. Eva Neuland. Frankfurt a. M., 79–92. *** http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsbericht2009.html (5. 4. 2011).
Anhang
JOCHEN A. BÄR
Eine etwas andere Geschichte der deutschen Sprache
1. Vorgeschichte. Alt- und Mittelhochdeutsch 2. Frühneuhochdeutsch 3. Neuhochdeutsch und Spätneuhochdeutsch
„In Eurem Kopf liegt Wissenschaft und Irrtum Geknetet, innig, wie ein Teig, zusammen“ (H. v. Kleist, Der zerbrochene Krug)
Wer schon einmal ein Übersetzungsprogramm ausprobiert hat, das einem mittels Knopfdruck einen Text von einer in die andere Sprache überführt, weiß, dass solche Software zwar nur bedingt nützlich, unbedingt und vor allem aber vergnüglich ist. Besonders ulkig wird es, wenn man einen übersetzten Text vom selben Programm gleich wieder zurückübersetzen lässt. Beispielsweise vom Deutschen über das Englische ins Deutsche: Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst, Und übe, dem Knaben gleich, Der Disteln köpft, An Eichen dich und Bergeshöhn; Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn Und meine Hütte, die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest.
Bedecken Sie den Himmel, Zeus, Mit $ebelwolken, Und die Praxis, der gleiche Junge, Die Enthauptung Disteln, Oaks und Berghöhen zu dir; Ich habe meine Erde Aber stehen lassen Und meine Hütte, die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um die Glut Sie beneiden mich.1
Ähnlich wie derartige Übersetzungsprogramme, so scheint es, funktionieren manchmal Studierende, wenn sie Dinge, die sie gehört oder gelesen haben, im Rahmen von Klausuren oder Hausarbeiten wiedergeben sollen. Was zwischen Eingabe und Ausgabe ge-
1
http://www.ffkm.de/uebersetzung.html (20. 11. 2011).
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Jochen A. Bär
schieht, bleibt dabei ebenso im Dunkeln wie im obigen Beispiel die Zwischenstation, über die man vom ersten zum zweiten Text gelangt ist. Sammelt man über einen Zeitraum von knapp zwanzig Jahren solche ‚Leistungen‘, so kann eine Zusammenstellung derselben die Gegenstände in einem durchaus eigenen Licht erscheinen lassen. Unter anderem ergibt sich im Zusammenhang mit anderthalb Dutzend sprachhistorischer Seminare und Vorlesungen, die ich in Heidelberg, Darmstadt, Gießen und Aachen seit Mitte der 1990er Jahre hielt, eine fragmentarische Sprachgeschichte der besonderen Art, die hier – im originalen Wortlaut und in lediglich maßvoll normalisierter Schreibung – ihren bescheidenen Platz finden mag. Sie zeigt, dass die Notwendigkeit sprachhistorischer Lehre an deutschen Universitäten auch in Zukunft außer Frage steht – nach dem Motto eines großen Baumarkts: Es gibt immer was zu tun ...
1. Vorgeschichte. Alt- und Mittelhochdeutsch Vor allem die Kelten und Illyrer wurden bei Kämpfen eliminiert. Das Gebiet ging an die Westgermanen. ———————— Mit Beginn der deutschen Schriftsprache ca. 750 war das Sprachbewusstsein ein entscheidender Punkt zur Entstehung des Altdeutschen. Damit ist nicht unbedingt ein Bewusstsein der Sprachpflege gemeint, sondern das Bewusstsein, dass eine „deutsche Sprache“ vonnöten sei. Hier sind besonders die Mönche zu nennen, die begannen, die Bibel aus dem Lateinischen in eine Sprache, die so genannte altdeutsche Tattian, zu übersetzen. Doch entscheidend dabei ist, dass der Aspekt des Sprachgebrauchs nicht realisiert wurde. Die entstandene althochdeutsche Sprache wurde nicht gesprochen, ergo sie verbreitete sich anfangs nicht weiter. Erst mit der Entstehung des Rittertums und dem Beginn der mittelhochdeutschen Sprache begann die Sprache publik zu werden. Durch Minnegesang und fahrende Ritter wurde die Sprache verbreitet. Hier tritt nun auch der Aspekt der Sprachkontaktgeschichte in Erscheinung. Die verschiedenen Sprachdialekte hatten Einfluss auf die Sprache. ———————— Karl der Große verfolgte das Ziel, die lateinisch-christliche mit der germanischen Tradition zu verbinden, wodurch es zu den Kreuzzügen kam. ———————— Alle Dialekte des Althochdeutschen stehen gleichwertig nebeneinander, es gibt kein hierarchisches Gefälle. Hinsichtlich des Sprachbewusstseins kann man so von einem regionalen Sprachbewusstsein sprechen, ausgehend von den Klöstern, die für die Verbreitung eines Dialekts verantwortlich waren. ———————— Kulturhistorisch stand das Mittelalter, zumindest das frühe, unter der Herrschaft der Franken mit Friedrich II. Im späteren Mittelalter kamen die Staufer in Wien und die
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Bettiner [!] in Prag mit ihren Sprachkanzleien an die Stelle der an Macht und Einfluss verlierenden Franken. ———————— Mitte des 11. Jahrhunderts kam es zu einem Aufschwung: Das Mittelhochdeutsche setzte ein. Die Produktion von Literatur wurde nun von den Klöstern auf die weltlichen Königs- und Fürstenhöfe verlagert, zudem verübten Ministerialen literarische Tätigkeiten. In dieser Zeit entstanden höfische Minnelieder, geprägt u. a. durch den Vertreter Walther von der Vogelweide. ———————— Das hohe Mittelalter ist allgemein gesehen die Zeit der Ritter, der Kriege, aber gleichzeitig auch die Zeit der mittelhochdeutschen Dichtung. ———————— Die Ritter bildeten eine Entwicklungsstufe zwischen dem Mittelalter, in dem das Latein als Schrift- und Gelehrtensprache dominierte, und der frühneuhochdeutschen Zeit und ihrer Textsortenexplosion in deutscher Sprache. ———————— Im Mittelhochdeutschen war nur eine Art Einigung anhand einer kunstvollen Ritterund Hofsprache zu erkennen. Doch diese Einigung existierte nur im obrigen Adel, bei den Klerikern, und war auch nur für einen Hochadel als Rezipienten bestimmt.
2. Frühneuhochdeutsch Ein großer Fortschritt wurde im Frühneuhochdeutschen erzielt. Die sozialen Prozesse schufen ein neues Zeitalter in der Literaturgeschichte. Es kam zur Städteherausbildung und Maximilian der letzte Habsburger Ritter starb. Es kam also zur Lösung vom Rittertum. ———————— Ausgehend von der Zeitperiode um 1400 hat sich das mnemotechnische Schreiben hin zu einer Vielfalt von Textsortenproduktion verändert. Die Nachfrage wurde innerhalb der blühenden Städteentwicklung immer größer. Außerdem änderten sich die Rezipienten, neben den Volllesern, die es früher ausschließlich beim Adel, Klerus gab, kam es zu einer Vielfalt von Publikumsschichten. ———————— Eine der Kanzleien war die kaiserliche Kanzlei, die den Sitz in Prag, Luxemburg und Wien hatte. Sie hatte laut Burdach eine vorrangige Stellung, da sie eine Art humanistisches Vorbild innehatte. Viele italienische Humanisten wie Petrarca pflegten den Kontakt, besonders zu dem Kanzler der Kanzlei. Diese These zerschlug sich aber. ————————
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Jochen A. Bär
Die niederdeutsche Sprache hat keine Dialektmerkmale und wurde von den Kaufleuten des Hanselbundes benutzt, die im 14. und 15. Jahrhundert in Nordeuropa großen Erfolg hatten. ———————— Das neue Weltbild, welches durch die Entdeckung Amerikas, durch den Buchdruck, durch den Städteboom und die neue Technik geprägt war, veränderte den Wortschatz. ———————— Die Variantenvielfalt ist noch während der frühneuhochdeutschen Zeit wieder eingeschränkt worden. Mit der Verbreitung von Luthers Bibelübersetzung und dem Erstarken des Einflusses der sächsischen Kanzlei, sprich der Amtssprache am Hof des zu der Zeit reichsten und damit mächtigsten Fürsten, des Kurfürsten von Sachsen, wird das Ostmitteldeutsche zur Basis einer Ausgleichssprache. Diese wird an regionale Erscheinungsformen angeglichen, wie es zum Beispiel auch Sprachgenie Luther mit der Übernahme von Formen aus dem Westmitteldeutschen und Westoberdeutschen tut. ———————— Die deutsche Sprachgeschichte ist ein Konsenz [!] der Schreiblandschaften Ostmitteldeutsch/Ostoberdeutsch und als Schreiballianz zu betrachten, und mitten in dieser Schreiballianz steht Martin Luther mit seinem Können und beinhaltet eine Vorbildfunktion, die in dem polyzentrischen Reich, nach Territorien aufgesplittet, gefordert wurde. ———————— In seiner Ausbildung hatte Martin Luther glanzreiche Jahre, hat sich aber auch zwei Jahre in einen Orden begeben, worauf wenig später seine Promotion folgte. Sein Schreibstil besitzt eine Einfachheit, Klarheit verbunden mit einer unheimlichen Schönheit. Luther benutzte anfangs nicht so oft die Großschreibung, doch mit der Zeit der sogenannten Läuterung werden großschreibende Nomen sein Zeichen. ———————— Mitte des letzten Jahrhunderts schrieben Sprachgeschichtsschreiber spitz, dass die Schöpfertheorie Luthers nur schönsprechende Wörter der Anhänger der Reformation waren. Vielleicht mag ich Martin Luther ein wenig verherrlichen, doch sein Werdegang, seine Erfahrungen, von einfachen Verhältnissen kommend bis hin zum Universitätslehrer, zeigten bei ihm polyfunktionale Eigenschaften. Dieser belesene, bescheidene Gelehrte reduzierte seine Sprache von sakralen Übersetzungen immer wieder, um Verstehbarkeit beim kleinen „gemein man“ zu erzeugen, ohne die Schönheit der Sprache außer Acht zu lassen. ———————— Zwar waren Bücher noch vorwiegend in Latein abgefasst und noch teuer zu erstehen, doch das Medium der Flugschriften hatte die Städte schon längst erreicht. Vor allem für die Reformation Martin Luthers waren die Flugschriften von unheimlicher Bedeutung. Seine Auseinandersetzung mit den 97 [!] Ablassthesen verbreitete sich wie im Fluge, d. h. in ca. 14 Tagen im ganzen Reich. Sie waren in Lateinisch abgefasst, wurden übersetzt, und Luther war auf dieses Populärwerden nicht vorbereitet. ————————
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Einige Drucker entwickelten einen sogenannten Hausus [= Haus-Usus], insbesondere Hans Lufft, der dazu überging, eine sehr regelmäßige Orthographie für Luthers Texte anzuwenden. ———————— Die Faktoren, wie zum Beispiel der Buchdruck und die Reformation, die später falsch verstanden wurde und die Bauernkriege und den Dreißigjährigen Krieg forderte, waren, mit Martin Luther verbunden, ein Katalysator für die Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache.
3. Neuhochdeutsch und Spätneuhochdeutsch Als in Deutschland durch die Hungernotenkriege [= Hugenottenkriege] in Frankreich vertriebene Protestanten ihre Zuflucht fanden, setzten sich die Kenntnis und der Umgang mit der französischen Sprache auch in bürgerlichen Kreisen durch. ———————— 1617 gründete der Grammatiker Köthen den Fruchtbringenden Orden.2 ———————— Der dreißigjährige Krieg teilte sich in mehrere Kriege. Ein Teilkrieg war der böhmischpfälzische Krieg, bei dem Heidelberg erstürmt wurde. Die Bibliotheca Palatina, die dem Kurpfalzen gehörte, wurde evakuiert und nach Rom gebracht. ———————— Durch die zunehmend stärkere Ausnutzung der komprimierten Satzbauweise durch Nominalisierungen, Attribuierungen und Zusammensetzungen, die seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts (also der Zeit der Aufklärung) bis heute als Entwicklungstendenz vorherrschend ist und den berüchtigten deutschen „Schachtelsatzstil“ ablöste, der durch einen expliziten hypotaktischen Satzbau geprägt war und sich durch die Ausbildung eines Systems von Satzgefügen mit relativ deutlichen semantischen Fügemitteln (Konjunktionen, Konjunktionaladverbien) vom Humanismus an äußerte, wurde die Erforschung der Satzsemantik und damit einhergehendes Zwischen-den-Zeilen-Lesen immer erforderlicher. ———————— Ein Ausruf ist eine sprachliche Äußerung, die in einer Rede auftritt, die Ausdruckscharakter hat. Der Ausruf wird selten verwendet. Ein Beispiel ist die Szene aus Goethes Werther, in der Lotte und Werther in die Betrachtung eines Gewitters versunken sind und Lotte den Ausruf „Klopstock!“ tätigt. ————————
2
Freundlich mitgeteilt von Jörg Riecke, Heidelberg.
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Jochen A. Bär
Die französische Revolution in Deutschland war von vielen Schriftstellern gefeiert worden. Doch bekanntlich riss bald General Napoleon die Macht an sich und überzog Europa mit Krieg und Besatzung. ———————— Übersetzungen sind in der Romantik entstanden, da die Menschen eingesehen haben, dass sie doch nicht im Stande sind, mit allem zu kommunizieren (Übergang einer Universalkommunikation zur Sprachskepsis). ———————— 1871 gab es im deutschen Gebiet lediglich 8 Großstädte, im Jahre 1920 waren es bereits weit über 40. Die Bevölkerung explodierte zu dieser Zeit. ———————— Straßennamen prägen den städtischen Erinnerungsraum maßgeblich mit. Wenn man vor einem Kriegerdenkmal steht, ist meist eindeutig, wem und was [sic!] gedacht werden soll. Aber wenn man anschließend über die Friedrich-Ebert- oder die Ernst-ThälmannStraße nach Hause läuft, ist das politische Instrument feiner gestrickt. Denn diese Straßennamen sind mitunter auch, ebenso wie dezidierte Gedenkstätten welcher Art auch immer, als Mnemotop oktroyiert. ———————— Interessant ist dies vor allem im Hinblick auf die Sprachkritik nach 1945 in Deutschland, die breit gefächert war und den totalitären Sprachgebrauch sowie auch die feministische Sprachkritik umfasste. ———————— Die sprachliche Vielfalt im 20. Jahrhundert ist mit der im 11. Jahrhundert nahezu nicht mehr zu vergleichen, was die Anzahl der Internet-Anschlüsse heutzutage verdeutlicht (ca. 75 % der Haushalte). ———————— Beäugt man die Wirkung der deutschen Sprache auf andere Sprachen in der Gegenwart, so bleibt festzustellen, dass unsere Sprache weltweit keinen schlechten Stellenwert hat.
Verzeichnis der wissenschaftlichen Publikationen Oskar Reichmanns1
1. Monographien 1. Der Wortschatz der Siegerländer Landwirtschaft und Haubergswirtschaft. Bd. 1: Textteil; Bd. 2: Karten- und Bildteil. Marburg 1966. (Deutsche Dialektgeographie 48a; 48b). 2. Deutsche Wortforschung. Stuttgart 1969. (Sammlung Metzler 82). 3. Germanistische Lexikologie. Zweite, vollst. neubearb. Aufl. von „Deutsche Wortforschung“. Stuttgart 1976. (Sammlung Metzler 82). 4. Bearb. (zusammen mit Robert R. Anderson/Ulrich Goebel/Dieter Wolf): Der Roman von der Königin Sibille. Lemmatisierter Wortindex. Amsterdam 1981 (Indices verborum zum altdeutschen Schrifttum 8). 5. Bearb.: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch [vgl. IIa.4]. Bd. 1: Einführung. a–äpfelkern. Berlin/New York 1989. Bd. 2: apfelkönig–barmherzig. Berlin/New York 1994. Bd. 3: barmherzigkeit–bezwüngnis. Berlin/New York 2002. Bd. 6, Lfg. 3–5: gerecht–glutzen. Berlin/New York 2007–2010. Bd. 9, Lfg. 3: lescheur–machen. Berlin/Boston 2011. Bd. 11, Lfg. 1: st–stosser. Berlin/New York 2006. 6. Bearb. (zusammen mit Anja Lobenstein-Reichmann): Frühneuhochdeutsches Wörterbuch [vgl. IIa.4]: Bd. 7, Lfg. 2: grossprecher–handel. Berlin/New York 2004. 7. Zusammen mit Ulrich Goebel/Ingrid Lemberg: Versteckte lexikographische Information. Möglichkeiten ihrer Erschließung dargestellt am Beispiel des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs. Tübingen 1995 (Lexicographica, Series Maior 65). 8. Das nationale und das europäische Modell in der Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen. Freiburg/Schweiz 2001 (Wolfgang Stammler Gastprofessur für Germanische Philologie – Vorträge, Heft 8). 9. Historische Lexikographie. Ideen – Verwirklichungen – Reflexionen an Beispielen des Deutschen, Niederländischen und Englischen. [Ca. 650 Seiten; erscheint 2012.]
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Die Herausgeber danken Anja Lobenstein-Reichmann für Informationen über jüngere Arbeiten Oskar Reichmanns.
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Verzeichnis der wissenschaftlichen Publikationen Oskar Reichmanns
2. Herausgeberschaften und Editionen 2.1. Einzelbände 1. Veit Dietrich. Etliche Schrifften für den gemeinen man. Hrsg. u. eingel. Assen 1972 (Quellen und Forschungen zur Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 5). 2. Zusammen mit Anthony van der Lee: Jost Trier. Aufsätze und Vorträge zur Wortfeldtheorie. Den Haag/Paris 1973 (Janua linguarum, Series minor 174). 3. Zusammen mit Werner Besch/Stefan Sonderegger: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2 Halbbände. Berlin/ New York 1984; 1985 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1; 2.2). 4. Zusammen mit Robert R. Anderson [für Bd. 1]/Ulrich Goebel/Anja LobensteinReichmann: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Berlin/New York 1986 ff. Bisher: Bde. 1; 2; 3; 4; 5 (Lfg. 1); 6; 7 (Lfg. 1–4); 8 (Lfg. 1–3); 9 (Lfg. 1–3); 11 (Lfg. 1). 5. Zusammen mit Klaus-Peter Wegera: Frühneuhochdeutsches Lesebuch. Tübingen 1988. 6. Zusammen mit Horst Haider Munske/Peter von Polenz/Reiner Hildebrandt: Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von seinen Schülern. Berlin/New York 1988. 7. Zusammen mit Franz Josef Hausmann/Herbert Ernst Wiegand/Ladislav Zgusta: Wörterbücher. Ein Internationales Handbuch zur Lexikographie. 3 Teilbände. Berlin/ New York 1989; 1990; 1991 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 5.1; 5.2; 5.3). 8. Zusammen mit Ulrich Goebel in Zusammenarbeit mit Peter I. Barta: Historical Lexicography of the German Language. Lewiston/Queenston/Lampeter 1990 (Vol. 1); 1991 (Vol. 2). 9. Zusammen mit Klaus-Peter Wegera: Frühneuhochdeutsche Grammatik. Bearb. v. Robert Peter Ebert/Oskar Reichmann/Hans-Joachim Solms/Klaus-Peter Wegera. Tübingen 1993 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, A. Hauptreihe, 12). 10. Zusammen mit Andreas Gardt/Klaus J. Mattheier: Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen. Gegenstände, Methoden, Theorien. Tübingen 1995 (Reihe Germanistische Linguistik 156). 11. Zusammen mit Werner Besch/Anne Betten/Stefan Sonderegger: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. 4 Teilbände. Berlin/New York 1998; 2000; 2001; 2003 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1; 2.2; 2.3; 2.4).
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12. Zusammen mit Wladimir Pavlov: Wladimir Admoni. Sprachtheorie und deutsche Grammatik. Aufsätze aus den Jahren 1949–1975. Übersetzt aus dem Russischen v. Margareta Arssenjeva/Anna Pavlova. Tübingen 2002. 13. Zusammen mit Anja Lobenstein-Reichmann: Neue historische Grammatiken. Zum Stand der Grammatikschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen und anderer Sprachen. Tübingen 2003 (Reihe Germanistische Linguistik 243). 14. Zusammen mit Anja Lobenstein-Reichmann: Frühneuhochdeutsch. Aufgaben und Probleme seiner linguistischen Beschreibung. Hildesheim 2011 (Germanistische Linguistik 213–215/2011).
2.2. Reihen 1. Zusammen mit A. den Besten u. a.: Het Duitse Boek. Fortgesetzt als: Deutsche Bücher. Assen 1970 ff.; fortgesetzt Amsterdam [bis 1996]. 2. Minis, Cola/Arend Quak in Verbindung mit Peter Boerner/Hugo Dyserinck/Ferdinand van Ingen/Friedrich Mauerer/Oskar Reichmann: Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. Amsterdam/New York 1974 ff.; Berlin 2005 ff. [bislang 170 Bände]. 3. Zusammen mit Stefan Sonderegger/Christa Dürscheid (seit 2005)/Andreas Gardt (seit 2005): Studia Linguistica Germanica. Berlin/New York. [Mitherausgeberschaft seit 1995, seither 76 Bände.] 4. Zusammen mit Sture Allén/Pierre Corbin/Reinhard R. K. Hartmann/Franz Josef Hausmann/Hans-Peder Kromann/Ladislav Zgusta: Lexicographica, Series Maior. Tübingen 1984 ff. [bislang 141 Bände].
3. Beiträge 1. Der Deutsche Wortatlas als Quelle für die Agrargeschichte. Ein Bericht. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 14 (1966), 30–44. 2. Zum Problem einer sprachimmanenten Begründung der Wortfeldtheorie. In: Handelingen van het Eenendertigste Nederlands Filologencongres gehouden te Groningen op Woensdag 1, Donderdag 2 en Vrijdag 3 April 1970. Groningen 1971, 205–208. 3. Zusammen mit Anthony van der Lee: Einführung in die Geschichte der Feldtheorie. In: Jost Trier. Aufsätze und Vorträge zur Wortfeldtheorie. Hrsg. v. Anthony van der Lee/Oskar Reichmann. Den Haag/Paris 1973, 9–39. (Janua linguarum, Series minor 174). 4. Zusammen mit Anthony van der Lee: Die Erbauungsliteratur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit als Quellengrundlage für die Erforschung der Herausbildung
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der deutschen Nationalsprache. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 4 (1973), 109–124. Een kritische beschouwing van de traditionele lexicologie, speciaal met betrekking tot het Vroegnieuwhoogduits. Openbare Les Vrije Universiteit. Amsterdam 1973. Zur konventionellen heteronymischen und partiell heteronymischen Signifikatexplikation. Dargestellt am Beispiel der Lexikographie über das Frühneuhochdeutsche. In: Neuere Forschungen in Linguistik und Philologie. Aus dem Kreise seiner Schüler Ludwig Erich Schmitt zum 65. Geburtstag gewidmet. Wiesbaden 1975 (Beihefte zur Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, N. F. 13), 198–215. Zusammen mit Robert R. Anderson/Ulrich Goebel: Projekt eines frühneuhochdeutschen Handwörterbuches. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 5 (1977), 71–94. Zur Edition frühneuhochdeutscher Texte. Sprachgeschichtliche Perspektiven. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (1978), 337–361. Zweites Bonner Expertenkolloquium Frühneuhochdeutsch. 20.–21. Juni 1977. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 6 (1978), 63–68. Deutsche Nationalsprache. Eine kritische Darstellung. In: Germanistische Linguistik 2–5 (1978), 389–423. Nationalsprache. In: Lexikon der Germanistischen Linguistik. Hrsg. v. Hans Peter Althaus/Helmut Henne/Herbert Ernst Wiegand. 2., vollst. neu bearb. und erw. Aufl. Tübingen 1980, 515–519. Zusammen mit Herbert Ernst Wiegand: Wörterbuch der Anglizismen im heutigen Deutsch. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 8 (1980), 328–343. Zusammen mit Robert R. Anderson/Ulrich Goebel: Probeartikel zum Frühneuhochdeutschen Handwörterbuch. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie I. Hrsg. v. Herbert Ernst Wiegand. Hildesheim 1981, 11–52. (Germanistische Linguistik 3– 4/1979). Zusammen mit Robert R. Anderson/Ulrich Goebel: Ein idealisiertes Graphemsystem des Frühneuhochdeutschen als Grundlage für die Lemmatisierung frühneuhochdeutscher Wörter. In: Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie I. Hrsg. v. Herbert Ernst Wiegand. Hildesheim 1981, 53–122. (Germanistische Linguistik 3–4/ 1979). Zusammen mit Robert R. Anderson/Ulrich Goebel: Ein Vorschlag zur onomasiologischen Aufbereitung semasiologischer Wörterbücher. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 102 (1983), 391–428. Untersuchungen zur lexikalischen Semantik deutscher Dialekte: Überblick über die theoretischen Grundlagen, über die Sachbereiche und den Stand ihrer arealen Erfassung. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. Hrsg. v. Werner Besch/Ulrich Knoop/Wolfgang Putschke/Herbert Ernst Wiegand. 2. Halbband. Berlin/New York 1983 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 1.2), 1295–1325.
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17. Theorie des Dialektes: Aussagen und Fragestellungen der germanistischen Forschungsgeschichte. In: Aspekte der Dialekttheorie. Hrsg. v. Klaus J. Mattheier. Tübingen 1983 (Reihe Germanistische Linguistik 46), 1–26. 18. Möglichkeiten der Erschließung historischer Wortbedeutungen. In: In diutscher diute. Festschrift für Anthony van der Lee zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. M. A. van den Broek/G. J. Jaspers. Amsterdam 1983 (Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 20), 111–140. 19. Zusammen mit Robert R. Anderson/Ulrich Goebel: Frühneuhochdeutsch arbeit und einige zugehörige Wortbildungen. In: Philologische Untersuchungen gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Alfred Ebenbauer. Wien 1984 (Philologia Germanica 7), 1–29. 20. Historische Lexikologie. In: Besch/Reichmann/Sonderegger 1984 [vgl. IIa.3], 440– 460. 21. Historische Lexikographie. In: Besch/Reichmann/Sonderegger 1984 [vgl. IIa.3], 461–492. 22. Editionsprinzipien für deutsche Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Besch/Reichmann/Sonderegger 1984 [vgl. IIa.3], 693–703. 23. Zusammen mit Robert R. Anderson/Ulrich Goebel: Zum Aufbau von Wortartikeln im semasiologischen Sprachstadienwörterbuch am Beispiel von frnhd. arbeit. In: Symposium on Lexicography II. Proceedings of the Second International Symposium on Lexicography. May 16–17, 1984 at the University of Copenhagen ed. by Karl Hyldgaard-Jensen/Arne Zettersten. Tübingen 1985 (Lexicographica, Series Maior 5), 259–285. 24. Sprachgeschichte als Kulturgeschichte: Historische Wortschatzforschung unter gegenwartsbezogenem Aspekt. In: Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. Hrsg. v. Alois Wierlacher. München 1985 (Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 1), 111–122. 25. Historische Bedeutungswörterbücher als Forschungsinstrumente der Kulturgeschichtsschreibung. In: Brüder-Grimm-Symposium zur Historischen Wortforschung. Beiträge zu der Marburger Tagung vom Juni 1985. Hrsg. v. Reiner Hildebrandt/Ulrich Knoop. Berlin/New York 1986 (Historische Wortforschung 1), 241–263. 26. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch I: Gegenstand und Quellengrundlage. In: Beiträge zur historischen Lexikographie. Vorträge und Aufsätze zur mhd. und frnhd. Lexikographie. Hrsg. v. Vilmos Ágel/Rainer Paul/Lajos Szalei. Budapest 1986 (Budapester Beiträge zur Germanistik 15), 21–46. 27. Zusammen mit Robert R. Anderson/Ulrich Goebel: Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch II: Der Artikelaufbau. In: Beiträge zur historischen Lexikographie. Vorträge und Aufsätze zur mhd. und frnhd. Lexikographie. Hrsg. v. Vilmos Ágel/Rainer Paul/ Lajos Szalei. Budapest 1986 (Budapester Beiträge zur Germanistik 15), 47–82. 28. Reichmann, Oskar: Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch III: Die Aufbereitung semasiologischer Sprachstadienwörterbücher vorwiegend unter onomasiologischem
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Aspekt. In: Beiträge zur historischen Lexikographie. Vorträge und Aufsätze zur mhd. und frnhd. Lexikographie. Hrsg. v. Vilmos Ágel/Rainer Paul/Lajos Szalei. Budapest 1986 (Budapester Beiträge zur Germanistik 15), 83–110. Die onomasiologische Aufbereitung semasiologischer Dialektwörterbücher. Verfahrensvorschlag und Nutzen. In: Lexikographie der Dialekte. Beiträge zu Geschichte, Theorie und Praxis. Hrsg. v. Hans Friebertshäuser unter Mitarbeit v. Heinrich Dingeldein. Tübingen 1986 (Reihe Germanistische Linguistik 59), 173–184. Zur Lexikographie des Frühneuhochdeutschen und zum Frühneuhochdeutschen Wörterbuch. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 106 (1987), Sonderheft, 178– 227. Kulturwortschatz der deutschen Gegenwartssprache. Ein enzyklopädisches deutschchinesisches Wörterbuch zu wichtigen Kulturbereichen der deutschsprachigen Länder. In: Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Hrsg. v. Alois Wierlacher. München 1987 (Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 3), 219–242. Unter Mitwirkung v. Christiane Burgi/Martin Kaufhold/Claudia Schäfer: Zur Vertikalisierung des Varietätenspektrums in der jüngeren Sprachgeschichte des Deutschen. In: Munske/von Polenz/Reichmann/Hildebrandt 1988 [vgl. IIa.6], 151–180. Zur Funktion, zu einigen Typen und zur Auswahl von Belegbeispielen im historischen Bedeutungswörterbuch. In: Symposium on Lexicography III. Proceedings of the Third International Symposium on Lexicography May 14–16, 1986, at the University of Copenhagen. Ed. by Karl Hyldgaard-Jensen/Arne Zettersten. Tübingen 1988 (Lexicographica, Series Maior 19), 413–444. Zur Abgrenzung des Frühneuhochdeutschen vom Mittelhochdeutschen. In: Mittelhochdeutsches Wörterbuch in der Diskussion. Symposium zur mittelhochdeutschen Lexikographie Hamburg, Oktober 1985. Hrsg. v. Wolfgang Bachofer. Tübingen 1988 (Reihe Germanistische Linguistik 84), 119–147. Deutscher Kulturwortschatz. Zur Idee eines kontrastiven zweisprachigen Wörterbuches Deutsch-Französisch. In: DAAD. Dokumentationen und Materialien 12. Deutschfranzösisches Germanistentreffen Berlin, 30. 9. bis 4. 10. 1987. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Bonn 1988, 264–282. Resümee der Tagung. In: Das Wörterbuch. Artikel und Verweisstrukturen. Jahrbuch 1987 des Instituts für deutsche Sprache. Hrsg. v. Gisela Harras. Düsseldorf 1988 (Sprache der Gegenwart 74), 394–408. Lexikographische Einleitung. In: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 1. Berlin/ New York 1989 [vgl. IIa.4], 1–164. Kulturwortschatz der deutschen Gegenwartssprache. Ein enzyklopädisches deutschchinesisches Wörterbuch zu wichtigen Kulturbereichen der deutschsprachigen Länder. In: In other Words: Transcultural Studies in Philology, Translation and Lexicography presented to Hans Heinrich Meier on the occasion of his sixty-fifth birthday. Ed. by J. Lachlan Mackenzie/Richard Todd. Dordrecht/Niederlande 1989.
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39. Geschichte lexikographischer Programme in Deutschland. In: Hausmann/Reichmann/ Wiegand/Zgusta 1989 [vgl. IIa.7], 230–246. 40. Das onomasiologische Wörterbuch: Ein Überblick. In: Hausmann/Reichmann/Wiegand/Zgusta 1989 [vgl. IIa.7], 1057–1067. 41. Wörterbücher archaischer und untergegangener Wörter. In: Hausmann/Reichmann/ Wiegand/Zgusta 1989 [vgl. IIa.7], 1153–1158. 42. Erbwortbezogene Wörterbücher im Deutschen. In: Hausmann/Reichmann/Wiegand/ Zgusta 1989 [vgl. IIa.7], 1231–1241. 43. Das gesamtsystembezogene Wörterbuch. In: Hausmann/Reichmann/Wiegand/Zgusta 1989 [vgl. IIa.7], 1391–1416. 44. Das Sprachstadienwörterbuch I: Deutsch. In: Hausmann/Reichmann/Wiegand/Zgusta 1989 [vgl. IIa.7], 1416–1429. 45. Das textsortenbezogene Wörterbuch. In: Hausmann/Reichmann/Wiegand/Zgusta 1989 [vgl. IIa.7], 1539–1549. 46. Formen und Probleme der Datenerhebung I: Synchronische und diachronische historische Wörterbücher. In: Hausmann/Reichmann/Wiegand/Zgusta 1989 [vgl. IIa.7], 1588–1611. 47. Einige Thesen zur Bedeutungserläuterung in dem von Jacob Grimm bearbeiteten Teil des Deutschen Wörterbuches und im Wörterbuch der deutschen Sprache von Daniel Sanders. In: Elmar H. Antonsen/James W. Marchand/Ladislav Zgusta (Ed.): The Grimm Brothers and the Germanic Past. Amsterdam/Philadelphia 1990 (Studies in the History of the Language Sciences), 87–113. 48. Philologische Entscheidungen bei der Formulierung von Artikeln historischer Sprachstadienwörterbücher. In: Goebel/Reichmann 1, 1990 [vgl. IIa.8], 231–278. 49. Zusammen mit Ulrich Goebel/James Holland: Das Register des Erläuterungswortschatzes im Historischen Bedeutungswörterbuch. Goebel/Reichmann 1, 1990 [vgl. IIa.8], 279–308. 50. Sprache ohne Leitvarietät vs. Sprache mit Leitvarietät: ein Schlüssel für die nachmittelalterliche Geschichte des Deutschen? In: Deutsche Sprachgeschichte. Grundlagen, Methoden, Perspektiven. Festschrift für Johannes Erben zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Werner Besch. Frankfurt a. M. u. a. 1990, 141–158. 51. Sollte ein neues mittelhochdeutsches Wörterbuch ein Werk der Sprachlexikographie oder ein Werk der Textlexikographie sein? In: Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Tokyo 1990 (IVG Begegnung mit dem Fremden. Grenzen Traditionen Vergleiche, Bd. 4), 264–271. 52. Zum Urbegriff und seinen Konsequenzen für die Bedeutungserläuterungen Jacob Grimms (auch im Unterschied zur Bedeutungsdefinition bei Daniel Sanders). In: Studien zum Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Hrsg. v. Alan Kirkness/Peter Kühn/Herbert Ernst Wiegand. Bd. 1. Tübingen 1991 (Lexicographica, Series Maior 33), 299–345.
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53. Gemeinsamkeiten im Bedeutungsspektrum europäischer Sprachen. In: Von der Schulgrammatik zur Allgemeinen Sprachwissenschaft. Beiträge zur Gedenktagung für Professor Janos Juhasz. Hrsg. v. Magdolna Bartha/Rita Brdar Szabo. Budapest 1991 (Budapester Beiträge zur Germanistik 23), 75–94. 54. Zusammen mit Andreas Gardt/Ingrid Lemberg/Thorsten Roelcke: Sprachkonzeptionen in Barock und Aufklärung: Ein Vorschlag für ihre Beschreibung. In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 44 (1991), 17–33. 55. Periodisierung und Raumgliederung des Deutschen. In: Offene Fragen – offene Antworten in der Sprachgermanistik. Hrsg. v. Vilmos Ágel/Regina Hessky. Tübingen 1992 (Reihe Germanistische Linguistik 128), 177–201. 56. Deutlichkeit in der Sprachtheorie des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Verborum amor. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Festschrift für Stefan Sonderegger zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Harald Burger u. a. Berlin/New York 1992, 448–480. 57. Europäismen im Wortschatz von Einzelsprachen. In: Aufbau, Entwicklung und Struktur des Wortschatzes in den europäischen Sprachen. Motive, Tendenzen, Strömungen und ihre Folgen. Beiträge zum lexikologischen Symposion in Heidelberg vom 7. bis 10. Oktober 1991. Hrsg. v. Baldur Panzer. Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Heidelberger Publikationen zur Slavistik. A. Linguistische Reihe 6), 28–47. 58. Dialektale Verschiedenheit: zu ihrer Auffassung und Bewertung im 17. und 18. Jahrhundert. In: Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch. Hrsg. v. Klaus J. Mattheier u. a. Frankfurt a. M. u. a. 1993, 289–314. 59. Zum Gebrauch von Gebrauch und zugehörigen Ausdrücken in sprachreflexiven Texten der Barock- und Aufklärungszeit. In: Festschrift für Karl Mollay. Hrsg. v. Regina Hessky. Budapest 1993 (Budapester Beiträge zur Germanistik), 275–309. 60. Möglichkeiten der lexikographischen Erschließung der Texte des Paracelsus. In: Resultate und Desiderate der Paracelsus-Forschung. Hrsg. v. Peter Dilg/Hartmut Rudolph. Stuttgart 1993, 183–198. 61. Zusammen mit Klaus-Peter Wegera: Einleitung; Schreibung und Lautung; Literaturverzeichnis; Sachregister. In: Reichmann/Wegera 1993 [vgl. IIa.9], 1–163; 493–562. 62. Zusammen mit Goebel, Ulrich: An index of Early New High German figurative language: A new lexicographical project. In: American Journal of Germanic Linguistics and Literatures 6 (1994), 63–88. 63. Die onomasiologische Aufbereitung des Frühneuhochdeutschen Wörterbuches: Praktisches Verfahren, Probleme und Ergebnisse. In: The World in a List of Words. Ed. by Werner Hüllen. Tübingen 1994 (Lexicographica, Series Maior 58), 231–254. 64. Zusammen mit Andreas Gardt/Klaus J. Mattheier: Vorwort. In: Gardt/Mattheier/ Reichmann 1995 [vgl. IIa.10], VII–X. 65. Die Konzepte von ‚Deutlichkeit‘ und ‚Eindeutigkeit‘ in der rationalistischen Sprachtheorie des 18. Jahrhunderts. In: Gardt/Mattheier/Reichmann 1995 [vgl. IIa.10], 169–198.
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66. Der rationalistische Sprachbegriff und Sprache, wo sie am sprachlichsten ist. In: Alte Welten – neue Welten. Akten des IX. Kongresses der Internationalen Vereinigung für germanische Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG). Bd. 1: Plenarvorträge. Hrsg. v. Michael S. Batts. Tübingen 1996, 15–31. 67. Autorintention und Textsorte. In: Textarten im Sprachwandel – nach der Erfindung des Buchdrucks. Hrsg. v. Rudolf Große/Hans Wellmann. Heidelberg 1996 (Sprache, Literatur und Geschichte 13), 119–134. 68. Neueste Autorenlexikographie: Problemerörterung am Beispiel des Wörterbuches zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe. In: Wörterbücher im Diskurs II. Vorträge aus dem Heidelberger Lexikographischen Kolloquium. Hrsg. v. Herbert Ernst Wiegand. Tübingen 1996 (Lexikographica, Series Maior 70), 204–238. 69. The Vocabulary of Culture: A Potential Method of Communicative Description. In: Historical, Indo-European, and Lexicographical Studies. A Festschrift for Ladislav Zgusta on the Occasion of his 70th Birthday. Ed. by Hans Henrich Hock. Berlin/ New York 1997 (Trends in Linguistics 90), 287–300. 70. Der Quellenwert von Dialektwörterbüchern für die historische Fachsprachenforschung II: handwerkliche Fachsprachen in den großlandschaftlichen Wörterbüchern der hochdeutschen Dialekte. In: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. Hrsg. v. Lothar Hoffmann/ Hartwig Kalverkämper/Herbert Ernst Wiegand. 1. Halbbd. Berlin/New York 1998 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 14.1), 1120–1131. 71. Sprachgeschichte: Idee und Verwirklichung. In: Besch/Betten/Reichmann/Sonderegger 1998 [vgl. IIa.11], 1–41. 72. Zusammen mit Dieter Wolf: Historische Lexikologie. In: Besch/Betten/Reichmann/ Sonderegger 1998 [vgl. IIa.11], 610–643. 73. Die Diagliederung des Frühneuhochdeutschen. In: Besch/Betten/Reichmann/Sonderegger 2000 [vgl. IIa.11], 1623–1626. 74. Die Lexik der deutschen Hochsprache bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In: Besch/ Betten/Reichmann/Sonderegger 2000 [vgl. IIa.11], 1818–1847. 75. Nationalsprache als Konzept der Sprachwissenschaft. In: Nation und Sprache. Hrsg. v. Andreas Gardt. Berlin/New York 2000, 419–470. 76. Sprache und Kulturwissen. Ihre Darstellung im historischen Bedeutungswörterbuch. Festvortrag zum 75. Geburtstag von Rudolf Große. Sächsische Akademie der Wissenschaften, http://www.saw-leipzig.de/forschung/kommissionen/sprachwissenschaft/ reichmann_1. 77. Zusammen mit Anja Lobenstein-Reichmann: „... iederman wolt gen himl“. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch als Spiegel der Kulturgeschichte. In: Der Sprachdienst 45 (2001), 134–142. 78. Lexikographie. In: Kleine Enzyklopädie deutsche Sprache. Hrsg. von Wolfgang Fleischer/Gerhard Helbig/Gotthard Lerchner. Frankfurt a. M. u. a. 2001, 144–177.
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79. Nationale und europäische Sprachgeschichtsschreibung. In: Neue deutsche Sprachgeschichte. Mentalitäts-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge. Hrsg. v. Dieter Cherubim/Karlheinz Jakob/Angelika Linke. Berlin/New York 2002 (Studia Linguistica Germanica 64), 25–42. 80. Wortbildungsfelder des Frühneuhochdeutschen. In: Historische Wortbildung des Deutschen. Aufbau, Probleme ihrer lexikographischen Behandlung, sprachgeschichtliche Perspektiven. Hrsg. v. Mechthild Habermann/Peter O. Müller/Horst Haider Munske. Tübingen 2002 (Reihe Germanistische Linguistik 232), 245–267. 81. Nachwort. In: Pavlov/Reichmann 2002 [vgl. IIa.12], 377–398. 82. Deutsch als Fremdsprache: welches Deutsch? In: Neues Jahrhundert, neue Herausforderungen – Germanistik im Zeitalter der Globalisierung. Tagungsband zum Asiatischen Germanistenkongress. Hrsg. v. Wang Jianbin u. a. Peking 2002. 83. Die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache: Wo bleiben die Regionen? In: Die deutsche Schriftsprache und die Regionen. Entstehungsgeschichtliche Fragen in neuer Sicht. Hrsg. v. Raphael Berthele u. a. Berlin/New York 2003 (Studia Linguistica Germanica 65), 29–56. 84. Zur Schreibung historischer Grammatiken: einführende Bemerkungen. In: Lobenstein-Reichmann/Reichmann 2003 [vgl. IIa.13], VII–XVI. 85. Die weltbildende Kraft der Sprache. In: Weltbilder. Hrsg. v. Hans Gebhardt/Helmuth Kiesel. Berlin/Heidelberg 2004 (Heidelberger Jahrbuch 47 [2003]), 285–328. 86. Der frühneuhochdeutsche Wortschatz aus kulturgeschichtlicher Sicht. In: Deutsche Wortforschung als Kulturgeschichte. Beiträge des Internationalen Symposiums aus Anlass des 90-jährigen Bestandes der Wörterbuchkanzlei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2003. Hrsg. von Isolde Hausner/Peter Wiesinger. Wien 2005, 77–96. 87. Wörterbuchartikel zwischen Abbildung und Konstruktion. In: Strenae Nataliciae. Neulateinische Studien. Wilhelm Kühlmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Hermann Wiegand. Heidelberg 2005, 155–176. 88. Usefulness and Uselessness of the Term Fremdwort. In: Linguistic Purism in the Germanic Languages. Ed. by Nils Langer/Winifred V. Davies. Berlin/New York 2005 (Studia Linguistica Germanica 75), 343–360. 89. Historische Wörterbücher und ihre Bedeutung für die Sprachgeschichtsforschung. In: Theorie(n) und Methoden der Sprachgeschichte. Materialien des Kolloquiums zu Ehren des 70. Geburtstages von Gotthard Lerchner. Hrsg. v. Klaus Bochmann. Stuttgart/Leipzig 2007, 14–31. 90. Stand und Aufgaben der historischen Lexikographie und Wörterbuchforschung des Deutschen. In: Lexikographica. Internationales Jahrbuch für Lexikographie 23 (2007), 199–230. 91. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch: Geschichte, Konzeptionen, Nutzungswert. In: Historische Lexikographie des Deutschen. Hrsg. von Holger Runow. Göttingen 2010 (Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes), 389–399.
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92. Lexikalische Varianten im frühneuhochdeutschen Bibelwortschatz und die neuhochdeutsche Schriftsprache: Fakten und Reflexionen. In: Lobenstein-Reichmann/Reichmann 2011 [vgl. IIa.14], 383–478. 93. Das Frühneuhochdeutsche in der Sprachgeschichtsschreibung: Themen, Unterlassungen, Wertungen. In: Entdeckung der frühen Neuzeit. Konstruktionen einer Epoche der Literatur- und Sprachgeschichte seit 1750. Hrsg. von Marcel Lepper/Dirk Werle. Stuttgart 2011 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik 1), 179–194. 94. Historische Semantik: Ideen, Realisierungen, Perspektiven. In: Historische Semantik. Hrsg. von Jörg Riecke. Berlin/Boston 2011 (Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte 2), 20–36.
5. Übersetzungen Reichmann, Oskar: [Übersetzung der niederländischen Texte von] A. W. de Groot, Die Hierarchie der Sprache. Werkauswahl mit Einleitung und Bibliographie. Hrsg. v. G. F. Bos. München 1978 (Internationale Bibliothek für Allgemeine Linguistik 35).
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Verzeichnis der wissenschaftlichen Publikationen Oskar Reichmanns
Register
Ablaut 115–125 Akkommodation 612, 618 f., 623, 626 f. Akzentverschiebung 97 Allegorie 490, 505 Allegorik 484 Alltag 62, 106, 423, 426, 447, 455 Alltagssprache 23, 258, 440 f., 444, 515 f. Althochdeutsch 134, 222, 525 f., 550, 632 Aneignung 124, 172, 174, 176, 360, 390, 527 Argument-Weglassung 207–235 Artikelstruktur 349 Aufklärung 41 f., 51 f., 55, 112, 305, 315, 332, 339, 341 f., 351, 353, 442, 449–451, 511, 596, 635 Ausgrenzung 139 f., 143–145 Autorintention 11, 56, 63, 83 f., 103, 134, 137, 145, 286, 344, 349 Axiomatik 444–446, 452–454 Bauernkrieg 635 Begriffsanalyse 67 Bibliotheca Palatina 635 Buchdruck 634 buhlschaft 241, 246, 256–259, 270 DDR 11, 22, 24–28, 423 Deklination 365, 534 Deutlichkeit 2, 39, 41, 61, 75, 83, 87, 89, 93, 96, 100, 102–104, 113, 117, 119, 122, 124 f., 129, 132, 134, 145, 153, 161, 171, 177, 189, 195, 200 f., 212, 215–217, 219, 221, 253, 256, 259, 266 f., 273, 282, 291, 311, 313, 325, 327, 335–337, 344, 346 f., 351–353, 355 f., 358, 360, 389, 394–396, 399, 403, 407, 409, 423, 428, 438–440, 446, 448 f., 453, 506, 512, 514–516, 527, 530, 532, 534, 536 f., 542, 550, 552 f., 567, 570, 578, 581 f., 602, 614, 635
Diary-Drop 209, 218 f., 232 f. Diskurs 1, 5, 9, 11, 24 f., 39 f., 44, 46, 50 f., 54, 56 f., 70, 130 f., 140–145, 151, 165, 168, 176, 178, 210–212, 214–216, 221, 224–227, 231 f., 240, 255, 291 f., 309, 319, 326 f., 377, 381, 405, 410, 413, 415, 417, 420, 498, 521, 526, 530, 545, 586 Diskursanalyse 142, 165–168, 381 Diskursgeschichte 1, 139, 142, 159–162, 166, 168 Distanzsprache 182, 186, 188 f., Siehe $ähesprache Eindeutigkeit 308, 325 f. Erkenntnis, historische 2, 91, 108, 125 Etymologie 11, 68, 150, 267, 269, 287, 353, 506, 586, 604 f. Exaktheit 308, 318 f., 325 f., 331 f. Fachsprache 22, 66, 69, 134, 140, 263, 268, 270, 283, 287, 289, 305, 335, 339, 348, 354, 368, 371, 374, 381, 384–386, 389, 401, 437– 456, 463 Fachwortschatz 268, 305, 355, 389 Faschismus 43 Flexion 93, 506, 534 Flugschrift 634 Fokusprojektion 227 Frame 66 f., 74–77 Fremdwort 12, 28, 66, 89, 92, 101, 278, 440, 543, 587, 594 Frühneuhochdeutsch 134, 137, 141–143, 145– 147, 149, 222, 239–241, 266, 268, 270 f., 278, 287–289, 351, 370, 385, 599, 602, 633– 635 Geschichtskonstitution, Sprache der 413–434 Geschichtsschreibung 58, 108 f., 111, 177 f., 585–605
650 Geschichtstext 116, 123, 159 f., 162, 168, 178 Geschichtswissenschaft 42, 174, 389–392, 400–402, 404, 406–409, 585 f., 591 Handlungsanweisung 459 Hansesprache 634 Hermeneutik 41, 44 f., 56, 58, 62, 68, 73, 77, 169, 175, 177 f., 392, 414, 417, 497–499, 509–511, 513, 529 f. Historiographie 6, 109–111, 123, 336, 390, 497 f., 585 f., 590 Historizität 168 Homosexualität 261, 263, 288, 291 hure, hurerei 244 f., 249, 253, 256, 258–263, 270, 288 Hypotaxe 635 Ideologiekritik 42 Idiomatizität 129, 392, 415 f. Indogermanisch 89 f., 92, 94 f., 97 f., 100 f., 113–117, 120, 122 Interpretant 86–88, 106, 108–113, 116, 119, 123 f. Junktion 181–203 Kanzlei 633 Karl der Große 632 klassisch 545–548 Kollokation, Kollokationsanalyse 20, 66, 140, 367, 392, 394, 396 f., 419, 514 Komparatistik, historisch-semantische 37–58 Konnektor 357, 389, 398, 408 Konstruktion – (Konstruktivismus) 18, 42, 58, 62, 141, 165, 168, 174, 178 – (Grammatik) 75, 164, 271 f., 286, 368, 391– 394, 397–409 Konstruktionsgrammatik 385, 391 f. Konstruktivismus, konstruktivistisch 2, 62, 69, 85, 108, 159–161, 166 f., 173, 175 Kontextualität 169 Konvergenz, horizontale 623 Kookkurrenz 419–422, 424–426, 430 Korpus 26, 72, 77, 84, 182, 186, 216, 218, 221, 239, 241, 260, 281, 332, 340, 344 f., 348, 356, 360, 368–371, 390–400, 404, 406 f., 409, 417–421, 427 f., 434, 461, 463, 477, 481, 483, 486, 552, 565, 568 f., 592, 595 Korpusanalyse 4, 332 Krieg, Dreißigjähriger 95, 635
Register Kulturgeschichte 5, 88, 129 f., 139, 148, 201, 240, 288, 438, 456, 538, 585–590, 592–594, 596, 598–600, 602–605 Latein 51, 89, 92, 94 f., 97, 101, 112, 115 f., 152, 263, 268 f., 277, 286 f., 313, 350, 356, 446–451, 453, 455, 462–465, 475, 479, 481 f., 485, 526, 596, 604, 632–634 Lehrdichtung 481, 486, 488 Lehrer 565, 568, 570–574, 576, 578 f., 582, 587, 600 Leitvarietät 182, 202 Lemma 19, 68, 338–345, 348–350, 352, 354– 356, 358, 360, 365, 371–373, 375 f., 379, 386, 418 Lesebuch 565, 569–575, 579, 582 Lexikographie 68, 161, 241, 305, 313, 335, 337, 341, 343, 346–351, 354, 356–360, 365, 386, 391, 393 Liberalismus 37–39, 41, 43–45, 49, 54–57 Materialität 3, 85, 87, 141, 168 f., 171 f., 178 Mathematik, Mathematikgeschichte 437–456 Medizin 240–243, 251, 255, 263–270, 275– 277, 282, 286–290 Mehrmehrdeutigkeit 326 Metaphernanalyse 67, 73 Metasprache 43, 98, 102, 164, 166–168, 174, 176, 427, 566, 575, 589 Minnesang 632 Mittelhochdeutsch 7, 526, 632 f. Monosemierung 384 Nähesprache 182, 186, 188–191, 195 f., 200– 203; s. Distanzsprache Nationalismus 41, 43, 525, 527–534 Nationalsprache 18, 32 Naturkunde 461, 464, 479, 489 Neuhochdeutsch 147, 181 f., 185, 222, 401, 600, 635 f. Niederdeutsch 566, 576–582, 610, 634 Nomen 92–94, 96, 98, 401, 407, 421 f., 634 Nominalstil 91 f., 94, 102 Norm 19, 22 f., 29, 31, 133, 240, 251, 253, 260, 269, 288, 290 f., 396, 566 Numerus 214 f. Objektsprache 85, 164, 166, 167, 168, 174, 585, 586 Öffentlichkeit 19–25, 27–31 Orgasmus 289 f. Periodisierung 455
Register Perspektivierung 11, 32, 73, 88 f., 95–100, 102 f., 108–114, 116–119, 123-125, 164 f., 416, 428, 432 f. Philologie 497 f., 524–542 Plastikwort 101 Plural 365 f., 371–376, 378–386 Pluraletantum 366 Polysemie 12, 70, 124, 258, 268, 306, 308, 326–328, 331, 344, 348, 356, 381, 404, 459, 544 f. Privatheit 19–25, 27–31 progressiv 547–548 Raum, Räumlichkeit 9–32 – halböffentlicher Raum 12, 19, 21–24, 27 f., 31 – halbprivater Raum 11 f., 19, 21–24, 29, 31 – intimer Raum 13, 19–25, 28, 30 – sozialer Raum 15 f. Realgeschichte 159–162 Realismus, metyphysischer 161 Realität 134, 175, 217, 355, 360, 440, 453, 455 f., 585, 591 Rechenbuch 446–449 Reichmann, Oskar 1–3, 6 f., 9 f., 35, 80, 83, 85, 108, 112, 124–126, 134, 155–157, 159– 161, 174, 180, 182, 201 f., 204 f., 239, 241, 299 f., 302, 363 f., 384 f., 387, 393, 410, 415, 435, 439, 456, 458, 493, 558, 560, 585 f., 599, 605–607, 637–648 reinheit, reinigkeit 243 f., 247–250, 254, 256, 279, 288 Relation, semantische 65 f., 68, 319, 351, 545– 548 Re-Migration 609 f., 612–614, 627 Rhetorik 498, 514–524 Romantik 497–554 romantisch 544–549 Russlanddeutsch 609–615, 617–623, 625–627 Sachschrifttum 462, 479, 483, 487 Satzsemantik 90, 96 f., 99, 102, 183, 635 Schlagwortanalyse 67, 69 f. Schleswig-Holstein 565–570, 572–575, 577– 579, 581 f. Schreiballianz 634 Schule 26 f., 29, 85, 161, 165, 183–185, 336, 428, 431, 446 f., 566 f., 569, 571–581, 588 Schwankdichtung 241, 246, 251, 278–280, 287
651 Sekundärstigmatisierung 140, 143, 145, 150 Semantik 543–549 – historische 37–41, 43–45, 56–58, 161 Semiotik 41, 45, 78, 83–85, 87 f., 90, 103 f., 106–110, 112 f., 116, 123, 161, 169–171, 177, 441 Sexualität 239–292 shell noun 394, 396 f., 399, 401 f. Singular 140, 208, 365 f., 370, 372–374, 376, 380 f., 383, 385, 620 Singularetantum 366 Sinnbild 459, 479, 483, 488 f. Sozialgeschichte 39, 161, 239, 274, 401 f. Soziolinguistik, historische 11 f., 129, 161 f., 201 f., 565 f., 568, 612, 614 Soziopragmatik 1, 130, 139, 498 Spätneuhochdeutsch 635 f. Sprache – als Herrschaftskonstituens 133, 138 – formale 452–454 – und Gewalt 127–154 – und Heilung 129, 138 Sprachgeschichte 1–3, 5 f., 9–11, 16 f., 24, 31, 85 f., 89, 91–93, 96 f., 100, 102, 107–110, 112, 114, 116, 121, 123–125, 127, 129, 134, 139, 141 f., 147 f., 150, 152, 154, 159, 160– 162, 166, 167, 178, 234, 242, 393, 395 f., 401–403, 416, 443, 455, 536, 542, 566, 582, 585–587, 589, 592, 594, 596–602, 605, 609 f., 612, 614, 621, 623, 627, 632, 634 – als Beziehungsgeschichte 129, 132, 134, 138, 152 f. – Idee 85, 124, 159, 585 f., 589, 599, 601 Sprachgeschichtsforschung 389–392, 400–402, 404, 406–409 Sprachgeschichtsschreibung 9, 11 f., 16, 85, 90, 108, 128, 139, 542, 598, 602 f., 605 – Sprache 389–410 Sprachgesellschaft 149, 594, 612, 635 Sprachinseldialekt 611, 619 Sprachkontaktgeschichte 632 Sprachkritik 117, 352 f., 382, 389, 407, 554, 636 Sprachskepsis 498, 506–509, 518, 554 Spur 145, 159–178, 266, 291, 346, 415, 589 Standard, Standardsprache 201, 209, 219 f., 230, 374, 377 f., 381, 385, 391, 399, 409, 484, 603, 611–615, 617–620, 623, 626
652 Standardkonvergenz 614, 618–620, 623, 626 Straßenname 636 Substantiv 77, 93, 98 f., 101, 242 f., 248, 256, 267, 271, 273, 355, 365, 367–369, 371 f., 374, 376, 384, 422, 424–426 Symbol 452–454 Synonym, Synonymie 66 f., 220, 242–244, 246, 253 f., 256 f., 259, 268, 273, 275, 306, 308, 326–328, 331, 356, 402, 448, 459, 479, 481, 484 f., 490, 544, 546 f. Tatian 632 Terminologisierung 305–333 Terminus 309, 311, 313, 315, 317–323, 325– 332 Text 47, 54, 61–67, 69, 71, 78, 83–86, 88, 90, 96, 99, 102 f., 109 f., 115, 118, 120, 123, 125, 131, 140, 143 f., 159–161, 163, 165, 167 f., 174 f., 178, 182, 185–187, 189, 196, 202, 225 f., 231, 233, 239, 242, 248 f., 251, 257 f., 261, 263, 281, 287, 289, 305, 307 f., 313, 320, 323, 325, 329–331, 335, 339, 343 f., 348 f., 354, 369 f., 372, 375, 382, 389 f., 392–394, 396, 400–402, 417, 419, 441, 443, 446–451, 454, 455, 459, 474, 480 f., 485, 488, 490, 509–511, 525, 527 f., 539, 542, 544, 551–553, 565, 569, 578, 581 f., 587 f., 593, 595 f., 601, 631 f., 635 Textanalyse 63, 69, 73, 113 Text-Bild-Relation 64 f. Textsemantisches Analyseraster 61, 64
Register Textsorte(n) 10, 14, 23, 25, 61, 64 f., 85, 89, 91, 96, 112, 124, 139 f., 142–146, 186, 218, 221, 241, 273, 332, 392 f., 395–398, 407, 409, 448–451, 455, 461, 591 Themenwort 394–397, 399–402 Theologie 240–250, 255, 257–259, 262–264, 266, 270, 273, 275, 277, 279, 285, 287, 289 f., 292 Topik-Drop 209, 234 Toposanalyse 67, 71, 73 unkeusch, unkeuschheit 242–246, 248, 250 f., 257, 259, 263–267, 275–277, 288 Vagheit 308, 318, 325 f., 330–332 Variation 195, 220, 332, 611 f., 614, 617, 619, 621–623, 626 Vertikalisierung 181 f., 201–203, 385 Vorgeschichte des Deutschen 90, 124, 632 Weltansicht 501, 528 f., 532 f. Wissenschaftssprache 95, 287, 389–391, 395, 399, 401 f., 405 f., 409, 441 f., 449, 451, 603 Wörterbuch 6 f., 9, 11, 13, 16, 21, 25, 49, 68, 78, 120, 134, 143 f., 147, 239, 261, 271, 335, 337–354, 356, 358–360, 365–367, 370–372, 374–376, 379, 382, 396, 399, 402 f., 405, 409, 503, 544, 596, 599, 601, 604, 606 Wortschatz 22 f., 148, 175, 240 f., 254, 256, 263 f., 267, 270, 278, 287 f., 305 f., 321, 351 f., 389, 394, 396, 443, 448, 461, 483, 503, 506, 619, 623, 634 Zahlen 443 f.