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German Pages 256 [258] Year 2015
Geschichte der Prävention Akteure, Praktiken, Instrumente en i
Herausgegeben von Sylvelyn Hähner-Rombach MedGG-Beiheft 54
Franz Steiner Verlag Stuttgart
Geschichte der Prävention
Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 54
Geschichte der Prävention Akteure, Praktiken, Instrumente
Herausgegeben von Sylvelyn Hähner-Rombach
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2015
Coverabbildung: Winter Kurt (Hg.): Deine Gesundheit – unser Staat, Berlin (Ost) 1969, Abb. 15 (Schutzimpfung gegen Virusgrippe), o. S.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Satz: DTP + TEXT Eva Burri Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-10998-7 (Print) ISBN 978-3-515-11048-8 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis
Sylvelyn Hähner-Rombach Einführung ................................................................................................
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Betrieb als „setting“ Sebastian Knoll-Jung Vom Maschinenschutz zur Unfallverhütungspropaganda – Paradigmenwechsel präventiver Praktiken in der Unfallversicherung zur Zeit der Weimarer Republik .............................................................
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Sylvelyn Hähner-Rombach Von der Milchausgabe zum Darmscreening. Angebote und Praktiken werksärztlicher Prävention nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel der BASF Ludwigshafen .......................................................................... 41 Geschlecht Jeannette Madarász-Lebenhagen Geschlechterbilder in Präventionskonzepten: Männer- und Frauenherzen im deutsch-deutschen Vergleich, 1949–1990.................
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Christoph Schwamm Möglichkeiten und Grenzen individueller Gesundheitsvorsorge bei männlichen Patienten der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg in der Nachkriegszeit ..................... 107 Pierre Pfütsch Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung in der BRD aus geschlechterspezifischer Perspektive (1961–1998) .......................................................................... 125 Alternative Medizin Daniel Walther „Krankheiten kommen kaum von naturgebundenen Mitteln“ – Naturgemäße Lebensweise und Prävention in der homöopathischen Laienbewegung zwischen 1950 und 1980 .............................................. 151 Philipp Eisele Patienten mit erweitertem Präventionshorizont: Nutzer und Sympathisanten alternativer Behandlungsmethoden (1992–2000) ..... 171
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Inhaltsverzeichnis
Implementation öffentlicher Präventionsprogramme Malte Thießen Praktiken der Vorsorge als Ordnung des Sozialen: Zum Verhältnis von Impfungen und Gesellschaftskonzepten im „langen 20. Jahrhundert“ ......................................................................... 203 Iris Ritzmann Instrumente der gesundheitlichen Prävention? Medizinische Aufklärungsfilme und ihre Botschaft in der Schweiz um 1950 ............ 229 Stephan Heinrich Nolte Von der freiwilligen Prävention zur verpflichtenden Vorsorge – ein Paradigmenwechsel in der Kinderheilkunde .................................. 243 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren..................................................... 255
Einführung Sylvelyn Hähner-Rombach
Der vorliegende Band umfasst die Beiträge von zwei Tagungen des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) zur Geschichte der Prävention. Die erste Tagung fand im November 2012 unter dem Titel „Prävention. Nachfrage und Inanspruchnahme gesundheitserhaltender Maßnahmen seit 1918“ statt. Dem Themenzuschnitt lag die Überlegung zugrunde, dass es zwar einige Arbeiten zu Diskursen und Angeboten der Prävention gibt, man aber wenig über die Inanspruchnahme weiß.1 Die zweite Tagung vom Dezember 2013 mit dem Generalthema „Akteure, Praktiken und Instrumente. Geschichte der Prävention von Krankheiten und Unfällen seit der Weimarer Republik“ zielte erneut darauf ab, aktuelle Forschungsansätze aufzunehmen, und fokussierte auf Praktiken.2 Beide Veranstaltungen wurden im IGM-eigenen Format des „Arbeitskreises Sozialgeschichte der Medizin“ durchgeführt. Dieses ist durch die Vorstellung aktueller Forschungsarbeiten sowie die Einbeziehung von Experten und Expertinnen als Diskutantinnen und Diskutanten charakterisiert. Forschungsstand Trotz derzeit genereller Anerkennung der Bedeutung von Prävention und Gesundheitsförderung – nicht zuletzt aufgrund der demographischen Entwicklung – entscheidet innerhalb der EU oft die jeweilige Kassenlage über die Ausgestaltung der Angebote und Maßnahmen. Das ist auch in der Bundesrepublik Deutschland der Fall. Die daraus folgenden Beschränkungen warfen und werfen u. a. die Frage auf, wie man die jeweiligen Zielgruppen kontinuierlicher erreichen kann. Damit und mit einer Reihe weiterer aktueller Aspekte der Präventionsarbeit befassen sich vor allem die Gesundheitswissenschaften. Deren Veröffentlichungen sind demzufolge mittlerweile sehr umfangreich3 und können in Auswahl auch für historische Fragestellungen herangezogen werden. Dazu gehören z. B. Arbeiten, die das Geschlecht der anvisierten Personen thematisieren4, oder solche, die bestimmte Orte oder „settings“, an de1 2 3 4
Vgl. den Bericht zu dieser Tagung von Stephan Heinrich Nolte: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4622 (letzter Zugriff: 10.7.2014). Vgl. den Bericht zu dieser Tagung von Daniel Walther: http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=5272 (letzter Zugriff: 10.7.2014). So bringt beispielsweise die Eingabe „Gesundheitsförderung“ allein beim (einschlägigen) Verlag Hans Huber 44 Treffer, die Eingabe „Prävention“ 90 Treffer; trotz Doppelungen also eine ganz erhebliche Zahl. Merbach/Brähler (2010); Kolip/Altgeld (2009); Hurrelmann/Kolip (2002); Altgeld (2003); Rohe (1998).
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nen Prävention stattfinden soll, näher beschreiben5. Aber auch die Geschichtswissenschaften und die Geschichte der Medizin analysieren zunehmend Aspekte der Prävention. Bereits 1991 erschien der Sammelband von Elkeles u. a., der Leitbilder, Motive, Entwicklung und Organisation gesundheitsfördernder Maßnahmen der beiden deutschen Staaten untersuchte.6 2002 kam der Sammelband von Stöckel und Walter heraus, dessen Beiträge die historischen Ursprünge und Vorläufer seit dem 19. Jahrhundert sowie aktuelle Entwicklungen seit den 1970er Jahren in Deutschland in den Blick nehmen.7 2010 erschien die Monographie von Briesen, der Ernährung und Gesundheit (Tabak und Alkohol) seit dem 18. Jahrhundert vergleichend für die USA und Deutschland betrachtete.8 Genannt werden muss vor allem der Sammelband von Lengwiler und Madarász von 2010, der die Geschichte der Prävention als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik zu fassen versucht und nach den Grundlagen, der epidemiologischen Transition und dem Aufstieg der Prävention nach 1900, nach Präventionsmodellen und -praktiken in der frühen Nachkriegszeit und nach der Prävention im Zeitalter von Biomedizin und Genetik fragt.9 Der Titel dieses Sammelbandes – „Das präventive Selbst“ – ist bereits zu einem Standardbegriff geworden, wenn es um die individuelle Aneignung und Verinnerlichung gesundheitsrelevanten Verhaltens geht. Schließlich erschien 2013 die „Zeitgeschichte der Vorsorge“ als Themenheft der Zeithistorischen Forschungen/Studies in Contemporary History mit Beiträgen zum Londoner „Pioneer Health Centre“, zur Prävention der Pest in der Sowjetunion, zur Impfpraxis in der Bundesrepublik und der DDR und zur humangenetischen Beratung in der Bundesrepublik.10 Quellen-Überlieferung Sowohl die Inanspruchnahme als auch die Praktiken der Prävention sind historisch nicht ganz leicht in den Griff zu bekommen, weil die Quellen dafür erst mühsam aufgespürt werden müssen, wenn sich überhaupt welche finden lassen.11 Themen, die Krankheit und Gesundheit betreffen, gehören für viele 5 So beispielsweise den Betrieb bzw. Arbeitsplatz: Faller (2012); Meggeneder/Pelster/Sochert (2011); Schneider (2011); Lenhardt/Rosenbrock (2010). 6 Elkeles u. a. (1991). 7 Stöckel/Walter (2002). 8 Briesen (2010). 9 Lengwiler/Madarász (2010). 10 Schenk/Thießen/Kirsch (2013). 11 So wurde für mein Forschungsprojekt „Prävention im Betrieb. Angebote, Nachfrage und Inanspruchnahme gesundheitserhaltender Maßnahmen in westdeutschen Unternehmen“ eine Reihe von Unternehmensarchiven, darunter Deutsche Bahn, Siemens, Bosch, Daimler, Henkel, Bayer Leverkusen, Schering, BASF Ludwigshafen, Krupp, Boehringer Ingelheim sowie das Wirtschaftsarchiv Hohenheim (Fa. Voith), angefragt. Mit Ausnahme der BASF wurden die Akten des jeweiligen werksärztlichen Dienstes nicht detailliert geführt und die Überlieferung weist mehr Lücken als Zusammenhänge auf.
Einführung
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Institutionen und Archive immer noch nicht zum überlieferungswürdigen Schriftgut. Hat man Glück und findet Unterlagen, die zum Beispiel Auskunft über die Inanspruchnahme präventiver Angebote oder über Praktiken geben, fehlt meist eine Differenzierung nach Geschlecht, Alter oder Herkunft, und das oft auch bei aktuellen Zusammenstellungen. Vor allem das Geschlecht scheint weiterhin keine Kategorie zu sein, die selbstverständlich in den Fokus gerät. Selbst aktuelle offizielle Statistiken lassen immer noch viele Differenzierungen außer Acht; mal fehlt das Alter, mal das Geschlecht, mal die nationale Herkunft, mal die soziale Stellung bzw. der Beruf oder das Tätigkeitsfeld. Die Einbeziehung der Sichtweisen von Patientinnen und Patienten, Verfassern und Verfasserinnen von Petitionen und Briefen, Beschäftigten, Kindern usw. gehört offenbar ebenfalls noch nicht zum Standardprogramm. Dennoch, das zeigen auch die hier versammelten Beiträge, gelingt es über Umwege, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Aufbau Die für den vorliegenden Tagungsband ausgewählten und überarbeiteten Beiträge wurden verschiedenen Themenfeldern zugeordnet. Überschneidungen waren, wie meist, auch hier nicht zu vermeiden. Betrieb als „setting“ Das betriebliche Umfeld wird seit einigen Jahren als besonders geeigneter Ort für präventive Maßnahmen wahrgenommen12, weil hier der Zugang zu verschiedenen Zielgruppen – nicht zuletzt zu Männern, die ja seit neuestem als vernachlässigte „Gruppe“ entdeckt wurden – leichter ist als in ihrem privaten Bereich bzw. in der Arztpraxis. In diesem „setting“ treten verschiedene Akteure in den Fokus. Zu den bedeutendsten zählen neben der Geschäftsführung die Werksärzte, Berufsgenossenschaften, Sicherheitsingenieure, Betriebsräte und Krankenkassen. Betriebliche Gesundheitsförderung gehört seit dem Jahr 2007 gemäß den Vorschriften des Sozialgesetzbuches V zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen. Die Unternehmen waren jedoch schon lange zuvor ein Feld, auf dem Gesundheitsförderung, Krankheitsvermeidung oder -früherkennung eine bedeutende Rolle spielten, und dies auch jenseits gesetzlicher Vorschriften. Die Sektion „Betrieb als ‚setting‘“ umfasst zwei Beiträge, einen zur Unfallverhütung in der Weimarer Republik und einen zu den Praktiken werksärztlicher Prävention nach dem Zweiten Weltkrieg. SebaStian Knoll-Jung analysiert neue Versuche der Berufsgenossenschaften nach dem Ersten Weltkrieg, die Unfallzahlen und damit die Kosten für die Unternehmen bzw. die Versicherungen zu senken. Während der Weimarer 12
Das zeigt sich bereits an der Vielzahl von Veröffentlichungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung, die hier im Einzelnen nicht aufgezählt werden können.
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Republik ist in den präventiven Praktiken ein Paradigmenwechsel zu beobachten. Vorbild war die sogenannte „Safety-First-Bewegung“ aus den USA, die sich an der kommerziellen Werbung orientierte. Nun setzten auch die Berufsgenossenschaften in Deutschland stärker auf die Wahrnehmung und die Verinnerlichung durch die Beschäftigten. Dazu wurden die früheren „Bleiwüsten“ mit ihren Verboten und Erläuterungen durch bildliche Botschaften in Form von Plakaten und Flugblättern oder auf Lohntüten ersetzt, um die Wahrnehmung zu verbessern. Sylvelyn HäHner-rombacH untersucht Praktiken der Prävention durch die Ärztliche Abteilung der BASF am Standort Ludwigshafen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei wurden ausschließlich freiwillige Angebote in Betracht gezogen, das heißt solche, die über das gesetzlich Vorgeschriebene hinausgingen. Diese ordnet die Autorin unterschiedlichen Phasen zu, bevor sie Zielgruppen, Interessenten und Interessen an den Maßnahmen, die Inanspruchnahme der Angebote und die Wechselwirkung zwischen Angebot und Nutzung in den Blick nimmt. Geschlecht Obwohl das Geschlecht als Thema in den meisten Aufsätzen Berücksichtigung fand, wurde eine eigene Sektion eingerichtet, weil bei diesen Beiträgen die Kategorie „Geschlecht“ der eigentliche Schwerpunkt ist. Jeannette madaráSz-lebenHagen zeigt anhand eines deutsch-deutschen Vergleichs die Geschlechterbilder, die zwischen 1949 und 1990 den jeweiligen Präventionskonzepten zugrunde lagen. Die Geschlechterleitbilder werden dabei auf drei Ebenen untersucht, und zwar in der Medizin, in der Gesundheitspolitik und in der Populärwissenschaft. Der Beitrag von cHriStopH ScHwamm ist ebenfalls der Zeitgeschichte zuzuordnen. Anhand von Krankenakten der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg aus den Jahren 1953 und 1963 werden die Möglichkeiten und Grenzen von individueller Prävention psychischer Störungen durch die ausschließlich männlichen Patienten, ihre Angehörigen und durch die behandelnden Ärzte untersucht. pierre pfütScH schließlich hat für die Zeit von 1961 bis 1998 Anfragen, Eingaben und Beschwerden von Privatpersonen an Präventionsträger wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesgesundheitsamt zu Prävention und Gesundheitsförderung geschlechtervergleichend exemplarisch ausgewertet. Alternative Medizin Die Eigenverantwortung hinsichtlich präventiver und krankheitsverhindernder Maßnahmen ist den Anhängern der Alternativen Medizin schon sehr lange ein Anliegen. Man könnte sogar so weit gehen und behaupten, dass
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Prävention zu den konstituierenden Merkmalen der meisten Spielarten der Alternativen Medizin gehört, was bislang jedoch kaum untersucht worden ist. daniel waltHer befasst sich mit einer sehr frühen Vereinigung der Selbsthilfe, mit den Laienvereinen der Homöopathie. Am Beispiel des StuttgartWangener Vereins analysiert er dessen Praktiken und Empfehlungen zur Krankheitsverhinderung, die ihre Wurzeln in der Lebensreform um die Jahrhundertwende haben und in der Bundesrepublik weiterhin von Bedeutung sind. pHilipp eiSele nähert sich der Patientenperspektive durch Briefe von Nutzern und Sympathisanten alternativer Behandlungsmethoden, die im Zeitraum zwischen 1992 und 2000 an den Verein „Natur und Medizin e. V.“ – eine Patientenorganisation für alternative Behandlungsmethoden – gerichtet wurden. Die Verfasser erbaten sich nicht nur Informationen hinsichtlich vorbeugender Maßnahmen aus den Bereichen der Schulmedizin und der Alternativmedizin sowie bezüglich möglicher oder tatsächlicher Gesundheitsrisiken, sondern bezogen sich in ihren Briefen auch auf die damit in Verbindung stehenden individuellen Erfahrungen, Erlebnisse und angewandten Strategien. Implementation öffentlicher Präventionsprogramme Die hier rubrizierten Beiträge nehmen unterschiedliche Präventionsmaßnahmen, die sich an die Öffentlichkeit wandten und von Ärztinnen und Ärzten entwickelt, empfohlen und durchgeführt wurden, in den Blick. malte tHieSSen befasst sich mit einem der ältesten Instrumente primärer Prävention, dem Impfen, das seit seiner Einführung immer wieder auf Widerstand seitens der Bevölkerung traf. Nicht zuletzt dadurch eröffnen Impfprogramme Einblicke in die Aushandlung sozialer Ordnungen. Im „langen 20. Jahrhundert“ nimmt Thießen das Verhältnis von Impfungen und Gesellschaftskonzepten in den Blick. iriS ritzmann untersucht medizinische Aufklärungsfilme der Schweiz um 1950 mit der Frage, was diese vermitteln und ob sie tatsächlich primär eine Anleitung für präventive Praktiken bieten. Auftraggeber waren Schweizer Gesundheitsligen. Anhand von drei exemplarischen Filmen zur Tuberkulose, zum Krebs und zu rheumatischen Krankheiten werden die impliziten Botschaften dieses Mediums analysiert. Die Ausführungen von StepHan HeinricH nolte zu einem Paradigmenwechsel in der Kinderheilkunde durch die Einführung der Kinderschutzgesetzgebung in der Bundesrepublik sind aus dem Blickwinkel eines praktizierenden Pädiaters geschrieben, der die Auswirkungen der gesetzlichen Änderungen kritisch begleitet.
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Fazit Die hier versammelten Beiträge vermitteln einen Einblick in aktuelle Forschungen zur Geschichte der Prävention, die zum Teil am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung durchgeführt werden. Besonders hervorzuheben sind neben dem Gender-Aspekt und der Einbeziehung der Alternativen Medizin die Quellenvielfalt, die den einzelnen Forschungen zugrunde liegt, sowie die unterschiedlichen Methoden und Ansätze, die in zwei Fällen deutsch-deutsche Vergleiche einschließen. Woran es neben weiteren Forschungen zur Inanspruchnahme – differenziert nach Geschlecht, Alter, räumlicher und sozialer Herkunft – fehlt, sind weiterhin regionale Fall- und internationale Vergleichsstudien. Bibliographie Literatur Altgeld, Thomas (Hg.): Männergesundheit: neue Herausforderungen für Gesundheitsförderung und Prävention. Weinheim; München 2003. Briesen, Detlef: Das gesunde Leben. Ernährung und Gesundheit seit dem 18. Jahrhundert. Frankfurt/Main; New York 2010. Elkeles, Thomas u. a. (Hg.): Prävention und Prophylaxe. Theorie und Praxis eines gesundheitspolitischen Grundmotivs in zwei deutschen Staaten 1949–1990. Berlin 1991. Faller, Gudrun (Hg.): Betriebliche Gesundheitsförderung. 2. Aufl. Bern 2012. Hurrelmann, Klaus; Kolip, Petra (Hg.): Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. Männer und Frauen im Vergleich. Bern u. a. 2002. Kolip, Petra; Altgeld, Thomas (Hg.): Geschlechtergerechte Gesundheitsförderung und Prävention. Theoretische Grundlagen und Modelle guter Praxis. 2. Aufl. Weinheim 2009. Lengwiler, Martin; Madarász, Jeannette (Hg.): Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik. Bielefeld 2010. Lenhardt, Uwe; Rosenbrock, Rolf: Prävention und Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz. In: Hurrelmann, Klaus u. a. (Hg.): Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. 3. Aufl. Bern 2010, S. 324–335. Meggeneder, Oskar; Pelster, Klaus; Sochert, Reinhold (Hg.): Betriebliche Gesundheitsförderung in kleinen und mittleren Unternehmen. Bern 2011. Merbach, Martin; Brähler, Elmar: Prävention und Gesundheitsförderung bei Männern und Frauen. In: Hurrelmann, Klaus u. a. (Hg.): Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung. 3. Aufl. Bern 2010, S. 347–358. Rohe, Ernst: Eine empirische Untersuchung zu geschlechterspezifischen Differenzen im Hinblick auf Krankschreibung und Inanspruchnahme von Präventionsangeboten. In: GesundheitsAkademie, Landesinstitut für Schule und Weiterbildung, NRW (Hg.): Die Gesundheit der Männer ist das Glück der Frauen. Chancen und Grenzen geschlechtsspezifischer Gesundheitsarbeit. Frankfurt/Main 1998, S. 99–112. Schenk, Britta-Marie; Thießen, Malte; Kirsch, Jan-Holger (Hg.): Zeitgeschichte der Vorsorge/ Contemporary History of Prevention and Provision. (= Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 10 (2013), H. 3) Göttingen 2013. Schneider, Cornelia: Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz. Nebenwirkung Gesundheit. Bern 2011. Stöckel, Sigrid; Walter, Ulla (Hg.): Prävention im 20. Jahrhundert. Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland. Weinheim; München 2002.
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Internetpublikationen http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4622 (letzter Zugriff: 10.7.2014) http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5272 (letzter Zugriff: 10.7.2014)
Betrieb als „setting“
Vom Maschinenschutz zur Unfallverhütungspropaganda – Paradigmenwechsel präventiver Praktiken in der Unfallversicherung zur Zeit der Weimarer Republik Sebastian Knoll-Jung
Einführung In der ohnehin kaum vorhandenen Forschungsliteratur zur Geschichte der Unfallversicherung, die zudem überwiegend aus den 1980er Jahren stammt, wird die Unfallverhütungsarbeit der Unfallversicherung nicht gerade gelobt; im Gegenteil werden dort häufig Mängel an der präventiven Ausrichtung zum Hauptgegenstand der Kritik erhoben. Dies geschah wohl ganz im Sinne der politischen Sozialgeschichtsschreibung dieser Zeit.1 Unberücksichtigt bleiben die tatsächlichen historischen Bedingungen, Zusammenhänge und Entwicklungen auf dem Gebiet der Unfallverhütung sowie insbesondere auch die Einstellung der Arbeiter zur Unfallproblematik und zur Unfallverhütung. Die Fragen, warum präventive Elemente in der Unfallversicherung so schwach ausgeprägt waren und wie und wann sich das änderte, wurden nicht aufgeworfen. Leider hält sich eine solch vereinfachende Perspektive teilweise bis heute, und abgesehen von der Festschriftliteratur bewerten nur wenige Autoren die praktische Unfallverhütungsarbeit differenziert.2 Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, die präventiven Maßnahmen der Unfallversicherung genauer in den Blick zu nehmen. Von großer Bedeutung im Gesamtzusammenhang ist vor allem die Entwicklung der 1920er Jahre, in denen ein Paradigmenwechsel stattfand, der, so die These dieses Beitrags, große Auswirkungen auf den Arbeiterschutz und auch auf den präventiven „Instrumentenkasten“ des gesamten Gesundheitssystems hatte. Dabei zeigt sich, dass der Unfallversicherung auf dem Feld der Prävention teilweise sogar eine Vorreiterrolle zukam. Die diesem Beitrag zugrundeliegende Fragestellung lautet daher: Wie stand es nun tatsächlich um die berufsgenossenschaftliche Unfallverhütung und welche historischen Entwicklungen lassen sich feststellen? Zunächst werden die grundlegenden Begrifflichkeiten geklärt und die wichtigsten Akteure sowie deren präventive Instrumente kurz vorgestellt. Dann wird gleichsam als Ausgangssituation des Paradigmenwechsels der Stand der Unfallverhütungsmaßnahmen im Kaiserreich erörtert. Daraufhin wird ausführlich auf die Entstehungsgeschichte und Entwicklung der sogenannten Unfallverhütungspropaganda in der Weimarer Republik eingegan1 2
Zu nennen sind hier etwa Machtan: Risikoversicherung (1985); Machtan: Arbeit (1985); Machtan/Berlepsch (1986); Milles/Müller (1987). Vgl. Tennstedt (1983), S. 338 f.
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Sebastian Knoll-Jung
gen sowie deren Wirkung und Akzeptanz bei den Arbeitern beleuchtet. Zuletzt wird resümierend die Unfallverhütungsarbeit der Unfallversicherung in einen Gesamtzusammenhang der Prävention innerhalb des Gesundheitssystems eingeordnet. Begrifflichkeiten, Akteure und deren präventive Maßnahmen Eine Definition des Arbeitsunfalls gestaltet sich recht schwierig, denn je nachdem, welche Sichtweise man anlegt, sei es eine medizinische, versicherungsrechtliche, wirtschafts- oder sozialwissenschaftliche, fällt das Ergebnis anders aus. Wichtiges Element ist, dass es sich um ein plötzliches, schädigendes Ereignis handelt. Das Kriterium „plötzlich“ grenzt den Arbeitsunfall von der Berufskrankheit ab. Für eine Auslegung im Sinne der Unfallversicherung sind wichtige Kriterien, dass ein Unfall in räumlichem, zeitlichem und ursächlichem Zusammenhang mit dem Betrieb stehen muss.3 Eine zweckmäßige Auslegung des Arbeitsunfalls im Sinne einer Sozialgeschichte der Medizin erweitert den Begriff und versteht ihn als ein soziales Phänomen, das vom Gefahrenbewusstsein über die Prävention, das Unfallereignis, die Heilbehandlung bis zum großen Feld der Folgenbewältigung reicht. Im vorliegenden Beitrag geht es nun vor allem um die Prävention. Der in diesem Beitrag verwendete Präventionsbegriff kann recht einfach als Primärprävention im Sinne von Unfallverhütung beschrieben werden. Primär bedeutet, dass der Eingriff vor dem Eintreten der Gesundheitsschädigung stattfindet.4 Dies trifft unzweifelhaft auf die Unfallverhütung zu. Unfallverhütung ist wiederum nur ein Teil des Arbeiterschutzes, der zudem unter anderem Berufskrankheiten sowie Arbeitszeitregelungen und Arbeitsverbote, Kinder- und Jugendarbeitsschutz sowie Frauen- und Mutterschutz umfasst. Des Weiteren kann Prävention danach aufgegliedert werden, worauf sie sich ausrichtet: Die Verhältnisprävention vollzieht sich in Form von Beeinflussungen gesellschaftlicher Strukturen, die zumeist durch gesetzgeberische Eingriffe initiiert werden. Die anwendbaren Methoden sind hier normativ-regulatorische Verfahren, also Gesetze, Vorschriften, Verbote, aber auch ökonomischer Anreiz oder Bestrafungssysteme. Die Verhaltensprävention setzt sich die Veränderung von gesundheitsgefährdendem Verhalten zum Ziel und nutzt dabei edukative Verfahren wie Information, Aufklärung und Beratung.5 An diesen beiden Formen lässt sich, wie später zu sehen sein wird, auch der Wandel der Unfallverhütung festmachen. Da die hier behandelten historischen Entwicklungen hauptsächlich im Zusammenhang mit der Unfallversicherung stehen, ist es an dieser Stelle sinnvoll, deren Aufgaben und Aufbau in Grundzügen zusammenzufassen. 1884 3 4 5
Vgl. Knoll (1932), S. 23. Vgl. Leppin (2004), S. 32. Vgl. Waller (2007), S. 129; Leppin (2004), S. 37.
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im Rahmen der Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung eingeführt, löste die Unfallversicherungsgesetzgebung die bisherige unzureichende Haftpflichtregelung ab. Allein durch die Unternehmer nach einem Umlageverfahren finanziert, erhielten Unfallopfer nach der 13. Woche eine Unfallrente in einer Höhe von bis zu zwei Dritteln des Lohnes. Für die Heilkosten im Zeitraum davor waren die auch von den Arbeitern getragenen Krankenkassen zuständig. Träger der Unfallversicherungen waren nach Branchen organisierte Berufsgenossenschaften als selbstverwaltete Körperschaften der Unternehmer. Als Kontroll- und Spruchinstanz fungierte das Reichsversicherungsamt in Berlin. Neben der wichtigsten Aufgabe, der Entschädigung Unfallverletzter und Hinterbliebener, waren Heilbehandlung, Rehabilitation und eben auch die Unfallverhütung Aufgabenfelder der Unfallversicherung und ihrer Träger. Viele weitere Akteure betätigten sich auf diesem Feld. Sie lassen sich in drei Gruppen unterteilen: die Arbeiter selbst, auch in organisierter Form als Arbeiterbewegung, die Unternehmerseite, die sich zum Teil auch zum Zweck der Unfallverhütung zusammenschloss, und zuletzt institutionelle Akteure, zweigeteilt in die auf Grundlage der Gewerbeordnung agierenden Fabrikinspektoren, später Gewerbeaufsicht genannt, und die Unfallversicherung mit ihren Trägern, den Berufsgenossenschaften. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich den verschiedenen Akteuren folgende präventive Maßnahmen zuordnen: Bei den Arbeitern waren dies etwa der Arbeitsplatzwechsel oder die Beschwerde bei verschiedenen Stellen bis hin zur Eingabe beim Kaiser.6 Diese konnten auch von der Arbeiterbewegung ausgehen, die außerdem häufig die Arbeiterpresse einsetzte, um öffentlichkeitswirksam auf Missstände aufmerksam zu machen und für deren Beseitigung zu sorgen. In der Weimarer Republik war eine aktive Beteiligung am betrieblichen Arbeiterschutz dann auch über die Betriebsräte möglich. Den Unternehmern oblag vor allem der technische Arbeiterschutz, also die unfallsichere Ausrüstung der Betriebe, das Anbringen von Schutzvorrichtungen und das Bereitstellen von Sicherheitsausrüstungen, Kleidung, Schutzbrillen usw. Sie konnten aber auch über Eignungsprüfungen oder mittels Bestrafungssystemen und Arbeitsordnungen eingreifen. Als staatlicher Akteur übte die Gewerbeaufsicht in erster Linie eine Kontrollfunktion aus; sie wirkte aber auch aufklärend, etwa über die veröffentlichten Jahresberichte. Starke regionale Unterschiede sind hier allerdings zu berücksichtigen, und vor allem die süddeutschen Staaten nahmen hier eine Vorreiterrolle ein. Die Unfallversicherung setzte zunächst auf ein Vorschriftenwesen und dessen Überwachung in den Betrieben, erst später auf die sogenannte Unfallverhütungspropaganda. Auf diesen Prozess gilt es nun im Detail einzugehen.
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Einige Beispiele dafür enthält Tenfelde/Trischler (1986).
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Unfallverhütung im Kaiserreich Dass das Unfallversicherungsgesetz überhaupt Unfallverhütungsmaßnahmen enthielt, geht auf Tonio Bödiker (1843–1907), den späteren ersten Präsidenten des Reichsversicherungsamts, zurück, der während seiner Amtszeit darum bemüht war, den sehr offengehaltenen Abschnitt des Gesetzes zur Unfallverhütung mit Leben zu füllen.7 Erste und wichtigste Maßnahme der Berufsgenossenschaften im Kaiserreich war der Erlass von Unfallverhütungsvorschriften. Da diese von den Selbstverwaltungsorganen der Unfallversicherung, den Berufsgenossenschaften, und nicht unmittelbar vom Gesetzgeber erlassen wurden, waren sie als lockere Rechtsnormen aufzufassen. Ihrer rechtlichen Natur nach handelte es sich nicht um Schutzgesetze, sondern lediglich um eine Richtschnur zur Unfallverhütung, beschränkt auf die Genossenschaftsmitglieder, die Unternehmer und die Versicherten, also die Arbeitnehmer.8 Nach dem Unfallversicherungsgesetz von 1884 blieb für die Berufsgenossenschaften der Erlass der Vorschriften zunächst unverbindlich, und einige ließen sich daher noch bis zur Jahrhundertwende Zeit mit der Umsetzung. Dazu gab es erhebliche Unterschiede in Qualität und Umfang sowie der Durchsetzung und Kontrolle der Regelungen.9 Obligatorisch wurden sie erst mit der Reichsversicherungsordnung von 1911. Inhaltlich blieben die Unfallverhütungsvorschriften sehr technisch geprägt und betrafen vor allem verschiedene Maschinentypen mit hoher Unfallgefahr wie Motoren, Transmissionen, Arbeitsmaschinen, Hebemaschinen oder Dampfkessel. Daher mussten sie stets auf dem neuesten Stand gehalten werden. Diejenigen Vorschriften, die die Arbeiter betrafen, setzten vor allem auf Verbote und knüpften an die Arbeitsordnungen an. Aufklärungen über die Gefahren spielten eine nur untergeordnete Rolle. In der Praxis ließen die Kontrollen der Vorschriften zu wünschen übrig. Die Strafen bei Missachtung waren sehr gering. Ab 1900 waren technische Aufsichtsbeamte der Berufsgenossenschaften mit der Kontrolle betraut, Schwierigkeiten blieben aber bestehen. Kritisch ist dabei auch deren Nähe zu den Unternehmern zu sehen, die Versicherten hatten keine Mitspracherechte. Die Akzeptanz war auch seitens der Unternehmer nicht sehr groß, immer wieder wurde festgestellt, dass die Unfallverhütungsvorschriften nicht eingehalten und teilweise gar nicht ausgehängt wurden. Vor allem in kleinindustriellen und ländlichen Betrieben herrschten diesbezüglich große Missstände. So wundert es nicht, dass Wirkung und Akzeptanz der Unfallverhütungsvorschriften auch bei den Arbeitern nur wenig ausgeprägt waren. Zahlreiche Zeugnisse belegen, dass die Vorgaben kaum beachtet und eingehalten wurden. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen lag dies an den Vorschriften selbst. Stil und Sprache der in Paragraphen unterteilten Texte waren schwer verständlich und standen in der Tradition einer Administration „von oben“. 7 8 9
Vgl. Tennstedt (1981), S. 176. Vgl. Syrup (1927), S. 5. Vgl. Simons (1984), S. 135 f.
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Auch deren Umfang schreckte ab, wie folgendes Beispiel aus der chemischen Industrie verdeutlicht: Wer den Umfang dieser Vorschriften kennt, wird verstehen, dass nicht ein Arbeiter die Zeit und Mühe nimmt, sie zu lesen. In manchen Betrieben müssen bis 15 Plakate von ganz respektablem Umfang ausgehängt werden, in Mineralwasserfabriken, die oft nur aus einem einzigen Kellerraum bestehen, in dem ein Bursche oder eine Spülfrau beschäftigt ist, sind es mindestens vier. Ein verständnisvolles Lesen müsste Stunden beanspruchen, die in keinem Fabrikbetrieb zur Verfügung stehen.10
Der Autor dieser Sätze betonte außerdem, dass es für ihn unverständlich sei, „wie der Aushang in Plakatform jahrzehntelang als das wirksamste Mittel der Bekanntgabe angegeben werden konnte“11, und unterstrich die Wertlosigkeit der ausgehängten Vorschriften. Teilweise sorgte auch das Akkordlohnsystem dafür, dass ein Einhalten der Vorschriften nur schwer möglich war oder sich lohnmindernd auswirkte. Eine Erhebung unter Arbeitern kam zu folgendem Ergebnis: „Die Unfallverhütungsmaßnahmen werden sehr mangelhaft von beiden Seiten beachtet; von den Arbeitern ist es oft gar nicht möglich, sie zu befolgen.“12 Zur weiteren Begründung heißt es: „Die Unfallverhütungsvorschriften werden von den Arbeitern mangelhaft beachtet, weil sie infolge niedriger Akkordsätze zu heftig arbeiten.“13 Grundsätzlich fiel die Einstellung der Arbeiter zur Unfallverhütung sehr unterschiedlich aus und reichte von Gleichgültigkeit bis hin zur Ablehnung. Aus seinem Erfahrungsschatz unterteilte ein technischer Angestellter der Siemens-Schukert-Werke, sicher vereinfacht, die Arbeiter in diese drei Gruppen: „Ein kleiner Teil begrüßt sie, der größte Teil steht vollständig gleichgültig da und der Rest wittert in jeder Schutzvorrichtung einen Feind.“14 Im Jahr 1913 löste ein mit dem bezeichnenden Titel „Ketzerische Gedanken über Unfallverhütung“ bedachter Artikel eines technischen Aufsichtsbeamten eine wissenschaftliche Debatte um den Wert der bisherigen Unfallverhütungsmaßnahmen aus: Fragt man bei einer Betriebsbesichtigung den begleitenden Unternehmer oder Fabrikbeamten, ob denn die Unfallverhütungsvorschriften gelesen werden, so wird er, wenn er einigen Sinn für Humor hat, wahrscheinlich antworten, es sei noch niemals ein Gedränge vor den Unfallverhütungsplakaten bemerkt worden. […] Vor Beginn der Arbeit ist keine Zeit übrig, beim Fabrikschluss hat der Mann Eile nach Hause oder in die Kneipe zu kommen und während der Pausen wird er den Detektivroman des Wurstblättchen [sic!], in das sein Butterbrod eingewickelt war, immer noch interessanter finden, als unsere Unfallverhütungsvorschriften. Ich wiederhole nochmals, ich billige das nicht, aber ich verstehe es.15
An diesem Zitat ist neben dem ausgedrückten Verständnis für das mangelnde Interesse wohl vor allem bemerkenswert, dass nun ernsthaft die Perspektive 10 11 12 13 14 15
Koch (1928), S. 66 f. Koch (1928), S. 67. Wieber (1909), S. 186. Wieber (1909), S. 211. Gottschalk (1923/24), S. 826. Klein (1909), S. 43.
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der Arbeiter reflektiert wurde. Der Artikel erregte in Fachkreisen große Aufmerksamkeit und löste in der Zeitschrift Sozial-Technik eine umfassende Debatte aus. Das Umdenken in der berufsgenossenschaftlichen Unfallverhütung ging also im Wesentlichen von Seiten der mit der Betriebspraxis vertrauten technischen Aufsichtsbeamten aus. Es sollte allerdings noch bis in die Weimarer Republik dauern, bis tatsächlich entscheidende Veränderungen einsetzten. Dennoch gingen von den Unfallverhütungsvorschriften wichtige Impulse aus. Auch wenn ein Teil der Unternehmerschaft ihnen ablehnend gegenüberstand, setzten sie doch wichtige Standards im Maschinenschutz. Ganz konkret schrieben sie vor, wo Schutzvorrichtungen in den Betrieben angebracht werden mussten. Sie wurden diesbezüglich fortlaufend überarbeitet und auf dem neuesten technischen Stand gehalten, auch wenn es hier Unterschiede zwischen den zahlreichen – bis 1914 waren es immerhin 68 – gewerblichen Berufsgenossenschaften gab. Daneben gingen viele technische Publikationen der neuesten Schutzvorrichtungen auf Mitarbeiter der Berufsgenossenschaften und des Reichsversicherungsamts zurück. Letzteres legte außerdem eine eigene Sammlung an, um das technische Wissen um die Unfallverhütung zu verbreiten. Schutzvorrichtungen wurden so zu einem beliebten Ausstellungsobjekt auf Gewerbeausstellungen sowie auf eigens ausgerichteten Fachausstellungen.16 Hier hatte die Unfallversicherung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Weitere konkrete und effektive Maßnahmen im Maschinenschutz, wie eine Verpflichtung der Maschinenhersteller, Schutzvorrichtungen schon bei der Produktion anzubringen, scheiterten aber an deren wirtschaftlichen Eigeninteressen. Eine grundsätzliche Problematik lag darin, dass trotz der Bemühung der Unfallversicherungsträger das Anbringen von Schutzvorrichtungen letztlich in der Entscheidungsgewalt der Unternehmer blieb. Der Druck, der von den Berufsgenossenschaften ausgehen konnte, blieb gering, weil die Kontrollen nur unzureichend durchgeführt wurden und die Strafen zu mild waren. So lag vor dem Ersten Weltkrieg trotz der Bemühungen im Maschinenschutz noch vieles im Argen, und insbesondere in kleineren und ländlichen Betrieben sowie der Landwirtschaft waren ungesicherte Maschinen eine häufige Unfallquelle. In diesem Zeitraum waren die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften zunächst Nachzügler beim Erlass der Vorschriften, dann aber um die Jahrhundertwende die Ersten, die dazu übergingen, mittels bildlicher Darstellungen die Vermittlung der Unfallverhütungsvorschriften zu unterstützen, wie das Bild einer besonders häufigen Unfallquelle, der Dampfdreschmaschinen, zeigt. Man kann sich denken, wie gefährlich die Arbeit an diesem Gerät ohne die abgebildeten Schutzvorrichtungen war, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass dabei häufig auch Kinder und Jugendliche mitwirkten. Ein weiterer Zwischenschritt hin zur Unfallverhütungspropaganda der 1920er Jahre bestand darin, gezielt kurze prägnante Warnschilder in möglichst auffallenden Farben an exponierten Stellen auszuhängen. Es handelte sich 16
Vgl. zu diesem Thema etwa Poser (1998).
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Abb. 1: Dreschmaschine. Quelle: Altenburgische landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft (1905), S. 8
quasi um eine vereinfachte Form der Unfallverhütungsvorschrift, aus deren Text häufig Auszüge wiedergegeben wurden. Eine weitere Maßnahme bestand darin, neben den gedruckten Unfallverhütungsvorschriften auch Plakate mit mahnenden Exempeln von besonders schrecklichen Arbeitsunfällen in den Betrieben auszuhängen. Ein sehr frühes Beispiel dafür aus dem Jahr 1889 von der Rheinisch-Westfälischen Hüttenund Walzwerks-Berufsgenossenschaft ist in der Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik von Wolfgang Ayass abgedruckt, der es als das wohl früheste Unfallverhütungsplakat einer Berufsgenossenschaft bezeichnet.17 Auf diesem heißt es unter der Überschrift „Warnung an sämmtliche Arbeiter“: Der Schrottbinder […], welcher mit der Bedienung der betreffenden Betriebsmaschine nicht beauftragt war, suchte diese lediglich aus Vorwitz in Gang zu bringen. Unbekannt mit der Art der Bedienung einer Maschine, wurde derselbe, als die Maschine in Betrieb kam, vom Schwungrad erfasst und ihm der Kopf vom Rumpfe getrennt. Dieser lediglich durch Leichtsinn und Übermut herbeigeführte traurige Unglücksfall wird hierdurch zur Warnung gemacht.18
Der autoritäre, mahnende Tonfall des Anschlags sowie die einseitige Schuldzuweisung dürften bei den Arbeitern jedoch kaum Wirkung erzeugt haben. Diese Art von Anschlägen war wohl auch nur wenig verbreitet, was sich daraus schließen lässt, dass sie in den einschlägigen Abhandlungen und Organen 17 18
Vgl. Ayass (2001), S. XXXV. Zit. n. Ayass (2001), S. XVI.
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der Berufsgenossenschaften, der Gewerbeaufsichtsbeamten und des Reichsversicherungsamts keine Erwähnung finden. Nun war es so, dass der Einsatz von Bildern zur Gesundheitsprävention durchaus auch schon im betrieblichen Kontext stattfand; beispielsweise nutzte der niederländische Arzt Louis Hejdermann diese bereits seit 1908 zur Verbesserung der Gesundheit der Arbeiter.19 Allerdings handelte es sich im Gegensatz zu der Unfallverhütungspropaganda der 1920er Jahre noch um Einzelfälle und nicht um eine breitangelegte Kampagne. Für das Kaiserreich lässt sich also festhalten, dass die Unfallverhütungsmaßnahmen vor allem passiv und normativ blieben. Immer noch wurde Unfallverhütung nur von der Maschine und nicht vom Arbeiter aus gedacht, eine Ansprache des Letzteren selbst fand nur in Ansätzen statt. Zu berücksichtigen ist dabei, dass sowohl hinsichtlich der Unternehmer als auch der Arbeiter bei Einführung der Unfallversicherung noch kein Bewusstsein für Prävention im heutigen Sinne vorhanden war und auch noch kein „Instrumentenkasten“ für die Unfallverhütung bestand. Die Unfallverhütungsarbeit musste quasi von null anfangen. Dieser Umstand wird bei der bisherigen geschichtswissenschaftlichen Bewertung ebenso wenig berücksichtigt wie die Tatsache, dass das Hauptaufgabenfeld der Unfallversicherung die Entschädigung von Arbeitsunfällen war. Auf dem Weg zur Unfallverhütungspropaganda Eine Zäsur in der Entwicklung der Unfallverhütung stellt die Zeit des Ersten Weltkriegs dar. Zum einen erhöhten sich die Unfallraten sehr stark durch die Besonderheiten der Kriegswirtschaft: Es waren nun Betriebsfremde, Frauen, Jugendliche und Zwangsarbeiter in für sie unbekannten, zum Teil sehr unfallgefährlichen Beschäftigungsfeldern tätig. Insbesondere brachte die Rüstungsproduktion, vor allem die Munitionsherstellung, große Gefahren mit sich. Dessen ungeachtet fuhr man das Engagement in der Unfallverhütung trotz gesteigerter Gefährdungssituation zurück, zwangsweise vor allem, weil ein Großteil des Aufsichtspersonals eingezogen wurde. In der Nachkriegszeit erschwerte dann zunächst die instabile politische Situation das Zustandekommen einer effektiven Unfallverhütungspolitik. Wie kam es vor diesem Hintergrund nun zu einem Wandel hin zur Unfallverhütungspropaganda? Das unmittelbare Vorbild war sicherlich die „Safety-First-Bewegung“ aus den Vereinigten Staaten, die sich die Verhütung von Arbeits-, aber auch häuslichen Unfällen zum Ziel gesetzt hatte. Als Dachorganisation diente dabei das 1913 gegründete „National Safety Council“ in Chicago, gebildet als nichtstaatliche Vereinigung von Unternehmern und Gewerkschaften zur Professionalisierung der Unfallverhütung. Hauptsächlich von Industrieverbänden bezahlt, 19
Vgl. Altena (2006).
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nutzte es verschiedene Werbemedien und baute einen Beratungsdienst auf. Man versuchte den Unternehmern näherzubringen, dass sich Unfallverhütung auch finanziell lohne, dafür stand der Slogan „Safety pays“.20 Dieser neue Ansatz zeichnete sich durch „die Betonung der Eigenverantwortung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie den Einsatz professioneller Werbegrafik zur Unfallverhütung aus“.21 Ein Aufsatz aus dem Jahr 1929 in der Zeitschrift Maschinenbau erklärte das Prinzip der Unfallverhütungspropaganda mit folgenden Worten: [Die Amerikaner] wissen, daß gute Gedanken sich mit rein sachlichen Begründungen nur schwer einführen lassen und daß man die Dinge mundgerecht, also volkstümlich machen muß. Der amerikanische „Rummel“ ist ein ganz außerordentlich wirksames dynamisches Hilfsmittel, um einer Bewegung Durchschlagskraft zu geben.22
Im selben Artikel wird der hohe Stellenwert der Unfallverhütungs-Werbung auch damit begründet, dass sie für die Unternehmer günstiger sei als Investitionen in technische Präventionsmittel. Weil man in den Vereinigten Staaten vor allem auf Propagandamittel setze, werde dort der technische Bereich der Unfallverhütung strukturell vernachlässigt. Außerdem fehlte in dem dortigen „privatwirtschaftlich organisierten Unfallversicherungssystem die staatliche Behörde, die mit hoheitlicher Gewalt die Installation technischer Präventionsmittel hätte anordnen können“.23 Zu Recht wird hier darauf hingewiesen, dass eine einseitige Strategie wenig erfolgreich ist und stattdessen eine Kombination verschiedener Unfallverhütungsinstrumente, wie dies ab den 1920er Jahren in Deutschland der Fall war, als effektivster Weg angesehen werden kann. Allerdings dauerte hier die Übernahme der amerikanischen Idee der Unfallverhütungspropaganda bis nach dem Ersten Weltkrieg bzw. sogar bis die Berufsgenossenschaften die wirtschaftlichen Probleme der Inflationszeit überwunden hatten. Ein verstärktes Engagement der Berufsgenossenschaften resultierte zum Teil auch aus dem ökonomischen Druck durch die wirtschaftlichen Krisen der Nachkriegszeit. Sie wurden zu einer wichtigen Antriebskraft für die Verbesserung der Unfallverhütung, weil so den stetig steigenden Rentenlasten begegnet werden konnte. Außerdem dürfte sich in gewissem Maße die Angst vor einem Ausbau der staatlichen Gewerbeaufsicht durch die sozialdemokratischen Politiker ausgewirkt haben. Auch die Rationalisierungsbestrebungen der 1920er Jahre trugen zur Verbesserung der Unfallverhütung bei, weil deren systematische Suche nach Verlustquellen auch die Senkung der Betriebsunkosten durch Arbeitsunfälle in den Fokus der Unternehmer rückte. Zunächst drückte sich die neue Stoßrichtung organisatorisch aus: 1920 wurde auf dem Berufsgenossenschaftstag die Zentralstelle für Unfallverhütung ins Leben gerufen. Zu deren Aufgaben gehörten Weiterentwicklung und Ausdehnung der Normal-Unfallverhütungsvorschriften, Sammlung von Veröf20 21 22 23
Vgl. Pletz (1995), S. 53 f. Lengwiler (2006), S. 179. Buxbaum (1929), S. 421. Lengwiler (2006), S. 179.
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fentlichungen zur Unfallverhütung sowie Sichtung, Typisierung und Verbilligung von Sicherungsvorrichtungen. Im folgenden Jahr bildete sich auf dem Berufsgenossenschaftstag dann eine Arbeitsgemeinschaft für Unfallverhütung. In dieser schlossen sich verschiedene Interessengruppen, unter anderem die gewerblichen und landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund, die Arbeitsgemeinschaft deutscher Betriebsingenieure sowie der Verein Deutscher Maschinenbauanstalten, zum Zweck der Kooperation auf dem Feld der Unfallverhütung zusammen. Deren Wirkung blieb allerdings begrenzt.24 Die neugeschaffene Organisationsstruktur bildete eine wichtige Voraussetzung für die sich in den Folgejahren zutragende Entwicklung. Aufgrund der Inflation bestanden aber zunächst noch dringlichere Probleme wie die desolate Finanzlage, die es zu lösen galt. Ein weiterer wichtiger Schritt hin zur Unfallverhütungspropaganda war, dass die Berufsgenossenschaften ganz grundsätzlich den Arbeiter als „Gegenstand“ der Unfallverhütung erkannten oder, wie es in einem richtungsweisenden Aufsatz hieß, „der Mensch Mittelpunkt der schadensverhütenden Tätigkeit“ werden müsse.25 Programmatisch fand diese Erkenntnis unter anderem Niederschlag in dem Publikationsorgan der Dachorganisation des Verbandes deutscher Berufsgenossenschaften: Die Unfallverhütung hat sich seit ihrem Bestehen in erster Linie mit dem Objekt der unfallsicheren Ausgestaltung der Maschinen und Betriebseinrichtungen beschäftigt […] Der andere Teil der Unfallverhütung, die Erziehung des Subjektes, die Einwirkung auf die Versicherten zur Selbstzucht, zur Beachtung der Unfallverhütungsvorschriften und zum unfallsicheren Arbeiten, erscheint dagegen stark vernachlässigt, obgleich er unbedingt in hohem Maße wichtig und noch in höherem Maße erfolgsversprechend ist, wie die Unfallverhütung am Objekt. Was nutzt uns die Schutzvorrichtung, wenn sie die Arbeiter nicht benutzen? Unkenntnis, Mutwillen, Böswilligkeit, meist aber Unverstand sind die Ursache der Nichtbeachtung der Unfallverhütungsvorschriften.26
Der Arbeiter wurde hier zwar als Zielperson erkannt, jedoch nicht als gleichberechtigtes Subjekt, sondern als zu belehrendes und formbares Objekt der berufsgenossenschaftlichen Erziehung. Zudem wird einseitig die Schuld an den Unfällen den Arbeitern zugeschrieben und in keiner Weise auf unfallgefährliche Arbeitsbedingungen eingegangen. Grundsätzlich sah die Unfallversicherung eine Entschädigung von Arbeitsunfällen unabhängig von der Schuldfrage vor, mit Ausnahme von mutwillig herbeigeführten Verletzungen. Im Einzelfall wurden die Unfallursachen also nicht geklärt. Wohl auch aus diesem Grund wurden sie häufig Gegenstand politischer Debatten, bei denen die Berufsgenossenschaften meist wie oben zitiert argumentierten, während die Arbeiterpresse die Gegenposition einnahm und die Schuld der Unternehmerseite zuschrieb. Eine objektive, wissenschaftlich fundierte Unfallforschung existierte nicht und bildete sich in der 24 Vgl. Weber (1988), S. 135. 25 Didier (1923/24), S. 1099. 26 Die Berufsgenossenschaft 36 (1921), H. 7, Technische Beilage.
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Weimarer Republik erst in Ansätzen heraus. Auch diesbezüglich mangelte es immer noch an Grundlagenwissen. Die „Unfallverhütung im Bilde“ in der Weimarer Republik Schließlich war es 1923 die Tiefbau-Berufsgenossenschaft, die zuerst begann, nach dem Vorbild kommerzieller Reklame in den Betrieben mit der „Unfallverhütung im Bilde“ für mehr Sicherheit zu werben. Sie veröffentlichte einen Band mit 50 Tafeln und Plakaten mit der im Vorwort erklärten Absicht, „das Bild systematisch in den Dienst der Unfallverhütung zu stellen“.27 An derselben Stelle wird auf das amerikanische Vorbild verwiesen: Während in Amerika, wo die Unfallversicherung in den Händen privater Versicherungsgesellschaften liegt, das Bild aus rein wirtschaftlichen Gründen schon seit längerer Zeit zur Förderung des Interesses an der Unfallverhütung benutzt wird, bedeutet dieser Gedanke für Deutschland etwas Neues.28
In ihrer bildlichen Darstellung waren die Plakate noch sehr eng an die Unfallverhütungsvorschriften angelehnt. Es handelte sich zunächst um Übersetzungen der Inhalte ins Bild, wie aus folgender Illustration hervorgeht. Dennoch waren die Bilder ein voller Erfolg, und rasch setzte eine dynamische Entwicklung ein. Im Dezember 1924 wurde von den Berufsgenossenschaften die Unfallverhütungsbild G. m. b. H. gegründet. Deren Aufgabe bestand in der Herstellung und dem Vertrieb der Darstellungen zur Verhütung von Arbeitsunfällen. In schneller Abfolge veröffentlichte diese eine Vielzahl verschiedener Unfallverhütungsbilder, anfänglich in der Regel in Plakatform mit Auflagen von bis zu 60.000 Stück.29 Verbreitung fanden die Abbildungen zudem durch den ab 1925 unter dem Titel „Arbeiterschutz, Unfallverhütung, Gewerbehygiene“ erschienenen dritten Teil des Reichsarbeitsblattes. Dieses Organ wurde zu einer wichtigen Plattform für Diskussionen um die Wirkung der Unfallverhütungspropaganda, woran sich neben Wissenschaftlern und Funktionären auch Betriebsräte beteiligten. Die erste Ausgabe sprach davon, die Unfallverhütung praxisnah „volkstümlich und bildlich“ zu veranschaulichen.30 Neben Plakaten wurden die Unfallverhütungsbilder auch verwendet auf Flugblättern, Lohntüten – diese stellten sich als besonders wirksame Träger heraus –, Werbemarken, Briefbögen usw. Die Werbung sollte sich also nicht nur auf den Betrieb beschränken, sondern auch in Zeitungen und Verkehrsmitteln eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Zudem bestand die Möglichkeit, die Bilder als Diapositive bei der Unfallverhütungsbild G. m. b. H. zur Verwendung für Vorträge zu bestellen. Für die Tages- und Fachpresse, darunter vor allem auch die Arbeiterzeitungen und Gewerkschaftsblätter, wurden 27 28 29 30
Vgl. Tiefbau-Berufsgenossenschaft (1923), S. 1. Tiefbau-Berufsgenossenschaft (1923), S. 1. Vgl. Michels (1925), S. 10. Reichsarbeitsministerium (1925), S. 2.
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Abb. 2: Unfallverhütung im Bilde. Quelle: Tiefbau-Berufsgenossenschaft (1923), S. 25 f.
die Bildstöcke verkleinerter Bilder zur Förderung der allgemeinen Aufklärungstätigkeit kostenlos zur Verfügung gestellt.31 Folgendes Zitat aus einem Runderlass des Reichsversicherungsamts an die Vorstände der Berufsgenossenschaften zeigt zum einen dessen Positionierung zu der neuen Form der Unfallverhütung und zählt zum anderen auch die zahlreichen Einsatzmöglichkeiten der Bilder auf: Auch die Werbung zu unfallsicherem Verhalten unter Benutzung des Unfallverhütungsbildes in Form von Plakaten, Flugblättern, Aufdrucken auf Lohntüten, Werbemarken, Aufdrucken auf Briefbögen, Briefumschlägen u. a. m. ist als ein zweckdienliches Mittel vielfach anerkannt worden, um Unfälle zu verhüten. Obwohl die B. Gen. [Berufsgenossenschaften] sich schon in ausgedehntem Maße dieses Mittels bedienen, wird erneut darauf hingewiesen, dass nichts unterlassen werden darf, um die Werbung durch das Bild möglichst wirksam zu gestalten. Diese Werbung wird sich nicht allein auf die Betriebe zu beschränken haben. Die Erweiterung der U. V. [Unfallversicherung] auf den Weg von und zur Arbeit rechtfertigt auch die Heranziehung öffentlicher Verkehrsmittel, Zeitungen usw. für diese Zwecke. Eine solche öffentliche Werbung würde auch geeignet sein, den Gedanken der Unfallverhütung in die breiten Massen, insbesondere in die Jugend, im Sinne eines allgemeinen Unfallverhütungsunterrichts hineinzutragen.32
Die Unfallverhütungsbilder blieben also nicht auf die Betriebe beschränkt, vielmehr wurde sogar im öffentlichen Raum mit ihnen geworben. Zeitgenössisch wurden die Vorteile der Bildwerbung wie folgt beschrieben: 31 Vgl. Michels (1929), S. 39. 32 Reichsversicherungsamt (1927), H. 7, S. 358.
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Das Bild ist wegen seiner besonderen Eindringlichkeit das bestwerbende Propagandamittel. Es ist besser als jede Beschreibung imstande, rasch zu belehren. Worte müssen sich im Gehirn erst in Bilder umsetzen. Das Bild dagegen lässt sich unmittelbar mit einem Blick erfassen und leicht wieder ins Gedächtnis zurückrufen.33
Aus dieser Position geht hervor, weshalb die neuen Tendenzen zum Teil auch unter dem Begriff der „psychologischen Unfallverhütung“ firmierten. Hierunter fallen allerdings auch die psychologischen Einstellungsuntersuchungen jener Zeit vor dem Hintergrund der Annahme einer Unfallneigung gewisser Personen. Während es sich bei der psychologischen Unfallforschung also vor allem um eine theoretisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung handelte, beschrieb die Unfallverhütungspropaganda die praktische Arbeit der Berufsgenossenschaften. Auch die Motive der Bilder entwickelten sich fort. Teilweise beschäftigten sich sogar bekannte Künstler wie etwa Käthe Kollwitz mit der Materie. Diese Art der Mahnbilder deckt sich mit folgender Annahme eines Gewerbeassessors aus dem Jahr 1923: „Bei deutschen Arbeitern wird man aber am nachhaltigsten einen Eindruck dadurch erwecken, dass man sich an sein Gemüt, an die Vernunft, an den Familiensinn, an seine Ordnungsliebe wendet.“34 Man versuchte also, dem klassischen Familienmodell entsprechend, einen Appell an die Ehemänner zu richten und auf deren Verantwortung als Familienernährer hinzuweisen. In der Folgezeit blieben solche mahnenden Darstellungen allerdings in der Minderzahl. Eine weitere Darstellungsform der Unfallverhütungsbilder lag im Gegenüberstellen von falschem und richtigem Verhalten bzw. darin, die Konsequenzen falscher Handlungen zu zeigen. Unbelehrbare wurden hier sozusagen an den Pranger gestellt, wie dies mit dem rauchenden Arbeiter auf Abb. 4 zu sehen ist. Darin verweisen die Kollegen sogar auf dort im Hintergrund abgebildete Plakate und Warnschilder. Der Großteil der Bilder zielte vor allem auf eine Abschreckungswirkung, so deutlich zu sehen in Abb. 5. Alf Lüdtke nutzte die Unfallverhütungsplakate als Bildquelle im Zusammenhang mit einer Untersuchung zum Begriff des deutschen „Qualitätsarbeiters“ mit folgendem Ergebnis: Die Ikonographie dieser – in der Grundausgabe – kolorierten (Kohle- oder Feder-)Zeichnungen betonte dramatische und lebensbedrohliche Unfälle: Gezeigt wurden der Absturz vom Montagegerüst, der einschlagende Blitz oder Haar bzw. Jackenmäntel, die sich in die laufende Drehbank oder das Bohrgestänge verwickelten. Auf ungefähr drei Vierteln der ca. 50 Plakate von 1925 und 1926 erschienen die Verursacher als Opfer; dabei verstärkte die Drastik der Bildersprache den Eindruck, dass nur „Dumme“ oder „Unbelehrbare“ so nachlässig oder unvorsichtig handelten. Appelliert wurde an den beherrschten, stets kontrollierten „Qualitätsarbeiter“ – neben dem die „Qualitätsarbeiterin“ aber nicht fehlte.35
33 Michels (1925), S. 9. 34 Didier (1923/24), S. 1100. 35 Lüdtke (1986), S. 184 f.
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Abb. 3: Käthe Kollwitz: Eine Mahnung zur Vorsicht bei der Arbeit. Quelle: Reichsarbeitsverwaltung (1926), S. 3
Abb. 4: Rauchen am Arbeitsplatz. Quelle: Reichsarbeitsministerium (1926), S. 133
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Abb. 5: Notwendigkeit für einen Kopfschutz. Quelle: Reichsarbeitsverwaltung (1926), S. 14
Der letzte Punkt spielt auf die überdurchschnittlich häufige Darstellung von Arbeiterinnen an. Tatsächlich erscheint es beachtlich, wie viele der Plakate sich dieser Zielgruppe widmeten. Insbesondere auf die Unfallgefahr von langen Haaren wurde mehrfach und in teilweise drastischer Weise hingewiesen, wie weiter oben zu sehen ist. Frauen wurden nun nicht nur in ihrer Rolle der Unfallopfer beweinenden Mutter oder Ehefrau angesprochen, sondern auch in ihrer Funktion als Fabrikarbeiterin. Stereotype blieben dennoch erhalten, wie folgendes Zitat belegt: Das Bild der Reichsarbeitsverwaltung „Benutze unfallsichere Holztritte oder Leitern!“ Es stellt eine Frau dar, die zum Fensterputzen auf einem Faß steht, das umkippt und sie zu Fall bringt. Dann das Bild der Unfallverhütungsbild-G. m. b. H. „Ein Kopftuch ist kleidsam und schützt vor Gefahr!“ einen Mädchenkopf darstellend mit Kopftuch in geschmackvollen Farben gehalten, auf die Eitelkeit der Arbeiterinnen spekulierend.36
In der Folgezeit wurden nun auch weitere Wege gegangen und andere Medien für die Unfallverhütungspropaganda eingesetzt, auch wenn absolut gesehen die Bildwerbung in Plakatform dominant blieb. Als wirksamer Träger erwies sich der ab 1927 mit einer Auflage von 1,1 Millionen herausgegebene Unfallverhütungskalender, ein Taschenkalender mit Bildern und Anleitungen zur Unfallver-
36 Kritzler (1930), S. 74.
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hütung und Ersten Hilfe.37 Stetig steigende Auflagenzahlen zeigen dessen Beliebtheit. Er blieb bis in die Bundesrepublik hinein eine feste Institution. Außerdem wurde die Unfallverhütung Bestandteil der an Bedeutung gewinnenden Berufsausbildung auch mit kostenlos zur Verfügung gestellten Unterrichtsmaterialien der Unfallverhütungsbild G. m. b. H. Entsprechende Kurse wurden nun zur Pflicht. Darüber hinaus erfolgte sogar eine Belieferung der Volksschulen mit Unfallverhütungs-Material.38 Die Suche nach neuen Vermittlungsformen beschränkte sich nicht nur auf gedruckte Bilder, auch in bewegter Form wurden sie eingesetzt. Erstmals wurde das Medium Film bereits 1912 für die Unfallverhütung entdeckt. In Zusammenhang mit Fachvorträgen kamen Filmausschnitte zum Einsatz, die im Folgejahr auch auf dem Zweiten Internationalen Kongress für Rettungswesen und Unfallverhütung in Wien einem großen Fachpublikum vorgeführt wurden. Sie stießen dort auf sehr positive Resonanz. Leihgesuche wurden gestellt und Kopien angefordert.39 Eine starke Verbreitung, insbesondere auch unter der Arbeiterbevölkerung, dürfte der Film allerdings nicht gefunden haben, wohl auch wegen der Einschränkungen der Unfallverhütungsarbeit während des Weltkrieges. Erst in der Weimarer Republik rückte der Film auf dem Berufsgenossenschaftstag 1922 wieder in den Fokus der Entscheidungsträger, wo ein „Belehrungsfilm im Dienste der Unfallverhütung im Bergbau“ vorgeführt wurde.40 Im Anschluss an die Unfallverhütungspropaganda seit der Mitte der 1920er Jahre entstanden weitere Filme einzelner Berufsgenossenschaften. Sie trugen Titel wie „Vorsicht Gefahr!“ oder „Die lauernde Gefahr“ und setzten vornehmlich auf das Abschreckungsprinzip durch das Vorführen von Fehlverhalten und dessen schweren Folgen.41 So produzierte etwa die Buchdruckergenossenschaft einen Film namens „Der Kampf mit dem Unfallteufel“. In der Regel wurden die Filme von Gewerbeaufsichts- oder technischen Aufsichtsbeamten in größeren Betrieben vorgeführt und erläutert. Die reinen Spielfilmformate waren auch in Lichtspieltheatern zu sehen.42 Die Buchdrucker-Berufsgenossenschaft benutzt für die Vorführung vorzugsweise die Sonntagvormittage, weil dann mit dem stärksten Besuch auch der Familienangehörigen zu rechnen und die Miete der um diese Zeit sonst leerstehenden Kinos gering ist. Im Verlauf von 2 Jahren hat die BuchdruckerBerufsgenossenschaft an 90 verschiedenen Orten 110 Vorführungen vor rund 25000 Versicherten erzielt.43 Auch die Arbeiterbewegung lieferte einen Beitrag: Unter dem martialischen Titel „Das Schlachtfeld der Arbeit“ entstand 1931 auf Veranlassung des 37 38 39 40 41 42 43
Vgl. Michels (1929), S. 39. Vgl. Michels (1929), S. 39; Will (1929), S. 61. Vgl. Poser (1998), S. 125 f. Vgl. Die Berufsgenossenschaft 37 (1922), H. 18, S. 147. Vgl. Sachs (1928). Vgl. Kritzler (1930), S. 77 f. Michels (1929), S. 40.
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Arbeiter-Samariter-Bundes eine eigene Filmproduktion zur Unfallverhütung und zur Ersten Hilfe.44 Als weiteres Medium wurde die Rundfunkwerbung für die Unfallverhütungspropaganda in Beschlag genommen. Hier gelang es allerdings nur selten, Vorträge zur Thematik in das Programm der Sender zu bringen.45 1929 rief der Verband deutscher Berufsgenossenschaften die Reichsunfallverhütungswochen als weitere öffentlichkeitswirksame Maßnahme aus. In Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen, wie zum Beispiel den AutomobilClubs, der Post und der Reichsbahn, wurden 44 Bezirksausschüsse und annähernd 3.000 Ortsausschüsse gebildet, die für die lokalen Veranstaltungen verantwortlich waren.46 Der Verband selbst sorgte für die Finanzierung der zentralen Arbeit, wie Organisationsbüro, Ausarbeitung und Herstellung der Nachrichtenblätter, Herstellung des Aufrufs, der Merkblätter, andere Druckschriften, Verteilung von Millionen von Klebemarken, Pressestelle, Herstellung von Mustervorträgen, Herstellung des RUWo [Reichsunfallverhütungswochen]-Plakats, Filmkopien usw.47
Der Erfolg blieb allerdings beschränkt. Die Besucherzahlen seien auch wegen einer Kältewelle im März nur gering gewesen.48 Wirkung und Akzeptanz der Unfallverhütungspropaganda Wie stand es nun um die Wirkung und Akzeptanz der hier beschriebenen Unfallverhütungsmaßnahmen? Zunächst lässt sich über die wichtigste Werbeform Plakat sagen, dass diese schnell sehr weite Verbreitung fand, im Gegensatz wohl zu den Aushängen der Unfallverhütungsvorschriften in den 1890er Jahren. Über die Verbreitung der Unfallverhütungsbilder berichtete 1926 der Gewerbeaufsichtsbeamte für Wiesbaden, dass solche in fast allen, sogar den kleinsten Betrieben anzutreffen seien, wenn auch nicht immer in bestem Zustand: Nach der allgemein vertretenen Ansicht der Arbeitgeber erfüllen sie ihren Zweck, die Arbeiter auf die Betriebsgefahren aufmerksam zu machen, besser als lange, gedruckte Unfallverhütungsvorschriften. Leider wird in zahlreichen Betrieben die Wirkung der Bilder durch ungünstige Aufhängung beeinträchtigt; sie werden durch Verstauben oder Beschädigungen unansehnlich, so dass das Interesse der Arbeiter an ihnen nachlässt.49
Diskutiert wurde die Wirkung der Unfallverhütungsplakate auch im Arbeiterschutz. Dort gab es ganz konkrete Beispiele dafür, wie Arbeitsunfälle durch die Bilder verhindert wurden:
44 45 46 47 48 49
Vgl. Müller (1988), S. 174. Vgl. Michels (1929), S. 39. Vgl. Wickenhagen (1980), S. 204. Wickenhagen (1980), S. 204. Vgl. Wickenhagen (1980), S. 204. Ministerium für Handel und Gewerbe (1927), S. 571.
34
Sebastian Knoll-Jung So wurde in Württemberg mehrfach die Erfahrung gemacht, dass seit der Aushängung des Bildes „Glasauge oder Schutzbrille?“ (Unfallverhütungsbild-G. m. b. h. Nr. 2) die Benützung von Schutzbrillen eine viel häufigere als vorher geworden sei. In der Provinz Oberschlesien war ein Fall bemerkenswert, in dem ein Arbeiter auf einer Leiter an sich drehenden Transmissionswellen arbeitete, durch den Zuruf eines Mitarbeiters, „Denk an das Unfallbild!“ veranlasst wurde, die gefährliche Arbeit sofort einzustellen.50
Eine 1926 durchgeführte Befragung von vier Lehrlingsklassen der Werkschule der Firma A. Borsig-Tegel, die zwar nicht als repräsentativ betrachtet werden kann, aber dennoch interessante Ergebnisse bezüglich der Wirkung und Akzeptanz der Unfallverhütungsplakate erbrachte, kam zu folgendem Resultat: Von den 14- bis 20-Jährigen gaben 60 Prozent an, ihnen seien bei bestimmten Arbeiten die entsprechenden Unfallbilder schon einmal in den Sinn gekommen.51 Es gab aus den Reihen der Arbeiterschaft auch kritische Stimmen. Beispielsweise merkte ein Betriebsratsmitglied eines Ausbesserungswerks der Reichsbahn in Wittenberge an, dass Unfallverhütungsbilder nur auf die Arbeiterschaft ausgerichtet waren. Seiner Ansicht nach sollten aber auch Vorarbeiter, Meister und Betriebsführer angesprochen werden.52 Auch die bereits erwähnte Umfrage unter Lehrlingen des Berliner BorsigWerks förderte eine gewisse Skepsis zutage: Wenn die Bilder vom Werk aus aufgehängt werden und es den Anschein hat, dass ihre Beachtung vom Werk gewünscht wird, dann stoßen sie bei vielen sofort auf Verschlossenheit, die sich durch viele Jahre allen Dingen gegenüber, die in Richtung eines gemeinsamen Interesses mit dem Werk liegen, gezeigt hat. Was vom Werk, oder überhaupt von „oben“ her kommt […] wird von vielen misstrauisch betrachtet oder überhaupt nicht beachtet, wenn nicht eine direkte Nötigung erfolgt. Das ist eine Tatsache, mit der die Unfallverhütungspropaganda sich wird abfinden müssen.53
Eine ablehnende Haltung schien die Unfallverhütungspropaganda also vor allem dann zu erzeugen, wenn sie ein Gefühl der Bevormundung erweckte. Nur so ist es wohl zu verstehen, dass in einzelnen Fällen Bilder auch abgerissen oder beschädigt wurden, wie der Gewerbeaufsichtsbeamte von Trier 1926 feststellte.54 Ein sozialdemokratischer Betriebsrat aus Dortmund bemängelte zudem die einseitige Behandlung der Schuldfrage: Gewisse Inschriften und Unfallbilder sowie die Art der Darstellung statistischen Materials, in der auf die Bedeutung menschlicher Eigenschaften für die Unfallhäufigkeit hingewiesen wird, müssen beim Arbeiter das Gefühl aufkommen lassen, daß man ihn in erster Linie für die Häufigkeit der Unfälle verantwortlich machen wolle, daß es nur darauf ankomme, ihn zu belehren und sein Verantwortungsgefühl zu stärken.55
Tatsächlich setzte die Unfallverhütungspropaganda allein beim Verhalten der Arbeiter an, unfallgefährliche Arbeitsbedingungen, fehlende Schutzvorrichtungen und Ähnliches blieben völlig ausgeblendet. So verwundert es nicht, 50 51 52 53 54 55
Feig (1927), S. 15. Vgl. Hildebrandt (1926), S. 554. Vgl. Gehrand (1928). Hildebrandt (1926), S. 555. Vgl. Ministerium für Handel und Gewerbe (1927), S. 571. Dünnebacke (1927), S. 29. Hervorhebungen im Original.
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wenn etwa ein Plakat mit der Aufforderung „Geht ausgeruht zur Arbeit!“ auf wenig Gegenliebe stieß, wenn in dem Betrieb gleichzeitig 12-stündige Wechselschichten gefahren wurden.56 Der bereits zitierte Betriebsrat äußerte sich weiter über Missgriffe in der Bildpropaganda, die sogar zu Protesten der Belegschaft führten: Worte wie Leichtsinn und Unvorsichtigkeit, Bilder auf denen ein als Arbeiter gekleideter, idiotischer Trunkenbold zu sehen ist, müssen das Ehrgefühl des Arbeiters verletzen. Auf einem größeren Werk, welches das letztere Bild auf den Lohntüten angebracht hatte, setzte ein Entrüstungssturm der Belegschaft ein, der nicht eher nachließ, bis das Bild verschwand.57
Aus dieser Kritik lässt sich nun ablesen, dass die Unfallverhütungspropaganda von Seiten der Zielgruppe keineswegs kommentarlos hingenommen wurde. Dies kann als Beleg dafür gelten, dass auch in der Arbeiterschaft in diesem Zeitraum das Bewusstsein für die Prävention von Arbeitsunfällen gewachsen war. Gerade im Akkordlohn stehende Arbeiter wurden oftmals weiterhin mit der Entscheidung alleingelassen, ein gewisses Maß an Unfallgefahr zu akzeptieren oder sich an die Sicherheitsregeln zu halten und damit Lohneinbußen hinzunehmen. Besonders im Bergbau konterkarierten die Arbeitsbedingungen häufig die beworbenen Sicherheitsmaßnahmen, wie Helmuth Trischler feststellte: Die allenthalben angeschlagenen Serienbilder über Maßnahmen zur Unfallverhütung wurden von den Bergleuten „belacht, verhöhnt und bekrittelt“, machten sie doch tagtäglich die Erfahrung, daß deren Umsetzung in die Praxis von den an Produktionssteigerung und Selbstkostenverminderung orientierten Zechendirektoren de facto geradezu sabotiert wurde.58
Doch auch hier wurde den Plakaten von Seiten der Arbeiter durchaus Beachtung geschenkt und deren Inhalte diskutiert: Die einen tadeln die angeblich unschönen Darstellungen der Menschen auf den Bildern, andere stoßen sich an vermeintlichen unrichtigen und fehlerhaften Ausführungen in bergtechnischer Hinsicht, wieder andere sagen: es steht nicht genug drauf, noch andere das Gegenteil usw.59
Ganz konkrete Vorschläge zu den Bildinhalten der Plakate machte der zitierte Dortmunder Betriebsrat. Er schlug vor, mehr Fotografien einzusetzen, da diese „mit ihrer nüchternen Sachlichkeit mehr Beachtung finden wie das Kunstwerk, besonders wenn dieses auf ästhetisches Verständnis Anspruch erhebt, wie etwa das Bild von Käthe Kollwitz“.60 Es entwickelte sich demnach auch in Teilen der gemäßigten Arbeiterbewegung ein differenzierter Blick auf die Maßnahmen der Unfallversicherung, der nicht mehr nur in Ablehnung bestand, sondern sich in Verbesserung und 56 57 58 59 60
Vgl. Dünnebacke (1927), S. 29. Dünnebacke (1927), S. 29. Trischler (1988), S. 133. Leidenroth (1926), S. 98 f. Dünnebacke (1927), S. 29.
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konstruktiver Zusammenarbeit ausdrückte. Politische Konflikte wurden auf diesem wichtigen Feld im Wesentlichen mit den Kommunisten ausgetragen, wie etwa deren Parteipresse belegt. Schließlich beschrieb eine zeitgenössische Dissertation die weibliche Perspektive auf die Unfallverhütungsplakate, allerdings sehr stereotyp: „Es besteht vielfach der Wunsch, dass man grausige und blutrünstige Darstellungen vermeiden solle; sie werden besonders von Arbeiterinnen abgelehnt.“61 So lässt sich resümieren, dass die Aufmerksamkeit, die Akzeptanz und auch die Wirkung der Unfallverhütungspropaganda recht hoch gewesen sein dürften, insbesondere im Vergleich mit den bisherigen Maßnahmen wie den unzureichenden Unfallverhütungsvorschriften. Diese bestanden indes weiterhin als normative Regeln fort und wurden auch stetig auf dem neuesten technischen Stand gehalten. Die Unfallverhütungswerbung bildete daher eine sinnvolle Ergänzung. Die Weimarer Republik lässt sich als eine für die Entwicklung der Unfallverhütung sehr wichtige Zeit beschreiben. Hier fand in der Tat eine Wende statt, die zum einen den Menschen in den Fokus der präventiven Tätigkeit rückte und zum anderen eine Intensivierung präventiver Bemühungen sowie eine Ausweitung des „Instrumentenkastens“ mit sich brachte. In der Zeit des Nationalsozialismus reihte sich die Unfallverhütungswerbung nahtlos in die NS-Propaganda ein. Sie wurde nun auch zum Transport politischer Botschaften funktionalisiert. In Symbolik und Inhalt traten etwa die Stärkung des Arbeiterkörpers und der Volksgemeinschaft in den Vordergrund.62 Ein Blick auf die Zeit nach 1945 zeigt, dass sich an den Werbemitteln, vor allem Plakat, Kalender und Film, im Grunde nichts änderte. Sicherlich hat die Plakatwerbung mittlerweile quantitativ abgenommen und das Unfallverhütungsbild an Bedeutung verloren, grundsätzlich blieben die Werbeformen der 1920er Jahre aber weiter bestehen. Die Berufsgenossenschaften setzen inzwischen hauptsächlich auf Informationshefte und Zeitschriften für ihre Aufklärungsarbeit, die nun mehr informativ als plakativ stattfindet. Neue Medien wie das Internet und deren Möglichkeiten werden heute erst zaghaft eingesetzt. Als eine der wenigen Ausnahmen sei hier die Fleischerei-Berufsgenossenschaft angeführt mit ihrem Versuch, vor allem Lehrlinge mit einem Computerspiel zu erreichen und auf die Schutzvorrichtungen und Vorschriften aufmerksam zu machen. Unfallverhütung und die Prävention im Gesundheitssystem Kommt man nun von diesem Exkurs zurück auf den Untersuchungszeitraum, bleibt die Frage zu beantworten, wie sich der Paradigmenwechsel der 1920er Jahre auf dem Feld der Unfallverhütung nun in den Gesamtzusammenhang präventiver Bemühungen innerhalb des Gesundheitssystems einordnen lässt. 61 Kritzler (1930), S. 75. 62 Vgl. Schwoch (2003).
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Die Antwort liegt darin, dass die in der Medizingeschichte nur wenig beachtete Unfallversicherung und ihre Akteure, wie Reichsversicherungsamt und Berufsgenossenschaften, auf dem Feld der Prävention eine Vorreiterrolle einnahmen. Ganz konkret ist damit gemeint, dass Methoden und Instrumente der Prävention hier aufgebaut und erprobt wurden, die erst später auch vom staatlichen Gesundheitswesen und Krankenkassen adaptiert wurden. Vornehmlich trifft dies auf die Übernahme von Methoden kommerzieller Reklame zu, also den Einsatz von Massenmedien zur Gesundheitswerbung. Im Grunde handelte es sich bei der hier zur Anwendung gebrachten Bildwerbung nicht um etwas ausgesprochen Neues, denn die technische Möglichkeit, kostengünstig große Auflagen herzustellen, war schon recht lange gegeben. Auch war die Unfallverhütungswerbung in den Vereinigten Staaten schon weitverbreitet. Der eigentliche innovative Akt lag darin, dass die Berufsgenossenschaften mit dem Einsatz kommerzieller Reklamemethoden zum Zweck der Prävention in dem geschilderten Ausmaß, das die Form einer großangelegten Kampagne annahm, in Deutschland Neuland betraten. Auch wenn sich der Erfolg letztlich nicht messen lässt, weil verhinderte Unfälle statistisch nicht zu erfassen sind, ist die Leistung der Unfallversicherung auf dem Gebiet der Verhaltensprävention doch hervorzuheben. In Zahlen drückt sich der Stellenwert der Prävention in der Unfallversicherung dergestalt aus, dass die Berufsgenossenschaften 1912 etwa 1,45 Prozent und 1925 schon 2,46 Prozent der Gesamtausgaben in die Unfallverhütung investierten.63 Angesichts der heute von den Krankenkassen aufgewendeten etwa vier Prozent des Gesamtbudgets erscheinen diese Zahlen doch sehr beachtlich.64 Wenn es auch einige Zeit dauerte, bis diese Intensivierung der Unfallverhütungsarbeit einsetzte und die rein normativ-regulierend und technisch geprägten Unfallverhütungsvorschriften um die Ansprache der Arbeiter mit Methoden der kommerziellen Reklame ergänzt wurden, kann zu keinem Zeitpunkt davon gesprochen werden, dass es sich bei der Unfallversicherung um eine „präventionsfreie“ Einrichtung handelte. Entsprechende Ansichten, wie sie zum Teil in der Sozialversicherungsgeschichtsschreibung der 1980er Jahre vertreten wurden, erscheinen schon für die Anfangsjahre der Unfallversicherung sehr fraglich und sind spätestens für die 1920er Jahre nicht mehr haltbar. Ganz konkrete Verbesserungen, vor allem gegenüber der bisherigen unzureichenden Haftpflichtgesetzgebung, bei der präventives Vorgehen überhaupt nicht vorgesehen und geregelt war, sowie die langfristigen Entwicklungen und Dynamiken wurden hier außer Acht gelassen. Eher politisch motiviert als auf empirischen Erkenntnissen beruhend erscheint außerdem der Hauptkritikpunkt der erwähnten Forschung zur Unfallversicherung, nämlich der Vorwurf, die Unfallverhütung sei in der Unfallversicherung dem ökonomischen Kalkül preisgegeben. Ökonomische Anreize 63 Zahlen errechnet nach den Nachweisen über die gesamten Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften für das Jahr 1912 und 1925, in: Reichsversicherungsamt (1914) und Reichsversicherungsamt (1927). 64 Vgl. Hurrelmann u. a. (2004), S. 14.
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per se negativ zu bewerten und zu behaupten, dass eine staatliche Aufsicht effektiver gewesen wäre, ist zu einfach. Denn letztlich konnten so auch neue Impulse entstehen, wie eben die Übernahme von Methoden kommerzieller Reklame, die allein durch staatliche Aufsichtsbehörden nicht möglich waren. Eine Kritik am ökonomischen Kalkül der Berufsgenossenschaften wäre bei deren Hauptbetätigungsfeld, den Rentenleistungen, wirklich angebracht. Hier waren die Unfallopfer tatsächlich häufig Willkür und Ungerechtigkeiten ausgesetzt, wofür Schlagwörter wie Rentendrückerei oder der „Kampf um die Rente“ stehen. Auch dieses Feld der Unfallversicherung bietet aus historischer Perspektive noch erheblichen Forschungsbedarf. Zusammenfassend lässt sich nun als wichtigste Erkenntnis der Untersuchung zur Entwicklung präventiver Maßnahmen in der Unfallversicherung festhalten, dass es sich bei den 1920er Jahren um eine wichtige Schwellenzeit handelte, in der eine fundamentale Neuausrichtung der Unfallverhütung in der Unfallversicherung stattfand. Der Zeitraum war ein Versuchsfeld für die Nutzung verschiedener Medientypen zum Zweck der Prävention, insbesondere für die Adaption von Methoden der kommerziellen Reklame. Diesbezüglich nahmen die Unfallversicherung und ihre Träger eine Vorreiterrolle im Gesundheitssystem ein. Letztlich hat sich die in der Weimarer Republik entstandene Vorgehensweise der Ansprache der Arbeiter ergänzend zu dem Vorschriftenwesen bis heute kaum geändert.
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Von der Milchausgabe zum Darmscreening Angebote und Praktiken werksärztlicher Prävention nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel der BASF Ludwigshafen Sylvelyn Hähner-Rombach
Einführung Die werksärztliche Versorgung, die während des Dritten Reiches zur Leistungs- und Kontrollmedizin umfunktioniert und dadurch diskreditiert wurde1, erfuhr mit Beginn des Zweiten Weltkriegs eine erhebliche Ausweitung2. Nach Kriegsende kam im westlichen Teil Deutschlands das „System betriebsärztlicher Versorgung weitgehend zum Erliegen“, während im sowjetisch besetzten Ostdeutschland seit 1947 die Etablierung von Betriebspolikliniken vorangetrieben wurde.3 Die Arbeitsmediziner im Westen betätigten sich zunächst auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen. Das mag dazu beigetragen haben, dass ihre Zahl gering war und nur langsam stieg.4 1950 und 1953 legten die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Werksärztliche Arbeitsgemeinschaft Leitsätze und Richtlinien werksärztlicher Tätigkeit fest.5 Diese wurden erst 1973 durch das „Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit“6 abgelöst. Drei Jahre später geriet erneut die Jugend mit dem „Gesetz zum Schutz der arbeitenden Jugend“ vom 12. April 1976, das das Jugendarbeitsschutzgesetz vom August 1960 ablöste, in gesundheitlicher Hin1
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Zur Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus siehe v. a. Rauh/Leven (2013); Elsner: Schattenseiten (2011); Höfler-Waag (1994); Süß (2003), S. 242–268; Knödler (1991); Karl-Peter Reeg (1988); Peter Reeg (1989). Zur Arbeitsmedizin in der Weimarer Zeit siehe Schottdorf (1995); Elsner: Konstitution (2011). So führte das Deutsche Ärzteblatt zwischen 1943 und 1944 eine Steigerung von 5.000 auf 8.000 haupt- und nebenamtliche Betriebsärzte auf. Vgl. Peter Reeg (1989), S. 64. Bei Süß findet sich eine Statistik, die den Anstieg zwischen 1939 und 1944 anschaulich zeigt. Vgl. Süß (2003), S. 441. Süß weist auch darauf hin, dass Ende des Jahres 1944 „rund 8000 der ca. 30 000 praktizierenden Ärzte bevorzugt für den produzierenden Teil der Bevölkerung tätig“ waren. Süß (2003), S. 263. Gerst (2004), S. 219. So gab es im Jahr 1951 in der Bundesrepublik Deutschland nur insgesamt 479 Werksärzte, davon 193 hauptamtliche und 286 nebenamtliche. 1961 war ihre Zahl auf 560 gestiegen, 1963 auf rund 1.000. Vgl. Pfeffer (1974), S. 58 f. Bei Pfeffer findet sich auch eine Übersicht über die Gesamtzahl der Werksärzte von 1950 bis 1972. Vgl. Pfeffer (1974), S. 60. Vgl. „Vereinbarung zwischen der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und der Werksärztlichen Arbeitsgemeinschaft über den werksärztlichen Dienst“ vom 1. März 1953, abgedruckt in Thiess (1980), S. 347–352. Dieses Gesetz findet sich in Thiess (1980), S. 354–363.
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sicht in den gesetzgeberischen Fokus.7 1996 trat das „Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit“8 in Kraft. Dieses Gesetz bildete wiederum die Grundlage für den Erlass von Rechtsverordnungen zur Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, wie die Bildschirmarbeitsverordnung von 19969, die Arbeitsstättenverordnung von 200410 oder die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge von 200811. Der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz gehört zu den Hauptaufgaben der Arbeitsmediziner. Trotz der seit den 1960er Jahren zunehmenden Bedeutung dieses Themas fehlt es im deutschsprachigen Raum bis auf wenige Ausnahmen an aktuellen Forschungen zur Sozialgeschichte der Arbeitsmedizin nach dem Zweiten Weltkrieg.12 Eine Gesamtdarstellung, die heutigen Ansprüchen genügen würde, fehlt ganz.13 Für die anglo-amerikanische Forschung sieht es etwas besser aus, wenn auch ein Schwerpunkt der Arbeiten auf der Bergwerksindustrie liegt, und dies auch für die Zeit vor 1945.14 Insofern versteht sich der vorliegende Aufsatz auch als Beitrag zur Sozialgeschichte der Arbeitsmedizin in Deutschland.
7 Vgl. Frerich/Frey (1996), S. 204. 8 Das Gesetz findet sich unter http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/arbschg/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 6.8.2014). 9 http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bildscharbv/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 6.8.2014). 10 http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/arbst_ttv_2004/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 6.8.2014). 11 http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/arbmedvv/gesamt.pdf (letzter Zugriff: 6.8.2014). 12 Zur Sozialgeschichte der Arbeitsmedizin in der Bundesrepublik siehe Labisch (1984) und Labisch (1985); zur institutionellen Entwicklung siehe Pfeffer (1974); Hofmann (2004). Zur Risikoregulierung und Gesundheit am Arbeitsplatz nach 1945 siehe Kleinöder (2012), Schramm (2012) und Bächi (2012); zur DDR siehe Andreas Müller / Zellweger (1988); zur Genetik in der Arbeitsmedizin siehe Westermann/Wiesing (2011). Zur betriebsärztlichen Versorgung bei der Firma Siemens siehe Bartels (2013), Kap. 4.2. 13 Im Grunde liegt weiterhin nur das veraltete Werk von Koelsch (1968) vor. Das von Rainer Müller und Dietrich Milles herausgegebene Werk vereinigt einzelne Beiträge und Dokumente zu unterschiedlichen Zeiten, vgl. Rainer Müller / Milles (1984). 14 Vgl. Weindling (1985); Rosner/Markowitz (1991); Vergara (2005); McIvor/Johnston (2007); Long (2011); Varanda/Cleveland (2014). Der Bergbau hat auch in der deutschen Forschung Beachtung gefunden, allerdings eher für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Vgl. in Auswahl Martin (2000); Menzel (1989). Zu den Berufskrankheiten des Bergbaus in der schweizerischen Unfallversicherung siehe Lengwiler (2006); Lengwiler (2007).
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Vorgehen Im Zentrum der folgenden Untersuchung stehen Angebote des werksärztlichen Dienstes15 der BASF zur Gesunderhaltung bzw. Früherkennung von Krankheiten der Beschäftigten. Ein Unternehmen bzw. ein Betrieb wird hier als ein sozialer Raum betrachtet, in dem – abgesehen von betrieblichen Interessen – weitere, im konkreten Fall gesundheitliche Belange verschiedener Akteure sich treffen, überschneiden oder entgegenstehen: Die Geschäftsführung, der Betriebsrat, die Ärztliche Abteilung und die Beschäftigten haben bestimmte Vorstellungen über Sinn, Zweck und Formen gesundheitlicher Vorsorge, die sich in diesem Feld angleichen müssen, wenn die Beschäftigten von den angebotenen Maßnahmen Gebrauch machen sollen. In die Untersuchung wurden lediglich solche Angebote einbezogen, die über das gesetzlich Vorgeschriebene hinausgingen, weil Akzeptanz nur auf der Basis der Freiwilligkeit generiert werden kann. Mit anderen Worten: Wenn beispielsweise die Berufsgenossenschaft bestimmte Überwachungsuntersuchungen anordnet, kann man keine Analyse der Inanspruchnahme dieser Untersuchungen durchführen, es sei denn, es ginge um die Frage, in welchem Ausmaß gesetzlichen Forderungen nicht entsprochen wird.16 Die Wahl des Untersuchungsgegenstandes fiel aus unterschiedlichen Gründen auf die BASF am Standort Ludwigshafen: zuallererst, weil die Suche nach Unternehmensarchiven mit einer guten Überlieferung der Akten des werksärztlichen Dienstes hier am erfolgreichsten war, dann auch, weil das Chemieunternehmen BASF schon sehr früh einen werksärztlichen Dienst einrichtete, der bis heute besteht und zu den größten in der Bundesrepublik ge15
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Die Bezeichnung für Mediziner und Medizinerinnen, die in Unternehmen ärztlich tätig waren, änderte sich im Laufe der Zeit. Wurden die ersten, in der Regel noch freiberuflichen Ärzte in Unternehmen meist noch „Fabrikarzt“ genannt, existierten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beide Bezeichnungen: Fabrik- und Betriebsarzt, nach 1945 gab es neben der Bezeichnung „Betriebsarzt“ die des „Werksarztes“. Auch die Vereinigung der Betriebs- bzw. Werksärzte bevorzugte nach 1945 ein Derivat von „Werksarzt“, nämlich „Werksärztliche Arbeitsgemeinschaft“. Betriebs- und Werksärzte konnten sich je nach Bundesland durch verschieden lange Weiterbildungsmaßnahmen unterscheiden, daneben etablierte sich der Begriff des „Arbeitsmediziners“. Bei der BASF am Standort Ludwigshafen wurden die Mitglieder der Ärztlichen Abteilung nach 1945 zunächst als „Betriebsärzte“ bezeichnet, in den Auflistungen für den Staatlichen Gewerbearzt ist von 1951 an vom „Werksarzt“ die Rede. Zu den gesetzlich vorgeschriebenen Untersuchungen, die im Laufe der Nachkriegsjahre sukzessiv ausgeweitet wurden, gehören arbeitsmedizinische Überwachungsuntersuchungen nach berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen, der Gefahrstoffverordnung, der Strahlenschutz- und Röntgenverordnung, dem Bundesinfektionsschutz- und Jugendarbeitsschutzgesetz. Zu den internen arbeitsmedizinischen Untersuchungen bei der BASF, die ebenfalls im Laufe der Jahre ausgeweitet wurden, gehören u. a. An- und Einstellungsuntersuchungen, Untersuchungen für Beschäftigte in Wechselschicht sowie spezielle Untersuchungen für Beschäftigte und Angehörige, die für die BASF im Ausland tätig sein sollten. Unter „sonstige Untersuchungen“ fallen u. a. ärztliche Sprechstunden, Krebsvorsorge und Heilverfahren.
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hört17, und last but not least, weil man bei einem Unternehmen mit mehrheitlich männlichen Beschäftigten einmal das Gesundheitsverhalten von Männern in den Blick nehmen kann. Im Folgenden wird also eine kleine Auswahl der Angebote der Ärztlichen Abteilung der BASF seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Jahrtausendwende dargestellt. Das dabei zugrunde gelegte Kriterium war neben der Freiwilligkeit der präventive Charakter der Maßnahme.18 Keine Berücksichtigung fanden die ebenfalls gesetzlich nicht vorgeschriebenen und sehr umfangreichen Angebotspaletten der Bäderabteilungen und der Zahnambulanzen sowie die Leistungen der Tuberkulose-Fürsorgestelle der BASF.19 Die ausgewählten Maßnahmen und Angebote der BASF wurden mit denen anderer Firmen abgeglichen, sofern dafür Informationen zur Verfügung standen. In den folgenden Ausführungen wird zunächst gefragt, ob Phasen oder Konjunkturen bestimmter Angebote ausgemacht werden können, um Aussagen über die Struktur der Angebotspalette machen zu können und ob bzw. wie diese Struktur mit der Entwicklung des „präventiven Selbst“ korreliert. Eine Bestimmung der Zielgruppen, die jeweils anvisiert wurden, und der Interessenten bzw. Motive, die hinter den Angeboten standen, erfolgt in einem weiteren Schritt. Die Tätigkeit der Werksärzte im Betrieb wird spätestens seit den 1953 erlassenen, bereits genannten „Richtlinien für die werksärztliche Tätigkeit“ mit der Arbeitnehmervertretung abgesprochen.20 Deshalb gehören die Mitglieder des Betriebsrates ebenfalls zu den Akteuren im betrieblichen Gesundheitswesen. Deren Tätigkeit ist jedoch bei der BASF nicht gut überliefert. Deshalb wurde auf den Betriebsrat der Schering-Werke in Berlin ausgewichen, um grundsätzlich die Einwirkungsmöglichkeiten eines Betriebsrats einschätzen zu können. Für die Beschäftigtenvertreter von Schering fanden sich zumindest bis Anfang der 1970er Jahre Quellen.21 Da beide Firmen zur chemischen Industrie gehören, in der überwiegend Männer arbeiteten, erschien diese Handhabung legitim. Es folgen kurze Ausführungen zur Inanspruchnahme präventiver Angebote und zu den Medien, die genutzt wurden, um auf sie aufmerksam zu ma17
Es wird davon ausgegangen, dass die BASF das erste chemische Unternehmen in Deutschland war, das 1866 einen Fabrikarzt einstellte, ein Jahr, nachdem das Unternehmen gegründet worden war. Vgl. Thiess (1980), S. 4. Die chemische Industrie gehörte zu den Branchen, die sich früh die ärztliche Versorgung ihrer Beschäftigten angelegen sein ließen. Vgl. Kern (1973). 18 Außerdem wurden Angebote, die bereits untersucht wurden und an anderer Stelle publiziert werden sollen, hier ausgespart. Vgl. Hähner-Rombach (eingereicht). 19 Über die Inanspruchnahme der Bäderabteilungen und der Impfungen sowie die Teilnahme an drei großen Feldstudien, die innerhalb der BASF Ludwigshafen zu Diabetes und Nierenkrankheiten (1968), zum Sehvermögen, zur Farbtüchtigkeit und zum Augeninnendruck (1969) und zur Hypertonie (1974) durchgeführt wurden, siehe Hähner-Rombach (eingereicht). 20 Vgl. den Text der Vereinbarung sowie des nachfolgenden Gesetzes von 1973 in Thiess (1980), S. 347–352, 354–363. 21 Ich danke dem Archivar des Schering Archivs in Berlin, Thore Grimm, für die großzügige Bereitstellung der Archivalien und seine Unterstützung.
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chen. Daran anschließend wird skizziert, inwiefern neue Angebote veränderte Nutzer voraussetzten oder anzogen. Zum Schluss werde ich mich der Frage, wie aus Angeboten Praktiken der Adressaten wurden, annähern. Phasen bzw. Konjunkturen von Praktiken Nachkriegszeit: Verbesserung der Ernährungssituation Die ersten Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren generell von Verknappung gekennzeichnet, darunter fiel auch der Mangel an Nahrungsmitteln. Dieser wurde von den deutschen Ärzten bei den Besatzungsmächten immer wieder moniert und sollte anhand von Gewichtskurven dokumentiert werden.22 Im Juli 1946 wurden beispielsweise rund 7.500 männliche und weibliche Werksangehörige von Bayer im Werk Leverkusen gewogen.23 Auch bei der BASF wurde das Körpergewicht der Beschäftigten bestimmt24, nicht zuletzt nach Aufforderung durch die französische Besatzungsmacht25 oder von ihr kontrolliert26. Während die durchschnittliche Ernährungslage der BASFBelegschaft, v. a. derjenigen Mitarbeiter, die auf dem Land lebten, nicht schlecht war, gab es doch auch Problembereiche, wie das Ammoniaklabor Oppau27, von dessen Beschäftigten es 1947 hieß, sie hätten einen „schlechten Gesundheitszustand“, oder den Chlorbetrieb, dessen Mitarbeiter 1946 durchschnittlich 3,8 Kilogramm Gewicht verloren hatten28. So kam es zur – gleichwohl Einschränkungen unterliegenden – Ausgabe von Milch29; aber auch Vi22 Jessica Reinisch hat dies für alle vier Besatzungszonen zeigen können. Vgl. Reinisch (2013). 23 Archiv Bayer Leverkusen, Bestand 231, Ärztliche Abteilung, Krankenfürsorge und Gesundheitsdienst, 1896–1988. Ich danke dem Archivar von Bayer Leverkusen, Michael Pohlenz, für die großzügige Bereitstellung der Archivalien. 24 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1949 der Ärztlichen Abteilung. Die dort angehängte Übersicht über das durchschnittliche Körpergewicht von 1945 bis 1949 zeigt nur für die Jahre 1946 und 1948 Abnahmen. 25 Vgl. Brief von E. Vannier, Administration des L’I. G. Farben, vom 19.12.1949, in dem der Verfasser um eine Tabelle über regelmäßige Gewichtsmessungen bittet. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1949 der Ärztlichen Abteilung. 26 So berichtete Dr. Krafft in der Betriebsbesprechung der Ärztlichen Abteilung vom 4.12.1946, „dass am 6.12. d. J. Kontrollen der von den Betrieben vor kurzem vorgenommenen Wägungen durch die Franz. Militärregierung erfolgen würden“. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.4./2. 27 Oppau ist seit 1938 ein Stadtteil von Ludwigshafen, in dem die BASF 1913 ein weiteres Werk eröffnet hatte. 28 Vgl. Betriebsbesprechung der Ärztlichen Abteilung am 31.8.1947. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.4./2. 29 Während der Betriebsbesprechung der Ärztlichen Abteilung am 23.1.1957 teilte Dr. Krafft mit, „dass die Milchzuteilung stark reduziert sei und bestimmte, dass nur Bleiarbeiter weiter die gleiche Menge erhalten, während für alle übrigen Betriebe entsprechende Kürzungen eintreten würden“. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.4./2.
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tamin-, Eisen- und Eiweißpräparate wurden gezielt verteilt30. Das war kein Einzelfall, Zusatznahrung wurde noch bis Ende der 1940er Jahre auch in anderen Unternehmen, wie beispielsweise Siemens, bereitgestellt.31 Die Firma Voith in Heidenheim gab im Mai 1948 der Belegschaft einen sogenannten „Exportbonus B“ für Lebensmittelzuteilungen.32 Milch wurde in der chemischen Industrie nicht so sehr als Nahrungsergänzung, sondern eher als „Ausgleich“ für Tätigkeiten betrachtet, die als „giftgefährdend“ galten, weshalb, so der Gewerbearzt für die Pfalz in einem Brief an das Städtische Ernährungsamt Ludwigshafen vom 10. März 1949, „die beantragte Milchzuteilung ärztlich durchaus begründet ist“.33 Es war z. B. die Belegschaft der „Tabletten-Station“, die „mit gesundheitsschädigenden Stoffen dauernd in verhältnismässig grossem Ausmass in enge Berührung“ kam, die von der Milchzuteilung 1949 profitieren sollte.34 Der Glaube an die gesundheitlichen Vorzüge der Milch hielt sich vor allem in der chemischen Industrie lang, so dass die Einstellung ihrer Ausgabe nicht ohne weiteres vonstattenging, wie die Auseinandersetzungen zwischen Betriebsarzt und Betriebsrat bei Schering 1961 zeigten.35 Auch bei den Ärzten der BASF galt 1959 die Auffassung, dass die „Milchzulage“ im Prinzip eine „geringfügige unversteuerte Lohnerhöhung“ sei, da der Milch irgendeine „Bedeutung, die über die eines wertvollen Nahrungsmittels hinausgeht“, nicht zukomme. Dennoch halte man in Bereichen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg Milch erhalten hatten, daran fest, weil „man von diesem Brauchtum ohne einen Wirbel zu erzeugen, nicht abgehen“ könne.36 So kam es, dass noch 1976 weiterhin täglich insgesamt 4.898 Halbliter-Beutel Milch an 63 BASF-Betriebe ausgeliefert wurden.37
30 Vgl. beispielsweise das Protokoll der Betriebsbesprechung der Ärztlichen Abteilung vom 27.11.1946. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.4./2. 31 Vgl. Christians/Middendorf/Oberst (2013), S. 21. 32 Zeittafel des Voith-Sozialwesens. WA BW, Bestand B 80 Bü 2457. 33 Der Gewerbearzt für die Pfalz vom 10.3.1949 an das Städt. Ernährungsamt Ludwigshafen a. Rh. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.2./4. 34 Der Gewerbearzt für die Pfalz vom 14.3.1949 an das Städt. Ernährungsamt Ludwigshafen a. Rh. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.2./4. 35 So heißt es beispielsweise im Protokoll über die am Mittwoch, den 29.11.1961 stattgefundene Betriebsratssitzung bei Schering: „Kollege Richter berichtet, dass Herr Dr. Gick vorgeschlagen hat, dass über die Firma für die Kollegen Arbeitsschuhe beschafft werden, da sich häufig Unfälle dadurch ereignet haben, dass schlechtes Schuhwerk bei der Arbeit getragen wurde. Er ist der Ansicht, dass die Beträge, die für die Milch bisher aufgewendet wurden, dafür eingesetzt werden sollten. – Der Betriebsrat war einstimmig der Meinung, dass die Milch mit den Schuhen nicht kompensiert werden soll. Die Milch soll weiterhin ausgegeben werden. Wegen Beschaffung von Arbeitsschuhen bestand keine einheitliche Meinung. Die Dinge sollen noch weiter geprüft werden.“ Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47, Protokolle 1961–1963. 36 Brief an den Werksarzt der Klöckner-Georgsmarienwerke AG vom 25.2.1959. BASFArchiv, Bestand C.6.3.2./4. 37 Brief der Wirtschaftsbetriebe der BASF an den leitenden Werksarzt, Prof. Dr. Thiess, vom 29.7.1976. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.2./4.
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Die 1950er/1960er Jahre: Kuraufenthalte Kuraufenthalte waren zeitlich die ersten gezielten präventiven Maßnahmen, die zudem auf eine lange Tradition zurückblicken konnten. Zu Beginn der 1950er Jahre setzte nicht nur bei der BASF eine regelrechte Konjunktur einer „Erholungsfürsorge“ von Unternehmensseite ein, deren Wurzeln oft in die Zeit vor 1933 zurückreichten: Werner von Siemens beispielsweise hatte das erste firmeneigene Erholungsheim bereits 1909 erworben.38 Es folgte die Errichtung weiterer solcher Heime, und zwar zunächst für männliche, dann für weibliche Beschäftigte sowie für deren Kinder.39 Durch den Krieg wurden die meisten dieser Heime zerstört, aber ab Ende der 1940er Jahre sukzessive wieder auf- und ausgebaut. Daneben schloss die Firma Siemens „Verträge mit einer Vielzahl von Gasthöfen und Pensionen in ganz Deutschland, um in der Nähe aller großen Standorte Erholungsmöglichkeiten zu bieten“.40 Die Firma Voith in Heidenheim gründete 1949 ein Erholungsheim für Werksangehörige, das im Juli 1950 eingeweiht wurde.41 Die Beschäftigten von Voith mussten sich zu etwa einem Drittel an den Kosten beteiligen.42 Das Unternehmen Bosch unterhielt nach dem Krieg ein reines Ferienbergheim in Riezlern und mietete für die Erholungsverschickungen Gasthäuser und Pensionen am Bodensee, im Schwarzwald und auf der Schwäbischen Alb, um den Beschäftigten die Wahl zu lassen, wo sie sich auf Kosten der Firma erholen wollten. Im Jahr 1950 waren es bei Bosch über 1.000 Betriebsangehörige, die in die Erholung geschickt wurden; die Gesamtaufwendungen betrugen in diesem Jahr rund 135.000 DM.43 Andere Firmen ohne eigene Einrichtungen stellten Gelder ein, um den erholungsbedürftigen Beschäftigten Zuschüsse für ihren Aufenthalt gewähren zu können, wie die Firma Schering, die dafür in Berlin im Jahr 1963 insgesamt 20.000 DM aufwandte.44 Bei der BASF Ludwigshafen konnten ab 1947 wieder Heilverfahren – also Kuren – beantragt werden, jedoch nur, „wenn drohende Invalidität vermieden oder bereits bestehende wieder behoben werden kann“.45 Das heißt, für die Anfangszeit galt dieses Angebot unter stark eingeschränkten Bedingungen und nach strenger Bedarfsprüfung. Für die Durchführung musste darüber hin-
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Vgl. Christians/Middendorf/Oberst (2013), S. 11. Vgl. Bartels (2013), S. 324. Bartels (2013), S. 325. Vgl. Zeittafel des Voith-Sozialwesens. WA BW, Bestand B 80 Bü 2450. WA BW, Bestand B 80 Bü 2450, Nr. II/7.9. Vgl. Robert Bosch GmbH (1951), S. 28 f. Vgl. Protokoll über die am Mittwoch, den 27.2.1963 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47, Protokolle 1961–1963. 45 Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1947. Die Geschichte der Kuren und Erholungsaufenthalte für die arbeitende Bevölkerung gehört noch zu den Desideraten der Sozialgeschichte der Medizin.
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aus zunächst der Jahresurlaub in Anrechnung gebracht werden. Das änderte sich ab 1952 unter bestimmten Voraussetzungen.46 Sogenannte „Erholungsaufenthalte“ waren anfangs vor allem für gewerbliche Arbeiter gedacht, in langsam steigender Zahl kamen dann aber auch Angestellte in deren Genuss. Zu den unterschiedlich konzipierten und sich im Laufe der Jahre ändernden Kuraufenthalten zählten zum einen Heilverfahren der Rentenversicherungsträger. Diese wurden in steigender Zahl gewährt47, bis die wirtschaftliche Lage (Ölkrise) bzw. der Kostendruck im Gesundheitswesen zu einer starken Einschränkung dieses Angebots führte48. Dazu kamen Sonderurlaube in den BASF-eigenen Erholungsheimen49 und ab 1957 die sogenannte „Ohlstadt-Kur“, auch „Ohlstädter-Kur“ oder „Ohlstädter Übungen“ genannt, eine an Sebastian Kneipp orientierte Terrainkur50. Bei Letzterer handelte es sich um eine aktive Bewegungstherapie für Herz- und Kreislauf46 So heißt es im Jahresbericht 1952: „Bei Anträgen auf Erholungsverschickung wird für Sonderfälle empfohlen, diese unter KII laufen zu lassen mit dem Zusatz ‚Nicht unter Anrechnung auf den tarifmässigen Jahresurlaub‘.“ Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1952. Bei der Firma Bosch erhielten die zur Erholungsverschickung ausgesuchten Beschäftigten 1950/51 vier Tage bezahlten Sonderurlaub und mussten acht Arbeitstage von ihrem Jahresurlaub „beisteuern“. Vgl. Robert Bosch GmbH (1951), S. 29 f. 47 So heißt es im Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung von 1966: „Die Zahl der Heilverfahrensanträge läßt eine ständige Steigerung erkennen. Die Ursache ist weniger in einem schlechteren Gesundheitszustand der Belegschaft zu suchen, sondern vielmehr in einer zunehmenden Tendenz, die sozialen Gegebenheiten zu nutzen.“ BASF-Archiv, Bestand C.6.3.3./2. 48 Ein erster Einbruch wurde bereits 1967 verzeichnet, als es zu einem Rückgang der Heilverfahrensanträge um 28 Prozent kam. Vgl. Jahresbericht 1967 der Ärztlichen Abteilung. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.3./2. Das deckt sich mit dem Ende des Nachkriegsaufschwungs 1966, als das Bruttoinlandsprodukt der BRD erstmals seit 1949 sank. Der Abwärtstrend setzte sich erst wieder Mitte der 1970er Jahre fort: „Erstmals seit 1970 ging im Jahre 1975 die Anzahl der bearbeiteten HV-Anträge gegenüber dem Vorjahr zurück, bei den gewerblichen Arbeitnehmern um rund 10 %, bei den Angestellten um rund 5 %, insgesamt um rund 8 %. Wenn man diesen Rückgang dem Einfluß der Wirtschaftskrise im Sinne einer Verunsicherung der Arbeitnehmer zuschreiben will, dann wäre dieser Einfluß auf die Angestellten weit weniger wirksam als auf die gewerblichen Arbeitnehmer und insgesamt nicht sehr erheblich. Das beweist die Tatsache, daß, bei größenordnungsmäßig gleicher Anzahl der HV-Anträge in den Jahren 66 und 74, im Krisenjahr 1967 die Zahl der HV-Anträge bei den gewerblichen Arbeitnehmern um 30 %, bei den Angestellten um 21 %, insgesamt um 28 % zurückging.“ Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1975 der Ärztlichen Abteilung. 49 Deren Zahl steigerte sich in der Nachkriegszeit von zwei (davon eines für Kinder) auf vier 1955 bis zu fünf ab dem Jahr 1958, von denen eines über viele Jahre hinweg für Ehefrauen und Kinder der Beschäftigten reserviert war. Die fünf Erholungsheime hatten zusammen knapp 240 Betten. Die Zahl der BASF-eigenen Erholungsheime war ab Mitte der 1960er Jahre wieder rückläufig. Je nach Belegung konnten auch Pensionäre auf eigene Kosten in die Erholungsheime gehen. Daneben unterhielt die BASF seit 1893 eine eigene Tuberkulose-Heilstätte in Dannenfels. 50 Diese Ohlstadt-Kur wurde 1954 im bayerischen Ohlstadt etabliert und später von anderen Kuranstalten übernommen. Vgl. http://www.ohlstadt.de/index.php?id=129#c490 (letzter Zugriff: 6.8.2014).
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kranke. Bereits vier Jahre zuvor, 1953, hatte die Firma Siemens in Ohlstadt begonnen, Kreislauftrainingskuren anzubieten. Zielgruppe von Siemens waren bei der Etablierung dieses Angebotes kleine Gruppen leitender Mitarbeiter und die „mittlere Führungsschicht“.51 Die Zielgruppe bei der BASF war ähnlich strukturiert. Sonderurlaube wurden bei der BASF ab 1958 für drei verschiedene Gruppen in Betracht gezogen: für Rekonvaleszente (sog. „Gruppe K1“), für solche, die einer Gesundheitsvorsorge bedurften („Gruppe K2“), und für Werksangehörige von gesundheitsgefährdenden Arbeitsplätzen („Gruppe K3“). Ab 1959 gewährte die Firma zudem kostenlose sogenannte „Jugendverschickungen“, die ohne Anrechnung auf den Jahresurlaub durchgeführt werden konnten. Ab 1960 ist daneben die Rede von „Frühheilverfahren“.52 Insgesamt kam in den Hochzeiten, wie etwa 1964, fast jeder 16. gewerbliche Arbeitnehmer und jeder 23. Angestellte der BASF Ludwigshafen in den Genuss eines Heilverfahrens, ohne Einbeziehung der sonstigen Kuren und Erholungsaufenthalte, die ebenfalls in die Hunderte gingen.53 Ab 1950: Impfaktionen und Massenscreening Parallel zur „Erholungsfürsorge“ unterbreitete die Ärztliche Abteilung ab den 1950er Jahren Angebote, die sich an alle BASF-Beschäftigten richteten. 1951, und damit zu einem sehr frühen Zeitpunkt, wurde die erste Tetanus-Impfaktion durchgeführt.54 Als Vorbild für die Einführung dieser Maßnahme, die mit der Werksleitung und dem Betriebsrat abgesprochen worden war, fungierten die USA.55 Von dem Angebot machten 7.430 BASF-Beschäftigte Gebrauch, 51 Vgl. Bartels (2013), S. 320. 52 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1960. In einer Betriebsbesprechung der Ärztlichen Abteilung im Oktober 1963 ist dieses „Frühheilverfahren“ folgendermaßen charakterisiert: „Dieses Frühheilverfahren wird alle 5 Jahre bei Arbeitern, die wegen gesundheitsgefährdender Tätigkeit einen Zusatzurlaub von 3 Tagen pro Jahr zugute hätten, durchgeführt.“ BASFArchiv, Bestand C.6.3.4./2. 53 Vgl. Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1964. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.3./2. Festgehalten wurde auch, dass als Gründe für die Durchführung der Erholungsaufenthalte „Herz-, Kreislauf- und Lungenerkrankungen sowie Abnutzungsschäden des Bewegungsapparates an der Spitze stehen“. Für das Jahr 1962 gibt es eine Angabe zum Anteil der Beschäftigten aller Kuren, also Erholungsaufenthalte und Heilverfahren außerhalb des Jahresurlaubs: Jeder 13. Werksangehörige kam in diesem Jahr in den Genuss einer drei- bis sechswöchigen Kur. Vgl. Jahresbericht 1962 der Ärztlichen Abteilung. BASFArchiv, Bestand C.6.3.3./2. 54 In den Jahresberichten des Werksärztlichen Dienstes von Krupp fand sich im Jahr 1975 der Hinweis, dass dort im November 1973 mit der freiwilligen Tetanus-Schutzimpfung begonnen wurde. Vgl. Jahresbericht für die Zeit vom 1.1. bis 31.12.1975. HA Krupp, Bestand WA 65/104.75. 55 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1951 der Ärztlichen Abteilung.
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das entsprach über 28 Prozent der Belegschaft. Die Beteiligung an dieser Impfung war auch in den folgenden Jahren hoch; so wurden von 1951 bis 1963 insgesamt rund 56.000 Tetanus-Schutzimpfungen vorgenommen.56 Eine weitere, allerdings einmalige Massenimpfaktion war die Polio-Schluckimpfung im Jahr 1964, an der knapp 7.100 Werksangehörige teilnahmen, das entspricht einer Beteiligungsrate von knapp 15 Prozent.57 Grund für die relativ hohe Beteiligung von erwachsenen Männern an dieser erst zwei Jahre zuvor in der Bundesrepublik eingeführten Impfung war wohl die große Polio-Epidemie 1961, an der über 4.500 Personen, darunter Kinder und Erwachsene, erkrankten und 306 Menschen starben.58 Zu den neuen Impfungen gehörte vor allem die bei der BASF 1963 eingeführte Grippeschutz-Impfung, die bis 1971 geringe Teilnahmezahlen von maximal 263 aufwies59, 1972 mit einem Schlag die 4.000er-Marke übersprang, um diese hohe Beteiligung dann allerdings bis Anfang der 1980er Jahre nicht mehr zu erreichen60. Auch bei der Belegschaft der BASF machte sich Impfmüdigkeit breit. Diese betraf jedoch vor allem die Grippeschutz-Impfung61, während die gegen Tetanus im Gegensatz zu den Beschäftigten der Firma Krupp beispielsweise noch länger nachgefragt wurde62. Die Gesamtzahl der Impfungen bei der BASF Ludwigshafen pendelte im Zeitraum von 1951 bis 1980 abgesehen von den Ausnahmewerten 28,1 Prozent im Jahr 1951 und 28,8 Prozent im Folgejahr zwischen 5,6 und 16,6 Prozent.63 Die Schwankungen könnten mit einer sogenannten „Durchimpfungsquote“ der alten Belegschaft und mit Neueinstellungen zusammenhängen, Zahlenangaben dazu ließen sich jedoch nicht finden. Impfen gehört seit der Einführung der Pockenimpfung im 18. Jahrhundert zu den bekanntesten Mitteln der Primärprävention.64 In den Unternehmen wurde diese Maßnahme jedoch erst sehr spät eingeführt65 und setzte mit einer 56 Vgl. Jahresbericht 1963 der Ärztlichen Abteilung. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.3./2. 57 Vgl. Jahresbericht 1964 der Ärztlichen Abteilung. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.3./2. 58 Vgl. Windorfer/Feil (2000), S. 2, online unter http://www.rki.de/DE/Content/Infekt/ Impfen/Praevention/windendorfer_kampf.pdf?__blob=publicationFile (letzter Zugriff: 6.8.2014). 59 Wilfried Witte hat an der Asiatischen Grippe-Pandemie 1957/58 gezeigt, wie wenig Interesse an einer Grippeimpfung in der Bundesrepublik im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern bestand. Diese Zurückhaltung hat sich offenbar lange gehalten. Vgl. Witte (2013). 60 Vgl. Hähner-Rombach (eingereicht). 61 Zum Vergleich: Bei Krupp gingen die Zahlen der Teilnehmer an der Grippe-Impfung von 6.460 im Jahr 1969 auf 979 im Jahr 1983 zurück. Vgl. Jahresbericht für die Zeit vom 1.1. bis 31.12.1983. HA Krupp, Bestand WA 65/104.83. 62 Drei Jahre nach der Einführung dieser Impfung, 1976, hatte sich niemand mehr zur Tetanus-Impfung gemeldet. Vgl. Jahresbericht für die Zeit vom 1.1. bis 31.12.1976. HA Krupp, Bestand WA 65/104.75. 63 Vgl. Hähner-Rombach (eingereicht). 64 Die Literatur zur Pockenimpfung ist zu umfangreich, um sie hier zu nennen. In Auswahl Wolff (1995). Zur Impfung siehe auch den Beitrag von Malte Thießen in diesem Band, dort finden sich weitere Literaturhinweise. 65 Von Impfangeboten – z. B. gegen Pocken – vor 1945 ist mir bislang nichts bekanntgeworden.
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Impfung ein, die aufgrund der Unfallrisiken in gewerblichen Unternehmen nachvollziehbar war: Tetanus. Nachdem diese Impfung bei der BASF sehr gut angenommen wurde, war möglicherweise der Weg gebahnt, auch andere Impfungen „an den Mann zu bringen“, bis sich die erwähnte Impfmüdigkeit zeigte. Hinsichtlich der Durchführung von Massenscreenings ist die Einführung der Röntgenreihenuntersuchung (RRU) zur Entdeckung von Lungenerkrankungen bei der BASF Ludwigshafen im Mai 1966 zu nennen.66 RheinlandPfalz gehörte zu den Ländern der Bundesrepublik, in denen die Teilnahme an der RRU nicht verpflichtend war.67 Bei der BASF nahmen 1966 freiwillig fast 6.600 Beschäftigte an der RRU teil, das waren rund 13,7 Prozent der Belegschaft. Die Beteiligungsrate, die in den Folgejahren noch deutlich anstieg, könnte erstaunen, denn die Tuberkulose, der man vor allem mit diesem diagnostischen Mittel auf die Spur kommen wollte, war seit der Einführung der Tuberkulostatika und der Verbesserung der sozialen Lage seit Ende der 1950er Jahre sehr stark zurückgegangen. Eigentlich hatte diese Krankheit den Schrecken, der ihr in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch anhaftete, verloren. Lag die Sterbeziffer an Tuberkulose in der Bundesrepublik 1952 noch bei 22,7 Menschen (bezogen auf 100.000 der Bevölkerung), halbierte sich diese Ziffer 1965 auf 10,7.68 Die Neuerkrankungen an der Tuberkulose aller Formen, bezogen auf 10.000 Einwohner, sank von 32,93 im Jahr 1949 auf 9,32 im Jahre 1965.69 Trotz dieser erfreulichen Entwicklung und einer zunehmend kritischen Sicht auf diese Form des Massenscreenings angesichts immer weniger entdeckter Tuberkulosefälle70 wurde bei der BASF die Röntgenreihenuntersuchung in den folgenden Jahren unter hoher Beteiligung der Beschäftigten weitergeführt71. 1975 nahmen beispielsweise 85 Prozent der Mitarbeiter teil. Zum Vergleich: In demselben Jahr waren dies bei der Firma Krupp 45,8 Prozent der Beschäftigten.72 Sehr hohe Beteiligungsraten gab es auch bei der 66 Bei der Einrichtung der Röntgenreihenuntersuchungen war die BASF nicht Vorreiter, sondern die Firma Siemens, die seit 1949 turnusmäßig Schirmbilduntersuchungen durchführte. Dafür wurde 1951 eine transportable Röntgen-Schirmbildstelle eingerichtet, die alle Werke in der Bundesrepublik aufsuchte. Vgl. Bartels (2013), S. 318. 67 Röntgenreihenuntersuchungen wurden in Deutschland im Jahr 1939 eingeführt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Tuberkulosebekämpfung zur Ländersache. Die RRU war in Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen, Niedersachsen, Bayern und Baden-Württemberg Pflicht, in Hessen, Rheinland-Pfalz, im Saarland, in NordrheinWestfalen und Berlin-West wurde sie auf freiwilliger Basis angeboten. Vgl. Romberg (2011), S. 36. 68 Lindner (2004), S. 153. 69 Lindner (2004), S. 155. 70 Vgl. Romberg (2011), S. 52 ff. 71 Als Grund für die Durchführung der RRU bei der BASF wurde auf die – immer kleiner werdende – Zahl von neuentdeckten Tuberkulosefällen verwiesen, die sich bei Nichtentdeckung, so die Vermutung, ausgebreitet hätten. 72 Vgl. Jahresbericht für die Zeit vom 1.1. bis 31.12.1975. HA Krupp, Bestand WA 65/104.75. Vergleiche mit anderen Firmen sind schwierig, weil die Überlieferung in der Regel sehr schlecht ist. Für die Firma Krupp liegen zumindest einzelne Zahlen vor. Dort wurde die
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Firma Siemens, die schon seit 1949 RRU anbot, und zwar im Turnus von eineinhalb bis zwei Jahren. 1953/54 ließen sich rund 75.000 Beschäftigte, das waren 62 Prozent der Belegschaft, röntgen, 1961/62 waren es rund 65.000 Beschäftigte, mithin 32 Prozent.73 Im Jahresbericht des betriebsärztlichen Dienstes für die Jahre 1964/65 heißt es, dass „sich über 65.000 Belegschaftsangehörige (rd. 43.000 männl., rd. 22.000 weibl.) an 48 Standorten der Reihenuntersuchungen durch die transportable Schirmbildstelle Erlangen unterzogen“ hätten.74 Das waren bei einer bundesweiten Beschäftigtenzahl von rund 220.00075 noch rund 29,5 Prozent. Bei Siemens beschloss der Vorstand 1982, die Durchleuchtungen auslaufen zu lassen.76 Die BASF hatte dieses Angebot zwei Jahre vorher beendet. Insgesamt führte die Ärztliche Abteilung der BASF bis zum Jahr 1980 rund 78.390 RRU am Standort Ludwigshafen durch.77 Die Einstellung dieser Untersuchung bei der BASF (und bei Siemens) korrelierte mit der bundesdeutschen Gesamtentwicklung: Selbst in den Bundesländern, in denen die RRU obligatorisch war, ging die Zahl der Aufnahmen Anfang der 1980er Jahre stark zurück.78 Mitte der 1960er Jahre: Großstudien 1964 begann eine vierte Phase, in der große klinische Studien bei der BASF durchgeführt wurden. Sie setzte ein mit einer „Diabetesfrüherfassungsaktion“, die bundesweit angeboten und beworben wurde und der sich im Herbst 1964 bei der BASF Ludwigshafen immerhin 3.150 Werksangehörige unterzogen, also rund 6,6 Prozent.79 Hinsichtlich dieser Aktion scheint die BASF unter den Unternehmen Vorreiter gewesen zu sein.80 Bei Siemens wurde ab 1969 die RRU mit einem Diabetes-Test verbunden.81 Es war zwar schon 1966 geplant, eine „generelle Diabetes-Test-Aktion“ durchzuführen, diese wurde jedoch „aus mehreren Gründen – nicht zuletzt wegen der angespannten Wirtschaftslage –
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Röntgenreihenuntersuchung nur alle zwei Jahre durchgeführt, und zwar von der Schirmbildstelle der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie. Vgl. Bartels (2013), S. 318. Vgl. Betriebsärztlicher Dienst des Hauses Siemens. Jahresbericht 1964/65. Siemens Archiv München, Bestand 12408–1. Vgl. Bartels (2013), S. 78. Sie spricht von über 220.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Deutschland Mitte der 1960er Jahre. Vgl. Christians/Middendorf/Oberst (2013), S. 19. Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1980 Ärztliche Abteilung. Vgl. Romberg (2011), S. 54. Vgl. Jahresbericht 1964 der Ärztlichen Abteilung. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.3./2. 1967/68 führte Hellmut Mehnert zusammen mit der Bayerischen Landesärztekammer eine Diabetesfrüherfassungsaktion durch, bei der rund 800.000 Menschen auf Diabetes untersucht wurden. Vgl. http://www.bundesaerztekammer.de/arzt2003/co010005/artikel.htm (letzter Zugriff: 6.8.2014). Vgl. Bartels (2013), S. 319.
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zurückgestellt“.82 Im Jahresbericht 1967/68 wurde die Aktion erneut für 1968 angekündigt83, es dauerte aber offensichtlich noch ein weiteres Jahr, bis der Zucker-Test mit der RRU im August 1969 gekoppelt wurde. In der Überlieferung der Firma Bayer Leverkusen findet sich in einem Brief des leitenden Werksarztes an die Direktion vom 26. April 1974 der Hinweis, dass für den Herbst 1974 im Werk Leverkusen eine Vorsorgeaktion „mit Röntgenschirmbild, Suchtest auf Zuckerkrankheit und Eiweissausscheidung im Urin“ geplant sei. Ausgangspunkt dieses Schreibens waren die „Grossaktionen für Vorsorgeuntersuchungen“ bei der BASF, nach denen sich die Direktion von Bayer Leverkusen erkundigt hatte, weil diese „bereits in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Fragestellungen durchgeführt“ worden waren. Von den BASF-Aktionen grenzte sich der Werksarzt von Bayer mit dem Hinweis auf die Bevorzugung einer „individuellen Einzelberatung“ dezidiert ab.84 Bei der BASF fand die „Diabetesfrüherfassungsaktion“ ihre Fortführung in der großen BASF-Studie I zu Diabetes und Nierenkrankheiten, die zusammen mit Klinikern von Mannheim und Ludwigshafen im Februar 1968 umgesetzt wurde.85 An dieser Studie nahmen 71 Prozent der BASF-Beschäftigten teil. Ein Jahr später kam es, wieder in Kooperation mit externen Klinikern, zur zweiten großen BASF-Studie mit dem Titel „Sehvermögen, Farbtüchtigkeit, Augeninnendruck“.86 Dieses Mal lag die Beteiligung bei 65,9 Prozent. Der dritten BASF-Studie zum Bluthochdruck im Jahr 1974 unterzogen sich rund 76 Prozent der Beschäftigten.87 Solche Massenuntersuchungen in relativ kurzen Zeiträumen erforderten große personelle Ressourcen. Auch das mag zu dem langen Abstand bis zur nächsten Großstudie geführt haben. Im März 1989 wurde erneut mit externen Klinikern ein von der DFG gefördertes, auf zwölf Monate angelegtes „Schilddrüsenprojekt“ begonnen, in das knapp 7.000 Beschäftigte einbezogen wurden.88 1990 folgte die „Vorsorgeaktion Hauttumore“, an der sich knapp 1.400 82 Jahresbericht 1966/67 des Betriebsärztlichen Dienstes Siemens, S. 22. Siemens Archiv München, Bestand 12408–2. 83 Vgl. Jahresbericht 1967/68 des Betriebsärztlichen Dienstes Siemens, S. 26. Siemens Archiv München, Bestand 12408–2. 84 So schrieb er zu den BASF-Aktionen: „Neben dem unbestrittenen Interesse des einzelnen Mitarbeiters, an einer solchen Untersuchung teilzunehmen, steht aber ohne Zweifel das Interesse von Herrn Prof. Thiess (leitender Werksarzt), derartige Aktionen publizistisch breit auszuwerten. […] Wir haben bei Bayer stets mehr das Prinzip der individuellen Einzelberatung praktiziert, die sich im Anschluss an die ohnehin fällige Untersuchung ergibt.“ Dr. Korallus an Dir. Prof. Dr. Weise vom 26.4.1974. Archiv Bayer Leverkusen, Bestand Werksverwaltung Leverkusen, Sig. 388–081. 85 Siehe Wagner (1971). 86 Siehe Wagner (1974). 87 Siehe Wagner (1976). Zu diesen drei Studien siehe Hähner-Rombach (eingereicht). 88 Bis zum Ende des Jahres 1989 hatten 6.568 BASF-Beschäftigte teilgenommen. Der Ablauf sah so aus, dass „anläßlich routinemäßig durchgeführter Blutuntersuchungen auch Schilddrüsenfunktionsparameter bestimmt und gegebenenfalls spezielle Zusatzuntersuchungen sowie ärztliche Beratung angeschlossen“ wurden. Inwiefern die Zustimmung
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Beschäftigte beteiligten – aufgrund von Terminknappheit konnten 400 Anmeldungen nicht berücksichtigt werden.89 Sechs Jahre später, 1996, wurde das nächste große Projekt, „Heliobacter pylori Infektionen – Prävalenz und klinische Bedeutung sowie Effekt der Eradikation“, wiederum in Zusammenarbeit mit dem Klinikum Ludwigshafen, durchgeführt. In diesem Jahr nahmen knapp 6.200 Beschäftigte der BASF daran teil, im Folgejahr waren es noch einmal knapp 600. Im November 2001 begann die „Vorsorgeaktion Darmkrebs“, an der sich bis Ende Juli 2002 über 3.700 Mitarbeiter ab einem Alter von 45 Jahren beteiligten.90 Die Darmkrebsfrüherkennung wurde 2004 zum festen Bestandteil der arbeitsmedizinischen Vorsorge bei der BASF. Zwischen 2008 und 2011 nahmen 37,6 Prozent der Männer und 25,4 Prozent der Frauen der genannten Altersgruppe dieses Angebot in Anspruch.91 Hier fällt vor allem die rund dreifach höhere männliche Beteiligungsquote im Vergleich mit Kassenpatienten auf: In der BRD nahmen im Jahr 2008 durchschnittlich 11,6 Prozent der männlichen 50- bis 74-jährigen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung einen sogenannten Okkult-Test zur Darmkrebsvorsorge in Anspruch.92 Aber auch die weiblichen BASF-Beschäftigten zeigten immerhin eine fast doppelt so hohe Bereitschaft zur Darmkrebsfrüherkennung wie die weiblichen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung, die es auf 15,3 Prozent brachten.93 1970er Jahre: Aktivierungs- und Ausgleichsprogramme Aktivierung Die schon genannte, 1957 eingeführte „Ohlstadt-Kur“ enthielt im Vergleich zu den Erholungsaufenthalten bereits Elemente, die auf eine höhere körperliche Aktivität der Teilnehmer zielten.94 Damit konnte jedoch nur ein sehr kleiner Teil der Belegschaft erreicht werden. 1970 wurden Sportunterricht für Auszubildende und Sportkurse für Mitarbeiter nach Feierabend eingerichtet, 1973 kam es zur Einführung von Arbeitsplatzgymnastik. Letztere wurde bis zum Ende des Untersuchungszeitraums angeboten und in zwar unterschiedlich
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zur Blutanalyse eingeholt worden war, ist nicht festgehalten. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1989 Ärztliche Abteilung. Schlussendlich nahmen 6.884 Beschäftigte an dieser Aktion teil. Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1990 der Ärztlichen Abteilung. Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 2002 der Ärztlichen Abteilung. Webendörfer/Riemann (2014). Vgl. Riens/Schäfer/Altenhofen (2011), S. 18, online unter http://www.versorgungsatlas. de/fileadmin/ziva_docs/11/Krebsfrüherkennung_Bericht_1.pdf (letzter Zugriff: 6.8.2014). Vgl. Riens/Schäfer/Altenhofen (2011), S. 18, online unter http://www.versorgungsatlas. de/fileadmin/ziva_docs/11/Krebsfrüherkennung_Bericht_1.pdf (letzter Zugriff: 6.8.2014). In der Berichterstattung zur Ohlstadt-Kur fiel auch bald der Name „Terrainkur“, der die aktiven Bestandteile der Kur bezeichnete.
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starkem Maß, aber im Vergleich zur Ohlstadt-Kur geradezu massenhaft in Anspruch genommen.95 In dasselbe Jahr fiel die Einrichtung einer Schwangerschaftsgymnastik. 1988 wurde beschlossen, nach den Kur- und Erholungsaufenthalten bzw. Gesundheitsseminaren von folgenden Mitarbeitergruppierungen Folgesportgruppen anzubieten: a) Mitarbeiter mit leichten chronischen Erkrankungen, Erschöpfungszuständen, Abnutzungserscheinungen (Gruppe II), b) Schichtarbeiter und c) außertarifliche Angestellte96.97 Das heißt, es wurde versucht, die in der Kur erzielten gesundheitsfördernden Maßnahmen in einem Sportprogramm weiterzuführen. Die Aktivierungsmotivationen sind seit der ersten Hälfte der 1970er Jahre wichtiger Bestandteil der Präventionsangebote bei der BASF. Diese leistet sich ein eigenes Sportreferat, das in Absprache, Kooperation bzw. unter Federführung der Ärztlichen Abteilung eine breite Palette von Sportgruppen, Kursen und Aktionen anbietet.98 Von Seiten der Ärztlichen Abteilung wurden dabei nach und nach alle Beschäftigten-Gruppen angesprochen bzw. einbezogen. Die Letzten waren die höheren Angestellten bzw. oberen Führungskräfte. Innerhalb der Aktivierungsangebote können Trends ausgemacht werden, die mit denen außerhalb des betrieblichen Gesundheitsmanagements korrelieren bzw. von dort aufgenommen wurden. So gibt es bei der BASF seit 1979 einen „Lauftreff“99, seit 1990 wird Wirbelsäulengymnastik angeboten, 1992 wurde diese auch speziell auf Auszubildende zugeschnitten, ab 1995 kam dann die sogenannte Rückenschule hinzu.
95 Wurden im Jahr der Einführung der Arbeitsplatzgymnastik 1973 gerade einmal 524 Gymnastikeinheiten durchgeführt, waren es ein Jahr später 62.249 mit und 37.094 ohne Aufsicht. Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1974 der Ärztlichen Abteilung, S. 23. Die Einheiten der Arbeitsplatzgymnastik ohne Aufsicht stiegen im Jahr 1975 sogar auf fast 450.000 an. Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1975 der Ärztlichen Abteilung, S. 32. Die Beteiligung, die später nicht mehr in Einheiten, sondern in Teilnehmerzahlen angegeben wurde, wechselte mit den Jahren, sank dabei tendenziell. 1990 beteiligten sich trotz diverser Sportgruppen bei der BASF immer noch 915 Beschäftigte an der Arbeitsplatzgymnastik. Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1990 der Ärztlichen Abteilung, S. 59. 96 Außertarifliche Angestellte waren in diesem Zeitraum Führungskräfte, deren Gehalt über dem lag, was tariflich ausgehandelt war. 97 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1991 der Ärztlichen Abteilung, S. 15. 98 1990 waren dies insgesamt 31 Angebote allein in den verschiedensten Bereichen der Gymnastik, daneben Sport-Turniere der einzelnen Sport-Gruppen, wie Handball, Fußball, Volleyball, Tischtennis, und Sportveranstaltungen, wie Wandertag, Radwandertag, Lauf ins Grüne und Laufzeichen-Abnahme. 99 Zur Ausbreitung des Laufens als Ausdauersportart siehe Dietrich (2010).
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Ausgleichsangebote Die Angebote, die auf „Balance“ zielten, setzten mit Autogenem Training100 1973 früh ein, sprachen allerdings zu keiner Zeit viele „Aniliner“101 an. Die Gruppe, die dieses Angebot in Anspruch nahm, war also klein. Über ihre Zusammensetzung ist in den Akten der Ärztlichen Abteilung leider nichts überliefert. In den Jahresberichten dieser Abteilung findet sich in der Regel die wechselnde Anzahl der Stunden, in denen Autogenes Training angeboten wurde. Das waren beispielsweise 1979 insgesamt 24 Stunden, im Jahr 1980 nur 14 Stunden102, 1985 stieg die Zahl auf 51 Stunden103. Es blieb nicht bei diesem Ausgleichsangebot. Mit den Jahren kamen neue Entspannungstechniken und Tai Chi-Workshops dazu, die die Maßnahmen zur Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen flankierten.104 Kurz nach der Jahrtausendwende, genauer 2001, kam die „Reduktion psychischer Belastungen“ in den Fokus der Ärztlichen Abteilung. Dieses Programm endete mit der Einstellung einer sogenannten Toolbox im BASF-Intranet105 und der Einführung eines eintägigen Gesundheitskompaktseminars für außertarifliche Mitarbeiter. Offenbar ging man bei ihnen von einem größeren Bedarf an Möglichkeiten zur Verminderung psychischer Belastungen durch die Arbeit aus.
100 Autogenes Training ist eine auf Autosuggestion beruhende Entspannungstechnik, die von dem Berliner Psychiater Johannes Heinrich Schultz entwickelt und 1932 in seinem Buch „Das Autogene Training“ veröffentlicht wurde. Das Buch hat seitdem 20 Auflagen erlebt, dazu gibt es ein Übungsheft, das in der 25. Auflage erschienen ist. Das Buch mit rund 400 Seiten erschien 1964 in der 11. und 1966 in der 12. Auflage, zwischen 1970 und 1987 kamen sechs weitere Auflagen dazu. Das war also die Hochzeit des Buches innerhalb von 17 Jahren. Das Übungsheft mit rund 60 Seiten erschien zwischen 1972 (15. Aufl.) und 1989 (22. Aufl.) in acht Auflagen. Die Aufnahme des Autogenen Trainings in das Angebot der Ärztlichen Abteilung 1973 lag also im Trend. 101 Die Bezeichnung „Aniliner“ leitet sich von dem Namen „Badische Anilin- und Soda-Fabrik“ ab. 102 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1980, S. 35. 103 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1985, S. 39. 104 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1991, S. 69. 105 Zur Toolbox heißt es: „Dabei handelt es sich um ein intranetbasiertes Portal zur strukturierten Darstellung der im Unternehmen vorhandenen Maßnahmen und Möglichkeiten zur Verhaltens- und Verhältnisprävention, das sich gleichermaßen an Mitarbeiter und Vorgesetzte wendet.“ Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 2001 der Abteilung Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz der BASF AG, Ludwigshafen.
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Zwischenfazit Die chronologische Darstellung der verschiedenen Phasen innerhalb der Angebotspalette präventiver Maßnahmen bei der BASF macht deutlich, dass die Ärztliche Abteilung den bundesdeutschen Entwicklungen und neuen Trends zeitnah folgte. Das gilt nicht nur für Massenaktionen wie Impfungen und Screenings, sondern auch bei Angeboten mit speziellem Zuschnitt auf bestimmte Gruppen, die durchaus klein sein konnten. In der Inanspruchnahme einzelner Angebote, wie der Untersuchung zur Darmkrebsfrüherkennung, wurden zudem Raten erreicht, die diejenigen bei den niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen deutlich hinter sich ließen. Insofern zeigt sich auch an diesem Beispiel, dass der Arbeitsplatz ein „setting“ bildet, das sich für Prävention eignet. Untersuchungsprogramme und Angebote für bestimmte Gruppen Wie im Vorhergehenden schon angedeutet wurde, kann die Angebotspalette der Ärztlichen Abteilung auch nach den Adressaten unterschieden werden. 1971 wurde eine Krebsvorsorge für Männer ab 44 Jahren Teil des medizinischen Angebots, die für die Frauen kam 1978 hinzu. Für schwangere Frauen wurde 1997 eine eigene Sprechstunde und Dokumentation eingerichtet. Außer alters- und geschlechtsspezifischen Angeboten gab es schon früh auch eine Differenzierung nach der Tätigkeit der Beschäftigten: Standen in den ersten Jahrzehnten die Mitarbeiter auf gesundheitsgefährdenden Arbeitsplätzen im Zentrum des Interesses, gefolgt von solchen mit „leichten chronischen Erkrankungen, Erschöpfungszuständen“ und von rekonvaleszenten Mitarbeitern, für die jeweils eine eigene Bezeichnung eingeführt wurde106, kam 1985 die große Gruppe der Wechselschichtarbeiter in den Fokus. Das korrelierte mit dem staatlichen Programm der „Humanisierung der Arbeitswelt“ (HdA), das 1974 aufgelegt und 1989 von dem staatlichen Forschungs- und Entwicklungsprogramm „Arbeit und Technik“ abgelöst wurde. Nachdem Ende der 1960er Jahre deutlich geworden war, dass die Automatisierung in der Arbeitswelt die negativen Belastungen nicht behob, wurde das Programm HdA u. a. zum Abbau belastender und gesundheitsgefährdender Arbeitsmomente entwickelt.107 Wechselschichtarbeiter gehörten von Gewerkschaftsseite aus neben den Fließbandarbeitern zu den sehr früh fokussierten Gruppen.108 Zunächst bot die Ärztliche Abteilung eine speziell für Wechselschichtarbeiter eingerichtete Gesundheitsvorsorgekur an109, ab 1986 gab es aufgrund 106 Mitarbeiter auf sogenannten gesundheitsgefährdenden Arbeitsplätzen: Gruppe (K)3, Mitarbeiter mit leichten chronischen Erkrankungen, Erschöpfungszuständen, Abnutzungserscheinungen: Gruppe (K)2, rekonvaleszente Mitarbeiter: Gruppe (K)1. 107 Dazu in Auswahl: Sauer (2011). 108 Vgl. Vetter (1973), S. 4. 109 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1985, S. 31.
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einer eigenen Betriebsvereinbarung eine regelmäßig durchgeführte Wechselschichtuntersuchung110, und 1991 erschien die erste Broschüre für Wechselschichtarbeiter mit dem Titel „Wechselschicht und wie man damit klarkommt“111. Diese Broschüre wurde an alle Schichtanfänger und die Auszubildenden im dritten Ausbildungsjahr verteilt. Sie enthielt neben medizinischen Informationen und Gesundheitshinweisen technische Erläuterungen zur 12-Stunden-Wechselschichtform bei der BASF. Nachdem schon Anfang der 1960er Jahre offensichtlich geworden war, dass die Angestellten und unter ihnen in noch stärkerem Ausmaß die Akademiker selten präventive Angebote angenommen hatten, wurde dieser Gruppe mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Für das Jahr 1964 wurde berichtet, dass jeder 12. Werksangehörige, aber nur jeder 45. Akademiker in den Genuss eines Sonderurlaubes gekommen war. „Es wird deshalb gebeten, bei den routinemäßigen Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen der höheren Angestellten darauf zu achten, ob vorsorgliche ärztliche Maßnahmen erforderlich sind.“112 Dass dieser Teil der Belegschaft erst später fokussiert wurde, hing wohl auch damit zusammen, dass man bei ihnen von Eigeninitiative bzw. einem allgemein gesünderen Lebensstil ausging. Seit 1958 wurden sogenannte „Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen“ für Angestellte durchgeführt, an die sich ein Kuraufenthalt anschließen konnte. Die Inanspruchnahme der erstgenannten Maßnahme war jedoch nicht groß. 1959 kam es beispielsweise zu 167 solcher Untersuchungen. Von den Untersuchten machten dann allerdings 63 eine Kur.113 Diese beiden Angebote wurden auch in den Folgejahren weitergeführt, ohne dass es zu einer starken Steigerung der Inanspruchnahme kam. Für die oberen Führungskräfte bestand in all diesen Jahren „nur in besonders gelagerten Einzelfällen die Möglichkeit eine Gesundheitsvorsorgekur durchzuführen“.114 Ab 1998 wurde die Gesundheitsvorsorgeuntersuchung für obere Führungskräfte neu strukturiert. Jeder von dieser Gruppe Untersuchte erhielt durch den Werksarzt neben einer persönlichen Mitteilung der Untersuchungsergebnisse ein Abschlussschreiben und eine Informationsmappe zur Gesundheitsprävention. In eben diesem Jahr, 1998, machten 134 Führungskräfte von dieser Möglichkeit Gebrauch.115 Ab 2000 gab es ein ebenfalls neu gestaltetes 110 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1986, S. 13. 111 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1991, S. 70. 112 Betriebsbesprechung der Ärztlichen Abteilung am 13.5.1965. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.4./2. 113 Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1959 der Ärztlichen Abteilung. 114 So der regelmäßig wiederkehrende Satz in den Jahresberichten der Ärztlichen Abteilung bzw. der Abteilung Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz der BASF AG, Ludwigshafen. 115 Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1998 der Abteilung Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz der BASF AG, Ludwigshafen.
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Präventionsprogramm für diese Gruppe. Es handelte sich dabei um ein anderthalbtägiges Kurzseminar mit den Inhalten Stressbewältigung, gesunde Ernährung, aktive Bewegungsprogramme und individuelles Gesundheitsmanagement. Dieses Angebot nahmen 159 Führungskräfte wahr.116 2002 schließlich wurden eintägige Gesundheitskompaktseminare für außertarifliche Mitarbeiter eingeführt. So wurde versucht, ein für sie passendes Format zu finden. Interessen und Interessenten hinter den Angeboten Innerhalb der BASF lassen sich mehrere Akteure mit einem Interesse an Prävention ausmachen: in erster Linie die Ärztliche Abteilung, die in Absprache mit der Geschäftsführung ihre Angebote unterbreitete und weit über das gesetzlich Vorgeschriebene hinaus ausdehnte. Den Mitgliedern der Ärztlichen Abteilung boten vor allem die großen Studien auch die Gelegenheit, sich wissenschaftlich zu profilieren. Das zeigt sich an einer umfangreichen Veröffentlichungsliste, an Vorträgen im In- und Ausland sowie an Besuchen von Fachkollegen und Vertretern von Institutionen, die an Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz interessiert waren. Außerdem wurden bestimmte GesundheitsAktionen ausgezeichnet, so zum Beispiel 2006 die Darmkrebs-Vorsorgeuntersuchung mit dem Burda-Award in der Kategorie „prevention at work“.117 Bei der Geschäftsführung kann man voraussetzen, dass sie ein Interesse an niedrigen Krankenständen und an der Gesunderhaltung besonders qualifizierter Mitarbeiter hatte. Dieselbe Interessenslage kann man bei der Betriebskrankenkasse voraussetzen, denn niedrige Krankenstände bedeuteten geringere Ausgaben. Auf diese Krankenkasse als Akteur wird noch zurückgekommen. Wie erwähnt, gehört der Betriebsrat ebenfalls zu den Akteuren im betrieblichen Gesundheitsmanagement. Das entsprach und entspricht zum einen dem Selbstverständnis der Vertreter und Vertreterinnen der Belegschaft, zum anderen ist die Beteiligung des Betriebsrates bei Fragen des Gesundheitsschutzes in den gesetzlichen Regelungen festgeschrieben. Unabhängig davon hatten die Werksärzte ein Interesse daran, den Betriebsrat in ihre Arbeit einzubinden, vor allem, wenn es um freiwillige Angebote ging. So wurde die erste große Tetanus-Impfaktion bei der BASF nach dem Krieg 1951 „in Einverständnis mit der Werksleitung und dem Betriebsrat“ durchgeführt.118
116 Dazu heißt es: „Das Seminar ist so konzipiert, dass die Ernährungstipps insbesondere auch in Restaurants oder auf Reisen angewendet werden können. Auf diese Weise wird den besonderen Belastungen und beruflichen Verpflichtungen der Führungskräfte Rechnung getragen.“ Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 2000 der Abteilung Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz der BASF AG, Ludwigshafen. 117 Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 2006 der Abteilung Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz der BASF AG, Ludwigshafen. 118 Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1951 der Ärztlichen Abteilung.
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Am Beispiel der Firma Schering wird deutlich, dass das Interesse der Betriebsratsmitglieder zunächst daran ausgerichtet war, die Kollegen zufriedenzustellen, denn das war auch für die kommende Betriebsratswahl wichtig. Das hieß für die frühen Nachkriegsjahre eine großzügige kostenlose Milchverteilung an möglichst viele Beschäftigte sowie Zulagen bzw. Sonderurlaubstage für Männer an gesundheitsgefährdenden bzw. unangenehmen Arbeitsplätzen, wie solchen in dunklen Räumen.119 So forderte der Betriebsrat von Schering in Berlin 1962 für Arbeiten mit Gasmasken wegen stinkender und giftiger Stoffe einen Sonderurlaub120 und 1963 „wegen des grossen Lärms im Maschinenhaus (über 90 Phon)“ einen zusätzlichen Urlaub von drei Tagen121. Die Belegschaftsvertretung beschäftigte sich aber auch mit der Verpflegung, wie dem Angebot einer „echten“ Schonkost122, der Kennzeichnung von „Chemikalien“ auf dem Speisezettel123, der Qualität des Nachtessens für die „Schichtler“124 oder mit der Frage, warum „Trockengemüse“ in der Kantine verwendet werde, obwohl „es doch z. Zt. genügend Frischgemüse gibt“125. Auch der fehlende Tee für die „Sonnabend-Schicht“ im Sommer 1962 wurde moniert.126 Schichtarbeiter gehörten spätestens seit 1967 zu den „Sorgenkindern“ des Betriebsrats127, wobei sich der Werksarzt der Meinung, dass diese gesundheitlich besonders gefährdet seien, nicht anschloss128. Dennoch wiederholte der Betriebsrat seine Forderungen nach Erholungsverschickungen und zusätzlichen Urlaubstagen für Schichtarbeiter und Schichtarbeiterinnen in den 1970er Jahren vehement und zeigte sich so als Anwalt der Kollegen. Aus der Mitarbeiterzeitung der BASF ist ersichtlich, dass führende Betriebsratsmitglieder bei ihrer Teilnahme an bestimmten Aktionen der Ärztlichen Abteilung fotografiert wurden. Das sollte offensichtlich Vorbildcharakter 119 Das betraf in diesem Fall vor allem Frauen, die zum Beispiel bei der „Ampullen-Prüfung“ in „vollkommen verdunkelten Räumen“ arbeiten mussten. Vgl. Protokoll über die am Mittwoch, den 9.1.1963 und 19.12.1962 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47. 120 Vgl. Protokoll über die am Mittwoch, den 29.8.1962 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47. 121 Vgl. Protokoll über die am Mittwoch, den 8. und 15.5.1963 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47. 122 Vgl. Protokoll über die am Mittwoch, den 13.3.1963 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47. 123 Vgl. Protokoll über die am Mittwoch, den 9.1.1963 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47. 124 Vgl. Protokoll über die am Mittwoch, den 19.12.1962 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47. 125 Vgl. Protokoll über die am Mittwoch, den 24.10.1962 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47. 126 Vgl. Protokoll über die am Mittwoch, den 29.8.1962 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 47. 127 Vgl. Protokoll über die am 19.4.1967 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 50. 128 Vgl. Protokoll über die am 8.4.1970 stattgefundene Betriebsratssitzung. Schering Archiv Berlin, Bestand B4 52.
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haben. So findet sich beispielsweise 1974 in der Ausgabe der Zeitung für die Mitarbeiter des Werkes Ludwigshafen ein Foto, auf dem der Betriebsratsvorsitzende beim Blutdruckmessen innerhalb der dritten großen Feldstudie zum Bluthochdruck abgebildet ist. Die Bildunterschrift lautet: „Mit gutem Beispiel voran: Betriebsratsvorsitzender Rudi Bauer bei der Blutdruckmessung.“129 In der Überlieferung der Ärztlichen Abteilung der BASF fanden sich vor allem seit dem Ende der 1970er Jahre deutliche Hinweise auf eine geregelte und regelmäßige Zusammenarbeit bzw. für einen Austausch mit dem Betriebsrat. Dies war wichtig, um die Akzeptanz der Maßnahmen der Werksärzte bei den BASF-Beschäftigten zu erhöhen. Der Betriebsrat wurde zudem in alle Neuerungen eingebunden, wie beispielsweise in das neue Gesundheitsvorsorgekonzept von 1986 oder in den 1995 gegründeten Arbeitskreis Gesundheit, der sich die Steuerung und Koordination von Gesundheitsschutz- und Gesundheitsförderungskonzepten in der BASF-Gruppe zur Aufgabe gemacht hatte. Innerhalb des BASF-Werkes Ludwigshafen ging die Anregung, Präventionsangebote zu unterbreiten, in einigen Fällen auch von Meistern oder Abteilungsleitern aus, so beispielsweise 1966: Von der Lehrwerkstätte wurde um Unterstützung gebeten, bei der Gestaltung eines Übungsprogramms zur Durchführung von gymnastischen Ausgleichsübungen für die Lehrjungen behilflich zu sein. […] Die nun seit über 3 Monaten durchgeführten Übungen finden großen Anklang.130
Nicht zuletzt kann man auch die bereits genannte Betriebskrankenkasse der BASF zu den „internen“ Akteuren rechnen, auch wenn sie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist.131 Die Ärztliche Abteilung arbeitete und arbeitet eng mit der BKK zusammen, die, wie die anderen gesetzlichen Krankenkassen, spätestens 1970 den vorsorgenden Gesundheitsschutz in ihr Programm aufgenommen hatte.132 Zu den externen, an den Präventionsangeboten interessierten Gruppen müssen vor allem die kooperierenden Kliniker der umliegenden Krankenhäuser gerechnet werden, die die Großstudien zusammen mit der Ärztlichen Abteilung durchführten. Die externen Mediziner hatten ein großes wissenschaftliches Interesse an der riesigen BASF-Untersuchungsgruppe, die ihnen Forschungen erlaubte, die sonst nicht so einfach in dieser Größenordnung durchzuführen gewesen wären.
129 BASF intern H. 3 (1974). 130 Jahresbericht 1966 der Ärztlichen Abteilung. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.3./2. 131 Die Betriebskrankenkasse (BKK) der BASF wurde 1946 aufgelöst. Die Mitglieder wurden in die Allgemeine Ortskrankenkasse überführt. 1949 wurde die BKK wieder gegründet. Vgl. Auszug aus dem Geschäftsbericht 1953 der BASF. Beilage zu der Werkzeitung Die BASF H. 3 (1954), S. 9. Die BKK trug später eine Zeitlang den Namen Fortisnova BKK und firmiert heute nach dem Zusammenschluss mit anderen Betriebskrankenkassen unter dem Namen pronova BKK. 132 Dazu in Auswahl: Eberle (2002).
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Annahme der Präventionsangebote Am Beispiel der drei Großstudien wurden schon Angaben zur hohen Inanspruchnahme dieser Untersuchungen gemacht. Man muss festhalten, dass sich die freiwilligen Angebote der Ärztlichen Abteilung der BASF am Standort Ludwigshafen insgesamt großer Nachfrage erfreuten.133 Zum Teil lag diese über der von vergleichbaren Angeboten der gesetzlichen Krankenversicherung, wie am Beispiel der Darmkrebsfrüherkennung bereits gezeigt wurde. Die Inanspruchnahme wurde auch dadurch wesentlich befördert, dass die genannten Angebote während der Arbeitszeit erfolgten. Um auch der Geschäftsführung entgegenzukommen, versuchte die Ärztliche Abteilung, die Maßnahmen, wenn möglich, in nächster Nähe des Arbeitsplatzes oder der Werkskantinen anzubieten. Darüber hinaus wurden die Aktionen so organisiert, dass die Wartezeiten der Beschäftigten sehr kurz blieben. Bei Großaktionen begaben sich die Beschäftigten oft abteilungsweise an den Ort der Durchführung. Das hat sicher mit dazu geführt, dass sich eine Art kollegialer „Sog“ entwickelte, dem man sich nicht so leicht entziehen konnte bzw. dem man hätte bewusst entgegensteuern müssen. Andere Angebote wiederum wurden unterbreitet, wenn die Beschäftigten ohnehin in der Werksambulanz waren. Dadurch konnte ein „Mitnahme-Effekt“ generiert bzw. die Zeit genutzt werden, weitere Maßnahmen oder Untersuchungen zu empfehlen. Eine große Palette an Angeboten, die in der Regel nur ein Großunternehmen finanzieren konnte, führte zudem dazu, dass es leichter fiel, eine weitere Ausdehnung des Angebots bzw. der Zielgruppen anzuregen, da offensichtlich war, dass die Geschäftsleitung solchen Ansinnen zumindest offen gegenüberstand. Die lange Tradition der freiwilligen Angebote und ihrer Inanspruchnahme bei der BASF hat mit Sicherheit auch ihren Teil dazu beigetragen, dass präventive Maßnahmen ein tendenziell steigendes Maß an Akzeptanz erfuhren. Die BASF war außerdem der wichtigste und sicher ein attraktiver Arbeitgeber in Ludwigshafen und Umgebung. Das wiederum führte dazu, dass oftmals mehrere Generationen einer Familie dort beschäftigt waren. In diesen Fällen war der Boden dafür bereitet, dass das, was der Vater in Anspruch nahm, der Sohn nicht verschmähen sollte bzw. wollte. Nicht zuletzt rühren die hohen Beteiligungszahlen der BASF-Beschäftigten an Gesundheitsaktionen der Ärztlichen Abteilung daher, dass in Ludwigshafen eine extreme Verdichtung der Belegschaft herrschte: Im Zeitraum zwischen 1951 und 1982 arbeiteten allein dort zwischen rund 26.100 und rund 55.000 Menschen. Bei diesen Mitarbeiterzahlen und angesichts der Struktur, Größe und Ausstattung des werksärztlichen Dienstes der BASF134, deren Zen133 Siehe dazu auch Hähner-Rombach (eingereicht). 134 Die Ärztliche Abteilung der BASF in Ludwigshafen ist mittlerweile eine der größten, wenn nicht die größte in Deutschland, die nicht aus dem Werk ausgegliedert wurde (wie beispielsweise bei Daimler-Benz). Sie umfasste 1960 zwölf Werksärzte und sieben Zahnärzte. Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Anlage zum Jahresbericht 1960 der Ärztlichen Abteilung. 1970 waren es elf Ärzte in den Ambulanzen
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trale sich ebenfalls in Ludwigshafen befand, waren die Bedingungen für die Durchführung von umfassenden Vorsorgemaßnahmen im Vergleich zu vielen, um nicht zu sagen den meisten anderen Unternehmen besonders günstig135. Medien der Verbreitung Die Ärztliche Abteilung griff auf alle denkbaren Instrumente zur Bekanntmachung ihrer Angebote zurück. Es gab Vorträge während spezieller Abteilungsbzw. Betriebsversammlungen, im Schullandheim der Auszubildenden und während der Kuren, außerdem Vortrags- und Informationsabende. Die Wissensvermittlung erfolgte auch in Form der sogenannten „Großen Sprechstunde“. Diese hatte jeweils bestimmte Themen und wurde nach Möglichkeit für jede Schicht durchgeführt, um möglichst viele Beschäftigte erreichen zu können.136 Zu den Printmedien gehörten Artikel in der Mitarbeiterzeitung, die Aktionen ankündigten bzw. über sie berichteten, Informationsblätter, Broschüren und Plakate sowie Aushänge und Anschläge. Für die großen Feldstudien wurden zudem lokale Radiosender und Tageszeitungen genutzt, die auf die Aktionen aufmerksam machten. Auch das Medium „Ausstellung“ kam zum Zug, teilweise kombiniert mit „Mitmachaktionen“. Außerdem gehörten schriftliche Umfragen und Fragebögen zu den häufig eingesetzten Medien. Bei einigen Aktionen kam es zur Zusammenarbeit mit den Wirtschaftsbetrieben. Dann wurden Beispiele für gesunde Kost kombiniert mit Blutdruckmessungen und Informationsmaterial. Dazu kamen Workshops, die auf aktiver Teilnahme aufbauten. Und schließlich bezog die Ärztliche Abteilung auch das Intranet mit
und zwei Ärzte in der Röntgen- und EKG-Abteilung sowie sieben Zahnärzte. Vgl. Jahresbericht 1970 der Ärztlichen Abteilung. BASF-Archiv, Bestand C.6.3.3./3. 1980 waren es 14 Werksärzte und fünf Zahnärzte sowie eine Biologin (Genetikerin). Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1980 der Ärztlichen Abteilung. 1990 gab es schließlich 19 Ärzte, davon zwei in Teilzeit, plus drei Ärzte in Weiterbildung. Vgl. Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht 1990 der Ärztlichen Abteilung, S. 6. 135 So waren, um ein Beispiel eines weiteren Großunternehmens zu nennen, bei Siemens die Werksärzte und -ärztinnen auf die verschiedenen Standorte verteilt und intern nicht zentral organisiert. 136 So heißt es beispielsweise im Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung für 1979 dazu: „Im Rahmen der ‚Großen Sprechstunden‘ wurden die Untersuchungsergebnisse der Mitarbeiter, bei denen epidemiologische Studien zur Mortalität, Morbidität und Mutagenität durchgeführt wurden, vorgetragen. An den ‚Großen Sprechstunden‘, die nach Möglichkeit für jede Schicht veranstaltet wurden, nahmen bei Zusammenlegung mehrerer Abteilungen jeweils ca. 150–200 Mitarbeiter teil. Die rege Diskussion zeigte das große Interesse der Arbeitnehmer an den Untersuchungsergebnissen allgemein, aber auch an der in den Medien zur Zeit so ausführlich behandelten Thematik ‚Berufskrebs‘.“ Altregistratur der Ärztlichen Abteilung der BASF Ludwigshafen, Jahresbericht der Ärztlichen Abteilung 1979.
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ein, in das beispielsweise die bereits genannte Toolbox zur Reduktion psychischer Belastungen eingestellt wurde. Beziehung/Wechselwirkung zwischen Angebot und Nutzern In den ersten Nachkriegsjahrzehnten waren die Nutzer präventiver Maßnahmen vereinfacht ausgedrückt passive Objekte einer präventiven Fürsorge. Bei ihnen ging es um körperliche Stärkung und Erholung, nicht um die Aktivierung ihrer Potentiale. Das war den Kriegsfolgen geschuldet. Als diese überwunden waren und mit dem „Wirtschaftswunder“ der Wohlstand und damit die „Zivilisationskrankheiten“ Einzug gehalten hatten, geriet mit der Einführung der Arbeitsplatzgymnastik Anfang der 1970er Jahre die Aktivierung der BASF-Beschäftigten in das Blickfeld. Diese Entwicklung korrelierte mit den gesundheitspolitischen Überlegungen der Zeit, die Bevölkerung einem gesünderen Lebensstil zuzuführen. Die Aktivierungsanstrengungen der BASF-Belegschaft wurden in den Folgejahren im Zusammenwirken mit dem Sportreferat immer mehr ausgebaut. Die Gymnastik, die im Laufe der Jahre eine starke Ausweitung und Differenzierung erfuhr137, wurde ergänzt durch das „Laufen“ (spätestens 1979 mit der Einrichtung eines „Lauftreffs“). Letzteres hat seitdem nicht an Attraktivität verloren, „Jogging“ ist auch gesamtgesellschaftlich nicht mehr wegzudenken.138 Ende der 1980er Jahre wurden die Aktivierungsversuche mit einer Kur oder einem Gesundheitsseminar in Form von „Nachfolgesportgruppen“ kombiniert, die damit den Charakter einer Einzelmaßnahme verlieren und „nachhaltige“ Wirkung zeigen sollten. Die Begeisterung für diese Sportgruppen hielt sich allerdings in Grenzen. Es könnte sein, dass sich die „Profile“ dieser beiden Gruppen unterschiedlicher Präventionsformate (Kurinteressierte und Sportbegeisterte) nicht oft überschnitten. Diejenigen „Aniliner“, die sich bis dahin gegen Aktivierungsversuche resistent gezeigt hatten, sich falsch ernährten und/oder rauchten, gerieten Anfang der 1990er Jahre verstärkt in den Fokus der Prävention. Die erste Phase hatte mehr appellativen Charakter und sollte durch Beispiel und Zeigen wirken. Die Ernährungsumstellung wurde dann aber nicht mehr nur durch Broschüren über die richtigen Lebensmittel und ihre Zubereitung angeregt, sondern durch Aktionen in der Werkskantine. Dort konnte man das „gesunde Essen“ probieren, und wenn man wollte, wurde auch gleich, wie erwähnt, der Blutdruck gemessen oder eine Blutzuckerbestimmung durchgeführt. Das bedeutet, man trat etwas mehr über die Sinneswahrnehmung als früher und 137 So gab es beispielsweise im Jahr 1990 folgende Gymnastikgruppen bei der BASF Ludwigshafen: Allgemeine Gymnastik und Sportspiele, Ski- und Fitnessgymnastik, Ausgleichsgymnastik, Wirbelsäulengymnastik, Gymnastik für Behinderte, Gymnastik für Ältere, Gymnastik und Yoga, Gymnastik zur Vorbereitung auf das Sportabzeichen, JazzGymnastik, Wassergymnastik für Behinderte. 138 Siehe dazu Dietrich (2010).
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auch vielseitiger an die Beschäftigten heran. Außerdem war zunehmend ihre Meinung gefragt, wodurch sie bei der jeweiligen Aktion nicht nur direkter angesprochen, sondern auch stärker in sie involviert werden sollten. Die Raucherentwöhnungsseminare alten Stils wurden ersetzt durch ein Format, in dem Nichtraucher Raucher bei der Entwöhnung „begleiteten“. Dennoch erfreuten sie sich, wie auch die Sprechstunde für Suchtkranke, beide keiner großen Nachfrage. Deutlich ist also auch, dass nicht alle Beschäftigten gleich gut, sondern eher zeitlich versetzt oder mit unterschiedlichen Angeboten ansprechbar waren. Impfungen zum Beispiel hatten eine lange Tradition und wurden nicht so sehr in Frage gestellt wie manche Neuerung. Während die Präventionsinteressierten die Angebote bereitwillig nutzten, mussten die „Präventionsindifferenten“ oder „Präventionsvermeidenden“ erst nach und nach gewonnen werden. Bei diesen drei Gruppierungen handelt es sich um unterschiedliche gesundheitsrelevante Verhaltensstile, die sich – so meine These – bei der BASF in den letzten Jahrzehnten anzunähern begannen.139 Je größer die Inanspruchnahme einzelner Angebote wurde, umso schwieriger wurde es, sich ihnen zu entziehen. In den drei großen Studien waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beides, Objekt und Subjekt. Als Objekt waren sie für die wissenschaftlichen Ambitionen der Ärztlichen Abteilung und der beteiligten externen Kliniker ausgesprochen attraktiv, bildeten sie doch eine riesige Untersuchungskohorte, auf die die Ärzte leichten Zugriff hatten. Als Subjekte folgten sie der eigenen Einsicht, beugten sich der Gruppendynamik, der Überzeugungsarbeit der Ärztlichen Abteilung, möglicherweise auch dem Zureden ihres Hausarztes oder ihrer Ehefrau, wenn sie an der Studie teilnahmen, und hatten damit die Möglichkeit, sich selbst als vorsorgend wahrzunehmen. Mitte der 1990er Jahre begann dann eine Phase, die verstärkt auf die Eigen-Aktivität der Beschäftigten zielte. Spätestens jetzt waren aus „Objekten“ der Präventionsangebote Subjekte geworden, die sich zunehmend zu Individuen im Sinne des sogenannten „präventiven Selbst“ entwickelten oder weiterentwickeln sollten. Schluss Das Aufsuchen der werksärztlichen Sprechstunde gehörte für die Beschäftigten der BASF zu den selbstverständlichen gesundheitsförderlichen Praktiken im Betrieb. Nicht nur wenn die Erreichbarkeit des Hausarztes am Wohnort schwierig war140, ersetzte der Gang zum Werksarzt oft den Besuch beim nie-
139 Zu den „gesundheitsrelevanten Verhaltensstilen“ siehe Hoffmann (2010), zusammenfassend auf S. 400 ff. 140 Das war vor allem der Fall, wenn die Arbeitszeiten nicht mit den Sprechstundenzeiten kompatibel waren.
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dergelassenen Arzt nach Feierabend141. Die ersten Kontakte mit der Werksambulanz waren noch obligatorisch, z. B. bei Einstellungsuntersuchungen oder durch gesetzlich vorgeschriebene arbeitsmedizinische Überwachungsuntersuchungen. Darauf folgte jedoch in vielen Fällen der freiwillige Besuch, weil man eine bestimmte Dienstleistung – zum Beispiel in der Bäderambulanz – in Anspruch nehmen wollte. Die Ärztliche Abteilung nutzte die Gelegenheit, ihre präventiven Angebote bei diesen Besuchen im wahrsten Sinne des Wortes an den Mann zu bringen. Das wurde dadurch erleichtert, dass die Werksärzte der BASF u. a. durch die von ihnen gewährleistete Unfallversorgung ein hohes Ansehen in der Belegschaft genossen. Ein großer Teil der männlichen Belegschaft begriff sich als „Aniliner“ und wurde als solcher auch angesprochen. Man kann davon ausgehen, dass der regelmäßige Besuch des Werksarztes bzw. der Ambulanz bei nicht wenigen Beschäftigten zum (Gesundheits-)Habitus wurde. Außerdem gelang es der Ärztlichen Abteilung, mit ihren Angeboten das Interesse eines großen Teils der „Aniliner“ zu wecken. So kam es dazu, dass der gemeinsame Gang von Kollegen einer Abteilung beispielsweise zur Blutdruckmessung zur Routine wurde und dadurch eine Handlungsnormalität142 begründete, der auch andere Kollegen leichter folgen konnten. Diese Handlungsnormalität wiederum ebnete den Weg zu neuen Angeboten, wenn sie der Routine nicht entgegenstanden. Das heißt, die Inanspruchnahme präventiver Angebote wird für einen Teil der Beschäftigten zum gewohnheitsmäßigen Handeln oder sogar zu einem repetitiven Mechanismus. Die präventiven Angebote der Ärztlichen Abteilung waren Teil einer Angebotspalette bei der BASF, die u. a. Sportgruppen umfasste. Auch wenn die Praktik der sportlichen Betätigung eher Techniken des „präventiven Selbst“ repräsentiert, erleichterte diese massenhafte Beteiligung an Sportaktionen jedweder Art die gesellschaftliche Durchsetzung der Auffassung, dass dies gesundheitsförderlich sei, und führte zu veränderter Wahrnehmung und neuen Praktiken der Selbstregulierung. Am Beispiel der Inanspruchnahme präventiver Angebote der Ärztlichen Abteilung der BASF durch „Aniliner“ lässt sich also nach Sven Reichardt der Zusammenhang von körperlichen Verhaltensroutinen und kollektiven Sinnmustern143 zeigen. Um den subjektiven Sinnzuschreibungen auf die Spur zu kommen, müsste man ein Oral-History-Projekt durchführen.
141 Das verursachte zumindest im ersten Nachkriegsjahrzehnt offenbar keine Konflikte mit dem Behandlungsmonopol der niedergelassenen Ärzte. 142 Ich lehne mich hier an die Definition von Sven Reichardt an: „Soziale Praktiken bezeichnen routinisierte Formen von Handlungen, welche eine subjektiv wahrgenommene Handlungsnormalität begründen.“ Reichardt (2007), S. 48. 143 Reichardt (2007), S. 44.
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Geschlecht
Geschlechterbilder in Präventionskonzepten: Männer- und Frauenherzen im deutsch-deutschen Vergleich, 1949–1990 Jeannette Madarász-Lebenhagen
Einführung Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Bundesrepublik Deutschland (BRD), so der Ansatz dieses Beitrags, wirkten sich darauf aus, wie Krankheiten gedacht wurden, und formten dadurch Präventionskonzepte. Da Herz-Kreislauf-Krankheiten die häufigste Todesursache von Männern und Frauen sind, soll anhand der Debatten um Herz-Kreislauf-Prävention analysiert werden, ob und wie sich Geschlechterbilder auf Präventionskampagnen in den beiden deutschen Staaten auswirkten. Damit sollen Aussagen zu Geschlechterleitbildern auf drei Ebenen getroffen werden: in der Medizin, in der Gesundheitspolitik und in der Populärwissenschaft. Um das Zusammenspiel zwischen Präventionskampagnen und Geschlechterbildern näher zu beleuchten, werden in einem ersten Schritt Geschlechterbilder der Anfangsjahre beider deutscher Staaten aufgezeigt und anschließend auf vieldiskutierte Herz-Kreislauf-Erkrankungen bezogen. In einem zweiten Schritt werden dann Veränderungen in den Geschlechterbildern verbunden mit den für die Zeit seit den 1970er Jahren typischen breiteren Erklärungsmodellen und epidemiologisch begründeten Ansätzen in der Herz-Kreislauf-Prävention. Wie sich die Wiedervereinigung auf die weitere Entwicklung der kardiovaskulären Prävention auswirkte, wird in einem Ausblick kurz angerissen. Für den Beitrag nutze ich den methodischen Rahmen eines deutsch-deutschen historischen Vergleichs. Die zentrale Stellung der Kategorie Gender kommt diesem Ansatz entgegen, da gerade Frauen- und Männerleitbilder in den zwei deutschen Staaten eine gemeinsame Vergangenheit hatten, aber deklaratorisch abgrenzend und als Teil einer gesellschaftspolitischen Strategie entwickelt wurden. Grundlage dieser Analyse sind staatliche Dokumente vor allem aus den jeweils für Gesundheitspolitik zuständigen Ministerien, Quellen des medizinischen Fachdiskurses sowie populärwissenschaftliche Veröffentlichungen und Ausstellungen. Um die drei Ebenen Medizin, Gesundheitspolitik und Populärwissenschaft miteinander zu verbinden, wird ergänzend eine Auswahl soziologischer Studien, die sich mit Geschlechterrollen beschäftigten, herangezogen. Für die DDR bietet sich dazu die Zeitschrift Die Position der Frau in der sozialistischen Gesellschaft an, die seit 1965 von der gleichnamigen Forschungsgruppe
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herausgegeben wurde.1 Speziell das Thema weibliche Erwerbstätigkeit soll hier im Zusammenhang mit medizinischen, gesundheitspolitischen und populärwissenschaftlichen Präventionsdebatten zum Tragen kommen. Für die Bundesrepublik wird zusätzlich auf die Gewerkschaftlichen Monatshefte zurückgegriffen, um den Blick auf den Themenbereich Geschlecht, Arbeit und Gesundheit in einer Gesellschaft, in der weibliche Erwerbstätigkeit lange pathologisiert wurde, zu schärfen. Geschlechterbilder nach 1945 Mit den Geschlechterbildern sollen sowohl programmatische Definitionen als auch kollektive Wahrnehmungsmuster in den Blick genommen werden, wobei sich beide Aspekte nicht immer klar trennen lassen und über den Untersuchungszeitraum hinweg veränderten.2 Im deutsch-deutschen Vergleich können in der frühen Nachkriegszeit radikale Differenzen in der Frauen- und Familienpolitik erwartet werden, da gerade auf diesem Gebiet der Systemvergleich ausgehandelt wurde.3 Dennoch hatten beide Staaten eine gemeinsame Vergangenheit als Grundlage, und es kann davon ausgegangen werden, dass sich ähnliche Sichtweisen auf männliche und weibliche Körper und deren gesellschaftliche Funktionen in den zwei neuen Gesellschaften abbildeten.4 Grundlegendes Ziel der ostdeutschen Frauenpolitik der 1950er Jahre war es, die weibliche Erwerbstätigkeit auszubauen. Dieser Ansatz entsprach wirtschaftlichen Notwendigkeiten, folgte jedoch zugleich kommunistischen Vorstellungen, die in das 19. Jahrhundert zurückreichten. Hiernach kann die Frau nur eine gleichberechtigte Stellung in Familie und Gesellschaft einnehmen, wenn sie eine Erwerbstätigkeit aufnimmt – im Beruf „ihren Mann steht“ und finanziell unabhängig wird. Frauen sollten dem männlichen Vorbild folgen: Sie sollten Aufgaben bewältigen, die vormals für Männer reserviert gewesen waren, berufliche Qualifikationen anstreben und die enge Einbindung in die Familienarbeit reduzieren.5 Die kommunistische Partei propagierte Arbeit als eine menschliche Notwendigkeit, eine Pflicht gegenüber der Gesellschaft, etwas, das man sogar genießen konnte und sollte, und als eine kollektive Anstrengung für eine bessere, gerechtere und gleichberechtigtere Gesellschaft. Gleichzeitig wurde ideologischer und materieller Druck auf diejenigen ausgeübt, die nicht gewillt schienen, am Projekt Staatssozialismus mitzuwirken, also auch auf die Frauen, die lieber zu Hause geblieben wären, als in einer Fabrik zu arbeiten. Propagandamaterial, aber auch Bilder in Zeitschriften zeigten 1 2 3 4 5
Diese Veröffentlichung wurde nur intern an bestimmte Funktionäre verteilt. Einsehbar ist die Reihe in der Genderbibliothek des Zentrums für Interdisziplinäre Frauenforschung der Humboldt-Universität zu Berlin. Dölling (1993), S. 23. Rueschemeyer/Schissler (1990). Helwig/Nickel (1993). Budde (2000), S. 608 f.
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dementsprechend die Traktoristin oder die Frau an der Maschine, die sich augenscheinlich in der ehemaligen Männerdomäne gut zurechtfand und, fast nebenbei und letztendlich doch wieder als Frau separiert, dafür zum Internationalen Frauentag rote Nelken geschenkt bekam.6 Im Gegensatz dazu wurde in der frühen Bundesrepublik erwartet, dass verheiratete Frauen nicht außerhäuslich arbeiteten, vor allem, wenn sie kleine Kinder zu betreuen hatten. Obwohl in der Nachkriegszeit die weibliche Arbeitskraft noch dringend gebraucht und in die Aufbauarbeiten eingebunden worden war, änderte sich die öffentliche Darstellung schon Mitte der 1950er Jahre: Frauen, so die kollektive Erwartungshaltung, gingen in einem Hausfrauendasein auf, das sich aus der Kindererziehung, dem Haushalt und der liebevollen Umsorgung des hart arbeitenden Ehemannes zusammensetzte.7 In der Werbung wurde die bürgerliche Geschlechterordnung auch bildlich umgesetzt, wobei die hübsche Hausfrau mit den Kindern oder beim Kochen den ebenfalls attraktiven, arbeitenden Mann mit einer pünktlich angerichteten Mahlzeit beglückte.8 Bis in die 1960er Jahre vertraten Politiker, die Kirchen und Gewerkschaften den Standpunkt, dass das bürgerliche Familienideal aufrechtzuerhalten sei. Trotzdem nahmen mittelständische verheiratete Frauen und Mütter, an die sich dieser Appell speziell richtete, schon seit Mitte der 1950er Jahre zunehmend eine Erwerbstätigkeit auf. Trotz der offensichtlichen Unterschiede können in beiden deutschen Staaten auch Parallelen festgestellt werden. Selbst in der DDR, in der die Gleichberechtigung der Frau von staatlicher Seite nicht nur gefördert, sondern gefordert wurde, verorteten politische Handlungsanweisungen Frauen im Lebensbereich Familie und Haushalt, während Männer in Beruf und Öffentlichkeit standen. Obwohl Frauen erwerbstätig sein sollten und propagandistisch versucht wurde, die Geschlechterbilder in diesem Bereich einander anzugleichen, sicherten staatliche Grundeinstellungen die männliche Vormachtstellung im Rahmen der traditionellen Rollenverteilung.9 Dies zeigte sich in der Verantwortungsverteilung in den Betrieben mit überproportional vielen Männern in Leitungsfunktionen ebenso wie in der gesetzlichen Fürsorge für Frauen, die deren Arbeitssituation besonders schützte, aber auch begrenzte.10 In der Bundesrepublik hingegen widersprachen Lebensumstände und zunehmend auch weibliche Lebensentwürfe dem idealisierten Familienbild.11 Daraus ergab sich in beiden Staaten eine spannungsgeladene Ambivalenz zwischen dem propagierten Frauenbild und der weiblichen Erfahrungswelt. Gleichzeitig bestanden trotz der im Kalten Krieg vehement geführten Abgrenzungsbestre-
6 Merkel (1994), S. 369. 7 Niehuss (2001). 8 Siehe http://www.wirtschaftswundermuseum.de (letzter Zugriff: 16.7.2014), z. B. Werbung Hengstenberg 1960. 9 Dölling (1993), S. 25; Merkel (1994). 10 Budde (2000), S. 612. 11 Oertzen (1999).
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bungen ähnliche Sichtweisen auf weibliche und männliche Körper und wurden Rollenbilder an Erwerbstätigkeit festgemacht.12 Hinsichtlich Männlichkeit wurde Arbeit im öffentlichen Diskurs unterschiedlich gewichtet. In der DDR stand die Erwerbstätigkeit im Vordergrund sozialistischer Männlichkeitsideale, wie Alf Lüdtke anhand der „Helden der Arbeit“ verdeutlicht hat.13 Bezeichnend für das ambivalente Verhältnis zwischen programmatischer Gleichstellung ostdeutscher Frauen und realer Rollenverteilung ist dabei, dass es deutlich mehr männliche „Helden“ gab und diese einen höheren Bekanntheitsgrad erreichten.14 Auffällig ist ferner, dass es kaum prominente „Heldinnen“ gab. Frida Hockauf beispielsweise, eine Weberin aus Zittau, wurde für ihre Erfolge angefeindet, während der Bergmann Adolf Hennecke den Nationalpreis der DDR erhielt und Mitglied des Zentralkomitees der SED wurde.15 Letztendlich und entgegen anderslautender Propaganda erzeugte Arbeit auch in der DDR primär männliche Assoziationen. Das westdeutsche Männlichkeitsbild zeichnete, in Unterscheidung zu den „harten“ Männern der Nazi-Propaganda, eher „weiche“, entpolitisierte Männer, denen die Stabilisierung durch die mit dem Militär assoziierten (männlichen) Tugenden fehlte. Der Ehegatte stand als Ernährer der Familie seinen Mann und stabilisierte somit eine in der Nachkriegszeit ins Wanken geratene Männlichkeit.16 Die stabilisierende Funktion männlicher Erwerbstätigkeit wurde in beiden deutschen Staaten betont und, wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden wird, in der medizinischen Debatte anhand verschiedener Krankheiten verhandelt.17 Krankheit und Geschlecht Anknüpfend an die beschriebenen Geschlechterbilder sollen im folgenden Teil drei Krankheitsbilder analysiert werden, denen in medizinischen und öffentlichen Debatten spezifische geschlechtliche Konnotationen zufielen. Die weiblich konnotierte vegetative Dystonie und die männlichen Krankheitsbilder, assoziiert mit Heimkehrern und Managern, waren umstritten, veränderlich und somit offen für gesellschaftliche Einflüsse. Unterlegt von wissenschaftlichen Argumenten, verflochten sich in ihnen programmatische Definitionen mit kollektiven Wahrnehmungsweisen. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit Debatten um diese Krankheiten staatlich sanktionierte Geschlechterbilder perpetuierten oder auch in Frage stellten.
12 13 14 15 16 17
Vgl. Sachse (2002). Lüdtke (1994). Budde (1999). Töpler (2007). Biess (2002), S. 354. Dinges (2012).
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Heimkehrerkrankheit und Managerkrankheit in Ost und West In beiden deutschen Staaten wurden Herzkrankheiten in der frühen Nachkriegszeit auf medizinischer Ebene geschlechterspezifisch wahrgenommen. Medizinische Studien zeigten eine stärkere Inzidenz des Herzinfarkts und der Angina Pectoris (extremer Schmerz in der Herzgegend, meist hervorgerufen durch eine Verengung der Herzkranzgefäße) bei Männern und ein gehäuftes Auftreten der Hypertonie (Bluthochdruck) bei Frauen. Die Relevanz von Geschlecht in der Entstehung von Herzerkrankungen wurde jedoch unterschiedlich eingeschätzt; speziell hormonelle Faktoren wurden als Schutz vor frühzeitiger Erkrankung bei der Frau vor den Wechseljahren diskutiert.18 Dieser differenzierten Sichtweise standen Krankheitsbilder wie die Heimkehrerkrankheit (Dystrophie) gegenüber. Als umstrittenes Konzept wurde die Diagnose der vegetativen Dystrophie hauptsächlich bezogen auf die männlichen Spätkriegsheimkehrer, die aufgrund des physischen und mentalen Stresses der Kriegserfahrung und Gefangenschaft unter anderem an Herz-Kreislauf-Erkrankungen litten. In Westdeutschland stieß vor allem der Heimkehrerverband eine breite öffentliche Diskussion zu den Heimkehrern und deren kranken Körpern an. Diese wurde mitgetragen von Massenmedien wie dem Spiegel, aus dem auch die folgende Beschreibung stammt: Körperliche Mängel und seelische Verkrampfung können sich in verhängnisvoller Weise verzahnen. Zu den häufigsten körperlichen Krankheitszeichen des Dystrophikers gehören neben Muskelschwund, Herzschrumpfung („bis auf den Umfang einer Kinderfaust“), Blutdruckniedrigung [sic!], Gefäßschwäche, Magen- und Darmstörungen und Knochenveränderungen auch der Keimdrüsenschwund. Dieses Symptombild gibt die somatische Erklärung für die häufigen und oft jahrelang andauernden Potenzstörungen vieler Heimkehrer.19
Gravierende organische Schäden und Funktionsstörungen bei den Heimkehrern wurden hier öffentlich verhandelt, wobei speziell die symptomatischen Potenzstörungen das männliche Körpergefühl beeinträchtigten und den Eindruck defizitärer Männlichkeiten vermittelten. Pensionsansprüche, später dann Rehabilitierung und Wiedereingliederung waren gängige Themen in dieser Debatte. Dass Heimkehrer wieder arbeitsfähig wurden und für ihre Familien sorgen konnten, erschien grundlegend für die Wiederherstellung ihrer Männlichkeit.20 In der DDR wurde die Heimkehrerkrankheit öffentlich kaum diskutiert und auf der medizinischen Ebene nur vereinzelt beschrieben. So sah der ostdeutsche Mediziner Waldemar Remde Anfang der 1950er Jahre ein gehäuftes Auftreten der Endocarditis-lenta bei 30- bis 40-jährigen Männern, die im Kriegsdienst gewesen waren und entsprechende Kriegsentbehrungen sowie „seelische Erschütterungen“ durchlebt hatten. Dieses kardiovaskuläre Krank18 Rostoski (1950), S. 261; Ratschow (1952). 19 Die Krankheit der Heimkehrer (1953), S. 26 f. 20 Winkler (2007), S. 162; Biess (2006).
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heitsbild zeigt über längere Zeit nur schwache Symptome, kann aber letztendlich zum Herzinfarkt führen.21 Auffällig ist, dass Remde den Begriff Heimkehrerkrankheit nicht benutzte, obwohl ähnliche Symptome auftraten. Aufgrund des politischen Bemühens, das Verhältnis zur Sowjetunion mit dem Thema Kriegsgefangenschaft nicht zu belasten, und einer entsprechenden medizinischen Zurückhaltung entwickelte die Heimkehrerkrankheit in der DDR kaum gesellschaftspolitisches Potential.22 Allerdings wurden Ärzte in der DDR bezüglich der ehemaligen Kriegsgefangenen in Fragen zur Erwerbsfähigkeit bemüht und äußerten sich wiederholt zur Arbeitskraft der heimkehrenden Männer.23 Implizit wurde hier auch die Bedeutung von Arbeit für Geschlechterbilder verhandelt. Gesundheitspolitisch eingebunden und familienpolitisch verortet wurde Arbeit weiterführend in einer medizinisch unterlegten Argumentation im Sinne der jeweils propagierten Geschlechterbilder. So pathologisierten westdeutsche medizinische Debatten die Abweichung von der programmatischen Rollenverteilung, also Männer, die nicht arbeiteten, und Frauen, die arbeiteten. Ärzte wiesen auf angeblich zu erwartende physische und psychische Schädigungen der betroffenen Frauen und Kinder hin. Diese Frauen, da waren sich Politiker und Mediziner einig, gefährdeten nicht nur ihre eigene Gesundheit und die ihrer Kinder, sondern auch die Gesundheit der Gesellschaft.24 In der DDR hingegen schienen beide Geschlechter gleichermaßen krankheitsgefährdet durch übermäßige Arbeitsanforderungen. Allerdings, und dies ist eine bemerkenswerte Einschränkung, gab es im Gegensatz zu den zeitgenössischen gesundheitspolitischen Vorgaben der 1950er Jahre kaum ostdeutsche medizinische Studien, die weibliche Vollzeitarbeit positiv bewerteten. Eher wurde in einem konservativen Argumentationsstil vor Überanstrengung und Überarbeitung der Frauen gewarnt. Bis in die 1960er Jahre hielt die vorherrschende medizinische Meinung an dieser Sorge um arbeitende Frauen fest und attestierte weiblichen Körpern ein gegenüber den Männern geringeres „körperliches Leistungsvermögen“.25 Diese Sichtweise ähnelte westdeutschen Argumenten zu den körperlichen Unterschieden der Geschlechter, die Frauen und Männer für verschiedene Arten der Arbeit vorsahen. Um die Abgrenzung zwischen weiblichen und männlichen Krankheitsbildern zu illustrieren, soll ergänzend auf die „vegetative und hormonelle Dysregulation“ eingegangen werden. Speziell das Krankheitsbild der vegetativen Dystonie, die in diesen Bereich fällt, war gekennzeichnet durch messbare Unregelmäßigkeiten in Herztätigkeit, Blutdruck, Puls und Atemrhythmik. Allerdings zeigten die Kranken keinen organischen Befund und wurden daher überwiegend im Bereich nervlich bedingter funktioneller Störungen verortet. Obwohl die vegetative Dystonie auch auf Männer, unter anderem Heimkeh21 22 23 24 25
Remde (1952). Biess (2002), S. 350. Goltermann (2009); Müller-Hegemann (1960). Oeter (1953); Oeter (1961); Oehlert (1958), S. 1315. Redaktion: Analyse (1965), S. 28.
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rer, angewandt wurde, galt sie als ein weibliches Krankheitsbild, das als solches auch der Debatte um defizitäre Männlichkeit bzw. verweiblichte Männer entgegenkam.26 Diesem Bild einer primär weiblichen (oder verweiblichten) Patientengruppe entsprechend beschrieb Werner Borgolte, ab Anfang der 1960er Jahre Ministerialrat im Bundesministerium für Gesundheitswesen, im Jahr 1956 Herz-Kreislauf-Krankheiten bei Frauen als psychosomatische „Fluchtkrankheit“, da Frauen bemüht seien, früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden als Männer.27 Noch 1962 plädierte Borgolte trotz der von ihm differenziert dargestellten hohen weiblichen Morbidität an Herz-Kreislauf-Erkrankungen dafür, präventive Maßnahmen vor allem für Männer durchzuführen.28 Er begründete diese Präferenz mit der selbstgefährdenden Lebensweise der Männer, wie der Missbrauch von Genussmitteln und allgemein eine riskantere Lebensweise, an der man präventiv gut ansetzen könne. Bei Frauen schienen die Ursachen weniger geradlinig auf die Lebensweise rückführbar zu sein. Nervliche oder stressbedingte Krankheitserscheinungen galten zu dieser Zeit nicht als Auslöser für Herz-Kreislauf-Krankheiten, sondern waren einem älteren Krankheitsdiskurs verhaftet, der zwischen funktionellen und organischen Befunden unterschied, wobei funktionelle Beeinträchtigungen meist auf Frauen zuzutreffen schienen und als schwer zu diagnostizieren und kaum therapierbar galten.29 In diesem Sinne machte auch der prominente ostdeutsche Kardiologe Max Bürger 1958 die seelischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen verantwortlich für die geschlechtliche Verteilung der verschiedenen Krankheitsbilder.30 Unter dem Titel „Das Leiden der Gesunden“ beschrieb der Spiegel die vegetative Dystonie schon 1953 als eine Erkrankung eines Teils der Persönlichkeit mit der typischen Tendenz zur Wiederholung der Konfliktsituation, dem Minderwertigkeitskomplex und dem Angstgefühl. Die Angst steht im Vordergrund – eine Angst ohne Grundlage. Diese Angst wird von den Patienten in vegetative Symptome umgearbeitet.31
Im Gegensatz zur Heimkehrerkrankheit wurde dieses Krankheitsbild nicht primär als Herzerkrankung angesehen, sondern fiel in die Nähe von Stresskonzepten.32 Die implizite Unterscheidung zwischen einerseits nervlich bedingten Symptomen als weiblich und andererseits organischen Schäden bis hin zum Tod als männlich findet sich auch wieder in den Debatten um die Managerkrankheit. Die sogenannte Managerkrankheit wurde in der westdeutschen Öffentlichkeit extensiv diskutiert. Sie bezeichnete ein offenes und vages Krankheitsbild, wobei eine stressbetonte und ungesunde Lebensweise bei Männern in 26 27 28 29 30 31 32
Hochrein/Schleicher (1959); vgl. Kury (2012), S. 206–211. Borgolte (1956), S. 59 f. Borgolte (1962), S. 464. Alberti (2010). Bürger (1958), S. 354. Das Leiden der Gesunden (1953), S. 29. Goltermann (2009), S. 125 f.
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den mittleren Jahren, und damit relativ früh, zum Herzinfarkt zu führen schien.33 Der Spiegel formulierte 1954 dramatisierend: „Ein Alarmruf geht durch die auf Hochtouren arbeitende zivilisierte Welt. Über Nacht hat sich ein neuer Alpdruck auf verantwortliche Männer und Stellen gelegt. Das Schlagwort von Krankheit und Frühtod des unternehmenden Menschen geht um.“34 Überarbeitung, Erschöpfung, Übergewicht und Hypertonie bedrohten die Elite, so die damalige Wahrnehmung, und damit den Wiederaufbau Westdeutschlands.35 Im Bundesministerium des Innern sorgte man sich schon 1952 um den Gesundheitszustand der Beamten und Angestellten der Bundesregierung. Im Gegensatz dazu wurden bei den weiblichen Angestellten, denen – so wurde konzediert – durch die Inanspruchnahme als Hausfrau eine doppelte Belastung zufiel, lediglich stressbedingte Kopfschmerzen und Kreislauferkrankungen wie Hypertonie festgestellt, die durch eine individuelle Stressbewältigung zu überwinden seien. Männliche Beamte und Angestellte hingegen schienen direkt vom Tod bedroht. In Schlagzeilen wie „Der Herztod trifft die Elite“ berichtete die Hamburger Freie Presse vom 5./6. April 1952, dass allein 20 Abgeordnete des Bundestages, nicht „die alten Herren“, sondern Männer „in den besten Jahren“, seit 1949 jäh vom Tod aus ihrem Schaffen gerissen worden seien.36 In der westdeutschen Debatte um die Managerkrankheit vereinte sich somit ein bestimmtes Krankheitsbild mit gesellschaftlichen Befindlichkeiten. In Westdeutschland schien der Vater als Alleinernährer, Chef im Büro und Familienoberhaupt besonders gefährdet und aufgrund seiner verantwortungsvollen Position und anstrengenden Arbeits- und Lebensweise dem Herzinfarkt schon in relativ jungen Jahren zu erliegen. Für die DDR, die sich als arbeitende Gesellschaft verstand, kann es nicht überraschen, dass ostdeutsche Mediziner die westdeutsche Sichtweise auf die Managerkrankheit mit dem Hinweis kritisierten, dass nicht nur Manager betroffen seien, sondern alle Klassen und Schichten, Altersgruppen und beide Geschlechter.37 In Teilen spiegelte diese Kritik das sozialistische Selbstverständnis: Auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft hatten Frauen und Männer gleichberechtigt auch an den Krankheiten teil, während in Westdeutschland eher versucht wurde, Frauen durch Ausgrenzung aus der Erwerbstätigkeit vor bestimmten Krankheiten zu schützen. Gerade in den 1950er Jahren drängte die ostdeutsche Gesundheitspolitik in der Arbeitswelt darauf, Frauenund Männerbilder einander anzugleichen und trotz bzw. mit Hilfe spezieller Arbeitsschutzbestimmungen den Frauen männliche Arbeitsbereiche auch unter einem präventiven Aspekt zu erschließen. So strebten ostdeutsche Präventionsprogramme eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen besonders für Frauen und Jugendliche an und suchten damit im Gegensatz zu westlichen Ansätzen Wege, um die weibliche Erwerbstätigkeit auszubauen. 33 34 35 36 37
Kury (2011). Wen die Götter lieben (1954), S. 34. Kury (2011). BArch, Bestand B 142/356. Straube (1957), S. 385.
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Für die Bundesrepublik wurde in den besprochenen Krankheitsbildern die in der Kardiologie lange bestehende Unterscheidung zwischen funktioneller und organischer Problemlage mit entsprechender geschlechtlicher Zuordnung aufgezeigt. Demgegenüber betonten ostdeutsche Gesundheitspolitiker die Gleichheit der Geschlechter. Beides stand im Einklang mit den jeweiligen Geschlechterbildern und ermöglichte die Vermittlung gesellschaftlicher Standards. Parallel dazu kann festgestellt werden, dass ostdeutsche medizinische Studien den ideologischen Vorgaben zwar weitestgehend entsprachen, aber wiederholt physische Unterschiede zwischen den Geschlechtern herausstellten und Gesundheitsfürsorge speziell im Arbeitsprozess anmahnten oder weibliche Erwerbstätigkeit abweichend von der politischen Linie als potentiell gesundheitsschädigend einschätzten. Gleichzeitig musste auch in Westdeutschland auf die arbeitende Frau, beispielsweise als Angestellte oder Beamtin der Bundesregierung, eingegangen werden, obwohl diese Konstellation den geltenden Männer- und Frauenrollen nicht entsprach. An diesen Beispielen zeigt sich die Reibung zwischen vorgegebenen und gelebten Rollen, die sich auch in medizinischen Debatten um Herz-Kreislauf-Krankheiten niederschlug, da in beiden deutschen Staaten Geschlechterbilder in kausale Erklärungsmuster einflossen. In der zeitgenössischen Diskussion um Heimkehrer und Manager klang wiederholt die Bedeutung der Erwerbstätigkeit an; nicht nur die untersuchten Krankheitsbilder, sondern auch Geschlechterrollen wurden unter diesem Aspekt ausgehandelt. Wie das Thema Arbeit präventiv gedeutet wurde und wie sich das auf Präventionsangebote in den 1950er und 1960er Jahren auswirkte, wird im nächsten Teil untersucht. Präventionskonzepte: Gesunde Frauenpolitik Exemplarisch für die geschlechtsspezifische Einbindung von Herz-KreislaufKrankheiten in die Prävention soll hier auf eine westdeutsche Studie von 1956 eingegangen werden: In der Bundesrepublik gab es ab Mitte der 1950er Jahre erste Vorschläge zu Familienuntersuchungen, bei denen Ärzte sozialhygienische Erhebungen zum Gesundheitszustand und dem sozialen Umfeld ganzer Familien durchführen wollten. Solche Untersuchungen wurden aber, soweit aus den Quellen ersichtlich, nicht verwirklicht, da sie zu aufwendig schienen. Andere Möglichkeiten der kardiovaskulären Prävention wurden dann ab 1956 in der Dachau-Studie ausgelotet, die der „Aktionsausschuß Gesundheitsschutz und Gesundheitsvorsorge“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung finanzierte. Die Studie wurde als Teil der standespolitischen Auseinandersetzung um Gesundheitsvorsorge durchgeführt und sollte zeigen, dass die Ärzteschaft sehr gut in der Lage wäre, präventive Leistungen in den Arztpraxen zu erbringen.38 Sie sollte die Faktoren herausarbeiten, die zum frühen Herztod führten.39 38 Lindner (2004). 39 Redaktion: Worte (1956). Die Ärztlichen Mitteilungen (ÄM) waren das Standesorgan der westdeutschen Ärzteschaft. Die Zeitschrift wurde 1964 in Deutsches Ärzteblatt (DÄ) umbenannt.
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In der Studie untersuchten Internisten und Allgemeinärzte kostenlos 4.000 Freiwillige aus Dachau im Alter von 45 bis 55 Jahren. Diese Altersspanne entsprach dem Risikoprofil der damals intensiv diskutierten Managerkrankheit – Männer im „mittleren Alter“ – und es wurden ausschließlich erwerbstätige Männer angesprochen. Erst an einer zweiten Studie in Krefeld konnten die in der Innungskrankenkasse mitversicherten Ehefrauen teilnehmen, und zwar nachdem in der Dachau-Studie ein entsprechendes Bedürfnis ersichtlich geworden war, als Frauen ihre Ehemänner zu den Untersuchungen schickten und an den Ergebnissen besonders interessiert schienen.40 Allerdings, so erklärten die Organisatoren, reichte die Anzahl weiblicher Studienteilnehmer in Krefeld nicht aus, um in die Ergebnisanalyse aufgenommen zu werden. Der ursprüngliche Fokus auf die Männer setzte sich letztlich doch durch. Erst mit der Ausweitung entsprechender Studien auf Landkreise um Krefeld und in Bayern, in denen mehr Frauen krankenversichert waren, wurde das weibliche Geschlecht systematisch einbezogen. In den Daten dieser Studien zeigte sich speziell bei den sogenannten Landfrauen eine überproportionale Gesundheitsgefährdung durch Überlastung, die sich u. a. in kardiovaskulären Erkrankungen, speziell Koronarinsuffizienz und Hypertonie, äußerte.41 Die Ärzte standen hier eher unerwartet vor dem Problem der weiblichen Herz-Kreislauf-Krankheiten. Entsprechende präventive Maßnahmen, vor allem der vermehrte Einsatz der Dorfhelferinnen und die Etablierung dieses Berufes, aber auch technische Erleichterungen wie fließendes Wasser auf dem Hof, wurden immer wieder diskutiert, bis in die von der Sozialdemokratischen Partei (SPD) angeregten Frauen-Enquete Mitte der 1960er Jahre und darüber hinaus.42 Angestrebt wurden die körperliche Entlastung der Landfrauen und eine Verbesserung der Infrastruktur.43 Damit verwandelte sich der ursprüngliche Anspruch der Studie, Gesundheitsvorsorge für Herz-Kreislauf-Krankheiten zu konzipieren, in eine sozialhygienische Fürsorge. Gefährdet war der arbeitende Mann – so die Wahrnehmung, die der Dachau-Studie zugrunde lag und zeitgenössische Debatten um Arbeit als HerzKreislauf-Risiko reflektierte. Demgegenüber zeigte die Studie, dass Frauen überproportional betroffen waren. Arbeit und Arbeitsüberlastung wurden hier als grundlegend für die Erkrankung verstanden, und so versuchten Ärzte in Zusammenarbeit mit Gesundheitspolitikern, Frauen durch Fürsorgemaßnahmen von der Arbeit über ihren häuslichen Wirkungsbereich hinaus zu entbinden oder zumindest zu entlasten. Dies entsprach einerseits den dichotomen Geschlechterrollen in der damaligen Bundesrepublik, andererseits wurde damit ein spezieller Fall, die arbeitende Landfrau, hervorgehoben, der das Bild vom Mann als besonders bedroht durch kardiovaskuläre Krankheiten nicht in Frage stellte.
40 41 42 43
Redaktion: Präventive Medizin (1956). Kötter/Deenen (1963). Prill (1970). Redaktion: Betriebsleiter (1965).
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Arbeitende Landfrauen repräsentierten einen besonderen Fall weiblicher Erwerbstätigkeit, da sie ihre Arbeitskraft in die Hofarbeit investierten, aber nicht außerhäuslich tätig waren. Sie standen damit eigentlich außerhalb der Debatte um die erwerbstätige Ehefrau und Mutter. Dennoch integrierten einige einflussreiche und politisch aktive Ärzte, wie der langjährige Schriftleiter der Ärztlichen Mitteilungen, Hans-Dietrich (genannt Ferdinand) Oeter, die erhobenen Befunde in die Argumentation gegen die außerhäusliche Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen und verlangten wiederholt, zur dichotomen Geschlechterordnung zurückzukehren und Familienwerte zu erhalten.44 Dass die weibliche außerhäusliche Erwerbstätigkeit auf dem Land in den unteren Schichten und bei den alleinstehenden Frauen eine lange Tradition hatte und in Anbetracht oft prekärer Wirtschaftslagen auch bei den Landfrauen eine Notwendigkeit darstellte, wurde lange weder in der medizinischen noch in der politischen Debatte thematisiert. Mitte der 1960er Jahre kam es dann zu einem im Deutschen Ärzteblatt ausführlich besprochenen und von den Medien angeheizten Skandal um die sogenannten „Schlüsselkinder“. Einer zeitgenössischen Studie zufolge verbrachten bis zu drei Millionen Stadtkinder den Tag ohne Betreuung durch Erwachsene, da die Mütter außer Haus arbeiteten. Diese Kinder, so die öffentliche Tirade, wüchsen infolgedessen zu kriminellen Erwachsenen heran.45 Obwohl die veröffentlichten Zahlen bald als übertrieben galten, offenbart dieser Fall doch den moralischen Druck, der auf arbeitende Mütter ausgeübt wurde.46 In diesem Zusammenhang fällt auch die undifferenzierte Sichtweise auf, die durch einen in zeitgenössischen Medien und medizinischen Fachorganen verbreiteten, oftmals ungenauen Sprachgebrauch getragen wurde. Es wurde höchstens differenziert nach Land- und Stadtbevölkerung, nach arbeitend oder nicht arbeitend, wobei Männer generell als erwerbstätig galten. So meinten Verweise auf „die Frau“ meist die gutsituierte Mittelklasse, von der angenommen wurde, dass finanziell keine Notwendigkeit bestand, eine Arbeit aufzunehmen. Wenn sie dennoch arbeitete, wurde sie als schlechte Mutter stigmatisiert – zusammen mit alleinerziehenden Müttern und Frauen, die arbeiten mussten, da deren Ehemann nicht genug verdiente, um die Familie zu ernähren. In der DDR wurde auch meist nur über „die Frau“ und „den Mann“ geschrieben. Hier stand allerdings die Arbeiterklasse im Mittelpunkt. So waren Akademikerinnen und Landfrauen in Erörterungen zur Frauenrolle der 1950er Jahre durchaus präsent, aber eher spezielle Erscheinungen, die aufgrund ihrer nicht proletarischen Herkunft besonderer politischer Aufmerksamkeit bedurften. Die grobe Unterteilung in Land- und Stadtbevölkerung, arbeitend und nicht arbeitend bediente sowohl programmatische Definitionen als auch Wahrnehmungsmuster. So wurde die Landbevölkerung lange als gesünder eingeschätzt als die Stadtbevölkerung und die außerhäuslich erwerbstätige 44 Oeter (1961). 45 Die ehrbaren Diebe (1966), S. 50. 46 Moeller (1993), S. 139, 216; Niehuss (2001), S. 460 f.
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Frau wurde in der Bundesrepublik als ungesünder lebend als die Hausfrau angesehen, während ostdeutsche Gesundheitspolitiker einen positiven Gesundheitseffekt für weibliche Erwerbstätige implizierten. Vereinzelte medizinische Untersuchungen, wie die exemplarisch vorgestellten Studien in Dachau und Krefeld, lieferten Daten, die diese programmatischen Ansichten differenzierten, sie aber kaum ändern konnten. Vermutlich wurde mit der undifferenzierten Sprache eine Erwartungshaltung im Sinne von Helmut Schelskys „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“47 für die Bundesrepublik und einer klassenlosen Gesellschaft für die DDR vermittelt und zielsetzend artikuliert. In der fehlenden Feinanalyse sozialer Unterschiede zeigten sich aber auch Forschungslücken und konzeptionelle Unsicherheiten, die langfristig die Entwicklung von Präventionsprogrammen behinderten. Der westdeutsche Ministerialrat Borgolte beispielsweise äußerte seine Unsicherheit, wie die Gesundheitsfürsorge bei Herz-Kreislauf-Krankheiten überhaupt auf- und ausgebaut werden sollte, da bisherige Bereiche wie Säuglingsoder Tuberkulosefürsorge kaum Anhaltspunkte für solch ein Programm liefern würden.48 Die in Anbetracht steigender Erkrankungsraten drängende Frage, wie effektiv vorgegangen werden könnte, führte in Ost und West dazu, dass sich populärwissenschaftliche Ausstellungen und Materialien in dieser Zeit an Ansätzen orientierten, die in die 1920er Jahre zurückreichten und überwiegend auf die allgemeine Lebensweise rekurrierten.49 So thematisierte die vom Deutschen Gesundheits-Museum (DGM) in Köln, ab 1967 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA), ausgerichtete große Ausstellung „Ein Ja dem Leben“ (1951) gesunde Ernährung, mahnte die Vermeidung von Genussmitteln an, vor allem in Bezug auf Tabak, und betonte die Bedeutung sportlicher Betätigung für die Gesunderhaltung. Geschlechterunterschiede wurden nicht explizit aufgegriffen. Implizit bezogen sich populärwissenschaftliche Ausstellungen trotzdem auf Frauen: durch Informationen zur Reproduktion, Krebsvorsorge sowie alltäglichen Gesundheitsvorsorge, beispielsweise durch Pflege und Abhärtung des Körpers, die auf die weibliche Lebenswelt abgestimmt waren und Frauen in dieser abbildeten.50 Auch die gut besuchte Wanderausstellung des Deutschen Hygiene-Museums Dresden (DHMD) zu Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems (ab 1962) blieb diesem Muster verhaftet und agierte allgemein hygienisch aufklärend und medizinisch informativ.51 Allerdings betonten sowohl das ostdeutsche DHMD als auch sein westdeutsches Pendant, das DGM, die Rolle der Frau als eine Art Gesundheitsbeauftragte der Familie und der Gesellschaft, in einer Vermittlerfunktion und mit dem Ziel, Gesundheitswissen in die Familie zu tragen. Dieser Anspruch perpetuierte dichotome Geschlech47 48 49 50 51
Schelsky (1953). Borgolte (1962), S. 474. Hitzer (2013). So etwa die Wanderausstellung „Die Frau“ des Deutsches Hygiene-Museums Dresden (1950–1958). Budig (1994), S. 47 f.
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terrollen, die, wie im folgenden Teil erkennbar werden wird, Anfang der 1960er Jahre in der DDR als politisch überholt galten und in der westdeutschen Öffentlichkeit gerade in Frage gestellt wurden.52 Trotz unterschiedlicher politischer Ausgangspunkte ähnelten sich die präventiven Konzepte in beiden deutschen Staaten: Prävention blieb den stereotypen Geschlechterbildern verhaftet und bedeutete für Frauen eher Fürsorge als Vorsorge. Männer wurden einerseits als primär betroffen angesehen, aber andererseits präventiv kaum direkt angesprochen. Die in der Medizin traditionell begründete Sicht auf den männlichen Körper als Standard umfasste gleichzeitig ein Interesse für den weiblichen Körper, der in seiner Andersartigkeit mehr Aufmerksamkeit erhielt und insbesondere dann, wenn er von den vorgegebenen Rollenbildern abwich. Speziell in den Debatten um Erwerbstätigkeit zeigte sich diese doppelbödige Einstellung: Arbeitende Frauen wurden in der Bundesrepublik pathologisiert. In den westdeutschen Präventionsangeboten wurde aber auf weibliche Erwerbstätigkeit kaum eingegangen, nur vorsorglich davor gewarnt. Männliche Körper wurden demgegenüber konkret besprochen, wenn sie nicht arbeiteten, wie in der Heimkehrerkrankheit, oder wenn sie von der Arbeit(sweise) erkrankt waren, wie in der Managerkrankheit. In der DDR wurde hingegen versucht, arbeitende Frauen als besonders gesund darzustellen. Dennoch wurde der arbeitenden Frau in Präventionsangeboten mehr Aufmerksamkeit geschenkt als Männern, besonders im Rahmen des Mutterschutzes. Um es überspitzt auszudrücken – im Rahmen des Kalten Krieges präsentierten beide Staaten ihre jeweilige Geschlechterpolitik, konkret meist die Frauenpolitik, politisch konträr und als in sich selbst präventiv wirkend. Geschlechterbilder im Wandel Trotz ähnlicher Ausgangsbedingungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der Kalte Krieg die unterschiedlichen politischen Ansätze in den beiden deutschen Staaten auch in Bezug auf die Geschlechterbilder gegeneinander positioniert. Die Grenzziehung im August 1961 konsolidierte politische Unterschiede und ermöglichte damit beiden Staaten, normative Vorgaben an reale Gegebenheiten und Notwendigkeiten anzupassen. Auch Geschlechterbilder unterlagen dem damit einhergehenden Wandel. So begann sich Mitte der 1960er Jahre in der Bundesrepublik die weibliche Erwerbstätigkeit mit Hilfe der westdeutschen Industrie, die Arbeitskräfte benötigte und beispielsweise speziell an die Zeitbedürfnisse der Mütter angepasste Arbeitszeiten anbot, zu etablieren.53 Gleichzeitig lösten sich Politiker im Zuge einer parlamentarischen Debatte zur Situation der Frauen zunehmend von ihrem Beharren auf konservativen Familienstrukturen.54 Medizini52 Vogel (2003), S. 50, 116; Junker (1965). 53 Oertzen (1999). 54 Lindner (2003).
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sche und soziologische Studien zu arbeitenden Frauen betonten die positiven Gesundheitseffekte einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit und ebneten somit den Weg für das sogenannte Drei-Phasen-Modell (arbeiten vor dem ersten Kind, nicht arbeiten, wenn kleine Kinder im Haushalt leben, und dann wieder arbeiten, wenn die Kinder groß sind), das arbeitende Gattinnen und Mütter gesellschaftlich akzeptabel erscheinen ließ. Gesundheitsbedenken verschoben sich hin zu Mutterschutz und Gesundheitsschutz von Kindern und Jugendlichen. Da Reproduktion als weibliche Verantwortung verstetigt wurde, stellten diese vielfältigen Entwicklungen die primäre Rolle der Frau als Mutter indes nicht in Frage, sondern verankerten sie langfristig in der kollektiven Wahrnehmung. Gleichzeitig beschwor bis 1977 das Ehe- und Familienrecht die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung.55 Dennoch strömten schon in den späten 1970er Jahren junge, gut ausgebildete Frauen auf den Arbeitsmarkt und führten zu einer Diversifikation weiblicher Leitbilder.56 Parallel zu der westdeutschen Entwicklung begann in Ostdeutschland mit dem Familiengesetz 1965 die sogenannte Muttipolitik, die mit Hilfe der Sozialgesetzgebung und des Arbeitsschutzes Frauen wieder verstärkt auf eine Mutterrolle orientierte, um die rückläufige Reproduktion wiederzubeleben. Die ideologisch begründete Pflicht zur Arbeit blieb weiterhin bestehen, aber die Vereinbarkeit mit der Mutterrolle sollte durch einen Ausbau des Mutterschutzes und der staatlichen Leistungen für Mütter sowie den Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung verbessert werden. So gab es zum Beispiel Wochenund Monatskrippen, in denen Kleinkinder über längere Zeiträume hinweg ohne elterlichen Bezug betreut wurden. 1965 machte diese Art der Kinderbetreuung mehr als die Hälfte der angebotenen Betreuungsplätze aus. Als Anfang der 1970er Jahre diese langfristige Art der Kinderbetreuung auch von Medizinern zunehmend abgelehnt wurde, investierte der ostdeutsche Staat stattdessen nochmals in die soziale und strukturelle Absicherung der Mütter.57 Diese Neuorientierung beruhte neben der Sorge um sinkende Reproduktionszahlen auch auf der verstärkt sozialpolitischen Ausrichtung unter dem neuen Staatsoberhaupt Erich Honecker, die nach der politischen Unruhe im Zuge des Prager Frühlings zu einer langfristigen Stabilisierung beitragen sollte. Seitdem verband die ostdeutsche Muttipolitik Berufsarbeit und Mutterschaft gleichwertig miteinander: Frauen erhielten mehr arbeitsfreie Zeit nach der Geburt, um sich um ihre Kinder zu kümmern, Arbeitsbedingungen und die Gesundheitsvorsorge für Frauen sollten verbessert werden. So wurden Kuraufenthalte beispielsweise vermehrt an Frauen vergeben und man versuchte – wie auch in Westdeutschland –, Müttern mit ihren Kindern zusammen eine Kur zu ermöglichen. Im Gegensatz dazu veränderte sich das Männerleitbild über die Jahrzehnte hinweg kaum. Der in den 1960er Jahren begonnene Versuch, dieses um Familien- und Hausarbeit zu erweitern, wurde
55 Cornelissen (1993), S. 53. 56 Cornelissen (1993), S. 54. 57 Grosch/Niebsch (1973).
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spätestens mit der Muttipolitik in der festen Zuschreibung dieser Bereiche zur weiblichen Rolle fallengelassen.58 Seit Mitte der 1960er Jahre entfernte sich die DDR politisch zunehmend von den eigenen radikalen Anfängen der Gleichberechtigung und näherte sich wieder mehr dem traditionellen Familienbild an, wie es in der Bundesrepublik seit den späten 1950er Jahren vertreten worden war. Gleichzeitig erwarben immer mehr westdeutsche Frauen berufliche Qualifikationen und blieben auch nach der Heirat erwerbstätig, auch in Vollzeit. Auffällig ist im deutsch-deutschen Vergleich, dass die negativen Gesundheitseffekte der Doppelbelastung zu einer Zeit ins ostdeutsche Rampenlicht gerieten, als in Westdeutschland vorherige gesundheitliche Bedenken von einer neuen positiveren Sichtweise auf Arbeit langsam beiseitegeschoben wurden. Diese politische Angleichung an reale Gegebenheiten wies eine deutliche Kehrtwende gegenüber früheren Darstellungen weiblicher Gesundheit in beiden Staaten auf. Von beiden Seiten aus war also eine Annäherung zu verzeichnen, die Erwerbstätigkeit als Dreh- und Angelpunkt der Rollenverteilung relativierte und, wie noch gezeigt werden wird, damit auch den Fürsorge-Aspekt für Frauen durch eine allgemeine Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz ersetzte. Epidemiologie und Geschlecht Der zunehmende Gleichklang in beiden deutschen Staaten wurde begleitet von breiteren Strömungen gesellschaftlicher Veränderung, die sowohl Prozesse wie die Individualisierung und Diversifikation der Lebensstile als auch eine gesellschaftliche Öffnung und größere Durchlässigkeit mit sich brachten.59 In diesen Wandel fügten sich Diskussionen um Wissen und Risiko in der modernen Gesellschaft, die Ulrich Beck Mitte der 1980er Jahre mit dem Konzept der Risikogesellschaft beschrieb.60 In der Risikogesellschaft fungiert die Definition von Risiken als zentraler gesellschaftlicher Konfliktgegenstand – politische Systeme sind dabei zweitrangig.61 Der Bruch mit Traditionen und gesellschaftliche Veränderungen, also Entwicklungen, die sich unter anderem im eben beschriebenen Wandel der Geschlechterbilder in beiden deutschen Staaten seit den 1960er Jahren abzeichneten, prägten damalige Debatten um Prävention und verliehen diesen politische Bedeutung.62 In dieser Zeit änderte sich auch der Umgang mit chronischen Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems, die mit zunehmender Kontrolle der Infektionskrankheiten nun bedrohlicher wirkten.63 Als ein Beispiel für einen im Beck’schen Sinn modernen Umgang mit Risiko kann dabei das Risikofakto58 59 60 61 62 63
Dölling (1993), S. 40. Jarausch (2008); Frevert (2000). Beck (1986). Lau (1989), S. 419. Madarász (2010). Aronowitz (1998).
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ren-Modell stehen. Aufgrund statistischer Daten berechnet es die individuelle Wahrscheinlichkeit, an chronischen Krankheiten zu erkranken, ursprünglich vor allem in Bezug auf das Herz-Kreislauf-System. Risikofaktoren-Modell Das Risikofaktoren-Modell beruht auf der Framingham-Studie, einer 1947 begonnenen epidemiologischen Langzeitstudie in der amerikanischen Kleinstadt Framingham (Massachusetts). In statistischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen wurden Faktoren ermittelt, die ein erhöhtes Risiko für Herz-KreislaufKrankheiten mit sich brachten: die sogenannten Risikofaktoren. Dazu gehören die fettreiche Ernährung, Rauchen, Hypertonie und hohe Cholesterinwerte. Das Modell bezieht sich im Ergebnis auf Lebensführung und hat somit keinen spezifischen Geschlechterbezug. Vor allem konnte den Risikofaktoren mit ärztlicher Unterstützung von jedem einzelnen Patienten präventiv entgegengewirkt werden. Gleichzeitig ergaben sich aus diesem Ansatz deutlich mehr Patienten, da nicht mehr nur auf Krankheitserscheinungen, sondern präventiv auf Risiken und Risikoprofile reagiert wurde.64 Die anschauliche grafische Darstellung des Modells half dessen Verbreitung, wurde aber auch kritisiert. So bemängelte W. Oberwittler im Jahr 1968, dass die Framingham-Studie eine nicht vorhandene Sicherheit vermitteln würde.65 Manfred Pflanz, Professor für Epidemiologie und Sozialmedizin, kommentierte die Konstellation wie folgt: Es ist überhaupt kein Kunststück, sagt der Epidemiologe Pflanz, „einzelne Merkmale“ – etwa Fettverzehr, Kaffeeverbrauch, Zahl der Autos, Telephone oder wildlebende Tauben – mit den Sterbefällen an Herz- und Gefäßkrankheiten zu korrelieren: Ein paralleler Anstieg der Kurven kann dann mühelos als „Ursache“ und „Wirkung“ definiert werden. Andererseits erlaubt auch die korrekte Statistik keine Vorhersage auf das Schicksal des einzelnen Patienten […].66
Dennoch befürworteten Ärzte das multifaktorielle Modell letztendlich, da es im Angesicht steigender kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität neue Therapie- und Präventionsmöglichkeiten auftat. Damit wurde eine neue Ära im Umgang mit Herz-Kreislauf-Krankheiten eingeläutet. Frauen partizipierten durchgehend an der Studie. Erste Ergebnisse, für die Daten aus der Studie geschlechtsspezifisch auf Frauen bezogen wurden, veröffentlichten William B. Kannel und William Castelli, beide Direktoren der Framingham-Studie, erstmals im Jahr 1972.67 Für die beiden deutschen Staaten zeigen die Quellen jedoch, dass ein männliches Bias in den 1970er Jahren weiterhin Bestand hatte. So untersuchten ostdeutsche Studien meist Männer oder verwerteten nur Daten der männ64 65 66 67
Abholz u. a. (1982). Oberwittler (1968). Suche nach dem Schurken im Drama Herztod (1979), S. 47. Kannel/Castelli (1972).
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lichen Kohorte, teilweise mit dem Hinweis, dass diese glaubwürdiger oder deren Auswertung in Anbetracht der überwiegend männlichen Betroffenheit wichtiger sei und Kapazitäten nur für eine Einbeziehung männlicher Kohorten ausreichten. So enthielten die „endgültigen Ergebnisse“ aus ostdeutschen epidemiologischen Untersuchungen über die ischämische Herzkrankheit, die Hypertonie und die peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen in den drei Studiengebieten Berlin-Mitte, Erfurt-Süd und dem Landkreis Pasewalk nur Daten zu 50- bis 54-jährigen Männern, für Erfurt-Süd zusätzlich noch zu 45- bis 49-jährigen Männern.68 Eine Ausweitung der Studien auf Frauen wurde vorgeschlagen, aber in Anbetracht fehlender Ressourcen nicht umgesetzt. Als Anfang der 1970er Jahre für die Interventionsstudie Berlin–Erfurt 508 medizinsoziologische Fragebögen verschickt wurden, ging ein kleiner Teil auch an Frauen. Zu einer Untersuchung eingeladen wurden jedoch nur 45- bis 59-jährige Männer. Auch in ein nach dem Risikofaktoren-Modell angelegtes stationär-ambulantes Präventionsprogramm, das auf physischer Konditionierung und diätetischer Führung beruhte, wurden 433 Männer verschiedener Jahrgänge, aber keine Frauen einbezogen.69 Ähnlich einseitig wurde in einer Studie in Magdeburg vorgegangen, die Daten zu 1.694 Versicherten, die 1972 und 1973 wegen kardiovaskulärer Krankheiten invalidisiert worden waren, analysierte. Von den in diesen Jahren invalidisierten 951 Frauen und 743 Männern wurden ca. 80 überwiegend männliche Betroffene mit einer Herzinfarktdiagnose zu einer persönlichen Befragung eingeladen. Begründet wurde diese Auswahl damit, dass die Zunahme der Invalidisierungen aufgrund eines Herzinfarkts bei den leitenden Kadern deutlich gestiegen sei. Für Frauen wurde vor allem Hypertonie als Grund der Invalidisierung verzeichnet, diese Kohorte jedoch nicht weiter untersucht.70 Augenscheinlich wirkten hier geschlechtsspezifische Vorurteile fort und unterliefen vorhandene Daten. Studien, die weibliche Betroffenheit spezifisch ansprachen, wurden erst in den 1980er Jahren infolge langfristiger internationaler und nationaler Interventionsstudien durchgeführt. Interventionsstudien: MONICA-Projekt und DHP Bei Interventionsstudien handelt es sich um ein Studiendesign der quantitativen Forschung, was also dem epidemiologischen Ansatz des RisikofaktorenModells entspricht. Im Gegensatz zur reinen Beobachtung werden bestimmte Gegebenheiten, wie Ernährung, sportliche Betätigung oder Rauchverhalten der Untersuchungskohorten, gezielt verändert. Damit wird in der Untersuchung erkennbar, wie erfolgreich diese Veränderungen durchgesetzt werden konnten und wie sie sich auf spezifische gesundheitliche Koordinaten auswirkten. In Anbetracht der bereits beschriebenen Unsicherheiten des Risikofakto68 BArch, Bestand DQ 1/24269, Jahresbericht 1971; siehe auch Kolip (2009). 69 BArch, Bestand DQ 101/290, 1974, S. 14, 16. 70 BArch, Bestand DQ 103/323, 1975, S. 15, 22.
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ren-Modells ist es vielleicht nicht überraschend und doch bemerkenswert, dass solche Studien in den 1970er und 1980er Jahren oft feststellten, dass das Risikofaktorenprofil in den Kohorten deutlich verbessert werden konnte, aber dies keine erkennbaren Auswirkungen auf die Gesundheit der Patienten mit sich brachte, also die Herzinfarktrate beispielsweise gleich hoch geblieben war.71 Dennoch erfolgte in beiden deutschen Staaten seit den 1960er Jahren eine Hinwendung zu epidemiologischen Studien in Anlehnung an das Risikofaktoren-Modell. Für die DDR ist auffällig, dass schon Anfang der 1970er Jahre dezidiert und sehr viel deutlicher als in ähnlich gelagerten westdeutschen Studien auf die Risikofaktoren eingegangen wurde, was auf eine schnellere Umsetzung des Modells hinweist. Zurückzuführen ist das unter anderem auf die zentralistischen Strukturen, die politisch gewollte, grundlegende Veränderungen effektiver implementierten, auch entgegen ärztlicher Sichtweisen. So fanden medizinische Debatten über die Schwächen des Risikofaktoren-Modells, wie sie in der westdeutschen Ärzteschaft zu dieser Zeit noch geführt wurden72, in der DDR damals kaum statt73. Der zentralistische Staat konnte national agieren, während im konföderativen System der Bundesrepublik eher einzelne Akteure, wie Krankenkassen in Kooperation mit interessierten Ärzten und medizinischen Instituten, kleinere lokale Studien finanzierten und durchführten. Größere, länderübergreifende Interventionsstudien wurden hier erst seit Ende der 1970er Jahre geplant, als die Bundesregierung ein Programm zur Förderung präventiver Maßnahmen ins Leben rief und Anfang der 1980er Jahre in der Deutschen Herzkreislaufpräventionsstudie (DHP) umsetzte.74 In der ostdeutschen Herz-Kreislauf-Forschung forderten hingegen Kardiologen und, im Sinne einer angestrebten Gesundheitsförderung, auch Vertreter sozialhygienischer Ansätze den Ausbau der Epidemiologie, um Prävention effektiver gestalten zu können: „Ohne eine entwickelte epidemiologische Forschung lässt sich das Bedürfnis der Gesellschaft nach immer stärkerem Ausbau der prophylaktischen Medizin nicht befriedigen.“75 Damit verbunden war eine Verschiebung in den internationalen Allianzen, da vor allem Länder aus dem angelsächsischen Raum als führend in der epidemiologischen Methodik eingeschätzt wurden. Hier begründet lag auch die enge Anbindung an die Weltgesundheitsorganisation (WHO): Trotz und gerade wegen der HallsteinDoktrin wurde schon 1967 von staatlicher Seite festgelegt, „alle zukünftigen epidemiologischen Untersuchungen in der DDR“ auf der Grundlage der WHO-Empfehlungen durchzuführen.76 71 72 73
BArch, Bestand DQ 1/10093, 1975, S. 24. Halhuber (1973), S. 109. Kritik an der Risikofaktorenmedizin und speziell an der Framingham-Studie wurde erst Ende der 1980er Jahre in der DDR laut, vor allem mit dem Hinweis auf psycho-nervale Faktoren und Umwelteinflüsse, die in Präventionskonzepte einbezogen werden müssten. Siehe BArch, Bestand DQ 1/14242, 1987, S. 4. 74 Madarász (2010), S. 194. 75 BArch, Bestand DQ 109/265, Analysen, 1967, S. 2. 76 BArch, Bestand DQ 109/264, Medizinische Soziologie, 1967.
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Am Programm zur Bekämpfung der Herz-Kreislauf-Krankheiten der DDR kann man diese Entwicklung detailliert verfolgen. So bemängelte ein vom an der Charité beschäftigten Kardiologen Horst Heine federführend erarbeiteter Entwurf aus dem Jahr 1967 das Fehlen epidemiologischer Forschung in der DDR. Im Interesse einer effektiven Prävention forderte Heine die Gründung epidemiologischer Arbeitsgruppen in Anlehnung an die entsprechende WHO-Dokumentation. Langfristig versprach man sich von der Kooperation mit der WHO neben methodologischen Anregungen auch internationales Prestige und Valuta – beides Faktoren, die die DDR Ende der 1960er Jahre über das medizinische Anliegen hinaus politisch und wirtschaftlich dringend benötigte.77 Trotz dieser sehr frühen Ansätze wurde erst ein Jahrzehnt später das Herzinfarktbekämpfungsprogramm implementiert, das seit 1973 mit Pilotstudien und einem intensiven Austausch mit der WHO vorbereitet worden war.78 Das strategische Präventionsprogramm umfasste neben den Herzinfarktregistern auch Maßnahmen für die Prävention, verbesserte Standards der Diagnose und Therapie sowie der Rehabilitation. Zur primären Prävention wurden gesundheitsfördernde Maßnahmen, Ernährung, psychische und physische Konditionierung und die Elimination von Risikofaktoren gezählt. Neben der Gesundheitserziehung, die das individuelle Verhalten verändern sollte, wurde – angelehnt an zeitgenössische WHO-Verlautbarungen – „die Befähigung des Bürgers, gesundheitsfördernde Maßnahmen in seine Lebensweise harmonisch zu integrieren“, angestrebt.79 Epidemiologische Interventionsstudien führte man in der DDR kontinuierlich durch, und Herzinfarktregister, in denen Daten zu allen Todesfällen durch Herzinfarkt gesammelt wurden, gab es seit 1970 in mehreren Bezirken. In den frühen 1980er Jahren folgte dann die aktive Einbindung in und Umsetzung von WHO-Projekten in der DDR, mittels derer alte Präventionsprogramme neu belebt, ausgebaut und modernisiert wurden.80 So wurde etwa eine Studie zum Zusammenhang zwischen Ovulationshemmern und HerzKreislauf-Krankheiten durchgeführt. Diese speziell auf Frauen ausgerichtete Studie betonte reproduktive Themen und entsprach damit der zeitgenössischen Geschlechter- und Gesundheitspolitik.81 Gleichzeitig zeigte sich hier die fortschreitende Entwicklung der Endokrinologie, obwohl der Einsatz von Hormonen, vor allem Östrogen und Progesteron, in der Prävention von HerzKreislauf-Krankheiten in der DDR erst Mitte der 1980er Jahre öffentlich diskutiert wurde.82 Im Jahr 1983 führte man in der DDR zusätzlich das Hypertoniebekämpfungsprogramm ein. In diese Längsschnittstudie wurden dezidiert auch 30- bis
77 78 79 80 81 82
BArch, Bestand DQ 112/119, 1983, S. 1. BArch, Bestand DQ 109/46, 1973, S. 1, 7. BArch, Bestand DQ 112/587, 1978, S. 12. BArch, Bestand DQ 112/119, 1983, S. 1. BArch, Bestand DQ 112/113, 1983. Madarász-Lebenhagen (2014).
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50-jährige Frauen einbezogen.83 Diese Prioritätensetzung beruhte auf der Einschätzung, dass jüngere Altersgruppen gesellschaftlich und volkswirtschaftlich eine „größere Bedeutung“ besäßen und auch der Erfolg prophylaktischer Maßnahmen besser eingeschätzt werden könne als bei älteren Jahrgängen.84 Das Programm stellte sich die Aufgabe, Hypertoniker besser zu erfassen, langzeitlich medikamentös zu versorgen sowie ergänzend prophylaktische Maßnahmen wie die Kochsalz- und Übergewichtsreduktion durchzusetzen, da diese bisher „nicht ausreichend genutzt“ worden seien.85 Letztendlich wurde hier infolge epidemiologischer Studien ein Präventionsprogramm erstellt, das Männer und Frauen aufgrund einer an volkswirtschaftlichem Nutzen orientierten Vorauswahl einbezog. Gerade in der ostdeutschen Mangelwirtschaft waren Studiendesigns von volkswirtschaftlichen Erwägungen geprägt, ob dies nun die Auswahl der Kohorten betraf oder, wie gezeigt wurde, die politische Entscheidung für die Epidemiologie an sich. Trotz anfänglicher ärztlicher Skepsis öffnete sich auch die westdeutsche Medizin letztendlich der Epidemiologie. Wie in der DDR spielte das Interesse an internationaler Anbindung, die durch Kooperationen mit epidemiologischen Großprojekten der WHO möglich schien, eine wichtige Rolle.86 Ein herausragendes WHO-Projekt, an dem sich sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik beteiligten, war das MONICA-Projekt. MONICA steht für „monitoring trends and determinants in cardiovascular disease“ und ist eine internationale Studie, die in 21 Ländern durchgeführt wurde. Sie untersuchte einmal Mitte der 1980er Jahre und dann nochmals etwa zehn Jahre später mehrere Tausend 35- bis 64-jährige Männer und Frauen in 37 regionalen Populationen, um die Entwicklung des Herzinfarktrisikos zu verfolgen. In Ostdeutschland gab es mehrere lokale Zentren, während sich das Projekt in Westdeutschland auf Augsburg konzentrierte.87 Aufgrund der Daten des MONICA-Projekts konnte festgestellt werden, dass die Herzinfarktmortalität in zehn Jahren international durchschnittlich um 20 bis 30 Prozent gesunken war. Die Gründe dafür blieben allerdings unklar. Außerdem stieg der Anteil der Herz-Kreislauf-Krankheiten an den Todesursachen im Untersuchungszeitraum sogar deutlich an – der akute Herzinfarkt in den mittleren Jahren wurde von chronischen Geschehnissen im höheren Alter ersetzt.88 Das MONICA-Projekt war darauf ausgelegt, die Ursachen und damit auch Präventionsansätze für Herz-Kreislauf-Krankheiten zu ergründen. Letztendlich beschränkte das Studiendesign mit dem Fokus auf Herzinfarkt und die untersuchten Altersgruppen allerdings die eigenen Möglichkeiten, beispielsweise der mit Frauen assoziierten Hypertonie und deren höherem Alter bei Eintritt kardiovaskulärer Krankheiten Rechnung zu tragen, auch wenn die 83 84 85 86 87 88
Faulhaber (1984). BArch, Bestand DQ 109/265, Programm, 1967, S. 7, 48. Faulhaber (1984). Madarász-Lebenhagen/Kampf (2013). Hense (2000). Koch (2000).
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Augsburger Studie den untersuchten Altersbereich auf 25 bis 74 Jahre erweiterte.89 In den ostdeutschen Städten Karl-Marx-Stadt (jetzt Chemnitz), Zwickau und Erfurt zeigten die Daten aus dem MONICA-Projekt im Vergleich mit westdeutschen Daten vor allem die höhere weibliche Mortalität nach einem Herzinfarkt. Generell wurde die Notwendigkeit eines Ausbaus der Primärprävention in beiden deutschen Staaten deutlich.90 Obwohl Daten aus der Studie das Bild von den Herz-Kreislauf-Krankheiten schon in den 1980er Jahren neu gestalteten, ging bis weit in die 1990er Jahre vom MONICA-Projekt nur eine verhaltene Impulswirkung für Präventionsansätze aus, die Männer und Frauen in ihren unterschiedlichen Krankheitsbildern erkannten und ansprachen. Nützlich erwiesen sich die Daten vor allem für den nationalen und internationalen Vergleich. Sie zeigten vor allem, wie massiv sich wirtschaftliche und soziale Gegebenheiten auf Todesursachen auswirken.91 Sozial differenzierter agierte die westdeutsche DHP, die größte bisher von der Bundesregierung geförderte epidemiologische Interventionsstudie. Hierfür wurden zwischen 1984 und 1991 17.596 Männer und 17.403 Frauen im Alter von 25 bis 69 Jahren untersucht. Bei der Auswertung standen dann allerdings nicht Geschlechterunterschiede, sondern soziale Schichten im Mittelpunkt. Die Studie betonte, dass ärmere Bevölkerungsteile sich trotz besseren Wissens gesundheitlich unverantwortlich verhielten und durchgängig ein schlechteres Risikoprofil als mittelständische Schichten aufwiesen.92 Dies entsprach dem zeitgenössischen Problembewusstsein: Seit den 1970er Jahren hatte die Bundesrepublik mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die sich in einem weitgehenden Sozialabbau und einer hohen Arbeitslosigkeit niederschlugen, die in den 1950er und 1960er Jahren undenkbar gewesen waren und soziale Ungleichheit ins gesundheitspolitische Rampenlicht rückten. Als ein wichtiges Ergebnis der DHP und zeitgenössischer internationaler Einflüsse, wie der von der WHO 1986 veröffentlichten Ottawa-Charta, orientierten sich Präventionsprogramme zwar weiterhin am Verhalten, aber – und dies war ein wichtiger Schritt – nahmen auch Verhältnisse zunehmend in den Blick. Verhältnisprävention bezieht sich nicht auf das individuelle Verhalten, das in der Framingham-Studie im Mittelpunkt stand, sondern versucht, technische, organisatorische und soziale Bedingungen des gesellschaftlichen Umfeldes und der Umwelt unter präventiven Gesichtspunkten zu verbessern, indem beispielsweise sozial ungleiche Gesundheitschancen ausgeglichen werden oder, um ein konkretes Beispiel zu geben, Radwege in den Städten und insbesondere in sozial benachteiligten Stadtteilen angelegt werden. Langfristig konnten mit dieser Ausweitung spezifisch weibliche und männliche Arbeitsund Lebensumstände als kausale Faktoren von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wahrgenommen und neue Präventionsstrategien ermöglicht werden. Allerdings ist dieser Ansatz gerade auch in Bezug auf Geschlechterunterschiede bis 89 90 91 92
Löwel u. a. (2002), S. 19 f.; Gohlke (2002), S. 56. Barth u. a. (1996); siehe auch Madarász-Lebenhagen (2014). Koch (2000). Kreuter u. a. (1995).
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heute in der Bundesrepublik im Rahmen von Public Health nur schwach etabliert und harrt noch immer seiner effektiven Umsetzung.93 Präventionskonzepte: Gesund im Betrieb Seit den 1970er Jahren kann eine deutsch-deutsche Annäherung in Präventionskonzepten konstatiert werden, die auf der gemeinsamen Grundlage des Risikofaktoren-Modells und der Beteiligung an internationalen Interventionsstudien beruhte. Präventionsprogramme betonten durch Fürsorgemaßnahmen weiterhin die besondere Schutzbedürftigkeit der Frauen und Mütter, beispielsweise am Arbeitsplatz, und übergingen Männer, obwohl diese als gefährdeter eingestuft wurden. Um zu verfolgen, wie die epidemiologische Ausrichtung im Zusammenhang mit Geschlechterbildern Präventionskonzepte veränderte, soll exemplarisch auf die Entwicklung der Prävention in Betrieben – meist umgesetzt als Arbeitsschutzmaßnahmen – eingegangen werden. Betriebliche Gesundheitsförderung bietet sich für solch eine deutsch-deutsche Analyse an, da beide Staaten sich in diesem Bereich engagierten und ihre Bemühungen als erfolgreich einschätzten.94 Während in der frühen DDR der Arbeitsschutz für Frauen, wie das Nachtarbeitsverbot, im Interesse gleichberechtigter Arbeit und wirtschaftlicher Notwendigkeit seit 1949 teilweise aufgehoben wurde, erfolgte in der Bundesrepublik ein Ausbau geschlechtsspezifischer Arbeitsschutzmaßnahmen, die Frauen aus bestimmten Arbeitsbereichen wie dem Baugewerbe fernhielten, in andere hineinlenkten und weibliche Erwerbstätigkeit generell behinderten.95 In beiden Staaten waren medizinische Studien Teil der jeweils gewünschten Entwicklung. So wurde in den westdeutschen Gewerkschaftlichen Monatsheften gegen die gleiche Bezahlung weiblicher und männlicher Arbeitsleistung argumentiert, um das Ernährergehalt des Mannes zu schützen. Dazu passend wurde erklärt, dass Frauen aufgrund ihrer biologischen und psychischen Voraussetzungen besser als Männer mit den gering bezahlten monotonen Arbeitsabläufen an Fließbändern umgehen könnten.96 Immerhin findet sich schon 1955 der Hinweis auf die gesundheitlichen Folgen der Monotonie und den Zusammenhang zwischen nervlicher Belastung und Herz-Kreislauf-Krankheiten, ohne diese jedoch explizit auf Frauen oder Männer zu beziehen.97 Frauen litten jedoch, so die zeitgenössische Aussage, unter Migräne und anderen Krankheiten, die „im spezifisch weiblichen liegen“.98 Allerdings veränderten sich solche „wissenschaftlich“ unterlegten Annahmen zu den biologischen Determinanten weiblicher Erwerbstätigkeit aufgrund 93 94 95 96 97 98
Kuhlmann/Kolip (2005). Lenhardt (1997). Budde (2000), S. 611 f.; Berghahn/Fritzsche (1991), S. 39–42. Weber (1954), S. 682. Schayer (1955), S. 19. Stirn/Stirn (1955).
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wirtschaftlicher Notwendigkeiten. So erlebten die vormals gefeierten ostdeutschen Traktoristinnen schon seit Mitte der 1950er Jahre, wie sie durch Hinweis auf die für Frauen als gesundheitlich bedenklich angesehenen Vibrationen auf ungefederten Traktorsitzen zusehends wieder aus der traditionellen Männerdomäne gedrängt wurden. Dass neuere Typen mit gefederten Sitzen zur Verfügung standen, half ihnen wenig, da die bessere Technik meist von Männern bedient wurde.99 In ostdeutschen medizinischen Studien zur Arbeitsbelastung wurde, wie in der Bundesrepublik, bis Mitte der 1960er Jahre kaum auf die weibliche Herz-Kreislauf-Morbidität eingegangen. Für die frühe betriebliche Gesundheitsförderung in beiden Ländern kann also festgestellt werden, dass weibliche Morbidität thematisiert wurde, aber – und das steht im Einklang mit den bisherigen Ausführungen zu den jeweils idealisierten Geschlechterbildern – vor allem bezogen auf die weibliche Rolle als Hausfrau und Mutter in Westdeutschland und als arbeitende Mutter in Ostdeutschland. Gleichzeitig wurde deutlich, dass man Prävention im Kontext des Betriebs in beiden Staaten nicht als lebensverlängernde Maßnahme ansah, sondern sie mit dem Ziel, Arbeitskraft zu stärken und zu erhalten, also einem Leistungsgedanken, verknüpft wurde. Ab den späten 1960er Jahren änderte sich der methodische Zugang. Ostdeutsche arbeitshygienische Studien orientierten sich zunehmend am Risikofaktoren-Modell. Außerdem gingen sie davon aus, dass Herz-Kreislauf-Krankheiten von den Arbeitseinflüssen mitbestimmt würden, und untersuchten neben sozialen und Milieu- auch Arbeitsfaktoren wie Schichtarbeit, leitende Tätigkeit, psychische Beanspruchung und Schwerarbeit.100 Angesiedelt wurden solche Studien in traditionell männlichen Bereichen wie dem Bauwesen.101 Trotz des hohen Anteils weiblicher Beschäftigter in der DDR und der politischen Betonung des Gesundheitsschutzes für Frauen und Mütter beklagten ostdeutsche Mediziner, dass es keine Forschungsstelle gäbe, die sich speziell den physiologischen oder psychischen Problemen der Frau widmete, und dass die prophylaktische Betreuung der werktätigen Frau „nur schwach entwickelt“ sei.102 Dies fügte sich nahtlos ein in die damalige Neuorientierung auf die Frau als Mutter, die auch in arbeitshygienischen Konzepten betont wurde: „Der besonderen Aufgabe der Frau, Mutter zu werden und zu sein, muß in allen Bereichen der Forschung und in der Praxis mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.“103 Zu dieser Zeit war die arbeitende Frau auch in der Bundesrepublik keine verpönte Ausnahme mehr. Dass sich medizinische Experten auch in der Arbeitsmedizin bis in die späten 1980er Jahre nur vereinzelt zum kardiovaskulären Risikoprofil erwerbstätiger Frauen äußerten, beruhte unter anderem darauf, dass auch westdeutsche Studien meist nur Männer einbezogen. Dies 99 100 101 102 103
Budde (2000), S. 624. BArch, Bestand DQ 109/264, Arbeitshygiene, 1967, S. 18, 25. BArch, Bestand DQ 109/278, 1968, S. 13. BArch, Bestand DQ 109/264, Bericht, 1967, S. 43 f. BArch, Bestand DQ 109/264, Arbeitshygiene, 1967, S. 41.
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wurde mit limitierten Ressourcen begründet und damit, dass Männer mittleren Alters, die wohl geläufigste Kohorte in Herz-Kreislauf-Forschungen der 1970er und 1980er Jahre, immer noch als gefährdeter wahrgenommen wurden als Frauen.104 Gleichwohl deuteten einige sozialmedizinische Studien seit Ende der 1960er Jahre darauf hin, dass erwerbstätige Frauen generell gesünder seien als Hausfrauen105, und es wurde darauf gedrängt, Frauen durch Arbeitsschutzgesetze vor körperlicher Überlastung zu bewahren106. Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Männern und Frauen in der HerzKreislauf-Forschung und den präventiven Ansätzen war sicher auch dem Umstand geschuldet, dass die Primärprävention von Ärzten als wenig effektiv107 und Arbeitsmedizin auch in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, von einigen herausragenden Ausnahmen gerade in größeren Firmen abgesehen108, noch als „weitgehend unterentwickelt“ eingeschätzt wurde109. Demgegenüber belegten mehrere Studien in der ostdeutschen Zeitschrift Die Position der Frau in der sozialistischen Gesellschaft ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten bei Frauen in verschiedenen Berufsgruppen, unter anderem bei Lehrerinnen und Verkäuferinnen.110 Die vielfältigen prämorbiden Zustände bei Frauen in den Vierzigern wurden dabei auf die doppelte Belastung durch Beruf und Haushalt zurückgeführt.111 Auch die Kardiologen nannten Stress schon 1967 als Risikofaktor für Herzerkrankungen und schlugen vor, das Betriebsgesundheitswesen in die Prävention von Hypertonie und Arteriosklerose einzubeziehen.112 Anfang 1971 wurde auf ein „Überforderungssyndrom“ hingewiesen, das gerade Frauen zu betreffen schien und an die Debatten um die Managerkrankheit in den 1950er Jahren erinnerte. Präventiv empfahl man lediglich Pausengymnastik und Entspannung.113 Wie wiederholt zugegeben wurde, zeigte diese allgemein gehaltene Empfehlung, dass die Gesundheitsvorsorge in diesem Bereich noch am Anfang stand.114 Gleichzeitig scheint der originäre Impetus seit den späten 1970er Jahren verlorengegangen zu sein, als die praktische Umsetzung der durch die Studien angeregten Maßnahmen an die Grenzen wirtschaftlicher Möglichkeiten und politischer Vorgaben stieß. Trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung wurde grundsätzlich am sozialistischen Rollenbild der Frau festgehalten und die als ursächlich erkannte Doppelbelastung nicht angegriffen. Westdeutsche Ärzte argumentierten in den 1970er und 1980er Jahren vehement gegen die Erwägung, Stress als Risikofaktor für kardiovaskuläre 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114
Siegrist (1987), S. 658 f. Prill (1970), S. 55. Blättel (1976), S. 613 f. Halhuber (1973), S. 95. Für Präventionsprogramme bei BASF siehe Hähner-Rombach (eingereicht). Naschold (1977), S. 187. Theune u. a. (1971), S. 29. Erkrath (1970), S. 60; Wagner (1975), S. 40. BArch, Bestand DQ 109/265, Programm, 1967, S. 53, 65. Theune u. a. (1971), S. 26, 29. Benndorf u. a. (1975), S. 22.
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Krankheiten anzuerkennen. So kritisierte der Internist Viktor Tobiasch, Leiter des Instituts zur Erforschung präventiv-medizinischer Fragen e. V. in IsnyNeutrauchburg, die Tendenz der Patienten, Stress als primäre Ursache ihres Herzinfarkts zu verstehen – eine populäre Deutung, die an die kontroversen Debatten der 1950er Jahre um die Managerkrankheit anschloss. Nach Tobiasch verursachte diese „Fehlmeinung“ ein „Fehlverhalten“115 bei den Patienten und ein „Wegschieben der Verantwortung“116, das mit dem Risikofaktoren-Modell nur schwer zu vereinbaren war. Tobiasch beschrieb damit die damals auf der medizinischen Ebene überwiegend vertretene Sichtweise: Mit dem Risikofaktoren-Modell schien die Prävention chronischer Herz-KreislaufKrankheiten möglich geworden zu sein, allerdings nur, wenn der Einzelne sein Gesundheitsverhalten langfristig nach den konkreten Vorgaben der Ärzte gestaltete. Äußere Einflüsse und Verhältnisse als Risikofaktoren waren in diesem Verständnis nicht enthalten, das damit auch den zeitgenössischen Bemühungen der ärztlichen Standesvertretung, Prävention an die Arztpraxen zu binden, entsprach.117 Im Gegensatz zu dieser engen Sichtweise forderten westdeutsche Betriebspsychologen im Einvernehmen mit Sozialmedizinern, Soziologen und Psychosomatikern schon 1976, Stress als primären Risikofaktor und gesundheitliche Schäden, die infolge beruflicher Belastungen auftraten, als Berufskrankheit anzuerkennen.118 Hier deutet sich ein aufkeimendes Interesse in den Betrieben an Herzkrankheiten an, das sich aber immer an einer überwiegend männlichen Belegschaft orientierte und auch nur langsam in die betriebliche Gesundheitsfürsorge integriert werden konnte. Gesetzlich verankert wurde die betriebliche Gesundheitsförderung in der Bundesrepublik erst mit der Einführung des § 20 in das Fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) im Jahre 1989, in Anlehnung an die Deklaration von Ottawa und ein Jahr vor der deutschen Wiedervereinigung. Obwohl der mit dem § 20 SGB V an die gesetzlichen Krankenkassen erteilte Präventionsauftrag 1996 wieder gestrichen wurde, blieb der Auftrag der betrieblichen Gesundheitsförderung erhalten. In beiden deutschen Staaten änderten sich in den 1970er Jahren sowohl Geschlechterbilder als auch medizinische Modelle und führten zu einer Annäherung in Präventionsprogrammen. Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei Herz-Kreislauf-Krankheiten wurden gesehen, aber in der weiterführenden medizinischen Debatte nicht verfolgt und bis in die 1990er Jahre gesundheitspolitisch vernachlässigt. Besonders deutlich wurde das anhand des Fallbeispiels der betrieblichen Gesundheitsfürsorge. Ost- und westdeutsche Ansätze verharrten in althergebrachten Mustern und setzten sich primär mit individuellem Verhalten und weniger mit der gesellschaftlichen Determiniertheit von Gesundheit und Krankheit auseinander. Fehlende Reaktionen auf erkannte Problembereiche beruhten einerseits auf den inhärenten, systemun115 116 117 118
Tobiasch (1975), S. 575, und Tobiasch (1979), S. 2829. Herzinfarkt – Variante des russischen Rouletts? (1987), S. 75. Madarász (2010); Kreuter u. a. (1995), S. 133. Tobiasch (1979), S. 2829.
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spezifischen Blindstellen des Risikofaktoren-Modells, die der nunmehr verhaltensorientierten, multifaktoriellen und sozial neutralen Betrachtungsweise chronischer Krankheiten geschuldet waren. Andererseits schlugen sich hier gesundheitspolitische Präferenzen nieder, die auf den in beiden Staaten unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Prioritätensetzungen beruhten. Nach der Wiedervereinigung Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 wurde das ostdeutsche Gesundheitswesen innerhalb kürzester Zeit an das westdeutsche System angeglichen. Weder strukturelle Besonderheiten, wie die Polikliniken oder Dispensaires zur Betreuung chronisch Kranker, noch international anerkannte konzeptionelle Ansätze, die sich in der intensiven epidemiologischen Forschung an ostdeutschen Instituten niedergeschlagen hatten, wurden weitergeführt. Im Jahr 1995 präsentierte das DHMD eine große Ausstellung zum Thema „Herz. Das menschliche Herz – der herzliche Mensch“. Nur fünf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und kurz nach der internen Rekonzeptionalisierung des Museums kann diese Ausstellung einerseits für die schnelle Überlagerung ostdeutscher durch westdeutsche Präventionsansätze und andererseits für die bis Mitte der 1990er Jahre nur zögerliche Auseinandersetzung mit Geschlechterunterschieden in Herzkrankheiten stehen. Beispielsweise gab es einige Geräte, die die Besucher animieren sollten, die eigene kardiovaskuläre Fitness zu hinterfragen. In der Ausstellung selbst waren Präventionsmöglichkeiten im Eingangsbereich platziert, noch bevor der Besucher die eigentliche Ausstellung betreten hatte. Sowohl diese strategisch ungünstige Position als auch der Fokus auf individuelles Verhalten scheinen bezeichnend für die gesundheitspolitisch immer noch schwache Position präventiver Ansätze im vereinigten Deutschland der 1990er Jahre.119 Im Begleitbuch zur Ausstellung wurde konstatiert, dass erst in der jüngsten Zeit intensiv zu Frauenherzen geforscht werde, auch weil Herzerkrankungen noch 1995 männlich konnotiert waren.120 Die Ausstellung wies auf die Ergebnisse der DHP hin; ostdeutsche Präventionsprogramme oder das Herzinfarktregister wurden nicht erwähnt. Lediglich ein Zusammenschnitt der gesundheitserzieherischen Filme des DHMD bis 1990 wurde präsentiert. Über ein ostdeutsches Erbe sprachen Mediziner und Gesundheitspolitiker dann allerdings doch: Der psychosoziale Stress, dem die ostdeutsche Bevölkerung infolge des politischen Umbruchs ausgesetzt war, wurde für das sprunghafte Ansteigen der Mortalität an Herz-Kreislauf-Krankheiten in der vergleichsweise jungen Bevölkerungsgruppe der 25- bis 44-Jährigen verantwortlich gemacht, wobei Frauen mit 24 Prozent deutlich über den 18 119 Hahn (1995). 120 Moreano (1995), S. 72.
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Prozent bei den Männern lagen.121 Neue Krankheitsbilder, wie hier die Depression mit organischer Auswirkung, halfen dabei, das frühere Bild von der, im Vergleich zum Mann, schwachen weiblichen Psyche und damit verbundenen funktionellen kardiovaskulären Beeinträchtigungen präventiv zu fassen. Distanz und Nähe beider deutscher Staaten in der Prävention In der frühen Nachkriegszeit entwickelten Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedliche Geschlechterbilder und grenzten sich in diesen deutlich voneinander ab. Dennoch bestanden trotz aller programmatischen Definitionen davon abweichende kollektive Wahrnehmungsmuster; eine Ambivalenz, die unter anderem dem Bruch zwischen Normativität und Realität geschuldet war. Die jeweiligen Geschlechterbilder bildeten sich im Umgang mit Krankheiten, wie der Managerkrankheit, der Heimkehrerkrankheit und der vegetativen Dystonie, ab. So wurden kardiovaskuläre Krankheiten und vor allem der Herzinfarkt als ein männliches Krankheitsbild wahrgenommen, während psycho-nervale Leiden und damit verbundene funktionelle Beeinträchtigungen des Herz-Kreislauf-Systems eher im Weiblichen verortet wurden. Demnach schienen Männer eher gefährdet, an einem Herzinfarkt zu sterben, als Frauen. Dennoch waren deutlich mehr gesundheitsvorsorgliche Maßnahmen auf Frauen gerichtet, einerseits um deren reproduktive Fähigkeiten zu erhalten, und andererseits, um ihnen zu ermöglichen, sich der Idealvorstellung einer Frau anzunähern. Entweder wurde angestrebt, Frauen von körperlicher Arbeit außerhalb des eigenen Haushalts zu entbinden und ihnen damit das in der Bundesrepublik idealisierte Hausfraudasein zu ermöglichen, oder ihnen wurden in der DDR Arbeits- und Lebensbedingungen erleichtert, um Mutterrolle und Erwerbstätigkeit miteinander vereinbaren zu können. Arbeit war in beiden deutschen Staaten zentral für die Bestimmung von Geschlechterrollen. Als diese sich seit Mitte der 1960er Jahre veränderten, war damit auch eine neue gesundheitliche Bewertung weiblicher Erwerbsarbeit verbunden: Westdeutschen Frauen schien eine Erwerbstätigkeit zu bekommen, während in der DDR untersucht wurde, wie sie Frauen gesundheitlich beeinträchtigte. Eine erhöhte Gefährdung durch kardiovaskuläre Krankheiten wie beim Mann wurde durch diese Annäherung von ost- und westdeutschen Sichtweisen auf die weibliche Erwerbstätigkeit, die Frauen in der Arbeitswelt verorteten und gleichzeitig eine entsprechende Gesundheitsgefährdung zumindest in Betracht zogen, allerdings nicht konstatiert. Der Wandel der Geschlechterbilder fügte sich ein in breitere gesellschaftliche Strömungen und neue medizinische Konzepte. Epidemiologische Studien analog zum Risikofaktoren-Modell verhalfen der Prävention von Herz-Kreislauf-Krankheiten zu einer neuen Ausrichtung auf individuelles Verhalten, unabhängig vom Geschlecht. Obwohl Interventionsstudien wie das MONICA121 Barth u. a. (1998), S. 124 f.; Kreuter u. a. (1995).
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Projekt Daten zu Männern und Frauen lieferten, zeigte die konkrete Analyse, dass in beiden Staaten kontinuierlich vor allem die Daten männlicher Kohorten gesammelt und ausgewertet wurden. Erkrankungen des Herzens waren weiterhin männlich konnotiert. Anhand der Gesundheitsvorsorge in Betrieben konnte dargestellt werden, dass die weibliche kardiovaskuläre Erkrankung kaum wahrgenommen wurde, aber Präventionskampagnen sich dennoch bis in die 1990er Jahre meist auf Frauen konzentrierten. Dieses Paradox war begründet in der traditionellen Sorge um die Frau, die als abweichend vom männlichen Standard und in ihrer Mutterrolle besonders krankheitsgefährdet schien – und das insbesondere im Kontext einer primär männlich dominierten Arbeitswelt. Dem standen die männlich konnotierten Herz-Kreislauf-Krankheiten gegenüber, die den Mann aufgrund der ihm zugeordneten Geschlechterrolle bedrohten, aber implizit auch als Mann kennzeichneten. Auf dieser prekären Konstellation beruhten die trotz unterschiedlicher Geschlechterbilder grundlegenden Ähnlichkeiten zwischen ost- und westdeutschen Präventionskampagnen, die sowohl gesundheitspolitische Verschiebungen als auch konzeptionelle Veränderungen in der medizinischen Debatte um Herz-Kreislauf-Krankheiten überdauerten. Bibliographie Archivalien Bundesarchiv Berlin (BArch) Bestand B 142/356: Fürsorgestelle – Allgemeines, Presseschau 1949–1952 Bestand DQ 1/10093: Bad Berka, Jahresbericht 1975 Bestand DQ 1/14242: A. Großhans, Stellenwert der Prophylaxe in der Allgemeinmedizin, ca. 1987 Bestand DQ 1/24269: Jahresbericht 1971 Bestand DQ 101/290: Gesellschaft für Kardiologie und Angiologie, 7. Kongress 1974 in Dresden, Abstracta Bestand DQ 103/323: Abschlussarbeit bei der Akademie für Ärztliche Fortbildung: Klaus Rücker, „Beurteilung der Integration von Prophylaxe, Diagnostik und Therapie bei ausgewählten Invaliditätsfällen der Krankheitsgruppe Herzkreislauf im Bezirk Magdeburg und Angabe von Vorschlägen für den Leitungsprozess bei der Zurückschlagung von Invalidität“, 1975 Bestand DQ 109/46: Grundlagenforschung, Forschungsverband Herz-Kreislauf-Krankheiten, Jahresbericht 1973 Bestand DQ 109/264: Problemkommission Medizinische Soziologie und Epidemiologie 1967; Arbeitshygiene 1967; Bericht aus dem Lehrstuhl für Sozialhygiene, 1967 Bestand DQ 109/265: Analysen und Prognosen der Entwicklung im Problemgebiet bis 1980, 8.3.1967; Programm zur Bekämpfung der Herz-Kreislauf-Krankheiten, Februar 1967 Bestand DQ 109/278: Problemkommission Arbeitshygiene 1968 Bestand DQ 112/113: Zusammenarbeit mit der WHO, Ovulationshemmerstudie 1983 Bestand DQ 112/119: Zusammenarbeit mit der WHO, Festlegungsprotokoll 15.8.1983 Bestand DQ 112/587: Herzinfarktbekämpfungsprogramm 1978
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Danksagung Ich möchte insbesondere Sylvelyn Hähner-Rombach und Axel Hüntelmann für deren hilfreiche Kommentare zu früheren Versionen dieses Beitrags danken.
Möglichkeiten und Grenzen individueller Gesundheitsvorsorge bei männlichen Patienten der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg in der Nachkriegszeit Christoph Schwamm
Einleitung Bekanntlich ist die Lebenserwartung von Männern in Industrienationen einige Jahre niedriger als die von Frauen. Als Grund hierfür werden unter anderem die geringere Inanspruchnahme von Präventionsangeboten bzw. ein im Vergleich zu Frauen problematischeres Risikoverhalten angeführt. Ein nicht unerheblicher Anteil dieses Gender Gap in der Lebenserwartung geht auf psychische Störungen zurück, insbesondere aufgrund der Suizide, die aus ihnen resultieren können.1 Die an der Erforschung von Prävention beteiligten Disziplinen erklären diese Unterschiede mit multifaktoriellen Modellen. Dagegen hat es sich nur als bedingt plausibel erwiesen, die Diskrepanz zwischen den Geschlechtern anhand von individuellem Fehlverhalten zu erklären: „Eine reine Verhaltensprävention nach der ‚blaming the victim‘-Methode, die von der These der Selbstverschuldung ausgeht, entspricht nicht dem medizinsoziologischen Forschungsstand“, wie Anne Maria Möller-Leimkühler im zweiten Männergesundheitsbericht feststellt.2 Seit einiger Zeit wird die Gesundheit von Männern – ob auf Männer fokussiert oder in vergleichender geschlechtergeschichtlicher Perspektive – auch aus historischem Blickwinkel untersucht.3 Dabei kamen Ergebnisse zustande, die die Skepsis der Männergesundheitsforschung gegenüber individuellen Erklärungsansätzen bestätigten und kontextorientierte Modelle bestärkten. Zum einen wurde nachgewiesen, dass es den Gender Gap in der Sterblichkeit nicht schon zu allen Zeiten gegeben hat, selbst wenn die höhere Sterblichkeit von Frauen durch die Risiken des Gebärens vor der modernen Medizin herausgerechnet wird.4 Zum anderen deuten alltagshistorische Untersuchungen darauf hin, dass es sich mit dem geschlechterspezifischen Ungleichgewicht bezüglich der Häufigkeit der Ausübung von gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen wie der Gesundheitsvorsorge nicht anders verhält.5 Es gibt also bei der geschlechtsspezifischen Ungleichheit bezüglich Lebenserwartung 1 2 3 4 5
Möller-Leimkühler (2003). Möller-Leimkühler (2013), S. 68. Dinges (2007); Hoffmann (2010); Schweig (2009); Unterkircher (2014); Dinges/Weigl (2011). Luy (2002). Hoffmann (2010); Schweig (2009).
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und Gesundheitsverhalten erhebliche Schwankungen, die zu unterschiedlichen Zeiten verschieden deutlich zutage getreten sind. Ein häufiger Erklärungsversuch der Vertreter der individuellen Verhaltensprävention für die (heute) zu beobachtende schlechtere Gesundheitsvorsorge von Männern in vielen Bereichen nimmt Bezug auf Geschlechterrollen. Im Falle von Erkrankungen oder Todesfällen mit überwiegend körperlichen Ursachen – Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Prostatakrebs oder Unfälle – wird suggeriert, dass es lediglich mangelnde Vernunft, fehlgeleiteter Stolz oder Sturheit waren, die die betroffenen Männer daran gehindert hätten, die jeweiligen Vorsorgemaßnahmen – wie etwa gesunde Ernährung, Früherkennungsscreenings, Befolgen von Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz – in Anspruch zu nehmen.6 Auch im Falle von psychischen Störungen wird ähnlich argumentiert: Suizide von Männern beispielsweise werden als Resultat gekränkter Ehre etwa über beruflichen Misserfolg interpretiert.7 Störungen wie Alkoholismus oder „Burnout“ werden mit der Überarbeitung im Beruf erklärt, die aufgrund von überbordendem Ehrgeiz in der totalen Erschöpfung geendet habe.8 Diesem Bild wird dann kontrastiv gegenübergestellt, dass Frauen ein besseres Gesundheitsverhalten aufweisen, was entsprechend mit komplementären Weiblichkeitsstereotypen (Anpassungsbereitschaft, Kooperativität, geringere Konkurrenzorientierung) erklärt wird. Diese Kontrastierung führt dann zu der Schlussfolgerung, dass es für Männer eine weitgehende Wahlfreiheit für besseres oder schlechteres Gesundheitsverhalten gäbe. Ein ungünstiges Gesundheitsverhalten fiele dieser Interpretation nach zusammen mit der unnötigen Orientierung an einer „typisch männlichen“ Geschlechtsidentität. Ein Kausalzusammenhang solcher Geschlechtsnormen mit einer gelungenen bzw. gescheiterten Prävention ist schwer zu erbringen. Vielmehr ist es angebracht, die konkrete Lebenssituation von Männern, etwa die soziale Herkunft, die berufliche und familiäre Situation oder die verschiedenen Anforderungen des Lebensalters, zu betrachten. Dabei zeigt sich schnell, so die These dieses Aufsatzes, dass in dem gewählten Untersuchungsbereich Männlichkeitsleitbilder zwar für die Deutung von psychischen Störungen (und damit ihre Prävention) bei allen Beteiligten häufig eine Rolle spielten, jedoch eine Vielfalt von lebensweltlichen Bedingungen Einfluss darauf hatte, ob und wie für die seelische Gesundheit des Betroffenen Vorsorge getroffen wurde. Zumindest für die Patienten der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg der 1950er und frühen 1960er Jahre lässt sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die Annahme, es handele sich um männliche „Gesundheitsidioten“9, nicht halten. Ein Charakteristikum psychischer Gesundheit von Männern ist es, dass psychisch auffälliges Verhalten länger als bei Frauen nicht als Symptom einer psychischen Störung diagnostiziert wird, solange die sogenannte soziale Funk6 7 8 9
Für einen Überblick über den Diskurs zur Verantwortung für das Gesundheitsverhalten von Männern siehe Dinges (2009), S. 19 f. Lindner (2007). Bründel/Hurrelmann (1999). Dinges (2009).
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tionsfähigkeit, also in erster Linie die Fähigkeit zur Erwerbsarbeit, ansonsten nicht eingeschränkt ist.10 Mehr Männer als Frauen sind also als Gefährdete unsichtbar, eine angemessene Gesundheitsvorsorge wird alleine deshalb schon erschwert. Erst bei massiven Symptomen treten Männer aus dieser Unsichtbarkeit heraus, was sich häufig spektakulär mit der Einweisung in eine psychiatrische Klinik vollzieht. Hier erst wird von ihnen verlangt, sich mit der Vorbeugung eines drohenden Rückfalles auseinanderzusetzen und darüber zu reflektieren, welche Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge sie in der Vergangenheit anzuwenden versäumt haben. Im Folgenden soll anhand eines Bestandes an Patientenakten der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg aus den Jahren zwischen 1953 und 1963 der Frage nachgegangen werden, ob und, wenn ja, wie Patienten, ihre Angehörigen sowie ihre behandelnden Ärzte Prävention psychischer Störungen betrieben, also welche Möglichkeiten sie besaßen, für den Erhalt der psychischen Gesundheit vorzusorgen und ob sie durch die jeweiligen Begleitumstände hierin bestärkt bzw. behindert wurden. Dazu soll in einem ersten Schritt geklärt werden, inwiefern man bei diesem Beispiel – eine Akutklinik – überhaupt von Prävention sprechen kann. Dann geht es zweitens darum, inwiefern Mannsein bzw. Männlichkeit überhaupt für das Ausüben solcher Praktiken der Prävention relevant war oder, andersherum formuliert, zu prüfen, ob Männlichkeitsleitbilder eine angemessene Gesundheitsvorsorge behinderten. Anhand von vier repräsentativen Fallbeispielen von Patienten sollen die Ergebnisse dieser Analyse veranschaulicht werden. Die verschiedenen Akteure und ihr Spielraum bei der Vorbeugung psychischer Störungen Der Präventionsbegriff, der diesem Aufsatz zugrunde liegt, orientiert sich an Arbeiten der patientenorientierten Gesundheitsgeschichte über intersubjektiv vermittelte Krankheitsvorstellungen bzw. die individuelle Wahrnehmung von Krankheit. Präventives Handeln setzt Gesundheitswissen voraus. Dieses ist zum einen „das bei gebildeten Laien und akademischen Ärzten anzutreffende ‚wissenschaftliche Wissen‘“, aber zum anderen eben auch „das lebensweltliche Wissen breiter Schichten“.11 Auch die individuelle Wahrnehmung von Krankheit, die individuellen Motive des Kranken, sein subjektives Leidensbewusstsein, […] also die Art und Weise, wie der Kranke sein Leiden empfindet, […] zu welchem Arzt oder Heiler er geht und […] seine Einstellung zur professionellen Medizin, deren Vertretern und therapeutischen Mitteln12
sind wesentliche Bestandteile eines patientenorientierten Verständnisses von Gesundheitsvorsorge. Es schließt die Gesundheitsvorstellungen aller beteilig10 11 12
Stelzig (2004); Teuber (2011), S. 81–101; Möller-Leimkühler/Kasper (2010), S. 136. Eckart/Jütte (2007), S. 185. Eckart/Jütte (2007), S. 186.
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ten Akteure und ihre eigenständigen Bestrebungen, diese zu verwirklichen, mit ein. Dieser erweiterte Präventionsbegriff umfasst alle Handlungen, von denen ein Akteur glaubte, dass sie in Zukunft seiner Gesundheit bzw. der Person, auf die die Handlung abzielte, zugutekommen würde. Hierbei ist nicht von Belang, ob der so angestrebte Zustand tatsächlich der zeitgenössischen (oder gar der heutigen) medizinischen Konzeption von Gesundheit entsprach. Menschen, die in ein Akutkrankenhaus wie die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg kamen, waren spätestens zum Zeitpunkt der Einweisung schon krank. Die Akten geben daher strenggenommen in erster Linie über die akute Behandlung innerhalb des Krankenhauses Aufschluss. Für Primär- oder Sekundärprävention war es schon zu spät. Prävention bedeutete hier allenfalls, das Fortschreiten der Störung bzw. eine Rückkehr der Erkrankung zu verhindern. Somit war Prävention hier in erster Linie Tertiärprävention. Warum ist es dennoch lohnend, den Klinikaufenthalt unter dem Aspekt der Gesundheitsvorsorge zu betrachten? In der Tat lassen sich Bezüge zu allgemeinen Formen der Gesundheitsvorsorge herstellen, und zwar nicht über den Zeitpunkt der angewandten Maßnahmen, sondern über ihren Wirkungsbereich. Die meisten psychischen Störungen wurden anhand der Wechselwirkungen zwischen anlagebedingter Verletzlichkeit und umweltbedingten Stressoren erklärt. Das bedeutet: Alltägliche Belastungen in der Lebenswelt zu erkennen und zu neutralisieren, war eine der wesentlichen Maßnahmen zur Vorbeugung weiterer Krisen. Psychische Störungen wurden natürlich somatisch behandelt durch direkte Einflussnahme auf den Körper, etwa durch die Medikation mit Psychopharmaka oder durch Elektroschocks. Andererseits setzte die Behandlung hier eher als bei anderen medizinischen Disziplinen bei der Beeinflussung des Alltags eines Patienten an: bei seinem Verhalten, Denken und Fühlen, bei der Situation in der Familie, bei den Arbeitsbedingungen, der Wohnsituation etc. In dieser Hinsicht ähnelt sie der allgemeinen Gesundheitsprävention, die ebenfalls versucht, durch Änderungen am Bewusstsein, dem Verhalten und der Umwelt der Menschen deren Gesundheit für die Zukunft zu erhalten. In noch stärkerem Maße gelten diese Ähnlichkeiten für die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg zwischen ca. 1955 und 1975. Zu dieser Zeit besaß diese nämlich eine dezidiert sozialpsychiatrische Ausrichtung.13 Es ist also durchaus und gerade für Heidelberg sinnvoll, die Dokumentation des Klinikaufenthaltes unter dem Aspekt der Gesundheitsvorsorge zu analysieren, da sich in der Klinik Behandlung und Prävention in großen Teilen überschnitten. Die verschiedenen Praktiken der Vorsorge, die aus den Krankenakten erkennbar werden, lassen sich in zwei Bereiche einteilen: erstens anhand der Akteursgruppen, die die Praktiken ausführten (Patienten, Ärzte oder Angehörige), zweitens anhand von Compliance und Non-Compliance, also Fügung in und Widerstand gegen ärztlich verordnete Vorsorgemaßnahmen.
13
Häfner/Martini (2011), S. 29–42; Rotzoll/Hohendorf (2007).
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Ärztlicherseits wurden zur Rückfallprophylaxe Medikationen verordnet.14 Ebenfalls eine Vorsorgemaßnahme zur Rückfallprophylaxe war die Überweisung von Patienten, häufig an die eigene Klinikambulanz oder eben an niedergelassene „Nervenärzte“. Niedergelassene Psychotherapeuten gab es vor Zulassung der Psychotherapie als Kassenleistung im Jahr 1967 jedoch nur wenige. Neben diesen im eigentlichen Sinne medizinischen Vorsorgemaßnahmen versuchten die Ärzte, besonders die sozialpsychiatrisch ausgerichteten, noch auf andere Art günstige Bedingungen für die gesundheitliche Zukunft der Patienten zu schaffen. Sie waren darum bemüht, beispielsweise durch Zureden, Informieren und Ratschläge Einfluss auf das Verhalten der Patienten nach der Entlassung zu nehmen. Auch das soziale Umfeld versuchten die Behandelnden durch Zureden und Informieren zu beeinflussen. Hierunter fielen vor allem Gespräche mit den Angehörigen, aber manchmal auch mit Arbeitgebern oder mit Schulen, die die Patienten besuchten. Sogar sozialarbeiterische Tätigkeiten wie die Vermittlung von Arbeitsstellen oder Wohnungen leisteten die Ärzte bisweilen. Für die Patienten und Angehörigen unterschieden sich die Möglichkeiten, selbst präventiv zu handeln, alleine schon deshalb, weil sich ihr Gesundheitswissen beträchtlich von dem der Ärzte unterscheiden konnte. Von Bedeutung war dabei die Haltung zu den Behandlungsvorschlägen der Ärzte. Sie konnten deren Verordnungen befolgen, sich etwa in die Anschlussbehandlungen begeben oder der Aufforderung nachkommen, an der Änderung ihrer Lebensumstände zu arbeiten. Sie konnten sich aber auch den Plänen des behandelnden Personals verweigern, weil sie sich mit den ärztlichen Gesundheitszielen nicht identifizierten oder weil sie andere Maßnahmen für sinnvoller hielten. Häufig suchten sie ergänzend zu der ärztlichen Behandlung Hilfe bei anderen Gesundheitsanbietern. Manche hatten im Vorfeld des Aufenthaltes oder haben im Anschluss daran alternative bzw. komplementärmedizinische Behandlungsmethoden in Anspruch genommen oder sich in Ratgebern Gesundheitswissen angelesen. Solche Praktiken sind gemeint, wenn es im Folgenden zu klären gilt, unter welchen Umständen Männer in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg um 1960 Prävention betrieben. Theorien der Männlichkeit Ein Scheitern der Gesundheitsvorsorge wird dem individualistischen Erklärungsansatz nach auf eine Fixierung der betroffenen Männer auf Männlichkeitsleitbilder zurückgeführt. Hierbei stellt sich die Frage, wie Gesundheitsvorsorge (bzw. deren Vernachlässigung) überhaupt als Bestandteil einer Geschlechtsidentität bzw. als Praktik von deren Erzeugung fassbar ist. Die makro14
In den Beginn des Untersuchungszeitraums fallen die ersten Versuche mit dem Neuroleptikum Chlorpromazin in Heidelberg. Die Verschreibung von Chlorpromazin und anderer moderner Psychopharmaka nahm in diesem Zeitraum stetig zu. Siehe Balz: Wirkung (2010) und Balz: Nervöse (2010).
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historische Bezugnahme auf Männlichkeitsleitbilder, die zur Beantwortung dieser Frage notwendig ist, erfolgte in der englischsprachigen Männergesundheitsforschung anhand des kulturwissenschaftlichen Konzeptes der hegemonialen Männlichkeit von Raewyn Connell.15 In dem alltagsgeschichtlichen Untersuchungsraum der Klinik lässt sich die Präsenz von allgemeingesellschaftlich gültigen Leitmännlichkeiten, wie sie das Konzept der hegemonialen Männlichkeit postuliert, jedoch nicht ohne Weiteres nachweisen. Stattdessen konstruiert sich Männlichkeit je nach soziokulturellem Kontext des beobachtenden Akteurs, wobei unter anderem Alter, Geschlecht, soziale und ethnische Herkunft jeweils eigene Kriterien für die jeweilige Leitmännlichkeit voraussetzen. Zudem verkörpern die Patienten durch Verwerfungen und Überlappungen dieser Zugehörigkeiten zum Teil ausgesprochen hybride Geschlechtsidentitäten. Dieser komplizierten Sachlage wird Pierre Bourdieus Theorie des männlichen Habitus eher gerecht als Connells Modell, da sie von vornherein solche strukturellen und lebensweltlichen Faktoren für eine hinreichende Erklärung der Entstehung jeweils spezifischer männlicher Geschlechtsidentitäten voraussetzt.16 Damit ermöglicht sie eine Historisierung der Entstehung von Männlichkeit aus Praktiken der Gesundheitsvorsorge auch für eine alltagsgeschichtliche Untersuchung wie die vorliegende, ohne den schwierigen Nachweis der Relevanz einer einzigen, zuvor makrohistorisch konstruierten, hegemonialen Männlichkeit für ein sehr situationsgebundenes Untersuchungssetting leisten zu müssen. Das Konzept des männlichen Habitus wurde in der deutschsprachigen Männlichkeitenforschung von Michael Meuser weiterentwickelt.17 Bourdieu konzipierte das Habitusmodell, um eine theoretische Verknüpfung von objektiv beobachtbaren sozialen Strukturen und subjektiven Wahrnehmungen zu schaffen. Der Habitus ist bei Bourdieu Vermittlungsinstanz zwischen diesen beiden Ebenen. Menschen verkörpern durch ihren Habitus ihre jeweilige Position in der Gesellschaft; der Habitus ist der Teil des Körpers, der, obwohl er zu einer individuellen Person gehört, einen kollektiv erfahrbaren Sinn ausdrückt. Ursprünglich beschrieb Bourdieu damit vor allem die Verkörperung der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse. Menschen kommunizieren demnach ihre soziale Zugehörigkeit durch Körperhaltung (z. B. bürgerliche Tischsitten), Gesten oder auch durch die Kleidung (z. B. Arbeiterkleidung). Diese Kommunikation geschieht dabei weitestgehend unbewusst. Auch das Geschlecht eines Menschen wird durch den Habitus verkörpert. Ausgehend von der Beobachtung, dass nicht bloß in Europa Männlichkeit und Herrschaft in einem engen Zusammenhang stehen, versuchte Bourdieu zu zeigen, dass diese Herrschaft durch einen kontextspezifischen männlichen Geschlechtshabitus ermöglicht wird. Auf der Ebene des sozialen Handelns entsteht der männliche Habitus aus Praktiken der Ausübung spezifischer Formen von Macht. Auf der heterosozialen Ebene, also bezüglich der Verhält15 16 17
Siehe beispielsweise Emslie u. a. (2006); Courtenay (2000). Bourdieu (2005); Meuser (2010), S. 109–134. Meuser (2010), S. 109–134; siehe auch Brandes (2002), S. 47–88.
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nisse zwischen Männern und Frauen, zielen diese Praktiken zum einen auf die Herstellung und Aufrechterhaltung einer grundsätzlichen Geschlechterdifferenz. Durch eben diese Differenz wird jedoch gleichzeitig die Macht von Männern über Frauen erzeugt: Eine Konzeption des männlichen Geschlechtshabitus muss mithin sowohl berücksichtigen, wie Mannsein in Abgrenzung von Frausein sich konstituiert (Dimension der Differenz), als auch, wie in der Herstellung der Differenz männliche Dominanz entsteht (Dimension der Ungleichheit).18
Beide Dimensionen – Differenz und Ungleichheit – sind kaum zu trennen, Differenz wird über Dominanz hergestellt und umgekehrt. Hierbei tritt ein weiteres Strukturelement auf: Denn um als männlicher Habitus wirksam zu sein, muss die Tatsache verborgen werden, dass die Ausübung der Macht erst durch die Herstellung der Geschlechterdifferenz möglich wurde. Es bleibt festzuhalten, „daß die Invisibilisierung des Geschlechtlichen im Handeln von Männern ein entscheidendes Merkmal und mithin Bestimmungselement des männlichen Habitus ist“.19 Auf der homosozialen Ebene zielen die Praktiken auf die Herstellung von Machtverhältnissen unter Männern ab. Die stetige Reproduktion der Differenz und Ungleichheit zu den Frauen führt auch zur Ausbildung von Hierarchien innerhalb der Gruppe der Männer. Sie resultiert in einer Binnendifferenzierung von Männlichkeiten, bei denen die heterosoziale Differenz jedoch intakt bleibt. Männer, die die jeweils akzeptierten männlichen Praktiken am konsequentesten leben, verkörpern dadurch dominante Männlichkeiten, Männer, die keine dieser Praktiken ausüben können, eher untergeordnete, „unmännliche“ Männlichkeiten, ohne jedoch die Differenz zu den Frauen aufzugeben. Dazwischen gibt es selbstverständlich alle Zwischenstufen. Einige grundlegende Praktiken, die den männlichen Habitus bilden – Herstellung von Geschlechterdifferenz, hetero- und homosozialen Hierarchien –, können beispielsweise sein: • • • •
Aktive Disidentifikation mit Frauen Identifikation mit dominanten Männlichkeiten und homosozialer Konkurrenzkampf um die Ressourcen zur Erlangung derselben Emotionale Distanz zu Männern und daraus resultierende Abhängigkeit von emotionaler Zuwendung von Frauen Externalisierung und Instrumentalisierung des eigenen Körpers
Solche grundlegenden Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen äußern sich konkret in habituellen Praktiken, die in Individuen je nach Kontext als „spezifisch männliche“ Eigenschaften (oder als deren Abwesenheit) gelesen werden können, so etwa Konkurrenzorientierung, Technikbegeisterung, körperliche Kraft oder Dominanz.
18 19
Meuser (2010), S. 121 f. Meuser (2010), S. 122.
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Auch Gesundheitsverhalten (und damit Gesundheitsvorsorge) kann Bestandteil eines männlichen Habitus sein, also als Praktik der Erzeugung von Männlichkeit aufgefasst werden. Insbesondere Beispiele für die Vernachlässigung der eigenen Gesundheit wurden bislang als Praktik des „doing masculinity“ interpretiert.20 Die Männlichkeitsleitbilder, die nun durch ein solches, zumindest scheinbar gesundheitsschädliches Verhalten verkörpert werden, entsprechen dabei den Eigenschaften, die von Vertretern einer individuellen Verhaltensprävention als Ursache für ein schlechteres Gesundheitsverhalten von Männern ausgemacht werden. Männlichkeitsleitbilder in der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit Lässt sich anhand der Heidelberger Patientenakten ein solcher Zusammenhang nachweisen? Zu diesem Zweck muss zumindest kurz der makrohistorische Forschungsstand überindividueller Männlichkeitsleitbilder in der deutschen Nachkriegsgesellschaft in Erinnerung gerufen werden. Historische Leitmännlichkeiten in ihrer Relevanz für die Gesundheit von Männern hat Martin Dinges zusammengefasst.21 Präsent war im Untersuchungszeitraum immer noch das Erbe des Militarismus und des Zweiten Weltkrieges, der Härteimperativ der soldatischen Männlichkeit: Leistung, angeblich für die Volksgemeinschaft, war völlig unabhängig von eigener Befindlichkeit gefordert, für die zuerst Geborenen dieser Generation gar noch als Flakhelfer. Der Körper hatte zu funktionieren. Im offiziellen Frauenbild überwog fast ausschließlich die Orientierung auf Gebärfähigkeit und Mutterschaft.22
Demgegenüber war die Aufgabe des Mannes auf die Fähigkeit zur Verteidigung und Versorgung der Familie als Teil des Volkskörpers festgelegt. Im Laufe der Nachkriegsjahre wurde das soldatische Ideal zwar entmilitarisiert, aber dessen Forderung nach Leistung auf das Zivilleben übertragen: Die leistungsorientierten Imperative waren ihrer militärischen Zielsetzung entkleidet, konnten ansonsten aber ziemlich bruchlos in der Aufbauzeit übernommen werden und wurden von den Eltern vorgelebt, ggf. auch noch durch Prügel als akzeptierte Erziehungsmethode vermittelt. […] Das politisch erwünschte Geschlechterarrangement sollte […] eine traditionelle Aufgabenteilung begünstigen, die nicht nur die Mütter, sondern auch die Ehefrauen in den Haushalt zu drängen versuchte, so dass der Mann als Alleinverdiener agieren konnte.23
Zumindest im Umfeld der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg deuteten sich jedoch schon Anfang der 1960er Jahre neue Möglichkeiten für an-
20 Neuere Untersuchungen interessieren sich jedoch auch für die Sorge um die eigene Gesundheit als Ausdruck von Männlichkeit. Siehe Emslie u. a. (2006); Gredig u. a. (2001). 21 Dinges (2013). 22 Dinges (2013), S. 36. 23 Dinges (2013), S. 37.
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dere Männlichkeitsideale an, die gesamtgesellschaftlich erst seit den 1970er Jahren breitere Akzeptanz fanden. Die partielle Integration von als „weiblich“ konnotierten und eingeforderten Verhaltensmustern in das Selbstbild: eine positivere Wertung von Emotionalität und eine gewisse Selbstreflexivität bei gleichzeitiger Distanzierung von aggressiven Aspekten von Virilität […].24
Das Körperverhältnis konnte hier weniger einseitig leistungsorientiert wahrgenommen werden, und eine Enttabuisierung der Sexualität ermöglichte auch ein größeres Spektrum an möglichen Geschlechtsidentitäten für Männer als lediglich diejenige des heterosexuellen Familienernährers. Zwar war die Intention einer solchen Liberalisierung sicher nicht die Schaffung eines „neuen Mannes“, auf den sich das vorangegangene Zitat eigentlich bezieht. Aber es bot den Akteuren – in der reformfreudigen Heidelberger Universitätspsychiatrie der 1960er Jahre – zumindest partiell Alternativen zu den traditionellen Leitmännlichkeiten.25 Männlichkeit und Gesundheitsvorsorge in Patientenakten der Psychiatrischen und Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg Diese makrohistorisch gefassten Geschlechterideale finden sich durchaus in der konkreten historischen Situation der Universitätsklinik wieder, wie die unten vorgestellten Fallbeispiele zeigen. Allerdings muss hier auf die Beschaffenheit der Quellen eingegangen werden, da die medizinische Dokumentation die Subjektivität der zuständigen Ärzte widerspiegelt, die den Behandlungsverlauf aus ihrer Perspektive in der Akte dokumentierten. Sowohl Praktiken der Gesundheitsvorsorge als auch solche der Männlichkeit wurden registriert und verschriftlicht, weil sie für die ärztlichen Belange von Bedeutung waren.26 Weniger häufig, aber durchaus vorhanden sind Äußerungen von Patienten und Angehörigen in Selbstzeugnissen, wie beispielsweise in Briefen oder Notizen. Im Wesentlichen muss man jedoch beim Versuch des Nachweises eines Zusammenhangs zwischen Männlichkeitsleitbildern und Gesundheitsverhalten von der Filterung durch ärztliche Wahrnehmung und Interessen ausgehen. Mit dem Bewusstsein, dass Männlichkeiten in den Quellen für die spezifischen Bedürfnisse der medizinischen Dokumentation aufbereitet und repräsentiert wurden, lässt sich dennoch zu diesem Problem Stellung beziehen. In der Mehrzahl der Fälle, in rund zwei Dritteln (124 von 173 Krankenakten), tauchen Männlichkei24 Dinges (2013), S. 40. 25 Siehe Rotzoll/Hohendorf (2007). Dieser Wertewandel in Teilen der Ärzteschaft fand auf der anderen Seite zeitgleich mit einer mindestens ebenso starken Präsenz konservativer Werte statt, die durch die Weiterbeschäftigung der durch den Nationalsozialismus kompromittierten Ärzte möglicherweise noch gestützt wurde. Die Präsenz dieser unterschiedlichen Männlichkeitsideale spiegelt sich auch in den Patientenakten wider, siehe hierzu die Fallbeispiele in diesem Aufsatz. 26 Zur Struktur und Funktion von Krankenakten: Hoffmann-Richter/Finzen (1998).
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ten überhaupt nicht explizit auf. Das heißt, die Geschlechtsidentität spielte entweder für diese Patienten bei der Gestaltung der seelischen Gesundheit überhaupt keine Rolle oder aber sie wurde selbstverständlich vorausgesetzt.27 Eine Thematisierung von Männlichkeit erfolgte bei immerhin etwa einem Drittel der Fälle (49 von 173). Eine solche Thematisierung diente den Ärzten zur Einordnung der Fälle in psychopathologische Modelle (zum Beispiel bei der Diagnosestellung) oder sie sollte Erfolge und Misserfolge im Behandlungsverlauf erklären. Dieses Drittel der Akten dokumentierte also in der einen oder anderen Weise die Zusammenhänge zwischen Männlichkeiten und Gesundheitsvorsorge. Sie sollen nun im Folgenden darauf untersucht werden, ob tatsächlich durch die Orientierung der Patienten an Leitmännlichkeiten hinreichend erklärt wird, warum Gesundheitsvorsorge nicht stattfinden konnte bzw. warum sie gelang. So unterschiedlich die Fälle im Einzelnen auch sind, in einer Hinsicht ähneln sie sich alle: Fand Gesundheitsvorsorge im Spannungsfeld von Männlichkeiten statt, so beeinflussten alle Akteursgruppen – Patienten, Ärzte, bisweilen auch Angehörige – die Ausführung der Vorsorge und nicht lediglich die betroffenen Patienten selbst, wie die folgenden Beispiele demonstrieren sollen. Selbst wenn also Leitmännlichkeiten für ein Drittel der Patienten die Praktizierung von Gesundheitsvorsorge in das Assoziationsfeld von Geschlechtsidentität rückten, so kann von einem Scheitern (oder Gelingen) von Gesundheitsvorsorge lediglich aufgrund der Orientierung individueller Patienten an Leitmännlichkeiten (bzw. deren Ablehnung) nicht die Rede sein, allein schon deshalb, weil sich die anderen Akteursgruppen – Ärzte und Angehörige – mindestens in gleichem Maße wie die Patienten nach diesen Idealen richteten. Diese Tatsache soll im Folgenden anhand von vier Fallbeispielen am Quellenmaterial belegt werden. Im ersten Fallbeispiel, dem des kriegsversehrten Sparkassenangestellten Karl B., waren es die Ärzte, die durch Ratschläge, die deutlich von zeitgenössischen Männlichkeitsleitbildern geprägt waren, die gesundheitliche Zukunft ihres Patienten gestalten wollten.28 Der 42-jährige Karl B. kam im Frühjahr 1953 mit der Diagnose Medikamentenabusus in die Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg. Wie viele andere ehemalige Wehrmachtssoldaten hatte er während des Krieges das Psychostimulans Pervitin erhalten29, das er auch nach dem Krieg – vom Hausarzt verschrieben – zu konsumieren fortfuhr. Zudem hatte er im Krieg ein Bein verloren und war durch die Schmerztherapie abhängig von Opiaten geworden, was ihn in eine Art Sinnkrise gestürzt hatte. 27
Ersteres ist eher unwahrscheinlich, da die Invisibilisierung des Geschlechtlichen gerade einer der Mechanismen der Konstruktion von Männlichkeit ist. Die impliziten Anforderungen und unausgesprochenen Regeln der Geschlechterverhältnisse äußerten sich indirekt und müssten anhand der jeweiligen spezifischen Umstände aus den Akten erschlossen werden. Im vorliegenden Aufsatz werden jedoch nur Fälle behandelt, in denen Leitmännlichkeiten explizit thematisiert wurden und wo daher deren Wirksamkeit auf der Hand liegt. Dies bedeutet für die restlichen Fälle keineswegs, dass hier der Zwang von Leitmännlichkeiten keine Rolle gespielt hätte. 28 Psychiatrische und Neurologische Universitätsklinik Heidelberg, Patientenakte 53/66. 29 Schmid (2003), S. 70.
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Der behandelnde Arzt, Gerd Huber, zitierte ihn in der psychiatrischen Akte, wie dort üblich, aus der Distanz der indirekten Rede heraus: Mit der Arbeit kam er nicht mehr zurecht, dem Einzelnen würde mehr […] Arbeit zugemutet als früher. […] Sein Beruf mit der sturen bürokratischen Tätigkeit sei ihm verhasst, er habe einen Ekel vor der Arbeit, nichts sei ihm mehr möglich, er sei ganz apathisch und niedergeschlagen.
Offenbar hielt er trotz dieser Krise mit allen verfügbaren Mitteln seine Arbeitsfähigkeit aufrecht. Da er auch Nachtschichten an seiner Arbeitsstelle zu leisten hatte, begann er damit, vermehrt Pervitintabletten einzunehmen, auch diese vom Hausarzt verschrieben, um die Anforderungen bewältigen und erwerbsfähig bleiben zu können. Seine Angehörigen übten im Vorfeld der Behandlung Druck auf ihn aus: Bei der Einlieferung gab die ihn begleitende Tante an, „manchmal habe sie den Eindruck, es fehle ihm etwas an Willen“. In eine ähnliche Richtung wie dieser Eindruck der Tante ging die Interpretation seines Arztes über die Ursachen der Niedergeschlagenheit seines Patienten. Die Krankenakte gibt ausführlich Aufschluss über die Beschäftigung Hubers mit dem Liebesleben B.s, problematisiert jedoch mit keinem Wort die berufliche Situation seines „bereits in seinem physischen Habitus dem femininen Typus nahestehenden“ Patienten. Auch Lösungsvorschläge für das Drogenproblem B.s sind in den Akten nicht dokumentiert. Bei der Entlassung legte Huber ihm lediglich nahe, „sich doch darauf einzustellen, eine Frau zu suchen“. Es war also in diesem Falle die Angebotsseite, die Klinik, nicht etwa der Patient selbst, deren Pläne zur Vorbeugung einer weiteren Eskalation der Krise an Leitmännlichkeiten orientiert waren. Einige Monate nach seiner Entlassung nahm Karl B. sich das Leben. In anderen Fällen war es tatsächlich der Patient, der seine Gesundheitsvorsorge an Männlichkeitsleitbildern ausrichtete. In dem folgenden Beispiel identifizierte sich ein junger Mann mit diesen Idealen und fragte aktiv Maßnahmen zum Erhalt seiner Männlichkeit nach, die er aufgrund seiner sexuellen Orientierung gefährdet sah.30 Im Sommer des Jahres 1963 kam der 20-jährige Hans A. in Begleitung seiner Mutter in die Klinik. Er hatte sich in suizidaler Absicht die Pulsadern aufgeschnitten. Die Akte gibt Aufschluss über die Bemühungen seiner Ärzte, sein Umfeld, seine Gedanken und Gefühle zu ordnen, um einen erneuten Suizidversuch zu vermeiden. Hans berichtete von Problemen in der Schule und hatte Bedenken, ob er das in Kürze anstehende Abitur schaffen könne – ein akutes Problem, auf dem der Fokus der Behandlung lag. Hans A. hingegen äußerte fast ausschließlich Sorgen, die um seine sexuelle Orientierung kreisten. Der behandelnde Arzt, Dr. Pfenninger, paraphrasierte diese Klagen in der Krankengeschichte folgendermaßen: Schon seit jeher […] sei er abseits gewesen, habe ungern Sport getrieben, nicht gerne gespielt. Habe wohl ein bis zwei Freunde gehabt, sei aber nie so ein richtiger Junge gewesen, der in den Bäumen rumklettert. […] Dann sei da auch noch das Sexuelle. Ja, er meine die Homosexualität.
30 Psychiatrische und Neurologische Universitätsklinik Heidelberg, Patientenakte 63/463.
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Immer wieder kam Hans A. auf diese Thematik zu sprechen: „Ihn drücke sein unmännliches, mädchenhaftes Wesen, er halte sich für einen Menschen, der auf einer Zwischenstufe zwischen Mann und Frau stehe.“ Hans A. hatte sich schon vor der Behandlung umfassend bei Ärzten und in Gesundheitslexika über Homosexualität informiert und übernahm aus diesen Publikationen – dem damaligen Stand der psychiatrischen Forschung gemäß – die Überzeugung, dass seine sexuelle Orientierung eine Erkrankung sei. Diese an Leitmännlichkeiten orientierte Sexualpathologie war für ihn die Vorlage für die eigenen Gesundheitsideale, und deren Realisierung forderte er auch von den Ärzten ein. So steht in seiner Akte, er habe wiederholt geäußert, „er hoffe immer auf eine Spritze, um ein richtiger Mann zu werden, um wieder normal zu werden. […] ob es denn stimme, dass man bei Homosexuellen mit Hormonspritzen gute Besserungen erreichen könne?“ Hans A. hatte mit dieser Art der Behandlung schon Erfahrungen gemacht. „Er habe [seinen Hausarzt – C. S.] schon um so eine Spritze gebeten, der habe ihm auch eine gegeben, er habe aber keinerlei Wirkung verspürt.“ Für Pfenninger stellte diese Art der Eigeninitiative bei der Behandlung ein Problem dar. Denn für die zukünftige Stabilität des Patienten ausschlaggebend sah er den schulischen Abschluss, den Beginn einer Berufsausbildung und vor allen Dingen die damit verbundene Loslösung von der als „neurotisch“ und „wenig empathisch“ geschilderten Mutter an, die sich „in einem theatralisch anmutenden Aufschrei und Stampfen mit den Beinen“ gegen die stationäre Aufnahme des jungen Mannes gewehrt hatte. Die sexuelle Orientierung, um die die Gedanken Hans A.s so hartnäckig kreisten, vermerkte er hingegen kein einziges Mal als gesundheitliches Problem. Die Ausrichtung des Patienten am psychiatrischen Mainstream der Zeit sah er in dieser Hinsicht geradezu als Hindernis für eine sinnvolle Suizidprophylaxe. Pfenninger war, anders als die zeitgenössischen psychiatrischen Lehrbücher, nicht davon überzeugt, dass sexuelle Verhältnisse zwischen Männern eine Erkrankung oder auch nur eine Perversion seien. Diese Ansicht versuchte er auch dem derart verunsicherten Hans A. zu vermitteln. „Es wird ihm deutlich gemacht, daß Homosexualität keine Krankheit, sondern nur ein Anderssein ist.“ Diese Überzeugungsversuche waren auch als Teil der Suizidprävention gedacht: Auf seine späteren Berufsziele angesprochen, wird der Patient darauf hingewiesen, dass es eventuell gerade wegen seiner homosexuellen Neigungen günstig sei, einen solchen Beruf zu ergreifen, in dem er auch im Ausland, das ganz richtig das Problem der Homosexualität sehe, indem es diese nicht als Krankheit auffasse, tätig zu werden [sic!].
Offenbar sah der Arzt in der Fixierung Hans A.s an Männlichkeitsleitbildern eine Gefährdung für die Zeit nach seiner Entlassung. Um dem vorzubeugen, empfahl er ihm eine Zukunft im europäischen Ausland, das er offenbar für toleranter gegenüber mann-männlichen Intimbeziehungen hielt als die Bundesrepublik Deutschland. Eine solche Lösung würde ihn vor allem zumindest eine gewisse räumliche Distanz zu der Familie verschaffen und ihn bei der „Ablösung vom Gängelband der Mutter“ unterstützen.31 31
In diesem Kontext ist jedoch darauf hinzuweisen, dass in der Praxis bei der Bewertung der verschiedenen Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen durch die ver-
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Auf den ersten Blick scheint der Fall Hans A. ein Beispiel zu sein, das die These von der gescheiterten Prävention aufgrund der Fixierung an Männlichkeitsleitbildern bestätigt: Es gibt Angebote zur Gesundheitsvorsorge, diese werden jedoch trotz erheblichen Leidensdrucks vom Patienten abgelehnt, weil sie seinen Männlichkeitsidealen widersprechen. Es handelt sich hier jedoch freilich um einen Sonderfall, da das Präventionsangebot Dr. Pfenningers selbst im Widerspruch zu zeitgenössischen Gesundheitsidealen stand. Während Hans A. es für nötig befand, seine Gesundheitsideale mit Männlichkeitsleitbildern abzugleichen, hatte der 49-jährige Bundesbahnangestellte Wilhelm A. keinen diesbezüglichen Orientierungsbedarf.32 In den Wochen vor seiner Aufnahme im Mai 1953 hatte dieser mehrere belastende Ereignisse erlebt. Zuerst hatte er eine körperliche Auseinandersetzung mit einem Arbeitskollegen, die in der Folge das Betriebsklima an seiner Arbeitsstelle stark verschlechterte. Einige Tage nach diesem Ereignis starb sein neugeborener Sohn im Kindbett, und auch sein Vater lag zu diesem Zeitpunkt im Sterben. Den auf diese Geschehnisse folgenden seelischen Zusammenbruch behandelte Wilhelm A. zunächst mit „Cognac und Ei“ und fuhr daraufhin vier Wochen nach Garmisch in Kur, wobei er keine Rücksicht auf Einwände seines Arbeitgebers nahm, auch wenn er Angst hatte, „im Geschäft würde geschimpft, so dass er seine Stelle verlöre“. Gerd Huber, der behandelnde Arzt, erklärte jedoch das Gesundheitsverhalten seines Patienten auch als Symptom einer „Abnorme[n] Erlebnisreaktion bei asthenischer Persönlichkeit“.33 In der Anamnese und im Verlauf des Aufenthaltes charakterisierte Huber den Patienten als wehleidigen Menschen: Mehrmals verweist der Pat. darauf, daß er doch ein äußerst empfindlicher und auch körperlich leicht zu überfordernder Mensch sei, dem man nicht so viel zumuten könne wie dem Durchschnittsmenschen. […] Er sei nie für das Rauhe gewesen, auch seine Mutter sei sehr fein. […] Bei geringen Anlässen sei er anfällig, habe oft über den Tod von Fernstehenden nachgegrübelt und müsse bei bestimmten Liedern weinen, werde ganz weich. schiedenen Akteure ein weiterer Faktor entscheidenden Einfluss haben konnte, nämlich die soziale Herkunft. Hans A. besuchte ein Gymnasium und gehörte der oberen Mittelschicht an. Dies ermöglichte es den Ärzten vielleicht, den Neigungen ihres Patienten wohlwollend gegenüberzutreten, solange er diese nicht mit Angehörigen sozial schwächerer Schichten auslebte. Hans A. hatte sexuellen Kontakt zu Männern, die sozial schlechter gestellt waren als er. Diese bezeichnete er selbst als „homosexuelles Gesindel“. An sich war von Dr. Pfenninger geraten worden, dass Hans das Gymnasium angesichts seiner schlechten Leistungen verlassen und eine Berufsausbildung beginnen sollte. In Kenntnis der sexuellen Bekanntschaften Hans A.s intervenierte jedoch Professor Tellenbach gegen den Schulabbruch mit dem Argument, es sei doch die Chance außerhalb des Gymnasiums erheblich höher, „mit sozial tiefstehenden Homosexuellen“ in Kontakt zu kommen und so „auf eine abschüssige Lebensbahn“ zu geraten, „während er nach bestandenem Abitur und evtl. gelungenem Studium doch die Möglichkeit habe, Homosexualität auf höherer, geistiger Ebene zu erleben“. 32 Psychiatrische und Neurologische Universitätsklinik Heidelberg, Patientenakte 53/144. 33 „Asthenisch“ entspricht in dem von Huber verwendeten psychopathologischen Vokabular Kurt Schneiders in etwa der Bezeichnung „neurasthenisch“, siehe Schneider (2007), S. 14.
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Ein an Männlichkeitsleitbildern orientiertes Selbstbild, das ihn daran gehindert hätte, sich nach den erduldeten Belastungen etwas zu schonen, war offenbar nicht Wilhelm A.s Problem. Huber dagegen brachte auch den Konflikt am Arbeitsplatz mit dem „verweichlichten und empfindlichen“ Charakter Wilhelm A.s in Verbindung, der einer weiteren Konfrontation mit seinem Kollegen möglichst aus dem Weg gehen wollte. So zitierte er seinen Patienten an mehreren Stellen in der Akte: „Herr Dr. schauen Sie sich nur meine Hände an, wie schmal und zerbrechlich die sind.“ Nicht nur Patienten und Ärzte, auch die dritte Akteursgruppe, die Angehörigen, konnte Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge ihrer Verwandten an Männlichkeitsleitbildern ergreifen. Dies geschah im Falle des 25-jährigen Patienten Wolfhart D.34, der 1963 wegen einer „Psychopathie“ in der Klinik war. Dr. Wolfgang Bräutigam, der zuständige Arzt, zeigte sich am Umfeld seines Patienten interessiert. Insbesondere die offen geäußerte Sympathie der Eltern mit dem Nationalsozialismus thematisierte er mehrmals und kennzeichnete diese mittelbar über die Charaktereigenschaften der Eltern als Behandlungshindernis. Die Mutter Wolfhart D.s bekräftigte in der Anamnese, dass „[i]n der Sippe väter- und mütterlicherseits […] Nerven- oder Gemütskrankheiten nicht vorgekommen“ seien. Dennoch, so die Mutter, habe Wolfhart „in zunehmendem Maße über Selbstunsicherheit geklagt, sei in Gegenwart anderer immer ganz unsicher geworden“. Diese Selbstunsicherheit war für die Eltern der Anlass, sich ernsthafte Sorge um die Männlichkeit ihres Sohnes zu machen. Obwohl Wolfhart, wie aus der Akte hervorgeht, sexuell an Frauen orientiert war, hatten die Eltern ihn vorsorglich in die Landesheil- und Nervenklinik Landeck in der Pfalz gebracht, wo er mit Testosteron behandelt wurde. Der Vater, der, wie Bräutigam es für erwähnenswert hielt, im Zuge der Entnazifizierung dauerhaft aus dem Beamtendienst entfernt worden war, kam erst nach mehrmaliger Aufforderung zu einem Gespräch mit den Ärzten in die Klinik. Bräutigam, der behandelnde Arzt, vermerkte, dass der Vater emotional keinen großen Anteil am Schicksal des Sohnes nähme, er spräche lieber von sich selbst „und was er selbst so alles nach dem 1. Weltkrieg geleistet habe, in welchem Korp35 [sic!] er war, etc.“. Zur Genesung seines Sohnes fiel ihm nur noch ein, „dass der Junge zu gefühlvoll sei, […] man solle ihm eine Schockbehandlung geben, es gehe so nicht weiter“. Die vier Beispiele zeigen zum einen, dass Männlichkeitsleitbilder tatsächlich in vielen Fällen die Wahrnehmung der Akteure hinsichtlich der Planung der gesundheitlichen Zukunft eines Betroffenen steuerten. Es waren demnach 34 Psychiatrische und Neurologische Universitätsklinik Heidelberg, Patientenakte 63/341. Psychopathie ist in der Psychopathologie Kurt Schneiders ein Überbegriff für Störungen der Persönlichkeit im Allgemeinen. Ein Psychopath bei Schneider entspricht nicht (notwendigerweise) der heutigen populärwissenschaftlichen Konzeption eines gefühllos-grausamen und manipulativen Menschen. 35 Wolfharts Vater bekräftigte durch das Thematisieren seiner Vergangenheit im Freikorps nochmals sein Bekenntnis zum Nationalsozialismus. In Bräutigams Darstellung ist dieses Verhalten unmittelbar mit seiner Einschätzung der Beschwerden und Behandlungsperspektiven seines Patienten verbunden.
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aber nicht bloß Patienten als autonome Subjekte, die entlang solcher Ideale ihre Gesundheitsvorsorge dementsprechend gestalteten bzw. Prävention vermieden. Auch Ärzte und Angehörige versuchten dies für die Betroffenen zu tun, wogegen manche Patienten sich wiederum wehrten. Vielmehr ist hier (von Einzelfällen abgesehen) von Prozessen der Aushandlung zwischen den verschiedenen Akteuren auszugehen. Auch die Analyse der subjektiven Krankheitswahrnehmungen in ihrer Relevanz für die Gesundheitsvorsorge führt also zu dem Schluss, dass Männer in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg in der Wahl der Gestaltung ihrer zukünftigen seelischen Gesundheit von externen Faktoren beeinflusst waren. Resümee Erklärungsmodelle für die geringere Lebenserwartung von Männern in Industrieländern gehen von autonomen männlichen Subjekten aus, die lediglich aus Mangel an Reflexion nicht in der Lage sind, für ihre Gesundheit vorzusorgen. Als Hindernis für die Einsicht in die Notwendigkeit von Präventionsmaßnahmen wird die Ausrichtung solcher Männer an härteorientierten Männlichkeitsbildern aufgeführt. Die Männergesundheitsforschung hat zwar das Gesundheitsverhalten und damit die (unterbliebene) Gesundheitsvorsorge als relevant für die Verkörperung solcher Leitmännlichkeiten beschrieben, betrachtet diese Vorgänge jedoch eher multifaktoriell, also als determiniert von vielfältigen soziokulturellen Faktoren. Die Maßnahmen, die seelische Gesundheit der Patienten für die Zukunft zu erhalten, lassen sich im Kontext eines Aufenthaltes in der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg mit gewissen Einschränkungen als Prävention beschreiben. Schon die Typologie dieser Maßnahmen lässt erkennen, dass ihre erfolgreiche Ausführung nicht lediglich von individuellen Entscheidungen der Betroffenen abhängig gewesen sein kann. Und auch eine fokussierte Betrachtung der Rolle von Männlichkeitsleitbildern bei dem Vorsorgeverhalten der Heidelberger Patienten bestätigt dieses Bild. Die Geschlechtsidentität ist bei zwei Dritteln der Akten überhaupt nicht Teil der von den Ärzten schriftlich erzeugten Repräsentation der Krankheitswahrnehmung von Patienten. Sie war daher also zumindest für die Ärzte kein nennenswertes Hindernis. Doch auch für das restliche Drittel, in dem Männlichkeitsleitbilder explizit orientierungsstiftend die Compliance der Patienten beeinflussten, beschreibt das Bild vom autonomen Patientensubjekt die Sachlage nicht zufriedenstellend. Die Quellen geben nicht wieder, dass lediglich Patienten in signifikant gehäufter Menge aufgrund ihrer Identifikation mit Männlichkeitsleitbildern die Sorge um ihre seelische Gesundheit vernachlässigten. Vielmehr gingen solche Hindernisse in nicht geringerer Häufigkeit auch von den anderen Akteursgruppen – Ärzten und Angehörigen – aus. Derartige Präventionsmaßnahmen konnten durchaus auch gegen den Willen der Patienten vorgeschlagen bzw. durchgeführt werden.
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Christoph Schwamm
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Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung in der BRD aus geschlechterspezifischer Perspektive (1961–1998) Pierre Pfütsch
„Im Falle des Passivrauchens geht es ja nicht um eine Sache, die geschädigt wird, sondern um das beste und höchste Gut, was wir Menschen besitzen, die Gesundheit.“1
Einleitung Spätestens seitdem Gender Mainstreaming2 als Konzept in den Gesundheitswissenschaften etabliert ist, wird Männern auch epidemiologisch attestiert, Gesundheit sei für sie nebensächlich. So werden sie immer wieder als „Vorsorgemuffel“3 oder auch „Gesundheitsmuffel“4 diffamiert. Frauen hingegen gelten oft als normative Referenz bei der Bewertung des männlichen Verhaltens.5 Das hier nicht bezweifelte gesundheitsschädlichere Verhalten der Männer schlägt sich dementsprechend auch in der Lebenserwartung nieder: 2011 in Deutschland geborene Jungen haben eine statistische Lebenserwartung von 77,72 und Mädchen von 82,73 Jahren.6 Auch wenn der Gender Gap sich langsam zu schließen scheint, so liegt er derzeit dennoch bei über fünf Jahren zuungunsten der Männer.7 Trotz dieser für Letztere negativen 1 2
3 4 5 6 7
BArch, Bestand B 208/577 (26.1.1986). Das Konzept sieht vor, die Kategorie Geschlecht in allen Politikbereichen zu implementieren und bei allen Entscheidungen zu berücksichtigen, so dass Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern abgebaut werden können. Gender Mainstreaming als zentrale Strategie wurde auf der 4. Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking verabschiedet und erhält seitdem weltweit großen Zuspruch. So wurde Gender Mainstreaming 1997 im Amsterdamer Vertrag verankert und damit als ein Leitmotiv der Europäischen Union festgeschrieben. Die Ratifizierung der EU-Verträge 1999 durch die Bundesregierung führte zur offiziellen Anerkennung des Gender Mainstreaming-Konzeptes in der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. Kolip/Kuhlmann (2005), S. 73 ff. Lossau (2012), S. 2. Müller (2013), S. 5. Als ein Beispiel von vielen sei hier angeführt: Lange (2011). Vgl. Statistisches Bundesamt (2012), S. 10. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass nicht nur das gesundheitsschädlichere Verhalten der Männer zu dieser Lücke führt. Inwieweit auch andere Faktoren, insbesondere biologische, dafür verantwortlich sind, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. An dieser Stelle sei auf die überzeugenden Klosterstudien verwiesen, wonach die Lebenserwartung von Nonnen und Mönchen, die ein nahezu gleiches Leben führen, sich auf ein Jahr zugunsten der Frauen angleicht. Demnach kann man davon ausgehen, dass ca. vier Jahre dieses Gender Gaps sozial konstruiert sind. Vgl. Luy: Frauen (2002) oder auch Luy: Sterblichkeitsunterschiede (2002).
126
Pierre Pfütsch
Zahlen ist damit noch längst nicht geklärt, ob Männern ihre eigene Gesundheit wirklich so egal ist, wie in den Medien oft behauptet wird. Ziel dieses Beitrages ist es daher, aus einer historischen Perspektive heraus beispielhaft zu klären, ob und, wenn ja, wie sich Männer in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1998 innerhalb der BRD für eigene präventive und gesundheitsförderliche Belange einsetzten. Forschungsstand Während Präventionsangebote mehr und mehr in den Fokus der medizinhistorischen Forschung rücken8, kann dies für die Nachfrage nach den Angeboten oder das Inanspruchnahmeverhalten nicht behauptet werden. Der Hauptgrund für dieses Forschungsdesiderat ist aber sicherlich nicht im mangelnden Interesse, sondern vielmehr in der problematischen Quellenlage zu suchen. Zu den wenigen zur Verfügung stehenden Quellengattungen gehören Eingaben an Präventionsanbieter, die zu den Ego-Dokumenten zählen. Darunter können nach Winfried Schulze „alle jene Quellen verstanden werden, in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig […] oder durch andere Umstände bedingt geschieht“.9 Die Eingaben ermöglichen es, Zugang zur Sicht der Betroffenen zu erhalten. Sie rechtfertigen, so Schulze, Verhalten, geben Auskunft über Ängste, legen Wissensbestände offen, zeigen Wertvorstellungen auf und weisen auf Lebenserfahrungen und Lebenserwartungen hin.10 Auch aus der amtlichen Praxis wird dies bestätigt: „In den Eingaben spiegelt sich die breite Palette zutiefst menschlicher Sorgen und Nöte, Kümmernisse und Belastungen, Wünsche und Anliegen wider.“11 Die Bedeutung von Ego-Dokumenten für eine patientenorientierte Sozialgeschichte der Medizin haben unlängst u. a. Susanne Hoffmann12 und Nicole Schweig13 in ihren Studien aufgezeigt. Bei allen Vorzügen der Eingaben als Quellengattung muss aber auch auf die quellenkritischen Problematiken im Umgang mit ihnen hingewiesen werden: So sind sie mit einer bestimmten Intention der Verfasser geschrieben worden und liegen damit einer gesteuerten Identitätskonstruktion zugrunde. Florian Bruns weist folgerichtig darauf hin, dass die in den Eingaben dargestellten Lebensumstände in Anbe8 Der Sammelband von Stöckel/Walter (2002) zeigt strukturelle Leitlinien in den Präventionskonzepten des 20. Jahrhunderts auf. Der bereits 1991 erschienene Sammelband von Elkeles u. a. arbeitet die zentralen Motive zu gesundheitsfördernden Maßnahmen der beiden deutschen Staaten während ihrer Teilung heraus und verortet sie in ihrer ideologischen Eingebundenheit während des Kalten Krieges. Lengwiler und Madarász gelingt es in ihrem Sammelband hervorragend, Prävention als Sozial- und Kulturtechnik der Moderne begreifbar zu machen: Lengwiler/Madarász (2010). 9 Schulze (1996), S. 21. 10 Vgl. Schulze (1996), S. 28. 11 Elsner (1999), S. 245. 12 Hoffmann nutzte als Quellenbasis vorrangig Autobiographien. Vgl. Hoffmann (2010). 13 Die Quellengrundlage bei Schweig bilden Briefe. Vgl. Schweig (2009).
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 127
tracht des verfolgten Anliegens sowohl selektiv als auch verzerrt dargestellt sein können.14 Als Quellenart sind die Eingaben sowohl inhaltlich als auch nach ihrem Schreibanlass in der Nähe von Petitionen einzuordnen. Während sich die Eingaben direkt an ein Ministerium oder eine andere staatliche Stelle richten, sind die Petitionen auf bundesrepublikanischer Ebene an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages adressiert. Petitionen wurden in der Geschichtswissenschaft, insbesondere für die Frühe Neuzeit15, als Quellenbasis schon vielfach herangezogen. Für das 20. Jahrhundert kann dies allerdings nicht gesagt werden. Die 2011 erschienene Studie von Sylvelyn Hähner-Rombach über Gesundheit und Krankheit im Spiegel von Petitionen an den Landtag von Baden-Württemberg16 aus der Zeit von 1946 bis 1980 leistete hier Pionierarbeit und erschloss gleichzeitig der Sozialgeschichte der Medizin eine neue Quellengattung. Zeitgeschichtliche Eingaben hingegen werden v. a. in historischen Arbeiten über die DDR als Quellenbasis genutzt.17 Dies ist auf die 1952 in der DDR abgeschaffte Verwaltungsgerichtsbarkeit zurückzuführen, wodurch das Verfassen einer Eingabe die einzige Möglichkeit der Bürger zum politischen Widerspruch auf offiziellem Wege wurde.18 Dementsprechend wies das Eingabewesen in der DDR für den einzelnen Bürger eine höhere Bedeutung als in der BRD auf. In Westdeutschland wurde es dagegen nicht als politisch so wichtig erachtet. Dies kann auch als Grund dafür angenommen werden, dass sich zeitgeschichtliche Arbeiten mit dieser Quellengattung innerhalb der BRD bis vor kurzem noch nicht näher auseinandergesetzt haben. Die 2013 von Michaela Fenske vorgelegte Studie19, in der sie ca. 1.000 Bürgerbriefe und 800 Petitionen an den Landtag und die Ministerpräsidenten von Niedersachsen aus der Zeit von 1950 bis 1974 aus einer kulturanthropologischen Perspektive analysiert, schließt diese Leerstelle der Forschung. In den Sozialwissenschaften werden Eingaben und Bürgerbeschwerden bzw. -anfragen hingegen bereits seit einigen Jahren wissenschaftlich untersucht. Im gesundheitlichen Sektor ist hier insbesondere die Arbeit von Liane Schenk und anderen über Informationen für eine partizipative Gesundheitsversorgung20 zu nennen, in der 19.117 Briefe und E-Mails aus der Zeit von 2004 bis 2007 an die Geschäftsstelle des Patientenbeauftragten der Bundesregierung ausgewertet wurden. Inhaltlich befassen sich die Absender der Briefe und E-Mails v. a. kritisch mit dem bestehenden Gesundheitssystem und stellen Informationsanfragen, die die Themenbereiche Gesundheit und Krankheit betreffen. Sowohl in den Arbeiten von Hähner-Rombach als auch von Schenk wird das Ge-
14 15 16 17 18 19 20
Vgl. Bruns (2012), S. 341. Beispielsweise Rehse (2008) oder auch Tersch (1998). Hähner-Rombach (2011). Becker/Lüdtke (1997) oder auch Bruns (2012). Vgl. Kumpf (1984), Sp. 1644. Fenske (2013). Schenk u. a. (2010).
128
Pierre Pfütsch
schlecht der Absender der Petitionen und Anfragen berücksichtigt, jedoch nicht vertiefend darauf eingegangen. Fragestellung Um diese Forschungslücke zu schließen, wurden daher für die vorliegende Studie Eingaben, Anfragen und Beschwerden von Privatpersonen an eine Vielfalt von Präventionsträgern, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das Bundesministerium für Gesundheitswesen (und dessen jeweilige Nachfolgeministerien)21 oder auch das Bundesgesundheitsamt, zu unterschiedlichen Themen der Prävention und Gesundheitsförderung inhaltlich ausgewertet und auf ihre historische Entwicklung hin analysiert. Ausgehend von einem geschlechterspezifisch unterschiedlich markierten Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen lag das Hauptaugenmerk der Analyse auf geschlechterspezifischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten. So sollte zum einen quantitativ geklärt werden, ob Männer oder Frauen häufiger als Absender auftreten und wie sich die Aufteilung hinsichtlich verschiedener inhaltlicher Schwerpunkte der Prävention und Gesundheitsförderung verhält. Anhand dieser Daten lassen sich bereits erste Hinweise zu der allgemeinen Bedeutung eines Themas für das jeweilige Geschlecht ableiten. Des Weiteren können auch zeitliche Konjunkturen bestimmter Themenfelder auf medial verarbeitete Diskurse verweisen und auch darauf, von welchem Geschlecht diese Diskurse vermehrt aufgegriffen wurden. Zudem war es in der qualitativen Auswertung von Interesse, über welche unterschiedlichen oder aber auch gleichen Inhalte Männer und Frauen berichteten und in welcher Form sie dies taten. Insbesondere interessierte hier die Frage nach variierenden bzw. ähnlichen Schreibanlässen von Männern und Frauen und darüber hinausgehend auch die Frage nach den Argumentationen beider Geschlechter. Ins Zentrum der Untersuchung rückte hierbei die Thematisierung eigener Gesundheit und Krankheit, da das vermeintliche Desinteresse der Männer an ihrer Gesundheit als Hypothese hinterfragt werden sollte. Ziel dieser Analyse sollte es sein, zum einen Anhaltspunkte für die un-
21
Das Ressort Gesundheit wurde aufgrund diverser Regierungsbildungen und damit einhergehender Ministerienumlagerungen des Öfteren verschoben. 1961 wurde ein eigenständiges Gesundheitsministerium, das Bundesministerium für Gesundheitswesen (BMG), gegründet, welches 1969 mit dem Bundesministerium für Jugend und Familie zum Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit verschmolz. 1986 wurde dieses Ministerium um das Ressort Frauen zum Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit erweitert. Fünf Jahre später, 1991, entstand mit dem Bundesministerium für Gesundheit wieder ein eigenständiges Gesundheitsministerium. Ab 2002 wurde dieses Ministerium zum Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung erweitert. Kurze Zeit später, 2005, wurde diese Erweiterung wieder rückgängig gemacht, so dass seitdem das Ressort Gesundheit im eigenständigen Bundesministerium für Gesundheit verwaltet wird.
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 129
terschiedliche Bedeutung von Prävention für Männer und Frauen festzustellen und zum anderen aufzuzeigen, wie sie sich für präventive Belange einsetzten. Die breitangelegte Quellenrecherche bei den bereits erwähnten Präventionsträgern erbrachte immerhin 647 Eingaben aus der Zeit von 1961 bis 1998. Allerdings muss bedacht werden, dass dies längst nicht alle Eingaben zu den Themenbereichen Prävention und Gesundheitsförderung sind, die in dieser Zeit geschrieben und abgeschickt wurden. Leider fand und findet dazu in den öffentlichen Stellen keine systematische Sammlung oder Aufbewahrung statt, so dass eine vollständige Auswertung wie bei Schenk aufgrund der Überlieferungssituation nicht möglich ist.22 Diesem Umstand ist es auch zu schulden, dass die quantitative Verteilung der Eingaben im zeitlichen Verlauf sehr unterschiedlich ist. Aufgrund der relativ hohen Anzahl von über 600 unterschiedlichen Eingaben können aber trotzdem, wenn auch mit Einschränkungen, gesicherte Aussagen getroffen werden. Da es hier insbesondere um eine sozialgeschichtliche Perspektive geht und es nicht das Ziel dieses Beitrages ist, medizinische Fachdiskurse nachzuzeichnen, ist, soweit dies möglich war, darauf geachtet worden, Eingaben von medizinischen Fachpersonen (v. a. Ärzten) nicht zu berücksichtigen. Quantitative Analyse Die quantitative Auswertung zeigte eine deutliche geschlechterspezifische Differenzierung. Von den 647 Eingaben waren 408 Absender Männer, 217 Frauen (bei 22 Eingaben konnte das Geschlecht nicht eindeutig zugeordnet werden).23 Tab. 1: Verteilung der Eingaben nach Geschlecht und Jahrzehnt Männer 1960er Jahre
Frauen
absolut
in %
absolut
in %
37
62,7
20
33,9
nicht feststellbar absolut
in %
2
3,4
gesamt absolut 59
in % 9,1
1970er Jahre
28
66,7
12
28,6
2
4,8
42
6,5
1980er Jahre
301
64,3
155
33,1
12
2,6
468
72,3
1990er Jahre
42
53,8
30
38,5
6
7,7
78
12,1
408
63,1
217
33,5
22
3,4
647
100
gesamt
Aufgrund der Frauenbewegung und im Besonderen der Frauengesundheitsbewegung wurde eine Steigerung der von Frauen verfassten Eingaben im histo22 Dies ist wohl auch auf die, im Gegensatz zur DDR, geringere Bedeutung des Eingabewesens in der BRD zurückzuführen. 23 In diesen Fällen wurden die Eingaben entweder von einem Ehepaar verfasst und unterschrieben oder aber der Vorname wurde von den Verfassern so abgekürzt, dass die eindeutige geschlechterspezifische Zuordnung nicht mehr möglich war.
130
Pierre Pfütsch
rischen Verlauf, speziell ab den 1970er Jahren, vermutet. Die Frauengesundheitsbewegung übte Kritik an einer von Männern dominierten Medizin und setzte sich die Wiederaneignung des weiblichen Körpers als Ziel. Dabei wurde erstmalig mit der Diskussion um den Paragraphen 218 StGB zur strafrechtlichen Regelung eines Schwangerschaftsabbruches ein „Frauenthema“ in der BRD öffentlichkeitswirksam beleuchtet.24 Vor allem das Heraustreten an die Öffentlichkeit wurde als grundlegende Neuerung beschrieben: „Der Körperbezug sowie die Verknüpfung von privat und öffentlich markieren das innovative Moment der Bewegung und unterscheiden sie von der ‚alten‘ Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“25 Eine Steigerung der weiblichen Schreibaktivität konnte im vorliegenden Sample jedoch nur graduell festgestellt werden. Ab den 1970er Jahren stieg der Prozentsatz der weiblichen Absender der Eingaben bis in die 1990er Jahre zwar wieder und nun kontinuierlich an, die Gesamtzahl der von Männern verfassten Eingaben lag allerdings in jedem Jahrzehnt deutlich über derjenigen der von Frauen geschriebenen (siehe Tab. 1). Allerdings muss auch auf die höhere weibliche Schreibrate in den 1960er Jahren im Vergleich mit den 1970er Jahren hingewiesen werden, die einem kontinuierlichen Anstieg der weiblichen Absender entgegensteht. Diese Verschiebungen können aber aufgrund der geringen Fallzahl der im Sample vorhandenen Eingaben lediglich als Tendenzen gedeutet werden. Auch wenn man sich die geschlechterspezifische Verteilung nach Inhalten differenziert ansieht, ändert sich an der höheren Schreibrate der Männer wenig: So sind sie häufiger etwa zu den Themen Rauchen, Alkohol und Bewegung, aber überraschenderweise auch zum Thema Ernährung Absender von Eingaben. Frauen sind lediglich in zwei Bereichen häufiger vertreten: bei den Themenfeldern Schwangerschaft und Drogenmissbrauch (siehe Schaubild 1). Auch die themenspezifische Betrachtung der historischen Entwicklung ändert also nur wenig am Gesamtbild der höheren Schreibrate der Männer. Beim Themenbereich Rauchen beispielsweise sah das Verhältnis der Geschlechter in den 1960er Jahren folgendermaßen aus: neun Männer gegenüber keiner Frau, in den 1980er Jahren 55 Männer gegenüber 21 Frauen und in den 1990er Jahren 32 Männer gegenüber zehn Frauen (siehe Tab. 2). Man erkennt hier zwar im Vergleich der 1960er mit den 1980er Jahren eine deutliche Zunahme des Anteils weiblicher Absender, dieses Ergebnis zeigt sich jedoch nicht bei anderen Themenbereichen, so dass man hier von einer speziellen themenspezifischen Erklärung ausgehen muss. So galt das Rauchen als eine kulturelle Praxis, die stark geschlechterspezifisch markiert war. Bis in die 1950er Jahre war es Ausdruck männlicher Genussfähigkeit und die Zigarette ein eindeutiger Männlichkeitsmarker: „Der Erste Weltkrieg hatte das Image des Rauchens verändert, die Zigarette wurde von rebellischer Jugendlichkeit zu heroischer Maskulinität umgedeutet. Zudem konzentrierte sich die Werbung auf die jüngere männliche Bevölkerung.“26 Dieser Zustand 24 Vgl. Frevert (1990), S. 126. 25 Kolip/Kuhlmann (2005), S. 33. 26 Briesen (2010), S. 220.
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 131
Schaubild 1: Verteilung der Eingaben nach Geschlecht und Themenfeld in Prozent Tab. 2: Eingaben zum Themenfeld „Rauchen“ nach Geschlecht und Jahrzehnt Männer absolut 1960er Jahre
9
Frauen
in %
absolut
100
0
nicht feststellbar
in %
absolut
in %
0
0
0
gesamt absolut 9
in % 7,0
1970er Jahre
0
0
0
0
0
0
0
0
1980er Jahre
55
71,4
21
27,3
1
1,3
77
59,7
1990er Jahre
32
74,4
10
23,3
1
2,3
43
33,3
gesamt
96
74,4
31
24,0
2
1,6
129
100
änderte sich erst ab den 1960er Jahren. Von diesem Zeitpunkt an wurden die Frauen von der Tabakindustrie als lukrative neue Zielgruppe erkannt und stark umworben. Auch Produktneueinführungen wie die Filterzigarette und mildere Tabaksorten trugen zum Anstieg der weiblichen Raucherquote bei. Ihre Rate stieg kontinuierlich an, blieb aber noch Jahrzehnte hinter der der Männer zurück.27 So ist es wohl kein Zufall, dass sich in den 1960er Jahren zum Themenbereich des Rauchens noch keine Eingaben von Frauen fanden, ab den 1980er Jahren jedoch schon. Das Rauchen hatte sich in diesem Jahrzehnt auch unter Frauen weitgehend durchgesetzt. An diesem Punkt gilt es zunächst einmal Folgendes festzuhalten: Es schrieben in der Zeit von 1960 bis 2000 deutlich mehr Männer als Frauen an bun27
Ausführlicher zur geschlechtlichen Markierung des Rauchens: Dinges (2011). Die Entwicklung der männlichen und weiblichen Rauchquoten von 1950 bis 2003 zeigt eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach. Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2003).
132
Pierre Pfütsch
desdeutsche Institutionen, um sich über Präventionsangebote zu informieren, sich zu beschweren oder auch einfach um ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen. Dieses Ergebnis ist zuerst überraschend, wenn man bedenkt, dass die Themen Prävention und Gesundheitsförderung als eher weibliche Interessenslagen galten und gelten. Wie eingangs erwähnt, verhalten sich eher die Frauen gesundheitsförderlicher. So nehmen sie im Durchschnitt28 häufiger Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch, besuchen öfter Gesundheitskurse und pflegen einen gesünderen Lebensstil29. Allerdings relativieren quellenkritische Überlegungen dieses Ergebnis wieder. Zunächst muss festgestellt werden, dass sich die Eingaben an Bundesbehörden wenden – also an den Staat – und damit in letzter Konsequenz an die Öffentlichkeit. Karin Hausen hat bereits 1976 darauf hingewiesen, dass die polarisierenden Geschlechterzuschreibungen von dem angeblich für die Öffentlichkeit prädestinierten Mann und der für die Privatheit prädestinierten Frau lediglich auf normativen Aussagen über das Bürgertum aus dem 19. Jahrhundert beruhen und daher kaum zur Beschreibung historischer Wirklichkeiten dienen können.30 Trotzdem trugen diese Leitideen dazu bei, Geschlechterverhältnisse in diese Richtung zu prägen. An der Wende zum 19. Jahrhundert setzte sich immer mehr die räumliche Trennung von Arbeitsleben und Privatleben durch und zeitgleich wurde das Ernährer-Hausfrauen-Modell zunehmend zum Ideal erhoben.31 Beides führte dazu, dass sich Männer verstärkt im öffentlichen und Frauen im privaten Raum aufhalten mussten. Wie Studien aus dem 20. Jahrhundert zeigen, ist das Verhalten der Personen beider Geschlechter von diesen Entwicklungen beeinflusst.32 Das galt in gewissem Maß und trotz allen zwischenzeitlichen sozialen Wandels auch noch bis in die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik. Daher wird vermutet, dass in unserer Stichprobe die Männer sich eher veranlasst sahen, eine Eingabe an den Staat zu verfassen. Wie erwähnt, konnte auch für den Themenbereich der Gesundheit die Frauengesundheitsbewegung daran nur wenig ändern. Dies würde bedeuten, aus den quantitativen Daten könne man nur bedingt Aussagen über die geschlechterspezifische Verteilung des Interesses am Thema ableiten, da 28 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das Gesundheitsverhalten von Männern und Frauen nicht pauschalisiert werden soll. Es lassen sich durchaus auch Lebensbereiche finden, in denen sich Männer gesundheitsförderlicher verhalten: So nehmen z. B. Männer ab einem Lebensalter von 75 Jahren häufiger Krebsfrüherkennungsuntersuchungen in Anspruch als Frauen in diesem Alter. Vgl. Robert-Koch-Institut (2006), S. 138. 29 Ausführliche Informationen zum aktuellen Gesundheitsverhalten der Bevölkerung in der BRD liefert der Gesundheitsbericht des Robert-Koch-Instituts: Robert-Koch-Institut (2006). 30 Vgl. Hausen (1976), S. 363. 31 Auch wenn das Ernährer-Hausfrauen-Modell zunehmend idealisiert wurde, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Umsetzung nur bei einem kleinen Teil der Bevölkerung gelingen konnte. Bei Arbeitern reichte im 19. Jahrhundert im Normalfall das Einkommen des Mannes nicht aus, um den Bedarf der Familie zu decken, so dass, wie Hausen richtig feststellte, „deshalb weder Haus- noch Erwerbsarbeit geschlechtsexklusiv ausgeführt werden konnten“. Hausen (1976), S. 382. 32 Vgl. Habermas (1962/1990) und auch Elshtain (1981) sowie Pateman (1989).
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 133
durch die Quellengattung Verzerrungen entstünden. In dieser Hinsicht liegt ebenfalls die Vermutung nahe, dass sich Frauen persönlich sehr wohl mit den Themen beschäftigten, aber diese spezifische Form der Auseinandersetzung nur selten nutzten. Damit zusammenhängend wäre es auch gut vorstellbar, dass Männer von ihren Ehefrauen oder Lebenspartnerinnen veranlasst wurden, eine Eingabe zu verfassen. Die Existenz von Eingaben, die von einem Ehepaar unterzeichnet wurden, deutet darauf hin, dass viele Themen innerhalb der Familie besprochen wurden.33 Aufgrund der Quellengattung, die lediglich den Namen des Absenders bekanntgibt, kann dies allerdings nur Spekulation bleiben. So kann auch nicht geklärt werden, von wem letztendlich die Initiative zum Verfassen einer Eingabe ausging. Aber nicht nur die Quellengattung per se, sondern auch der Blick auf bestimmte Themenbereiche kann mögliche Erklärungen liefern. Zum Beispiel der Bereich Rauchen: Zu diesem Thema schrieben, wie oben ausgeführt, deutlich mehr Männer. Wie bereits erwähnt, galt Rauchen lange Zeit als eine stark männlich geprägte Praxis. Die Trennung von rauchenden Männern und nichtrauchenden Frauen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer als wichtig erachteten Regel des bürgerlichen Lebens.34 Daher entstanden etwa in vielen Anwesen der oberen sozialen Schichten sogenannte Herrenzimmer, in die sich die Männer unter Ausschluss der Frauen nach dem Essen zum genussvollen Zigarrerauchen zurückzogen.35 Es ist daher anzunehmen, dass der Diskurs über das Thema Rauchen/Nichtrauchen auch lange Zeit männlich geprägt war. Auch wenn ab den 1960er Jahren die rauchende Frau zunehmend eine normale Erscheinung wurde, ist zu vermuten, dass sich weiterhin eher die Männer als Experten auf diesem Gebiet sahen, da sie eine längere Tradition mit der Praktik des Rauchens vorweisen konnten. Des Weiteren setzen sich die Absender thematisch größtenteils für eine Durchsetzung bzw. Verbesserung des Nichtraucherschutzes ein. Aus den Inhalten der Eingaben wird der Arbeitsplatz als zentraler Ort des RaucherNichtraucher-Konflikts deutlich. Warum dies so war, veranschaulicht eine Beschwerde aus dem Jahr 1991: Gaststätten und Zugabteile und private Treffen, wo geraucht wird, kann ich meiden. Nicht dagegen Konferenzen und Arbeitstreffen im Beruf, Parteien und Verbänden. Welche rechtlichen Möglichkeiten hat man, wenn alles Bitten nichts mehr bringt und die Mehrheit trotzdem einfach weiterraucht, man andererseits aber auch nicht einfach rausgehen kann?36
Da es am Arbeitsplatz nur unzureichende Möglichkeiten gab, sich aus dem Weg zu gehen, wurde dieser oft zwangsläufig zum Ort des Konflikts. Bedenkt man jetzt noch die deutlich höhere (v. a. ganztägige) Berufstätigkeit der Män33 Auch in der Untersuchung von Schenk stellen die von ihr so genannten „Paarbriefe“ eine mit immerhin 3,6 Prozent der Eingaben beachtenswerte Größe dar. Vgl. Schenk u. a. (2010), S. 40. 34 Vgl. Hausen (2004), S. 156. 35 Vgl. Kolte (2006), S. 24. 36 BArch, Bestand B 208/577 (23.7.1991).
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Pierre Pfütsch
ner gegenüber den Frauen im Untersuchungszeitraum, folgt daraus, dass auch mehr nichtrauchende Männer diesem Konflikt für eine längere Zeit ausgesetzt waren und es für sie damit auch deutlich mehr Schreibanlässe gab. Diese quellenkritischen Überlegungen relativieren zwar die quantitativen Ergebnisse, können aber doch das Gesamtergebnis nicht gänzlich revidieren, so dass weiterhin davon auszugehen ist, dass auch die Männer – im Vergleich zu den Frauen – ein zumindest ähnlich großes Interesse an Themen der Prävention und Gesundheitsförderung hatten. Dies ist ein wichtiges Indiz dafür, dass sie doch nicht unisono die vielbeschworenen Gesundheitsidioten sind – wie sie uns immer noch tagtäglich in den Medien präsentiert werden.37 Die zu Beginn erwähnten Studien von Schenk und Hähner-Rombach bestätigen dieses Untersuchungsergebnis. Schenks Auswertung von Briefen und E-Mails an die Geschäftsstelle des Patientenbeauftragten der Bundesregierung zeigte eine mit 52,2 Prozent zu 44,2 Prozent leicht höhere Schreibrate der Männer.38 Und auch die von Hähner-Rombach durchgeführte Analyse von 1.530 Petitionen zu den Themen „Gesundheit“ und „Krankheit“ an den Landtag von Baden-Württemberg weist eine höhere Schreibrate der Männer auf.39 Qualitative Analyse der Schreibanlässe Doch es zeigen sich nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Damit der Rahmen dieses Beitrages nicht gesprengt wird, soll an dieser Stelle nur das Themenfeld Rauchen als Beispiel näher untersucht werden. Bei der Analyse der Inhalte hat zunächst interessiert, was der vordergründige Schreibanlass war. Dabei wurden innerhalb der Auswertung drei verschiedene Möglichkeiten unterschieden: Die „Bitte um Informationen“, die „Aufforderung zum staatlichen Handeln“ und der „Wunsch nach persönlicher Hilfe“ in einem konkreten Fall. Innerhalb der Kategorie „Bitte um Informationen“ wurden alle Eingaben zusammengefasst, in denen Informationsmaterial, z. B. Aufklärungsbroschüren oder Informationshefte, angefordert oder hauptsächlich Wissensfragen gestellt wurden. In der Kategorie „Aufforderung zum staatlichen Handeln“ befinden sich die Eingaben, die den Staat zu einem aktiven Schutz der Nichtraucher, meist in gesetzlicher Form, aufforderten. Die Eingaben, in denen ein konkreter Fall vorgetragen und zur Lösung des Problems spezielle Hilfe gewünscht wurde, sind in der Kategorie „Wunsch nach persönlicher Hilfe“ subsumiert. Alle Eingaben konnten diesen drei Kategorien zugeordnet werden. Deutlich an erster Stelle liegt mit rund 65 Prozent die „Bitte um Informationen“ als Schreibanlass. Es folgen „Aufforderung zum staatlichen Handeln“ mit rund 25 Prozent und „Wunsch nach persönlicher Hilfe“ mit rund zehn Prozent (siehe Schaubild 2). 37 Vgl. Dinges (2009), S. 19. 38 Die restlichen 3,6 Prozent waren Paarbriefe. Vgl. Schenk u. a. (2010), S. 40. 39 Vgl. Hähner-Rombach (2011), S. 74.
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 135
Schaubild 2: Verteilung der Schreibanlässe zum Themenbereich Rauchen in Prozent (gesamt)
Betrachtet man jetzt die Zahlen in ihrer geschlechterspezifischen Ausprägung, zeigen sich erklärungsbedürftige Unterschiede. Zunächst ist sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern die „Bitte um Informationen“ als mit Abstand häufigster Schreibanlass festzustellen. Dies resultiert wohl insbesondere aus der medialen Verarbeitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Gesundheitsschädlichkeit des Passivrauchens, was zu weitreichenden Veränderungen führte: Nichtraucher sahen sich auf eine völlig neue Art und in größerem Ausmaß dem riskanten Verhalten einzelner Raucher ausgesetzt, als dies jemals zuvor in der Tabakhistorie der Fall war. […] Aus der Perspektive der Nichtraucher hat das Rauchen den Stellenwert einer unmittelbaren Schädigung ihrer Gesundheit bekommen, es wird als ein Angriff auf ihren Leib gewertet, der seitens der Raucher mit bloßer Genußsucht gerechtfertigt wird.40
Daraufhin forderten viele Bürger von staatlicher Stelle gesicherte Informationen zu diesem Thema an. Des Weiteren wurde das Passivrauchen nun auch zum Thema der Gesundheitserziehung an Schulen, was die Auseinandersetzung von immer mehr Schülern und Lehrern mit dem Thema und dadurch auch die häufige Anforderung von Informationsmaterial von den staatlichen Stellen zur Folge hatte. Während der Schreibanlass „Wunsch nach persönlicher Hilfe“ bei beiden Geschlechtern bei ca. zehn Prozent liegt, zeigt sich ein deutlicher Unterschied bei dem Anlass „Aufforderung zum staatlichen Handeln“. Die Anzahl der Männer ist bei diesem Schreibanlass mit 30 Prozent dreimal so hoch wie bei den Frauen. Und auch innerhalb der männlichen Eingaben stellt „Aufforderung zum staatlichen Handeln“ mit jeder dritten Eingabe einen bedeutenden Schreibanlass dar. Doch was sind eigentlich die (Auf)forderungen der Männer? Und wie setzen sie sich argumentativ für ihre Forderungen ein? Zunächst fordern unisono 40 Dieterich (1998), S. 78.
136
Pierre Pfütsch
Schaubild 3: Verteilung der Schreibanlässe von Männern zum Themenbereich Rauchen in Prozent
Schaubild 4: Verteilung der Schreibanlässe von Frauen zum Themenbereich Rauchen in Prozent
alle Eingaben der Männer dieses Schreibanlasses eine Form des staatlichen Nichtraucherschutzes, oftmals bezogen auf den Arbeitsplatz, aber auch auf andere Lebensbereiche: „Die Vorschläge zum Schutz des Passivrauchers, so gut dieselbigen auch gemeint sind, stellen lediglich unverbindliche Empfehlungen dar, die zu nichts verpflichten und an denen [sic!] sich kein Raucher hält. Das beweist die tägliche Praxis.“41 Dabei bringen sie viele unterschiedliche Argumente vor, die v. a. den Feldern Justiz, Ökonomie und Umwelt zugeordnet werden können. Das Hinweisen auf Forschungsergebnisse und wissenschaftli41
BArch, Bestand B 208/527 (19.10.1987).
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 137
che Fakten ist ein gängiges Strukturmerkmal in den Debatten um das Rauchen – und auch sonst in wohl allen öffentlich verhandelten Risikokonflikten – geworden. Der Fundus des jeweiligen Expertenwissens bietet den Akteuren wichtige Orientierungs- und Argumentationshilfen.42 Von diesem Wissen machten vornehmlich die Männer Gebrauch. Juristisch argumentierten sie oftmals mit dem Grundgesetz. So schrieb ein Absender aus dem Jahr 1988: Scheinbar können nur Verbote oder ein Nichtraucherschutzgesetz aus diesem Dilemma führen, was ich und andere betroffene und belästigte Nichtraucher für dringend notwendig halten, damit dem Nichtraucher sein durch das Grundgesetz, Artikel 2 (2) verbrieftes Recht auf körperliche Unversehrtheit garantiert wird.43
Gerade der Verweis auf die freiheitlichen Grundrechte und auch das Grundgesetz sind gängige Argumente im juristischen Themenfeld. Aber auch rechtliche Entscheidungen aus anderen Ländern, etwa aus Schweden oder auch den USA, werden als Argumente für einen gesetzlichen Nichtraucherschutz durch die männlichen Absender angeführt. Die ökonomischen Argumentationen verweisen auf die Kosten für das Gesundheitssystem, die durch die Raucher entstünden und ganz allgemein als „soziale Kosten des Rauchens“44 bezeichnet werden: In Wirklichkeit ist es jedoch so, daß die Krankenkassen die Kosten übernehmen, und diese wiederum holen sich die anfallenden Summen aus den Beiträgen ihrer Mitglieder. Dies kann doch wohl nicht in Ordnung sein. Es fallen jährlich Millionenbeiträge an, die von den Krankenkassen allein für vorgenannte Fälle zu zahlen sind. Die Passivraucher werden, ohne daß sie das geringste damit zu tun haben, von den Krankenkassen automatisch zum Mitzahlen herangezogen für Krankheiten oder Operationen, für die allein der selbstgeschädigte Raucher verantwortlich ist.45
Allerdings werden auch die vermeintlichen Gewinne des Staates durch die Tabaksteuer thematisiert und damit dem Staat unterstellt, gar nicht gegen das Rauchen vorgehen zu wollen: Aber: solange dem Bundeshaushalt jährlich ca. 17 Millionen Mark46 aus der Tabaksteuer zufließen, wird es die Gesundheitspolitik in diesem Lande schwer haben. Der Finanzminister will auf keinen Fall auf diese Steuereinnahmen verzichten, gleich welche Partei ihn stellt, und die Tabakindustrie wird sich ganz entschieden dagegen wehren, daß ihr Profit geschmälert wird.47
Und schließlich wird auch die Umweltverschmutzung als weiterer Grund für einen notwendigen Nichtraucherschutz angeführt:
42 43 44 45 46
Dieterich (1998), S. 81. BArch, Bestand B 208/527 (28.11.1988). Dieterich (1998), S. 84. BArch, Bestand B 208/577 (16.10.1985). Die tatsächlichen Einnahmen aus der Tabaksteuer lagen weit darüber: Im Jahr 1987 erbrachte sie in der BRD Einnahmen von 14,63 Milliarden DM. Vgl. Statistisches Bundesamt (1990), S. 456. 47 BArch, Bestand B 208/527 (28.11.1988).
138
Pierre Pfütsch 1. Wieviel Millionen! [sic!] Regenbäume bzw. Bäume des Regenwaldes werden jährlich der Tabakindustrie geopfert? 2. Wieviel Heizungsenergie geht jährlich verloren, weil wegen Tabakqualm ständig bzw. regelmäßig gelüftet werden muß? 3. Wieviel Tonnen Schadstoffe werden jährlich bei uns durch Nikotinkonsum erzeugt? Bitte nach Stoffen bzw. Krebserregern getrennt!48
Das von den Männern am häufigsten genannte Argument ist die Schädlichkeit des Rauchens bzw. Passivrauchens für die Gesundheit. Dieses Argument wird von ihnen jedoch nur selten als Hauptargument angeführt. Dazu ein typisches Beispiel: Insbesondere interessiert, wann mit einem dringend erforderlichen und seit Jahren erwarteten Rauchverbot in Büroräumen zu rechnen ist. Weshalb müssen sich noch immer Tausende [sic!] Passivraucher in der Bundesrepublik dem der Nötigung nahekommenden Druck der uneinsichtigen und rücksichtslosen Raucherlobby beugen und sich massiv belästigen und schädigen lassen? Ist nicht der Gesetzgeber bei anstehenden Gesetzesübertretungen, die weit unter dem Schadensniveau des Passivrauchens liegen, sofort mit einem Strafbescheid zur Stelle? Im Falle des Passivrauchens geht es ja nicht um eine Sache, die geschädigt wird, sondern um das beste und höchste Gut, was wir Menschen besitzen, die Gesundheit. Nicht schützenswert? Für Ihre Stellungnahme im voraus besten Dank!49
Obwohl vom Absender die Gesundheit als wichtigstes Gut dargestellt wird, führt er sie doch erst nach einer Kritik an der Raucherlobby und am Gesetzgeber ins Feld. Zwar wird dabei auch von einer Schädigung gesprochen, diese aber nicht weiter beleuchtet. Und auch wenn die gesundheitliche Schädigung im Zentrum der Argumentation steht, werden trotzdem Beispiele aus anderen Bereichen mit angeführt. So ist auch die Koppelung des Gesundheits-Argumentes an andere Argumentationsstränge auffällig, wie eine Eingabe aus dem Jahr 1987 zeigt: Es hätte vielleicht noch hinzugefügt werden können, wie vor einigen Jahren festgestellt, daß jährlich 140 000 Tabaktode [sic!] und 100 000 Tabakinvaliden zu beklagen sind. Diese Zahlen dürften sich in der Zwischenzeit auf 150 000 Tabaktode und 110 000 Tabakinvaliden jährlich erhört [sic!] haben. Hinzu kommt ein volkswirtschaftlicher Schaden von 40 Milliarden DM, dem die Tabaksteuer-Einnahme von 10 Milliarden DM gegenübersteht. Reicht das immer noch nicht aus? Unter den Tabaktoden sind, lt. Ihrer Angabe, 500 bis 1000 Nichtraucher, die durch Passivrauchen allein an Lungenkrebs sterben. Den Rauchern wird somit noch immer gestattet, den Tod ihrer nichtrauchenden Umgebung herbeizuführen, ohne hierfür zur Rechenschaft gezogen zu werden! Ungeborene werden geschädigt, wenn werdende Mütter als Passivraucherinnen in Räumen beschäftigt sind, in denen geraucht wird. Verstärkt wird in den letzten Jahren für mehr Kinderfreundlichkeit geworben. Die Familie soll sich für mehr Kinder entscheiden. Tausende von Kindern, die bereits im Mutterleib durch die Gifte des Tabakrauchs geschädigt sind? Der Raucher verstößt eindeutig und rücksichtslos gegen das Grundgesetz, wenn er seine Umgebung zum Passivrauchen zwingt.50
Das skizzierte Vorgehen – die Verbindung eines Gesundheitsargumentes mit einem Argument aus einem anderen Feld – kann auf zwei unterschiedliche Gründe zurückzuführen sein. Erstens: Der Teil der so argumentierenden Män48 BArch, Bestand B 208/577 (11.12.1990). 49 BArch, Bestand B 208/577 (26.1.1986). 50 BArch, Bestand B 208/527 (19.10.1987).
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 139
ner erachtete Gesundheit nicht als so bedeutend, als dass sie als alleiniges Argument hätte angeführt werden können. In ihrer Selbstkonstruktion erscheint die Bedeutung von Gesundheit hinter anderen Lebensbedingungen wie beispielsweise Eigentum, Karriere etc. Es wird an anderer Stelle näher darauf einzugehen sein, wo die Ursachen hierfür liegen könnten. Als zweiter Grund könnte der Glaube der männlichen Absender daran genannt werden, dass die Schädigung der Gesundheit als einziges Argument bei den Entscheidungsträgern nicht ausreichen würde, um sie zum Handeln zu bewegen. Träfe dies zu, müsste daraus geschlossen werden, dass im gesellschaftlichen Diskurs wirtschaftliche, juristische und umweltpolitische Gründe für wichtiger gehalten wurden als gesundheitliche. Auch versprächen Argumente aus diesen Bereichen in der Politik mehr Erfolg bei der Durchsetzung z. B. eines allgemeinen Nichtraucherschutzes. Der Einfluss des Themas Gesundheit auf die allgemeine Politik würde demnach als sehr gering wahrgenommen. Ob diese Vermutung der Absender jedoch zutreffend war, kann nicht bewiesen werden. Auch wenn man dem Staat kein Gewinnstreben zu unterstellen vermag, so könnte man hier die Bedeutung des Gesundheitsargumentes trotzdem mit der Etablierung der betrieblichen Gesundheitsförderung in einigen Konzernen vergleichen. Die Einführung von Präventionskursen wurde erst dann großflächig auf die Agenda der Unternehmen gesetzt, als in den Chefetagen neben dem Zusammenhang von Gesundheitsförderung und besserem Wohlbefinden der Beschäftigten auch der wirtschaftliche Nutzen von Prävention und Gesundheitsförderung erkannt wurde. Eine Befragung von 212 Unternehmen zeigte, dass betriebliche Gesundheitsförderung neben sogenannten „weichen Faktoren“ wie hoher Unternehmensbindung und Mitarbeiterzufriedenheit auch „harte Faktoren“ wie Fehlzeitenentwicklung, Kosteneinsparungen und Produktionssteigerungen positiv beeinflusst.51 Allerdings stellt sich dann die Frage, warum die Absender sich nicht direkt an die Entscheidungsträger aus diesen Bereichen, beispielsweise an das Bundesministerium für Wirtschaft (und dessen jeweilige Nachfolgeministerien), wandten. Vermutlich war das Hauptziel gerade doch die Gesundheitsförderung, allerdings eben nicht die Hauptbegründung. Auch wird das Thema Gesundheit von den Männern oft lediglich innerhalb einer medizinischen Studie angeführt: Es ist Ihnen sicher bekannt, welche Gift- und Schadstoffe der Tabak und Tabakrauch enthält. Ich kann mir daher eine Auflistung dieser Stoffe ersparen. Beigefügte Anlage 1 stellt den Auszug aus einer vor wenigen Monaten erschienen [sic!] Wochenzeitschrift dar. Demnach ist statistisch gesichert, daß der Passivraucher auch an Lungenkrebs erkranken kann. Wörtlich heißt es dort: „Jedes Jahr, so die ernüchternde Mitteilung der drei Medizingremien, stürben 340 000 Amerikaner an den Folgen des Zigarettenkonsums – mehr als die Streitkräfte der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg auf den europäischen Schlachtfeldern verloren haben“.52
Auch in diesem Fall wird zwar das Thema Gesundheit als Argument angeführt, allerdings auf einer abstrakten Ebene. Die ganz persönliche Gesundheit 51 Vgl. Bonitz/Eberle/Lück (2009), S. 83. 52 BArch, Bestand B 208/577 (16.10.1985).
140
Pierre Pfütsch
wird von keinem männlichen Absender als Grund für einen staatlichen Nichtraucherschutz angeführt. Ein Vergleich mit dem argumentativen Vorgehen der Frauen erweist sich als schwierig, da diese, wie erwähnt, kaum Forderungen stellten und somit selten in diesem Quellenkorpus auftauchen. Um sich dennoch eine indirekte Vergleichsbasis zu schaffen, lohnt es sich, etwas allgemeiner die Eingaben der Frauen mit den anderen Schreibanlässen zum Themenfeld Rauchen anzusehen. So fällt auf, dass sie nur selten die Argumentationsstrategien der Männer verwendet haben und das Thema Gesundheit oftmals detaillierter darstellten: Ich habe in meiner Wohnung durch die angrenzenden Mieter neben und unter mir durch das Rauchen eine so starke Belästigung, daß es bei mir fast jeden Tag zum Erbrechen kommt und somit Magen, Galle und Darm stark gereizt sind. Man kann also schon sagen, daß es auf mich gesundheitsschädigend wirkt. Habe schon elektrische Luftreiniger (Melitta) Kerzen etc. aufgestellt, aber leider ohne Erfolg. Der Geruch tritt in der ganzen Wohnung auf und dies oft 8–10 Stunden am Tag. Der Bayerische Rundfunk, dem ich nach dieser Sendung meine Lage schilderte und um Hilfe bat, verwies mich an Ihre werte Adresse.53
Diese Absenderin schreibt zunächst von einer „Belästigung“ – ähnlich wie der männliche Absender vom 26. Januar 198654 von einer „Schädigung“. Während allerdings der männliche Absender danach nicht weiter auf die Art der Schädigung eingeht, weist die Absenderin detailliert darauf hin (Reizung von Magen, Galle und Darm). Dieses Vorgehen findet sich in den Eingaben der Frauen immer wieder. Eine andere Frau schrieb 1991: Sehr geehrte Herren! Wie ich von der BARMER Ersatzkasse in Wuppertal erfuhr, arbeitet einer Ihrer Herren als Epidemiologe bzgl. Passivrauchens/Mitrauchens am Arbeitsplatz – wie z. B. mein Arbeitsplatz – Ich hatte 1989 Bronchitis mit Bluthusten, jetzt seit 2 ½ Mon. wieder eine so schwere Bronchitis. Sitze seit Herbst 1989 nur mit RAUCHERN im Arbeitszimmer. Habe sowieso tgl. Kopfschmerzen […] Jetzt vergehen meine Beschwerden nicht, kamen sogar wieder – und nachdem ich 1 ½ Wochen am Arbeitsplatz (Rauch) war. Was ist zu tun?55
Sie führt ebenfalls die Art der persönlichen Schädigung durch das Rauchen weiter aus, indem sie auf die Bronchitis und die Kopfschmerzen verweist. Gründe für die geschlechterspezifisch unterschiedlichen Inhalte Die geschlechterspezifischen Unterschiede in den Inhalten der Eingaben lassen sich auf mehrere Gründe zurückführen, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Zunächst sind Frauen seit der Etablierung der Gynäkologie ab den 1820er Jahren und der damit einhergehenden Medikalisierung des gesamten Komplexes um Menarche/Menstruation/Geburt seit Beginn des 20. Jahrhun53 BArch, Bestand B 208/577 (24.7.1986). 54 Siehe Anmerkung 49. 55 BArch, Bestand B 208/577 (14.2.1991). Hervorhebung im Original.
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 141
derts56 mehr ins medizinische System eingebunden als Männer. So wurden die regelmäßige ärztliche Untersuchung57 und das Sprechen über Gesundheit und Krankheit seit dem Beginn der Pubertät regelmäßig eingeübt und damit zur Normalität58. Hinzu kommt die Rolle als Hausfrau und Mutter, die der Frau einen Großteil der „care“-Arbeit innerhalb der Familie zuschrieb und immer noch zuschreibt.59 Zu diesen Haushaltsarbeiten gehören auch Tätigkeiten, die gesundheitliche Belange berühren, wie z. B. das Kochen für die Familie. Und insbesondere die Kindererziehung führt zu einer regelmäßigen Auseinandersetzung von Frauen mit den Themen Gesundheit und Krankheit. So zeigt etwa eine ältere Studie den größeren Einfluss der Mutter auf den Impfstatus des Kindes im Verhältnis zum Einfluss des Vaters. Folglich ist es also die Mutter, die sich um die gesundheitlichen Belange des Kindes kümmert.60 Und auch die Jungen erleben die Mütter als gesundheitskompetente Personen, so dass die weibliche Markierung des Themas intergenerationell weitergegeben wird. Als zusätzlicher Grund ist die geschlechterspezifische Sozialisation anzuführen: Der männliche Körper wird grobmotorisch und bewegungsintensiv sozialisiert in material- und raumexplorierenden Aktivitäten, leistungs- und funktionsbezogen: der weibliche Körper eher feinmotorisch und ästhetisch-attraktivitätsfördernd, durch Einwirkung von „Sozialisationsagenten“ und in Selbstbearbeitung.61
In diesem Zusammenhang wurden und werden Frauen, im Gegensatz zu Männern, auch vermehrt dazu angehalten, achtsam mit ihrem Körper umzugehen und sich gesundheitsbewusst zu verhalten. Die Gesundheitsorientierung ist also ein sehr zentraler Bestandteil der weiblichen Sozialisation. Dies trägt mit dazu bei, dass sich Frauen gesünder ernähren, weniger Alkohol trinken und mehr präventive und gesundheitsfördernde Angebote wahrnehmen.62 Klaus Hurrelmann spricht hierbei von einem gesundheitssensibleren und gesundheitszuträglicheren Verhalten der Frauen, welches in unserem Kulturkreis durch die vorherrschenden Geschlechterrollenbilder noch unterstützt werde.63 Eine frühzeitige Einbindung von Jungen bzw. Männern ins medizinische System, was regelmäßigen, insbesondere präventiven Arztkontakt mit einschließen würde, findet hingegen nicht statt. Ganz im Gegenteil sehen es männliche Rollenbilder vor, erst dann einen Arzt aufzusuchen, wenn der Körper nicht mehr „funktioniert“. Hinzu kommt, dass Männer eher eine Sozialisation hin zu Eigenschaften wie Härte und Stärke erfahren. So sind sicherlich viele der männlichen Absen56 57 58 59 60 61 62 63
Vgl. Wöllmann (2007). Dinges: Frauen (2007), S. 298. Vgl. Dinges (2006), S. 24. Vgl. Schleiermacher (1998), S. 49. Vgl. Fulton/Johnson/Tyroler (1965). Bilden (1991), S. 284. Siehe Anmerkung 29. Vgl. Hurrelmann (1996), S. 173.
142
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der der untersuchten Eingaben mit der Maxime „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ aufgewachsen und dazu angehalten worden, Schmerzsignale zu bagatellisieren und zu ignorieren. Das führt bei Männern zu einem funktionalen Körperverständnis. Diese Funktionalität ist aber in gewissem Maße auch gesellschaftlich erwünscht und wurde lange Zeit insbesondere im Militärdienst und auch heute noch bei der Ausübung gefährlicher Berufe geschätzt.64 Solange also der Körper, insbesondere hinsichtlich der Arbeits- und Leistungsfähigkeit, funktioniert, wird die persönliche Gesundheit von den Männern selbst nicht unbedingt thematisiert. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch der Ansatz von Martin Elbe, der die Vernachlässigung des Themas Gesundheit durch die Männer auf die immer noch vorherrschende pathogenetische Bedeutung von Gesundheit zurückführt. Demnach könne die Beschäftigung mit der Gesundheit zur Krankheitsvermeidung bereits als männliche Schwäche ausgelegt werden. Erst ein Paradigmenwechsel hin zu einer salutogenetischen Perspektive, die Gesundheit als Ressource zur Steigerung der eigenen Leistung auffasst, könne zu einer Verhaltensänderung der Männer führen.65 Die hier beschriebenen Geschlechterrollenbilder sind nicht als starre und unveränderbare Gegebenheiten zu verstehen. Sie unterliegen einem starken historischen Wandel, und gerade das Männlichkeitsleitbild hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Vergegenwärtigt man sich das Alter der Eingaben-Absender, so kann davon ausgegangen werden, dass ein Großteil dieser Männer noch im Geiste eines äußerst harten und leistungsorientierten Männlichkeitsleitbildes sozialisiert wurde. Erste Verunsicherungen dieses Leitbildes traten erst in der Generation der in der Zeit von 1970 bis 1989 Geborenen auf.66 Diese Alterskohorte findet sich aber in den Eingaben nur in sehr geringer Zahl als Absender wieder. Der Lebensbereich Gesundheit spielt also für Männer im Gegensatz zu den Frauen eine eher untergeordnete Rolle. Dies soll allerdings nicht heißen, dass Männer nicht in der Lage sind, über Gesundheit zu kommunizieren; für sie ist es nur längst nicht so normal wie für Frauen. Wie Susanne Hoffmann67 und Nicole Schweig68 gezeigt haben, kommunizieren Männer über ihre eigene Gesundheit durchaus auch detailliert. Allerdings tun sie das in Briefen und Autobiographien, die persönlich bekannte Menschen als Adressaten ausweisen. Lothar Böhnisch spricht bei diesem Verhalten von „Stummheit“: Mit dieser männlichen Eigenart, dem Prinzip der Stummheit, ist nicht gemeint, dass Männer nicht reden. Sie reden viel und wiederholt, ritualisiert, über alles Mögliche – Autos, Wetten, Technik, Frauen, Fußball, die Chefs, abwesende Konkurrenten etc. – nur nicht über sich selbst.69
64 65 66 67 68 69
Vgl. Dinges: Forschung (2007). Vgl. Elbe (2011), S. 105. Vgl. Dinges (2013), S. 40. Hoffmann (2010). Schweig (2009). Böhnisch (2013), S. 234. Hervorhebung im Original.
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 143
Es verwundert also nicht, wenn von Männern das Thema Gesundheit in Eingaben an staatliche Stellen oberflächlicher und nicht so ausführlich dargestellt wurde wie von Frauen. Schlussfolgerung Ausgehend von der geringeren Lebenserwartung, dem gesundheitsschädlicheren Verhalten und dem damit in Zusammenhang gebrachten vermeintlichen Desinteresse der Männer an ihrer eigenen Gesundheit wurde in diesem Beitrag aus historischer Perspektive gefragt, ob und, wenn ja, in welcher Weise Männer sich innerhalb von Eingaben für präventive Belange einsetzten. Es konnte trotz quellenkritischer Einschränkungen ein starkes Interesse der Männer an Themen der Prävention und Gesundheitsförderung gezeigt werden. Dabei bezog sich dieses Interesse nicht nur auf die klassischen Männerthemen wie den Alkoholkonsum, sondern z. B. auch auf Ernährungsfragen. Überraschenderweise blieb das zahlenmäßige Verhältnis der Geschlechter der Eingaben-Absender im Verlauf der Jahrzehnte äußerst stabil. So konnte ein vermuteter positiver Einfluss der Frauengesundheitsbewegung auf die Schreibrate der Frauen nicht nachgewiesen werden. Die Inhalte der Eingaben am Beispiel des Themenbereichs Rauchen wurden über die Schreibanlässe erschlossen. Der Schreibanlass „Bitte um Informationen“ war bei beiden Geschlechtern der mit Abstand häufigste. Innerhalb der Eingaben der Frauen waren die beiden anderen Schreibanlässe nahezu gleich verteilt, während hingegen bei den Männern die „Aufforderung zum staatlichen Handeln“ deutlich vor dem „Wunsch nach persönlicher Hilfe“ lag. Inhaltlich fordern die Männer eine Form des gesetzlichen Nichtraucherschutzes. Dabei argumentieren sie vielfältig und bedienen sich v. a. Argumenten aus den Bereichen der Justiz, der Wirtschaft und der Umweltpolitik. Die Gesundheit als naheliegendes Argument zum Schutz vor Passivrauchen wird von den Männern oft lediglich als ein Argument neben anderen angeführt. Innerhalb der Eingaben, die von Frauen verfasst wurden, nimmt die Gesundheit hingegen eine exponierte Stellung als Argument ein. Dieser unterschiedliche Umgang kann sowohl auf die verschiedenartige Sozialisation von Mädchen und Jungen als auch auf die damit zusammenhängenden Rollenbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit zurückgeführt werden. So wird Jungen verstärkt ein funktionales Körperverständnis vermittelt, welches dazu beiträgt, Gesundheit als etwas Gegebenes hinzunehmen und nur dann zu thematisieren, wenn diese eingeschränkt sein sollte. Mädchen hingegen erlernen ein reflexives Körperverständnis, welches noch durch den regelmäßigen präventiven Kontakt zum Gynäkologen verstärkt wird. Das Sprechen über ihre eigene Gesundheit wird so schon frühzeitig erlernt und eingeübt. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Männer sehr wohl ein Interesse an ihrer Gesundheit haben, ihnen allerdings die Thematisierung aufgrund gesellschaftlicher Rollenbilder nicht leichtfällt. Dies sollte bei der Initiierung und
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Umsetzung von Präventionsmaßnahmen berücksichtigt werden. Umso wichtiger erscheint es, Männer mit inhaltlich durchdachten, geschlechtersensiblen Präventionsangeboten ganz gezielt anzusprechen. Ein erstes positives Praxisbeispiel ist die Umsetzung der Rauchfrei-Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2003. Dort wurden erstmals zwei verschiedene Aufklärungsbroschüren für Jungen und Mädchen entworfen, die sich nicht nur im Layout, sondern auch in der Darstellung der Inhalte unterschieden und so gezielter auf die ungleichen Bedürfnisse von Jungen und Mädchen eingehen konnten. Leider ist diese Herangehensweise noch kein Standardvorgehen bei der Produktion von Aufklärungsmaterialien geworden.70 Bibliographie Archivalien Bundesarchiv Berlin (BArch) Bestand B 208/527 – Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie, Berlin – Gesundheitsgefährdung durch Passivrauchen (1982–1989) Bestand B 208/577 – Eingaben und Anfragen zur Bekämpfung der Nikotinsucht und zu den Gefahren des Passiv-Rauchens (1981–1991)
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70
Vgl. Altgeld (2007), S. 96.
Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 145 Dinges, Martin: Männergesundheit in historischer Perspektive: Die Gene erklären nur den kleineren Teil des Geschlechterunterschieds. In: Blickpunkt der Mann. Wissenschaftliches Journal für Männergesundheit 4 (2006), S. 21–24. Dinges, Martin: Was bringt die historische Forschung für die Diskussion zur Männergesundheit? In: Blickpunkt der Mann. Wissenschaftliches Journal für Männergesundheit 5 (2007), S. 6–9. Dinges, Martin: Immer schon 60 % Frauen in den Arztpraxen? Zur geschlechtsspezifischen Inanspruchnahme des medizinischen Angebotes (1600–2000). In: Dinges, Martin (Hg.): Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 – ca. 2000. (= Medizin, Geschichte und Gesellschaft, Beiheft 27) Stuttgart 2007, S. 295–322. Dinges, Martin: Männer, die beratungsresistenten Gesundheitsidioten? In: Blickpunkt der Mann. Wissenschaftliches Journal für Männergesundheit 7 (2009), S. 19–23. Dinges, Martin: Rauchen: gesundheitsgefährdend – und typisch „männlich“? Zum historischen Wandel geschlechtsspezifischer Zuschreibungen. In: Baader, Meike Sophia; Bilstein, Johannes; Tholen, Toni (Hg.): Erziehung, Bildung und Geschlecht. Männlichkeiten im Fokus der Gender-Studies. Heidelberg 2011, S. 129–145. Dinges, Martin: Wandel der Herausforderungen an Männer und Männlichkeit in Deutschland seit 1930. In: Stiehler, Matthias; Weißbach, Lothar (Hg.): Männergesundheitsbericht 2013. Im Fokus: Psychische Gesundheit. Bern 2013, S. 31–62. Elbe, Martin: Lebensstil, Lebensführung und Salutogenese: Zur Erklärung männlichen Gesundheitsverhaltens. In: Bezirksamt Lichtenberg von Berlin, Abteilung Familie, Jugend und Gesundheit, Amt für Gesundheit und Verbraucherschutz, Planungs- und Koordinierungsstelle Gesundheit (Hg.): Man(n), wie geht’s? Eine neue Perspektive für die Gesundheitsförderung. Lichtenberger Männergesundheitsbericht. Berlin 2011, S. 101–108. Elkeles, Thomas u. a. (Hg.): Prävention und Prophylaxe. Theorie und Praxis eines gesundheitspolitischen Grundmotivs in zwei deutschen Staaten 1949–1990. Berlin 1991. Elshtain, Jean Bethke: Public Man – Private Women. Women in Social and Political Thought. Princeton 1981. Elsner, Steffen H.: „Eingabewesen“ in Schleswig-Holstein – Rechtsgrundlage, Reform, Organisation und Praxis –. In: Bockhofer, Reinhard (Hg.): Mit Petitionen Politik verändern. Baden-Baden 1999, S. 222–246. Fenske, Michaela: Demokratie erschreiben. Bürgerbriefe und Petitionen als Medien politischer Kultur. 1950–1974. Frankfurt/Main; New York 2013. Frevert, Ute: Frauen auf dem Weg zur Gleichberechtigung – Hindernisse, Umleitungen, Einbahnstraßen. In: Broszat, Martin (Hg.): Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte. (= Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 61) München 1990, S. 113–130. Fulton, John T.; Johnson, Albert L.; Tyroler, Herman A.: Patterns of Preventive Health Behavior in Populations. In: Journal of Health and Human Behavior 6 (1965), S. 128–140. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied; Berlin 1962; Neuaufl. Frankfurt/Main 1990. Hähner-Rombach, Sylvelyn: Gesundheit und Krankheit im Spiegel von Petitionen an den Landtag von Baden-Württemberg 1946 bis 1980. (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 40) Stuttgart 2011. Hausen, Karin: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart 1976, S. 363–393. Hausen, Karin: Zigaretten und männlich-weibliche Turbulenzen in Deutschlands bürgerlicher Ordnung des Rauchens vor 1914. In: Flemming, Jens u. a. (Hg.): Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag. Kassel 2004, S. 152–178.
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Anfragen, Beschwerden und Eingaben zu Prävention und Gesundheitsförderung 147 Statistisches Bundesamt: Periodensterbetafeln für Deutschland. Früheres Bundesgebiet, neue Länder sowie die Bundesländer. 2009/2011. Wiesbaden 2012. Stöckel, Sigrid; Walter, Ulla (Hg.): Prävention im 20. Jahrhundert. Historische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen in Deutschland. Weinheim; München 2002. Tersch, Harald: Österreichische Selbstzeugnisse des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Eine Darstellung in Einzelbeiträgen. Wien; Köln; Weimar 1998. Wöllmann, Torsten: Zur Medikalisierung von Männlichkeiten. Das Beispiel Andrologie. In: Bereswill, Mechtild; Meuser, Michael; Scholz, Sylka (Hg.): Dimensionen der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit. Münster 2007, S. 169–185.
Alternative Medizin
„Krankheiten kommen kaum von naturgebundenen Mitteln“ – Naturgemäße Lebensweise und Prävention in der homöopathischen Laienbewegung zwischen 1950 und 1980 Daniel Walther
Einleitung Ein homöopathischer Laienverein war und ist auch heute noch ein Zusammenschluss von Menschen, die sich für eine Alternative zur Schulmedizin entschieden haben und durch den Austausch von Erfahrungen gegenseitig unterstützen sowie ihr eigenes Wissen fördern möchten. Mit diesem Ziel wurden viele, zum Teil noch heute existierende Laienvereine bereits Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet.1 Auch trugen die Vereine maßgeblich zur Popularisierung der homöopathischen Heilmethode bei. Es ist durchaus fraglich, ob die Homöopathie sich auch gegenwärtig eines so großen öffentlichen Interesses erfreuen würde2, hätte ihre Anwendung einzig und allein in den Händen homöopathischer Ärzte gelegen3. Allerdings war und ist die Behandlung von Krankheiten mittels Homöopathika beileibe nicht das einzige Aufgabenfeld eines homöopathischen Laienvereins, steht doch spätestens seit den 1920er Jahren vermehrt die Gesunderhaltung des Menschen im Vordergrund. Das hängt mit dem sich um diese Zeit wandelnden Krankheitspanorama zusammen. Zwar gelang die Eindämmung der einstigen Volksseuchen wie Tuberkulose, Typhus oder Diphtherie, die durch eine vermeintlich falsche Lebensweise hervorgerufenen Zivilisationskrankheiten befanden sich hingegen auf dem Vormarsch. Angesichts dieser veränderten Situation ging es den Vereinen nicht länger nur um Aufklärung über verschiedene Erkrankungen und um die Anleitung zur homöopathischen Selbstmedikation, sondern in erster Linie um die generelle Verhütung einer verhaltensbedingten Gesundheitsschädigung. „Prävention“ war fortan das neue Schlagwort, das sich zum einen in der Anschaffung von Hilfsmitteln, die sowohl therapeutisch als auch vorbeugend verwendet werden konnten, niederschlug. Zum anderen rückten allgemeine „Vorbeugungsmaßregeln“4 stärker in den Mittelpunkt der zahlrei1 2 3 4
Wolff (1989), S. 75 ff. Zur gegenwärtigen Popularität der Homöopathie siehe Dinges (2012). Zur Geschichte der alternativen Heilmethoden siehe im Allgemeinen Jütte (1996), für die Homöopathie im Besonderen: S. 23–27, 32–65. Fischle, Karl: Frühjahrskrankheiten und Frühjahrskuren. IGM, Varia 376, 13.4.1973.
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Daniel Walther
chen Vorträge, die sich neben verschiedenen Krankheiten vor allem deren Verhütung mittels einer gesunden Lebensführung annahmen. In diesem Beitrag frage ich am Beispiel des homöopathischen Laienvereins Stuttgart-Wangen nach den konkreten Praktiken und Verhaltensweisen, die den Mitgliedern zur Erhaltung ihrer Gesundheit vermittelt wurden. Obwohl die homöopathische Laienbewegung kein Phänomen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, ihre Wurzeln vielmehr bis ins Jahr 1832 zurückreichen5, möchte ich mich im Rahmen der Untersuchung auf den Zeitraum zwischen der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und dem Ende der 1970er Jahre beschränken. Dies hat zwei Gründe: Die bald nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Konsolidierung einer demokratischen Regierungsform mit sozialer Marktwirtschaft hatte im Westen Deutschlands (wie auch zeitgleich unter anderen Bedingungen in der DDR) beträchtliche soziokulturelle Umbrüche zur Folge. Der Rhythmus des alltäglichen Lebens veränderte sich zusehends; die Folgen der fortschreitenden Technisierung, Modernisierung und Ökonomisierung waren weithin spürbar und trugen zu einem gestiegenen Lebensstandard bei. Im Vordergrund stand das Streben nach „Wohlstand und Behagen“6, die kriegsbedingten Erfahrungen von Entbehrung und Leid, Hunger und Tod verschwanden allmählich bzw. wurden aus dem alltäglichen Bewusstsein verdrängt. Langfristig erwies sich der allgemeine Wohlstand jedoch als eine Art Januskopf, denn er führte auch zu einer weiteren Zunahme der schon erwähnten Zivilisationskrankheiten, allen voran koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck, Diabetes und Übergewicht. Als zeitlicher Endpunkt der Untersuchung lässt sich kein genaues Datum festmachen, sondern vielmehr eine einschneidende Umbruchphase, die sich durch den „Übergang von einer Heiltechnik zu einer Heilkunde, von einer rein ökonomisch informierten zu einer eher ökologisch orientierten Medizin, zu einer die Mitwelt, Umwelt und die Innenwelten des Menschen umfassenden Medizinischen Ökologie“7 charakterisieren lässt. Patrick Kury konstatiert in seiner Habilitationsschrift über den „überforderten Menschen“ die plötzliche Popularisierung und Massenmedialisierung des Stress-Diskurses in den 1970er Jahren: Die Öffentlichkeit nahm Stress als eine Ansammlung äußerer Einflüsse wahr, die mit dem Verlust von Ausgleich und Selbstbestimmung in Verbindung gebracht wurden. In Abgrenzung dazu entwickelte sich die ganzheitlich geprägte Lebensqualität zu einem erstrebenswerten Ideal, das eben jene Mit-, Um- und Innenwelt umfasst und Ausgewogenheit und Zufriedenheit in den Mittelpunkt stellt. Die Gründe für die gestiegene Sensibilität sieht Kury in einem gewandelten „Mensch-Umwelt-Verhältnis“, das „neue Aspekte einer Wohlfahrt wie Gesundheit, persönliche Entwicklung, Arbeitsplatzzufriedenheit, Freizeit, Umwelt, kulturelle Entfaltung“8 zu zentralen Themen machte. Letztlich wirkten diese Aspekte, verbunden mit der genannten Sensi5 6 7 8
Vgl. Baschin (2012), S. 211 ff.; Wolff (1989), S. 48–62. Schildt/Siegfried (2009), S. 98. Schipperges (1980), S. 128. Kury (2012), S. 245.
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bilität für „psychosoziale Zusammenhänge und psychosoziale Problemfelder“9, wohl auch am allmählichen Entstehen einer „Gesundheitsgesellschaft“ mit, die bis in die Gegenwart Bestand hat10. Um wieder auf den Zeitraum zwischen 1950 und 1980 zu sprechen zu kommen, sei noch einmal auf den vorhin zitierten Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges verwiesen. Im November 1979 referierte er auf einem Kongress über „Gesundheit in Selbstverantwortung“ zum Thema Gesundheitsbewegung und kam dabei zu dem Schluss, dass die naturwissenschaftlich-technische Medizin an ihre Grenzen gekommen und nicht geeignet sei, um die überhandnehmenden Wohlstandsleiden wirksam einzudämmen. Stattdessen müsse eine „anthropologisch zu begründende allgemeine Gesundheitsbildung“11 gefördert werden, die sich inhaltlich an das alte, alle Lebensbereiche des Menschen umfassende Sechspunkte-Programm der klassischen Diätetik anlehne, freilich in modifizierter Form. So umfasse „Gesundheit“ zuvörderst eine ausreichende Energieversorgung unter Berücksichtigung des globalen Klimas. Auch müsse eine qualitativ wie quantitativ ausgewogene Ernährung für alle Menschen gewährleistet und durchgesetzt werden, um Über- und Untergewicht und die damit in Zusammenhang stehenden Erkrankungen zu verhüten. Drittens forderte Schipperges die „Humanisierung der Arbeitswelt“, andererseits aber auch einen verantwortungsbewussten Umgang mit Freizeit, die vornehmlich der Erholung dienen solle. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für eine allgemeine Gesundheitsbildung sei weiterhin ein physiologisches Grundverständnis, das zu einer adäquaten Regulierung des Stoffwechsels befähige und ebenso die Sexualhygiene mit einschließe. Decken die vorhergehenden Bereiche im Wesentlichen die Kultivierung des physisch-organischen Bereichs des menschlichen Daseins ab, so nimmt sich der sechste der Affekte, Emotionen und psychosozialen Komponenten an, die ebenfalls maßgeblichen Einfluss auf die Gesundheit oder zumindest das Wohlbefinden eines Menschen haben können. Doch was hat Schipperges’ modifiziertes Sechspunkte-Programm von 1979 mit dem Thema des vorliegenden Beitrags zu tun? Der Rückgriff auf dieses Gesundheitskonzept, das gerade auch den erwähnten Übergang von der „Heiltechnik zur Heilkunde“ markiert, soll der Präzisierung der Fragestellung dienen. Denn einerseits möchte ich wissen, ob und inwieweit die homöopathischen Laienvereine bereits vor 1980 einem solchen, möglichst alle Bereiche des menschlichen Daseins abdeckenden Programm folgten. Träfe eine Übereinstimmung zu, so schlösse sich andererseits eine zweite Frage an, nämlich ob der Verein sogar als eine Art Prototyp der zukünftigen – oder aus heutiger Sicht: gegenwärtigen – Gesundheitsgesellschaft12 interpretiert werden könnte. Zuletzt noch einige Worte zur Quellenlage: Der Beitrag stützt sich exemplarisch auf den homöopathischen Laienverein Stuttgart-Wangen, dessen Ver9 10 11 12
Kury (2012), S. 248. Vgl. Kickbusch (2006); Wolff (2010). Schipperges (1980), S. 129. Vgl. Kickbusch (2006).
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einsprotokolle die Grundlage für die vorliegende Untersuchung bilden. In den Protokollen sind nicht nur die vielfältigen Vereinsaktivitäten wie Ausflüge und Vorträge sowie deren Teilnehmerzahl festgehalten, sondern in vielen Fällen auch zusammenfassende Artikel der Untertürkheimer Zeitung eingeklebt.13 Sie geben detailliert den Inhalt der Veranstaltungen wieder und damit einen umfassenden Einblick in das vom Verein verfolgte Gesundheits- und Krankheitskonzept. Weiteren Aufschluss gewährt darüber hinaus die vom Dachverband „Hahnemannia“ publizierte Zeitschrift Homöopathische Monatsblätter, die sich ab 1974 in Modernes Leben, natürliches Heilen (man beachte den angepassten, aussagekräftigen Titel) umbenannte. Sie erschien, dem Namen nach, monatlich und wurde als Vereinsorgan von den Mitgliedern automatisch mit ihrer Mitgliedschaft abonniert. So war es ihnen möglich, das bei einem Vortrag Gehörte zu Hause im Selbststudium abermals zu rekapitulieren und das Wissen über spezifische Themen zu vertiefen. Für den Untersuchungszeitraum ausgewertet und den Protokollen vergleichend-ergänzend zur Seite gestellt wurden die Jahre 1955, 1960, 1970 und 1980. Zum Konzept von Gesundheit und Krankheit in der homöopathischen Laienbewegung Als Anfang der 1950er Jahre die Vereinsarbeit wiederaufgenommen wurde, hatte sich ihr Schwerpunkt gegenüber den Zielen der Jahrhundertwende14 verlagert von der Tertiär- zur Primärprävention: Im Vordergrund stand nicht länger die Behandlung akuter bzw. chronisch gewordener Krankheiten, son13
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Werden im Beitrag Referenten wörtlich zitiert, so habe ich das einst Gesagte den im Protokoll eingeklebten Zeitungsartikeln entnommen. Der Vollständigkeit und Richtigkeit halber sei jedoch erwähnt, dass der eigentliche Referent dadurch nur indirekt wiedergegeben wurde. Die Vermutung liegt allerdings nahe, dass die Artikel vom Schriftführer des Vereins verfasst wurden. Denn einerseits wusste der Autor bestens über die Veranstaltungen Bescheid und andererseits deckt sich sein Kürzel „del“ weitgehend mit dem Nachnamen des Schriftführers (Denneler). Eine diesbezügliche Anfrage im Kreisarchiv Esslingen blieb leider ohne positives Ergebnis. Laut Gründungsstatut war der homöopathische Verein Stuttgart-Wangen als reiner Selbsthilfeverein gedacht, damit „Einer dem Andern so gut wie möglich mit Rath und Tath beizustehen“ (IGM, Varia 370, 20.2.1889) in der Lage sei. Zu diesem Zweck schaffte der Vorstand eigens eine Vereinsapotheke und eine stetig erweiterte Bibliothek an, um den Mitgliedern die Möglichkeit der Selbstmedikation und der häuslichen Weiterbildung zu bieten. Die Vereinsbibliothek erfreute sich allgemeiner Beliebtheit und bestand bis zur Auflösung des Vereins. Mit dem Verkaufs- bzw. Abgabeverbot von Medikamenten Ende 1926 (IGM, Varia 372, 29.5./18.12.1926) fiel auch die erwähnte Verlagerung des Schwerpunkts zusammen: Statt der Therapie diverser Krankheiten mittels homöopathischer Medikamente stand fortan ihre Verhütung im Vordergrund. Verstärkt wurde nun auf die Aktivierung der individuellen Abwehrkräfte durch eine gesunde und vorbeugende Lebensweise abgezielt und man erteilte Ratschläge, wie eine solche in Eigeninitiative zu bewerkstelligen sei.
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dern die Minimierung äußerer Einflüsse, die aus Sicht der Vereinsleitung maßgeblich zur Entstehung neuartiger, teils chronischer Krankheiten beitrugen. Bereits 1951, also ein Jahr nach Wiedergründung des Vereins StuttgartWangen, formulierte ein homöopathischer Arzt die richtungsweisende, wenn auch sprachlich schlecht formulierte Sentenz: „Wichtiger wie heilen ist die Lebenspflege.“15 Folgerichtig ermahnten Vereinsleitung sowie Referenten ihre Mitglieder und Zuhörer, „keinesfalls der Lauheit, erst in kranken Tagen an Heilung zu denken, zu verfallen, sondern in gesunden Tagen schon Vorsorge zu treffen“.16 Um jedoch entsprechende Lebensregeln definieren zu können, mussten zunächst die Hindernisse oder Hemmnisse einer gesunden Lebensweise ausgemacht werden. In Anlehnung und Anknüpfung an die Lebensreformbewegung sahen die Laienhomöopathen in der Moderne bzw. der Technisierung des einst überschaubaren Alltags das größte Hindernis einer vollkommenen, physischen wie psychischen Gesundheit. Seit langem teilten die Akteure der Laienbewegung17 die Überzeugung, dass die von anhaltender Ökonomisierung und Technisierung beherrschte Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft nur schwer zu erfüllende Anforderungen an den biologisch nicht angepassten Menschen stelle. 1955 konstatierte der Gartenbaumeister Rudolph im Rahmen seines Vortrags über biologische Düngungsmethoden, der gemeinsam mit dem Obst- und Gartenbauverein Wangen veranstaltet wurde: „Die Seelen- und Geisteskräfte des Großstadtmenschen sind durch das nervenaufreibende Tempo vielfach der Verkümmerung preisgegeben und das Leben verliert dadurch teilweise seinen Daseinsinhalt.“18 In ähnlich resignierter Weise beklagte knapp 20 Jahre später ein homöopathischer Arzt namens Victor Mayer die Unmündigkeit des modernen Menschen: Früher hat die Natur uns beherrscht, heute stehen wir vor der Tatsache, daß der Mensch versucht, die Natur zu beherrschen. Alte Weisheiten, welche Bestand hatten, werden von Erkenntnissen der Neuzeit verdrängt. Niemand ist in der Lage, diesen Zustand zu übersehen, man versucht vielmehr, mit technischen und wissenschaftlichen Mitteln sich selbst wieder in den Griff zu bekommen.19
Der moderne Mensch wird diesem recht kulturpessimistischen Verständnis nach seiner natürlichen Umgebung entrissen und versucht sich an die veränderten Gegebenheiten anzupassen. Die Folgen sind „Verkümmerung“ oder Degeneration der physischen wie psychischen Leistungsfähigkeit sowie Hilflosigkeit und Selbsttäuschung. Nicht gesichert ist, welcher philosophischen und 15 16 17
18 19
Dr. Lumpp: Geisteskrankheiten und Arterienverkalkung. IGM, Varia 374, 24.11.1951. Wolf, Immanuel: Allgemeines über die homöopathische Heillehre. IGM, Varia 374, 17.10.1953. Das sind für unseren Zeitraum vor allem die Präsidenten der „Hahnemannia“, Immanuel Wolf (1870–1964) und Karl Fischle (1897–1987), sowie die homöopathischen Ärzte, die als Referenten und Autoren von Artikeln der Homöopathischen Monatsblätter ihre gesellschaftskritischen Ansichten in die Vereine trugen. Herr Rudolph: Sinn und Zweck der biologischen Düngungsmethoden. IGM, Varia 375, 5.2.1955. Dr. Mayer: Dein Erbe – dein Leben – dein Schicksal. IGM, Varia 376, 18.2.1972.
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literarischen Vorbilder sich der Arzt bediente oder ob er selbst zu dieser Sichtweise gelangte. Auffallend jedoch ist seine gedankliche Nähe zu einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten, die in der Moderne den vermeintlichen und allmählichen Niedergang der Menschheit zu erkennen glaubten.20 Die oben angeführten Zitate aus den Jahren 1955 und 1972 stehen exemplarisch für etliche ähnliche Äußerungen und zeigen, dass Kulturpessimismus in der homöopathischen Laienbewegung einerseits biologisch-genetisch begründet wurde, andererseits von einer gewissen Kontinuität geprägt war. Vor allem aber sah man in der vermeintlichen Entfremdung des Menschen von einer naturorientierten Lebensweise die Ursache der Entstehung von Krankheiten. Es fällt auf, dass die Moderne-Kritik der Homöopathen stark den Inhalten und Forderungen der Lebensreform21 ähnelte. So sahen beide die Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes von den sozioökonomischen Auswirkungen der Industrialisierung bzw. der damit einhergehenden strukturellen Gesellschaftsveränderung verursacht. Angesichts dieser Umstände maß die Lebensreformbewegung den Ernährungsgewohnheiten – die quantitativ zu-, qualitativ aber vermeintlich abnahmen – große Bedeutung zu. Viele Lebensmittel seien zunehmend „behandelt“, also weiterverarbeitet oder gar künstlich hergestellt (Surrogatprodukte, Konserven), würden dadurch an Gehalt verlieren und letztlich zu einer Fehl- und Mangelernährung führen. Neben anderen Bereichen wie Umweltschutz, Pädagogik oder Kleidung setzten sich die Lebensreformer deshalb besonders für die Einschränkung des Fleischkonsums, den vermehrten Verzehr von Obst und Gemüse sowie Vollkornprodukten und eben die Verwendung möglichst naturbelassener Nahrungsmittel ein.22 In gedanklicher Fortführung dieser Kritik brachte – wohlgemerkt 1955 – der bereits zitierte Gartenbaumeister die Nachteile von Obst oder Gemüse auf den Punkt, die mit Kunstdünger angebaut worden waren: Chemische Produkte bringen wohl äußerliche Erfolge, aber der Wert der Frucht sinkt im Gegensatz zur naturgebundenen Entwicklung der Früchte qualitätsmäßig ab. Die Pflanze ist ein Lebewesen nach eigenen Gesetzen, wer sie mißachtet, stört die Natur. […] Den auf künstlichem Wege gezüchteten Pflanzen fehlen aber in hohem Maße die Naturwirkstoffe, die erforderlich und die erste Voraussetzung zur Gesundernährung (Gesunderhaltung) des Menschen sind.23
Als drei Jahre später, am 21. Dezember 1958, das neue Lebensmittelgesetz im Bundesgesetzblatt verkündet wurde, sahen sowohl die geistigen Erben der Lebensreform als auch die Protagonisten der homöopathischen Laienbewegung endlich eine jahrzehntealte Forderung erfüllt. So wurde vom Gesetzgeber bestimmt, dass binnen eines Jahres Lebensmittel keine Fremdstoffe mehr enthal20 Zum deutsch-französischen Degenerationsdiskurs siehe Weingart/Kroll/Bayertz (1988). 21 Zur Lebensreform als Gegenbewegung siehe Baumgartner (1992), S. 19 ff.; Barlösius (1997). 22 Baumgartner (1992), S. 77. 23 Herr Rudolph: Sinn und Zweck der biologischen Düngungsmethoden. IGM, Varia 375, 5.2.1955.
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ten durften, deren Unschädlichkeit nicht bewiesen war. Konnte dieser Beweis erbracht werden, so durften sie zwar verwendet, mussten aber in jedem Fall gekennzeichnet werden, so dass der Verbraucher unterscheiden konnte zwischen „reinen“, „natürlichen“ bzw. „diätetisch wertvollen“ Produkten und mit chemischen Zusatz-, Farb- oder Konservierungsstoffen behandelten.24 Über die Lebensmittel-Novelle berichtete ausführlich und durchaus kritisch der damalige Vorsitzende des Süddeutschen Verbandes für Homöopathie und Lebenspflege25, Karl Fischle. Er warf der Regierung und der beteiligten Wirtschaft vor, die neue Regelung nicht konsequent genug umzusetzen, und hielt seine Leserschaft zur strengen Beobachtung der weiteren Entwicklung an.26 Auch betonte er, dass es mit der strengeren Kontrolle der Lebensmittel noch lange nicht getan sei: So ist ein Gesetz, das die Reinhaltung der Luft von Rauch, Ruß, schädlichen Abgasen usw. gewährleistet, ebenfalls wichtig und lebensnotwendig. […] Weiter ist ebenso wichtig ein Gesetz, das für eine Reinhaltung unserer Gewässer sorgt und sie wieder rein und sauber macht, das die Gefahr der radioaktiven Schädigung durch und [sic!] in der Luft und im Wasser, auch bei der nur friedlichen Anwendung der Kernenergie, bannt, denn radioaktiv verschmutzte Luft und Wasser schädigen ganz besonders auch Lebensmittel […]. Und nicht zuletzt ist es notwendig, den Menschen und seine Gesundheit vor übergroßem Lärm zu schützen.27
Zum Ausdruck kommt hier das dezidiert holistisch geprägte Gesundheitsverständnis der Laienhomöopathen, das den Menschen in unmittelbare Beziehung zu der ihn umgebenden Umwelt setzt. Ist sie gesund, das heißt frei von Schadstoffen, Abgasen, Lärm und sonstigen Giften, so sind auch keine Gefahren für den menschlichen Körper zu erwarten – vorausgesetzt, er lebt im rhythmischen Einklang mit der Natur. So weit der Exkurs zur Ernährung, der Positionierung der Laienbewegung und ihrer, was die Kulturkritik betrifft, ideellen Vorgänger. Als Zwischenfazit gilt an dieser Stelle festzuhalten, dass Künstlichkeit, Ökonomisierung und Technisierung einen Prozess definier(t)en, durch dessen Dynamik der Mensch – im Rousseauschen Sinne – immer weiter von seinem „Naturzustand“ entfernt und letztlich, durch „Verkümmerung“ seiner „Seelen- und Geisteskräfte“, (chronisch) krank werde. Es lag also nahe, in diesem Prozess auch den Ursprung somatischer Erkrankungen zu suchen28, was spätestens 1966 im Rahmen eines Vortrags über „Krankheitserkennung“ geschah. Der Laie Jakob Schulz strich heraus, dass
24 25 26 27 28
Vgl. Fischle (1960), S. 1 ff. Zur Organisation der homöopathischen Laienbewegung siehe Wolff (1989), S. 48 ff. Fischle (1960), S. 3. Fischle (1960), S. 3 f. Kulturkritik im Sinne einer Anklage von Konsum und Leistungsprinzip war nicht alleinige Sache der homöopathischen Laienbewegung, auch Mediziner und Psychologen wiesen auf eine Korrelation von sozioökonomischem Wandel und dem Anstieg von Zivilisationskrankheiten hin. Eine kurze Übersicht über „Alte und neue Kulturkritik im Zeitalter von Wirtschaftswachstum und Prosperität“ bietet Kury (2012), S. 146–155.
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Daniel Walther Krankheitserscheinungen und ihre Erreger […] kaum von naturgebundenen Mitteln [kommen], sondern [sie] haben ihren Ursprung fast ausnahmslos auf der Seite unseres hektischen Zeitalters und der beeinflussenden Umgebung unserer wirtschaftlichen Industrialisierung. „Zurück zur Natur“ muß der Grundsatz bei jeder sich bietenden Gelegenheit lauten.29
Waren die bisherigen Beispiele mehr theoretisch-naturphilosophischer Art, enthält dieses Zitat nun eine erste (wenn auch noch diffuse) Antwort auf die Frage, wie man in der Praxis (vornehmlich verhaltensbedingten) Krankheiten vorbeugen bzw. sich vor ihnen schützen konnte. „Zurück zur Natur“ hieß demnach die neue alte Devise, die schon 1811 John Frank Newton (1770–1837) zur naturalistisch geprägten Grundlage seines Buches „Return to nature“ gemacht hatte.30 Ihr liegt die laienätiologische Annahme zugrunde, dass der naturgemäß und ganzheitlich orientiert lebende Mensch erst gar nicht mit solchen Faktoren in Berührung kommt, die seiner Gesundheit abträglich sind. Aber: Eine derartig antimoderne und nicht „einseitig auf Leistung und Konsum ausgerichtete Lebensweise“31 musste angesichts des hektischen Zeitalters nur bedingt umsetzbar gewesen sein. Denn „Zurück zur Natur“ konnte nur schwerlich bedeuten, sich dem „hektischen Zeitalter“ und den Gesetzen der Industriegesellschaft gänzlich zu entziehen. Die konsequente Realisierung dieses Postulats wäre einem Dasein als Selbstversorger in der Abgeschiedenheit gleichgekommen, was angesichts der mittelständischen Vereinsstruktur sicher nicht im Sinne der meisten Mitglieder gewesen sein dürfte. Die Partizipation am öffentlichen Leben, das Profitieren von zivilisatorischen Errungenschaften, das bürgerliche Ideal eines Eigenheims, vor dem ein eigenes Auto steht32, all das sollte auch möglich sein, ohne seine körperliche wie seelische Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Der Unterschied zwischen ‚gesund‘ und ‚krank‘ manifestierte sich also in dem kleinen, aber entscheidenden Wort „einseitig“: Eine praktikable und erfolgversprechende Lösung dieses offensichtlichen Widerspruchs zielte auf die Kompensation pathogener Faktoren bzw. auf die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen gesunder Natur und krankmachender Moderne ab. Folgerichtig bürgerte sich der Begriff der „Vorbeugungsmaßregeln“ ein, durch die „bei entsprechender Beachtung […] der Gesundheit ein nicht zu unterschätzender Dienst erwiesen werden“33 könne. Damit ist gleichsam auch das grundlegende salutogenetische Konzept umrissen, dem die homöopathische Laienbewegung im Allgemeinen und in unserem besonderen Fall der Laienverein Stuttgart-Wangen folgen sollten. Wie es konkret in der Praxis Anwendung fand, möchte ich im folgenden Abschnitt anhand der vom Verein organisierten Veranstaltungen sowie einiger Artikel 29 Schulz, Jakob: Krankheitserkennung und Behandlung durch die Homöopathie mit der Grundfrage: Wie können wir unsere Gesundheit erhalten? IGM, Varia 375, 16.4.1966. 30 Baumgartner (1992), S. 21. 31 Kury (2012), S. 146. 32 Zur Kulturgeschichte der Konsumgesellschaft im Untersuchungszeitraum siehe Schildt/ Siegfried (2009), S. 98–331. 33 Fischle, Karl: Frühjahrskrankheiten und Frühjahrskuren. IGM, Varia 376, 13.4.1973.
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der Homöopathischen Monatsblätter bzw. der Folgezeitschrift Modernes Leben – natürliches Heilen und der darin vermittelten Inhalte zeigen. Die praktische Umsetzung des Gesundheitskonzepts – ein mögliches Vorbild? Seit der Gründung des Vereins Ende des 19. Jahrhunderts verlagerte sich dessen Schwerpunkt erheblich. Bestritt zu Beginn die kurative Ausrichtung den Löwenanteil der Vereinsarbeit, so spielte die Primärprävention im Laufe der Jahrzehnte eine immer wichtiger werdende und nach 1945 schließlich die maßgebende Rolle. Der Verein sah sich selbst als im „Dienste der Volksgesundheit“34 agierend und sein vornehmliches Ziel in der Erziehung der Mitglieder sowie der Öffentlichkeit zu achtsamen, gesundheitsbewussten Individuen – ein Selbstbild, zu dessen Entstehung auch die Neue Deutsche Heilkunde der Nationalsozialisten beigetragen haben mag, die den alternativmedizinischen Bewegungen aufgrund ihres Fokus auf die Gesunderhaltung und damit auch Erhaltung der Wehrfähigkeit einige Bedeutung zusprach35. Das Hauptinstrumentarium zur Aufklärung der Mitglieder bzw. des Volkes waren auch nach 1945 zweifelsohne die vielfältigen vereinsinternen oder teils auch öffentlichen Vorträge. Nahezu ausschließlich handelten sie von den fünf großen Themenkomplexen: „Ernährung und Verhaltensregeln im Alltag“ (hierbei ging es primär um die Vorbeugung von Krankheiten, um konkrete Ratschläge wie Aufenthalt im Freien, tägliche Bewegung), „Sensibilisierung“ (beispielsweise für die Gefahren des Tabakkonsums oder gesundheitsschädliche Stoffe in Arzneien und Nahrungsmitteln), „Aufklärung über Körperfunktionen“ (etwa über das Verdauungssystem, die menschliche Anatomie, den Muskelapparat), „Krankheitstypen“ (Erkältungs-, Hautkrankheiten, Rheuma, Krebs oder Erkrankungen des Verdauungstrakts) und deren Symptome sowie ihre wirksame „Behandlung“ mit Hilfe der Homöopathie oder Naturheilkunde (Angabe von geeigneten Medikamenten, Informationen zu alternativmedizinischen Praktiken wie Akupunktur, Ayurveda, Autogenes Training u. a.). Auffallend ist, dass von den Fachreferenten häufig Bezug zur Antike genommen wurde, um die lange Tradition und den Stellenwert einer natürlichen Lebensweise historisch zu untermauern. Vergleicht man die Inhalte der Vorträge mit dem Sechspunkte-Programm der klassisch-antiken Diätetik nach Hippokrates und Galen36, so finden sich etliche Parallelen, wie etwa die Bedeutung eines erholsamen Schlafs, von ausreichender Bewegung an der frischen Luft oder der fortwährenden Anregung des Gemüts durch geistige Betä-
34 Dr. Lumpp: Vitamine und Hormone. IGM, Varia 374, 28.3.1953. 35 Karrasch (1997), S. 173. 36 Zur Diätetik siehe Henkelmann (1981); Melzer (2003); Schäfer (2008); Schipperges (1985).
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tigung. Kurz, beide betonten in allen Lebenslagen die Einhaltung eines gesunden Gleichgewichts, das negative Einflüsse kompensiert und positive fördert. Die folgende Untersuchung der Vermittlung gesundheitserhaltender Praktiken orientiert sich allerdings nicht an den Regeln der klassischen Diätetik, da die vom Verein engagierten Redner zwar gelegentlich auf die Antike verwiesen, sich aber zwischen 1950 und 1980 nur ein einziges Mal auf Hippokrates bezogen und dann auch nur auf zwei (Luft, Nahrung)37 der sechs „Res non naturales“. Auch halte ich es für nicht zielführend, die oben angeführten und kurz umrissenen Themenkomplexe (Ernährung, Sensibilisierung, Aufklärung, Krankheitstypen, Therapie) zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu machen. Mit dieser Systematisierung gelingt es zwar, allen Facetten der vermittelten Gesunderhaltung gerecht zu werden. Eine präzise Darstellung der konkreten, krankheitsvorbeugend wirkenden Praktiken erscheint mir aufgrund der Fülle an Informationen jedoch nur bedingt möglich. Stattdessen möchte ich aus dem Zeitschriftenartikel und Vorträge umfassenden Quellenkorpus jene Informationen herausgreifen, die ganz allgemein auf eine vorbeugende und gesunde Lebensweise abzielen. In einem zweiten Schritt gehe ich dann auf den nicht unwesentlichen Bereich der Vereinsgeselligkeit ein. Obwohl sie auf den ersten Blick scheinbar wenig mit Prävention und Gesundheit zu tun hat, leisteten Vereinsfeste, Ausflüge und Versammlungen meiner Auffassung nach einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für das körperlich-seelische Wohlbefinden der Mitglieder. Allgemeine, vorbeugende Lebensweise Ein praktikables Gesundheitskonzept musste auf Vermeidung oder wenigstens auf einen positiven Ausgleich bedacht sein, wollte es der Schädlichkeit von gesundheitsgefährdenden Umwelteinflüssen entgegentreten. Diesem Anspruch wurde die auf die Lebensreformbewegung zurückgehende „naturgemäße Lebensführung“38 gerecht, die – gemessen am häufigen Gebrauch dieses Terminus – fortan als eine Art Motto der homöopathischen Laienbewegung dienen sollte. „Naturgemäß leben“ bedeutete an erster Stelle, möglichst alle äußeren Einflüsse, die gesundheitsschädigend wirken konnten, zu vermeiden. An zweiter Stelle stand dicht gefolgt die Substitution jener schädlichen Einflüsse mit Verhaltensweisen, die die Gesundheit erhielten und förderten. Die Durchsicht der homöopathischen Vorträge und Zeitschriftenartikel, die sich im Untersuchungszeitraum explizit einer naturgemäßen Lebensweise widmeten, ergab dabei insgesamt vier inhaltliche Schwerpunkte: Um die Entstehung von diversen Erkrankungen zu verhüten, sollten die Mitglieder bzw. die Adressaten der Laienbewegung auf eine naturgebundene, ausgewogene, 37
Schroer, Gertrud: Unsere Nahrungsmittel sollten Heilmittel und unsere Heilmittel Nahrungsmittel sein. IGM, Varia 375, 21.11.1964. 38 Zur naturgemäßen Lebensweise siehe Barlösius (1997); Fritzen (2006); Heyll (2006); Regin (1995).
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fleischarme und nährstoffreiche Ernährung achten. Einer berufsbedingt einseitigen Belastung des Bewegungsapparates beugten sie durch tägliche und ausreichende Bewegung des Körpers vor, am besten in sauerstoffreicher Umgebung und verbunden mit der richtigen, entgiftenden Atmung. Dem Ansatz der Ganzheitlichkeit gemäß legten die Laienhomöopathen darüber hinaus gesteigerten Wert auf die positive Beeinflussung der Psyche. Um angesichts der nervenaufreibenden Hektik des Alltags nicht auf der Strecke zu bleiben und letztlich depressiv zu werden, seien Regeneration, Ruhe, Entspannung und eine erholsame Freizeit wichtig, was dementsprechend oft thematisiert wurde. Den Anfang der nun folgenden Darstellung bestreitet der qualitativ wie quantitativ wichtigste Teil der naturgemäßen Lebensführung39, die Ernährung. Immer wieder wird in den ernährungsbezogenen Artikeln und Berichten auf eine vollwertige Ernährung40 als „Kernpunkt einer gesunden Lebensweise“41 verwiesen. So seien Vollkornprodukte wie Brot, Zwieback oder Haferflocken „dem rein weiß ausgebleichten Mehl“42 in jedem Fall vorzuziehen, da sie genügend Nährstoffe enthielten und verdauungsfördernd seien43. Mehrfach empfohlen wurde auch der Genuss von frischen, ungekochten Obst- und Gemüsesorten, Bienenhonig (vorbeugend vor allem für Kinder44), Obstsäften und eiweißhaltigen Nahrungsmitteln wie Quark, Käse, Fisch und Fleisch. Über die Häufigkeit von fleischreichen Mahlzeiten wurden den Mitgliedern und Lesern keine Vorschriften gemacht, allerdings sollte beim Kochen auf tierische Fette verzichtet45 und im Hinblick auf Herz- und Kreislaufkrankheiten die Höchstmenge von „75 g Gesamtfett am Tage“46 eingehalten werden. „Gesundheitliche Nachteile“ seien darüber hinaus von weißem Zucker zu erwarten, besser geeignet sei Roh- oder Traubenzucker.47 Die Überzeugung, dass nicht natürliche Stoffe krankheitserregend wirken können, schlug sich wiederum darin nieder, dass „chemisch bearbeitete Nahrungsmittel“ vermieden werden sollten, „desgleichen Obst, welches 20- bis 30mal bespritzt wurde, um der Frucht ein elegantes Aussehen zu geben, wobei aber die vitaminischen Wertstoffe größtenteils zerstört wurden“.48 Auch riet man vom Gebrauch starker Abführmittel ab und stattdessen zu Weizenkeimen, Leinsamen und genügend Flüssigkeit, um die Darmfunktion und da39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Homöopathische Monatsblätter 95 (1970), H. 9, S. 195 ff. Zur Vollwertkost siehe Melzer (2003). Bluschke, Ingeborg: Gesundheit durch Vollwertkost. IGM, Varia 375, 18.2.1961. Schroer, Gertrud: Unsere Nahrungsmittel sollten Heilmittel und unsere Heilmittel Nahrungsmittel sein. IGM, Varia 375, 21.11.1964. Modernes Leben – natürliches Heilen 105 (1980), H. 7, S. 222. Homöopathische Monatsblätter 95 (1970), H. 3, S. 69. Schroer, Gertrud: Unsere Nahrungsmittel sollten Heilmittel und unsere Heilmittel Nahrungsmittel sein. IGM, Varia 375, 21.11.1964. Rubrik „Zeitschriftenspiegel“, Autor nicht genannt: Zehn Regeln für die richtige Ernährung. In: Homöopathische Monatsblätter 85 (1960), H. 1, S. 15. Bluschke, Ingeborg: Gesundheit durch Vollwertkost. IGM, Varia 375, 18.2.1961. Schroer, Gertrud: Unsere Nahrungsmittel sollten Heilmittel und unsere Heilmittel Nahrungsmittel sein. IGM, Varia 375, 21.11.1964.
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mit die Entleerung des Körpers von überschüssigen Stoffwechselprodukten anzuregen. Darüber hinaus legten die Redner und Autoren ihrem Laienpublikum im Allgemeinen nahe, für eine geregelte Nahrungsaufnahme zu sorgen, die sich wiederum an dem eindrücklichen Merksatz „Morgens wie ein König, mittags wie ein Bürger und abends wie ein Bettler“49 zu orientieren hatte. Auch sollten Speisen gleich welcher Art nicht im Übermaß50 und in Eile, sondern mit genügend Zeit und Ruhe eingenommen sowie ausreichend vorgekaut werden, um Magenbeschwerden zu verhindern. Der zweite, nicht weniger wichtige Bestandteil einer naturgemäßen Lebensführung betraf den Bereich der Bewegung. Wie andere prominente Fürsprecher, etwa die Deutsche Olympische Gesellschaft („Goldener Plan“ von 195951) oder später der Deutsche Sportbund („Trimm-Dich-Bewegung“ ab 197052), beklagten die Laienhomöopathen den allgemeinen Bewegungsmangel, der typisch sei für die gegenwärtige übertechnisierte Gesellschaft. Das lange Sitzen oder Stehen am Arbeitsplatz sowie die zunehmende Motorisierung des alltäglichen Lebens führten aufgrund der einseitigen Beanspruchung des Muskel- und Bewegungsapparates zu Haltungsschäden, denen es durch Sport oder Gymnastik „entgegenzuarbeiten“53 gelte, denn „Bewegung ist Gesundheit“54. Den Mitgliedern wurden folglich als „sehr gute vorbeugende Heilungsmittel im Anfälligkeitsfalle […] Spaziergänge und ausgedehnte Wanderungen“55 nahegelegt sowie ganz allgemein leichte Betätigungen (wie Radfahren, Schwimmen, Wandern, Gartenarbeit) in sauerstoffreicher Umgebung. Auch organisierte der Laienverein Stuttgart-Wangen bis 1967 regelmäßig Gymnastikkurse für Frauen56 und botanische Wanderungen, die beide ebenfalls der körperlichen Betätigung dienten. Zwar hatten die Wanderungen vornehmlich das Sammeln und Erklären von Heilpflanzen zum Ziel, die gewünschten Nebeneffekte waren aber der Aufenthalt an der frischen Luft sowie ein gewisses Maß an Geselligkeit, der seitens der Vereinsleitung eine ebenso große krankheitsvorbeugende, weil Zusammenhalt und Sinn stiftende Bedeutung zugemessen wurde. Im Rahmen einer vielseitigen Bewegungstherapie empfahlen die Redner bzw. Autoren ihrem Laienpublikum weiterhin das möglichst häufige Verweilen in einer sauerstoffreichen Umgebung. Der wesentliche Zweck dieses Ratschlags lag zwar vornehmlich in der Flucht vor der mit Auto- und Industrieabgasen verpesteten Stadtluft, die man – in Verbindung mit dem Lärm der „Bau-
49 50 51 52 53 54 55 56
Dr. Mayer: Leber und Galle. IGM, Varia 375, 10.10.1963. Cramer (1960), S. 89 ff. Balbier (2007), S. 64. Zur „Trimm-Dich-Bewegung“ siehe Dilger (2008); Mörath (2005), online verfügbar unter http://bibliothek.wzb.eu/pdf/2005/i05–302.pdf (letzter Zugriff: 16.7.2014). Heide, Dr. Manfred: Mehr Bewegung – auch in der zweiten Lebenshälfte. In: Modernes Leben – natürliches Heilen 105 (1980), H. 7, S. 217; Petri (1980), S. 24 ff. Sülzer, Erika: Fußbehandlung, Gelenk- und Fußkrankheiten. IGM, Varia 375, 18.4.1959. Dr. Rehm: Herz- und Kreislaufstörungen. IGM, Varia 375, 18.4.1964. Dr. Lumpp: Körperbau und Lebensvorgänge des Menschen. IGM, Varia 374, 25.11.1950.
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maschinen“ und dem „nervenschädigende[n] Krach der Mopeds“57 – als hochgradig gesundheitsschädigend einstufte. Doch neben dem Aufsuchen einer ruhigen, frischluftreichen Umgebung, das für sich genommen schon eine präventive Praktik war, spielte hierbei auch die bewusste Aufnahme von Sauerstoff eine wichtige Rolle. Gerade im Winter käme es durch den Mangel an Bewegung an der frischen Luft zur Ablagerung von Stoffwechselschlacken in den Geweben, „wodurch Katarrh, Rheumatismus und Entzündungen entstehen können“.58 Solchen Krankheiten gelte es durch „einen vernünftigen Einsatz der Luft-Heilkräfte“59, also durch tiefes Aus- und Einatmen, vorzubeugen. Der Körper entledige sich mit dieser Technik der Stoffwechselgifte, die im Blut als Gase zirkulieren und die Entstehung der eben genannten Krankheiten begünstigen würden. Das bewusste und reinigende Atmen ist damit also „ein natürliches Mittel gegen vielerlei Erkrankungen“.60 Auch wurde zu täglichen Atemübungen, bei denen man etwa durch die Nase ein- und anschließend lange durch den Mund ausatmete, geraten, um das „unregelmäßige, oberflächliche und verkrampfte Atmen des Alltags [zu] vermeiden“.61 Mehrfache Erwähnung fand die Bedeutung der Psyche für die Gesundheit: Der moderne Mensch sähe sich von hektischen Zeiterscheinungen, von Schnelllebigkeit und Entfremdung bedroht, die allesamt sowohl die körperliche als auch die seelische Einheit in ihrer Ausgewogenheit gefährdeten. Zu solchen negativen Einwirkungen zählten die professionellen wie Laienredner vor allem allgegenwärtige soziokulturelle und psychosoziale Einflüsse wie etwa berufliche Überlastung62, nervliche Gereiztheit durch Verkehrsbelastung, Angst vor Kriegs- und Atomgefahr63, unverarbeitete Kindheitstraumata64 oder belastende zwischenmenschliche Beziehungen65. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die schon zitierte Klage eines Laienreferenten, nach der „die Seelen- und Geisteskräfte des Großstadtmenschen […] durch das nervenaufreibende Tempo vielfach der Verkümmerung preisgegeben“ seien.
57 58 59 60 61 62 63 64 65
Fischle, Karl: Umweltverschmutzung und deren gesundheitliche Schäden und Gefahren. IGM, Varia 376, 18.11.1972. Autor nicht bekannt: Praktische Winke zur Gesundheitspflege im Winter. In: Homöopathische Monatsblätter 80 (1955), H. 2, S. 28. Autor nicht bekannt: Praktische Winke zur Gesundheitspflege im Winter. In: Homöopathische Monatsblätter 80 (1955), H. 2, S. 29. Haltmeyr, Dr. Rudolf: Atmen hat Heilkraft. In: Modernes Leben – natürliches Heilen 105 (1980), H. 3, S. 95. Haltmeyr, Dr. Rudolf: Atmen hat Heilkraft. In: Modernes Leben – natürliches Heilen 105 (1980), H. 3, S. 95. Dr. Arnold: Psychosomatik und Homöopathie. IGM, Varia 377, 18.10.1985. Bluschke, Ingeborg: Neuzeitliche Erkrankungen erfordern neuzeitliche Ernährung. IGM, Varia 375, 2.11.1968. Dr. Mayer: Streß, Nervosität, Nervenleiden, Erkrankung der Psyche. IGM, Varia 377, 27.2.1981. Herr Lange-Schönbeck: Was nützt die beste Homöopathie, wenn der Weg zur Wirkung nicht frei ist? IGM, Varia 376, 21.4.1978.
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Die an die Vereinsmitglieder herangetragenen und gegen psychische Belastungen gerichteten Praktiken fielen recht vielfältig aus und setzten primär auf genügend Erholung und Entspannung. Um Nervosität, Überbelastung und der „Kulturkrankheit“66 Kreislaufstörungen vorzubeugen, rieten die Experten ihrem Publikum, dass sie „übertriebenem Wohlleben“67 entsagen sowie auf die „Schonung vor allen nervenbelastenden Einwirkungen“68 (starke Genussmittel wie Tabak und Alkohol, berufliche Überbeanspruchung etc.) bedacht sein sollten. Besonders Herzkranken wurde nahegelegt, sich vor „Ärger, Angst und übermäßigen Anstrengungen“69 zu hüten. Als allgemein förderlich könne darüber hinaus die „leichte körperliche Beschäftigung gelten, welche zum Nachdenken Anreiz gibt“, ebenso die „Vermeidung von Spannungen zwischen jung und alt“ sowie das Fernhalten „von Einflüssen schlechter Kameraden und Gesellschaft“.70 Weitere „sehr gute vorbeugende Heilungsmittel sind […] Zerstreuung durch zweckentsprechende Freizeitgestaltung, weg von turbulenten Belustigungen, und Entspannung der belasteten Nerven“.71 Ausgedehnte abendliche Spaziergänge schüfen Abhilfe bei stressbedingten Schlafstörungen, die Körper und Geist die so dringend benötigte Zeit zur Regeneration raubten. Auch sei es zur Steigerung des seelischen wie körperlichen Wohlbefindens ratsam, sich eine positive, lebensbejahende Grundeinstellung anzueignen, die krankheitsbedingte Beschwerden als Erfahrungszuwachs begreife. Mit allen diesen sensibilisierenden Hinweisen auf Gesundheitsgefährdungen sowie praktischen Ratschlägen zu ihrer Vermeidung versuchte der Laienverein Stuttgart-Wangen, seine Mitglieder zu einer achtsamen, bewussten und vorbeugenden Lebensweise zu animieren. Das präventivmedizinische Vereinsengagement ging aber noch weiter: Der nachfolgende Abschnitt nimmt sich derjenigen Veranstaltungen an, die zwar nicht explizit die Verhütung von Krankheiten zum Inhalt hatten, in ihrer Bedeutung einer gesunden, naturgemäßen Lebensweise aber in nichts nachstanden. Geselligkeit als präventive Praktik? Vergegenwärtigt man sich die kultur- und in Teilen gesellschaftskritische Grundhaltung der homöopathischen Laienbewegung, die im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung deutlich wurde und mitunter das Schwinden einer Halt gebenden Gemeinschaft beklagte, so wird die Bedeutung der Gesel66 Dr. Lumpp: Kreislaufstörungen. IGM, Varia 375, 2.4.1955. 67 Fischle, Karl: Welches sind die Ursachen von Schlaganfällen und was ist dagegen zu tun? IGM, Varia 375, 15.11.1958. 68 Dr. Lumpp: Kreislaufstörungen. IGM, Varia 375, 2.4.1955. 69 Dr. Lumpp: Das menschliche Herz. IGM, Varia 375, 30.5.1959. 70 Fischle, Karl: Nerven, deren Krankheitsbeeinflussung, Nervenleiden und Nervosität. IGM, Varia 376, 11.10.1974. 71 Dr. Rehm: Herz- und Kreislaufstörungen. IGM, Varia 375, 18.4.1964.
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ligkeit für die Vereinsmitglieder offensichtlich. Mit einiger Berechtigung lässt sich sogar sagen, dass die kurzweiligen Veranstaltungen, ähnlich den botanischen Exkursionen, aktiv betriebene Vorbeugung waren, wohingegen in Vorträgen nur indirekt und mittelbar eine entsprechende Verhaltensweise vermittelt wurde. Denn bei Letzteren oblag dem Publikum die Entscheidung, ob es das Gehörte umsetzen mochte oder nicht. Dem immanent vorbeugenden, weil identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Charakter einer Vereinsfeier konnte man sich hingegen nur bedingt entziehen, da er nicht bewusst als solcher reflektiert wurde. Doch was genau ist damit gemeint? Ein vertiefender Blick in die Berichte fachfremder Veranstaltungen soll im Folgenden Aufschluss geben. Seltene, aber für den Verein gleichsam umso bedeutendere Ereignisse waren die Jubiläumsfeierlichkeiten, die oft zahlreich besucht wurden (anlässlich des 75. Stuttgart-Wangener Stiftungsfestes kamen 520 Teilnehmer72) und damit auch, bedenkt man die mediale Berichterstattung und das Miteinbeziehen der Gemeinde, zur Popularisierung der homöopathischen Laienbewegung beitrugen. Mit ihrem feierlich-würdevollen Charakter dienten die Jubiläen im Wesentlichen der Repräsentation des Vereins und dem Rückblick auf die seit der Gründung vergangenen Jahre bzw. der Vergegenwärtigung der eigenen wechselvollen Geschichte. Mindestens ebenso ausführlich wie der zeremonielle Teil der Feier mit Ehrungen und Lobreden fiel dann im Anschluss auch der gemütlich-ausgelassene aus: Typisch für Vereinsfeierlichkeiten jeglicher Art ( Jubiläen, Familienabende, Weihnachtsfeiern) waren gymnastische Tanz-, volkstümliche Gesangs-, humoristische Theater- und sogar selbstverfasste Gedichteinlagen, die häufig eigens für die Feier einstudiert wurden. Daran teilgenommen haben längst nicht nur Vereinskameraden, oft beteiligten sich in freundschaftlicher Weise auch Mitglieder der ortsansässigen Musik- und Sportvereine, was wiederum auf eine starke Verwurzelung des homöopathischen Vereins in Wangen schließen lässt. Der heiteren Stimmung zuträglich war bei derartigen Anlässen darüber hinaus die Bewirtung der Festgemeinde. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang aber, dass der Laienverein Wangen trotz seines nachdrücklichen Eintretens für eine naturgemäße Ernährung und Lebensweise dabei ganz der deftigen schwäbischen Küche verpflichtet blieb. So ließen sich seine Mitglieder vornehmlich bei Sommerfesten oder Weihnachtsfeiern zunächst Kaffee und Kuchen schmecken, gefolgt von Kartoffelsalat mit Kassler oder Saitenwürstchen und dazu das eine oder andere Gläschen Wein. Ein weiterer beliebter und nicht fachbezogener Programmpunkt waren die gelegentlichen Dia- und Filmvorführungen. Noch bevor das Fernsehen in die Haushalte Einzug hielt und dem Zuschauer einen bequemen und kostengünstigen Einblick gewährte in ferne Länder und Kulturen, boten private Urlaubsbilder eine willkommene Gelegenheit, den eigenen Horizont über die Gemeindegrenzen hinaus zu erweitern. Wollte man hingegen etwas über die 72
Artikel in der Untertürkheimer Zeitung: Wangen – Hochburg der homöopathischen Laienbewegung. IGM, Varia 375, 16.6.1962.
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Orts- und Landesgeschichte erfahren, so besuchte man den hin und wieder stattfindenden Heimatvortrag. Der homöopathische Verein Stuttgart-Wangen profilierte sich damit nicht nur als ein reiner Gesundheits-, sondern auch als ein lokaler Kulturverein, der seinen Mitgliedern ein breites Spektrum an informierenden wie unterhaltenden Angeboten offerierte. In allen diesen Veranstaltungen, die offenkundig weder mit Homöopathie noch mit Prävention etwas zu tun hatten, sehe ich mehr als nur Unterhaltung und Kurzweil. Eine derartig vereinfachende und reduktionistische Sichtweise würde dem sinn- und identitätsstiftenden Charakter, der alle Programmpunkte kennzeichnet, nicht gerecht werden. Ich schlage deshalb vor, sie als Teil des auf Kompensation pathogener Faktoren beruhenden Gesundheitskonzeptes zu werten und in ihnen ebenfalls eine präventive Praktik zu sehen. Kritisch stand man dem Streben nach finanzieller Absicherung und gesellschaftlichem Ansehen gegenüber, das den Alltag vieler Familien präge und generationsübergreifenden Schaden anrichte: Indem beide Elternteile voll berufstätig seien und keine Zeit mehr für Heim und Familie hätten, käme das häusliche Geborgenheitsgefühl abhanden, das so wichtig sei für ein Aufwachsen unter normalen, gesunden Umständen.73 Und ebenso wichtig sei es, so hörte bzw. las man zwischen den Zeilen, für die Erwachsenen selbst, denen durch Stress und Hektik im Alltag die Zeit der Erholung und Entspannung verlorenginge. Der Verein versuchte daher bewusst, durch zahlreiche und regelmäßige gesellige Veranstaltungen diesen sicherlich nicht wenige Familien betreffenden Missstand wenigstens abzumildern. Neben den schon erwähnten Jubiläen, Dia- und Heimatvorträgen sind vor allem die alljährlichen Weihnachtsfeiern hervorzuheben, die lange Jahre unter dem bezeichnenden Namen „Familienabend“ firmierten und meist in der zweiten Dezemberwoche veranstaltet wurden. Um zu veranschaulichen, welche durchaus als vorbeugend zu wertende Bedeutung die Vereinsleitung und indirekt auch die Mitglieder diesen Abenden beimaßen, sei kurz aus einem Zeitungsbericht über das „Familienweihnachtsfest“ von 1973 zitiert: „Zwischen den einzelnen Darbietungen war erfreulich zu sehen, wie an den Tischen freundschaftliche Bande wieder erneuert oder neu geknüpft wurden, was das harmonische Zusammengehörigkeitsgefühl der großen Vereinsfamilie bestätigte.“74 Der tiefere Sinn einer solchen Veranstaltung erschöpfte sich also nicht allein in Zeitvertreib und Unterhaltung. Durch den Besuch geselliger Veranstaltungen hielten die Mitglieder für einige Stunden inne, entflohen der Anonymität des Alltags, knüpften oder stärkten Freundschaften, fühlten sich geborgen und konnten ihre Kräfte regenerieren, derer sie der schnelllebige Alltag beraubte. Dieses sekundäre Ziel verfolgten auch die seit 1951 jedes Jahr im Sommer stattfindenden und manchmal mehrere Tage andauernden Jahresausflüge, bei denen die Vereinsfamilie quer durch Süddeutschland, Tirol oder auch Teile der Schweiz reiste. 73 74
Dr. Bappert: Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit bei Schulkindern. IGM, Varia 375, 13.2.1960. Zeitungsartikel: Feier in voller Harmonie. IGM, Varia 376, 15.12.1973.
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Wie weiter oben schon die Darstellung der allgemeinen Vorbeugung zeigte, umfasste das Gesundheitskonzept des homöopathischen Laienvereins Stuttgart-Wangen demnach weit mehr als nur gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung oder frische Luft. Dem Anspruch nach Ganzheitlichkeit folgend, spielten auch psychosoziale Faktoren bzw. das geistig-seelische Wohlbefinden eines Menschen, das einer steten Anregung bedurfte, eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung der individuellen Gesundheit. Zusammenfassung Im Rahmen des vorliegenden Beitrags bin ich zwei zentralen Anliegen nachgegangen: Zum einen wollte ich wissen, wie sich die homöopathische Laienbewegung den soziokulturellen Gegebenheiten der Zeit zwischen 1950 und 1980 anpasste und diese ihrem Verständnis von Gesundheit und Krankheit einverleibte. Zum anderen interessierte mich, inwieweit der Laienverein für Homöopathie und Lebenspflege Stuttgart-Wangen eine ganzheitliche und an die klassische Diätetik angelehnte Gesundheitsbildung seiner Mitglieder verfolgte. Heinrich Schipperges brachte 1979, im Angesicht eines sich wandelnden „Mensch-Umwelt-Verhältnisses“75, die Notwendigkeit eines auf Gleichgewicht und Vorbeugung basierenden Gesundheitskonzeptes auf den Punkt, um das kriselnde Gesundheitssystem zu reformieren, das nicht primär auf die Vermeidung von Zivilisationskrankheiten ausgerichtet sei, sondern nur deren Symptome behandle. Es hätte sich gezeigt, dass die naturwissenschaftliche Medizin allein nicht genüge, um die vielfältigen, Körper und Geist betreffenden Gesundheitsprobleme zu bewältigen. Stattdessen müsse der Mensch zu einer „anthropologisch zu begründende[n] allgemeine[n] Gesundheitsbildung“76 angehalten werden, die sich wiederum an den sechs Punkten der klassischen Diätetik zu orientieren habe. Die Untersuchung der gesundheitsrelevanten Wissensvermittlung des Vereins Stuttgart-Wangen machte deutlich, dass die homöopathische Laienbewegung diesen Ansatz bereits seit den 1950er Jahren in Theorie und Praxis verfolgte und – mit Blick auf die heutige „Gesundheitsgesellschaft“ – damit ihrer Zeit weit voraus war. Aus der Retrospektive betrachtet erscheint uns die Einsicht heutzutage recht vertraut, dass eine gesunde Lebensweise Krankheiten vorbeugt.77 Einer Studie des Allensbacher Instituts für Demoskopie aus dem Jahr 200078 zu75 Vgl. Anm. 7. 76 Schipperges (1980), S. 129. 77 Zur Entwicklung und Ausprägung „gesundheitsrelevanter Verhaltensstile in deutschsprachigen Ländern“ siehe Hoffmann (2010). 78 Die Studie, in der nach der „Gesundheitsorientierung und Gesundheitsvorsorge“ der bundesdeutschen Bevölkerung gefragt und die von der Identity Foundation Düsseldorf in Auftrag gegeben wurde, ist online einzusehen unter http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_studies/6184_Gesundheitsorientierung.pdf (letzter Zugriff: 16.7.2014).
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folge waren 88 Prozent der Befragten überzeugt, dass man durch die Lebensweise Einfluss darauf hat, ob man krank wird oder nicht. 59 Prozent gaben an, dass sie im Alltag lockeren Regeln folgen, um ihre Gesundheit zu erhalten, ohne dabei auf eine bestimmte Lebensweise fixiert zu sein. Nach den genauen Alltagsregeln zur Steigerung der allgemeinen Befindlichkeit befragt, antworteten 70 Prozent, dass sie darauf achten, sich an der frischen Luft zu bewegen; 48 Prozent versuchen ausreichend Schlaf zu bekommen, 32 Prozent sorgen für genügend Entspannung und jeweils 34 Prozent ernähren sich bewusst und verzichten zugunsten ihrer Gesundheit auf das Rauchen. Angesichts dieser Zahlen drängt sich die Frage auf, ob sich die naturgemäße Lebensweise, wie sie die homöopathische Laienbewegung propagierte, mittlerweile so sehr im kollektiven Bewusstsein der gegenwärtigen Gesundheitsgesellschaft gefestigt hat, dass sie zu einer Art Gemeinplatz wurde. Ein wesentlicher Grund dürfte die einleitend angesprochene Popularisierung von Stress und Lebensqualität gewesen sein, die sich in den 1970er Jahren vollzog und letztlich dazu führte, dass individuellen und subjektiven Werten wie Gesundheit, Freizeit und Lebensqualität heute ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Am Beispiel des Laienvereins Stuttgart-Wangen zeigt sich jedoch das Paradoxe dieser Entwicklung: Indem immer mehr Menschen die von ihm vermittelte Lebensweise annahmen, sie sozusagen populär wurde, schwand zugleich die Daseinsberechtigung des Vereins. Die Vereinsleitung schaffte es nicht, sich auf die veränderte Situation nach 1980 einzustellen und neue Medien und Techniken in ihr Programm einzubauen. Auch verkannte sie das Potential, das von den Geselligkeitspraktiken ausging. Denn mit den regelmäßigen Versammlungen, Vorträgen und Ausflügen besaß der Laienverein ein wichtiges und bei den Mitgliedern beliebtes Instrument, das er als kompetente und erfahrene Institution hätte nutzen können, um eine Anlaufstelle für all jene zu sein, die sich im Zuge der Popularisierung überhaupt erst mit Fragen der individuellen Gesundheit und ihrer Erhaltung beschäftigten. Eine Möglichkeit hierzu wäre die Wiedereinführung von Gymnastik- oder Kochkursen gewesen, die sich in der Geschichte des Vereins bewährt hatten und mit denen sich Informationsvermittlung und kurzweilige Unterhaltung verbinden ließen. Mit dem Anlegen von Kräutergärten und deren Pflege hätten die Mitglieder berufsbedingten Haltungsschäden vorbeugen, sich vom Stress des Alltags erholen und nebenbei auch noch ihr Ernährungsverhalten verbessern können. Blickt man auf das jüngere Phänomen des urbanen Gartenbaus, so wird deutlich, dass zumindest in Teilen der Bevölkerung eine gewisse Nachfrage nach derartigen Projekten besteht, die aber von anderen Anbietern befriedigt wird. Und in professionellen Diskussionsabenden wäre die homöopathische Behandlung von Krankheiten zur Sprache gekommen, die sich ebenfalls in den letzten Jahrzehnten immer größerer Beliebtheit79 erfreut. Kurz, mit solchen Veranstaltungen, die durchaus dem Zeitgeist entsprechen, könnte es den noch bestehenden homöopathischen Vereinen gelingen, 79
Vgl. Dinges (2012), S. 138 ff.
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das Vereinsleben attraktiv zu gestalten, neue Mitglieder zu gewinnen und ihnen ein erfahrener Partner in allen Belangen einer ganzheitlichen Gesundheitsbildung zu sein. Im konkreten Fall des Vereins Stuttgart-Wangen sind solche existenzsichernden Bemühungen jedoch unterblieben; er driftete stattdessen im Laufe der Jahre zunehmend in die Bedeutungslosigkeit ab und wurde schließlich 2008 aufgrund der Überalterung der Mitglieder aufgelöst. Bibliographie Archivalien Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart (IGM) Varia 370, Protokollbuch der Versammlungen, Laufzeit 1887–1896 Varia 372, Protokollbuch der Versammlungen, Laufzeit 1912–1927 Varia 374, Protokollbuch der Versammlungen, Laufzeit 1933–1954 Varia 375, Protokollbuch der Versammlungen, Laufzeit 1955–1969 Varia 376, Protokollbuch der Versammlungen, Laufzeit 1970–1980 Varia 377, Protokollbuch der Versammlungen, Laufzeit 1981–1999
Internetquelle http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_studies/6184_Gesundheitsorientierung.pdf (letzter Zugriff: 16.7.2014)
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Patienten mit erweitertem Präventionshorizont: Nutzer und Sympathisanten alternativer Behandlungsmethoden (1992–2000) Philipp Eisele
Einleitung Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte wurde der Gesundheit ein derart hoher Stellenwert beigemessen wie heute. Demnach ist auch das individuelle und gesellschaftliche Interesse, Krankheiten zu vermeiden oder ihnen vorzubeugen, enorm gestiegen.1 Gesundheit hat sich zu einer wirkungsmächtigen Universalkategorie entwickelt, anhand derer sich nahezu alle, teilweise auch völlig disparate Bereiche der individuellen Existenz und des gesellschaftlichen Lebens binär als ‚gesund‘ oder ‚ungesund‘ kodieren lassen.2 Dies wird anhand der wachsenden Bedeutung der medizinischen Prävention und der mannigfaltigen Maßnahmen zur Gesundheitsförderung besonders deutlich. Diese nehmen im individuellen Verhalten der Menschen eine immer zentralere Rolle ein und gehen mit einer „Pathologisierung“ des lebensweltlichen Alltags durch eine verstärkte Sensibilisierung für Gesundheitsrisiken einher. Dazu beigetragen haben zum einen die Vermehrung und Verbreitung medizinischen Wissens, welche zu einer Omnipräsenz potentiell gesundheitsrelevanter Entscheidungen und zu einem Mehr an damit assoziierten Risiken im Alltag geführt und folglich den „medizinischen Blick“ auf das menschliche Verhalten erweitert haben.3 Hinzu kommen zum anderen auch vielfältige politische und soziale Veränderungen, in deren Kontext die Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit zu einem zentralen gesellschaftlichen Wert von hohem öffentlichem und persönlichem Interesse avanciert ist.4 In ihrer Konzeption verheißt Gesundheit für den Einzelnen demnach nicht nur die bloße Abwesenheit von Krankheit, sondern auch umfassendes Wohlbefinden.5 Als Garant für die Gesundheit soll nicht nur der Staat dienen, der die Voraussetzungen dafür zu schaffen hat, dass die Bevölkerung ihr Recht auf Gesundheit geltend machen kann, sondern es wird auch der Einzelne selbst in 1 2 3 4 5
Vgl. Kollek/Lemke (2008), S. 29; Labisch (1992), bes. S. 321–323. Vgl. Herzlich (1998), S. 176; daran anknüpfend Brunnett (2007), S. 172 f. Vgl. Schmidt-Semisch/Paul (2010), S. 7. Hierzu zählen etwa die Mutation der Kranken- zu Gesundheitskassen, die Fitness- und Wellness-Bewegung sowie die Durchführung alternativer Gesundheitstage als Gegenveranstaltung zu den Deutschen Ärztetagen, vgl. Schäfer u. a. (2008), S. 7. So lautet die sowohl häufig zitierte wie auch als zu ehrgeizig kritisierte Definition des Begriffs „Gesundheit“ durch die World Health Organization (WHO) wie folgt: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“ Constitution of the World Health Organization, online unter http:// apps.who.int/gb/bd/PDF/bd47/EN/constitution-en.pdf (letzter Zugriff: 16.7.2014).
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die Pflicht genommen, der sich zusätzlich zu der Befolgung von Weisungen der entscheidungstragenden Akteure auch selbst eigenverantwortlich um seine Gesundheit kümmern und an ihr arbeiten sollte.6 Dabei kommt die Arbeit an der eigenen Gesundheit einer Verpflichtung gleich, deren Nichteinhaltung teilweise auch Sanktionen in Form von finanziellen Aufwendungen oder auch gesellschaftlicher Ächtung nach sich ziehen kann.7 Nach der Auffassung von Henning Schmidt-Semisch und Bettina Paul sind die wichtigsten Akteure in der Entwicklung hin zu einer Gesundheitsgesellschaft erstens die Vertreter der modernen Gesundheitswissenschaften, die auf eine Befähigung des Einzelnen zu mehr Selbstbestimmung bei gesundheitsrelevanten Entscheidungen abzielen, zweitens die Gesundheitswirtschaft, die eine kaum zu überblickende Anzahl an Produkten und Dienstleistungen bereithält und offeriert, und drittens schließlich der neoliberale Staat, welcher die emanzipativen Absichten der Gesundheitswissenschaften und die Interessen der Gesundheitswirtschaft kurzschließt und den vermeintlich mündigen Bürger zum Manager seiner eigenen Gesundheit deklariert.8 Neben diesen drei Akteursgruppen geraten indes die Patienten als eigentliche Adressaten und Nutznießer des Gesundheitswesens aus dem Fokus, obwohl diese als Akteure die Entwicklung der medizinischen Versorgungssysteme ebenso mitgestalten, mitproduzieren und nicht zuletzt mitfinanzieren.9 In diesem Zusammenhang erscheint es ertragreich, das Konzept der Prävention nicht nur als Form eines per se negativ konnotierten Gesundheitszwanges10 von außen zu interpretieren, sondern auch die Bereitschaft des Einzelnen anzuerkennen, sich diesen Zwängen freiwillig zu beugen und sie zu praktizieren. Aus dieser Perspektive manifestieren sich Gesundheitszwänge in einem dynamischen 6 Vgl. Klotter (2011), S. 58 f. Überaus deutlich spiegeln sich diese Erwartungen des modernen Staates an die Bevölkerung im Wortlaut des ersten Paragraphen des Fünften Sozialgesetzbuches wider: „Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewußte Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden.“ § 1 SGB V. Eine ausführliche Diskussion des Eigenverantwortungsdiskurses im Gesundheitswesen findet sich bei Schmidt (2008). 7 Für diese Entwicklung vgl. allgemein Mühlhauser (2011) sowie exemplarisch für den gesellschaftlichen Umgang mit Übergewicht und Adipositas die Beiträge in SchmidtSemisch/Schorb (2008). 8 Vgl. Schmidt-Semisch/Paul (2010), S. 8–14. Die neue Mündigkeit des Patienten wird seitens der Forschung ambivalent bewertet, da sie für den Einzelnen sowohl Chancen als auch Risiken birgt, vgl. hierzu Nebling/Fließgarten (2009). 9 Das mangelnde Interesse an den Patienten als Akteure haben Jan Böcken und dessen Mitarbeiter in Bezug auf die jüngsten Entwicklungen im Gesundheitssystem zwar provokativ, aber treffend kommentiert: „Das Bonmot bestätigt sich, Patienten stünden zwar neuerdings überall im Mittelpunkt, aber damit bei jeder Gelegenheit im Wege.“ Vgl. Böcken u. a. (2002), S. 203. 10 Eine Erörterung des vielschichtigen Phänomens des Gesundheitszwanges am Beispiel des Übergewichtsdiskurses findet sich bei Wolff (2013).
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und komplexen Nebeneinander von Fremd- und Selbststeuerung des Patienten, in deren Spannungsfeld dieser zwar nicht völlig autonom ist, aber durchaus eine aktive Rolle einnehmen kann.11 Es ist Ziel dieses Beitrags12, die Verhaltensweisen, Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Patienten im Kontext von Prävention und Risikovermeidung als eine wichtige Facette des heutigen ‚Gesundheitsbooms‘ aufzuzeigen. Das Interesse gilt dabei nicht den tatsächlichen oder vermeintlichen ‚Gesundheitsverweigerern‘, sondern solchen Patienten, die sich offen für präventive Maßnahmen zeigen und diese auch praktizieren. Als Untersuchungsgruppe erscheint die wachsende Anzahl von Anhängern der Alternativen Medizin13 besonders geeignet14. Denn diesen wird seitens der Forschung ein ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein und dementsprechend auch eine Affinität für präventive Praktiken attestiert.15 Der Zugriff auf die Patientenperspektive erfolgt anhand von Briefen von Nutzern und Sympathisanten alternativer Behandlungsmethoden, die sich im Zeitraum zwischen 1992 und 2000 an den Verein „Natur und Medizin e. V.“ – eine Patientenorganisation für alternative Behandlungsmethoden – wandten. Im Rahmen dieser schriftlichen Kontaktaufnahmen wurden nicht nur Informationen bezüglich vorbeugender Maßnahmen aus den Bereichen der
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Damit knüpft dieser Beitrag an Überlegungen von Eberhard Wolff an, der im Kontext des Konzeptes der Gouvernementalität von Michel Foucault eine verstärkte Berücksichtigung der Rolle des Individuums beim Aufbau und der Umsetzung menschlicher Disziplinierung anregt, vgl. Wolff: Diätetik (2010). Dies schließt selbstverständlich auch Formen des Widerstands gegen das Praktizieren von Formen der Prävention mit ein, zumal Gesundheitsdaten belegen, dass sich die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland keineswegs unisono gesundheitsförderlich verhält, sondern oftmals das Gegenteil der Fall ist. Beispiele finden sich bei Jacob (1995), S. 30–36; Bormann (2012), S. 121. Der Beitrag stellt einen Auszug aus dem laufenden Dissertationsprojekt ‚Medizinischer Pluralismus aus der Patientenperspektive‘ dar. Unter dem schillernden Begriff der Alternativen Medizin werden hier jene Heilverfahren subsumiert, welche zu einer bestimmten Zeit – hier das ausgehende 20. und das beginnende 21. Jahrhundert – von der vorherrschenden Richtung der Medizin – hier der naturwissenschaftlich-technisch orientierten Schulmedizin – nicht akzeptiert wurden, vgl. Jütte (1996), S. 13. Laut aktuellen Umfrageergebnissen des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann-Stiftung hatten 63 Prozent der Befragten bereits Erfahrung mit alternativen Heilweisen gesammelt, vgl. http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-5163452C-44D27738/ bst/Abstract_Linde_GeMO-HP.pdf (letzter Zugriff: 16.7.2014). Da die Ergebnisse der zahlreichen Erhebungen, die sich mit der Inanspruchnahme alternativer Behandlungsmethoden beschäftigt haben, aufgrund unterschiedlicher Klassifikationskriterien des Begriffes ‚Alternative Medizin‘ variieren, ist es schwierig, ihre Inanspruchnahme in exakten Zahlen wiederzugeben. In der Tendenz weisen sie indes eindeutig in Richtung eines Anstiegs der Nutzung, vgl. Marstedt (2002), S. 130 f.; Stange/Amhof/Moebus (2006), S. 209 f. Für die steigende Inanspruchnahme alternativer Behandlungsmethoden in Deutschland und anderen westlichen Ländern vgl. Maddalena (2005), S. 18–23. Vgl. Marstedt (2002), S. 140 f.; Köntopp (2004), S. 283; Hoefert (2011), S. 220.
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Schulmedizin16 und der Alternativmedizin sowie möglicher oder tatsächlicher Gesundheitsrisiken erbeten, sondern es wurde auch auf die damit in Verbindung stehenden individuellen Erfahrungen, Erlebnisse und angewandten Strategien rekurriert. In einem ersten Schritt gilt es zunächst, die Tätigkeitsfelder der Patientenorganisation und den Quellenkorpus der überlieferten Briefe grob zu skizzieren. Im Anschluss daran werden die Verfasser anhand ihrer sozio-strukturellen Variablen und anhand ihres Krankheitsspektrums als weiteres askriptives Merkmal in den Blick genommen, um beurteilen zu können, inwieweit diese präventive Verhaltensweisen tatsächlich begünstigten oder ihnen eventuell auch entgegenstanden. Danach wird der Fokus auf die subjektive Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken als mögliche Grundvoraussetzung für die Durchführung präventiver Praktiken gerichtet. Abschließend wird direkt die Perspektive der Briefpatienten in Bezug auf Risikovermeidung und Prävention eingenommen, indem ihre im Vorfeld der schriftlichen Kontaktaufnahmen beschrittenen Behandlungswege sowie ihre Anfragen an die Patientenorganisation „Natur und Medizin“ aus ihrem jeweiligen Kontext heraus analysiert werden. Die Patientenorganisation „Natur und Medizin e. V.“ Die Patientenorganisation „Natur und Medizin“ wurde Anfang der 1980er Jahre als Förderverein der Karl und Veronica Carstens-Stiftung17 gegründet und hat momentan etwa 30.000 Mitglieder18. Die kürzlich verstorbene Gründerin Veronica Carstens (1923–2012) engagierte sich bis ins hohe Alter als Ärztin, Bundespräsidentengattin und langjährige Vorsitzende der Organisation für die Anerkennung und Verbreitung alternativer Heilmethoden, vornehmlich für die durch „Natur und Medizin“ unterstützten Richtungen der
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Nach Wolfgang Eckart und Robert Jütte lässt sich der Begriff der Schulmedizin folgendermaßen definieren: „Der Begriff Schulmedizin wird umgangssprachlich und wenig präzise zur Bezeichnung einer Medizin, die an Universitäten und Hochschulen […] nach (natur-) wissenschaftlichen Grundsätzen gelehrt und entwickelt wird, als Abgrenzung von solchen medizinischen bzw. heilkundlichen Lehren und Praktiken verwendet, die eben nicht zum Lehrkanon der akademischen Medizin gehören.“ Eckart/Jütte (2007), S. 338. Zielsetzung dieser Stiftung ist es damals wie heute, alternativen Heilmethoden zur wissenschaftlichen Anerkennung zu verhelfen. Um dies zu erreichen, setzt sie sich vor allem, auch finanziell, für deren wissenschaftliche Erforschung ein, indem sie innerhalb dieses Themenbereiches Stipendien an Nachwuchswissenschaftler vergibt und Fortbildungen für Ärzte anbietet. Auch besitzt die Stiftung einen eigenen Verlag, der sowohl Fachbücher als auch populärwissenschaftliche Abhandlungen zum Thema Homöopathie, Naturheilkunde und anderen alternativen Therapieformen herausgibt, vgl. Karl und Veronica Carstens-Stiftung (1992), S. 10–16. Soweit nicht anders angegeben, sind die Informationen über die Patientenorganisation ihrer Internetseite und den dort zum Download angebotenen Materialien entnommen, vgl. hierfür http://www.naturundmedizin.de (letzter Zugriff: 16.7.2014).
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Naturheilkunde und der Homöopathie.19 Nach eigenen Angaben verfolgt der Verein das Ziel, mehr Transparenz in der Patientenbehandlung zu schaffen, und dies besonders in Bezug auf Naturheilverfahren und Homöopathie. Der eigentliche Schwerpunkt von „Natur und Medizin“ liegt in der Öffentlichkeitsarbeit, in deren Rahmen die Forschungsergebnisse der Carstens-Stiftung populärwissenschaftlich aufbereitet an den medizinischen Laien vermittelt werden sollen, um den an alternativen Heilverfahren interessierten Personen eine Orientierungshilfe in der herrschenden Therapievielfalt zu bieten. Dies geschieht anhand von bundesweiten Vorträgen, Veranstaltungen, Patientensprechstunden und regelmäßig sowie sporadisch erscheinenden einschlägigen Publikationen.20 Neben dem erklärten Ziel, gemeinsam mit der Carstens-Stiftung dazu beizutragen, Hochschulmedizin mit Naturheilkunde und Homöopathie partnerschaftlich zu verbinden, hat „Natur und Medizin“ die Aufgabe, Patienten über Wahlmöglichkeiten, Risiken und Chancen sowie die Kosten alternativer Behandlungsmethoden aufzuklären. So bietet der Verein neben der Öffentlichkeitsarbeit seinen Mitgliedern auch eine individuelle Beratung bei gesundheits- und krankheitsrelevanten Fragen durch seine medizinischen Experten und Unterstützung bei der Arzt- und Klinikwahl. Aufgrund dieses Serviceangebots gingen zwischen den Jahren 1992 und 2000 etwa 8.000 schriftliche Anfragen zum Themenfeld Gesundheit und Krankheit bei „Natur und Medizin“ ein. Von diesen bildet mit etwa 1.500 Briefen rund ein Fünftel die Grundlage der hier vorgestellten Analysen.21 19
Für eine Kurzbiographie vgl. http://www.bundespraesident.de/DE/Die-Bundespraesidenten/Karl-Carstens/Veronica-Carstens/veronica-carstens-node.html (letzter Zugriff: 16.7.2014). 20 Zu den regelmäßig erscheinenden Publikationen zählt die vereinseigene Zeitschrift – der sogenannte Mitgliederbrief – mit der Informationsserie Kompass Komplementärmedizin als Beilage. Diese erscheint sechsmal jährlich. Daneben gibt „Natur und Medizin“ Patientenratgeber heraus, eine Buchreihe zu ausgewählten gesundheitsrelevanten Themen. Hinzu kommen zahlreiche nach Bedarf publizierte Sonderveröffentlichungen, darunter auch Bild- und Tonträger. 21 Die Mitgliederkorrespondenzen des Vereins „Natur und Medizin“ sind am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung archiviert und umfassen den Zeitraum von 1992 bis 2000. Für die Analyse wurden jeweils die medizinischen Anfragen von Autoren herangezogen, deren Nachnamen mit den Buchstaben „B“, „O“, „R“ oder „T“ beginnen. Da etwa ein Fünftel der Nachnamen in der Bundesrepublik Deutschland mit einem dieser Buchstaben beginnt, kann davon ausgegangen werden, dass durch eine solche Vorgehensweise auch etwa ein Fünftel der Briefe der zu untersuchenden Jahrgänge berücksichtigt wird. Vgl. Statistisches Bundesamt (1977), S. 451. Eine Untersuchung jüngeren Datums für die gesamte Bundesrepublik existiert nach Aussage des Statistischen Bundesamtes nicht. Auf Länderebene sind allerdings Studien aus den 1990er und 2000er Jahren verfügbar. Diese weisen auf eine ähnliche Verteilung hin: Für Nordrhein-Westfalen als bevölkerungsreichstes deutsches Bundesland vgl. Reinders (1996), S. 652 f. Für Sachsen vgl. Helbig (2004), S. 27. Insgesamt umfasst das Quellenkorpus 1.568 gesundheitsbezogene Anfragen. Da allerdings Briefe aus dem Jahr 1992 nicht vollständig überliefert sind, wurden diese – um Verzerrungen zu vermeiden – im Rahmen statistischer Auswertungen nicht berücksichtigt, wodurch sich die quantitativ analysierte Anzahl der
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Die Briefpatienten In der gesundheits- und medizinsoziologischen Forschung besitzen die jeweiligen Ausprägungen der sozialen und biologischen Variablen eine Schlüsselrolle, da sie das Gesundheitsverhalten bestimmter Individuen und sozialer Gruppen maßgeblich beeinflussen.22 Allen Briefpatienten ist aufgrund ihrer Bitte um medizinischen Rat eine konkrete Form von Gesundheitsverhalten gemein. Demnach verspricht die Analyse einer Auswahl ihrer soziostrukturellen und weiteren askriptiven Merkmale wertvolle Erkenntnisse in Bezug auf die Frage, ob spezifische Eigenschaften die Briefpatienten als Gruppe verbinden und damit eine Einflussgröße auf ihre Affinität für präventive Praktiken sind und als Erklärung dienen, warum Nutzer und Sympathisanten alternativer Behandlungsmethoden präventives Gesundheitsverhalten mit einer höheren Wahrscheinlichkeit praktizieren als andere Bevölkerungsgruppen. Als Indikatoren, die ein präventives Gesundheitsverhalten begünstigen oder behindern können, werden daher im Folgenden die Geschlechterverteilung, der Bildungshintergrund zur Beschreibung ihres sozioökonomischen Status, das Alter sowie das Krankheitsspektrum in den Blick genommen. Geschlechterverteilung Das Geschlecht prägt sämtliche Lebensbereiche eines Menschen und wirkt sich folglich auch auf das Gesundheitsverhalten und den Gesundheitszustand aus. Neben biologischen Faktoren beeinflussen auch soziale und kulturelle Einflüsse die Gesundheit eines Menschen und tragen zu Geschlechterunterschieden bei.23 Eine quantitative Analyse der geschlechterspezifischen Verteilung der Briefautoren liefert eindeutige Ergebnisse. Mit einem Anteil von nahezu 75 Prozent dominieren Frauen unter den Verfassern. Sie wandten sich mehr als dreimal so häufig mit medizinischen Fragen an die Patientenorganisation als Männer. Dieses Geschlechterverhältnis ist insofern wenig überraschend, da bekanntlich zu den Nutzern und Interessenten alternativmedizinischer Angebote mehrheitlich Frauen gehören.24 Vertreter des weiblichen Geschlechts sind nachweislich offener für und interessierter an gesundheitsbezogenen Themen. Das lässt sich dadurch belegen, Briefe auf 1.489 verringert. Im Rahmen dieses Beitrags können nur einige wenige Briefe exemplarisch vorgestellt werden. 22 Vgl. Borgetto/Kälble (2007), S. 13–25; Hurrelmann/Richter (2013), S. 26 f. 23 Allerdings fehlt es in der Forschung an umfassenden Theorien und Modellen, durch welche die Komplexität ihres Zusammenspiels hinreichend erfasst werden kann, vgl. Lademann/Kolip (2005), S. 78. Gleichwohl sind Männer und Frauen nicht zwangsläufig auf bestimmte Verhaltensmuster festgelegt, sondern besitzen teilweise erhebliche Spielräume zur Gestaltung ihrer Geschlechterrolle, die individuell sehr unterschiedlich sein können, vgl. Hurrelmann/Richter (2013), S. 61. 24 Vgl. etwa Sharma (1995), S. 19–22; Marstedt (2002), S. 135; Hoefert (2011), S. 220.
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Schaubild 1: Prozentuale Verteilung der Briefe nach Geschlecht der Verfasser (Anzahl der Briefe: 1.489)
dass Frauen aktiver medizinische Selbstvorsorge betreiben, häufiger den Kontakt mit dem medizinischen System suchen und auch dessen Angebote zur Prävention und Krankheitsfrüherkennung eher wahrnehmen.25 Als Erklärungsansatz hierfür wird seitens der gesundheitswissenschaftlichen Forschung unter anderem die Medikalisierung und Pathologisierung des weiblichen Körpers angeführt, in deren Kontext Frauen bereits schon in jungen Jahren aufgrund ihrer Regelblutung und später im Zusammenhang mit Verhütung, Kinderwunsch, Schwangerschaft und im mittleren Lebensalter durch das Klimakterium dazu angehalten werden, auf ihren Körper und ihre Gesundheit zu achten und im Kontext von Prävention und Kuration auf medikale Praktiken zurückzugreifen.26 Der hohe Anteil an Frauen unter den Autoren wird zudem durch den Entstehungskontext der Quellen beeinflusst. Zum einen ist dem weiblichen Geschlecht in der Regel eine höhere Affinität in Bezug auf das Medium Brief zu attestieren als Männern.27 Zum anderen scheinen sich Frauen auch tendenziell häufiger an ratgebende Institutionen jenseits der von Ärzten angebotenen medizinischen Versorgung zu wenden.28 Dabei sollte nicht vergessen werden, 25 Vgl. Bründel/Hurrelmann (1999), S. 140 f.; Kolip/Koppelin (2002); Hurrelmann/Richter (2013), S. 62 f. Zum historischen Kontext der stärkeren Inanspruchnahme der medizinischen Versorgungen durch Frauen vgl. Dinges (2007). 26 Vgl. Bründel/Hurrelmann (1999), S. 131; Lademann/Kolip (2005), S. 82 f. 27 In Bezug auf die Geschlechterspezifik in der medialen Orientierung konnte festgestellt werden, dass Frauen im Vergleich zu Männern nicht nur häufiger, sondern auch mehr Briefe verfassen, vgl. Höflich (2003), S. 48. 28 So konstatiert der im Jahr 2012 erschienene Entwicklungsbericht der „Unabhängigen Patientenberatung Deutschland“, dass rund zwei Drittel der Ratsuchenden weiblich waren,
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dass die Beratungsangebote innerhalb der etwa 100-jährigen Geschichte der Gesundheitsberatung – von der Stillberatung um 1900 bis zur Gesundheitsaufklärung in der BRD – vorrangig an Frauen adressiert waren und sind.29 Es liegen allerdings mittlerweile Forschungsergebnisse vor, die dieses Bild zwar nicht auf breiter Basis revidieren, aber darauf hindeuten, dass die pauschale Auffassung einer überwiegend weiblich dominierten Inanspruchnahme von ratgebenden Institutionen zumindest einer Differenzierung bedarf.30 Bildungshintergrund Innerhalb der deutschen Bevölkerung prägt der Bildungshintergrund nach wie vor in starkem Maße das Gesundheitsverhalten des Einzelnen. Grob vereinfacht lässt sich dieses Verhältnis folgendermaßen ausdrücken: Je höher das Bildungsniveau, desto positiver wirkt sich das jeweilige gesundheitsrelevante Verhalten eines Menschen auf dessen Gesundheitszustand aus.31 Folglich begünstigt nicht nur das Geschlecht, sondern auch der Bildungshintergrund die Durchführung präventiver Maßnahmen.32 Den Nutzern alternativer Behandlungsmethoden wird im Allgemeinen ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau zugeschrieben.33 Diese Zuschreibung konnte mittels einer Analyse der Berufs- und Ausbildungshintergründe der Briefautoren zwar bestätigt werden, entsprechende Angaben lagen allerdings lediglich in 176 der schriftlichen Kontaktaufnahmen vor, was einem An-
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vgl. Unabhängige Patientenberatung Deutschland (2012), S. 28. Auch Inke Deichmann konnte im Rahmen ihrer Untersuchung von Anfragen in Form von Leserbriefen, die an Illustrierte als medizinische Ratgeber gerichtet wurden, einen deutlich höheren Anteil an Frauen unter den Absendern feststellen, vgl. Deichmann (1998), S. 73. Der Bereich der Selbsthilfe wird ebenfalls – von Ausnahmen abgesehen – von Frauen dominiert, vgl. Omland (2007), S. 253 f. Vgl. Dinges (2009), S. 22. So konnte Peter-Paul Bänziger in seiner Untersuchung zeigen, dass die Autorengruppe, welche sich schriftlich an die „Liebe Marta“ mit der Bitte um Sexualberatung wandte, etwa zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern bestand, vgl. Bänziger (2010), S. 19 f. Eine geschlechterspezifische Auswertung der Kontaktaufnahmen, die an die Institution des Patientenbeauftragten der Bundesregierung erfolgten, ergab ebenfalls ein nahezu ausgeglichenes Verhältnis zwischen Frauen und Männern, vgl. Schenk u. a. (2010), S. 108. Vgl. hierzu ausführlich die Beiträge in Brähler u. a. (2012). Positive Verhaltensmuster von Bevölkerungsgruppen mit vergleichsweise hohem Bildungsniveau gegenüber ihrer Gesundheit zeigen sich beispielsweise in einer gesünderen Ernährung, vermehrter sportlicher Aktivität und dem geringeren Konsum von Tabak, vgl. Richter u. a. (2012), S. 56–58. Grundsätzlich existieren nur sehr wenige gesundheitsschädigende Verhaltensweisen, die bei Bevölkerungsgruppen mit einem hohen sozioökonomischen Status, zu dessen Erreichung ein hoher Bildungshintergrund ein zentrales Kriterium darstellt, stärker verbreitet sind, vgl. Hurrelmann/Richter (2013), S. 36. Vgl. etwa Marstedt (2002), S. 135; Köntopp (2004), S. 281; Hoefert (2011), S. 220. Eine ältere Übersicht über verschiedene Erhebungen im internationalen Vergleich findet sich bei Sharma (1995), S. 20 f.
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Schaubild 2: Prozentuale Verteilung der Bildungshintergründe der Mitglieder von „Natur und Medizin“. Quelle: Natur und Medizin (2004), S. 4
teil von etwa zwölf Prozent aller gesundheitsbezogenen Anfragen entspricht.34 Vor dem Hintergrund der relativ kleinen Datenbasis lassen sich diese Ergebnisse nicht für den Kontext der gesamten Stichprobe verallgemeinern. Hilfreich ist daher der Rückgriff auf eine interne, seitens der Patientenorganisation durchgeführte Umfrage unter etwa 1.000 Mitgliedern aus dem Jahre 2004, die unter anderem auch deren Bildungshintergrund berücksichtigte. Folgt man diesen seitens des Vereins zur Verfügung gestellten Daten, besaß mit knapp 80 Prozent der Großteil der Mitglieder mindestens einen mittleren Bildungsabschluss. Dieses Ergebnis liegt weit über dem Bundesdurchschnitt, denn in Deutschland war der Anteil von Personen, die mindestens über einen mittleren Bildungsabschluss verfügten, zu Beginn der 2000er Jahre mit rund 50 Prozent deutlich geringer.35 Somit trifft die bisherige Erkenntnis, dass Nutzer und Sympathisanten alternativer Behandlungsmethoden ein vergleichsweise hohes Bildungsniveau aufweisen, auch auf die Mitglieder der hier untersuchten Patientenorganisation zu. Übertragen auf die Briefpatienten bedeutet das Ergebnis, dass diese aufgrund ihres Bildungshintergrundes im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen offener waren für präventive Gesundheitsmaßnahmen und diese wahrscheinlich auch häufiger praktizierten.36 34 Der Anteil an Akademikern unter jenen Briefautoren, die sich in Bezug auf ihren Berufsund Ausbildungshintergrund äußerten, betrug mit 108 Vertretern über 60 Prozent. 35 Vgl. Statistisches Bundesamt (2006), S. 127. 36 In diesem Zusammenhang ist ein Untersucherbias möglich, da nicht automatisch davon ausgegangen werden kann, dass der Bildungsstand der Mitglieder mit jenem der Briefau-
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Alter Ähnlich wie das Geschlecht und der Bildungshintergrund ist auch das Lebensalter ein äußerst einflussreicher Parameter in Bezug auf das Gesundheitsverhalten und den Gesundheitszustand. Seitens der Forschung, die sich mit dem Phänomen der Alternativen Medizin und ihrem wachsenden Stellenwert in der Gesellschaft seit den letzten Jahrzehnten beschäftigt, wird konstatiert, dass es mehrheitlich Personen mittleren Alters sind, die zu dieser Form der medizinischen Behandlung tendieren.37 Diese Einschätzung bestätigte sich für die Briefautoren nicht. Denn die Auswertung der in den Briefen enthaltenen Angaben ergab, dass knapp zwei Drittel der Verfasser älter waren als 60 Jahre.38 Der Altersdurchschnitt betrug 62,2 Jahre. Zwar lagen exakte Altersangaben nur für etwa jeden fünften Brief vor, diese stimmen aber relativ genau mit der Mitgliederstruktur des Vereins überein.39 Die Altersstruktur der Briefautoren weist demnach eine deutlich erkennbare Tendenz zugunsten der ‚älteren‘ Generationen auf und weicht dabei extrem von der Altersstruktur der Bevölkerung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland sowohl insgesamt als auch geschlechterspezifisch ab, wie auch aus nachfolgendem Schaubild hervorgeht. Im Kontext der Prävention ist dieses Ergebnis in vielerlei Hinsicht aufschlussreich: Mit zunehmendem Alter beginnen Menschen, sich risikobewusster zu verhalten und ihre Ansprüche an den eigenen Körper zu reduzieren. Da mit fortschreitendem Alter viele vormals alltäglichen Herausforderungen wie im Kontext von Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung entfallen, die zuvor von der Rücksichtnahme auf die eigene Gesundheit und ihrer Wahrnehmung ablenkten, wird diese nun immer mehr zum Handlungsfeld medikaler Praktiken auch aus dem Bereich der Prävention.40 Getragen wird die zunehmende Medikalisierung der Lebensphase ‚Alter‘ nicht nur durch die vielseitigen Herausforderungen in Bezug auf die Frage der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme, sondern auch in Bezug auf
toren korreliert. Vgl. Köntopp (2004), S. 281; Hoefert (2011), S. 220. Eine ältere Übersicht über verschiedene Erhebungen im internationalen Vergleich findet sich bei Sharma (1995), S. 20 f. 38 Von den insgesamt 286 Briefen, die Altersangaben ihrer Verfasser enthielten, stammten 182 von über 60-Jährigen. Diese bilden demnach mit einem Anteil von 63,64 Prozent die Mehrheit in dieser Gruppe. 39 Altersangaben fanden sich in exakt 286 Briefen, was einem Anteil von 19,21 Prozent der gesundheitsbezogenen Anfragen entspricht. Der Altersdurchschnitt der Mitglieder betrug laut einer weiteren Umfrage aus dem Jahr 2010 62,5 Jahre, vgl. Natur und Medizin (2010), S. 21. Angaben in Bezug auf die Altersverteilung der einzelnen Mitglieder finden sich in dieser Erhebung zwar nicht, wurden aber in einer früheren Studie aus dem Jahre 2004 ermittelt, vgl. Natur und Medizin (2004), S. 3. Anhand der Darstellung dieser Ergebnisse ist eine genaue Angabe der einzelnen Prozentwerte sowie der einzelnen Zahlen, auf welchen sie beruhen, nicht möglich. 40 Vgl. Troschke (2003), S. 387; Renner/Staudinger (2008). 37
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die gesundheitlichen Konsequenzen, die eine alternde Bevölkerung mit sich bringt. So sind Schlagworte wie „gesundes Altern“ oder „erfolgreiches Altern“
Schaubild 3: Prozentuale Verteilung der Briefautoren und der Bevölkerung der BRD nach Alter und Geschlecht (Anzahl der Briefe: 283). Quelle: Statistisches Bundesamt (1998), eigene Berechnungen41
und die damit verbundenen Strategien zu ihrer Realisierung in den Fokus des politischen, medizinischen und öffentlichen Diskurses gerückt. Damit ist das Altern zu einem breiten Handlungsfeld vielfältiger medikaler Praktiken avanciert, die nicht nur die Akutversorgung, sondern auch verstärkt Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsaufklärung sowie technische Innovationen zum Erhalt oder zur Wiederherstellung der Selbständigkeit betreffen.42 Diese Auffassung schlägt sich auch in der 1999 von der WHO inszenierten Kampagne zum Konzept des „Active Aging“43 nieder, zu dessen Verwirklichung fol41
Die drei Briefe mit Altersangaben, die keinem Geschlecht zugeordnet werden konnten, wurden nicht berücksichtigt. 42 Zur Prävention und Gesundheitsförderung im Alter vgl. als Überblick beispielsweise Böhmer (2003); Walter u. a. (2006), S. 29–37; Bauer (2008); Garms-Homolová (2008); Walter (2008). Zur technischen Entwicklung hinsichtlich der Selbständigkeit im Alter vgl. Mollenkopf (2008). 43 Das Konzept des „Active Aging“ der WHO zielt darauf ab, die Lebensqualität alternder Menschen zu verbessern, indem ihre Chancen für mehr Gesundheit, Partizipation und Sicherheit verbessert werden sollen. Dabei identifiziert sie zahlreiche Determinanten – wie das Sozial- und Gesundheitssystem, ökonomische Faktoren, Umwelteinflüsse und das Gesundheitsverhalten –, durch deren Beeinflussung dieses Ziel verwirklicht werden soll, vgl. Walter u. a. (2006), S. 32 f.
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gende Einstellung der Verantwortlichen formuliert wurde: „[T]here is much the individual can do to remain active and healthy in later life.“44 Die Durchführung medikaler Praktiken mit der Zielsetzung eines „Active Aging“ obliegt in vielen Bereichen dem Patienten selbst in seiner Rolle als Produzent und Koproduzent der eigenen Gesundheit. Aus zahlreichen Studien wird deutlich, dass präventive Praktiken innerhalb der ‚alten‘ Bevölkerung auf große Akzeptanz stoßen: Mit zunehmendem Alter nehmen nicht nur die Bemühungen zu, gesundheitsabträgliche emotionale Stressoren zu vermeiden, sondern auch das Praktizieren von gesundheitsfördernden Aktivitäten gewinnt vermehrt an Bedeutung.45 Im Vergleich zu Jüngeren ernähren sich Ältere gesünder, rauchen seltener und nehmen häufiger Angebote zur Prävention wie Kurse der Krankenkassen und/oder Grippeschutzimpfungen wahr.46 Krankheitsspektrum Zwar berichteten nicht alle Briefautoren von bestehenden Beschwerdebildern. Gesundheitsbezogene Anfragen, die keine Angaben in Bezug auf bestehende gesundheitliche Problemlagen enthalten, sind allerdings in der Minderheit. Denn Beschwerdebilder finden sich in insgesamt 1.023 Briefen und demnach in etwa 70 Prozent aller schriftlichen Anfragen. Da die Autoren in insgesamt 476 Briefen und demnach in rund einem Drittel aller medizinischen Anfragen explizit um Rat für die gesundheitliche Situation Dritter baten, wurden die einzelnen Beschwerdebilder und -dauern dahingehend differenziert, ob sie den Verfasser selbst oder eine weitere Person betrafen.47 Unabhängig von dieser Differenzierung waren die Ergebnisse eindeutig: Die meisten Leiden waren chronisch, was sich nicht alleine aus der Angabe der konkreten Krankheitsbezeichnung und den daraus erschließbaren Verlaufsformen herleiten ließ, wie etwa bei einer chronischen Polyarthritis oder einer chronischen Bronchitis, sondern auch aus ihrer jeweiligen Dauer, welche zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme für den Großteil der Erkrankungen, für welche entsprechende Daten erhoben werden konnten, bereits mehr als ein Jahr betrug.48 44 Das Zitat entstammt einem Flyer der WHO mit dem Titel „Active Aging makes the differences“ aus dem Jahre 1999, abrufbar unter http://www.who.int/ageing/publications/ alc_embrace2001_en.pdf (letzter Zugriff: 16.7.2014). 45 Einen Forschungsüberblick bietet Kuhlmey (2008), S. 86. 46 Vgl. Walter u. a. (2006), S. 22 f. 47 In 42 Briefen wurden Fragen für Dritte gestellt, ohne dabei auf bestehende Beschwerdebilder zu rekurrieren. 48 In Bezug auf den Gesundheitszustand der Verfasser konnte in 269 Fällen die Dauer von 291 Beschwerden kodiert werden. Von diesen bestanden 209 (71,82 Prozent) bereits länger als ein Jahr. Ein ähnliches Bild ergab sich bei den Beschwerdedauern jener Nutznießer der Briefe, die nicht identisch mit dem Verfasser waren. Bei ihnen konnte in 138 Fällen die Dauer von insgesamt 152 Beschwerden kodiert werden, von welchen 98 (64,47 Prozent) seit mehr als zwölf Monaten auftraten. Unter Miteinbeziehung qualitativer Aussagen innerhalb der Briefe, wie ‚seit langem‘, ‚seit der Kindheit‘ oder ‚seit vielen Jahren‘,
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Insgesamt dominierten bei den Briefpatienten mit „Krankheiten des MuskelSkelett-Systems und des Bindegewebes“, „Krankheiten des Nervensystems“ und mit „Neubildungen“ eindeutig solche Beschwerdebilder, bei welchen die Schulmedizin kaum erfolgversprechende Therapieformen im Sinne einer vollständigen Heilung, sondern allenfalls Methoden zu deren Linderung und Symptombekämpfung anzubieten hatte.49 Die Quantifizierung der drei häufigsten Krankheitsbilder lässt sich anhand des nachstehenden Schaubilds aufzeigen. Konkret bestanden die häufigsten Beschwerdebilder, an welchen die Briefpatienten litten, aus den vielfältigsten Manifestationen des Krebses, aus Multipler Sklerose sowie aus den unterschiedlichsten Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, in erster Linie aus Arthrose.50 Generell weist das Aufkommen der Beschwerdebilder der Briefpatienten in quantitativer Hinsicht eindeutige Parallelen mit dem Krankheitsspektrum der bundesdeutschen Bevölkerung auf.51 Sie sind demnach Ausdruck des sich spätestens seit den 1950er Jahren drastisch gewandelten Krankheits- und Sterbegeschehens, in dessen Kontext sich klassische Infektionskrankheiten nicht nur durch immer wirksamer werdende schulmedizinische Therapien, sondern auch durch verbesserte Lebensverhältnisse und private Hygiene zurückdränist der Anteil an bereits seit geraumer Zeit vor der schriftlichen Kontaktaufnahme wahrgenommenen oder diagnostizierten Beschwerdebildern als weitaus größer einzuschätzen. 49 Die Erfassung der Beschwerdebilder erfolgte anhand der Kriterien der zehnten Revision der International Statistical Classification of Disease and Related Health Problems (ICD10). Die ICD-10 ist als deutsche Modifikation in seiner aktuellen Fassung online abrufbar, vgl. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htmlgm 2014/index.htm (letzter Zugriff: 16.7.2014). 50 Als Einzeldiagnosen finden sich bösartige Neubildungen, die unter dem Sammelbegriff ‚Krebs‘ subsumiert werden können, in insgesamt 152 Briefen. Multiple Sklerose wurde als Erkrankung in insgesamt 85 der schriftlichen Anfragen angeführt, Arthrose wurde als Beschwerdebild in 22 Briefen erwähnt. Daneben finden sich noch zahlreiche weitere Erkrankungen, die zum rheumatischen Formenkreis gerechnet werden können, wie Spondylitis Ankylosans, rheumatoide Arthritis oder Lupus erythematodes. Aufgrund der Vielfältigkeit und der medizinbegrifflich nicht unproblematischen Klassifikation der sich unter dem Begriff Rheuma formierenden Krankheitsbilder wurde von deren Systematisierung innerhalb der Briefe an „Natur und Medizin“ Abstand genommen, vgl. hierzu den Überblick zum Fachgebiet der Rheumatologie bei Renz-Polster/Krautzig/Braun (2004), S. 1001–1057. 51 Übereinstimmungen und Unterschiede lassen sich exemplarisch an ausgewählten Statistiken in Bezug auf die drei häufigsten Diagnosen in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 2004 demonstrieren: Diese bestanden in der ambulanten Versorgung 1. aus „Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes“, 2. aus „Krankheiten des Atmungssystems“ sowie 3. aus „Symptomen und abnormen klinischen Befunden“, vgl. Barmer GEK (2012), S. 75. In der stationären Versorgung wurden am häufigsten 1. „Krankheiten des Kreislaufsystems“, 2. „Neubildungen“ und 3. „Krankheiten des Verdauungssystems“ diagnostiziert, vgl. Statistisches Bundesamt (2006), S. 236. Zu den häufigsten Todesursachen zählten im selben Jahr „Krankheiten des Kreislaufsystems“, „Neubildungen“ und „Krankheiten des Atmungssystems“, vgl. Statistisches Bundesamt (2006), S. 240.
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Schaubild 4: Die drei häufigsten Erkrankungen von Verfassern und Nutznießern anhand der Oberkapitel der ICD-10 (Anzahl aller Briefe mit Krankheitsnennungen: 1.023; Anzahl aller Krankheitsnennungen: 1.614; Mehrfachnennungen möglich)
gen ließen, chronische und degenerative Erkrankungen durch eine gestiegene Lebenserwartung allerdings stetig zunahmen.52 Gerade für chronisch Kranke gewann die Prävention massiv an Bedeutung. Bei chronischen Krankheiten gibt es im Allgemeinen keine Heilung im Sinne einer Wiederherstellung des ursprünglichen gesunden Zustandes. In den jeweiligen Bewältigungsprozessen erleben sich diese Patienten phasenweise als gesund und zeitweilig als krank und oszillieren zwischen Situationen, in denen ihnen die Verantwortung für die Behandlung selbst obliegt oder diese ihnen von medizinischen Experten abgenommen wird.53 Gerade für Patienten mit chronischen Erkrankungen besitzen sowohl eigenverantwortlich durchgeführte als auch von Experten übernommene medizinische Maßnahmen aus dem Bereich der Sekundärprävention, wie beispielsweise nach einer abgeschlossenen Krebsbehandlung, und auch aus dem Bereich der Tertiärprävention, wie nach einer MS-Diagnose, einen zentralen Stellenwert für den Erhalt oder die Wiederherstellung eines erträglichen Zustandes an relativer Gesundheit.54 So kann ein präventiver Lebensstil in Form einer langfristigen Veränderung der individuellen gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen, in welchem der Patient selbst – wenigstens teilweise – zum Manager seiner Krankheit avanciert, einer Verschlechterung des Gesundheitszustands entgegenwirken.55
52 Hierfür und für weitere Literaturangaben hinsichtlich der Veränderungen im Krankheitspanorama der Industriegesellschaft seit etwa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Jacob (1995), S. 17–19. 53 Vgl. Zaumseil (2000), S. 7; Schaeffer/Moers (2009), S. 127; Corbin/Strauss (2010), S. 56– 59. 54 Für die in der Forschungsliteratur gebräuchliche Unterteilung der Prävention in Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention vgl. Rosenbrock/Gerlinger (2004), S. 57–88. 55 Vgl. Rieder/Giesing (2011), S. 20 f.
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Die Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken Ein bewusst präventionsorientiertes Verhalten impliziert, dass bestimmte innere und/oder äußere Bedingungen als potentiell gesundheitsschädlich identifiziert oder als solches akzeptiert werden. Manche verzichten beispielsweise auf den Konsum von Alkohol oder Tabak, weil sie dessen potentiell negativen Einfluss auf ihre Gesundheit vermeiden wollen. Andere unterziehen sich medizinischen Vorsorgeuntersuchungen, um das Risiko einer potentiellen Erkrankung ausschließen oder frühzeitig dagegen intervenieren zu können. Als psychologische Besonderheit wird den Nutzern von alternativen Behandlungsmethoden attestiert, dass diese verstärkt unter Gesundheitsängsten leiden, die sich nicht nur auf medizinische Interventionen, sondern auch auf eine als feindlich wahrgenommene Umwelt beziehen.56 Die Charakteristika der Briefpatienten belegen, dass im Kontext ihres medikalen Verhaltens der Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken eine besondere Bedeutung zukommt: Es waren in der Mehrheit Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts aus medizinischer Perspektive vor allem im Kontext der Reproduktion als Risikogruppe eingestuft werden. Des Weiteren befanden sie sich größtenteils in ihrer zweiten Lebenshälfte und waren daher mit einer zentralen Lebensproblematik des Alterns beschäftigt, welche nach Adelheid Kuhlmey aus dem Bedürfnis nach „Bewältigung einer zunehmend negativen Bilanzierung der Verhältnisse zwischen Kompetenzerhalt und -verlust“57 besteht. Das impliziert eine Vermeidung oder Reduzierung von Gesundheitsrisiken. Darüber hinaus hatten die meisten von ihnen unter chronischen Krankheiten zu leiden. Im Gegensatz zu den meisten Infektionskrankheiten, deren Ursache in der Regel einem bestimmten Erreger zugeschrieben werden kann, existieren für chronische Krankheiten keine eindeutigen Erklärungen und Prognosen über Ursachen, Verlauf und Ausgang. Hinzu kommt, dass dem individuellen Verhalten der Betroffenen selbst eine sehr viel größere Rolle bei deren Ätiologie und Bewältigung beigemessen wird. Dadurch können nahezu alle ihre Entscheidungen – sei es im Alltag oder innerhalb der medizinischen Versorgungssysteme – als ein mögliches Gesundheitsrisiko bewertet werden.58 Schließlich werden diese ein präventionsorientiertes Verhalten begünstigenden Charakteristika durch den relativ hohen Bildungshintergrund der Briefpatienten umrahmt. Als Indikator für einen vergleichsweise hohen sozioökonomischen Status ermöglichte er den Briefpatienten, die nötigen materiellen und immateriellen Ressourcen für den Erhalt oder die Wiederherstellung ihrer Gesundheit aufzuwenden.59 Diese Ausführungen verdeutlichen, dass den Briefpatienten als Nutzern und Sympathisanten von alternativen Behandlungsmethoden aufgrund ihrer 56 57 58 59
Vgl. Hoefert (2013), S. 93 f. Kuhlmey (2008), S. 94 f. Vgl. Jacob (1995), S. 278 f. Für die Zusammenhänge von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit vgl. Schmidt (2008), S. 157–184.
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Zugehörigkeit zu tatsächlichen oder vermeintlichen Risikogruppen ein erweiterter Präventionshorizont im Sinne einer verstärkten Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken und einer damit korrespondierenden ausgeprägten Bereitschaft zur Durchführung präventiver Praktiken attestiert werden kann. Einen Beitrag dazu leisten sicherlich auch die kybernetisch oder gar metaphysisch orientierten Denksysteme vieler alternativmedizinischer Richtungen in Bezug auf Gesundheit und Krankheit.60 Diese korrespondieren entweder schon von vornherein mit den Einstellungen und Wahrnehmungsmustern ihrer Nutzer oder werden von diesen im Laufe eines Behandlungsprozesses adaptiert. Dadurch sind die Nutzer stark sensibilisiert für subjektiv wahrgenommene oder antizipierte interne Veränderungen oder externe Einflüsse, die ihren Körper als bio-psycho-soziales Ganzes betreffen oder betreffen könnten, und sind demnach auch empfänglicher für die Durchführung vorbeugender Praktiken. Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass in vielen alternativmedizinischen Systemen der Vorsorgegedanke von vornherein einen zentralen Stellenwert einnimmt, da diese Systeme aufgrund ihrer Sichtweise auf den Menschen als bio-psycho-soziales Wesen nicht nur auf funktionelle und somatische Erkrankungen beschränkt sind.61 Eine starke Ausprägung von Risikowahrnehmung und damit verbundenen Gesundheitssorgen lässt sich in den Briefen an „Natur und Medizin“ explizit nachweisen, da sie keinesfalls nur die tatsächliche oder potentielle Schädlichkeit medizinischer Interventionen betrafen. So befinden sich unter den etwa 1.500 gesundheitsbezogenen Anfragen an die Patientenorganisation zahlreiche Briefe von Verfassern, die sich über Krankheitsursachen, -bilder und -risiken informieren wollten. Häufig wurden diese Kontaktaufnahmen von Schreckensmeldungen über Gesundheitsrisiken in den Massenmedien initiiert, in deren Berichterstattung nicht nur ökologische Risiken, sondern auch individuelles gesundheitliches Fehlverhalten thematisiert wurde.62 Ein anschauliches Beispiel ist in diesem Zusammenhang die schriftliche Kontaktaufnahme von Frau A. B., die sich in Bezug auf die möglichen Gründe 60 Viele Therapiesysteme aus dem Bereich der Alternativen Medizin haben gemein, dass die Symptomatik eines Patienten in einem größeren – auch biographischen – Wirkungszusammenhang betrachtet wird, in welchem primär das Individuelle und Subjektive berücksichtigt und behandelt wird, vgl. Hoefert (2013), S. 84. Eine Übersicht gemeinsamer Charakteristika der ansonsten sehr heterogenen alternativmedizinischen Verfahren bietet Köntopp (2004), S. 30–32. 61 Naturheilkundliche Verfahren setzen beispielsweise bereits bei einem sehr frühen Auftreten von tatsächlichen oder vermeintlichen pathologischen Entwicklungen an, welche von der Schulmedizin noch nicht als krank gewertet werden, vgl. Bühring (1997), S. 219. 62 Die Ansätze und Befunde der Medienselektionsforschung sprechen größtenteils dafür, dass Nachrichten über potentielle Gesundheitsrisiken eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens des Mediennutzers erfahren, vgl. Hastall (2011), S. 98 f. Dabei ist des Weiteren davon auszugehen, dass – folgt man dem „Uses-and-Gratification-Approach“ der Medienwirkungsforschung – die Briefpatienten keinesfalls nur passive Rezipienten dieser Botschaften waren, sondern sie diese durchaus auch aktiv und bewusst zur subjektiven Bedürfnisbefriedigung nutzten. Zum „Uses-and-Gratification-Approach“ im Kontext der Gesundheitskommunikation vgl. Fromm/Baumann/Lampert (2011), S. 86–88.
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für Krebserkrankungen in ihrem Bekanntenkreis an den Verein wandte. Als mögliche Ursachen wurden neben schlechtem „Brunnenwasser“ und dem „Ozonloch“ auch „Viren“ und „falsche Ernährung“ identifiziert.63 Bemerkenswert ist bei den Schilderungen mancher Briefpatienten, dass nicht nur solche Gesundheitsrisiken häufig als sehr gravierend eingeschätzt wurden, die innerhalb der Naturwissenschaften nachgewiesen bzw. diskutiert wurden, sondern auch solche, denen eine gesundheitsschädliche Wirkung üblicherweise abgesprochen oder deren Existenz wissenschaftlich grundsätzlich negiert wird. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise der Glaube an die potentiell als schädlich wahrgenommene Wirkung von Erdstrahlen zu erwähnen. Dabei zeigte sich, dass die Briefpatienten in ihrer Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken Wissensbestände aus ihrem Alltag, den Naturwissenschaften und alternativmedizinischen Systemen in Form von Laientheorien ungeachtet bestehender Widersprüchlichkeiten entlehnten, neu anordneten und zu einer Art erweitertem Präventionshorizont amalgamierten.64 Praktiken der Prävention Es wurde bereits gezeigt, dass die Geschlechterverteilung, der Bildungshintergrund, das Alters- und Krankheitsspektrum, die Akzeptanz von alternativmedizinischen Denkmodellen und die aus diesen Merkmalen resultierende verstärkte Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken eindeutig ein präventives Gesundheitsverhalten begünstigten. Im Folgenden wird skizziert, wie Vorbeugepraktiken subjektiv erfahren und beurteilt wurden. Da eine umfassende Diskussion der vielfältigen angewandten und nachgefragten Behandlungs- und Diagnoseverfahren aus den unterschiedlichsten therapeutischen Systemen den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf jene Praktiken der Briefpatienten, die es im Kontext von präventivem Gesundheitsverhalten besonders hervorzuheben gilt. Bei einer Betrachtung der Briefe jener Patienten, die sich bereits schulmedizinischen Behandlungs- und Diagnoseverfahren unterzogen hatten, zeigte sich, dass viele unter ihnen dies aus Gründen der Prävention taten. Ein Beispiel hierfür aus dem Bereich der Tertiärprävention ist der Brief der 70-jährigen Frau H. O., die ihre Diabeteserkrankung durch Unterstützung medizinischer Experten, Insulininfusionen und Selbstdisziplin unter Kontrolle zu haben glaubte: Seit 13 Jahren bin ich Diabetiker. Ich bin bei einer Spezialistin in Behandlung und lebe diszipliniert. Vor 6 Jahren wurde ich auf Insulin eingestellt. Ich mache regelmäßig Selbstkontrolle, meine Werte sind in Ordnung.65 63 IGM, VNM 11, Frau A. B., 28.11.1992. 64 Zu subjektiven Theorien von Laien in Bezug auf Gesundheit und Krankheit und ihrer Bedeutung vgl. Faltermeier (1994); Jacob (1995); Detka (2011). 65 IGM, VNM 342, Frau H. O., 10.7.2000.
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Weiteren Schilderungen zufolge kümmerten sich die Briefpatienten auch darum, dass regelmäßige Kontrollen des Blutdrucks, des Blutbildes und der Herztätigkeit erfolgten, Magen- und Darmspiegelungen mit damit verbundenen Biopsien durchgeführt und im Falle von weiblichen Patienten der PAPWert ermittelt oder die Brust untersucht wurde. Dabei empfanden sie die jeweiligen Untersuchungen keinesfalls immer als angenehm, wie etwa im Falle von Frau A. T., deren Brust im Rahmen einer Mammographie bis „zur Schmerzgrenze […] zusammengedrückt“ wurde; dennoch seien die Aufnahmen „gut gelungen“.66 Auch legten zahlreiche Briefpatienten Wert auf eine gesunde Lebensführung67, welche sie beispielsweise durch eine bestimmte Ernährung, durch körperliche Aktivität, Stressreduktion sowie durch den Verzicht oder zumindest den eingeschränkten Konsum von Genussmitteln wie Kaffee, Alkohol oder Nikotin realisierten. Frau T. B. etwa schilderte ihr Verhalten folgendermaßen: „Lebe gesund mit Gemüse, viel Obst, Spaziergang täglich“.68 Auch vielfältige Verfahren aus dem Bereich der Alternativen Medizin gehörten wie selbstverständlich zum Repertoire an präventiven Praktiken, wie beispielsweise die Anwendung der Sonnenblumenöltherapie, welche von Frau W. T. und deren Ehemann „regelmäßig“ durchgeführt wurde, wodurch diese „schon lange keine Erkältungskrankheiten mehr gehabt“ hätten.69 Diese Therapieform stieß bei den Briefpatienten auf reges Interesse, da sie nicht nur häufig praktiziert wurde, sondern man auch oftmals Informationen darüber erbat.70 Das Wissen über diese Art der Behandlung stammte zu großen Teilen aus mehreren Berichten und Leserbriefen innerhalb der Vereinszeitschrift und war demnach überwiegend medieninduziert. Im Rahmen der Zeitschrift wird der Effekt der Sonnenblumenölkur und deren Durchführung wie folgt beschrieben: Auf diese Art [durch die Sonnenblumenöltherapie – P. E.] werden Kopfschmerzen, Bronchitis, Zahnweh, Thrombosen, chronische Blutkrankheiten, Arthrose, Paralyse, Ekzeme, Magengeschwüre, Darmerkrankungen, Herz- und Nierenbeschwerden, Enzephalitis und Frauenkrankheiten vollkommen ausgeheilt. Vorbeugend wird gleichzeitig das Entstehen lebensgefährlicher Auswüchse verhindert wie auch geheilt, z. B. chronische Blutkrankheiten, Lähmungen, Nerven-, Magen-, Lungen- und Lebererkrankungen sowie auch die epi66 IGM, VNM 111, Frau R. O., 24.4.1995. Der Bericht von Frau A. T. war als Anlage der schriftlichen Kontaktaufnahme von Frau R. O. beigefügt, welche sich in deren Namen an den Verein wandte. 67 Nach Hans-Wolfgang Hoefert und Christoph Klotter kann der Begriff „Lebensführung verstanden werden als menschliche Aktivität, die bestimmten Zielen und Werten verpflichtet ist, den Anforderungen der jeweiligen materiellen, ökologischen und sozialen Umwelt folgt, von persönlichen Wünschen und Erwartungen geprägt ist und von internen Ressourcen (Kompetenzen) und externen Ressourcen (soziale Unterstützung, materielle Möglichkeiten) abhängig ist“. Hoefert/Klotter (2011), S. 7. 68 IGM, VNM 24, Frau T. B., 8.11.1993. 69 IGM, VNM 87, Frau W. T., 31.5.1994, Datum nach Eingang. 70 Eine Anwendung der Sonnenblumenöltherapie wird seitens der Briefpatienten in 59 der schriftlichen Kontaktaufnahmen artikuliert. 65 Briefe enthielten diesbezügliche Anfragen.
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demisch auftretende Schlafkrankheit. Die hier angeführte Heilmethode heilt den ganzen Organismus gleichzeitig, aber auch vorbeugend. […] Anwendung: Pflanzenöl – am besten Sonnenblumenöl – maximal 1 Esslöffel – minimal 1 Teelöffel. Das Öl wird […] gesaugt, gespült und durch die Zähne gezogen 15–20 Minuten. Das Öl darf auf keinen Fall hinuntergeschluckt werden. […] Nach dem Ausspucken muß die Mundhöhle gründlich mehrmals mit Wasser gespült und die Zähne mit der Zahnbürste gereinigt werden.71
Die Akzeptanz und das Interesse der Briefautoren an dieser Behandlungsmethode resultierte sicherlich hauptsächlich daraus, dass sich ihr Erfolgsversprechen nicht nur aus der Linderung und Heilung akuter Beschwerden speist, sondern sie darüber hinaus sämtliche Maßnahmen einer primären, sekundären und tertiären Prävention ohne die Beschränkung auf ein bestimmtes Indikationsgebiet umfasst. Zudem sind ihr jene Charakteristika zu eigen, die alternativen Behandlungsmethoden seitens ihrer Nutzer und Anbieter häufig zugeschrieben und auch seitens der Autoren immer wieder artikuliert wurden. Im Falle der Sonnenblumenöltherapie sind dies zum einen ihre antizipierte Unschädlichkeit, ihre einfache Durchführung und der damit mögliche Verzicht auf Technik sowie ein ihr zugrundeliegendes vereinfachtes Verständnis von Krankheitsentstehung und Gesundheitswiederherstellung bzw. -erhaltung. Schließlich bot die Sonnenblumenöltherapie den Briefpatienten die Möglichkeit, sowohl als präventive Praktik als auch zur Behandlung akuter Beschwerden eigenverantwortlich und selbständig an sich zu arbeiten. Dies geschah im Rahmen eines sich konstituierenden „präventiven Selbst“72 – einer Art internalisierten Selbstführung – und eben nicht im Rahmen eines teilweise als Zwang und Bevormundung empfundenen Appells von außen. Dementsprechend steht die Sonnenblumenöltherapie als Mitmach- und Selbstführungstherapie pars pro toto für die Fülle an alternativmedizinischen Angeboten, die in hohem Maße anschlussfähig sind an das gesellschaftliche Bedürfnis nach einem Mehr an aktivem Gesundheitsverhalten.73 Unabhängig davon, ob von Selbst- oder Fremdzwängen geleitet, erscheint es zunächst begrüßenswert, wenn sich Menschen aus eigenem Antrieb heraus und/oder mit Unterstützung medizinischer Experten um den Erhalt und die Wiederherstellung ihrer Gesundheit kümmern. Diese Ausführungen sollen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl die Durchführung präventiver Praktiken seitens der Briefpatienten als auch ihr ausgeprägtes Interesse daran mit den vielfältigsten Problemlagen verbunden waren. Für die Briefpatienten als Patienten mit erweitertem Präventionshintergrund zeitigte der Präventionsgedanke durchaus ambivalente Züge: Zum einen nahmen sie gerne die Möglichkeiten des ihnen seitens der Schulmedizin 71
Anonym (1991), S. 2. Vgl. die Evidenz in der englischsprachigen Wikipedia, „Oil Pulling“: http://en.wikipedia.org/wiki/Oil_pulling (letzter Zugriff: 16.7.2014). 72 Jörg Niewöhner beschreibt das „präventive Selbst“ als utopische Idealvorstellung im Präventionsdiskurs, als „das sich ständig beobachtende, autonome Individuum, das fähig und willens ist, auf der Basis medizinischer Informationen in sich selbst zu intervenieren, um langfristig eine bessere Gesundheit zu erzielen“. Niewöhner (2010), S. 309. 73 Vgl. hierzu auch Wolff: Alternativmedizin (2010), S. 180 f.
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zur Verfügung gestellten Repertoires an präventiven Praktiken an, um dieses um eigene Verhaltensweisen sowie durch die Inanspruchnahme alternativer Behandlungsmethoden zu ergänzen, zu erweitern und teilweise auch zu substituieren. Auf der anderen Seite erzeugte ihr ausgeprägtes Risikobewusstsein auch ein starkes Unsicherheitspotential, welches sich eben nicht nur auf möglicherweise gesundheitsschädliche Umwelteinflüsse, sondern auch auf die mögliche Anwendbarkeit präventiver Praktiken an sich – unabhängig von ihrer jeweils zugrundeliegenden therapeutischen Richtung – auswirkte. Wenngleich vielen Briefpatienten die Notwendigkeit von Vorsorgeuntersuchungen und vorbeugenden Maßnahmen bewusst war, so dürfen die sich daraus ergebenden Sorgen, Ängste und Unsicherheiten nicht außer Acht gelassen werden. Diese Befürchtungen wurden vor allem dann artikuliert, wenn verordnete präventive Maßnahmen mit weiteren Gesundheitsrisiken verbunden und die Briefpatienten vor die Entscheidung gestellt waren, verschiedene Risiken gegeneinander abzuwägen. Einige waren mit dieser Entscheidung schlicht überfordert, wie folgendes Beispiel einer 45-jährigen Verfasserin zeigt: Sehr verehrte Frau Dr. Carstens, […] Im Dez. 1994 wurde aufgrund stark veränderter Zellen eine Konisation vorgenommen, dann am 14.2.1995 eine Hysterektomie, wobei die untersuchte Gebärmutter ohne krankhafte Veränderung war. Jetzt erhalte ich das Hormon-Pflaster Estroderm TTS, vorher eingenommenes Medikament Presomen 0,6 konnte ich nicht vertragen. Meine Befürchtung, daß ich jetzt anfälliger auf Brustkrebs bin. Meine Mutter starb 1981 an den Folgen nach Brustkrebs. Ist meine Angst unbegründet? Ich gehe jährlich zur Mammografie. Muß ich jetzt zeitlebens Hormone nehmen w/ [sic!] Knochenschwund?74
Diese Briefpassage verdeutlicht, dass die Verordnung risikoreduzierender Medikamente oft ein Risiko durch ein anderes ersetzt und somit die Ängste und Bedrängnisse der Patienten lediglich einen anderen Fokus erhalten.75 In einigen Fällen galt ein auffälliger Befund und die damit verbundene Diagnose eines Vorkrankheitszustandes auch als Ausgangspunkt der Patientenkarriere eines sich zuvor als subjektiv gesund fühlenden Menschen. Dieser sah sich fortan mit einer Vielzahl von antizipierten Behandlungen und Überwachungen konfrontiert, welche sich dann teilweise nicht nur in Form weiterer Kontrolluntersuchungen, sondern auch in der lebenslangen Einnahme von Medikamenten oder schweren operativen Eingriffen realisierten. Bei Frau E. R. beispielsweise war die aufgrund eines abnormen Plasminogenwerts ärztlicherseits verordnete Dauereinnahme von Marcumar der Grund, dass sie sich auf der Suche nach einer homöopathischen oder naturheilkundlichen Alternative an den Verein wandte.76Alternativmedizinische Therapieformen wurden auch zur Prävention unerwünschter Nebenwirkungen durch die Pharmakotherapie der Schulmedizin angewandt und bei „Natur und Medizin“ nachge74 75 76
IGM, VNM 95, Frau H. B., 29.3.1995. Vgl. hierzu auch Aronowitz (2010), S. 370. IGM, VNM 344, Frau E. R., 12.1.2000. Für die Erfordernisse und Schwierigkeiten, mit welchen Patienten im Verlauf einer chronischen Erkrankung bezüglich der Einnahme von Medikamenten allgemein konfrontiert werden, vgl. Haslbeck (2010).
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fragt.77 Frau H. B. beispielsweise nahm auf Anraten des Vereins täglich homöopathische Arzneimittel ein, um die Nebenwirkungen von ‚Intron A‘ zu reduzieren, welches sie aufgrund ihrer Non-Hodgkin-Lymphome einnehmen musste.78 Ein zentraler Faktor, der die Briefpatienten zu vorbeugenden Verhaltensweisen motivierte, war nicht nur die Angst vor potentiellen Erkrankungen, sondern auch die Furcht vor schulmedizinischen Interventionen, die es demnach möglichst zu vermeiden galt. Dabei verließen sie sich nicht nur auf die Angebote des öffentlichen Gesundheitssystems. Exemplarisch kann hierfür die schriftliche Anfrage von Frau J. B. angeführt werden, die sich mit der Bitte um einen Diäthinweis für ihren Lebensgefährten an die Patientenorganisation wandte. Nachdem bei diesem ein erhöhter PSA-Wert festgestellt worden war, wurde er „von der Angst einer möglichen OP zerfressen“.79 Die kritische Einstellung gegenüber der Schulmedizin sowie der Wille zur Prävention speiste sich größtenteils aus früheren Erfahrungen der Briefpatienten mit den öffentlichen Versorgungssystemen, da sie als chronisch Kranke zu den Dauer- und Vielnutzern des Gesundheitswesens gehörten.80 Die meisten von ihnen hatten eine entsprechende Behandlung selbst durchlebt und wussten aus eigener Erfahrung, wie sich beispielsweise eine nebenwirkungsreiche Dauermedikation, eine invasive Operation, eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung auf das eigene Befinden auswirken konnten. Dementsprechend zeugen zahlreiche Schilderungen von einem Prozess der Vermengung von Risikoempfinden und Krankheitserfahrungen, was wiederum eine Vergrößerung des Präventionshorizonts mit sich bringt.81 Die Verheißungen einer Gesundheitsgesellschaft mit ihrer unübersichtlichen Angebotsstruktur waren für viele Briefpatienten – gerade für die chronisch Kranken unter ihnen – relativ. Auch wenn ihre Präferenzen häufig auf den Bereich der Alternativen Medizin ausgerichtet waren und sie dabei eher ihrer eigenen Logik als den Empfehlungen der Ärzte folgten, wurde im Allgemeinen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die Notwendigkeit und Effektivität schulmedizinischer Therapien nicht pauschal in Frage gestellt. So findet sich in den Briefen kein expliziter Nachweis darauf, dass schulmedizinische Kontrolluntersuchungen aufgrund der Inanspruchnahme alternativer Heilweisen ausgesetzt worden wären. Demnach lässt sich in vielen Fällen die Affinität der Briefpatienten in Bezug auf die Durchführung präventiver Praktiken sowohl der Schul- als auch der Alternativmedizin eher aus der Perspektive rationaler und zweckorientierter Überlegungen heraus und weniger im Sinne 77
Wie Malte Bühring konstatiert, ist eine Interpretation dieser Möglichkeit im Sinne einer Prävention sicherlich diskutabel, vgl. Bühring (1997), S. 222. Aus der Perspektive der Briefpatienten erscheint ihre Konzeption als präventive Praktik jedoch als durchaus plausibel. 78 IGM, VNM 327, Frau H. B., 8.11.2000. 79 IGM, VNM 11, Frau J. B., 17.11.1992. 80 Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002), S. 60. 81 Für die Vermengung von Risiko- und Krankheitserfahrung vgl. allgemein auch Aronowitz (2010).
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eines ‚Gesundheitswahns‘ interpretieren, in dessen Kontext Gesundheit zu einem beinahe ubiquitären, quasi religiösen Orientierungspunkt der Alltagswelt stilisiert wird.82 Vielmehr bedeutete für die Briefpatienten die Inanspruchnahme von Dienstleistungen aus dem ‚grauen‘ Gesundheitsmarkt eine partiell wiedergewonnene Autonomie, welche durch die langfristige Unterordnung unter ein ärztliches Therapieregime eingeschränkt war. Allerdings begründeten einige Briefpatienten ihre intendierte oder tatsächliche Inanspruchnahme von alternativen Behandlungsmethoden auch damit, dass sie die geplanten schulmedizinischen Therapiepläne nach auffälligen Befunden als unzureichend empfanden, um das Risiko einer Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu minimieren. Das belegt folgender Briefauszug einer Hautkrebspatientin: Bis auf die großflächige Entfernung des erkrankten Hautgewebes und regelmäßige Kontrolluntersuchungen […] ergreifen die mich behandelnden Ärzte keine Initiative, eine das Immunsystem stabilisierende Begleittherapie anzuordnen.83
In den Schilderungen dieser Autorin wird ein Kritikpunkt an der Schulmedizin deutlich, der auch bei weiteren Briefpatienten zu finden ist, die sich mit der Bitte um Rat in Bezug auf präventive Maßnahmen an „Natur und Medizin“ wandten. Folgt man deren Ausführungen, so war die Schulmedizin zwar in der Lage, durch aufwendige und ausgefeilte Diagnosemethoden pathologische Anomalitäten zu identifizieren, als unzureichend wurde aber die Aufklärung bezüglich der daran anschließenden Maßnahmen empfunden, vor allem solcher, welche die Betroffenen eigenverantwortlich aktiv und selbständig hätten durchführen können. In der Tat erwecken die schriftlichen Kontaktaufnahmen den Eindruck, dass die Briefpatienten sich das Wissen über präventive Praktiken jenseits des schulmedizinischen Kanons überwiegend außerhalb der ärztlichen Expertise aneigneten. Hier kommt vor allem den Medien sowie dem sozialen Umfeld eine zentrale Rolle zu.84 Entsprechend selten finden sich daher in den Briefen Äußerungen, dass selbständig und eigenverantwortlich anwendbare präventive Praktiken auf Geheiß eines Arztes begonnen wurden. Die Briefpatienten artikulierten immer wieder, dass sie seitens ihrer behandelnden Ärzte trotz Nachfrage keine zufriedenstellenden Informationen erhalten hatten. Viele kritisierten dabei, dass sie nach der Feststellung eines anormalen Befundes oder 82 Eine kritische Reflexion der Übersteigerung von Gesundheitsverhalten im Sinne eines ‚Gesundheitswahns‘ findet sich bei Lütz (2010). Für die Rolle der Alternativmedizin in der Gesundheitsgesellschaft vgl. Wolff: Alternativmedizin (2010). 83 IGM, VNM 93, Frau J. B., 17.3.1995. 84 Die Rolle der Medien und des sozialen Umfeldes lässt sich durch die Beantwortung der Frage verdeutlichen, mit Hilfe welcher Informationsquellen die Briefpatienten von der Existenz des Vereins erfahren hatten. Entsprechende Angaben lagen in 192 Briefen vor. In 110 Fällen (57,29 Prozent) hatten die Briefpatienten den Verein über Printmedien in Form von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern sowie über das Fernsehen kennengelernt. In 55 Fällen (28,65 Prozent) stammte die entsprechende Information aus dem sozialen Umfeld. Ärzte wurden explizit als Informationsquelle in lediglich drei Briefen (1,56 Prozent) erwähnt. Die restlichen 24 Briefe nennen andere Informationsquellen.
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einer konkreten Diagnose lediglich mit der Aussage entlassen wurden, dass sie als Patienten selbst nichts weiter tun könnten, als die nächsten Kontrolluntersuchungen abzuwarten, die teilweise erst nach Ablauf einer längeren Zeitspanne erfolgen sollten – so auch die an chronischem Asthma erkrankte Frau D. T., die sich eine unterstützende Begleittherapie wünschte: „Die Aussage meiner bisherigen Ärztin, daß man da eben nichts machen kann, empfinde ich als ein im Stich gelassen werden.“85 Da diese Patienten in der Zwischenzeit indes selbst aktiv werden wollten, wichen sie auch aus Angst, ‚etwas zu verpassen‘, auf andere Möglichkeiten der Informationsgewinnung aus, wozu auch eine Kontaktaufnahme mit „Natur und Medizin“ zu zählen ist. Hier zeichnen sich deutliche Informationsdefizite innerhalb der Arzt-Patient-Kommunikation ab, zumal anzunehmen ist, dass die meisten Briefpatienten – auch durch die Schwere ihrer Erkrankungen bedingt – vor ihrer Entscheidung, sich mit der Bitte um Rat an „Natur und Medizin“ zu wenden, bereits in Kontakt mit medizinischen Experten gestanden hatten.86 In Bezug auf die Bewertungs- und Beurteilungskriterien von alternativmedizinischen Therapierichtungen zeigte sich, dass die Gesundheitsängste der Briefpatienten keinesfalls nur auf vorbeugende Maßnahmen der Schulmedizin ausgerichtet waren. Bei der Sonnenblumenöltherapie beispielsweise als einer eher einfach und harmlos einzustufenden medikalen Praktik war das antizipierte Risikopotential sogar weitaus höher als bei der Schulmedizin.87 Unsicherheiten bestanden dabei in Bezug auf Nebenwirkungen, Unverträglichkeiten mit anderen Medikamenten oder einer möglichen Überdosierung. Das mit dieser Therapie antizipierte Risikopotential resultiert allerdings nicht daraus, dass die Briefpatienten die Schulmedizin als ‚harmloser‘ einstuften, sondern liegt vielmehr in der Tatsache begründet, dass ihnen zu einer validen Beurteilung alternativer Therapien häufig die notwendigen Informationsquellen fehlten. Dies zeigt, dass gesundheitsförderndes Verhalten im Allgemeinen und zielgerichtete Vorbeugung im Besonderen für die Briefpatienten zwar von zentraler Bedeutung waren, ihnen dabei allerdings auch ein kritisches Verständnis für die ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Praktiken attestiert werden kann, welches ihre Entscheidungsprozesse für oder gegen eine bestimmte präventive Maßnahme nachhaltig beeinflusste. Dabei wurden das Potential und die möglichen Risiken alternativmedizinischer Behandlungsmethoden im Vergleich zur Schulmedizin 85 IGM, VNM 349, Frau D. T., 11.1.2000. 86 Ein Arztbesuch wurde zwar insgesamt ‚nur‘ in 568 Exemplaren (38,15 Prozent) der Briefe erwähnt, stellt aber die am häufigsten erwähnte Informationsquelle bei Gesundheitsfragen dar. Des Weiteren ist die Zahl der im Vorfeld der Anfrage konsultierten Ärzte noch als weitaus höher einzuschätzen, wenn man jene Briefe miteinbezieht, in welchen eine entsprechende Konsultation zwar nicht erwähnt, aber auf die Durchführung von Therapieformen rekurriert wurde, deren Anwendung eine ärztliche Betreuung voraussetzt. 87 Insgesamt 80 Verfasser erbaten bei dem Verein Informationen in Bezug auf schulmedizinische Therapieformen. Von diesen wollten sich 21 (26,25 Prozent) über mögliche Risiken aufklären lassen. Bei der Sonnenblumenöltherapie, zu welcher in 65 Briefen Informationen erbeten wurden, war der Anteil derer, die aufgrund von damit antizipierten Gesundheitsrisiken Fragen stellten, mit 40 Schreiben (61,54 Prozent) bedeutend höher.
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größtenteils genauso kritisch oder gar noch kritischer evaluiert. In diesem Abwägungsprozess hatten nicht wenige Briefpatienten die Sorge, eine falsche Entscheidung zu treffen und so gegebenenfalls ihrer Gesundheit zu schaden oder eine möglicherweise bessere Wahl zu versäumen. Dieser Zustand wurde sicherlich auch dadurch forciert, dass damals wie heute kein Konsens darüber besteht, wie ‚gutes‘ Gesundheitsverhalten zu definieren ist. Als ebenfalls problematisch anzusehen ist die in der herrschenden Gesellschaftskultur gängige Überzeugung, dass Gesundheit mit eigenverantwortlichem Gesundheitsverhalten gleichzusetzen sei.88 So wurden auch in den Vorstellungen der Briefpatienten Hoffnungen generiert und Erwartungen an präventive Praktiken gestellt, welche sich nicht bewahrheiteten, wie etwa im Falle von Frau L. T., deren Mann trotz eines tadellosen Gesundheitsverhaltens an Muskelschwund erkrankte, obwohl dieser zuvor immer gesund gewesen war und „viel Sport getrieben, nicht geraucht u. nicht getrunken“89 hatte. Dementsprechend waren Fehlschläge in Form von erfolglosen präventiven Praktiken, die häufig mit Unverständnis und auch mit Resignation im Kontext des Kampfes um Gesundheit einhergingen, ebenfalls ein Aspekt, mit welchem sich die Briefpatienten als Patienten mit ‚erweitertem Präventionshorizont‘ gezwungenermaßen auseinanderzusetzen hatten und dadurch mitunter in der Rolle als ‚Präventionsverlierer‘ leben mussten. Anhand dieses Aspektes lassen sich die Grenzen des Präventionskonzepts im Hinblick auf eine mögliche Überbewertung der Chancen und Nutzen der Übernahme eigener Verantwortung bei der Gesundheitserhaltung und -wiederherstellung aufzeigen. Zwar stehen die Vorteile des Pflegens eines risikoarmen Lebensstils und eines am individuellen Risikoprofil ausgerichteten Gesundheitsverhaltens für die präventionsorientierten Briefpatienten außer Frage, eine Garantie auf Gesundheit ergab sich für den Einzelnen dadurch allerdings nicht. Fazit und Ausblick Die Analyse der Briefe, welche mit der Bitte um medizinischen Rat an „Natur und Medizin“ gesandt wurden, verdeutlicht, dass präventive Praktiken bei den Briefpatienten nicht nur bereitwillig akzeptiert wurden, sondern auch einen hohen Stellenwert besaßen. Dabei wurden sowohl schulmedizinische als auch alternativmedizinische Behandlungs- und Diagnosemethoden praktiziert und nachgefragt. Auch das Führen einer gesunden Lebensweise war für die Briefpatienten zentral. Alternative Behandlungsmethoden gehörten dabei ganz selbstverständlich zur medikalen Alltagskultur dieser Untersuchungsgruppe und wurden häufig ohne Absprache mit dem Arzt angewandt, obwohl viele Autoren ein ärztliches Urteil benötigt hätten. Demnach lassen sich Defizite innerhalb der Arzt-Patienten-Kommunikation erkennen, welche sich konkret darin manifestierten, dass sich die Briefpatienten in Bezug auf selbständig zu leistende Beiträge zur Gesundheitsförde88 Vgl. Schmidt (2008), S. 155 f. 89 IGM, VNM 295, Frau L. T., 10.11.1998.
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rung oder -wiederherstellung sowie bei benötigten Entscheidungshilfen bezüglich der Durchführung vorbeugender Maßnahmen und deren Potential nicht ausreichend unterstützt und informiert fühlten. Weiterhin wiesen die Briefpatienten eine stark ausgeprägte Sensibilität für Gesundheitsrisiken auf. Diese stellten zwar die Hauptmotivation dar, sich vorbeugenden Maßnahmen zu unterziehen, waren aber auch in hohem Maße der Auslöser für Unsicherheiten, Bedrängnisse und Sorgen. Enttäuschung, Resignation und Unglauben traten bei jenen Briefpatienten auf, die trotz ihrer aktiven Beteiligung und Mitwirkung am Erhalt der eigenen Gesundheit durch das Praktizieren präventiver Verhaltensweisen den Eintritt oder das Fortschreiten einer Erkrankung nicht verhindern konnten. Im Kontext der Bewertung präventiver Praktiken wurde die Schulmedizin nicht als per se negativ und die Alternativmedizin als per se positiv wahrgenommen. Vielmehr zeigt der Inhalt der Briefe, dass den Patienten in den meisten Fällen ein kritisches Verständnis der einzelnen Komponenten der medizinischen Versorgung unabhängig von der jeweiligen therapeutischen Richtung attestiert werden kann. Dieses Verständnis ermöglicht es ihnen, die Leistungen von unterschiedlichen medizinischen Systemen je nach Bedarf und frei von Widersprüchen wahrzunehmen. Statt eines „entweder – oder“ von therapeutischen Maßnahmen war für sie ein „sowohl – als auch“ zentral, wobei sich das jeweilige Nutzerverhalten stark nach den individuellen Präferenzen und der spezifischen Krankheitssituation des Patienten richtete. Gerade die Unsicherheiten in Bezug auf die Durchführung einer als einfach und risikolos einzustufenden Methode wie der Sonnenblumenöltherapie innerhalb dieser für vorbeugende Maßnahmen empfänglichen Patientengruppe zeigt, wie wichtig professionelle Unterstützung für eine adäquate medizinische Aufklärung ist. Dabei sollten alternativmedizinische Behandlungsmethoden, die längst – zu Recht oder zu Unrecht – zu einem integralen Bestandteil im präventiven Gesundheitsverhalten vieler Bevölkerungsschichten geworden sind, kritisch, aber vorurteilsfrei miteinbezogen werden. Bibliographie Archivalien Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart (IGM) VNM 11: Korrespondenz mit Mitgliedern (A-D), Laufzeit 1992–1992 VNM 24: Korrespondenz mit Mitgliedern (Bl-Bz), Laufzeit 1993–1993 VNM 87: Korrespondenz mit Mitgliedern (T), Laufzeit 1994–1994 VNM 93: Korrespondenz mit Mitgliedern (Bd-Bi), Laufzeit 1995–1995 VNM 95: Korrespondenz mit Mitgliedern (Bu-C), Laufzeit 1995–1995 VNM 111: Korrespondenz mit Mitgliedern (N-O), Laufzeit 1995–1995 VNM 295: Korrespondenz mit Mitgliedern (T), Laufzeit 1998–1998 VNM 327: Korrespondenz mit Mitgliedern (B), Laufzeit 2000–2000 VNM 342: Korrespondenz mit Mitgliedern (O), Laufzeit 2000–2000 VNM 344: Korrespondenz mit Mitgliedern (R), Laufzeit 2000–2000 VNM 349: Korrespondenz mit Mitgliedern (T), Laufzeit 2000–2000
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Implementation öffentlicher Präventionsprogramme
Praktiken der Vorsorge als Ordnung des Sozialen: Zum Verhältnis von Impfungen und Gesellschaftskonzepten im „langen 20. Jahrhundert“1 Malte Thießen
Einleitung Impfungen sind eine schlagkräftige Waffe im gesundheitspolitischen Arsenal. Zum einen beugen sie der Erkrankung ganzer Gesellschaften vor. Zum anderen sind sie ebenso rational wie kostengünstig einsetzbar. Es gibt daher wenige Gesundheitsmaßnahmen, für die das präventive Grundprinzip besser zutrifft, das Ulrich Bröckling entsprechend auf den Punkt gebracht hat: „Vorbeugen ist besser, nicht zuletzt, weil es billiger ist.“2 Nun zielen Impfungen nicht bloß auf eine kostengünstige Optimierung kollektiver Gesundheitsverhältnisse, sondern ebenso auf eine Normierung individuellen Gesundheitsverhaltens. Schließlich leistet die Impfung des Einzelnen zugleich einen Beitrag zur Gesundheit aller. Mit dieser Leistung des Einzelnen für den „Herdenschutz“ beginnen indes die Probleme. Denn in Teilen der Bevölkerung stießen und stoßen Impfungen immer wieder auf große Skepsis. Bei ihnen ist die Sorge vor potentiellen Nebenwirkungen oder vor „Impfschäden“ größer als die vor Krankheiten. Befördert wird diese Sorge noch im Falle der Impfpflicht. Immerhin legitimiert der Zwang zur Vorsorge den staatlichen Zugriff auf den Körper des Individuums und die Einschränkung von Grundrechten im Dienste des Allgemeinwohls.3 Eben diese Probleme machen Impfungen für Historikerinnen und Historiker interessant. Denn die Konzeption und Praxis von Impfprogrammen eröffnen Einblicke in die Aushandlung von sozialen Ordnungen. Impfungen spiegeln das Spannungsverhältnis zwischen Individual- und Allgemeinwohl, sie erfordern eine Verständigung über Sicherheitsbedürfnisse und Schutzvorstellungen, über kollektive Risiken und individuelle Ängste. In diesem Sinne knüpft eine Sozial- und Kulturgeschichte des Impfens zum einen an Forschungen zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ im 20. Jahrhundert an.4 Die Einführung systematischer Impfprogramme war demnach ein großer Schritt 1
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Für Anregungen zu diesem Beitrag bedanke ich mich bei den Veranstaltern und Teilnehmern des Workshops „Prävention. Nachfrage und Inanspruchnahme gesundheitserhaltender Maßnahmen seit 1918“ der Robert Bosch Stiftung, auf dem ich Ende 2012 erste Ergebnisse meines Habilitationsprojekts zur „Sozial- und Kulturgeschichte des Impfens im 19. und 20. Jahrhundert“ präsentieren durfte. Bröckling (2008), S. 46. Vgl. dazu die einführenden Überlegungen bei Lengwiler/Madarász (2010); Thießen: Gesundheit (2013). Raphael (1996); Szöllösi-Janze (2004).
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zur Rationalisierung des Sozialen, stellten Impfungen dem modernen „social engineering“ doch besonders effektive Werkzeuge bereit.5 Zum anderen kann eine Geschichte des Impfens die Befunde Robert Jüttes, Philipp Sarasins und Heinz-Peter Schmiedebachs aufgreifen, die dem Spannungsverhältnis zwischen „Selbstsorge und staatlicher Intervention“, „Prävention und Gesellschaftsmodellen“ bzw. „zwangsweiser Prävention“ und Bevölkerungskonzepten nachgespürt haben.6 Diese Spurensuche soll im Folgenden in zwei Richtungen fortgesetzt werden. Erstens durchstreift dieser Beitrag das „lange 20. Jahrhundert“, in dem eine „Genealogie“ des Impfens zwischen Moderne und Postmoderne an Konturen gewinnt. Mit diesem Untersuchungszeitraum verbindet sich das Erkenntnisinteresse, Vorsorge als einen Prozess der „Versicherheitlichung“ und Verstaatlichung greifbar zu machen. In diesem Sinne wurde das Impfen seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Werkzeug des „nationalen Sicherheitsstaats, der seinen Bürgern Sicherheit versprach und dafür Loyalität gewann beziehungsweise zu gewinnen suchte“.7 Zweitens soll in diesem Aufsatz das Wechselverhältnis zwischen Gesellschaftskonzepten als „Referenzsystem“8 auf der einen Seite und Prävention auf der anderen Seite genauer als bisher ausgeleuchtet werden. Erschöpfen sich bisherige Studien zur Geschichte der Prävention meist in der Untersuchung von Vorsorgekonzepten, -programmen und -gesetzen, werden im Folgenden ebenso alltägliche Praktiken in den Blick genommen.9 Kurz gesagt untersucht dieser Aufsatz also Aushandlungen gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen in der Konzeption und Praxis des Impfens in der longue durée. Dieses Ziel ist nur um den Preis zweier Einschränkungen zu erreichen. Erstens fokussiert der Aufsatz auf Entwicklungen in Deutschland, obwohl der vergleichende und transnationale Blick wichtige Erkenntnisse zur Geschichte des Impfens eröffnete.10 Zweitens konzentriert sich der Beitrag auf wenige Fallbeispiele, an denen Konzepte und Praktiken des Impfens vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik und DDR schlaglichtartig ausgeleuchtet werden. Massenimpfungen seit dem Kaiserreich Wenige Jahre nach der Reichsgründung rückte die Prävention von Infektionskrankheiten ganz oben auf die nationale Agenda. Im Frühjahr 1874 wurde nach mehreren hitzigen Reichstagsdebatten das „Reichsimpfgesetz“ ausgeru5 6 7 8 9
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Vgl. Etzemüller (2009). Vgl. Sarasin (2011); Schmiedebach (2002); Jütte (1998). Conze (2012), S. 462. Schmiedebach (2002), S. 36. Für diese praxeologische Perspektive greife ich auf Anregungen aus dem Themenheft „Zeitgeschichte der Vorsorge“, Zeithistorische Forschungen 10 (2013), H. 3, zurück. Vgl. dort v. a. die entsprechenden Fallstudien von Matthias Braun, David Kuchenbuch, Britta-Marie Schenk und Martin Lengwiler. Vgl. Lindner/Blume (2006).
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fen, das erstmals eine Schutzimpfung zur nationalen Pflichtmaßnahme erklärte.11 Diese „Zwangsimpfung“ betraf alle Deutschen im Alter von einem und zwölf Jahren. Die „Impflinge“ waren fortan gegen die Pocken zu impfen, im Notfall auch mit Polizeigewalt. Mit dieser Impfpflicht wurde im gesamten Deutschen Reich eine präventive Praxis etabliert, die zuvor schon in einzelnen Ländern erprobt worden war: die öffentliche Impfung. Gemeinhin waren solche Impftermine genau das, als das sie in den Behörden und in der Bevölkerung bezeichnet wurden: „Massenimpfungen“. Das gilt sowohl für die Erstimpfung als auch für die Auffrischungs- bzw. „Wiederimpfung“. Während letztgenannte Immunisierung der Zwölfjährigen meist in Schulen durchgeführt wurde, fanden die Erstimpfungen im jeweiligen „Impfbezirk“ statt, dessen Einwohner zu festgesetzten Terminen in das vorgeschriebene „Impflokal“ aufgerufen wurden. Schon mit diesem Aufruf nahm die spezifische Praxis öffentlicher Impfungen Konturen an. Verschickt wurde die Aufforderung zur Impfung nämlich von den Polizeibehörden.12 Diese polizeiliche Initiative war zum einen eine Folge der gesetzlichen Impfpflicht, deren Einhaltung von staatlicher Seite kontrolliert wurde. Zum anderen hatte die Einladung durch die Polizei organisatorische Gründe, war man für die Erfassung der „Impflinge“ doch auf Melderegister und polizeiliche Infrastrukturen angewiesen.13 Konsequenzen hatte die polizeiliche Aufforderung insofern, weil sie bereits die Rahmenbedingungen für die Praxis vorgab. Denn die Strafandrohung auf den Aufforderungsschreiben zeigte nicht nur die Folgen einer Impfverweigerung auf. Sie stellte ebenso klar, dass die Impfung als eine Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten zu verstehen sei: Eltern […], deren Kinder und Pflegebefohlene ohne gesetzlichen Grund und trotz erfolgter amtlicher Aufforderung der Impfung oder der ihr folgenden Gestellung entzogen geblieben sind, werden mit Geldstrafe bis zu fünfzig Mark oder mit Haft bis zu 3 Tagen bestraft.14
Diese Praxis blieb bis in die Bundesrepublik üblich. In Bundesländern wie Niedersachsen und Hamburg verwandelte sich die polizeiliche „Aufforderung“ zur Pockenschutzimpfung erst Mitte der 1960er Jahre in eine
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Zu den unterschiedlichen Positionen und Reichstagsdebatten um das „Reichsimpfgesetz“ vgl. Maehle (1990); Hess (2009); Thießen: Volkskörper (2013). Während für die Wiederimpfungen der zwölfjährigen Kinder häufig die Aufforderungen von den Schulen ausgingen, finden sich für die Erstimpfungen nur Einzelfälle wie der unten analysierte in Berlin von 1906, in dem die Mutter von dem „Gymnasiumsvorsteher“ die polizeiliche Aufforderung zur Impfung ihres einjährigen Kindes erhielt. Vgl. StAHH, Bestand 331–1 I/1337 Bd. 1, Erlass der Polizeibehörde Hamburg, 18.10.1922. StAHH, Bestand 331–1 I/1337 Bd. 1, Gedruckte Vorlage der Polizeibehörde Hamburg, Aufforderung zur Impfung, Mai 1893; vgl. auch gleichlautende Aufforderungen für spätere Jahre in StAHH, Bestand 331–1 I/1334 Bd. 3; StAOL, Bestände 227/143 und 227/146.
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„Einladung“.15 Bis dahin warnten die Aufforderungen stets mit den strafrechtlichen Konsequenzen des „Reichsimpfgesetzes“.16 Geimpft wurden die Einjährigen üblicherweise in „Impflokalen“, wobei diese zeitgenössische Bezeichnung durchaus wörtlich zu verstehen ist. Schließlich fand sich ein Großteil der Eltern mit ihren Impflingen tatsächlich in Lokalen, also in Gaststätten und Wirtshäusern, ein. Hygienischere Impflokale standen nur in wenigen deutschen Großstädten bereit, in denen staatliche „Impfanstalten“ ihre Pforten für die Impftermine öffneten.17 Öffentliche Impfungen waren also nicht nur öffentlich in dem Sinne, dass sie unentgeltlich waren und an festgesetzten Terminen stattfanden. Sie waren eben auch öffentlich im Sinne einer fehlenden Privatsphäre. Im Gegensatz zu den geräumigeren Impfanstalten war in den meisten Impflokalen an ein Behandlungs- oder Wartezimmer, geschweige denn an Umkleideräume nicht zu denken. Für die Praxis bedeutete das, dass im und vor dem Impflokal mitunter Hunderte Eltern mit ihren Kindern auf das Impfen warteten, wie zeitgenössische Berichte von Ärzten und Eltern zeigen. Ein Beispiel für einen solchen Bericht bietet der Brief einer Mutter aus Berlin von 1906.18 In diesem Schreiben gab die Berlinerin ihre Erfahrungen bei der Impfung ihres einjährigen Sohnes an das Kaiserliche Gesundheitsamt (KGA) weiter. Demnach war sie in der polizeilichen Benachrichtigung aufgefordert worden, sich am 15. Mai 1906 um elf Uhr vormittags mit ihrem Sohn in ein nahe gelegenes Restaurant zur Impfung zu begeben. Obgleich sie bereits „kurz vor 11 Uhr“ dort eintraf, wie sie betonte, fand sie sich schnell in Gesellschaft von 50 weiteren „Müttern mit Kindern“ sowie mit dem „nötigen Zubehör“ wieder. Mit dieser Hervorhebung des „Zubehörs“ wies die Frau darauf hin, dass sich an den öffentlichen Impfterminen eben nicht nur Mütter und Impflinge, sondern ebenso zahlreiche weitere Geschwisterkinder versammelten. Die behördliche Ansetzung der Impftermine an Vor- und Nachmittagen machte es einem Großteil der Mütter unmöglich, ihre nicht schulpflichtigen Kinder zu Hause zu lassen, zumal Väter um diese Zeit noch zu arbeiten pflegten, wie die Verfasserin in ihrem Brief mit spitzem Tonfall hinzufügte. Verschärft wurde das Gedränge im Impflokal in diesem Fall noch durch den verspäteten Beginn der Impfung. Da das Lokal statt, wie angekündigt, um elf Uhr erst um Viertel vor zwölf öffnete, war „die Zahl der Mütter mit Kindern […] auf ca. 200 angelaufen; diese alle drängten sich in den […] Operations-
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StAOL, Bestand Rep 630, 242–4/Nr. 5 II, Merkblatt „Einladung zur Pockenschutz-Wiederimpfung“, 1964. Vgl. StAHH, Bestand 361–2 VI/1312, Plakat „Bekanntmachung über öffentliche Pockenschutzimpfungen 1962 in Hamburg“. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik standen für öffentliche Impftermine zwischen 20 und 14 Impfanstalten bereit, deren Impfräume hygienischen Anforderungen genügten. Darüber hinaus erlaubte das Reichsimpfgesetz Privatimpfungen bei Ärzten, die allerdings im Gegensatz zu öffentlichen Impfungen zu bezahlen waren, so dass sie bis in die 1960er Jahre die große Ausnahme blieben. BAB, Bestand R 86/4704, Brief an das Kaiserliche Gesundheitsamt, 1906.
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saal“, wie das Impflokal von der Berlinerin sarkastisch bezeichnet wurde, sei die Gaststätte doch „dumpf, schmutzig, dunkel“ gewesen. Das Impfen selbst verschlechterte die ohnehin schlechte Atmosphäre noch einmal. Weder der verantwortliche Impfarzt noch sein Assistent, geschweige denn der anwesende Polizist oder die überforderten Krankenschwestern konnten Ruhe und Ordnung in die Menschenansammlung bringen, wie die Frau schrieb: „ich frug den Polizeimann, in welcher Reihenfolge die Impfung vorgenommen werden wird, erhielt aber keine Antwort“. Dass die Kinder „sich ganz jammervoll“ fühlten und „unruhig“ gewesen seien, erschien der Verfasserin noch nicht einmal als größtes Problem. Schwerer wog für sie der Abfertigungs-Charakter der Impfung, der die Impflinge und ihre Eltern zu einer „Masse“ degradierte, wie eine Passage im Brief deutlich macht: Und nun kommt das Größte! Nach jeder Operation sagte der Herr […]: „fünf Minuten warten“. Das sollte wohl heißen: ich soll 5 Minuten warten, bis ich dem Kinde die Kleider wieder anziehen [dürfe]. Also – in einem stinkigen Saal, in dem 200 und mehr Menschen herumlaufen, die aber von der Straße und aus dem Restaurationsgarten […] kommen und […] Schmutz und Bakterien mit sich führen, soll die frische Wunde meines kleinen, zarten Menschen fünf Minuten lang dieser ganzen [unleserlich] ausgesetzt werden!19
In diesem Vorwurf dürfte das Motiv für das Verfassen des Briefes gelegen haben. Es war die Empörung einer Mutter über den klaffenden Widerspruch zwischen der Pflicht zur Impfung auf der einen Seite und den Mängeln der Impfpraxis auf der anderen, die der Schlusssatz ihres Briefes in eindeutige Worte fasste: „Das Impfen, das doch eine gesundheitliche Einrichtung sein soll, und noch dazu eine Zwangseinrichtung ist, müsste doch wohl m. E. mit […] allen dafür zu Gebot stehenden Mitteln ausgeführt werden.“ Wegen dieser Entrüstung und persönlichen Motive sind solche Quellen als Einblick in die Praxis mit Vorsicht zu genießen. Wie groß der „Jammer“ unter allen anwesenden Kindern und Müttern war, lässt sich individuellen Schilderungen ebenso wenig entnehmen wie das tatsächliche Verhalten des Impfarztes oder des Polizisten. Allerdings ist die Subjektivität solcher Berichte für die Forschung durchaus von Vorteil, wenn man die Darstellung als Selbstzeugnis versteht, in dem sich individuelle Erfahrungen, Erwartungen und Sinnstiftungsbedürfnisse miteinander verbinden. In dieser Perspektive wird an dem beschriebenen Fall beispielsweise deutlich, dass das Impfen als ein Instrument des Staates kritisiert wurde, das den Lebenswelten vieler Deutscher widersprach. Schon die Tageszeit des Impfens und seine Organisation würden die Nöte von Frauen ignorieren, da diese gemeinhin nicht nur den Haushalt zu besorgen, sondern ebenso die Kinder zu versorgen hatten. Darüber hinaus manifestiere sich in öffentlichen Impfungen eine Übertretung der Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und demnach die Ignoranz des Staates, der weder den körperlichen Bedürfnissen der Eltern noch der Schutzbedürftigkeit der Impflinge entspräche. 19
BAB, Bestand R 86/4704, Brief an das Kaiserliche Gesundheitsamt, 1906.
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In dieselbe Kerbe schlug ein Jahr später die Zeitung Der Tag in ihrem Bericht über einen öffentlichen Impftermin. Auch hier war es eine Mutter aus Berlin, die in der Praxis des Impfens ein Menetekel behördlicher Rücksichtslosigkeit sah: Vor allen Dingen halte ich es nicht gerade für sehr rücksichtvoll von seiten der Behörde[,] daß der Termin zur Impfung abends um 6 Uhr, noch zumal am Mittwoch, an welchem Tage doch zur Zeit des alten Fritz nachmittags keine Schule war, anberaumt worden ist. Erstens ist doch auch der Behörde zu Kenntnis gekommen, daß unsere lieben Kleinen um 6 Uhr abends lieber ins Bett gehen und nicht mehr bei Wind und Wetter auf die Straße; zweitens ist es die Zeit, wo die Väter von der Arbeit ermüdet nach Hause kommen und somit nicht zur Zeit herankommen, um die Ehefrau, wo zwei, auch drei kleine Kinder sind, zu begleiten, oder die nicht in Frage kommenden Kinder zu beaufsichtigen. Somit sind die Frauen gezwungen, die Kinderchen mitzuschleppen und ohne Beaufsichtigung während der Zeit, wo das betr. Kind geimpft wird, zurückzulassen.20
Offenbar ging es auch in dieser Kritik an der Impfpraxis nicht allein um das Impfen. Vielmehr entwarf die Zeitung an dieser Szene einen Gegensatz zwischen „den“ Behörden und „der“ Bevölkerung. Auch hier stand eine lebensfremde Praxis des Impfens für die Ignoranz des Gesundheitswesens gegenüber den Bedürfnissen von Eltern im Allgemeinen und Frauen im Besonderen. Insofern fungierte die Auseinandersetzung mit Präventionsmaßnahmen als eine Projektionsfläche, an der Betroffene bzw. Nutznießer der Impftermine soziale Beziehungen, soziale Normen und soziale Ordnungen verhandelten. Eine Kritik an diesen Beziehungen und Ordnungen unterstrich Der Tag in seiner Schilderung der geradezu chaotischen Zustände in den Impfräumen einer Schule: Hier angelangt, tönte mir wüstes Kindergeschrei und Gejammere aus 200–300 kleinen Kinderkehlen entgegen, zu welchem sich noch die Ordnungs- und Weisungsrufe der Schutzleute gesellten. Sämtliche Frauen mussten mit den Kindern auf dem Arm auf dem Schulhof warten, um von dort wieder in einzelnen Trupps von zirka 20 an der Zahl zum Arzt vorzudringen. Es war auch leider nur ein Arzt zugegen. Dieser war nun nicht so leicht zu finden, denn es war für diese Handlung des Arztes in dem sehr großen geräumigen Schulgebäude kein anderer Raum zur Verfügung als die Aula, welche im vierten Stock gelegen ist. Die armen Frauen taten mir wirklich sehr leid, denn es ist für eine schwache Frau keine Kleinigkeit, nachdem sie ihr Kind erst eine halbe Stunde oder auch länger im Gedränge auf dem Arm gehalten hat (1 oder zwei Kinder vielleicht auch noch nebenher), da noch 4 Treppen hoch hinaufzuklettern. Ich wünschte einem der Herren vom sogenannten grünen Tisch, bei derartiger Gelegenheit sich mal solch einen Liebling auf den Arm zu nehmen und mit demselben den ganzen Vorgang mitzumachen; vielleicht wird es dann möglich sein, auf unsere Frauen und Kinder mehr Rücksicht zu üben.21
In dieser Passage wird der Geschlechtergegensatz besonders deutlich ausgearbeitet. Hier stehen sich zwei Fraktionen leibhaftig gegenüber: auf der einen Seite die „Herren vom grünen Tisch“ in den Behörden, auf der anderen Seite 20 BAB, Bestand R 86/4704, Zeitungsausschnitt aus Der Tag, Unser öffentliches Impfverfahren, 20.10.1907. 21 BAB, Bestand R 86/4704, Zeitungsausschnitt aus Der Tag, Unser öffentliches Impfverfahren, 20.10.1907.
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die „armen, schwachen Frauen“. In den Impflokalen und Impfräumen trafen demnach der männlich konnotierte, staatliche Zugriff auf den Körper des Kindes und weibliches Ertragen der Prozedur aufeinander. Die geradezu epische Breite bei der Ausarbeitung des Geschlechtergegensatzes ist an solchen Berichten auch insofern bemerkenswert, weil sie das Impfen an sich allenfalls streifen. Selbst die Nennung des Impfarztes diente in diesem Zusammenhang in erster Linie einer argumentativen Untermauerung unhaltbarer Zustände, die sich für die Bevölkerung aus der mangelhaften Organisation ergäben. Anders gesagt: Nicht das Impfen an sich war das Problem, sondern seine Praxis, in der sich soziale Spannungsverhältnisse zwischen Behörden und Bevölkerung, Impfarzt und „Impfling“ entluden. Insofern ging es in der Praxis des Impfens also immer um beides: einerseits um eine Auseinandersetzung mit einer Gesundheitsmaßnahme, deren Verfahren und Folgen für das eigene Kind beobachtet wurden; andererseits um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit sozialen Hierarchien und Ordnungen, mit Vorstellungen von den Aufgaben und Pflichten des Gesundheitswesens, die sich für die Beobachter in der Praxis des Impfens manifestierten. Behördliche Anweisungen, die Tätigkeit der Impfärzte oder der Ordnungspersonen fungierten für die Eltern als Repräsentationen des Gesundheitswesens, dessen Leistungsfähigkeit und Probleme am konkreten Verhalten der Repräsentanten gemessen wurden. Insofern ging es in der Praxis des Impfens ebenso um das Einfordern von Gehorsam wie um die Maßstäbe, mit denen der Staat seine Bürger zu behandeln habe. Die Doppeldeutigkeit dieses Worts ist also durchaus passend: Denn an der medizinischen Behandlung des „Impflings“ maßen die Eltern ihre Behandlung als Staatsbürger. Nach den bisherigen Berichten liegt es nahe, solche Aushandlungen sozialer Ordnungsvorstellungen in erster Linie auf die Reaktion entrüsteter Eltern zurückzuführen. Allerdings finden sich nicht minder kritische Einwände zur Impfpraxis ebenso unter Befürwortern des Impfens und unter Impfärzten. Bemerkenswert ist etwa die Beobachtung aus Königsberg, wo der Leiter der Staatlichen Impfanstalt einen Kreisarzt bei der Durchführung einer Massenimpfung kontrollierte und dabei „eine Impfungstechnik“ entdeckte, die sich mit seinen Hygienevorstellungen „nicht recht decken wollte“: „Sachlich handelte es sich darum, dass der Impfarzt seinerseits die Impflinge nicht etwa ‚untersuchte‘, oder nur genauer ansah, sondern […] die militärisch aufgereihten Impflinge nun rasch nacheinander, man muss sagen ‚herunter‘-impfte.“22 An dem Spannungsverhältnis zwischen dem Sicherheitsversprechen staatlicher Impfkonzepte und den Risiken der alltäglichen Impfpraxis entluden sich seit Einführung der Impfpflicht also grundsätzliche Debatten über das Verhältnis zwischen Staat und Staatsbürger. Ihre Legitimität zogen staatliche Vorsorgemaßnahmen daher nicht allein aus ihrem gesamtgesellschaftlichen Nutzen, in diesem Fall also aus dem Schutz des Volkskörpers vor Infektionskrankheiten. Mindestens ebenso wichtig war der konkrete Umgang mit dem 22 BAB, Bestand R 86/1210, Abschrift eines Schreibens des Vorstehers der Preußischen Impfanstalt zu Königsberg an den Königsberger Regierungspräsidenten, 19.3.1931, S. 1.
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Staatsbürger, an dem die Deutschen die Vorsorgekompetenz des Staates und das Verhältnis zwischen Allgemeinwohl und Individualwohl vermaßen. In diesem alltäglichen Umgang und seinen Mängeln dürfte eine wesentliche Ursache für die wachsende Kritik am Impfen bzw. an der Impfpflicht seit dem Kaiserreich liegen. Waren Impfkritik und Impfskepsis bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt von religiösen Bedenken in einzelnen Gemeinden und Städten getragen23, formierten sich am Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche größere Vereine und Verbände, denen die Impfpraxis schlagende Argumente gegen das Impfen und gegen die Impfpflicht an die Hand gab. Gleichwohl waren Impfkritik und Impfskepsis keineswegs auf den Kreis impfgegnerischer Vereine beschränkt24, speiste sich Impfkritik doch aus sehr alltäglichen Erfahrungen. Wer keine gesundheitlichen Bedenken gegen das Impfen an sich hegte, der konnte sich dennoch in einer Kritik an der Impfpraxis wiederfinden. Die Beharrungskraft impfkritischer Strömungen speiste sich demnach nicht zuletzt aus praktischen Erfahrungen des Impfens in der Bevölkerung, bei denen es nicht allein um medizinische Fragen, sondern ebenso um Fragen von Pflicht und Gehorsam gegenüber staatlichen Maßnahmen, um Rücksichtnahme auf alltägliche Bedürfnisse der Eltern und die Wertschätzung des Körpers des „Impflings“, ja um Gesellschaftsmodelle und Menschenbilder ging. Zwang zur Prävention: Impfen in der Weimarer Republik Um Menschenbilder und Gesellschaftsmodelle ging es auch bei Zwangsimpfungen. Zwar waren diese schon im „Reichsimpfgesetz“ von 1874 vorgesehen gewesen. Bemerkenswerterweise fand diese Praxis jedoch in der Weimarer Republik ihren Höhepunkt, wurden jedes Jahr bis zu 200 Impflinge mit Zwang zum Impfen vorgeführt.25 Ein Beispiel einer solchen Zwangsimpfung ist aus Hildesheim überliefert. Am Morgen des 8. November 1922 wurde die zwölfjährige Ruth „durch einen Polizeibeamten aus der Schule geholt“, dem Polizeiarzt vorgeführt und mit Hilfe der Lehrerin gegen die Pocken geimpft. Die Mutter erfuhr demnach erst nach Vollzug von der Impfung.26 23 Vgl. Wolff (1998). 24 Wolff (1996). 25 Einen starken Anstieg an Zwangsimpfungen verzeichnete die Statistik Mitte der 1920er Jahre. Während 1924 in Preußen ca. 26 Zwangsimpfungen vorgenommen worden seien, wären im Jahr 1925 ca. 120 Zwangsvorführungen allein in Preußen notwendig gewesen, während 1926 die Zahlen wieder gefallen, allerdings nicht genau ermittelt worden seien. Vgl. StAOL, Bestand 227/103, Sonderdruck aus dem 1. Beiheft zum Reichs-Gesundheitsblatt 1931: „Die Ergebnisse der Schutzpockenimpfung im Deutschen Reiche für die Jahre 1924 bis 1926. Zusammengestellt aus den Mitteilungen der Länder. Berichterstatter: Oberregierungsrat Dr. Breger“, S. 49; StAOL, Bestand 227/107, Sonderdruck „Die Ergebnisse der Schutzpockenimpfung im Deutschen Reiche für die Jahre 1921 bis 1923“, Berlin 1926, S. 15. 26 BAB, Bestand R 86/4639, Abschrift der Aussage des Hildesheimer Polizeiarztes Dr. Traumann, 11.12.1922.
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Zwar blieben Zwangsimpfungen wie diese ein Ausnahmefall. Ihm stand die große Mehrheit der Eltern gegenüber, die ihre Kinder ohne Polizeigewalt zur Impfung brachten. Von ihnen hatten einige wahrscheinlich Angst vor den im Aufforderungsschreiben angedrohten Strafen, andere womöglich auch vor einer Ansteckung durch die Pocken. Der Großteil der Eltern dürfte das Impfen allerdings als lästige Pflichtaufgabe gesehen haben, spielten die Pocken in den 1920er Jahren doch keine große Rolle mehr in der deutschen Öffentlichkeit. Doch gerade deshalb zeichnet sich an einzelnen Zwangsimpfungen das Verhältnis zwischen Gesellschaftskonzepten und präventiven Praktiken besonders deutlich ab. Schließlich wurde die erfolgreiche Durchsetzung des Impfens in den 1920er Jahren als Beweis staatlicher Machtansprüche verstanden und durchgesetzt. Dieser Machtanspruch ist durchaus nachvollziehbar, galt die „überforderte Republik“27 doch schon unter Zeitgenossen als „prekärer Staat“. Folglich musste dieser in den 1920er Jahren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund sozialer und wirtschaftlicher Krisen, seine „Interventionskompetenz“28 umso mehr beweisen, wie Hans-Ulrich Wehler gezeigt hat. Impfungen waren für solche Behauptungen der Interventionskompetenz besonders gefragt. Schließlich waren sie eine der wenigen Gesundheitsmaßnahmen, die sich vergleichsweise kostengünstig und reichsweit durchführen ließen. Mit anderen Worten: Impfungen waren ein Beweis, dass der Staat funktionierte. Auch aus diesen Gründen griff man in der Weimarer Republik beim Impfzwang härter durch als zuvor im Kaiserreich. So beklagte selbst der sozialdemokratische Sozialhygieniker Alfred Grotjahn, der für Zwangsmaßnahmen ansonsten ja durchaus einiges übrig hatte, eine neue „Rigorosität“: „Es ist nicht immer so gewesen, dass man mit der Polizei das Impfgeschäft unterstützt.“29 Es wäre dennoch zu einfach, die Weimarer Republik als einen totalitären „Vorsorgestaat“ zu charakterisieren, wie ein zweiter Blick in die präventive Praxis deutlich macht. Schließlich standen den Einzelfällen an Zwangsimpfungen jährlich Tausende Fälle gegenüber, die, von der Impfung zurückgestellt oder „verzogen“ bzw. „unauffindbar“, nicht nur ungeimpft, sondern ebenso unbestraft blieben.30 Wie also lässt sich die konsequente Durchsetzung des staatlichen Machtanspruchs gegenüber Ruth und anderen erklären, während ein Großteil der Ungeimpften unbelangt blieb? 27 Büttner (2008). 28 Wehler (2008), S. 429. 29 So Grotjahns Befund auf einer Sitzung des preußischen Landesgesundheitsrats am 10.10.1925. Vgl. Über die Einfügung (1926), Zitate auf S. 6 f., 85 und 95. 30 Vgl. neben den offiziellen Jahresstatistiken des Kaiserlichen bzw. Reichsgesundheitsamts in den „Veröffentlichungen aus dem Reichsgesundheitsamt“ lokale Fallbeispiele wie den Bericht des Oldenburger Landesarztes von 1923: Von den insgesamt 1.893 erstimpfpflichtigen Kindern der Stadt Oldenburg seien im Jahr 1923 18 ungeimpft verstorben, 622 Kinder verzogen, 198 Kinder aufgrund eines ärztlichen Zeugnisses zurückgestellt sowie 105 Kinder „nicht aufzufinden oder zufällig ortsabwesend“, so dass von den 1.893 Kindern gerade mal 950 impfpflichtig geblieben seien. StAOL, Bestand 227/174, Übersicht der Erstimpfungen für 1923 Stadt Oldenburg.
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Auch für diese Frage bietet das Hildesheimer Fallbeispiel eine Antwort. In seinem Protokoll begründete der Polizeiarzt die Zwangsimpfung mit dem Hinweis, dass Ruths Mutter eine „ausgewiesene Impfgegnerin“ sei, die sich trotz wiederholter Aufforderung beharrlich gegen das Impfen gestellt habe. Dieser Grund wurde auch in anderen Fällen als Erklärung für den Einsatz körperlicher Gewalt genannt. So griff man im Oldenburger Land Anfang der 1920er Jahre zur Polizeigewalt, als der Vater eines Kindes anlässlich dessen Impfung „offen zum Widerstand gegen das Impfgesetz“ aufgerufen und dafür in seiner Gemeinde viel Rückhalt gefunden hatte, wie der Amtsarzt besorgt feststellte. „So sind z. B. die Erstimpflinge der Bauernschaft Rechterfeld bis auf 3 zum angesetzten Impftermin nicht gebracht worden.“31 Zu einem Problem wurde die Verweigerung der Impfpflicht also immer dann, wenn sie sich in politische Währung ummünzen ließ. Aus dem Blickwinkel der Ministerien und Ämter war das bei erklärten Impfgegnern selbstverständlich eher der Fall als bei anderen „Impflingen“. Bei Impfgegnern erschien im Zweifelsfall daher der Zwang als notwendige Maßnahme, um nicht nur den Impfschutz, sondern mehr noch die staatliche Autorität und Handlungsmacht zu sichern. Demnach ging es bei Zwangsimpfungen also weniger um medizinische Bedenken als um die Einforderung von Gehorsam und damit um die Stabilisierung einer sozialen Ordnung, in der dem Staat das Zugriffsrecht auf den „Volkskörper“ zustand. Der Einsatz körperlicher Gewalt diente folglich immer dann als Akt der sozialen Disziplinierung, wenn Impfgegnern ein klares Signal gesendet werden sollte. Demgegenüber konnte in anderen Fällen über Verstöße gegen die Impfpflicht durchaus großzügig hinweggesehen werden, wie ein letztes Beispiel aus der Praxis der 1920er Jahre zeigt. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich im Raum Königsberg die Fälle an Impfentziehungen derart gehäuft, dass der Regierungspräsident aus Frankfurt an der Oder besorgt den Landrat in Königsberg um Aufklärung bat. Dieser machte in seinem Antwortschreiben die beruhigende Mitteilung, „dass in keinem Falle Veranlassung gegeben war, gegen die Eltern vorzugehen, da durchweg weder absichtliche noch böswillige Zurückhaltung von der Impfung vorlagen“.32 Auch in diesem Beispiel waren also weniger medizinische und epidemiologische Gründe als die Beurteilung persönlicher Motive ausschlaggebend für die Anwendung von Gewalt. Nicht die Gefährdung des Impfschutzes, sondern die „absichtliche“ oder gar „böswillige“ Gefährdung der sozialen Ordnung legitimierte den Einsatz von Gewalt. Der Königsberger Landrat entsprach damit ganz der Leitlinie des Reiches. Bis zum Ende der Weimarer Republik machte das Reichsinnenministerium (RMI) in mehreren Runderlassen immer wieder deutlich, dass vom „Zwang als dem äußersten Notbehelf nur dann Gebrauch“ gemacht werden solle, „wenn es sich um einen böswilligen Widerstand gegen die Impfung handelt, 31
StAOL, Bestand 136/5008, Schreiben des Amtes Vechta an das Oldenburger Ministerium des Innern, 14.5.1924. 32 BLHA, Bestand Rep. 3 B Med I/1247, Antwortschreiben des Königsberger Landrats an den Regierungspräsidenten in Frankfurt/Oder, 25.3.1920.
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der auf andere Weise nicht überwunden werden kann“.33 Zumindest in Friedenszeiten waren für den Einsatz von Zwangsmitteln soziale Motive offenbar ausschlaggebender als medizinische Beweggründe. Es war die explizite Nichterfüllung der Impfpflicht, die als Ungehorsam gegen den Staat gewertet und entsprechend behandelt wurde, während „Versäumnisse“ beim Impfen bei prinzipieller Anerkennung staatlicher Autoritäten folgenlos bleiben konnten. Vorsorgen für die „Volksgemeinschaft“: Impfen im „Dritten Reich“ Derart rigide Praktiken von Zwangsimpfungen sind besonders interessant, wenn man einen Blick auf das „Dritte Reich“ wirft. Denn hier stoßen wir auf eine erstaunliche Zurückhaltung gegenüber Zwangsmaßnahmen, ja mehr noch: Seit 1933 wurde im Reichsinnenministerium wiederholt angeregt, den Impfzwang aufzugeben, um einem verbreiteten „Volksempfinden Rechnung“34 zu tragen. „Sollte die Zwangsimpfung bestehen bleiben“, so erklärte das Reichsministerium des Innern auf einer Besprechung im März 1934 weiter, werde „die Mehrheit des Volkes daran zweifeln, dass in der Medizinalpolitik […] nationalsozialistische Grundsätze maßgebend seien“.35 Letztlich blieb die Pockenschutzimpfung wegen Bedenken der Wehrmacht zwar auch im Nationalsozialismus eine Pflichtmaßnahme. In der Praxis jedoch wurden polizeiliche Zwangsmaßnahmen aufgrund neuer Ausnahmeregelungen fortan sehr viel seltener umgesetzt. Darüber hinaus wurden sämtliche neuen Impfprogramme seit Mitte der 1930er Jahre explizit als „freiwillige Maßnahme“ eingeführt und der Einsatz von Zwangsmitteln im Falle der Diphtherie-, Scharlach- und Tuberkuloseschutzimpfung selbst in den Kriegsjahren explizit untersagt. Winfried Süß hat sich über diese Zurückhaltung zu Recht erstaunt gezeigt: In einem Land, […] das seit der […] Machtergreifung die individuellen Rechte auf körperliche Selbstbestimmung zugunsten der Gesundheit eines imaginären „Volkskörpers“ zunehmend eingeschränkt und damit die Durchsetzungschancen einer solchen Impfung vergrößert hatte, einem Land, das mit einem dichtgewirkten Netz öffentlicher Gesundheitsämter über ein leistungsfähiges Durchführungsinstrument staatlich angeordneter Reihenimpfungen verfügte […] kann diese Entwicklung überraschen.36 33 Der hier zitierte Erlass des Reichsinnenministers von 1917 wurde bis in die 1930er Jahre wiederholt den Medizinalbehörden der Länder in Erinnerung gerufen. Vgl. u. a. die entsprechenden Verordnungen in Hamburg und München: StAM, Bestand LRA/199818, Rundschreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, 22.8.1917; StAHH, Bestand 331–1 I/1334 Bd. 3, Schreiben des RMI an die Landesregierungen, „Betrifft: Durchführung der Pockenimpfung“, 10.9.1929. 34 BAB, Bestand R 1501/3648, Anlage „Begründung zu dem Abänderungsentwurf zum Impfgesetz“ zum Rundschreiben des Reichsministers des Innern an Reichsminister und Robert Koch Institut, 2.3.1934. 35 Zitat von Kapff aus dem Reichsinnenministerium. BAB, Bestand R 1501/3648, Niederschrift über die kommissarische Beratung im Reichsministerium des Innern am 14.3.1934, Anlage zum Rundschreiben des Reichsministers des Innern, 24.5.1934. 36 Süß (2003), S. 217 f.
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Wie also wäre ein solcher Wandel in der Praxis ausgerechnet in der „Biodiktatur“ des Nationalsozialismus zu erklären? Eine Antwort auf diese Frage findet Süß im „Lübecker Impfskandal“ von 1930, dessen Nachwirkungen bis in die 1940er Jahre zu spüren waren. Nach dem Tod von mehr als 70 Lübecker Kindern infolge eines verunreinigten Tuberkulose-Impfstoffes war im Deutschen Reich die Kritik auch an der Pockenschutzimpfung lauter denn je geworden.37 Noch ausschlaggebender scheint mir eine weitere Erklärung zu sein, die den Fokus auf Veränderungen in der Praxis legt. Mitte der 1930er Jahre lässt sich nämlich eine sukzessive Ausweitung von Präventionsmaßnahmen insbesondere zur Immunisierung des „Volkskörpers“ beobachten. Zur Pockenschutzimpfung kamen jetzt öffentliche Impfungen wie jene gegen Diphtherie und Scharlach hinzu.38 Insofern fand im „Dritten Reich“ zwar eine allmähliche Ausweitung der Impfpraxis statt, sollte die „Volksgemeinschaft“ nun nicht mehr allein gegen die Pocken, sondern ebenso gegen weitere Infektionskrankheiten geschützt werden. Diese Ausweitung des Impfschutzes sollte nach Ansicht von Experten jedoch nicht zur Verunsicherung der „Volksgenossen“ führen, was ein neues Licht auf die Praxis von Zwangsimpfungen warf. Aus diesem Grund erklärte man 1935 im Reichsgesundheitsamt (RGA) als neue Leitlinie zur Impfpflicht, dass im NS-Staat bisherige Zwangsmaßnahmen zu lockern und bei der Umsetzung der Pockenschutzimpfung eine gewisse „Elastizität“ gefragt sei, wie sie der Präsident des RGA auf den Punkt brachte: Gerade eine nicht allzu starre Handhabung des Gesetzes ist die beste Waffe gegen die Impfgegner: wenn denn der Impfarzt aus psychologischen Gründen auch hier und da einmal ein Kind nicht impft, welchem die streng medizinische Indikation vielleicht eine Impfung hätte erzwingen können, so schädigt das Verfahren in keiner Weise den Pockenschutz des deutschen Volkes; es nützt aber in hohem Grade der allgemeinen Durchführung des Impfgesetzes, da eine solche Maßnahme dazu angetan ist, unnötige Hetze und Feindschaft gegen die Durchführung des Impfgesetzes zu verhüten.39
In der Praxis des Impfens setzte sich im „Dritten Reich“ also die Vorstellung durch, dass „Bevölkerungspolitik“ wörtlich verstanden werden musste: Vorsorgemaßnahmen ließen sich demnach nur mit Beteiligung der Bevölkerung durchsetzen, nicht gegen sie. Diese Vorstellung entsprach wohl auch dem Selbstverständnis einer gesundheitspolitischen „Zustimmungsdiktatur“40, die zumindest beim Impfen den Kurs vorgab. Schließlich ging es bei diesen Maßnahmen ja nicht um die Exklusion von „Volksschädlingen“, wie sie mit anderen Gesundheitsmaßnahmen vorangetrieben wurde, sondern um die Homogenisierung einer vorsorgenden „Volksgemeinschaft“.
37 Vgl. Süß (2003), S. 218. Zum „Lübecker Totentanz“ vgl. bereits Hahn (1995). 38 Diphtherieschutzimpfungen waren in Weimar vorwiegend auf individueller Basis durchgeführt worden, ein öffentliches Impfprogramm wurde nicht angeboten. 39 BAB, Bestand R 1501/3647, Schreiben des Reichsgesundheitsamtes an den Reichsminister des Innern, 12.11.1935. 40 Bajohr (2005).
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In der Praxis des Impfens machten sich im „Dritten Reich“ daher neue Vermittlungsstrategien bemerkbar. Selbstverständlich war eine vollständige Immunisierung nach wie vor das Ziel der meisten Gesundheitspolitiker, Medizinalbeamten und Ärzte. Allerdings wurde dieses nun nicht mehr mit der Impfpflicht und mit Zwangsmaßnahmen, sondern mit Appellen und Überzeugungsarbeit verfolgt. Nachvollziehen lässt sich diese Überzeugungsarbeit anhand der Diphtherie-Schutzimpfungen seit Mitte der 1930er Jahre. An diesem Impfprogramm traten zwei neue Schwerpunkte bei der Vermittlung von Vorsorge hervor, mit denen eine Impfpraxis im Nationalsozialismus klarere Konturen gewinnt. Erstens waren präventive Praktiken seit den 1930er Jahren stärker denn je von einer Gefühlspolitik flankiert, wurden Ängste der Erziehungsberechtigten in Broschüren, Zeitungsbeiträgen und Filmen, auf Plakaten und Vortragsveranstaltungen gezielt geschürt. „Eltern!“, so schloss beispielsweise ein Aufruf zur Diphtherie-Schutzimpfung von 1941: „Die Verantwortung, die Ihr tragt, ist groß! Ihr dürft Eure Kinder nicht der Gefahr einer Diphtherieerkrankung aussetzen!“41 Es liegt auf der Hand, dass diese Gefühlspolitik den Mangel an Zwangsmaßnahmen kompensieren sollte. So hat bereits Ulrich Bröckling darauf hingewiesen, dass Präventionsmaßnahmen umso stärker „an das Eigeninteresse“ appellieren müssen, je weniger sie erzwungen werden können.42 Im „Dritten Reich“ zeigt sich dieser Zusammenhang besonders deutlich. Denn nun erreichten Appelle an individuelle Ängste eine neue Qualität: In Flugblättern, Broschüren, Zeitungsartikeln, Radiobeiträgen und Filmen trug man die Angst vor dem Kindertod in die Bevölkerung. Noch im Kriegsjahr 1942 konnten sich die Berliner sogar in einem Theaterstück von den Vorzügen der Diphtherieschutzimpfung überzeugen, gab „Der Arzt Dyrander. Ein Schauspiel aus dem Leben“ doch eine eindringliche „Mahnung an die Eltern der Reichshauptstadt“ mit auf den Weg.43 Ergänzt wurde diese Gefühlspolitik von einer Einbindung unterschiedlicher Akteursgruppen. Zu den Impfterminen wurden sowohl Polizisten und Lehrer als auch Kinobetreiber, Lebensmittelgeschäfte und Mitglieder aus NSV, DAF, HJ und BDM mobilisiert, um eine hohe Impfbeteiligung zu erreichen. In vielen Impfbezirken gingen für diesen Zweck sogar Blockwarte von Haustür zu Haustür: „Es ist wohl Ehrensache“, mahnte z. B. ein Aufruf zur Diphtherie-Impfung, „dass demnächst dem NSV-Blockwalter mit ‚Ja‘ geantwortet wird, wenn er bei seinem Rundgang anfragt, ob Hans und Fritz jetzt schutzgeimpft sind.“44 Gerade weil neue Impfungen freiwillig waren, erhöhte 41
BAB, Bestand R 36/1322, Bericht des Münchener Gesundheitsamtes über die Diphtherie-Schutzimpfungsaktion 1941, 7.8.1942. 42 Bröckling (2008), S. 47. 43 BAB, Bestand NS 18/663, Nationalsozialistischer Gaudienst/NSG-Folge 180, 4.8.1942. Für den Hinweis bedanke ich mich bei Thomas Schaarschmidt vom Zentrum für Zeithistorische Forschungen (ZZF). 44 BAB, Bestand R 36/1322, Anhang „Noch einmal! Diphtherie-Schutzimpfung!“ zum Schreiben des Oberbürgermeisters Siegen an das Amt Kommunalpolitik der NSDAP in Freudenberg, 13.5.1942.
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sich der soziale Druck also mehr denn je. So dürfte die Verklärung der Vorsorge zum Dienst an der „Volksgemeinschaft“ im Zweifelsfall auch skeptische „Volksgenossen“ motiviert haben. Kurz gesagt machte sich in der Praxis des Impfens seit den 1930er Jahren eine grundsätzliche Verwandlung der Legitimationsmuster für Präventionsmaßnahmen bemerkbar: Im „Dritten Reich“ begann die Verwandlung von einer „intervenierenden“ und „autoritären“ Instanz zu einer „appellierenden Instanz“, um noch einmal Philipp Sarasin aufzugreifen. Diese Verwandlung brachte neue Vermittlungs-Strategien mit sich, von denen die Nachfrage gefördert werden sollte. Möglich war ein solcher Wandel übrigens auch, weil seit Mitte der 1930er Jahre eine neue Infrastruktur für Präventionsmaßnahmen bereitstand: Seit der „Verreichlichung“45 der Gesundheitsämter engagierten sich neue Akteure im öffentlichen Gesundheitswesen, die das Impfen zu ihrer eigenen Sache machten. Schließlich konnten die Gesundheitsämter mit Massenimpfprogrammen ihre Leistungsfähigkeit besonders gut unter Beweis stellen. Beim Impfen zeichnet sich daher eine Entwicklung ab, die Christoph Sachße und Florian Tennstedt als Wende vom „autoritären“ zum „völkischen Wohlfahrtsstaat“46 bezeichnet haben. Seit den 1940er Jahren wurden Veränderungen in der Praxis zudem von den Auswirkungen des „totalen Krieges“ gefördert: Die Verknappung von Gesundheitsressourcen ab 1942, die massive Migration von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen förderten ein wachsendes Bedrohungs-Gefühl, das die Akzeptanz von Impfungen noch erhöhte. Im Zweiten Weltkrieg sind daher in den Quellen erstmals Privatinitiativen von Einzelpersonen nachweisbar, die das Impfen zu ihrer persönlichen Sache machten.47 Das „präventive Selbst“, so könnte man sagen, wurde seit den 1930er Jahren gezeugt und im „totalen Krieg“ geboren. Später Abschied vom Zwang: Impfen in der Bundesrepublik Nach Kriegsende blieb der Krieg zunächst der „Vater aller Dinge“. Die katastrophale Seuchenlage war nach 1945 bedrohlicher denn je und brachte sogar vorübergehend eine Verschärfung des Impfzwangs mit sich und damit auch neue Praktiken. Mit den Flüchtlingen, Vertriebenen und Soldaten wanderten auch die als „Kriegsseuchen“ gefürchteten Krankheiten wie Typhus, Ruhr und Fleckfieber „heim ins Reich“. In diesem Kontext waren Massenimpfungen nicht nur ein Bedürfnis in der Bevölkerung, sondern ebenso eine Pflichtmaßnahme zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. So warnte in Niedersachsen das Staatliche Gesundheitsamt Wesermarsch 1946 in einem Aufruf vor den existentiellen Folgen einer Verweigerung der Typhusschutzimpfung: „Nur wer 2 mal geimpft ist und eine Impfbescheinigung vorlegt, erhält neue 45 Jütte u. a. (2011), S. 40. 46 Sachße/Tennstedt (1992), S. 18, 198. 47 Vgl. dazu die Fallbeispiele bei Thießen: Volkskörper (2013), S. 57–59.
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Lebensmittelkarten.“48 Auch in der sowjetischen Besatzungszone wurden Lebensmittelkarten zeitweilig erst nach Vorlage einer Impfbescheinigung ausgegeben. Dass sich „die Bevölkerung“ mitunter gegen solche Zwangsmaßnahmen „sträubte“, wie man in Ostberlin beobachtete, sei gleichwohl kein Gegenargument: Schließlich stehe den Ängsten des Einzelnen „das Allgemeinwohl voran“, wie Theodor Brugsch von der Berliner Charité erklärte.49 Bemerkenswerterweise blieb man dieser Einstellung in der Bundesrepublik zunächst treu. Zumindest im Fall der Pockenschutzimpfung wurde die Impfpflicht bis Mitte der 1970er Jahre beibehalten. Diese 100-jährige Kontinuität des „Reichsimpfgesetzes“ ist gleichwohl erklärungsbedürftig: Avancierte das Grundgesetz nicht zu einer Garantie persönlicher Freiheitsrechte, an der sich Vorsorgemaßnahmen messen lassen mussten? War der Zwang für gesundheitspolitische Maßnahmen nicht tabu nach den Erfahrungen mit Sterilisationen und „Ehegesundheitszeugnissen“? Tatsächlich kam es in den 1950er Jahren zu massiver Kritik gegen Zwangsimpfungen. Nach Ansicht vieler Bundesbürger stellten die Pocken keine Gefahr mehr dar, im Gegensatz zu den Nebenwirkungen der Impfung, die jedes Jahr zwischen zehn und 20 Tote sowie mehrere Hundert „Impfgeschädigte“ forderte. Seither häuften sich Protestschreiben an die Bundes- und Länderministerien, die sich auf Artikel 2 des Grundgesetzes und damit auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit beriefen. In diesen Schreiben ging es um nicht weniger als um die grundsätzliche Frage, ob ein Rechtsstaat den Schutz der Bevölkerung gegen den Wunsch und mitunter auf Kosten des Einzelnen erzwingen dürfe. 1952 beantwortete der Bundesgerichtshof diese Frage ebenso eindeutig wie pikant mit dem Nutzen für die „Volksgemeinschaft“: Der Impfzwang ordnet einen in der Regel unbedeutenden vorbeugenden ärztlichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen an, um von diesem und der Volksgesamtheit die Gefahr schwerer, zu epidemischem Auftreten neigender Pockenerkrankung abzuwehren. Die planmäßige Durchimpfung ganzer Volksgemeinschaften hat die noch im vorigen Jahrhundert aufgetretenen Pockenepidemien in vielen europäischen Ländern zum Erlöschen gebracht.50
Das Bundesgesundheitsamt (BGA) präzisierte dieses Urteil in einem Gutachten von 1957 mit der Feststellung, dass die Impfpflicht nicht nur einen Vorrang der Interessen der Allgemeinheit vor den Bedürfnissen des Individuums festschreibe. Darüber hinaus sei das Festhalten am „Reichsimpfgesetz“ der Überlegung geschuldet, dass der Einzelne nicht selbständig über gesundheitliche Bedrohungen entscheiden könne, was nicht zuletzt einen „Anspruch des Staa48 StAOL, Bestand Rep 630, 242–4/240, Rundschreiben des Staatlichen Gesundheitsamtes, Kreis Wesermarsch, „Allgemeine öffentliche Schutzimpfung gegen Typhus!“, Brake, 28.2.1946. 49 BAB, Bestand DQ 1/252, Protokoll der Sitzung über Typhus-Ruhr in der Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der sowjetischen Besatzungszone, 16.4.1946. 50 Bundesgerichtshof, VRG 5/51, 25.1.1952, Gutachten zum Impfgesetz, S. 5. Der BGH bezog sich mit dieser Begründung u. a. auf das Handbuch der Pockenbekämpfung und Pockenimpfung, Berlin 1927, S. 667–669.
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tes gegenüber allen Staatsbürgern begründet, sich der Impfung zu unterwerfen“: Selbst wenn man der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung des Staatsbürgers weitgehende Zugeständnisse machen will, muss entgegnet werden, dass die persönliche Freiheit dort eine Grenze hat, wo lebenswichtige Interessen der Allgemeinheit überwiegen. Bei der Bekämpfung der Pocken kommt es aber nicht auf die Gesunderhaltung nur der Einzelperson an, sondern auf den Schutz der Gesamtbevölkerung. Ein Urteil über die Bekämpfung einer gemeingefährlichen Seuche, wie die Pocken, kann nicht in das Belieben des Einzelnen gestellt werden.51
Befunde wie diese wecken Zweifel an der These, dass Präventionsmaßnahmen in der Bundesrepublik wegen des gesundheitspolitischen Erbes aus der NSZeit einen schweren Stand gehabt hätten, wie Norbert Schmacke und andere konstatiert haben.52 Auch eine „Individualisierung der Prävention“, wie sie für die Zeit nach 1945 gemeinhin konstatiert wird, setzte beim Impfen erst ab den 1960er Jahren ein. Zuvor boten Praktiken der Prävention nach wie vor Gelegenheit zur Aushandlung sozialer Ordnung im Dienste des Allgemeinwohls und zur Durchsetzung staatlicher Autorität. In der Unterordnung des Individuums unter die Bedürfnisse des Kollektivs manifestierte sich folglich ein biopolitischer Machtanspruch des „Vorsorgestaates“, dessen Interventionskompetenz noch während der „Planungseuphorie“53 der 1960er Jahre die Leitlinie bundesdeutscher Gesellschaftsmodelle vorgab. Erst Mitte der 1960er Jahre wandelten sich diese Machtansprüche allmählich. Einen wichtigen Schritt ging das Bundesjustizministerium, von dem eine Entkriminalisierung der präventiven Praxis vorangetrieben wurde. Seit 1965 galt die Verweigerung der Pockenschutzimpfung nicht mehr als „kriminelles Unrecht“, sondern als „Ordnungswidrigkeit“54, so dass Impfverweigerer keine Gefängnisstrafen mehr zu befürchten hatten. Eine staatliche Kommission ging sogar noch einen Schritt weiter. Ihrer Ansicht nach bedürfe es keines Zwangs, sondern einer „dem heutigen Stand der Werbemethoden angepasste[n] Impfpropaganda“. Dieser Wandel machte sich in der Praxis bemerkbar: Mit Briefen und Broschüren ging es nun auch im Falle der Pockenschutzimpfung um Überzeugungsarbeit. Impfärzte versuchten die Gefahren der Pocken und Risiken der Impfung zu erklären; sie traten nicht mehr als Vollzieher der staatlichen Ordnungsmacht auf, sondern als „Berater“ besorgter Eltern. Impulse für diesen Wandel dürften Erkenntnisse in den Ministerien gegeben haben, dass weniger eine „Durchimpfung“ der Gesamtbevölkerung, sondern der Schutz vor neuen Einfallstoren der Pocken notwendig sei. Das hatte vor allem mit neuen Pockenfällen zu tun, die seit Ende der 1950er Jahre von Fernreisenden nach Westdeutschland eingeschleppt wurden. Die „Reise51
BAK, Bestand B 189/14017, Entwurf eines Gutachtens des Bundesgesundheitsamtes über die Durchführung des Impfgesetzes, 1957, S. 34. 52 Schmacke (2002). 53 Vgl. Laak (2010). 54 BAK, Bestand B 141/32881, Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch; hier: Impfgesetz, 23.11.1965.
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welle“, die über die Bundesrepublik schwappte, beförderte zudem präventive Eigeninitiativen: Unter Touristen häuften sich Anfragen nach Impfungen, die fortan „ins Reisegepäck“ gehörten, wie eine zeitgenössische Broschüre erklärte. Hier also war das „präventive Selbst“ besonders oft anzutreffen: unter den Fernreisenden, die sich in Lufthansa-Maschinen mit exotischen Zielen drängten. Das harmonierte übrigens mit einer Internationalisierung der Vorsorge und mit der Ausweitung von Impfprogrammen, wie sie von der WHO in dieser Zeit vorangetrieben wurde.55 Mit Erfolg: Mitte der 1970er Jahre konnte mit der Ausrottung der Pocken auch das Ende der Pockenimpfpflicht verkündet werden. 100 Jahre nach Einführung des „Reichsimpfgesetzes“ bestand damit „Kein Impfzwang mehr für Kinder“56, wie der Spiegel 1975 meldete. Präventive Praxis als Praxistest für den Sozialismus: Impfen in der DDR Auch in der DDR blieb beim Impfen zunächst vieles beim Alten. Wie im Kaiserreich war in Ostdeutschland die Pockenschutzimpfung verpflichtend, andere Impfungen hingegen wie im „Dritten Reich“ zunächst eine freiwillige Maßnahme. Diese Freiwilligkeit war in den 1950er Jahren erklärtes Programm der Gesundheitspolitik. So begründete das Ministerium für Gesundheitswesen 1953 die Ablehnung des Zwangs zur Diphtherie-, Keuchhusten- und Tetanusimpfung mit der grundsätzlichen Überzeugungsarbeit, die unter den frischgebackenen DDR-Bürgern für das Gesundheitssystem geleistet werden müsse. Zwar sei man sich dessen bewusst, dass durch die Anordnung einer Impfpflicht eine mehr oder weniger generelle Durchimpfung der vorgesehenen Personenkreise mit leichteren und für die Vertreter der Gesundheitsverwaltung bequemeren Mitteln zu erreichen wäre. Es widerspricht aber den Grundsätzen […], den Zwang dort anzuwenden, wo er vermieden werden kann, selbst wenn die angeordneten Maßnahmen den gesundheitlichen Interessen der Betroffenen dienen.57
Vor diesem Hintergrund sind Entwicklungen in den 1960er Jahren umso erstaunlicher, in denen von Freiwilligkeit wenig zu spüren war, im Gegenteil: Seither wurden fast sämtliche Impfungen zu Pflichtmaßnahmen erklärt.58 Während in der Bundesrepublik in dieser Zeit also eine langsame Liberalisierung einsetzte, kam es in der DDR noch zu Verschärfungen präventiver Praktiken. 55 Vgl. Manela (2010). 56 Kein Impfzwang mehr für Kinder. In: Der Spiegel H. 16 (14.4.1975), S. 190, online unter http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/41558934 (letzter Zugriff: 1.10.2014). 57 BAB, Bestand DQ 1/3011, Rundschreiben des Ministeriums für Gesundheitswesen an alle Räte der Bezirke, „Betrifft: Schutzimpfungen gegen Diphtherie bzw. Diphtherie-Pertussis-Tetanus“, Berlin 30.9.1953. 58 Eine Ausnahme blieben zeitweilig die Masern- und Rötelnschutzimpfungen.
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Für diese unterschiedlichen Entwicklungen lassen sich zwei Gründe anführen. Eine erste Erklärung wäre die sukzessive Ausweitung von Vorsorgemaßnahmen in der DDR. Seit den 1960er Jahren verzeichneten die offiziellen „Impfkalender“ eine wahre Terminflut von bis zu 17 Pflichtimpfungen, an die sich DDR-Bürger bis zum Erreichen des 18. Lebensjahrs zu halten hatten.59 Die sich häufenden Impftermine bereiteten Eltern, Kindern und Jugendlichen zunehmend Schwierigkeiten, so dass die Beteiligung bereits ab den späten 1950er Jahren allmählich sank. Insofern war die Verschärfung der Impfpflicht ein Versuch, der sich ausbreitenden „Impfmüdigkeit“ zu begegnen. Eine zweite Erklärung lenkt den Blick stärker auf das Wechselverhältnis zwischen Gesellschaftskonzepten und präventiven Praktiken. Impfungen, so lautet diese Erklärung, galten in der DDR als Beweis für das bessere, das überlegene Gesellschaftsmodell. Diese Überlegenheit galt es in den 1960er Jahren – nach Mauerbau, Beginn des Siebenjahres-Plans und Ausrufung des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Lenkung“ – offensiv zu demonstrieren. Der Grundsatz, dass der „Sozialismus die beste Prophylaxe“ sei, galt insofern auch umgekehrt und erhöhte Präventionsmaßnahmen zu einem Grundstein ostdeutscher Gesellschaftskonzepte. „Es war daher naheliegend“, erklärte das Ministerium für Gesundheitswesen in seinem Rückblick zur Ausweitung des Impfprogramms in den 1960er Jahren, „dass unser fortschrittliches, auf die Prophylaxe besonders orientiertes Gesundheitswesen sich zum Ziel setzte, den bereits seit 1874 in Deutschland mit der Pockenschutzimpfung erfolgreich beschrittenen Weg fortzusetzen und diesen entsprechend […] auszubauen“.60 In diesem Sinne erschien eine erfolgreiche Immunisierung der Bevölkerung nicht nur als logische Folge des Sozialismus, sondern trat auch umgekehrt zutage: Die erfolgreiche Praxis kollektiver Vorsorge wurde seit den 1960er Jahren immer stärker als Voraussetzung des Sozialismus gesehen, galt die breite Beteiligung an Impfprogrammen gar als Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Bewusstseins. Dieser Zusammenhang zeige sich besonders gut im Systemvergleich, wie eine „Arbeitsgruppe Impfwesen“ 1970 erklärte. Schließlich sei im Westen der Individualismus derart verbreitet, dass eine planmäßige Durchimpfung der dortigen Gesellschaft unmöglich sei. In der Bundesrepublik dominiere das „individualistische Denken, welches bis zur Verantwortungslosigkeit gegenüber der Allgemeinheit steht“. Eine hohe Immunisierung, so betonte die Arbeitsgruppe, sei eben nur bei einer Bevölkerung zu realisieren, deren Verantwortungsbewusstsein durch die gesellschaftlichen Verhältnisse gegeben ist und die nicht durch eine destruktive Politik der Maßgeblichen [sic!] Fachkader verwirrt ist, sondern die durch die Planmäßigkeit der Maßnahmen in der Vergangenheit für die neue Impfung sofort ein bestimmtes Vertrauen fasst.61 59 Vgl. u. a. die Impfkalender der 1960er Jahre in BAB, Bestand DQ 1/3341. Zu den 17 Pflichtimpfungen kamen noch freiwillige Grippeschutzimpfungen sowie weitere Pflichtimpfungen, z. B. beim Eintritt in die NVA, hinzu. 60 BAB, Bestand DQ 1/23661, Bericht Obermedizinalrat Spengler im Ministerium für Gesundheitswesen (im Folgenden MfGe) „zu den Schutzimpfungen“, o. D. [1965/66]. 61 BAB, Bestand DQ 1/23652, Bericht der Arbeitsgruppe Impfwesen, Halle, an das MfGe, 2.2.1970.
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In der DDR wurden Erfolge der Vorsorge und Erfolge des Sozialismus also untrennbar miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung zielte sowohl nach innen, auf die ostdeutsche Bevölkerung, als auch nach außen, auf den Systemvergleich. Im Kalten Krieg eröffneten Impfungen somit eine Art Arena, in der die Kämpfe um das bessere Gesellschaftsmodell ausgetragen wurden.62 Insofern verwiesen ostdeutsche Gesundheitsexperten immer wieder auf Erfolge in der Impfpraxis und kontrastierten diese mit den niedrigeren Impfquoten in der Bundesrepublik. Der zurückhaltende Zuspruch zur Polioimpfung in Westdeutschland bot ihnen beispielsweise eine willkommene Gelegenheit zum Systemvergleich: Es ist doch beschämend, dass ein so reiches und hochzivilisiertes Land wie die Bundesrepublik es nicht fertig bringt, Polioerkrankungen zu verhindern, und dies bei den hohen moralischen Prinzipien, die die Führung dieses Landes immer wieder für sich in Anspruch nimmt, und auch für andere Staaten anwenden will.63
Kurz gesagt dienten Erfolge von Impfprogrammen also der Legitimation des Systems und der gesellschaftlichen Stabilisierung. Dieser Erfolgsdruck geriet seit den 1960er Jahren jedoch zu einem Problem, bekamen „Impfmüdigkeit“ und geringe Impfquoten nun den Geruch von Systemkritik. Anders gesagt: Wenn Erfolge in der Impfpraxis die gesellschaftliche Verankerung des Sozialismus bewiesen, musste die präventive Praxis um jeden Preis erfolgreich sein. Vor diesem Hintergrund lassen sich spezifische Veränderungen in der ostdeutschen Impfpraxis nachvollziehen, mit denen die Fortschritte sozialistischer Immunisierungsansprüche sichergestellt werden sollten. Zum einen erhöhte sich in der Praxis des Impfens der Konkurrenzdruck auf Ärzte und Medizinalbeamte. 1966 wurden „Leistungsvergleiche“ zwischen Kreisen und Bezirken um die beste Impfquote eingeführt64, die in „einem echten sozialistischen Wettbewerb“ münden sollten65. Seither erhielten Behörden für die Erfüllung von Impfquoten Punkte zugeschrieben, die jährlich in einer Rangliste veröffentlicht wurden. Erhöht wurde der Konkurrenzdruck noch durch eine symbolische Aufladung der Impfpraxis. Schon der erste Leistungsvergleich in der DDR wurde 1967 „zu Ehren des 50. Jahrestags der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ durchgeführt66, was sowohl die Beteiligung der Bevölkerung als auch das Engagement der Impfärzte erhöhen sollte. Auch in den Folgejahren verband man die Impftermine wahlweise mit Bekenntnissen zur Oktoberrevolution, zur Gründung der DDR oder zu einzelnen Parteitagen, was die Verbindlichkeit ihrer Erfüllung steigern sollte. 62 Vgl. dazu auch Lindner/Blume (2006); Lindner (2014). 63 BAB, Bestand DQ 1/23652, Bericht der Arbeitsgruppe Impfwesen, Halle, an das MfGe, 2.2.1970. 64 BAB, Bestand DQ 1/5839, Rundschreiben des MfGe zum Impfprogramm 1966, 27.12.1965. 65 BAB, Bestand DQ 1/2472, MfGe, Halbjahresbericht zum Volkswirtschaftsplan 1967 – Teil Impfschutz, 24.7.1967. 66 BAB, Bestand DQ 1/5839, Rundschreiben des MfGe, Leistungsvergleich Impfwesen, 5.5.1967.
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Tatsächlich verbesserte sich die Impfquote dank dieser Veränderungen seit Ende der 1960er Jahre zumindest laut der offiziellen Zahlen. Ein genauerer Blick in die Praxis legt allerdings nahe, dass auch in der DDR liberale Tendenzen um sich griffen. Schon im Falle der Pockenschutzimpfung hatte das Ministerium für Gesundheitswesen 1963 klargestellt, dass in „einer pockenfreien Situation“ Zurückstellungen von Impfungen großzügig zuzulassen seien, um die Zahl an Impfschäden gering zu halten: „Die Gefahr, an Pocken zu erkranken, ist in diesem Falle geringer zu bemessen, als die mögliche Gefahr des Impflings.“67 Aber auch bei anderen Impfungen scheinen Impfärzte im Laufe der 1960er Jahre nachlässiger geworden zu sein. So stellte eine Untersuchung besorgt fest, dass über die tatsächliche Impfquote in der DDR „keine konkrete Übersicht“ bestand68 und in vielen Städten und Gemeinden „falsche Aussagen über den Durchimpfungsgrad“ kursierten69. Demnach sahen einige Impfärzte und Behörden bei der Impfbeteiligung nicht immer ganz genau hin und meldeten gelegentlich „Impfleistungen“, die zwar nicht der Realität, dafür aber den Vorgaben der Leistungsvergleiche entsprachen.70 Diese Beobachtung unterstreicht die Ausgangsthese dieses Beitrags zum Zusammenhang zwischen präventiven Praktiken und Gesellschaftskonzepten bezüglich einer pragmatischen Liberalisierung: Gerade weil in der DDR beide ein besonders enges Verhältnis eingingen, gab man sich alle Mühe, den Schein erfolgreicher Immunisierungen aufrechtzuerhalten. Mit diesem Befund wird auch nachvollziehbar, warum bei der Bewertung des Impferfolgs nicht unbedingt die Entwicklung der Gesundheitsverhältnisse an erster Stelle stand. In seinem Jahresbericht von 1965 zog das Ministerium zumindest allein das beruhigende Resümee, „daß die Bevölkerung unserer Republik den Maßnahmen des staatlichen Gesundheitswesens hinsichtlich der Bekämpfung von Infektionskrankheiten aufgeschlossen gegenübersteht“.71 Zusammengefasst avancierten präventive Praktiken in der DDR also zu einer Art Praxistest für den Sozialismus, was wiederum spezifische Praktiken zur Folge hatte. Eine sukzessive Institutionalisierung des Impfens und die Zunahme von Pflichtmaßnahmen lassen sich daher nicht allein auf epidemiologische Motive zurückführen. Mindestens ebenso wichtig war der politische „impact“ präventiver Praktiken, deren Erfolge ebenso vom Fortschritt der neuen 67
BAB, Bestand DQ 1/12280, Anlage zur Instruktion Nr. 4/63: Grundsätze für die Pockenschutzimpfung. 68 BAB, Bestand DQ 1/2472, MfGe, Jahresbericht 1965 über Schutzimpfungen, 31.12.1965. 69 BAB, Bestand DQ 1/12245, Manuskript „Probleme der Dokumentation bei der Pockenschutzimpfung“, 1971. 70 Vgl. u. a. BAB, Bestand DQ 1/20801, Bericht des Bezirks Gera über Schutzimpfungen, 20.2.1958; BAB, Bestand DQ 1/23652, MfGe, Maßnahmeplan Impfprogramm, 12.9.1962; BAB, Bestand DQ 1/23652, Rundschreiben MfGe, „Schutzimpfung 1965“, 20.11.1964; BAB, Bestand DQ 1/13105, Abschlussbericht des Bezirks Schwerin, „Tetanussonderimpfprogramm“, 29.8.1979; Wirth (1989), S. 26; für den letztgenannten Hinweis danke ich Jenny Linek. 71 BAB, Bestand DQ 1/2472, MfGe, Jahresbericht 1965 über Schutzimpfungen, 31.12.1965, S. 8.
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Gesellschaft wie von der Bereitschaft des „neuen Menschen“ kündeten, an diesem Fortschritt mitzuwirken. Praktiken des Impfens als Ordnung des Sozialen – Fazit und Ausblick Die Geschichte des Impfens ist nicht nur eine Geschichte von Gesundheit und Krankheit. Sie ist zugleich eine Sozial- und Kulturgeschichte, aus der sich Erkenntnisse über soziale Ordnungen und ihren Wandel gewinnen lassen. Im Zentrum des Beitrags stand daher das Wechselverhältnis zwischen präventiven Praktiken und Gesellschaftskonzepten, das in zweifacher Hinsicht ausgeleuchtet wurde. Einerseits spiegeln sich in Präventionsmaßnahmen soziale Ordnungen, war und ist das Impfen Ausdruck zeitgenössischer Gesellschaftskonzepte, Normen, Geschlechterrollen und sozialer Beziehungen. Andererseits sind Präventionsmaßnahmen immer auch ein Versuch, das Soziale zu ordnen. In der Praxis des Impfens wurden soziale Hierarchien und soziale Normen ebenso verhandelt wie Vorstellungen von Staatlichkeit und vom Staatsbürger. Impfprogramme erforderten eine Verständigung über kollektive und individuelle Risiken sowie eine Klärung des Verhältnisses zwischen Allgemeinwohl und Individualwohl. In dieser Hinsicht lässt sich Vorsorge als einer jener „Basisprozesse“ verstehen, mit denen die Moderne als Untersuchungszeitraum feste Konturen gewinnt.72 Zwar lassen sich schon im Mittelalter oder in der Antike Formen des Vorsorgens, Vorbeugens und Verhinderns studieren. Seit dem 19. Jahrhundert allerdings entfalteten präventive Praktiken eine gesamtgesellschaftliche Wirkmächtigkeit, die nur zu verstehen ist vor dem Hintergrund einer Medikalisierung und Verwissenschaftlichung des Sozialen, vor dem Kontext einer schrittweisen Individualisierung und Liberalisierung, der Bürokratisierung und Bildungsexpansion, des Wandels von Geschlechter- und Familienbildern und von Arbeitswelten.73 Damit ist Vorsorge einer jener „Sicherheitsverträge“74, mit denen sich der moderne Staat legitimierte und legitimiert. Beim Impfen lässt sich diese Entwicklung auf unterschiedlichen sozialen Ebenen und Feldern nachzeichnen – in der politischen Debatte und medialen Berichterstattung ebenso wie in Medizinalbehörden und Pharmaunternehmen oder vor Ort: in den Gesundheitsämtern, im Impflokal und in der Arztpraxis. Auch aus diesem Grund erscheint der hier gewählte Untersuchungszeitraum besonders ergiebig. Denn im „langen 20. Jahrhundert“ wurde das Impfen zu einer Operation, mit der sich der „Volkskörper“ erstmals im nationalen Maßstab behandeln und schützen ließ. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 72
Zur Konzeptualisierung der „Moderne“ als Untersuchungszeitraum einer sozial- und kulturgeschichtlich interessierten Medizingeschichte vgl. die weiterführenden Belege in Thießen: Medizingeschichte (2013). 73 Zu den „methodischen Anforderungen“ von Basisprozessen der Moderne vgl. Dipper (2010). 74 Conze (2012), S. 463.
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setzte sich in ganz Europa das Impfen als eine staatliche Maßnahme und Instrument des „nation building“ durch, das uns noch im 21. Jahrhundert beschäftigt. Mit diesen Ergebnissen werden zugleich die Potentiale deutlich, die zukünftige Forschungen zur Geschichte der Prävention ausschöpfen könnten. Erstens ließe sich der methodische Zugriff auf präventive Praktiken und Konzepte erweitern. Ergiebig erscheint beispielsweise eine geschlechtergeschichtliche Perspektive, die in diesem Beitrag in der Impfpraxis im Kaiserreich nur angedeutet werden konnte und die u. a. in den Studien von Pierre Pfütsch im Fokus steht.75 Neben dem Geschlecht ließen sich aber noch weitere Kategorien für die Präventionsgeschichte nutzbar machen und nach schicht- oder generationenspezifischen Praktiken und Konzepten fragen. Zweitens lohnt sich eine komparatistische und verflechtungsgeschichtliche Perspektive. Insbesondere zum Zusammenhang von Prävention und sozialen Ordnungen ist der Vergleich von Staaten oder Regionen aufschlussreich. So haben zuletzt Matthias Braun, Malte König, Ulrike Lindner und Henning Tümmers anhand der Seuchenbekämpfung und -vorsorge im europäischen bzw. transatlantischen Vergleich auf spezifische soziokulturelle Kontexte verwiesen, in denen sich nicht nur spezifische Präventionskonzepte, sondern ebenso erstaunliche Gemeinsamkeiten herausschälen.76 Darüber hinaus ist Prävention auch ein Medium der Verflechtung. Das gilt insbesondere für die Neuere und Neueste Geschichte, wenn man beispielsweise transnationale Netzwerke und Bündnisse im Kalten Krieg oder die Etablierung transnationaler Akteure wie der WHO in den Blick nimmt.77 Drittens regen erste Ergebnisse zur Präventionsgeschichte eine Erweiterung des Forschungsfeldes an. Weiterführend wären nicht zuletzt Studien, die Prävention nicht nur im Gesundheitswesen, sondern in anderen Bereichen in den Blick nehmen. Frank Beckers Arbeiten zur Optimierung der Arbeitskraft oder Martin Lengwilers Studien zu Versicherungen, Nicolai Hannigs Forschungen zur Vorbeugung von Naturkatastrophen ebenso wie Dirk van Laaks Überlegungen zur Prävention im Straßenverkehr bieten vielfältige Anregungen, präventive Praktiken und Konzepte in weiteren Zusammenhängen zu erforschen. In dieser erweiterten Perspektive dürften sich ebenso neue wie grundlegende Einblicke in eine Denkfigur der Moderne und Postmoderne eröffnen, die uns noch lange beschäftigen wird.
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Vgl. den Beitrag von Pierre Pfütsch in diesem Band. Vgl. Braun (2014); König (2014); Lindner (2014); Tümmers (2013). Vgl. Siddiqi (1995).
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Instrumente der gesundheitlichen Prävention? Medizinische Aufklärungsfilme und ihre Botschaft in der Schweiz um 1950 Iris Ritzmann
Schweizerische Gesundheitsligen als präventivmedizinische Akteure Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden zahlreiche medizinische Spezialgebiete, deren Ärzte sich in Fachgesellschaften zusammenschlossen und ihre Forschungen in spezifischen Journalen austauschten. Parallel zu diesen Wissenszirkeln und den Institutionen des öffentlichen Gesundheitswesens bildeten sich medizinische Ligen als privatrechtliche Organisationen, die auf bestimmte Krankheiten spezialisiert waren und gesellschaftlich in verschiedener Art in Erscheinung traten. Die Schweiz als ein Land von Vereinen und Gesellschaften1 kannte innerhalb des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts bald schon zahlreiche Gesundheitsligen auf kantonaler und Bezirksebene, die sich mehr und mehr auf Bundesebene zu organisieren begannen. In diesen Ligen waren Patientinnen und Patienten, Fürsorgerinnen und Medizinalpersonen tätig, das Wort freilich führten ausschließlich Ärzte. Sie förderten den wissenschaftlichen Austausch, setzten sich für ihre Interessen als Praktiker ein, begleiteten fürsorgerische Aktivitäten für betroffene Kranke und traten im Sinne einer gesellschaftlichen Prävention mit Informationen an die Öffentlichkeit.2 Diese Gesundheitsligen begannen um die Mitte des 20. Jahrhunderts den Film als Medium zur Vermittlung ihrer Botschaften zu nutzen. Sie standen damit in der Tradition medizinischer Aufklärungs- bzw. Präventionsfilme, die sich bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts diskursrelevanten Themen zugewandt hatten und oft als sozial engagierte Filme verstanden. 1945 brachte die bereits etablierte und gut organisierte Krebsliga Schweiz einen Film unter dem Titel „Kampf dem Krebs“ heraus. Soweit bekannt, handelt es sich dabei um den ersten Film einer Gesundheitsliga in der Schweiz. Er kam in überarbeiteter Form als „Krebs ist heilbar“ 1953 nochmals in die Kinos. 1949/50 wurde im Auftrag der Lungenliga Schweiz ein Aufklärungsfilm mit dem Titel „Vertrauen“ gedreht. In derselben Zeit produzierten Personen im Umfeld des Zürcher „Universitätsinstituts für physikalische Therapie“ den Film „Kampf dem Rheuma“, worin als eine zentrale Forderung zur Gründung von Rheumaligen aufgerufen wurde. 1 2
Vgl. Brändli (1991). Für die Ärzteschaft vgl. Rothenbühler/Lengwiler (2004), S. 9–22. Auf die erhebliche Bedeutung der Gesundheitsligen innerhalb der schweizerischen Medizinalversorgung wies ein Nationalfondsprojekt im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 08 hin. Die Befunde fassten die Autoren zusammen: Häuselmann/ Bruppacher (1984).
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Alle drei Filme wandten sich als Aufklärungsmedien an ein breites Publikum, um vor den Erkrankungen „Krebs“, „Tuberkulose“ und „Rheumatische Krankheiten“ zu warnen und ein medizinisch sinnvolles präventives Verhalten zu empfehlen. Ihre Realisierung in den Jahren um 1950 sowie ihr durchaus ähnlicher Entstehungszusammenhang bieten die Möglichkeit, diese Filmproduktionen im medizinhistorischen Kontext zu vergleichen. Dabei soll diskutiert werden, welche Botschaften im Zentrum dieser Filme stehen und inwiefern ihr Selbstverständnis als Instrumente der Prävention mit den Inhalten übereinstimmt. Filme als Instrumente der Prävention Gesundheitliche Bedrohungen sind keineswegs starre Gebilde. Sie werden innerhalb von Denkkollektiven konstruiert und genutzt. Um die Argumentationsgänge und Instrumente medizinischer Präventionsbemühungen quellenkritisch analysieren zu können, muss die damalige Wissensbasis in ihren historischen Kontext eingeordnet und damit in ihrer Tatsächlichkeit gewissermaßen relativiert werden. Vor diesem Hintergrund steht nicht nur das Instrument als Vehikel der präventiven Botschaft zur Diskussion, sondern und in diesem Beitrag zentral auch die Botschaft selbst, für die ein bestimmtes Instrument zur Vermittlung gewählt wurde. Prävention will ihre Botschaften an dasjenige Publikum richten, das sich gegen die entsprechende Bedrohung rüsten soll. Geht es um die ganze Bevölkerung, die vor Gefahren gewarnt und zu einem bestimmten Verhalten im Sinne des präventiven Selbst angeleitet werden soll3, zielt die Verbreitung auf möglichst großflächig wahrgenommene Massenmedien ab. Seit dem „Visual Turn“ in den Geschichtswissenschaften wird das Medium Film intensiv und auf unterschiedliche historische Fragen hin beforscht. Da Filme Gefühle auslösen und eine „Wirklichkeit“ suggerieren können, boten sie sich als geeignete Instrumente einer „Volkserziehung“ an, die auf emotionale Abschreckung und Pathos setzte. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen medizinische Aufklärungsfilme auf, parallel und teilweise in Ablösung von medizinischen Dokumentations- und Lehrfilmen.4 Mit der Filmförderung gesellschaftlich wertvoller Filme begann es in den 1920er Jahren zunehmend attraktiv zu werden, Gesundheitsfilme unter Beteiligung von Ärzten zu produzieren. Diese Gesundheitsfilme verstanden sich einerseits als populäre Unterhaltung, machten andererseits aber als Lehrfilme einen wissenschaftlichen und pädagogischen Anspruch geltend. Sie bildeten
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Etwa Lengwiler/Madarász (2010). Vgl. z. B. Ritzmann/Schmutz/Wolff (2009), für die aktuelle Forschung spezifisch in Bezug auf Infektionskrankheiten vgl. Bonah (2013), allgemein zu Gesundheitsfilmen vgl. den Sammelband Laukötter/Bonah/Cantor (im Druck).
Medizinische Aufklärungsfilme und ihre Botschaft
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ein Konglomerat von Spiel- und Dokumentarfilm, das ein neues Konzept der Propagandavermittlung umsetzte.5 Die Filme unterhielten das Publikum durch die Darstellung berührender Einzelschicksale und weckten ambivalente Empfindungen, die zwischen Neugier, Mitleid und Abscheu schwankten. Auf dieser emotionalen Gefühlsbasis konnten Botschaften besonders eindringlich vermittelt werden, die einfache Lösungen für gravierende, lebensbedrohliche Probleme anboten.6 Während in Deutschland die UFA eine wichtige, wenn auch nicht unproblematische Bedeutung für die staatlich finanzierte Filmproduktion einnahm und neben dem Deutschen Hygiene-Museum des Odol-Herstellers Karl August Lingner (1861–1916) vor allem das Ministerium für Gesundheitswesen Aufträge erteilte, gab es in der Schweiz lange Zeit keine vergleichbare Filmförderung. Dort wurzelte die Produktion von Lehr- und Aufklärungsfilmen im Reformkino und sah sich als Alternative zum kommerziellen Kino.7 In der Zwischenkriegszeit lag die unscheinbare schweizerische Filmproduktion fast ausschließlich in den Händen der Praesens-Film AG in Zürich, einer sozialpolitisch engagierten Filmproduktionsstätte unter der Leitung des jüdischen Filmemachers Lazar Wechsler (1896–1981) aus Galizien. Diese feierte ihren ersten großen Kinoerfolg mit dem Aufklärungsfilm „Frauennot – Frauenglück“ 1929 und schrieb 1945 mit dem während des Zweiten Weltkriegs gedrehten Flüchtlingsdrama „Die letzte Chance“ internationale Filmgeschichte.8 In den medizinischen Aufklärungsfilmen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es vorerst um Hygiene im Alltag und Liebesleben, so beim zweiteiligen UFA-Film „Wie bleibe ich gesund?“ von 1922 oder den von der Praesens-Film AG produzierten Filmen „Frauennot – Frauenglück“ und „Feind im Blut“ von 1931. Gesundheitsaufklärung bot sich zudem als einzige Möglichkeit an, erotische Szenen in den Kinos zu zeigen, was zu sittlich motivierten Protesten auf der einen Seite, zu regem Zulauf zu dieser neuen Art von Unterhaltung auf der anderen Seite führte.9 Zu den präventivmedizinischen Filmen müssen auch die Propagandafilme zur Etablierung eugenischer Maßnahmen gezählt werden, etwa der von Hitler persönlich geförderte Film „Opfer der Vergangenheit“ von 1937. Gerade am Beispiel der Eugenik-Filme lässt sich der Konstruktcharakter von Gefahren besonders eindrücklich nachvollziehen, da die Degeneration als existentielle Bedrohung einer ganzen Bevölkerung von eben jenen Wissenschaftlern und Ärzten heraufbeschworen wurde, die mit dieser Argumentation den Einsatz eugenischer Maßnahmen rechtfertigten.10
5 Osten (2009), S. 94–98, speziell auch für die Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs und den Aufstieg der UFA. 6 Vgl. z. B. Gertiser (2008). 7 Vgl. Gertiser (2011), S. 384–398. 8 Lachat (2014). 9 Tanner (2009), S. 22. 10 Z. B. Schmidt (2002).
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Die Aufführung medizinischer Filme, die nachfolgende Diskussion mit dem Publikum und die Anwesenheit von Fachleuten machten die Informationsvermittlung zum sozialen und pädagogischen Event. Sowohl als Mitarbeiter bei Drehbuch und Regie als auch als Gesprächspartner rund um die Aufführung boten die Gesundheitsfilme den Ärzten eine Plattform, ihre Kampagnen zu verbreiten, häufig gepaart mit einem Appell zur moralischen Lebensführung.11 In der Nachkriegszeit thematisierten medizinische Aufklärungsfilme in erster Linie sogenannte „Volksseuchen“. Nach wie vor standen Krankheiten im Mittelpunkt, die in der Gesellschaft bereits als besonders bedrohlich galten oder deren Wahrnehmung als eine Gefahr durch den Film befördert werden sollte. Die Verbreitung oder gar Letalität einer Krankheit musste hierbei jedoch keineswegs der wahrgenommenen Gefährlichkeit entsprechen. Krankheiten wie Durchfall oder Lungenentzündung, die zahlreiche Menschenleben forderten, waren beispielsweise kein Thema der Präventionsfilme. Film „Krebs ist heilbar“ Die Schweizerische Krebsliga hatte sich im ersten Jahrzehnt nach ihrer Gründung 1910 vor allem auf die Behandlung von Krebs durch Chirurgie, Bestrahlung und Medikamente beschränkt. Auf der Basis epidemiologischer Studien, die der Krebserkrankung zu vermehrter Beachtung verhalfen12, begann sich die Liga in den Dreißigerjahren dem Trend der hygienischen Volksbelehrung anzuschließen. Die Aufklärungsarbeit konzentrierte sich vorerst auf Broschüren und Ausstellungen, bis die Liga 1938 erstmals den Vorschlag aufbrachte, einen Film zur Aufklärung über Krebs zu produzieren. Im Rahmen eines stark national gefärbten, deutschschweizerischen Filmeschaffens entschloss man sich 1941, mit den Dreharbeiten zu beginnen.13 Die Verantwortung für die Gesamtproduktion lag beim Ligapräsidenten Guido Miescher (1887–1961), der die Dermatologische Klinik des Zürcher Kantonsspitals leitete. Drehbuch und Regie übernahm der Arzt Nathan Schänker (geb. vermutlich 1912). Schnell avancierte das Vorhaben zum Prestigeprojekt: Die Verpflichtung beliebter Volksschauspieler wie Schaggi Streuli (Zivilname Emil Kägi, 1899–1980), aber auch die aufwendige Produktion ließen die Kosten von ursprünglich geplanten 30.000 Franken in die Höhe schnellen. Bis zum Abschluss der Arbeiten im Jahr 1945 hatten sich die Ausgaben auf 80.000 Franken, also auf fast das Dreifache, erhöht. Der Film kam 1945 unter dem Titel „Kampf dem Krebs“ in die Kinos der Deutschschweiz. Der martialische Titel spiegelte einerseits den kriegerischen Kontext, in welchem der Film entstanden war. Denselben Titel trug aber auch 11 12 13
Laukötter (2011). Vgl. hierzu auch Ritzmann: Der lange Weg (2013). Zur Krebsliga vgl. Kauz (2010), zum Film „Kampf dem Krebs“ bzw. „Krebs ist heilbar“ vor allem S. 79–84. Dem Buch liegt eine DVD mit dem Film bei.
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ein Krebsaufklärungsfilm, der 1939 im nationalsozialistischen Deutschland produziert worden war.14 Nachdem die städtischen Lichtspielhäuser den Film gezeigt hatten, organisierte das Schweizerische Schul- und Volkskino in der ersten Hälfte des Jahres 1946 eine Vorführungstour in kleineren Ortschaften, bewarb diese mit Inseraten in der Lokalpresse und engagierte, wann immer möglich, einen Arzt, der mit einem Vortrag die Vorführung einleitete. Die Nationalliga für Krebsbekämpfung, wie sich die Krebsliga in den 1940er Jahren nannte, bemühte sich um Aufführungen in anderen Ländern, um so wenigstens einen Teil der Produktionskosten wieder einspielen zu können. Die Ton- und Bildqualität der Kopien hatte mit den Jahren erheblich unter den zahlreichen Aufführungen gelitten, so dass der Film aufwendig restauriert werden musste. Die zweite Fassung, die mit zusätzlichen Szenen ergänzt wurde, gelangte 1953 unter dem Titel „Krebs ist heilbar“ in die Kinos. Dieser Titel stellte in der traumatisierten Nachkriegszeit nicht mehr den Kampf in den Mittelpunkt, sondern die Heilbarkeit und damit die Macht der Medizin. Er suggerierte, dass jede Krebserkrankung heilbar sei, wenn die betroffene Person nur rechtzeitig ärztliche Hilfe beizöge. Diese Interpretation spiegelt sich auch im Drehbuch. Der Arzt schlüpft in die Rolle des Beschützers gegen lebensbedrohliche Gefahren, durch die Krankheit selbst, aber auch durch Kurpfuscher oder durch eine kritische Einstellung gegenüber Ärzten. Damit sollte der Film ein Medizinsystem propagieren, das paternalistisch und mit hochpräziser Technik hilflose Kranke heilt. Bereits der Vorspann setzt mit Pathos ein: Zu Bachs gewaltiger Toccata und Fuge in d-Moll wird die Thematik der Krebserkrankung eingeführt. In der Haupthandlung versucht eine Frau, ihren Ehemann von einem Gang zum Arzt zu überzeugen. Als Zwischenszenen werden unter anderem ein Kurpfuscher, der durch seine Behandlung eines Krebskranken eine rechtzeitige Therapie verhindert, eine Familie, die durch Krebs ihren Ernährer verliert, und eine Vorlesung vor Medizinstudenten über Krebs gezeigt. Die Vorlesungsszene wird zweimal aufgegriffen. Der Professor erklärt im ersten Drittel des Films seinen Studenten das Wesen der Krebserkrankung (9:02–10:27): Jedes Organ und jede Zelle arbeitet nach dem Grundsatz „Einer für alle, alle für einen“. Der Mensch stellt so gleichsam einen Staat von Zellen dar, in dem jedes Organ, jede einzelne, gesunde Zelle genau den Platz einnimmt und genau die Arbeit zu leisten hat, die ihrem Zweck entspricht, im Interesse und zum Wohl des Gesamtorganismus. In diesem wunderbaren Zellstaat der Ordnung und der Zweckmäßigkeit treten nun manchmal Zellen auf, die zwar dem Körper angehören, plötzlich aber aus der Art schlagen. Da sie sich den bestehenden Gesetzen der Zusammenarbeit nicht fügen, stören sie die harmonische Ordnung und verhalten sich in ihrer ganzen Art wie eine asoziale, anarchistische Verbrecherbande, nur auf ihr Wohl und ihre Vermehrung bedacht. Das ist der Krebs.
Die Schilderung setzt die Krebserkrankung mit einer Verbrecherbande gleich, die sich der Ordnung widersetzt. Diese Ordnung wiederherzustellen, die aso14
Laukötter (2010).
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Abb. 1: Ein Professor erklärt in der Vorlesung den Krebs mit der Metapher einer „anarchistischen Verbrecherbande“ (Film „Krebs ist heilbar“)
zialen und anarchistischen Elemente im Organismus zu bekämpfen und damit das Überleben des gesamten Zellstaats zu sichern, diese Aufgabe kommt dem Arzt zu. Nachdem der Professor die Botschaft verkündet: „Heute können wir mit ruhigem Gewissen sagen: Krebs ist heilbar“ (1:03:40), wendet er sich eindringlich an sein Publikum: „Helfen Sie mit, die Mittel gegen diesen Volksfeind zu vervollkommnen und neue dazuzufügen. Dies ist Ihre Pflicht.“ Die Vorlesungsszene verschwindet, der Dozent steht im Großformat vor der Kamera und wendet sich beschwörend an die Zuschauer (1:05:20–1:06:27): Aber Ihr, die Ihr hier seid, arbeitet auch mit im zähen und verbissenen Kampf. Tragt dazu bei, die Heilziffern zu erhöhen. Helft mit, die Schrecken des Krebses zu mildern. Geht hinaus, sagt es Euren Freunden, Euren Nachbarn, Bekannten und Verwandten. Alle müssen mithelfen im Kampf gegen den Krebs. Tragt diesen Ruf hinaus. Verbreitet ihn. Wichtig ist: Eine gründliche ärztliche Untersuchung einmal im Jahr. So kann jeder mithelfen im Kampf gegen diese Volksseuche. Denn jeden von Euch geht es an. Jeder ist gefährdet.
Die Bedeutung dieser einzeln betonten Schlussworte wird von der wieder einsetzenden Orgelmusik noch unterstrichen. Der Aufruf soll Leben retten, soll den Feind besiegen, soll jeden mit in die Verantwortung nehmen. Doch was ist zu tun? Die konkrete präventive Botschaft, sich einmal jährlich ärztlich untersuchen zu lassen, fällt vor diesem pompösen Aufruf wenig spezifisch aus. Was
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genau untersucht werden soll und welche Maßnahmen zu ergreifen seien, bleibt im Dunkeln. Die zentrale Aussage des Films zielt damit auf eine vermehrte Gesundheitskontrolle der Bevölkerung ab. Die Krankheit Krebs wird als anarchistische Gefahr betrachtet, der eine regelmäßige und ordentliche ärztliche Untersuchung entgegentreten kann. Der Arzt nimmt die Rolle eines Ordnungshüters ein, der vor unheimlichen, staatsfeindlichen Aktionen schützt, während die Bevölkerung, an die sich der Film richtet, auf der Seite des Arztes den Feind mit bekämpfen soll. Film „Vertrauen“ Die „Zentralkommission zur Bekämpfung der Tuberkulose“, die spätere Schweizerische Tuberkuloseliga und heutige Lungenliga Schweiz, wurde 1903 gegründet. Mit zahlreichen kantonalen Tuberkuloseligen, die ihrerseits weiterhin als patientennahe Gesellschaften die direkten Ansprechpartner für Betroffene und deren Familien waren, bildete die Vereinigung auf Bundesebene in erster Linie einen politischen Zusammenschluss. Von ihrer Entstehung an stand die Zürcher Lungenliga in enger Verbindung zu dieser Schweizer Vereinigung. Der langjährige Präsident Albert Wernli-Hässig (1902–1985) verfasste nicht nur zwei Präventionsschriften, die auf Kosten der Schweizer Liga gedruckt wurden. Er nahm auch die ärztliche Leitung eines Films über die Tuberkulosebekämpfung mit dem Titel „Vertrauen“ ein, der von der Schweizer Tuberkuloseliga produziert wurde.15 Es handelt sich um einen Präventionsfilm gegen Tuberkulose, einen Film also, der Anleitung geben soll, wie man sich vor einer Tuberkuloseerkrankung schützt. Allerdings werden ausschließlich Erkrankte und deren Genesung durch ärztliche Hilfe gezeigt. Die Patientinnen und Patienten selbst wirken ratlos, verunsichert durch die Diagnose und voller Zukunftsängste. Die Ärzte werden dagegen allwissend, väterlich-autoritär und gütig dargestellt. Der 15-minütige Film lief 1951 im Vorprogramm der Kinos. Die Handlung zeigt einen Bauern, zwei Handwerker und einen reicheren Herrn, eine verwitwete junge Mutter und ein Schulkind, die alle an Tuberkulose erkrankt waren und bis zum Schluss des Films geheilt werden. Obschon damals bereits die ersten Tuberkulostatika existierten, wird die medikamentöse Behandlung nur in einem Nebensatz beim reicheren Kranken erwähnt. Hauptpfeiler der Therapie bilden im Film die Liegekur und die Lungenchirurgie. Der Film wandte sich vorerst an die lokale Bevölkerung und wurde daher bewusst im Dialekt gehalten. Er setzt ein mit einer Szene beim Hausarzt. Ein junger Mann erhält die Diagnose „Schwindsucht“ und ist verunsichert (1:28– 2:04): 15
Zur Lungenliga vgl. Kaufmann (2008), speziell zum Film „Vertrauen“ S. 84. Eine DVD mit dem Film befindet sich im hinteren Buchdeckel.
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Abb. 2: Der dankbare Patient erklärt seinen Ärzten, dass alles zu ertragen sei, wenn man nur Vertrauen habe (Film „Vertrauen“) Patient: „Doch nicht Schwindsucht?“ Hausarzt: „Ja, da hat es Bazillen. Noch keine Rede von Schwindsucht.“ Patient: „Noch nicht? Was heißt das? Was muss ich denn machen?“ Hausarzt: „Vertrauen! Vertrauen haben zum Doktor und zur Wissenschaft. Sie haben eine Tuberkulose, und die ist heilbar.“ Patient: „Aber wie?“ Hausarzt: „Die Hauptsache ist die Ruhe. Die haben Sie zu Hause nicht, und deshalb sollten Sie fort.“
Der junge Mann wird schließlich überzeugt, eine längere Lungenkur anzutreten. Es folgen andere zweifelnde Patienten, denen Ärzte und Fürsorgerinnen die Heilbarkeit von Tuberkulose in Aussicht stellen, wenn sie nur die Ratschläge befolgen würden. Im zweiten Filmteil sieht man die erfolgreichen Behandlungen, schließlich die genesenen Patienten. So dankt ein junger Mann, dem ein Teil der Lunge entfernt worden ist, den Ärzten und betont, dass das Vertrauen die Grundlage zur Heilung darstelle (8:40–9:05): Chirurg: „Zufrieden?“ Patient: „Sie haben mir mit dieser Operation manches Jahr Kur erspart, Herr Doktor.“ Sanatoriumsarzt: „Es ist wirklich gutgegangen. Sie waren aber auch tapfer.“ Patient: „Ja, es ist alles zu ertragen – wenn man mal das Vertrauen hat!“
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Die Hauptaussage zielt auf die Gesamtbevölkerung, die sich vermehrt den Ärzten anvertrauen und ihre Tuberkulose in Lungenkuren oder mit chirurgischen Eingriffen behandeln lassen sollte. Die Bevorzugung dieser langwierigen und aufwendigen Therapien unter Hintansetzung der gezielten medikamentösen Behandlung entspricht den Forderungen damaliger Sanatoriumsärzte. Da die Heilstätten von staatlicher Seite subventioniert wurden, diese Gelder aber an die Auflage gebunden waren, Tuberkulosekranke zu behandeln, gerieten sie mit dem Aufkommen medikamentöser Therapiemöglichkeiten und dem damit verbundenen Rückgang der Kurnachfrage in Bedrängnis. Einigen Sanatorien gelang es, die staatlichen Geldgeber von der Notwendigkeit teurer Renovationen, Um- und Erweiterungsbauten zu überzeugen, andere dagegen mussten angesichts der leerstehenden Betten ihre Tore schließen.16 Dieser Krise, die sich um 1950 bereits anbahnte und die bisherige Behandlung in Frage stellte, wurde mit einem paternalistischen Arztbild begegnet, das vom Kranken Gehorsamkeit abverlangt und keine Kritik zulässt. Film „Kampf dem Rheuma“ Im Gegensatz zur Krebs- und Lungenliga gibt es zur Rheumaliga kaum Literatur.17 Eine schweizerische Rheumaliga wurde als Dachverband erst 1958 von fünf regionalen Rheumaligen gegründet. Jahre zuvor produzierte das Universitätsinstitut für physikalische Therapie in Zürich unter der Leitung seines Direktors Albert Böni (1912–1993) in Zusammenarbeit mit anderen Kliniken des Zürcher Universitätsspitals und unter dem Patronat des Gesundheitsamtes in Bern den Film „Kampf dem Rheuma“, der ganz konkret für die Entstehung von Ligen „als Pfeiler einer Volksbewegung“ die Werbetrommel rührte. Der Basler Physiker, Radiopionier und Regisseur Hans Zickendraht (1881–1956) führte im hohen Alter Regie, gemäß den vorliegenden Quellen aus Überzeugung, weil seine Frau in Zürich wegen eines rheumatischen Leidens behandelt wurde.18 Der Film sollte 1949/50 die Öffentlichkeit auf die Dramatik rheumatischer Krankheiten und die Möglichkeiten ihrer Behandlung aufmerksam machen. Zeitgleich im Dezember 1949 fand die Gründungsversammlung der „Rheumaliga beider Basel“, gemeint ist der beiden Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft, statt, nachdem ein Aufruf an zahlreiche Personen und Institutionen den Rheumatismus als neue Volkskrankheit deklariert hatte. Die Rheumaliga beider Basel kaufte 1952 eine Kopie, führte den Film selbst mehrfach öffentlich vor und verlieh ihn an Vereine und Institutionen. 16 17 18
Vgl. hierzu Ritzmann: Logiken (2013); Schürer (2003); Condrau (2001); Ritzmann (1998), S. 145–151. Zum Rückgang der Tuberkulose am Beispiel Baden-Württembergs vgl. Hähner-Rombach (2000). Anonym [d. i. Andreas Merz] (2010). Medienmitteilung der Rheumaliga beider Basel vom 3.5.2010, vgl. http://www.liguesrhumatisme.ch/download/blbs_filebase/AttachmentDocument/KampfDemRheumaMedienmitteilung0510.pdf (letzter Zugriff: 15.10.2014).
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Abb. 3: Frau Schwyzer zeigt, dass sie wieder Teppich klopfen kann (Film „Kampf dem Rheuma“)
Nach einigen Jahren geriet er allerdings in Vergessenheit. Die beiden Filmspulen wurden anlässlich eines Umzugs in einem Keller der Basler Rheumaliga gefunden. Der Historiker Andreas Merz recherchierte die Hintergründe, während die Liga die Digitalisierung organisierte und den Film anlässlich des 60. Jubiläums 2010 öffentlich vorführte.19 Auch dieser Präventionsfilm befasst sich nicht mit Vorbeugung und Schutz vor einer rheumatischen Erkrankung, sondern dokumentiert balneologische Therapien, technische Hilfsgeräte und einen Heilungserfolg durch Cortison, das 1948 erstmals erfolgreich als Rheumamittel eingesetzt worden war. Nachdem die Rheumakranken bei ihrem Eintritt in die therapeutische Institution in Bild und Ton ausgesprochen düster inszeniert werden, strahlt die Rückkehr in den Alltag Tüchtigkeit und Reinlichkeit aus. Von einer fröhlichen Musik begleitet, sieht man die genesene Frau Teppich klopfen, Federbetten schütteln und Gäste beim nachmittäglichen Kaffeekränzchen bewirten. Der Text zu dieser Filmszene (2. Spule 40:12–41:08, Gesamtfilm 1:10:05–1:11:01) lautet: „Und dann kam für Frau Schwyzer der glückliche Tag der Entlassung. Sie alle sollen sehen, wie Frau Schwyzer ihren Haushalt wieder selbst in die Hände nimmt.“ 19
Kopien der beiden Filmteile wurden mir freundlicherweise von der Firma Buser Kommunikation GmbH in Basel zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke.
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Der Kern der Botschaft dieses Films lautet, dass die erfolgreiche medizinische Behandlung wieder Ordnung in die traditionelle Familie bringt und damit die gesellschaftliche Grundstruktur stabilisiert. Zusammenfassende Analyse Im Vergleich fällt auf, dass die drei Filme einige Gemeinsamkeiten aufweisen. Ihre Entstehungszeit fällt in eine Periode enormer Hoffnungen in eine moderne Medizin. Antibiotika, Tuberkulostatika, Hormontherapien, aber auch chirurgische lebensrettende Eingriffe ließen die Utopie aufkommen, dass Ärzte jedes Leiden besiegen können.20 Zugleich fanden alternative Heilmethoden Zulauf, begleitet von einer erstarkenden Kritik an einer technikfreudigen und damit unpersönlichen Medizin.21 In den drei Filmen wird die moderne Medizin in der Gestalt von Ärzten und Pflegepersonen in Sanatorien, Praxen und Spitälern als einziger Weg der Kranken und Gefährdeten zu Leben, Glück und Sicherheit dargestellt. Die hellen Bildflächen, das Lächeln auf den Gesichtern und die fröhliche Musik unterstreichen diese Botschaft, der als Kontrast die Bedrohung durch die Krankheit selbst, durch eine ausgebliebene Behandlung oder gar durch Kurpfuscherei als Schreckensszenario gegenübergestellt wird. Während die Ärzte und Pflegepersonen in weißer Berufskleidung überlegen, gütig und wissend auftreten, nehmen die Patienten durchgehend eine auffallend passive Rolle ein, wirken hilfsbedürftig und verängstigt und werden teilweise mit entblößtem Oberkörper oder liegend gefilmt. Die medizinische Botschaft, die in den Filmen zur Sprache kommt, lautet, rechtzeitig ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Diese Botschaft entspricht den Zielen früherer Filme, etwa dem UFA-Film „Falsche Scham“ von 1925/26, worin der Ruf nach frühzeitiger Behandlung von Geschlechtskrankheiten formuliert wird. Als präventive Forderung ließ sich zumindest im Film „Krebs ist heilbar“ der Appell an die gesamte Bevölkerung identifizieren, jede Person solle sich einer gründlichen jährlichen Gesundheitskontrolle bei einem Arzt unterziehen. Eigenverantwortliche Verhaltensweisen und Selbstuntersuchungen bleiben aus, obschon entsprechende Vorstellungen in der damaligen Medizin präsent waren. Die Filme wurden demnach nicht zur selbständigen Vermeidung von Krankheitsrisiken gedreht, sondern zur Propagierung einer rein ärztlichen Deutungsmacht und Handlungskompetenz. Mit drei zentralen Merkmalen stehen die Gesundheitsfilme der frühen Nachkriegszeit mit früheren Präventionsfilmen der Zwanziger- und Dreißigerjahre in einer Linie. Als erstes Merkmal zeigen sie Analogien im Bedrohungsszenario, etwa bei der Darstellung der Syphilis im Film „Feind im Blut“ von 1931 und der Darstellung von rheumatischen Erkrankungen im Film „Kampf dem Rheuma“ von 1949/50. Die dichotome Gegenüberstellung richtigen und 20 Vgl. z. B. Hofer (2010). 21 Vgl. z. B. Jütte (1996).
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falschen Gesundheitsverhaltens ist ein zweites Merkmal dieser Filme, etwa beim Vergleich einer hygienischen mit einer unhygienischen Lebensführung im Film „Wie bleibe ich gesund?“ von 1922 oder dem Gang zur Engelmacherin im Film „Frauennot – Frauenglück“ von 1929, die sich in Filmsequenzen der späteren Gesundheitsfilme wie in den Kurpfuscher- und Arztszenen in „Krebs ist heilbar“ von 1953 wiederholt. Als drittes Merkmal sticht die überhöhte Darstellung einer modernen Medizin hervor, die Krankheit und Tod besiegt, besonders deutlich in den Spitalszenen des Films „Frauennot – Frauenglück“ von 1929, die in der Krankenbehandlung durch Cortisone im Film „Kampf dem Rheuma“, in den onkologischen Eingriffen in „Krebs ist heilbar“ oder den Heilungen durch Lungenkuren und Operationen im Film „Vertrauen“ von 1949/50 ihre Entsprechung findet. Im Gegensatz zu ihren älteren Vorbildern aus der Zwischenkriegszeit warten die Gesundheitsfilme um 1950 allerdings mit einem neuen Merkmal auf: Die Inszenierung der schwachen, hilflosen Patienten, die sich dem starken, wissenden Arzt anvertrauen sollen, umfasst mehr als nur die Genesung der einzelnen betroffenen Person. Der Arzt wird über den Garanten für Gesundheit hinaus zum Garanten für gesellschaftliche Stabilität und Ordnung. Entsprechend beschränkt sich die Gefahr nicht auf ein Individuum, sondern bedroht Familie und Gesellschaft mit Chaos, Unordnung und Tod. Der Retter, der vor dieser Bedrohung schützen kann und gegen sie antritt, ist der Arzt mit den Waffen der modernen Medizin. An allen drei medizinischen Aufklärungsfilmen waren Ärzte in leitender und beratender Position beteiligt. Die Filme galten als Präventionsfilme mit dem Ziel, die Bevölkerung anzuleiten, sich effizient vor Krankheiten zu schützen. Allerdings, so zeigte die Untersuchung, entpuppt sich diese Kategorie gewissermaßen als Maske, hinter der sich andere Intentionen verbergen. Die Filme lassen sich nicht in erster Linie als Instrumente einer Gesundheitsprävention identifizieren. Sie spiegeln vielmehr die Interessen einer Ärzteschaft, indem sie einerseits das hierarchische Gefälle innerhalb der Arzt-PatientenBeziehung untermauern, andererseits dem Arzt eine bewahrende Rolle in der verunsicherten Nachkriegsgesellschaft zuweisen. Verkürzt und pointiert formuliert, zielt die Botschaft der Filme auf eine Gesellschaft ab, die in den Ärzten stabilisierende Leitfiguren erkennen und ihnen vertrauensvoll folgen soll. Bibliographie Literatur Anonym [d. i. Andreas Merz]: Geschichte der Rheumaliga beider Basel. In: Rheumaliga beider Basel (Hg.): Jahresbericht 2009. Basel 2010, S. 10–17. Bonah, Christian: „Transmissible infection: Medical concepts for infectious disease prevention in health education films. J. Benoit-Lévy and Nicolas Kaufmann/Curt Thomalla compared“, Missionary & commissioned. Medical film directors and their oeuvre in franco-german comparison. Jean-Benoit Lévy – Nicholas Kaufmann – Kurt Thomalla, Conference 13– 14 may 2013, Strasbourg, Conference videos, http://medfilm.unistra.fr/wiki/14_mai_2013.
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Von der freiwilligen Prävention zur verpflichtenden Vorsorge – ein Paradigmenwechsel in der Kinderheilkunde Stephan Heinrich Nolte
Einführung Der Begriff „Paradigmenwechsel“ wird heute inflationär für jede kleine konzeptionelle Änderung gebraucht und wirkt dadurch abgedroschen und populistisch. Wenn man ihn aber in seinem ursprünglichen Sinn, nämlich dem einer Diskontinuität oder gar Revolution gebraucht, also so, wie ihn der Physiker und Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn 1967 formuliert hat1, bleibt er hilfreich, um Sprünge und Brüche zu beschreiben, die jenseits einer linearen positivistischen Geschichtsschreibung liegen. Kuhn beruft sich dabei auf den polnischen Arzt und Medizingeschichtler Ludwik Fleck, der in einer 1935 erschienenen Monographie die soziale Bedingtheit von Erkenntnis und das dazu notwendige „Denkkollektiv“ beschrieben hat.2 In der Wissenschaft stellt dieses Denkkollektiv die einhellige Meinung der „scientific community“ dar, in der Gesellschaft ist es ein sich entwickelnder allgemeiner Konsens. Anhand der Einführung der Kinderschutzgesetzgebung in den Bundesländern in den vergangenen fünf Jahren soll gezeigt werden, dass diese ein Beispiel für einen Bruch, eine Diskontinuität, eben einen Paradigmenwechsel im Sinne Kuhns und Flecks ist, dessen Reichweite noch nicht absehbar ist. Früherkennung ist keine Prävention Die heutige Medizin versteht sich als eine angewandte Naturwissenschaft mit einem umfassenden Herrschafts- und Erfassungsanspruch. Eine der Grundauffassungen ist die, dass eine Krankheit umso besser heilbar ist, je früher sie erkannt wird. Die dabei entstehenden Kollateralschäden, wie zum Beispiel die Verängstigung oder gar überflüssige Behandlung Gesunder, werden ignoriert und verharmlost. So werden Früherkennungsmodelle in vielen Bereichen autoritär durchgesetzt, etwa bei der Einführung des Mammographiescreenings.3 Trotz vieler kritischer Stimmen und Bewertungen hält sich die Meinung, dass diese Maßnahme Leid vermindert, Leben rettet und vor allem – in Modellrechnungen, deren Variablen niemand durchschauen kann – Folgekosten verhindern hilft. Dieses Früherkennungsdogma durchzieht die gesamte Medizin und übersieht dabei, dass Früherkennung das Erkennen einer bestehenden oder drohenden Erkrankung ist, nicht aber das Verhindern, zu erkranken. 1 2 3
Kuhn (1967). Fleck (1980). Nolte/Sparenborg-Nolte (2007).
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Wenn ich eine Krebserkrankung in einem Frühstadium entdecke, besteht sie bereits. Mit Prävention, mit Vorsorge im engeren Sinne hat das nichts zu tun. Vorbeugen statt heilen Es ist schon immer Ziel einer verantwortungsvollen ärztlichen Tätigkeit gewesen, Erkrankungen im Vorfeld zu verhindern, im Sinne des Spruches von Ovid: „Turpius ejicitur quam non admittitur hospes“; auf die Medizin bezogen: Es ist besser, die Krankheit gar nicht hereinzulassen, als sie, nachdem sie eingelassen wurde, wieder zu vertreiben. Hygiene oder medicina hygiastica ist ja nichts anderes als die Lehre von der Erhaltung guter Gesundheit, die diaita als Lebensordnungslehre im antiken Sinne. Der Begründer der Homöopathie, Samuel Hahnemann, hat im „Organon der Heilkunst“4 die Rolle des Arztes in § 1 so beschrieben: „Des Arztes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man Heilen nennt.“ Aber bereits in § 4 taucht die Prävention auf: „Er [der Heilkünstler – S. H. N.] ist zugleich ein Gesundheit-Erhalter, wenn er die Gesundheit störenden und Krankheit erzeugenden und unterhaltenden Dinge kennt und sie von den gesunden Menschen zu entfernen weiß.“ Von der kurativen zur präventiven Medizin Die Einführung der Früherkennungsuntersuchungen für Kinder im Jahre 1967, vor allem aber die Übernahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen war ein Paradigmenwechsel: Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren die Krankenkassen nur für die kurative Medizin, für den eingetretenen Krankheitsfall zuständig. Seither hat sich das Früherkennungswesen über alle Bereiche der Medizin ausgedehnt und ist zum wesentlichen Bestandteil der Alltagstätigkeit in der Praxis des niedergelassenen Arztes geworden, im hausärztlichen wie im fachärztlichen, etwa urologischen und gynäkologischen Bereich. Konkret gibt es nur wenige Zahlen: Jüngste Versorgungsforschungsergebnisse zeigen, dass in Kinderarztpraxen über ein Drittel der täglichen Arbeitszeit für die Kinderfrüherkennungsuntersuchungen aufgewendet wird (Tab. 1).5 Nur ein Drittel der Arbeitsleistung in Kinderarztpraxen betrifft akute Erkrankungen, über ein Drittel die Vorsorgeuntersuchungen, der Rest chronisch kranke Kinder und zunehmend die „neuen Morbiditäten“ wie etwa Aufmerksamkeits- und Emotionalstörungen und Adipositas. Das Ziel der Früherkennungsuntersuchungen ist auf zwei Ebenen zu sehen: auf der individuellen und auf der gesellschaftlichen Ebene. Auf Ersterer dient es dem Individuum, gesund zu bleiben oder werden zu wollen, auf der 4 5
Hahnemann (1999). Fegeler/Jäger-Roman/Martin/Nentwich (2013).
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Von der freiwilligen Prävention zur verpflichtenden Vorsorge Tab. 1: Aufwand in Kinderpraxen für Arbeitsleistungen6 Vorstellungsanlässe (in %)
Diagnosen (in %)
Zeitl. Aufwand (in %)
Akut
51,3
51,5
33
Prävention
30,3
29,3
36
Kontrollen
10,2 8,9
8,2
18,1
22,6
Neue Morbiditäten
3,7
Chronisch Kranke n = 54.134 Patienten; n = 193.458 Vorstellungen
gesellschaftlichen Ebene, durch frühzeitige Krankheitserkennung und angemessene Behandlung höhere Folgekosten und Arbeitsausfälle zu vermindern. Diese Einsicht war der Grund für den ersten Paradigmenwechsel. Der nächste Schritt aber ergibt sich nicht aus dem ersten: Kindervorsorgeuntersuchungen gesetzlich zu verpflichten, ist nicht Folge dieses Denkmodells, auch wenn dies den Vorstellungen der medizinischen „All-Erfasser“ sehr entgegenkommt. Sie haben einen ganz anderen Hintergrund: Es geht um die Kindeswohlgefährdung. Was haben Vorsorgen mit Kinderschutz zu tun? Die Notwendigkeit, im Sinne des Kinderschutzes tätig zu werden, wird in den letzten Jahren mit stark steigender Tendenz immer häufiger gesehen. In Stadt und Land Marburg verdoppelten sich die Verdachtsmeldungen einer Kindeswohlgefährdung von 127 im Jahre 2005 auf 266 im Jahre 2008. Um Vernachlässigung ging es in zwei Dritteln der Fälle, in einem Drittel um häusliche Gewalt. Die Hälfte der Kinder lebte in einer alleinerziehenden Situation. Gemeldet wurde überwiegend von Polizei, Jugendhilfe, Nachbarn oder anonym, in wenigen Fällen von einer Kinderklinik, so gut wie nie von niedergelassenen Ärzten. Nur zwölf Prozent der Meldungen erwiesen sich als unbegründet, denkbar zum Beispiel als Racheakt von Nachbarn, die sich durch schreiende und lärmende Kinder gestört fühlen. In zehn Prozent folgten familiengerichtliche Konsequenzen, und zehn Prozent der Kinder mussten in Obhut genommen werden. Waren es in Marburg 1999 noch vier Fälle von Inobhutnahme, stieg diese Zahl bis 2008 kontinuierlich auf 74 an, 2011 waren es 75 Fälle7, im Jahr 2013 wurden schon mit Beginn des 4. Quartales die Zahlen des Vorjahres 6 7
Die Summe bei „Diagnosen“ weicht durch Überschneidungen von 100 % ab, bei den „Vorstellungsanlässen“ fehlen „Sonstige“ und „ohne Arztkontakt“ sowie Therapien wie Verbandswechsel o. Ä. Die Zahlen und Fakten wurden auf der Marburger Fachveranstaltung „Kinderschutz im Brennpunkt gesetzlicher Neuerungen – ohne Ende?“ am 6. Mai 2009 vorgestellt, vgl. http://www.marburg-biedenkopf.de/uploads/PDF/FJS/fjs-fachtagungen-2008–2009.pdf (letzter Zugriff: 13.8.2014).
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erreicht8. Fast ein Drittel der Kinder musste dauerhaft fremd untergebracht werden. So müssen immer mehr Bereitschaftspflegefamilien und Plätze in Einrichtungen gefunden werden. Vor dem Hintergrund bekanntgewordener eklatanter Fälle von Kindesvernachlässigung und -misshandlung sah sich die Gesellschaft unter Zugzwang. Die ersten Lebensmonate und -jahre sind im Privatrahmen der Familie einer äußeren Kontrolle und Aufsicht entzogen. Erst mit dem Besuch einer Kindertagesstätte oder eines Kindergartens werden die Kinder von Dritten wahrgenommen und auch beurteilt. Waren es vorher die Nachbarn, die bei einem auffälligen Kind dem Jugendamt Mitteilung machten, sind es nun Fachpersonen aus dem pädagogischen Bereich. Eine eigenständige Fürsorge, wie sie in vielen Ländern, etwa in Frankreich als PMI – „protection materno-infantile“ – existiert, gibt es in Deutschland nicht. Zwar existiert eine geradezu unüberschaubare Zahl von Hilfsangeboten und Beratungsstellen, diese machen jedoch trotz aller „Niedrigschwelligkeit“ immer ein aktives Vorgehen der Familien notwendig – und damit das kränkende Eingeständnis, nicht selbständig zurechtzukommen. Zuständigkeiten Die Frage, wer denn mit jungen Familien zu tun hat, ließ sich leicht beantworten: Durch das in Deutschland gut ausgebaute Hebammenwesen und die Selbstverständlichkeit, mit der alle Entbindenden im Wochenbett häuslich betreut werden können, war ein System einer „aufsuchenden Betreuung“ durch das Gesundheitswesen und deren Finanzierung durch die Krankenkassen in der Neugeborenenzeit bereits vorgegeben. Die Aufwertung der Tätigkeit von Hebammen und deren Weiterqualifikation als „Familienhebammen“, zum Teil mischfinanziert durch sozialpolitische Maßnahmen, sowie die Bereitwilligkeit von jungen Familien, diese unter dem Dach des Gesundheitswesens angesiedelten Angebote anzunehmen, lassen diesen Abschnitt der frühen Kindheit unproblematisch erscheinen. Eine wie immer geartete Verpflichtung ist hier nicht zu erkennen; sie kann sich höchstens ergeben, wenn seitens der Jugendhilfe die Annahme solcher Hilfsangebote zur Voraussetzung des Verbleibs eines Kindes in der Familie gemacht wird. Mit der Schulpflicht ab sechs Jahren werden alle Kinder einer institutionellen Überwachung zugeführt. Diese beginnt mit der Schuleingangsuntersuchung und setzt sich dann durch den regelmäßigen Schulbesuch fort. Die staatlichen Eingreifmöglichkeiten sind durch die allgemeine Schulpflicht groß; alle Kinder werden, soweit sie gemeldet sind, beschult, und die Hürde, Ausnahmen durchzusetzen, ist hoch. So werden auch Kinder in Krankenhäusern, auf Kur oder bei Bettlägerigkeit beschult, genauso Kinder auf See oder im Zirkus. 8
Für die Überlassung neuerer Daten danke ich Jürgen Rimbach, Fachdienstleitung Allgemeiner Sozialer Dienst und Kita/Heim, Landkreis Marburg-Biedenkopf, Fachbereich Familie, Jugend und Soziales, Im Lichtenholz 60, 35043 Marburg.
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Der Zeitabschnitt zwischen der Neugeborenenzeit und der Einschulung entzieht sich vor allem dann, wenn ein Kind keinerlei pädagogische Vorschulangebote erhält, jeder staatlichen Kontrolle. Der Arzt ist der einzige, der schlaglichtartig Einblick nehmen kann und dazu ohne Erklärungsnotstand legitimiert ist. Vor allem im ersten und zweiten Lebensjahr ist er der einzige, der von außen eine, wenn auch sehr beschränkte, Einblicksmöglichkeit in die Lebenswelt eines Kindes hat. In aller Regel finden die Vorsorgeuntersuchungen in der Praxis statt, nicht zuletzt wegen der dazu nötigen apparativen Ausstattung. Auch Krankenbesuche sind in der Kinderheilkunde sehr selten, weil kranke Kinder in der Praxis untersucht werden müssen, um die dortigen besseren Möglichkeiten zu nutzen, und weniger Kranke nun einmal keinen Hausbesuch benötigen. Die allermeisten Kinder können ja noch getragen und so auch in krankem Zustand in die Praxis verbracht werden. Dies alles führt dazu, dass der behandelnde Kinderarzt nicht von sich behaupten kann, die Lebensumstände des Kindes zu kennen oder gar in Augenschein genommen zu haben. Er ist weder in der Lage noch dazu ausgebildet, die Aufgabe der Wahrung des Kindeswohles zu erfüllen. Aufwertung der ambulanten Pädiatrie Die Kinderärzte stehen dieser Aufgabe zunächst etwas zwiespältig gegenüber: Auf der einen Seite wollen sie nicht zum verlängerten Arm des Jugendamtes werden und das Arzt-Patienten-Verhältnis durch das Meldewesen getrübt sehen, auf der anderen Seite „wurmt“ es sie schon lange, dass mit zunehmendem Alter die Beteiligung an den Vorsorgeuntersuchungen stark nachlässt. Kommen noch fast alle Säuglinge zur Vorsorge, sinkt die Beteiligung bei den Fünfjährigen auf unter zwei Drittel ab. Da Vorsorgeuntersuchungen extrabudgetäre Leistungen sind, also, genau wie die Impfungen auch, unabhängig von der Mengen- und vor allem Vergütungsbeschränkung der sonstigen kassenärztlichen Tätigkeit bezahlt werden, entgeht den betreuenden Kinderärzten dieses Entgelt, wenn die Leistungen nicht in Anspruch genommen werden. Außerdem ist die Pädiatrie genauso von dem Erfassungs- und Vollständigkeitsgedanken eingenommen wie die gesamte Medizin, wie man zum Beispiel an dem Kampf um Durchimpfungsraten ablesen kann. Vor allem aber fühlt sich die ambulante Kinderheilkunde durch die Kindergesundheitsschutzgesetzgebung in ihrer Bedeutung stark aufgewertet, und für diese Aufwertung nimmt man den zusätzlichen bürokratischen Aufwand in Kauf. So ist die einhellige Meinung des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, dass der Schritt zu dieser Gesetzgebung überfällig war. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) begründet in ihrem millionenfach aufgelegten Flyer „10 Chancen für Ihr Kind“9 den Wert von Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern etwas plakativ wie folgt: Sie 9
„10 Chancen für Ihr Kind: Das Wichtigste zu den Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9.“ Stand: 4/2010.
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seien wichtig, weil der Arzt so feststellen könne, ob sich das Kind gesund entwickelt, weil so Krankheiten rechtzeitig erkannt und behandelt werden könnten – und weil bei den Früherkennungsuntersuchungen der Impfstatus des Kindes überprüft werde und ggf. Impfungen durchgeführt werden könnten. Denn so hat das Kind laut BZgA von Anfang an die besten Chancen. Zweck der Untersuchung sei, so das „Gelbe Heft“, die Früherkennung von Krankheiten, die die normale körperliche oder geistige Entwicklung eines Kindes in nicht geringfügigem Maße beeinträchtigen. Wer sucht, der findet Bei dem hohen Anspruch an die Qualität und Inhalte der Kinderfrüherkennungsuntersuchungen wird erwartet, dass auch etwas gefunden wird. Einem alten Bonmot folgend ist ein Patient nur gesund, solange er noch nicht richtig untersucht ist. Dazu kommt eine abrechnungstechnische Tücke, die dazu führt, dass jeder Patient automatisch eine Diagnose – und damit einen Krankheitsnamen – erhält, er also im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr gesund aus der Praxis geht. Vorsorgeleistungen werden wie Impfungen als Präventivleistungen extrabudgetär vergütet, bedingen dann aber keine Fallpauschale, also den Betrag, den der Arzt durchschnittlich im Quartal pro Schein erhält und an dem sich alles rechnet, was der Arzt macht: Sein Laborbudget, sein Medikamenten- und Heilmittelbudget, der Vergleich mit den übrigen Ärzten seiner Vergleichsgruppe und letztlich die Gesamtvergütung orientieren sich an der Fallzahl, ausgedrückt an der Scheinzahl. Da hier nur sogenannte „kurative Scheine“ zählen, also Fälle, die einem Heilungszwecke dienen, eine Diagnose behandeln, erhält jeder Schein eine solche, nach ICD-10 kodierte Diagnose. Nun hat jeder Patient irgendeine Diagnose, hat oder hatte mal eine Beschwerde, so dass es dem Arzt nicht schwerfällt, diese auch zu kodieren, obwohl ihm der Patient nur zu einer Früherkennungsuntersuchung vorgestellt wurde. Überlegt man sich, dass ein Patient in der Regel mehrere Ärzte im Quartal aufsucht und von jedem eine Diagnose erhält, darf es nicht verwundern, dass statistisch gesehen unsere Bevölkerung unter einer Multimorbidität leidet und es gar keine gesunden Menschen mehr gibt – es sei denn, sie meiden das Gesundheitswesen vollkommen. Sich mit dem Gesundheitszustand dieser Menschen auseinanderzusetzen, im Fachjargon „non-user“ genannt, immerhin etwa zehn Prozent der Bevölkerung, wäre ein aufschlussreiches Unterfangen. Sind sie trotz ihrer Meidung des Gesundheitswesens oder gerade deswegen besonders gesund oder besonders krank? In dem Fall der Kinderschutzgesetzgebung zieht sich das „Denkkollektiv“ durch alle Fraktionen:10
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Bei den folgenden Zitaten handelt es sich um Auszüge aus Briefen, die ich auf meine Anfrage von den Parteien erhalten habe.
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CDU (30.10.2007): „[…] gesetzgeberisches Handeln dringend geboten […] Kleinkinder können auf eine Vernachlässigung und drohende Gesundheitsgefahr nicht selber aufmerksam machen […]. Durch die Untersuchungen wird ein früher und regelmäßiger Kontakt zu den Kinderärzten hergestellt […].“
FDP (22.8.2007): „[…] die FDP setzt sich gegen Überregulierung auf allen Gebieten ein […]. Die geschilderten bürokratischen Hürden, die mit der Einführung verpflichtender U-Untersuchungen einhergehen, sind uns bewusst, trotzdem haben wir uns nach reiflicher Überlegung dazu entschieden, deren verpflichtende Einführung zu unterstützen, um das Ziel, die Gesundheit unserer Kinder zu fördern, zu erreichen […].“
Die Grünen (26.9.2007): „Kinder besser vor Vernachlässigung und Gewalt zu schützen ist ein Anliegen, dem sich mittlerweile alle angeschlossen haben […]. Alle ExpertInnen waren sich einig, dass das Land aktiv werden soll […]. Die verbindliche Teilnahme an den Früherkennungsuntersuchungen allein reicht nicht aus. Untrennbar mit der verpflichtenden Teilnahme müssen aber entsprechende niedrigschwellige, nicht stigmatisierende Beratungs-, Hilfs- und Unterstützungsangebote sichergestellt werden.“
Kritisch äußert sich allein der Landesverein Hessen des Deutschen Kinderschutzbundes. DKSB LV Hessen (24.8.2007) : „[…] es ist erfreulich, dass die Wahrung des Kindeswohles in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt ist […]. Den Aufbau eines Zentrums für die Datenerfassung halten wir für nicht angemessen. Durch den Aufbau stadtteilbezogener oder risikogruppenbezogener Sozialarbeit können Familien angesprochen und persönlich und ganz direkt begleitet werden […].“
Das ungeliebte Kind der Jugendhilfe Da das hessische Kindergesundheitsschutzgesetz vom 14. Dezember 2007 bis zum 31. Dezember 2012 befristet war, bestand Nachbesserungsmöglichkeit und -bedarf. Am 16. Mai 2012 wurde der durch Kabinettsbeschluss gebilligte und festgestellte Gesetzentwurf dem Landtag vorgelegt. Interessant an dieser Vorlage (Drucksache 5720 der 18. Wahlperiode) sind die finanziellen Folgen, die mit „-“ beziffert werden – sowohl in der Auswirkung auf die Liquiditätsund Ergebnisrechnung als auch auf Vermögensrechnung und mehrjährige Finanzplanung. Außerdem ergäben sich keine finanziellen Auswirkungen auf die hessischen Gemeinden und Gemeindeverbände. Hier liegt der eigentliche Grund für das Gesetz: die vermeintliche Kostenneutralität; Kinderschutz scheint auf diese Art umsonst zu haben zu sein. Dabei kosten sowohl das Kindervorsorgezentrum mit seiner gesamten Logistik viel Geld, vor allem aber auch die erhebliche Mehrarbeit, die die Jugendämter mit diesem „ungeliebten Kind der Jugendhilfe“ haben, wie es der Leiter eines Jugendamtes nannte, der nicht namentlich zitiert werden wollte. Nicht zuletzt müssen die Kinder- und
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Jugendärzte nicht nur die Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen melden und den Unmut und Ärger der Familien auf sich ziehen, wenn diese außerhalb des Zeitfensters nachgereicht werden sollen, sondern sie werden dafür auch in keiner Weise vergütet. Schon immer besteht die Notwendigkeit, Kinder vor Eintritt in eine Gemeinschaftseinrichtung ärztlich untersuchen zu lassen. Dabei geht es nicht in engerem Sinne um eine Tauglichkeitsuntersuchung, die Beurteilung des Pflegezustandes oder der emotionalen Befindlichkeit, sondern um eine mögliche Ansteckungsgefahr, die ein krankes Kind in die Einrichtung trägt. So hieß es früher: „Frei von Ungeziefer und ansteckenden Erkrankungen“. Hier geht es nicht um das Kindswohl oder psychosoziale Risikofaktoren. Auch bei den Schuleingangsuntersuchungen, die die einzige Querschnittsuntersuchung der Bevölkerung darstellen und so epidemiologisch und morbiditätsstatistisch von höchster Bedeutung sind, geht es nicht um eine mögliche Kindswohlgefährdung, sondern um die angemessene Schulform. In die Pflicht genommen Hatte der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) der Ärzte und Krankenkassen noch 2007 auf eine Beratungspflicht statt verpflichtender Früherkennungsuntersuchungen gesetzt – mit dem Tenor, dass es auch künftig keine verpflichtende Teilnahme an den von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) angebotenen Gesundheits- und Krebsfrüherkennungsuntersuchungen geben soll –, wurde noch in demselben Jahr die Meinung dahingehend aufgeweicht, dass auf dem 110. Deutschen Ärztetag 2007 der Beschluss11 gefasst wurde, bei der Einführung eines gesetzlich verankerten Meldewesens für verbindliche Kinderfrüherkennungsuntersuchungen wenigstens nicht die Ärzte zur Meldung der teilnehmenden Kinder zu verpflichten. Unter dem öffentlichen Druck einer vermeintlichen Zunahme von Kindsvernachlässigungsfällen in Ländergesetzgebungen, zuerst in Hessen Ende 2007, wurde eine Verpflichtung zur Teilnahme an den Kinderfrüherkennungsuntersuchungen schließlich doch gesetzlich festgeschrieben. Damit wird eine Pflicht des Staates, nämlich seine sozialpolitische Aufgabe, zu niedergelassenen Ärzten in das Gesundheitswesen verschoben, und es werden die weder dafür ausgebildeten noch dafür bezahlten, von Eltern freiwillig und nach ihrem Vertrauen gewählten Kinder- und Jugendärzte beauftragt, Kinder auf ihre körperliche und seelische Unversehrtheit zu untersuchen und den Vollzug an ein neu geschaffenes Hessisches Kindervorsorgezentrum zu melden. Fragen wie die des Arztgeheimnisses und des Vertrauens werden aufs Spiel gesetzt. Die Kinder werden nach einem Katalog schulmedizinischer Maßstäbe beurteilt, etwa, was die Vollständigkeit eines Impfschutzes oder die 11
Drucksache III-21 des Deutschen Ärztetages (DÄT) 2007, Nachweis verbindlicher Kinderfrüherkennungsuntersuchungen: http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his= 0.2.23.5168.5232.5251 (letzter Zugriff: 13.8.2014).
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Behandlung chronischer Erkrankungen wie beispielsweise eines Asthmas betrifft. Es ist wie bei allen medizinischen Maßnahmen möglich, dass ein Kind mehr Schaden als Nutzen von der Untersuchung und ihren möglichen therapeutischen Konsequenzen hat. Wenn Eltern dies fürchten und sich unserem Gesundheitssystem verweigern, ist es ihr Recht und muss kein Zeichen verantwortungsloser Elternschaft sein, wie die Kinderschutzgesetzgebung annimmt. Was passiert, wenn eine Vorsorge nicht wahrgenommen wurde? Wie läuft es praktisch ab, wenn eine Vorsorge nicht wahrgenommen wurde? Wenn nach dem Einladungsschreiben nach Ablauf des Zeitfensters kein Meldungseingang zu verzeichnen ist, erfolgen zwei Erinnerungen an die Familie durch das Kindervorsorgezentrum, die nachrichtlich bereits an den zuständigen Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der Gemeinde gehen. Dieser überprüft zuerst einmal seine Zuständigkeit und dann, ob die Familie bereits bekannt ist. Innerhalb von drei Wochen wird die Familie angeschrieben; wenn die Untersuchung doch vorgenommen wurde und lediglich durch das Meldewesen gefallen ist, bittet der ASD um eine Kopie des Vorsorgeheftes mit der betreffenden Untersuchung. Wenn diese nicht vorgelegt werden kann, muss sich der ASD persönlich durch Inaugenscheinnahme von der Existenz und dem Zustand des Kindes überzeugen und fordert die Familie dazu auf. Wenn keine Reaktion erfolgt und die Familie bei einem angekündigten Hausbesuch nicht vorgefunden wird, hinterlegt der ASD ein erneutes Anschreiben. Erfolgt auch hierauf keine Reaktion und ist die Familie bei einem weiteren Hausbesuch nicht anzutreffen, wird das Familiengericht eingeschaltet. Im ersten Halbjahr nach Inkrafttreten des Gesetzes 2008 sind in Marburg 147 Meldungen über nicht erfolgte Vorsorgen eingegangen. Davon erwiesen sich 105 (71 Prozent) als Fehlmeldungen, weil die Untersuchungen ordnungsgemäß vorgenommen worden waren, aber durch das Erfassungsraster der Meldungen gefallen sind. Drei Untersuchungen wurden in einem anderen Bundesland ohne Meldepflicht durchgeführt, 39, in den meisten Fällen die U4, die erste, oder die U9, die letzte, wurden tatsächlich nicht gemacht. Diesen musste nachgegangen werden. In keinem Fall wurde eine Kindswohlgefährdung festgestellt, in zwei Fällen waren weitere Schritte des ASD notwendig. Die Bearbeitungszeit pro Meldung betrug etwa eine Stunde, bei erforderlichen Maßnahmen ist der Zeitaufwand erheblich höher. Zunächst erfolgt eine Ersteinschätzung nach dem Vieraugenprinzip durch zwei Fachkräfte mit anschließender Fallberatung und Dokumentation. Die folgende Überprüfung mit Gesprächen und Umfeldrecherchen (etwa Kindergarten, Nachbarschaft, Angehörige) sowie ein eventuell notwendig werdender Hausbesuch, der ebenfalls von zwei Fachkräften vorgenommen wird, bedingen einen erheblichen personellen Aufwand, für den keine zusätzlichen Stellen geschaffen wurden, so dass die Zeit für andere Aufgaben des ASD fehlt. Die Zahl der Meldungen stieg in den folgenden Jahren an: 2009 waren es im Landkreis Marburg-Biedenkopf 300, im Jahr 2010 330 und 2011 schließ-
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lich 422 Meldungen, von denen 397 in die Zuständigkeit des Landkreises fielen. Hiervon waren 231, also fast 60 Prozent, Fehlmeldungen. Von den 397 betroffenen Kindern waren dem Jugendamt zum Zeitpunkt der Meldung 115 bekannt. Eine Kindeswohlgefährdung wurde in keinem Fall aufgedeckt.12 Bei der hohen Zahl von Fehlmeldungen darf die Frage gestellt werden, wie es umgekehrt mit der Nichterfassung von anstehenden Vorsorgeuntersuchungen aussieht. Diese Zahl, die aus strukturellen Gründen nicht verifiziert werden kann, scheint mir recht hoch, weil ich in der Praxis immer wieder erlebe, dass Vorsorgeuntersuchungen vergessen, aber dennoch die Familien nicht erinnert oder gemahnt wurden. Ich schätze sie ebenso hoch ein wie die Zahl der Fehlmeldungen. Denn gemeldet werden können natürlich nur registrierte Kinder, nicht diejenigen, die zwar hier wohnen, aber im Ausland, bei anderen Familienmitgliedern, oder wegen des Kindergeldbezuges andernorts gemeldet sind, zum Beispiel bei getrennt lebenden Elternteilen. Und sich illegal aufhaltende Kinder sind schon gar nicht zu erfassen. Mehr Bürokratie statt mehr Zuwendung So kann man zusammenfassen, dass die hessischen Erfahrungen der letzten fünf Jahre gezeigt haben, dass das Verfahren sehr träge und unzuverlässig ist und am Aufwand gemessen wenig Effekte zeigt. Fehlmeldungen und daraus resultierende Aktivitäten sind weit in der Überzahl und binden in den Jugendämtern Kräfte, die für andere Aufgaben, etwa die im Kinderjugendhilfegesetz formulierten, fehlen. Das Geld, welches für die Organisation und qualifizierte Besetzung des Hessischen Kindervorsorgezentrums und dessen Logistik ausgegeben wird, wandert in eine anonyme Institution, die nicht direkt mit Menschen zu tun hat. Menschen und Familien werden auf Zahlen und Datensätze reduziert. Diese Menschen, darunter auch Ärzte sowie Kinderärzte, werden ihren Aufgaben in einer Medizin, die sich als menschliche Medizin für Menschen verstehen sollte, entzogen und zu Zahlenmedizinern für Zahlen reduziert. Um den direkten Kontakt zu den Familien wiederherzustellen, könnte als genuine sozialpolitische Aufgabe der weit erfolgversprechendere Ansatz einer „pränatalen Prävention“, also einer vorgeburtlichen Beratung der Schwangeren und deren Partner, eingerichtet werden, um vor und nach der Geburt einen Familien-Besuchsdienst bei allen Familien einzurichten, wie er in vielen Ländern Europas, etwa in Frankreich oder den skandinavischen Ländern, üblich ist. Die Gemeinden sollten es sich etwas kosten lassen, ihre zukünftigen Träger des Gemeinwesens zu begrüßen, willkommen zu heißen und ihnen alles Notwendige mit auf den Weg zu geben. Eine Studentenstadt wie Marburg empfängt die Studenten, die ihren ersten Wohnsitz dort nehmen, mit einem Begrüßungsgeld von 100 € und 12
Für die Überlassung der Daten danke ich wiederum Jürgen Rimbach von der Fachdienstleitung Allgemeiner Sozialer Dienst und Kita/Heim im Landkreis MarburgBiedenkopf.
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einem Scheckheft für Gratiseintritte und Vergünstigungen jeder Art im Werte von noch einmal 100 €. Auf die Frage, warum das bei Neugeborenen nicht gemacht würde, antwortete mir der zuständige Bürgermeister: „Warum, die wohnen doch ohnehin hier.“ Kinder haben nun mal keine Wahl. Fortschreitende Medikalisierung als Lebensrisiko Die medizinische Vereinnahmung als Lösungsmöglichkeit aller Fährnisse der „conditio humana“ ersetzt als ein Erbe der Aufklärung Weltanschauung und Religion. Verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern sind eher ein weiterer Schritt zu einer fortschreitenden Medikalisierung der Gesellschaft im Sinne einer „medizinischen Polizey“, wie sie in der Aufklärung Johann Peter Frank (1745–1821) bereits als Ziel einer staatlichen Bevölkerungsfürsorge ausformuliert hat. Auch damals ging es um das Kindswohl, vor allem um das Aussetzen von Kindern und den häufigen Kindsmord bei ledigen Frauen zu verhindern. Da das Selbststillen für das Überleben von Kindern entscheidend war, nahm bei einer Verweigerung des Stillens Frank den Staat in die Pflicht, „die verletzten Rechte der Natur, und jene der Unmündigen, deren Vormünder er ist, durch Gesetze zu schützen“.13 So wurde eine Verpflichtung zum Stillen im „Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten“ von 1794 gesetzlich festgeschrieben. Andere Maßnahmen waren Gebäranstalten und Findelhäuser sowie Gesetze zur Verhinderung der Kindstötung und zur Besserstellung lediger Mütter, vor allem aber die Aufwertung der Mutterschaft, die das bürgerliche Mütterbild bis weit in unsere Zeit hinein prägte.14 Die Frage ist, wie die Gesellschaft mit ihrem negativen Bild einer erfüllten Mütterlichkeit heute damit umgehen will. Liebevolle Elternschaft, Bindung und Beziehung können nicht durch staatliche Überwachung von Vorsorgeuntersuchungen erzwungen werden, sondern nur durch einen anderen Wertebegriff, durch einen anderen Stellenwert von Kindern und Elternschaft in unserer Gesellschaft allgemein. Hiervon sind wir in unserer arbeits-, leistungs- und produktionsorientierten Zeit, die keinen Unterschied der Geschlechter mehr kennen will, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen weit entfernt, wie uns die niedrigen Geburtenraten eindrücklich mahnen. Die Medizin oder das, was in naturwissenschaftlichem Sinne darunter verstanden wird, kann uns da am wenigsten helfen. Jeder Arztbesuch bedeutet ein Risiko. In den Wartezimmern einiger norwegischer Allgemeinärzte hängt folgendes Schild: „Vorsicht: Sie verlassen Ihre persönliche Lebenswelt. Wenn Sie jetzt das Gesundheitswesen betreten, fragen Sie Ihren Arzt nach Nebenwirkungen und Risiken.“ Wie hoch sind diese Risiken? Sie entsprechen etwa denen der Sportart „Sportklettern“, die ja für recht gefährlich gehalten wird. Wenn sich Individuen diesen Risiken und damit diesem Gesundheitssystem verweigern, ist dies dann ein Recht oder ein Zeichen verantwortungsloser Elternschaft? 13 14
Zit. n. Toppe (1990). Toppe (1990).
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Bibliographie Literatur Fegeler, Ulrich; Jäger-Roman, Elke; Martin, R.; Nentwich, Hans-Jürgen: Warum kommen Kinder und Jugendliche in die Praxis der Kinder- und Jugendärzte? Studie der Deutschen Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und der Dresden International University. Vortrag auf der BVKJ-Obleutetagung 2011 in Hildesheim. Wiedergegeben in: Fegeler, Ulrich; Jäger-Roman, Elke: Prävention der „neuen Morbidität“ in der Ambulanten Allgemeinen Pädiatrie. In: Kinderärztliche Praxis 84 (2013), H. 2, S. 90–93. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt/Main 1980. Hahnemann, Samuel: Organon der Heilkunst. Textkritische Ausgabe der 6. Aufl. Bearb., hg. und mit einem Vorwort versehen von Josef M. Schmidt. Heidelberg 1999. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/Main 1967. Nolte, Stephan Heinrich; Sparenborg-Nolte, Anne: Wider den Präventionswahn. In: Deutsches Ärzteblatt 104 (2007), H. 36, S. A-2409 f. Toppe, Sabine: Polizey und Geschlecht: der obrigkeitsstaatliche Mutterschafts-Diskurs in der Aufklärung. Diss. phil. Oldenburg 1990.
Internetquellen Fachtagung „Kinderschutz im Brennpunkt gesetzlicher Neuerungen – ohne Ende?“, Marburg, 6. Mai 2009: http://www.marburg-biedenkopf.de/uploads/PDF/FJS/fjs-fachtagungen-2008–2009.pdf (letzter Zugriff: 13.8.2014) Drucksache III-21 des DÄT 2007, Nachweis verbindlicher Kinderfrüherkennungsuntersuchungen: http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=0.2.23.5168.5232.5251 (letzter Zugriff: 13.8.2014)
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Philipp Eisele Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 D-70184 Stuttgart Email: p. [email protected] Dr. Sylvelyn Hähner-Rombach Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Straußweg 17 D-70184 Stuttgart Email: [email protected] Sebastian Knoll-Jung, M. A. Mahlastr. 12 76829 Landau Email: [email protected] Dr. Jeannette Madarász-Lebenhagen Erdmannstrasse 59 16540 Hohen Neuendorf Email: [email protected] Dr. med. Stephan Heinrich Nolte Alter Kirchhainer Weg 5 D-35039 Marburg/Lahn Email: [email protected] Christoph Schwamm M. A. Braunschweiger Str. 45 12055 Berlin Email: [email protected] Pierre Pfütsch Rheinhäuser Str. 51 68165 Mannheim Email: [email protected] Daniel Walther M. A. Friedenstr. 27 76351 Linkenheim-Hochstetten Email: [email protected]
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Malte Thießen Juniorprofessor für Europäische Zeitgeschichte Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Fakultät IV – Institut für Geschichte Ammerländer Heerstraße 114–118 26129 Oldenburg Email: [email protected] Prof. Dr. Iris Ritzmann Friedheimstr. 20 CH-8057 Zürich Email: [email protected]
ISBN 978-3-515-10998-7
9 7 8 3 5 1 5 1 0998 7