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German Pages [292] Year 1998
ALMUTH BRUDER-BEZZEL
geb. 1944, Dr., Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin, ist Dozentin und Lehranalytikerin am Alfred-Adler-Institut Berlin und arbeitet in eigener Praxis. Sie ist Mitglied der DGIP. Im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht veröffentlichte sie: Alfred Adler. Die Entstehungsgeschichte einer Theorie im historischen Milieu Wiens (1983). - Zusammen mit Rolf Kühn und Karl Heinz Witte hat sie eine kommentierte textkritische Ausgabe von Alfred Adlers »Uber den nervösen Charakter« herausgegeben (1997).
VÔR
Almuth Bruder-Bezzel
Geschichte der Individualpsychologie 2., neu bearbeitete Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bruder-Bezzel, Almuth: Geschichte der Individualpsychologie / Almuth Bruder-Bezzel. 2., neu bearb. Aufl. - Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1999 ISBN 3-525-45834-7 © 1999 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Printed in Germany. - Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Fotosatz 29b, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
Inhalt
Vorwort Einleitung I.
9 11
Der Anfang und die Grundlegung der Adlerschen Theorie: Chronologie 1898-1911
19
Entwicklung der Theorie Kulturhistorischer Kontext
19 26
II.
Auseinandersetzung mit Freud und der Bruch
32
III.
Aufbau der individualpsychologischen Schule und ihre Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg: Chronologie 1911-1918
37
IV.
»Nervöser Charakter« (1912)
42
V.
Krieg und Kriegsneurosen
49
VI.
Neuanfang im Roten Wien: Chronologie 1918/19-1922
58
Blütezeit als tiefenpsychologische Pädagogik: Chronologie 1923-1926
62
VII.
5
VIII.
»Menschenkenntnis« (1927)
68
IX.
Ausbreitung der Individualpsychologie: Chronologie 1927-1933
71
»Sinn des Lebens« (1933)
76
Evolution Antikausalität Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl Neurose
78 80 81 82
Institutionalisierung der Individualpsychologie
85
X.
XI.
XII.
Internationaler Verein und Ortsgruppen Internationale Kongresse Ausbildung Individualpsychologie und die ärztlichen Psychotherapeuten
102
Individualpsychologie und die Praxis in der Reformbewegung
105
Reformbewegung in Wien und die Rolle der Psychologie Individualpsychologie in der Schulreform Erziehungsberatung Exkurs: Therapie in der Gruppe Individualpsychologie und die sozialistische Erziehung Individualpsychologie und Sexualreform
85 99 100
105 113 118 124 126 130
XIII.
Individualpsychologie und die Frauenfrage
137
XIV.
Individualpsychologie und sozialistische Bewegung
148
Adlers Verhältnis zum Sozialismus Marxismus und Individualpsychologie Marxistische Kritik und der Streit mit den Linken . . .
148 156 164
6
XV.
Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation
169
Entwicklung der Theorie Exkurs: Verwöhnung Diskussion und Weiterentwicklung innerhalb der Individualpsychologie
169 178 181
Grundannahmen über die psychische Struktur
188
Finalität und Fiktion Einheit und Ganzheit Lebensplan und Lebensstil
189 191 196
XVII. Soziale Einbettung des Menschen
201
XVI.
Mensch als soziales Wesen Massenpsychologie Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl Diskussion des Gemeinschaftsbegriffs
202 205 208 215
XVIII. Individualpsychologie im Nationalsozialismus und Austrofaschismus
222
Niedergang der Individualpsychologie Individualpsychologie im Rahmen der Deutschen Psychotherapie Einschätzung XIX.
224 227 242
Neuorganisierung der Individualpsychologie nach 1945
248
Abkürzungen von Zeitschriften
255
Werke Alfred Adlers
256
Literatur
261
Personenregister
277
7
Vorwort
Dieses Buch ist die zweite, neu bearbeitete Auflage meiner »Geschichte der Individualpsychologie«, die 1991 erstmals im Fischer Verlag erschienen ist. Da sowohl dieses als auch mein vorheriges Buch zur Geschichte der Individualpsychologie (Alfred Adler. Die Entstehungsgeschichte einer Theorie im historischen Milieu Wiens, Vandenhoeck & Ruprecht, 1983) vergriffen sind, ist eine Neuauflage notwendig. Das war nun die Gelegenheit, einige Änderungen vorzunehmen. Alle Kapitel wurden überarbeitet, einige wurden ganz neu geschrieben, ein Kapitel entfiel. Es handelt sich dabei weniger um Korrekturen als um Ergänzungen und manche Kürzungen. Im Lauf der Jahre kamen natürlich einige neue Gesichtspunkte oder Detailerkenntnisse hinzu, wobei besonders auf die Bildbiographie von Rüdiger Schiferer et al. (1995) und auf die Biographie Adlers von Edward Hoffman (dt. 1997) verwiesen sei. Es handelt sich in diesem Buch um die Darstellung der Geschichte der deutschsprachigen Individualpsychologie von ihren Anfängen bis 1945. Neben der Entwicklung der Adlerschen Theorie wird auch seine Praxis, die Theorie und Praxis seiner Anhänger wie auch die Organisierung und Rezeption dieser Schule berücksichtigt. Ich habe dabei in allen diesen Aspekten versucht, den zeitgeschichtlichen Rahmen einzubeziehen, um diese Schule in ihrem Zusammenhang zu verstehen. Auch die Darstellung der Theorie und der Begriffe der Individualpsychologie werden in ihrer Entwicklung und in ihrem Kontext betrachtet. Aus dieser Logik ist es zu rechtfertigen, daß die organisatorische und theoretische Neuentwicklung der Individualpsychologie nicht eigens abgehandelt
9
wird. Das heutige Verständnis der Individualpsychologie ist im Fluß, es zeichnet sich derzeit aus durch eine starke Hinwendung zu den modernen psychoanalytischen Schulen, durch vielfältige Neukonzeptionen oder Revisionen der Adlerschen Grundbegriffe. Diese Gegenwart aus ihrer Vergangenheit zu verstehen ist das Anliegen dieses Buches. Almuth Bruder-Bezzel
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Einleitung
Alfred Adler war der erste Dissident aus dem Freud-Kreis. Er entwickelte eine eigene tiefenpsychologische Theorie und Schule, die sowohl durch die Übernahme von Freuds Denkansätzen als auch durch Abgrenzungen gegen ihn entstanden ist. Diese Abgrenzungen stießen im Freud-Kreis auf Widerstand, so daß es zum Bruch und in der Folge zu einer vertieften Kluft kam. Es folgte nach dem Ersten Weltkrieg dann die praktische Hinwendung Adlers zur therapeutischen und pädagogischen Praxis innerhalb der Reformbewegung im Roten Wien. Ende der 20er Jahre begann Adler, sich von diesem Umkreis zu lösen und mit Vortragsreisen in aller Welt, vor allem in den USA, sich der Verbreitung der Individualpsychologie zu widmen. Adler ist 1870 in einem Vorort von Wien als zweites von sechs Kindern geboren. Mit Freud gemeinsam hat er die Herkunft aus einerjüdischen Kleinhändlerfamilie. Beide sind in Wien aufgewachsen, beide gingen einmal ins Leopoldstädter Sperlgymnasium, beide studierten Medizin. Aber Adler war um 14 Jahre jünger, er orientierte sich an der Sozialdemokratie und war offen gegenüber den Entwicklungen und Veränderungen seiner Zeit im Wien des späten 19. Jahrhunderts. Adler hatte gerade noch Teil an Freuds Wien, aber dieses Wien war in starker Veränderung begriffen und so für die Generation Adlers nicht mehr dieselbe Stadt. Das bürgerliche, liberale Wien des Fin de siècle wurde zu einer der »Wiegen der Moderne«, es wurde die Stadt der erstarkenden Arbeiterbewegung und des sich organisierenden, antisemitischen Kleinbürgertums, mit ihrer Angst vor 11
Deklassierung und ihren Sehnsüchten nach Aufstieg. Die Vision der modernen, demokratischen Großstadt, eines Lebens ohne Schein, entfaltet hier seine größte Blüte. Dieser Wandel, der seine Parallele in Deutschland hatte, bedurfte eines Individuums, das sich aus der willenlosen, triebgebundenen Sensibilität zu einem Subjekt mit Willen, Tat und Ziel befreit. Auch Sexualität, vordem das zentrale T h e m a des »nervösen« Bürgers, wird diesem Streben nun nachgeordnet. Dieses neue Wien wurde nicht mehr von Freud ausgedrückt. Es findet seine psychologische Darstellung viel eher in Adlers Theorie. Er ist derjenige, der die Zustände und die Wandlungen seiner Zeit sehr deutlich wiedergibt, der beobachtet, mitgeht und Kritik übt. Macht und Ohnmacht - zwischen den Klassen, den Geschlechtern und zwischen Erwachsenen und Kindern - entdeckt er als Spannung auch in der psychischen Dynamik. In den Theorieentwürfen seiner frühen Zeit bis 1912 finden sich darauf direkte oder indirekte Hinweise. Adlers vor-individualpsychologische Beschäftigung mit Sozialmedizin, seine Postulierung eines Aggressionstriebs, seine Theorie des Minderwertigkeitsgefühls und der Kompensation, sein Begriff des männlichen Protests und schließlich seine Suche nach dem Ziel und der Einheit des Individuums verarbeiten diese gesellschaftlichen Erfahrungen und Zeitströmungen, zunächst noch eingebettet in die Freudsche Theorie, dann von ihr getrennt. Diese Zeit der Adlerschen Theorieentwicklung ist zu unterteilen in die Zeit von Adlers Sozialmedizin, seiner Freudianischen Zeit und dem Bruch mit Freud. In den nächsten Entwicklungsschritten Adlers nach 1918 spiegeln sich der revolutionäre Aufbruch und die sozialen Reformen in den Republiken Österreich und Deutschland. Als Pädagoge, als Reformer, Volksredner und Organisator hat Adler sich hier betätigt, getragen und beflügelt von einer ständig wachsenden Zahl von Anhängern in einer Gesellschaft des Aufbaus. Es sind die Jahre der Praxis, der Konsolidierung und Erweiterung der Individualpsychologie als Organisation. Sie erweist sich als eine Richtung, die Theorie und Praxis zu vermitteln versucht. Aus der Psychologie des Individuums in ganzheitlicher, finalistischer und sozialpsychologischer Sicht und aus ihrer kritischen Kulturtheorie leitet sie Schritte ihrer pädagogischen Arbeit, Beratungspraxis und Therapie ab 12
wenn auch Theorie und Praxis nicht in einem unvermittelten Verhältnis zueinander stehen. Die Individualpsychologie hatte ihren Höhepunkt an theoretischer und praktischer Produktivität, die nicht mehr das Werk Adlers allein war. Seine Anhänger waren Erzieher, Ärzte, Lehrer, aber auch »Laien« in der breitesten Bedeutung dieses Wortes. Adler führte den Begriff »Gemeinschaft« ein und machte die Entfaltung des »Gemeinschaftsgefühls« durch Gemeinschaftserziehung und Ermutigung zum Eckpfeiler seiner nun veränderten Theorie. Gegen Ende der 20er Jahre hat die Reformbewegung aufgrund von politischen und ökonomischen Pressionen an vorwärtstreibender Stärke verloren. Davon bleibt auch die Individualpsychologie als Theorie, Praxis und Organisation nicht verschont. Es gibt Anzeichen von Stagnation, Ideologisierung und von Fraktionierungen. Auch für Adler selbst hat die Wiener Reformarbeit an Anziehungskraft verloren, er wendet sich nach außen und verliert dabei zweifellos den Kontakt zu seinen persönlichen Wurzeln. Wir können beobachten, wie Adlers Theorie zu einer weltanschaulichen »Lehre« ausgebaut wird, in der der Blick von der Entwicklung des einzelnen Menschen zur Entwicklung der Menschheit gerichtet ist. Stellenweise bekommen seine Begriffe hier metaphysische, ja spirituelle Züge - Frage nach dem Sinn, Evolution, visionäre Gemeinschaft und Streben nach Vollkommenheit sind nun seine bevorzugten Denkfiguren. Diese Wende wurde nur noch von einem Teil seiner Anhänger mitvollzogen. Adlers Schritt von der Theorie zur Weltanschauung korrespondiert (bei ihm und einem Großteil seiner Anhänger) mit dem Schritt von der Praxis zur Pragmatik, das heißt der Reduktion der Theorie auf Handlungsanleitung, Technik und den kurzzeitigen Erfolg. Ich nenne diese drei großen Linien der Adlerschen Entwicklung, parallel zu den kulturellen und politischen Veränderungen: 1. der Theorieentwurf im Übergang vom Fin de siècle zur Moderne, 2. die Neuformulierung und Bewährung der Theorie in der Praxis der Reformbewegung der 20er Jahre und 3. die Ideologisierung der Theorie in der Zeit des Niedergangs der Reform Anfang der 30er Jahre.
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Sie werden in den drei Hauptwerken Adlers, «Über den nervösen Charakter« (1912), »Menschenkenntnis« (1927) und »Sinn des Lebens« (1933) repräsentiert. Allerdings stellen diese Etappen weniger Phasen im eigentlichen Sinn dar als Markierungspunkte und Akzentverlagerungen. Es sind keine Brüche oder markante Revisionen, und Adler selbst hat seine Umorientierungen nicht, wie Freud das tat, hervorgehoben, sondern eher verdeckt. Diese drei Linien der Adlerschen Entwicklung will ich noch differenzieren und sie in die Geschichte der Individualpsychologie insgesamt integrieren. Wann aber lassen wir die Individualpsychologie beginnen? Seit d e m Bruch mit Freud 1911 oder erst nach dem Ersten Weltkrieg, als das Gemeinschaftsgefühl für die Individualpsychologie grundlegend und sie erst dann zu einer Bewegung wird und ihre Praxis findet? Oder sollen wir sie nicht bereits anfangen lassen, als Adler seine ersten nicht-freudianischen, aber (tiefen)psychologischen, individualpsychologisch-spezifischen Gedanken äußert, also ab 1907 mit der »Studie über die Minderwertigkeit der Organe« oder gar schon 1904 mit d e m »Arzt als Erzieher«? Man könnte noch weiter zurückgehen, in die Zeit von Adlers sozialmedizinischen Schriften ab 1898. Auch da liegen seine Wurzeln, aber es sind noch keine psychologischen Ansätze. Das ist vorindividualpsychologisch, und doch sollte diese kurze Zeit nicht weggelassen werden. Die Etappen der weiteren Geschichte müssen wir weiter fassen. Die Individualpsychologie entwickelt sich nun bald - während der Zeit Adlers in Amerika - getrennt von Adler, spätestens seit seinem Tod 1937. In der Zeit des Nationalsozialismus und der folgenden Kriegszeit verfällt die deutsche und Wiener Individualpsychologie, sie wird zu einer Entwicklung in Amerika, wieder in Rivalität zur Psychoanalyse. Dann beginnt nach 1945 langsam die Neuorganisierung der europäischen Individualpsychologie sowie die internationale Vereinigung und Vereinheitlichung. Und schließlich, ab den 60er/70er Jahren, konsolidiert sich die europäische Individualpsychologie und kommt, mit der Einrichtung der Ausbildungsinstitute, zu einer Ö f f n u n g hin zur Psychoanalyse - und gerät dabei in Differenz zur Internationalen Individualpsychologischen Vereinigung14
So komme ich schließlich zu folgender Einteilung der Entwicklung der Individualpsychologie im Kontext ihrer Zeit: 1. Sozialmedizin in der Zeit der Organisierung des Kapitalismus und der Wiener Gemeindereform (1898-1903). 2. Theorieentwicklung in freudianischer Zeit im Übergang vom Fin de siècle zur Moderae (1904-1912). 3. Bruch mit Freud 1911 und die Entstehung der Individualpsychologie als Schule. Veränderung der Theorie in der Zeit des Ersten Weltkrieges und der Entstehung der Republik. 4. Neuformulierung und Bewährung der Theorie und Organisation in der Praxis der Reformbewegung im Roten Wien ( 1920-1930). 5. Ausbau der ontologisch-lebensphilosophischen Ansätze der Theorie in der Zeit des Niedergangs der Reformen durch die Weltwirtschaftskrise und dem Ende der demokratischen Verfassungen Anfang der 30er Jahre. 6. Der organisatorische und theoretische Verfall in der Zeit des Nationalsozialismus und während des Krieges. Verlagerung des Schwerpunktes nach Amerika (1933-1945). 7. Neuorganisierung und internationale Verbreitung in der Zeit des weltweiten Wiederaufbaus nach 1945. 8. Konsolidierung der europäischen Individualpsychologie und Differenzen innerhalb der Internationalen Vereinigung (60er/ 70er Jahre). Diese Einteilung der Etappen der Individualpsychologie parallel zu den Zeitumständen zeigt meine Absicht, die Entwicklung der Theorie und Praxis der Individualpsychologie in den Kontext der historischen Veränderung einzufügen. Ich versuche damit, die Adlersche Theorie als Teil eines umfassenden kulturellen Diskurses, als Schnittstelle gesellschaftlich allgemeiner und individuell besonderer Entwicklungslinien zu verstehen. Die Konzeptualisierung einer Theorie, die Bedeutung ihrer einzelnen Begriffe und schließlich die Veränderungen sind nur in ihrem kulturellen Kontext, vor dem Hintergrund der Diskussionen, die zu gleicher Zeit in anderen Wissenschaften geführt wurden, und vor dem Hintergrund der Bewegungen und Kämpfe der Zeit zu verstehen. Denn die Theorie ist die Verwissenschaftlichung außerwissenschaftlicher Fragestellungen und Betrachtungsweisen und ist zugleich eine innerwissenschaftliche Auseinandersetzung, Fortfüh15
rung oder Abgrenzung von früheren oder konkurrierenden Theorien, Methoden, Fragestellungen und Antworten. Sie ist dabei aber nicht der unmittelbare Ausdruck ideologischer Entwicklungen oder ökonomischer Notwendigkeiten im Sinn einer »Widerspiegelungstheorie«. Dazwischen liegen vielmehr Vermittlungsschritte und Interpretationsweisen. Der Theoretiker und Praktiker ist nicht nur Objekt der Geschichte seiner Zeit, er wird nicht nur von Bewegungen seiner Zeit getragen, sondern ist Subjekt, trägt selbst bei. greift ein und entscheidet sich. Subjekt und Objekt der Geschichtc stehen in einer dialektischen Beziehung zueinander. Diese Methodologie gilt für jede Geschichtsschreibung, aber sie ist für den vorliegenden Fall, für die Adlersche Theorie, um so naheliegender und dringlicher, als Adler selbst sehr deutlich auf seine Zeit reagierte und aktiv Stellung bezog. Sie entspricht zugleich Adlers psychologischer Auffassung menschlicher Entwicklung als dem Ergebnis eines dialektischen Verhältnisses von Kausalität und Finalität: Das Individuum macht sich Fiktionen über sich und seine Welt, es ist Produkt seiner schöpferischen Kraft auf dem Hintergrund seiner vorgegebenen Positionen und Dispositonen. Die Methode der Geschichtsschreibung ist es, die über die Antwort nach der Frage von Sinn und Zweck der Beschäftigung mit der Geschichte für die Gegenwart entscheidet. Die Geschichte einer Schule ist ein Erbe, zuweilen auch eine Erblast, an das die Gegenwart unweigerlich geknüpft ist. Die Kenntnis dieses Erbes, dieser Tradition, gehört zum Verständnis auch der heutigen Theorie und Praxis einer Schule, die durch die persönliche, kulturelle und politische Ausrichtung ihrer Anhänger und Mitglieder, durch ihre Organisationsstruktur und ihren Organisationsgrad, durch ihre Praxis in einem bestimmten Kontext und zu einem bestimmten Zweck lebendig gewesen ist und über ihre damalige Wirkungsgeschichte auf das heutige Fremdverständnis, auf ihre Rezeption, bis heute einwirkt. Über Prozesse der Tradierung - die durch Ausbildung, Lehr- und Kontrollanalysen bei einer therapeutischen Richtung in ganz besonderem Maß wirkungsvoll sind - wirkt diese Geschichte, ob bewußt oder nicht, auf das heutige Selbstverständnis der Theorie und Praxis ein. Der Standort einer Schule wie der Individualpsychologie, ihre Identität und ihre Beurteilung durch andere, wird zu einem großen Teil durch diese Geschichte bestimmt - zu einem anderen freilich durch die Gegenwart. 16
Im Umgang mit diesem Erbe gibt es zwei Gefahren. Die eine besteht darin, daß die Beschäftigung mit Geschichte beim Sammeln von Daten. Fakten und Anekdoten - was zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist - stehenbleibt. Eine solche positivistische Geschichtsschreibung bleibt bedeutungslos für das Verständnis der Theorie in der Gegenwart. Die andere Gefahr besteht darin, daß sie konservierende Funktion übernimmt. Dann wird aus dem Erbe ein Ballast, das jede Weiterentwicklung als Verrat am Meister denunziert und sich provinziell gegen Einflüsse von außen abschottet. Die Methode, wie sie mir vorschwebt, versucht, beide Gefahren zu minimieren oder zumindest im Auge zu behalten. Für sie ist wesentlich, durch Geschichte das Verständnis der Theorie, der Begriffe und der Praxis herzustellen und zu erweitern, sie in ihrem immanenten Verstehens- und Entwicklungszusammenhang und im Kontext ihrer Umgebung zu sehen. Einen Text historisch zu verstehen heißt dann, ihn als geronnene Form eines geschichtlichen und geistigen Prozesses (in dem Praxis und konkrete Erfahrung impliziert sind) verstehen, der in der Geschichtsbetrachtung erst rekonstruiert wird. Geschichte ist dann ein Weg zum Verständnis und zur Reflexion und verbietet - so verstanden - eine dogmatisierte Textgläubigkeit. Durch dieses Verständnis erst ist der Weg frei zur Veränderung, zur Weiterentwicklung. Der Beitrag zur Weiterentwicklung der Theorie, Praxis und Organisation der gegenwärtigen Schulrichtung ist für mich entscheidend. Weiterentwicklung geschieht nur durch Reflexion der Geschichte. Dazu muß freilich in gleichem Maß die Reflexion der Gegenwart, der gegenwärtigen Theorien. Kulturen und gesellschaftlichen Fragen hinzukommen. Das Interesse an ihrer Geschichte hat sich in den letzten Jahren innerhalb der Individualpsychologie bedeutend verbreitet - das zeigt sich an einer ganzen Reihe von größeren oder kleineren Arbeiten. Trotzdem ist die Materiallage insgesamt nicht gut. Das hat sicher vielerlei Gründe. Adler selbst kennen wir im wesentlichen nur als öffentliche Person - sieht man von einigen persönlichen, legendenhaften Beschreibungen (vgl. Bottome 1939; Orgler 1956) und von dem Bekanntwerden einer sexuellen Affäre 1925/26 (vgl. Uehli-Stauffer 1995) ab. Es sind nur wenige Briefe bekannt - und auch darin stellt er sich der Familie als öffentlich erfolgreiche Person dar; es gibt keine Tagebücher oder anderes authentisches Material. Dazu kommt, daß unter seinen Anhängern wenig Personen 17
waren, die über ihre Zeit und ihren Ort hinaus Bedeutung erlangt haben - außer Manes Sperber; als Praktiker haben sie zudem wenig geschrieben - mit Ausnahme von Fritz Künkel. Gleichwohl müßte angesichts der Breite in der individualpsychologischen Bewegung vor allem in den 20er Jahren noch viel verstreutes Material zu finden sein, um daraus allmählich zu einem lebendigeren und vielfältigerem Bild dieser Geschichte zu kommen. Das beweisen immer wieder einzelne Funde.
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I. Der Anfang und die Grundlegung der Adlerschen Theorie Chronologie 1898-1911
Von 1888 an hat Alfred Adler in Wien Medizin studiert, ab 1894 oder 1895 arbeitete er zur praktischen Weiterbildung an der Poliklinik, jener »Hochburg des Wiener Spezialistentums«, an der »die medizinische Jugend Wiens« regierte (Lesky 1965, S. 432) und an der Arbeiter und andere »unbemittelte« Kranke unentgeltlich behandelt wurden. Im November 1895 legte er seine letzte medizinische Prüfung ab. In dieser Zeit und noch weiterhin war Adler Mitglied im sozialistischen Studentenverein. Nach ein paar fehlgeschlagenen Versuchen, sich als Arzt niederzulassen, eröffente er schließlich 1898 - inzwischen schon verheiratet mit Raissa Epstein (1897) und Vater seiner ersten Tochter Valentine - seine Praxis in der Czerningasse 7, einer engen Seitengasse unweit vom Prater.
Entwicklung der Theorie Nach bisherigen Forschungen beginnt Adlers Karriere als Autor im Januar 1898' mit einer Veröffentlichung zur sozialen Hygiene. In der Reihe »Wegweiser der Gewerbehygiene«, herausgegeben vom Vertrauensarzt Dr. E. Golebiewski, übernimmt Adler die Schrift »Gesundheitsbuch für das Schneidergewerbe«, eine Broschüre von 31 Seiten. Adler hält sich im Aufbau der Schrift an den Plan des
1 Schiferer hat einen kleinen Beitrag von 1897 (Das kleine Treiberlein) entdeckt, der wie auch andere A u f s ä t z e aus dieser Zeit mit »Aladin« gekennzeichnet ist.
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Herausgebers und schreibt im Vorwort, er sei bemüht, den »Zusammenhang von ökonomischer Lage und Krankheiten eines Gewerbes zu schildern« und sehe »den Menschen mit seinen körperlichen Leiden nicht als Einzel- sondern als Gesellschaftsprodukt«. Er schildert anhand von Berichten und Statistiken von Genossenschaften, Gewerkschaften, Krankenkassen sowie von Analysen der »Schriften des Vereins für Socialpolitik« 2 die Arbeits- und Lebensbedingungen und die Krankheiten der Schneider. Er kommt zu Stellungnahmen, die bürgerlichen und sozialistischen Sozialreformern beziehungsweise -kritikern entsprachen: für Großbetriebe, für Gewerbegesetze und staatliche Interventionen. Dieser Schrift folgen 1902 und 1903 noch vier weitere sozialmedizinische Beiträge, diesmal in der »Ärztlichen Standeszeitung«, herausgegeben vom sozialdemokratischen Mediziner Heinrich Grün. Alle Publikationen stellen den Zusammenhang zwischen sozialem Elend und den Krankheiten her, greifen die sozialen Verhältnisse und vor allem die staatliche und kommunale Gesundheitspolitik an und machen Lösungsvorschläge zur sozialen Gesetzgebung, zur öffentlichen Sanitätspflege und Hygiene. An einigen Stellen ist Adlers Frontstellung gegen die (christlich-soziale) Regierung und lokale Behörden geprägt von marxistischen Analysen und dem Pathos der Arbeiterbewegung. Adler greift mit diesen Beiträgen in die damals heftig geführte Debatte der »sozialen Frage«, die die Probleme durch die explosive kapitalistische Industrialisierung und Urbanisierung in politischer, medizinischer und sittlicher Ausprägung erzwang. Adlers Kontakt zur Sozialdemokratie ist dafür von zentraler Bedeutung, doch gehen in seine Überlegungen ebenso Analysen bürgerlicher Sozialreformer und mediziner ein - der »Verein für Socialpolitik«, die Arbeiten von Rudolf Virchow - und Standesinteressen der Ärzteschaft. 3 Von Psychologie ist Adler hier noch weit entfernt, und doch geht diese sozialreformerische Herkunft in Adlers Psychologie und Praxis im weiteren ein. In dieser Zeit nun wird Adler 1902 von Freud 2 Dazu gehören die Sozialreformer (»Kathedersozialisten«) G. v. Schmoller und L u i o v. Brentano. 3 Vgl. ausführlicher Bruder-Bezzel 1983 und Hubenstorf 1991. Hubenstorf unterzieht Adlers sozialmedizinische Schriften einer fundierten wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung.
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zu einem Gesprächskreis eingeladen und gehört damit zu den ersten vier Mitgliedern der Freudschen »Mittwochsgesellschaft«. 4 Diese Begegnung mit Freud wurde natürlich entscheidend, Adler erhielt hier seine (tiefen)psychologische »Grundausbildung«, auch wenn er weiterhin seine eigenen Wege verfolgte und diese Gedanken mit Freuds Theorie zu verbinden suchte. Von diesem Einfluß ist auch nach zwei Jahren zunächst noch relativ wenig zu spüren, was seine nächste Veröffentlichung zeigt, die kleine Arbeit »Der Arzt als Erzieher« von 1904 (wieder in der Ärztlichen Standeszeitung). Es geht zwar nun um seelische Gesundheit und um Kinder, aber spezifische Freudsche Gedanken fehlen weitgehend. In aufklärerischer Schreibweise geht es um den Zusammenhang von körperlicher und seelischer Schwäche und um die nötigen erzieherischen Maßnahmen. Die »Erkennungszeichen« der Adlerschen Theorie, die pädagogische Ausrichtung und die Betonung des Gefühls der Schwäche und Demütigung des Kindes, werden hier sichtbar. Durch körperliche Mängel, aber auch durch autoritäre, kalte und verwöhnende Erziehung verlören Kinder »leicht die beste Stütze ihres geistigen Fortschritts: das Vertrauen in die eigene Kraft« (1904a, S. 204). Adler lehnt Strafe in der Erziehung ab, fordert eine Haltung, die das Gefühl der Erniedrigung vermeidet und durch Liebe und Lob den Mut und die Selbständigkeit stärkt. Das Adlersche Thema: Überwindung der Schwäche, Stärkung der eigenen Kraft, ist also bereits 1904 eingeleitet. Zugleich aber macht schon der Titel »Arzt als Erzieher« deutlich, daß sich Adler an eine Bewegung unter Ärzten anschließt, die die erzieherische und prophylaktische Aufklärung der Bevölkerung und gegebenenfalls eine erzieherisch rational ausgerichtete Psychotherapie oder Psychagogik propagierte, als Antwort auf die (angeblich) massenhaft verbreitete Erscheinung von »Nervosität« und Willensschwäche - die natürlich auch als weitere Folge des »sozialen Elends« verstanden werden kann. Der »Arzt als Erzieher« war eine »feststehende Leitidee« geworden, der auch eine gleichnamige Zeitschrift entsprach (Schröder 1995, S. 61). 4 Die U m s t ä n d e der Einladung sind bis heute noch nicht geklärt. Allerdings ranken sich um diese Frage verschiedene Gerüchte (vgl. Handlbauer 1990, S. 15ff.). Sicher scheint, daß die Initiative von Stekel ausging (Schiferer 1995, S. 56; H o f f m a n 1997, S. 63).
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In der folgenden Zeit wendet sich Adler ganz der Psychologie und Neurosenlehre zu. Hier wird nun der Einfluß Freuds und Adlers Auseinandersetzung mit ihm erkennbar. 1904/05 schreibt er verschiedene kleine Aufsätze zur Psychoanalyse und Sexualpädagogik, die sehr eng an Freud angelehnt sind. 1906/07 macht Adler eine entscheidende Kehrtwende, die ihn über Medizin und Naturwissenschaft zur Grundlegung der Psychoanalyse führen soll, die aber den Grundstein für seine eigene Neurosentheorie und Psychosomatik legt. Es ist nun nicht mehr, wie in der Sozialmedizin, die soziale Unterlegenheit, sondern die »Minderwertigkeit« der Organe, die zur Krankheit führt. Krankheiten bedürften eines somatischen Entgegenkommens. Umgekehrt führe nicht jede Organminderwertigkeit zur Krankheit, sei es, weil sie nicht hinderlich ist, sei es, weil sie ausgeglichen, kompensiert werden könne, so daß das (minderwertige) Organ zu gleicher oder sogar zu besserer Leistung als das normale befähigt werde. Die Kompensation des minderwertigen Organs erfordere allerdings erhöhte Anspannung und gesteigerte Konzentration, so daß sie zum Scheitern führen und damit eine neurotische Entwicklung einleiten könne. Organminderwertigkeit und ihre Kompensation und Überkompensation sind für Adler somit Grundlage der Neurose. Diese Gedanken hat er 1906 in der Mittwochsgesellschaft vorgetragen und 1907 in seinem Buch »Studie über Minderwertigkeit von Organen« (1907a) veröffentlicht. Adler ordnet diese erste große Arbeit der klinischen Medizin zu und greift mit ihr in die aktuelle Diskussion in Biologie und Medizin ein, in den Kampf um den Darwinismus und den zwischen »mechanistischem« Darwinismus und »neovitalistischem« Lamarckismus. In der Medizin war der Kompensationsbegriff gängig (durch Ludwig Traube) und im übertragenen, psychologischen Sinn auch von G. Anton verwendet. Aber während Kompensation im Sinn von »funktioneller Anpassung« (Wilhelm Roux) akzeptiert war, galten Vorstellungen von Überkompensation als spekulativ. Indem Adler die aktive und teleologische Anpassung betonte und in der Selektionstheorie den Sieg des Stärkeren widerlegte durch die Möglichkeit der kompensatorischen Steigerung, verband er darwinistische mit lamarckistischen Gedanken (vgl. BruderBezzel 1983; Böhringer 1985). Zugleich ist Adlers Theorie eine Auseinandersetzung mit der da22
mals hochaktuellen Degenerationstheorie: Während sich Minderwertigkeit - »Degeneration« - nach Adler auch bei normalen Menschen finden läßt und sich auch nur auf einzelne Organe bezieht, die sich zudem kompensieren lassen, waren Organminderwertigkeiten für die Vertreter der Degenerationstheorie generelle Degenerationszeichen, die nicht kompensierbar seien. Dieser Auffassung widerspricht Adler (vgl. 1907a S. 54; 95) Adlers Rückkehr zur Naturwissenschaft und sein - nicht anerkanntes, insofern gescheitertes - Bemühen, einen Beitrag zur Psychoanalyse zu liefern, wird 1908 mit zwei Aufsätzen zur Triebpsychologie noch deutlicher. In seinem Aufsatz »Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose« (1908b) postuliert er, als erster in der Psychologie, einen »Aggressionstrieb«. Er unterscheidet Primärtriebe, die an ein Organ gebunden sind, von einem selbständigen Aggressionstrieb, als einem übergeordneten Trieb »zur Erkämpfung einer Befriedigung«, ein »die Triebe verbindenes psychisches Feld«, in das »die unerledigte Erregung einströmt, sobald einem der Primärtriebe die Befriedigung verwehrt ist« (1908b, S. 58). Aggression also als Folge von Frustration. Die Verbindung zu seiner Organminderwertigkeitslehre sieht er darin, daß er einem minderwertigen Organ eine größere Triebstärke und damit einen stärkeren Aggressionstrieb zuschreibt. Theoretisch wohl noch bedeutsamer sind seine grundsätzlichen Ausführungen zur Triebpsychologie und zu den »Schicksalen« der Triebe, die er als »Triebverschränkung«, »Triebhemmung« und »Triebverwandlung« in verschiedenen Formen beschreibt. Dazu gehören »Verkehrung des Triebs in sein Gegenteil«, »Verschiebung des Triebs auf ein anderes Ziel«, »Richtung des Triebs auf die eigene Person« und »Verschiebung des Akzents auf einen zweiten, starken Trieb« (1908b, S. 54f.). Es zeigt sich bereits in diesem Aufsatz auch sein Interesse an einer Charakterlehre, an dem, was Freud 1909 als »Psychologie der Ichtriebe« bei Adler kritisiert (Protokolle Bd. 2, 1977, S. 240). Adler nimmt auf den Aggressionstrieb im nächsten Jahr noch des öfteren Bezug, dann läßt er ihn als solchen fallen, da er nun das Biologische und Deterministische des Triebbegriffs in Frage stellt. Er umschreibt den Aggressionstrieb später als angreifende Stel23
lungnahme, als » B e m ä c h t i g u n g « und »Auseinandersetzung« oder setzt an seine Stelle - obgleich damit der theoretische Status verändert wird - den kompensatorischen »männlichen Protest« oder das Geltungs- und Machtstreben (vgl. Bruder-Bezzel 1 9 9 5 ) . Der zweite Aufsatz des Jahres 1908. » D a s Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes«( 1908d), ist als Ergänzung zum »Aggressionstrieb« zu sehen, da Adler die dort entwickelte T r i e b p s y c h o l o g i e voraussetzt und das Zärtlichkeitsbedürfnis als Pendant zum A g g r e s s i o n s trieb versteht. Das »Zärtlichkeitsbedürfnis«, mehr G e f ü h l s k o m plex als Trieb, aber den M e c h a n i s m e n des Trieblebens gehorchend, ist das frühe Bedürfnis nach Liebkosung und Nähe und als solches, ungleich Freuds Libido, sozial gerichtet. E s ist für Adler der entscheidende Hebel der Erziehung und gesunden E n t w i c k l u n g , da es. in richtigem M a ß befriedigt, die Grundlage für Selbstbewußtsein und Gemeinschaftsgefühl sei, während es bei übermäßiger B e f r i e digung oder bei nicht ausreichender Befriedigung den Ausgangspunkt neurotischer Entwicklung darstelle. M a n g e l an primärer B e friedigung sei somit eine Grundlage des Minderwertigkeitsgefühls. 1 9 0 9 / 1 0 formuliert Adler in einer ganzen R e i h e von Aufsätzen seine psychologische Theorie weiter aus, die er bereits in der » S t u d i e « begonnen hatte. Es ist die T h e o r i e des Minderwertigkeitsgefühls und seiner Kompensation, die Dynamik des Gefühls der Unterlegenheit und Überlegenheit, des Gefühls der weiblichen S c h w ä c h e und des männlichen Protests. In seinem Werk » Ü b e r neurotische Disposition« ( 1 9 0 9 a ) steht der B e g r i f f der Empfindlichkeit und Überempfindlichkeit, die in organischer Überempfindlichkeit gegründet sei, im Zentrum. Diese Empfindlichkeit sei Kennzeichen des Neurotikers, womit er sich an die gängige Nervositäts- und Neurastheniedebatte anschließt. Er umschreibt damit, was er dann Minderwertigkeitsgefühl nennt, sowohl das gesteigerte Anlehnungs- und Zärtlichkeitsbedürfnis als auch einen »andauernden Reizzustand«, das Kind fühle sich ständig herabgesetzt und vernachlässigt. Dagegen setze es sich zur Wehr, müsse es sich sichern, durch passives A u s w e i c h e n vor Verletzungen oder durch »aktives Umschlagen ins Gegenteil, in aggressives Vorbauen und Vorschauen« ( 1 9 0 9 a , S. 7 4 ) . D i e aggressiven Tendenzen rufen wieder heftige Konflikte hervor, sie stehen im Widerspruch zu Gefühlen der Zärtlichkeit und vertiefen,
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weil
»schuldig« geworden, die Verletzbarkeit und die Schuldgefühle. So pendelt das Kind zwischen den Extremen hin und her. Darin sieht Adler das »Schema der Neurose«, die Einheit der Neurose (1909a, S. 82f.). In den vier wichtigsten Arbeiten von 1910 (1910b, 1910c, 1910d, 191 Of) variiert er dieses Thema, gibt ihm neue Ausrichtungen und neue Begriffe. Zum einen sagt er nun, daß jedes Kind zwischen Kleinheitsgefühlen und Größenideen hin und her schwanke, zu einer »Doppelrolle« gezwungen sei, und sieht in dieser »Gegensätzlichkeit« ein »psychologisches Grundgesetz ... vom dialektischen Umschlag« (191 Of, S. 94). Er versteht also seine Darstellung auch als Beschreibung der normalen Entwicklung; zwischen normaler und neurotischer Entwicklung gibt es keine scharfe Trennung. Zum anderen führt er in die Beschreibung der gegensätzlichen Gefühle eine neue Sprache und Dimension ein: die Polarität männlich und weiblich. Er trägt dadurch, wie er meint, sowohl dem Klischee der Geschlechtsrollen als auch der kulturellen Höherbewertung des Männlichen Rechnung. Zugleich will er damit erklären, warum in der Neurose das sexuelle Problem im Zentrum steht. Das Kind fühle sich in seiner Kleinheit als weiblich entwertet, seine Gegenwehr bekomme nun den Charakter des »männlichen Protests«: »Ich will ein Mann sein«. Im »sexuellen Jargon« ist der männliche Protest in übertriebene männliche Sexualwünsche und -ängste verkleidet. Das Schwanken zwischen Kleinheits- und Größenideen, die Doppelrolle, nennt Adler daher nun »psychischer Hermaphroditismus«. Sein neu formuliertes Schema der Neurose heißt: A. weibliche Züge, B. hypertrophischer männlicher Protest, C. Kompromißbildung zwischen A. und B. (1910c, S. 90). Mit diesen Theorien verschärfen sich Ende des Jahres 1910 die Auseinandersetzungen im Freud-Kreis. 1911 kommt es zur offenen Konfronation und schließlich zum Bruch. Dazu aufgefordert, seine »Lehren« im Zusammenhang vorzutragen, faßt Adler in seinen Vorträgen 1911 (1911a, 1911 b) seine Position und seine Differenz zu Freud nun sehr grundsätzlich zusammen, spitzt sie zu und greift damit die Grundlagen der Psychoanalyse an. Er weist eine Psychologie zurück, die mit determinierenden Naturgrößen rechnet, zugunsten einer zielgerichteten Psyche. Das treibende Moment in der Neurose sei die »irritierte Psyche«, die »arbeiter.de und auf Zukünftiges bedachte Psyche« (191 lb, S. 103). Triebe 25
sind für ihn nicht selbständige Agenten, nicht Ursache der Dynamik, sondern immer schon deren Produkt, »bearbeitetes Material und Mittel des persönlichen Strebens« (191 la, S. 101) (und Produkt von gesellschaftlichen Bedingungen und Erziehung). Die Befriedigung der Triebe sei dann nicht mehr der Zweck, sondern Mittel für das Geltungsstreben (191 lb, S. 104). Daher sei auch Verdrängung nicht Ausgangspunkt der Dynamik, sondern wird nötig zur Erreichung eines bestimmten Ziels. Sie sei »Begleiterscheinung« »unter dem Zwang des männlichen Protests, unter dem Druck des Geltungsdranges und der Sicherungstendenz« (1911b, S. 109). Adler weist daher die zentrale Bedeutung der Sexualität für die psychische Entwicklung und die sexuelle Ätiologie der Neurose zurück und stellt die Auseinandersetzung mit der Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls und mit der kompensatorischen Macht (Macht erleiden oder anstreben), der die Sexualität untergeordnet ist, ins Zentrum. Die große Bedeutung der Sexualität in der Neurose, die gesteigerte Libido des Neurotikers, sei nicht »echt«, nicht »natürlich«. Als »sexueller Jargon« drücke sie die Furcht vor der unterlegenen weiblichen Rolle und die Entwertung der Frau aus. Diese Verschränkung von Macht und Sexualität finde sich auch im Ödipuskomplex: er sei »die bildliche, meist sexuell eingekleidete Darstellung männlichen Kraftbewußtseins der Überlegenheit über die Frau« (1912a, S. 103). Inzestphantasien beweisen dem Jungen, »daß er kein Weib ist« (1911h, S. 108), erheben ihn über die Mutter. Der Ödipuskomplex als Phänomen wird damit von Adler nicht abgestritten, aber er hat für ihn weder universellen Charakter, noch wird er vom Trieb her bestimmt, noch hat er die Bedeutung eines Einschnitts in die psychische Entwicklung, er sei ein »belangloses, im Zusammenhang allerdings lehrreiches, Stadium des männlichen Protests« (eine »symbolisch aufzufassende Situation«) (191 lb, S. 113).
Kulturhistorischer Kontext Lassen wir die psychologischen Stichworte der Adlerschen Theorie ab 1907 Revue passieren: Minderwertigkeitsgefühl, Überempfindlichkeit, Demütigung, Kompensation, Sicherung, Aggressionstrieb, männlicher Protest - so ist das eine Psychologie, die sich auf Gefühle von Ohnmacht und Schwäche und deren Überwindung
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im Machtwillen und Sicherheitsstreben stützt. Dies ist ein ebenso origineller wie geradezu selbstverständlicher Gedanke, in einer bürgerlichen Gesellschaft im Aufbruch, in der durch die Auflösung traditioneller Bindungen Sicherheiten zerfallen und das Gefühl von Unsicherheit und existentieller Bedrohung vorherrschend wird. Diese Einbettung genügt aber zur historischen Erklärung der Theorie noch nicht, es muß das historische Milieu als Kontext näher betrachtet werden. Konkreter Rahmen ist das Wien nach der Jahrhundertwende, vom Fin de siècle zur Moderne. Die gesellschaftliche Situation, in der Adler aufwuchs und seine Theorie entwickelte, war eine, in der bis dahin das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen in Stabilität und Fortschritt vorherrschte, zumindest in bürgerlichen Kreisen. Wien schien einerseits als Bürgerstadt und Residenzhauptstadt, als Stadt von Besitz und Bildung und als Stadt von Beamten Sicherheit und Aufstieg zu garantieren. Durch ökonomische Krisen, Klassenkämpfe, nationale Erhebungen und kriegerische Spannungen erlebte es andererseits Ende des 19. Jahrhunderts tiefe Einbrüche. Für kritische Zeitgenossen war dieses Wien zugleich aber das »potemkinsche Dorf« (Loos 1908), die »fröhliche Apokalypse« (Broch 1947/48) oder »die österreichische Versuchsstation des Weltuntergangs« (Kraus 1914). Denn bereits der Börsenkrach 1873, dem die Große Depression bis 1895 folgte, stellte den ersten Einbruch des Vertrauens in die Sicherheit der kapitalistischen Entwicklung dar. Die Wahl des christlich-sozialen Karl Lueger zum Wiener Bürgermeister (1895/97) bedeutete das Ende der liberalen Ära Wiens. Gegen den Kaiser, gegen Juden und Intellektuelle formierten sich auch die deutschnationalen (meist akademischen) Schönerer-Anhänger, im nationalen Maßstab kämpften die Ungarn und Tschechen für ihre Unabhängigkeit. Außenpolitisch rüstete der Kaiser und der Thronfolger nach der Jahrhundertwende auf. Die »Zeit des bewaffneten Friedens« war bereits die Vorkriegszeit. Rußland, die Türkei und Serbien galten seit 1908 als Hauptfeinde, gegen die sich Österreich mit dem Deutschen Reich verband. Für die Arbeiter bedeuteten die ökonomischen Krisen Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder den Zwang zur Auswanderung. Dies war aber auch der Antrieb zur Vereinheitlichung des Kampfes in der Gewerkschaft und der Sozialdemokratischen Partei (Gründung 1888/89). Erschüttert waren vor allem die (kaufmännischen) Kleinbürger, die ihre Ersparnisse verloren 27
hatten und sich bedroht fühlen mußten, ins Proletariat abzusinken. Sie gingen gegen ihr Gefühl der Demütigung und ihre Angst in autoritärer Weise an: Sie suchten einen Feind, gegen den sie ihren Haß wenden konnten - das waren die Juden und Intellektuellen - . und sie suchten Halt in einem christlich-sozialen Führer (Lueger), in der Kirche und Familie. Vor diesem Hintergrund stellten heftige Debatten innerhalb der Wissenschaft und provokante Neuerungen in der Kunst die bisher als sicher geglaubten Erkenntnisse und Überzeugungen in Frage. Elementaristen, Mechanisten und Positivisten lieferten sich mitTeleologisten, Vitalisten, Ganzheitlem und Lebensphilosophen heftigste Kämpfe. Darwin, Marx und Nietzsche - Namen, die auch für Adler von zentraler Bedeutung waren - wurden »weiterentwickelt, ausgedeutet, bekämpft und verteidigt. In der Kunst provozierte der Jugendstil die zu dieser Zeit noch tonangebenden »Gründerfürsten« und die Futuristen und Expressionisten wiederum die »Stilisten«. Adlers Zeit war also erfüllt von Kämpfen und Aufbruch, von Erniedrigungen und Aufstiegswünschen. Das dürfte der Boden gewesen sein, auf dem Adler einen Aggressionstrieb als Gnindtrieb postuliert hat und war die Grundlage für eine Psychologie, die den Kampf gegen Gefühle von Demütigung und Erniedrigung ins Zentrum stellte. Mit dem Blick des Mediziners, des Freudianischen Psychologen und des Sozialisten hat er wohl diese Situation so erlebt (vgl. Ellenberger 1973; Schorske 1981; Bruder-Bezzel 1983). In einem weiteren Sinn drückt aber Adlers Psychologie einen Zeitgeist, ein Lebensgefühl aus, wie er sowohl in psychologischpsychiatrischen Debatten und Aktionen als auch, seismographisch, im kulturell-künstlerischen Bereich sich nach der Jahrhundertwende breitgemacht hat. Ich meine das, was man als den Verfall des Kults der Neurasthenie bezeichnen könnte, was sich bei Adler bereits 1904 (»Der Arzt als Erzieher«) darstellt. Adler gibt selbst bei »Überempfindlichkeit« das Stichwort »Reizsamkeit« (1909a, S. 70) und verweist damit auf eine damals allseits bekannte Diskussion. Reizsamkeit, Empfindsamkeit, Impressionismus, die vormals noch als positive Zeichen galten, verstand man nun als klinische Kategorie von »Neurasthenie« und »Nervosität«, als Kulturkrankheit epidemischen Ausmaßes, als Inbegriff einer kranken Zeit. In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts war Reizsamkeit (in Kunst. Literatur, Philosophie) noch als 28
Bekenntnis zur Sensibilität, zur impressionistischen Psyche, zum »unrettbaren Ich« (Hermann Bahr), zur Dekadenz gefeiert. Nach der Jahrhundertwende verfiel dies der Kritik - parallel mit den ökonomischen Krisen und vorkriegszeitlichen Spannungen. Reizsamkeit galt als Nährboden der Neurasthenie, die es zu bekämpfen gälte und die auch als Feind der Kunst, der Literatur und Architektur galt. Verstärkt nach 1908 wird die Abkehr von der »ästhetischen Verliebtheit ins Neurasthenische« (Hamann u. Hermand 1967, S. 168) propagiert, es wird »die reine Form« gesucht, »Stil«, als eine für die Gesamtheit des Volkes verpflichtende Idee (S. 204). Die Architektur wird monumental und streng oder erhaben, geometrisiert (Alfred Messel, Otto Wagner, Joseph M. Olbrich). Im Drama tritt der Held auf, das Heroische, Starke, Männliche, Überindividuelle werden gefeiert. Der Held im Drama ist die willensstarke Person, nicht mehr Spielball seiner Triebe, nicht in der Tat gehemmt von Reflexion und Träumerei - so beim späteren Hugo von Hofmannsthal und Frank Wedekind. Adler geht noch von der Reizsamkeit aus, allerdings verbindet er, anders als die meisten Diskutanten - Nervenärzte, Historiker, Kulturkritiker - Reizsamkeit nicht allgemein mit dem Kulturleben und nicht wie Freud mit der unterdrückten Sexualität, sondern mit Demütigung und Erniedrigung. Ihn interessiert auch statt der Verfallenheit viel mehr die kompensatorische Dynamik, das SichWehren gegen das Unterlegenheitsgefühl. Das Aufstellen und Verfolgen von Zielen, das Wählen auch der Neurose statt deren Opfer zu sein. Die damit verbundene Unterbewertung der Rolle der Sexualität und deren Indienstnahme gehören in dieses Denken. Adler repräsentiert also die Wende zum »Stil«, seine Charakterschilderungen entbehren nicht der Züge von Tatmenschen. Nicht die Triebe, nicht sexuelles Begehren sind der Motor, sondern das Streben nach Stärke im Kampf gegen Schwachheit bestimmen nach ihm den Menschen und in besonderem M a ß den Neurotiker. Er zeichnet sie nach, aber er ist durchaus nicht frei von gewisser Sympathie mit diesen Starken und Mutigen. Und doch entlarvt er ihre Stärke als Pose, als bloße Kompensationsbestrebung und bekämpft deren (neurotischen) Männlichkeitsmythos in ihrem männlichen Protest, in ihrem »sexuellen Jargon«. In einem weiteren und konkreteren Sinn muß man als Hintergrund seines Denkens, vor allem das über die Dynamik von Min-
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derwertigkeitsgefühl und Kompensation, den Diskurs über die Situation der Arbeiter, der Frauen und der Kinder einbeziehen. Die Lage der Arbeiter hatte sich als Minderwertigkeitsposition, als »soziale Frage« und durch die Formierung der Arbeiterbewegung, die als Musterbeispiel für die emanzipatorische Kompensation gelten konnte (Adler 1909d), förmlich aufgedrängt. Die untergeordnete, minderwertige Stellung der Frau und die Frauenbewegung der 80er und 90er Jahre waren ein weiteres Beispiel dafür, wie sich eine Minderwertigkeitsposition in Kompensation umsetzen konnte. Zugleich hatte der verstärkte Kampf gegen die Frau(enbewegung) als kompensatorischer Abwehrkampf verstanden werden können, in dem die Männer aus Angst vor Verlust ihrer Privilegien und vor Erniedrigung zum »Weib« ihre Bedeutung und Überlegenheit in der Pose der Männlichkeit betonen. Diese Überlegungen zu den Geschlechtern gingen bei Adler unmittelbar in die Theorie des männlichen Protests ein. Schließlich war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Kind entdeckt worden. Die psychologische und gesellschaftliche Stellung des Kindes gehörte zu einem der großen Themen der Zeit, das in der Gesetzgebung, Psychologie, Pädagogik und Psychiatrie verhandelt wurde und dort zu bedeutenden Veränderungen und wissenschaftlichen Entwicklungen führte. In der Mitte des 19. Jahrhunderts bereits hatte der Kampf gegen Kinderarbeit in der Industrie zu ersten gesetzgeberischen Einschränkungen geführt, bis Kinderarbeit unter 14 Jahren 1903 schließlich generell verboten wurde. Parallel zur Beschränkung der Kinderarbeit wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Allerdings kam sie erst spät, 1918. zum Abschluß. In der Wissenschaft wirkte die Entwicklungstheorie von Darwin als revolutionärer Impuls auf die Herausbildung einer Entwicklungspsychologie, auf die Neuorientierung pädagogisch orientierter Psychologie und vor allem auf die Verbreitung pädagogischer Reformideen. In den 80er Jahren erschien international eine Reihe von Tagebüchern über die Entwicklung von Kindern, die die Grundlage für eine Entwicklungspsychologie ergaben. 5 5 Pionier war Wilhelm Preyer 1882, es folgten u. a. M. Shinn 1883, J. Scully 1895, W. und C. Stern 1907, E. Scupin 1907. Auch die Bücher von Karl G r o o s über Spiele der Tiere und der Menschen (1896. 1899) gehörten zu
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Es entstand eine Reformpädagogik, die sich des Kindes als unterdrücktem Wesen, als Objekt der Laune, Gewalt und Begierden der Erwachsenen annahm und deshalb gegen Kinderarbeit, Prügelstrafe und Drill in der Schule kämpfte. Dafür steht das emphatische Buch von Ellen Key, »Das Jahrhundert des Kindes« (1900 schwedisch, 1902 deutsch). Und schließlich war im Umkreis psychiatrischer Forschung und im Umkreis von Freud die Erforschung der Kindheit für die ätiologische Frage neurotischer Erkrankungen von Interesse. Man suchte nach traumatischen Erlebnissen und richtete das Augenmerk auf die kindliche Sexualität, auf Onanie und auf sexuelle Phantasien oder auf die sexuelle Verführung durch Erwachsene.
den Wegbereitern der Entwicklungspsychologie, die allgemein, auch Adler, bekannt waren (vgl. Montada 1982, Graf-Nold 1988).
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II. Auseinandersetzung mit Freud und der Bruch
Adler hatte neben Max Kahane, Rudolf Reitler und Wilhelm Stekel zu den Mitbegründern der Freudschen »Mittwochsgesellschaft« gehört und blieb in ihr 9 Jahre (1902-1911). Aus den »Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung« ab 1906 geht hervor, daß er zu den aktivsten und wichtigsten Diskutantcn in diesem Kreis zählte und daß nicht nur Adler von Freud beeinflußt, sondern auch umgekehrt Freud durch Adler angeregt wurde. Zu Recht meint Elrod »daß Adler und Freud sehr produktiv miteinander diskutieren konnten«, daß Freud Adler immer wieder Lob spendete und daß Adler durchaus keine »schwerwiegenden Anzeichen von Rivalität gegenüber Freud zeigte« (1987, S. 315f ). Adler hat zweifellos in diesem Kreis tiefenpsychologisches Denken kennengelernt - das entwicklungspsychologische Denken, das Unbewußte, den Umgang mit Träumen und die Grundlagen therapeutischen Handelns als Gespräch unter Einbeziehung von Widerstand und Übertragung (z. B. 191 ld). Aber gleichwohl hat er eigenständige Ansätze entwickelt, die Freud solange tolerierte, wie dieser nicht die Grundlagen der Psychoanalyse in Frage gestellt sah. Als dies nicht mehr möglich schien, forcierte Freud den Bruch. Die Geschichte dieser Kontroverse anhand der »Protokolle« und anhand einer Reihe von Zeitzeugen hat Handlbauer' (1990) ausführlich nachgezeichnet - deswegen sollen hier nur die Marksteine genannt werden. Adlers Verhältnis zur damaligen Psychoanalyse 1 H a n d l b a u e r hat dabei eine deutliche Schlagseite, die Freudsche bzw. psychoanalytische Version zu reproduzieren.
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und die Reaktion auf ihn lassen sich, sehr grob, an ein paar Schlüsselstellungen skizzieren (s. auch Kap. I). 1904/05 bringt Adler ein paar kleine Beiträge (1904b, 1905a, 1905b) zu Fehlleistungen, Träumen und kindlicher Sexualität und Sexualpädagogik, die im Grunde eine unselbständige Übernahme von Freud darstellen und weder für Adlers spätere Theorie noch als Beitrag zur Psychoanalyse bedeutend sind. 1906/07 steht seine Theorie der Organminderwertigkeit und Kompensation ziemlich fern vom psychoanalytischen Denken, auch wenn Adler dies als Beitrag zur Psychoanalyse insofern sehen möchte, als er versucht, damit eine Neurosentheorie auf somatischer Basis zu entwickeln. In diesem Sinn wird er von Freud auch mit lobenden Worten anerkannt (s. Protokolle Bd. 1, S. 135; Freud 1914, S. 94). In eine wirkliche, produktive Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse tritt Adler erst ab 1908 mit seinem »Aggressionstrieb«. Denn auch danach, an den Punkten, wo er sich dann gegen Freud entscheidet, geschieht dies immer im Ringen darum, seine eigenen Ideen mit denen der Psychoanalyse kompatibel zu gestalten oder aber als Gegenrede gegen Freud zu verstehen. Es kam zu ständigen Konfrontationen, die auf den Bruch zuliefen. Die entscheidenden Vorträge dafür sind: »Sadismus in Leben und Neurose« am 27.4.1908 in Salzburg, Diskussion am 3.6.1908 (1908b, 1908h), »Über die Einheit der Neurosen« am 2.6. 1909 (1909a, 1909e), »Psychischer Hermaphroditismus« am 23.2.1910 und auf dem Nürnberger Kongreß am 30./31.3.1910 (1910c, 1910n). Die Vorträge, zu denen dann Adler aufgefordert wird und die den Bruch in Szene setzen, sind am 4.1. und am 1.2.1911 (1911a, 1911b). Mit seinem Vortrag zum Aggressionstrieb beginnt die Auseinandersetzung, obgleich Adler hier der Psychoanalyse so nahe wie sonst kaum steht und er sich selbst als auf dem »Mutterboden« der Freudschen Psychologie stehend fühlt (1908h, S. 385) - und zwar deswegen, weil er gänzlich triebpsychologisch denkt. Seine Überlegungen zur Triebtheorie und den Triebschicksalen stellen eine Erweiterung, Ergänzung und Systematisierung der psychoanalytischen Triebtheorie und Neurosentheorie dar, wie sie in diesem Kreis neu sind und erst später von Freud weiterentwickelt werden. Durch die Aufregung, die der »Aggressionstrieb« in der Mitt-
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Wochsgesellschaft hervorgerufen hatte, wird dieser Beitrag aber in seiner Bedeutung nicht wirklich gewürdigt, und nach dem Ärger über Adlers Dissidenz entfiel logischerweise eine ebensolche Anerkennung. 1909 aber übernimmt Freud, mit Hinweis auf Adler, den Begriff »Triebverschränkung« (1909, S. 341) und 1915 - nun ohne Hinweis auf Adler - die Adlerschen Formen der Triebhemmungen (oder Triebverwandlungen) als »Triebschicksale«(1915. S. 215f.). Diese werden 1936 von Anna Freud als »Abwehrmechanismen« systematisch zusammengefaßt. Aber Adlers Annahme eines Aggressionstriebs als eines zweiten übergeordneten Triebs neben dem Sexualtrieb wurde dagegen geradezu als Provokation empfunden. Adler rief dann immer wieder neu und zunehmend deutlicher den geharnischten Widerspruch Freuds und seines Kreises hervor. In der Diskussion 1908 versucht Freud noch, die Bedeutung von Adlers Neuerung herunterzuspielen: »was Adler den Aggressionstrieb heiße, das sei unsere Libido« (Protokolle Bd. 1, S. 383), während Paul Fedem Adler hier schon vorwirft, die »ursprüngliche Bedeutung der sexuellen Triebe aufzugeben« (S. 384). Diesen Vorwurf macht ihm Freud 1909, in der dramatischen Sitzung, in der Adler seinen Vortrag zur »Einheit der Neurosen« hielt: Adler habe »fast wie absichtlich das Sexuelle eliminiert« (Protokolle Bd. 2, S. 240). Freud wehrt sich dagegen »einen besonderen Aggressionstrieb neben und gleichberechtigt mit den uns vertrauten Selbsterhaltungs- und Sexualtrieben« anzunehmen, da das »Triebhafte, Drängende« vielmehr einen »allgemeinen und unerläßlichen Charakter aller Triebe« beschreibe (Freud 1909, S. 371). In dieser Sitzung im Jahr 1909, die von Handlbauer als Schlüsselsitzung gesehen wird, widerspricht Freud Adler in jedem Punkt. Er wendet sich gegen den Aggressionstrieb, gegen die »Überempfindlichkeit« als Merkmal der Neurose, gegen das somatische Entgegenkommen bei der Neurosenwahl, gegen die »Einheit der Neurosen«. Freud bringt hier alle Argumente gegen Adler, die dann später immer wieder wiederholt werden: Adler habe das Sexuelle eliminiert, betreibe Bewußtseinspsychologie und Ich-Psychologie. Die Lehre habe »einen reaktionären und retrograden Charakter und gibt damit eine höhere Anzahl von Lustprämien. Sie gibt statt Psychologie zum großen Teil Biologie, und statt Psychologie des Unbewußten gibt sie Oberflächen-Ichpsychologie. Endlich gibt sie anstatt Psychologie der Libido, der Sexualität, allge34
meine Psychologie« (Protokolle Bd. 3, S. 145). Der Wert von Adlers Arbeit sei »scharf gesehene Ich-Psychologie« (S. 146), die der Psychoanalyse Neues gebracht habe (1914, S. 96; 106). Aber »Adler sieht die Dinge vom Standpunkt des Ich und beschreibt und erklärt sie so, wie das Ich tut« (Protokolle, Bd. 3, S. 168). »Es ist die Verleugnung des Unbewußten, deren sich das Ich schuldig macht und die hier theoretisch festgelegt wird« (S. 147). Die letzte »Vorstufe zum dramatischen Ende der Zusammenarbeit« (Holtz 1981, S. 27) stellte dann Adlers »psychischer Hermaphroditismus« und damit die Einführung des männlichen Protests dar. Der Vortrag stieß auf Ablehnung, vielleicht auch, wie Handlbauer sagt, auf Ratlosigkeit (1990, S. 105). Die Bedeutung von männlich und weiblich, der Begriff des männlichen Protests und die Bedeutung des »psychischen Hermaphroditismus« - »unsere alte Bisexualität«, wie Freud sagte - blieben unklar und unverständlich. Dann kam es, auf Aufforderung von Freud hin, zu den entscheidenden Vorträgen am 4.1. und 1.2.1911, in der Adler seine Theorie darlegen sollte. Die Initiative zum Bruch mit Adler liegt somit und auch vom bisherigen Verlauf her - eindeutig bei Freud, so auch Handlbauer (1990, S. 174), aber Adlers Vorträge gerieten zu einer prinzipiellen und schonungslosen Kritik an Freud. Trotzdem hatte Adler den Bruch nicht gewollt, so daß sich sein endgültiger Auszug, zusammen mit sechs anderen Mitgliedern, bis Oktober des Jahres 1911 hinzog. Adler war mit Stekel aus der Redaktion des »Zentralblattes für Psychoanalyse« ausgeschieden, es kam unter Führung von Carl Furtmüller 2 zu verschiedenen Debatten und zu einem Protestschreiben (20.6.1911) gegen die »Machtkämpfe« in der Vereinigung (Furtmüller 1983, S. 300f.; Bruder-Bezzel 1983; Handlbauer 1990). Noch vor dem endgültigen Auszug, in den Ferien, hat Adler am 4.8.1911 einen eigenen Verein gegründet. An der Namensgebung dieses Adlerschen Vereins, »Verein für freie psy2 Car! Furtmüller ( 1 8 8 0 - 1 9 5 ! ) , Dr. phil., Gymansiallehrer, durch A d l e r s Vermittlung ab 1909 in der Mittwochsgesellschaft, fortan Adlers wichtigster Mitarbeiter und Vermittler zur sozialdemokratischen
Schulbehörde.
F u r t n ü l l e r war im Roten Wien in der Schulreform im Ministerium und als Stacischulrat führend. 1934 seines A m t e s enthoben, 1939 Emigration in USA. 1947 R ü c k k e h r (vgl. Furtmüller 1983; Mühlleitner 1992; H a n d l bauer 1997).
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choanalytische Forschung« spiegelt sich die Bindung an die Psychoanalyse und die zugleich empfundene Enge wider. Es wurden immer wieder Gründe für diesen Bruch genannt, so die unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen, die unterschiedliche Herkunft der Patienten, der Zustand der Mittwochsgesellschaft nach deren Institutionalisierung als Internationale Vereinigung. Adlers Bekenntnis zum Sozialismus oder eben rein inhaltliche Unterschiede (Handlbauer 1990, S. 161 ff.)- Diese Gründe liegen auf verschiedenen Ebenen und schließen einander nicht aus; die inhaltlichen Differenzen könnten aus den anderen Gründen ihre Bedeutung (mit)bekommen haben - allerdings ist das »Sozialismus«-Argument sicher das am wenigsten überzeugende. 3 Letzlich entscheidend ist doch die inhaltliche Differenz, und zwar nicht allein die angebliche Leugnung Adlers der Sexualität (wie Handlbauer meint), sondern grundlegender Adlers Ablehnung des Triebkonzepts und der damit verbundenen unterschiedlichen Haltung zu Fragen des Unbewußten, der Verdrängung und der Psychodynamik.
3 Adler hat verschiedentlich seinen sozialistischen Standpunkt eingebracht und wurde deshalb von Wittels angegriffen (vgl. Protokolle Bd. 1, S. 332). Aber das war nicht Konsens des Kreises. Adlers Vortrag »Psychologie des Marxismus« (10.3.1909, 1909d) war auf wohlwollende Interesselosigkeit gestoßen (vgl. Bruder-Bezzel 1983).
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III. Aufbau der individualpsychologischen Schule und ihre Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg Chronologie 1911-1918
Die Jahre 1911/12-14 waren für Adler und seine Anhänger die Zeit des Aufbaus der individualpsychologischen Schule. Neben den sechs Gründungsmitgliedern Carl Furtmüller, Margarete Hilferding, Franz und Gustav Grüner, Paul Klemperer und D. E. Oppenheim kamen zum Adlerschen Verein bald noch neue Mitglieder hinzu, und zwar Alexander Neuer, Stefan Maday, Leonhard Deutsch, Paul Schrecker, Erwin Wexberg und Robert Freschl. Diese zusammen gelten als die Mitglieder der ersten Stunde. Der Verein wurde als »Verein für freie psychoanalytische Forschung« im August 1911 gemeldet, im Oktober 1912 wurde der Vorstand gewählt. Am 27.9.1913 wurde der Verein auf einer Generalversammlung in »Verein für Individualpsychologie« umbenannt. Man wollte nicht mehr länger als Abspaltung der Psychoanalyse erscheinen, und mit »Individualpsychologie« sollte auf die Unteilbarkeit des Individuums hingewiesen werden. Die Zahl der Mitglieder ist wohl ziemlich rasch gewachsen. Auf einer Generalversammlung am 30.1.1913 werden 27 ordentliche Mitglieder genannt, 1913/14 wird von 68 ordentlichen Mitgliedern gesprochen (vgl. Handlbauer 1983, S. 81f.). Der Verein tagte wöchentlich donnerstags, zunächst in Adlers Wohnung, Dominikanerbastei 10, dann im Histologischen Hörsaal, aber man traf sich auch im im Café Central, jenem Café, in dem sich die Wiener literarische, künsterische Boheme und die politische (sozialdemokratische) Intelligenz trafen. Es gibt für diese Zeit nur wenige und unvollständige Sitzungsberichte, solche von Adlers Frau Raissa für die russische »Zeit37
schrift für Psychotherapie« für September 1912 bis Januar 1913 (vgl. Kretschmer 1982) und Sitzungsberichte in der »Zeitschrift für Individualpsychologie« (1913/14). Aus ihnen und aus den Publikationen dieser Zeit ist zu ersehen, wie breit das Spektrum der Diskussionsthemen war: von der allgemeinen Psychologie und Neurosentheorie zur Kulturpsychologie und Ästhetik vor allem moderner Literatur und Musik. 1 In die Zeit zwischen 1912-14 fällt eine Reihe von Veröffentlichungen Adlers und seiner Anhänger, die wichtigste ist Adlers Buch »Über den nervösen Charakter« (1912a), dann Vorträge und Aufsätze Adlers in verschiedenen Zeitschriften. Im Juli 1912 reichte er das Buch, zusammen mit seinen anderen Veröffentlichungen, bei der Medizinischen Fakultät ein, um die Venia legendi zu erhalten. Der Versuch ist fehlgeschlagen. 1915 befand der Gutachter, der prominente Psychiater und Freud-Gegner Wagner von Jauregg, daß Adler der Methode Freuds treu geblieben sei, und diese sei Spekulation und Intuition. Adlers Werke seien zwar geistreich, »aber es ist für einen Naturforscher gefährlich, wenn er nur geistreich ist« (vgl. Ellenberger 1973, S. 786f.). Diese Ablehnung - und die Ineinssetzung mit Freud - hat Adler zutiefst verbittert. Noch 1922 äußert er sich im Vorwort des »Nervösen Charakters« entsprechend. 2 Ab 1912 erscheint (im Ernst Reinhardt Verlag) eine Reihe von »Schriften des Vereins für freie psychoanalytische Forschung« (ab 1914 als »Schriften des Vereins für Individualpsychologie«) mit psychopathologischen, philosophischen und literarischen Themen. 3 1 Höfele (1986) hat die literaturpsychologische Tradition im einzelnen nachgezeichnet, zur Musik schreibt Linke (1983). 2 Professor zu werden gehörte offenbar zu Adlers Jugendträumen, die er den Eltern zuliebe zunächst aufgegeben hatte, um »in die Praxis« zu gehen. In einem Brief an seine spätere Frau Raissa (22.9.1897) spricht er davon und läßt sich ein bißchen auf diese »alte(n) längst begrabene(n) Träume« ein, um sie dann wieder wegzuschieben: »Taucht unter, ihr Gedanken«. - Adlers Briefe befinden sich im Archiv Washington. Es sind relativ w e n i g e und fast ausschließlich persönliche Briefe an die Familie. Sie sind bisher noch nicht systematisch gesichtet und ausgewertet. 3 1912: Carl Furtmüller: Psychoanalyse und Ethik; Otto Kaus: Der Fall Gogol; Paul Schrecker: Henri Bergsons Philosophie der Persönlichkeit; 1913: Felix Asnaourow: Sadismus und Masochismus in Kultur und Erziehung
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1914 erscheint ein Sammelband »Heilen und Bilden«, herausgegeben von Furtmüller und Adler im Ernst Reinhardt Verlag. Der Band versteht sich als Selbstdarstellung und Lehrbuch und umfaßt mit 400 Seiten die meisten der älteren, nun bereits aber veränderten, Aufsätze Adlers von 1904-1913 sowie Aufsätze einer ganzen Reihe von anderen Autoren. Der Schwerpunkt jener Aufsätze, die nicht von Adler stammen, ist eindeutig pädagogisch, was programmatische Bedeutung hat. »Heilen und Bilden« ist zu Adlers Lebzeiten noch zweimal aufgelegt worden, 1922 und 1928, jeweils in veränderter Form. Das betrifft sowohl die älteren Aufsätze Adlers, als auch die Zusammensetzung der Sammlung insgesamt. Im April 1914 erscheint das erste Heft der neuen »Zeitschrift für Individualpsychologie« (ab 1923 »Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie«, im folgenden IZI), herausgegeben von Adler, Schriftleitung Carl Furtmüller, wieder im Ernst Reinhardt Verlag. Ihr Erscheinen bricht vorläufig mit Beginn des Krieges mit Heft 4/5 (Juli/August 1914) ab. Diese Hefte umfassen zusammen 144 Seiten. Allerdings kamen während des Krieges 1916 noch einmal 4 Hefte zustande, über die Schweiz vermittelt und von Schweizer Autoren getragen. Die Themen sind wieder breit gefächert. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs kamen die Vereinstätigkeiten und die Publikationen im wesentlichen zum Erliegen. Die meisten Mitglieder waren in den Krieg eingezogen, Adler selbst mußte 1916 als Militärarzt an die Front. Er wurde allerdings später nach Wien zurückversetzt, so daß das Gruppenleben in reduzierter Form wieder aufgenommen werden konnte. Von Adler erscheinen nach Kriegsbeginn 1914/16 vier Aufsätze, die sich vorwiegend mit Kinderpsychologie beschäftigen, wobei die Verbindung Indviduum und Gesellschaft und die Beziehung des Nervösen zu seiner sozialen Umgebung betont in den Vordergrund rücken. 1917 erscheint seine Schrift über Homosexualität (1917b) und zu Ende des Krieges ein Beitrag zur »Kriegsneurose« sowie Stellungnahmen zum Krieg und zum Bolschewismus (1918e, 1918f, 1918g, 1919a).
1914: Vera Str&sser-Eppelbaum: Zur Psychologie des Alkoholismus; Hedwig Schulhof: Individualpsychologie und Frauenfrage 1917: Alfred Adler: D a s Problem der Homosexualität.
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Der Verein blieb vorerst auf Wien begrenzt. A.ierdings gab es frühzeitig einzelne ausländische Kontakte, die auf vorherige persönliche Beziehungen zurückgingen, so zur Schweiz über das Ehepaar Strasser, zu Ungarn über Stefan Maday, zu Rußland über Wyrubow und Birstein. Die Beziehung zum Züricher Psychiater-Ehepaar Charlot Strasser (1884-1950) und Vera Strasser-Eppelbaum (1885-1941) scheint auf eine alte Bekanntschaft der beiden Frauen Raissa (Adler) und Vera zurückzugehen, da sie beide aus Rußland stammten und sich offenbar aus ihrer Züricher Studienzeit kannten. Stefan Maday war mit Adler aus dem psychoanalytischen Verein ausgetreten und gehörte von Beginn an zur Individualpsychologie. Maday hielt 1913 einen Vortrag im Wiener individualpsychologischen Verein. Zur wirklichen Verbreitung und Organisierung der Individualpsychologie in Ungarn kam es aber erst nach dem Ersten Weltkrieg (vgl. Kiss 1988). Die Verbindung zu Rußland war vermutlich nicht ohne die Vermittlung von Raissa Adler zustande gekommen. Adlers N a m e war in der »Zeitschrift für Psychotherapie« seit 1910 bekannt und fand dort zunehmende Beachtung. Seine Arbeiten wurden laufend rezensiert, die Aktivitäten des Vereins über die Sitzungsberichte aufmerksam verfolgt. Ab 1912 wurden insgesamt 7 Aufsätze von Adler in übersetzter Form abgedruckt, seit 1913 war Adler Mitglied des Redaktionskollegiums dieser Zeitschrift (vgl. Leibiin 1988). Der Züricher Kontakt zum Ehepaar Strasser erwies sich als der engste und fruchtbarste. Die Strassers schrieben in der IZI und in der Aufsatzsammlung »Heilen und Bilden«, und sie organisierten die Kriegsnummer der IZI. Adler konnte in Zürich vor dem Krieg und am Ende des Krieges Vorträge halten, so 1912 im »Verein für medizinische Psychologie und Psychotherapie« (1912h) oder 1918 im Züricher Lesezirkel Hottingen (Schiferer 1995, S. 101) über »Dostojewski und Tschaikowski« (1918c). Seine Schriften wurden in der Schweiz rezensiert. Er wurde durch Strasser - der nebenher auch Schriftsteller war - im Kreis der Emigranten- und Literaturszene bekannt gemacht, wo er bei den expressionistischen Schriftstellern (Ludwig Rubiner, Albert Ehrenstein, Eduard Korrodi) sehr positiv aufgenommen wurde. Rubiner schreibt beispielsweise 1916, Adler stehe in den »Reihen unserer neuen Welt des Geistigen« (IZI 1916, S. 238) und meint damit Berührungspunkte in der
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pazifistischen Grundhaltung, der Verkündigung einer neuen Ethik, der Übernahme von Verantwortung, dem Antideterminismus und dem (expressionistischen) Gemeinschaftsbegriff. Durch Strasser bekam Adler Zugang zur »Internationalen Rundschau«, in der er eine kritische Bemerkung zum Krieg (1918g) und seinen Aufsatz zum Bolschewismus (1918e) veröffentlichte (vgl. Heinrich 1986). Nach 1918 wurde der Kontakt zu Strassers nicht mehr aufrechterhalten, und Veras Aufsatz in »Heilen und Bilden« erschien in der Neuauflage von 1922 nicht mehr. Vera Strasser hatte 1921 das Buch »Psychologie der Zusammenhänge und Beziehungen« veröffentlicht, in dem sie sich fast aggressiv von Adler lossagte.
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IV. »Nervöser Charakter« (1912)
Das bereits Anfang des Jahres 1912 erschienene Buch »Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie« wurde Adlers umfangreichstes und grundlegendstes Buch, sein programmatisches Hauptwerk. Als solches hat er es wohl auch selbst verstanden. In die vier Auflagen (1912, 1919, 1922, 1928)', die es zu seinen Lebzeiten im deutschsprachigem Raum erfahren hat (in Amerika ist es 1917 erschienen), hat Adler Veränderungen eingearbeitet, die seinem jeweiligen neuesten Erkenntnis- und Erfahrungsstand entsprochen haben. Das Buch gliedert sich in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Im letzteren Teil kommen verstärkt einzelne Charakterzüge anhand von Fallbeispielen zur Darstellung. Doch ist diese Beschreibung ebenso von theoretischen Erläuterungen durchsetzt. Unmittelbar nach seiner Trennung von Freud erschienen, dokumentiert das Werk sowohl den Abschluß einer Entwicklung, die Adler mit und gegen Freud gegangen war, als auch den Beginn einer neuen Ära, den Beginn der Individualpsychologie als eigener Schu1 Die Reprint-Ausgabe (Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 1972) entspricht der 4. Auflage von 1928. 1997 erschien eine neue, kommentierte textkritische Ausgabe, hg. von K. H. Witte, A. Bruder-Bezzel u. R. Kühn (Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht). Der fortlaufende Text der Originalfassung von 1912 wird von einem Variantenapparat begleitet, der alle Veränderungen in den vier Auflagen erfaßt. Im zweiten Teil werden diese Texte durch Kommentare ergänzt. Es sind biographische oder sachliche Erläuterungen zu den zahlreichen von Adler genannten oder zitierten Autoren und zu einzelnen Fachbegriffen.
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le. Es faßt seine bisherigen Überlegungen zusammen, stellt sie in seinen wissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Kontext und setzt zugleich auch neue Akzente. Grundsätzliche und metatheoretische Erwägungen wie über Finalität, Einheit, Fiktion, Mittel und Zweck der Charakterzüge (s. Kap. XVI) treten in diesem Buch stark hervor (vgl. im folgenden Bruder-Bezzel, Kühn, Witte 1997). Der eher äußere Anlaß für dieses Buch - das sicher schon länger vorbereitet gewesen sein muß - war seine Absicht, damit zu habilitieren, was auch den umfänglichen wissenschaftlichen Rückgriff erklärt. Angesichts seiner Kontroversen mit Freud aber ist es der Versuch, seine abweichende Position im Zusammenhang für sich zu reflektieren, nach der Trennung dann, diese einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Damit bekommt das Buch auch die Bedeutung, eine Charakterlehre zu begründen und den Aufbau einer psychologischen Schule zu beginnen. Alle drei Gründe geben d e m »Nervösen Charakter« eine programmatische Bedeutung (wie sie in den jeweiligen Vorworten und in der Einleitung sehr deutlich wird), und sie erklären zugleich, daß Adler sich so viel R a u m nimmt für die Darstellung seiner Gedanken sowie seiner Fallbeispiele und diese mit reichlichen metatheoretischen Überlegungen und Verweisen begründet. Programmatisch formuliert er seinen Ausgangspunkt im Vorwort der 1. Auflage von 1912: »Bauen sich die mannigfachen Fähigkeiten und Regungen des Organismus zu einer planvoll gerichteten, einheitlichen Persönlichkeit aus, dann können wir jede einzelne Lebenserscheinung derart erfassen, als ob in ihr Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft samt einer übergeordneten, leitenden Idee in Spuren vorhanden wären.« »Die vergleichende Individualpsychologie erblickt in jedem psychischen Geschehen den Abdruck, sozusagen ein Symbol des einheitlich gerichteten Lebensplanes«, steht »unter der Leitung einer fiktiven Persönlichkeitsidee (1912a, S. 35f.). Alle Begriffe, die so wesentlich für die frühe Individualpsychologie werden, sind hier auf einer Seite versammelt: Lebensplan, einheitliche Persönlichkeit, Fiktion, vergleichende Individualpsychologie. Dieses Programm ist gegenüber Adlers Gedanken bis 1910/11 nicht eigentlich neu - weder die Einheit noch das Ziel, selbst der Fiktionsbegriff war bereits 1910/11 (1910f), wenn auch nur gelegentlich, aufgetaucht - aber es bekommt nun tragende Be-
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deutung. Neu ist, daß die »zielgerichtete Einheit« mit dem Begriff »Individuum« im Sinne von Virchow belegt wird und daß dieser Begriff der Adlerschen Schule ihren Namen (Individual) gibt. Neu ist, daß der Fiktionsbegriff - den er bereits von Nietzsche gekannt hatte, nun vom Philosophen Vaihinger übernimmt und der in Begriffen wie »Meinung«, »Annahme«, »Arrangement« angelegt war - nun zum Zentralbegriff avanciert. Es sei »Hauptaufgabe dieser Schrift«, die Erkenntnis der Fiktion zu fördern (1912a, S. 83). Aus der »Persönlichkeitsidee«, dem »Lebensplan« oder der »leitenden Idee« wird später die »Leitlinie« oder der »Lebensstil«. Der Gedanke der »vergleichenden Psychologie« tritt später in den Hintergrund, was auch einer »Charakterlehre« entspricht, in der die »Vergangenheit« gegenüber der »Gegenwart und Zukunft« an Bedeutung verliert. »Einheit« wurde erst hier so klar ausgedrückt, was 1911 als »Psyche« mehr eine lenkende und modifizierende als eine einheitsstiftende Kraft war. Die Einheit der Persönlichkeit ist nicht von vornherein gegeben, sondern wird durch den Lebensplan, den fiktiven Endzweck, hergestellt. Adler will mit dem »Nervösen Charakter« eine Charakterlehre (»als Teil der Neurosenpsychologie«) schaffen: »Charakter« als Schablone, Schema, Richtlinie, Kunstgriff verstanden, als das Ergebnis der zielgerichteten Einheit, die für ihn »nur im Zusammenhang mit dem ganzen seelischen Leben zu erfassen« ist (S. 45). Er bewegt sich damit auf eine Ich-Psychologie zu, was nicht nur eine Abgrenzung von Freuds damaliger Neurosenpsychologie zeigt, sondern auch eine Hinwendung zur »Menschenkenntnis« der normalen Persönlichkeit - und damit eine Hinwendung sowohl auf das Interesse eines breiteren Publikums als auch auf die zeitgenössisch verbreitete, lebensphilosophisch orientierte akademische Psychologie (»Charakterkunde«) bedeutet. 2 »Nervös« und »neurotisch« werden bei Adler begrifflich nicht scharf voneinander getrennt, doch hat der Populärausdruck »nervös« eher den Bezug zur Psychologie des Normalen als »neuro2 Innerhalb der P s y c h o a n a l y s e w u r d e erst von Wilhelm Reich eine solche Charakterlehre in den 20er Jahren gefordert und entwickelt. Reich: »Der triebhafte Charakter« (1925), » Ü b e r Charakteranalyse« (1928) (vgl. Fallend 1988).
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tisch«. »Nervös« meint hier auch »neurotische Disposition«, die sich nur unter bestimmten Umständen zur Neurose auswächst. Dabei gibt es für Adler fließende Übergänge: »Es finden sich bei den Nervösen keine vollkommen neuen Charakterziige, kein einziger Zug, der nicht auch beim Normalen nachzuweisen wäre. Aber der neurotische Charakter ist auffallend und weiterreichend« (S. 52). Der Charakter eines Menschen ist für ihn eine Einheit, aber zugleich ein vielverzweigtes Netz von Leitlinien und Fiktionen, von Haupt- und Nebenlinien, von Arrangements und Schachzügen, von Vors und Zurücks. So werden einzelne Verhaltensweisen und Charakterzüge in immer neuen Zusammenhängen, mit neuen Aspekten gesehen, die immer wieder überraschend sind. Für Adler kann man sich dem Charakter nur verstehend nähern. So schreibt er in den Auflagen nach 1919: »Die menschliche Seele kann nur ein Querkopf ganz in ein wissenschaftliches Lehrgebäude einfangen wollen. Vollends Individualpsychologie ist eine künstlerische Leistung« (1912a, Erg. 1922, S. 369). 1912 ist die Zeit, in der Adler an Freud noch gebunden - sein eigener Verein hieß noch »Verein für freie psychoanalytische Forschung« - und zugleich von ihm getrennt war. So sind im Originaltext die Einflüsse und Abgrenzungen von Freud am unmittelbarsten sichtbar und nachvollziehbar. 1914 war der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Die Vereins- und Publikationstätigkeit der Individualpsychologie war empfindlich gestört, die 1914 neu gegründete Zeitschrift kam zum Erliegen. Adler veröffentlichte nur wenige Arbeiten (u. a. zur Homosexualität 1917, zur Kriegsneurose 1918, politische Schriften 1918/19). Die 2. Auflage erscheint unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (1919), in einer Zeit, in der sich die Adlersche Schule neu organisieren und durch die veränderten politischen Verhältnisse anderen Aufgaben zuwenden mußte. Hier finden sich die meisten und entscheidenden Änderungen; er führt das Gemeinschaftsgefühl ein und stellt damit seine Theorie auf eine neue Grundlage. Mit dem Ende des Krieges, der einerseits Not und Elend hinterließ, andererseits einen auch für Adler hoffnungsvollen Neubeginn in der Republik versprach - von Wien aus gesehen einer »sozialistischen« Republik mußte nun auch die Adlersche Schule sich neu organisieren. Das allein schon machte eine Neuauflage des
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grundlegenden Werks fällig. Zugleich aber hatte Adler, unter dem Eindruck dieser Zeitereignisse, das »Gemeinschaftsgefühl« »entdeckt«. Das sollte die neue Basis seiner Theorie und Praxis in dieser Republik werden. Die Adlersche Theorie lief nun in eine neue Richtung, bekam ein (neues) Ziel - und verlor dabei alte Anhänger, bekam jedoch um so mehr neue hinzu: »Die philosophische Gesamtanschauung« sei für ihn und für »einen großen Kreis von Bekennern Weltanschauung und Menschenkenntnis geworden«. Der »ernste Leser« werde jetzt mit einer »Lebensaufgabe« belastet: »voranzugehen bei dem Abbau des Strebens nach persönlicher Macht und bei der Erziehung zur Gemeinschaft«, schreibt er nun im Vorwort 1919. So war es selbstverständlich nötig, sein Buch in diesem Sinn umzuarbeiten. Das ergab die meisten und entscheidenden Änderungen, wie sie in der kommentierten textkritischen Ausgabe (1997) nachzuvollziehen sind. In gleicher Weise folgte bald darauf eine weitere Veröffentlichung von älteren, überarbeiteten Aufsätzen (»Praxis und Theorie der Individualpsychologie« 1920), dann eine wieder veränderte Neuauflage seiner früheren Aufsätze (»Heilen und Bilden« 1922). Nur kurze Zeit darauf, 1922, war eine 3. Auflage des »Nervösen Charakters« nötig beziehungsweise erwünscht. Dies signalisert den Erfolg sowohl des Buchs als auch der Adlerschen Schule, die bereits eine »Bewegung« war. Für Adler schienen wieder Veränderungen des Textes nötig. Es sind Veränderungen der Begrifflichkeit, des Stils, des Ausdrucks, Ergänzungen oder Weglassungen. Manche sind nicht sehr bedeutend, manche erweisen sich erst auf den zweiten Blick oder im Zusammenhang als wichtig. Im Vorwort werden mehrmals die »Irrtümer«, »Verfehlungen« des Neurotikers hervorgehoben, das Ausscheren aus der »absoluten Logik des menschlichen Zusammenlebens«, wodurch der individuellen Verantwortung mehr Gewicht beigelegt zu sein scheint als der »schwierigen Position der Kindheit«. Wien hatte sich inzwischen zum »Roten Wien« entwickelt, mit seinem umfangreichen, von der Mehrheit der Bevölkerung begeistert getragenen Reformprogramm. Adler und seine Schule waren, vor allem im pädagogischen Bereich, maßgeblich daran beteiligt. Ein Anlaß für die veränderte Neuauflage wird auch der 1. Internationale Kongreß der Individualpsychologie in München 1922 und damit die bereits begonnene Ausbreitung der Individualpsycholo-
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gie in Deutschland gewesen sein. Außer den Adlerschen Büchern hatte es bis zu dieser Zeit noch kaum Publikationen von Adler-Anhängern gegeben. Auch die Zeitschrift gab es noch nicht wieder. Zwischen der 3. und 4. Auflage (1928) vergehen 6 Jahre. Die individualpsychologische Bewegung stand in dieser Zeit auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung und Verbreitung. Es erschien regelmäßig und umfangreich die »Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie« (ab 1923), und es gab nun bereits eine Reihe von Schriften auch anderer Individualpsychologen. Adler selbst hatte ein neues Buch »Menschenkenntnis« veröffentlicht (1927a), und er war nur noch selten in Wien. Diese Umstände erklären vielleicht den relativ langen zeitlichen Abstand bis zur 4. und letzten Auflage. Änderungen gibt es nun nicht mehr sehr viele. Die Akzentveränderungen im Lauf der Jahre, wie sie sich an den verschiedenen Auflagen des »Nervösen Charakters« nachzeichnen lassen - wenn sie auch nicht immer sofort faßbar erscheinen - , haben den Charakter der Individualpsychologie verändert. So nimmt die Betonung der kompensatorischen Verarbeitung zu, seine Theorie wird immer mehr zur Charakterlehre, so daß die Grundlagen, nämlich das Minderwertigkeitsgefühl und die soziale Realität, zunehmend vernachlässigt werden. Mit der Einführung des Gemeinschaftsgefühls gewinnt der Stellenwert des sozialen Ganzen gegenüber dem Individuum an Gewicht, damit aber auch die positive Hervorhebung ihrer Normen und Wertungen, so daß die negativen Bewertungen des Neurotikers zunehmen (vgl. Witte 1994). Unter anderen persönlichen und vor allem politischen Umständen hätte es in den 30er Jahren gewiß wiederum eine Neuauflage gegeben mit durchaus bedeutsamen Veränderungen, die diese Etappe seiner Theorieentwicklung markiert hätten, wie wir sie im Buch »Sinn des Lebens« von 1933 sehen. Adler hat wie in keinem anderen seiner Werke als Quellen seines Denkens ein breites Spektrum humanistischen Hintergrunds in literarischer und künstlerischer Hinsicht, an philosophischer Anthropologie und Erkenntniskritik sowie an psychiatrischen und medizinischen Kenntnissen eingebaut und uns somit einen Einblick in sein wissenschaftliches und kulturelles Umfeld, in die epistemologischen Grundlagen seines Denkens gegeben. Dabei geht er mit seinen Quellen zum Teil recht freizügig um, häufig beläßt er es bei 47
einfacher Namensnennung. So sind für seine philosophischen und erkenntnistheoretischen Implikationen vor allem Kant, Nietzsche. Vaihinger, Avenarius und Jerusalem von besonderer Bedeutung. Im psychiatrischen Bereich bezieht er sich positiv auf die »französische Schule der Psychiatrie«, vor allem auf Pierre Janet und auf Bleuler, kritisch auf Kretschmer und Kraepelin und auffällig häufig auf Sexualpathologen. Für den somatisch-medizinischen Bereich nennt er eine ganze Fülle von Namen und Krankheitserscheinungen, in der Psychologie vor allem William Stern. Adlers großzügige Zitierweise paßt gut zu seinem lockeren, zuweilen sogar aphoristischen Schreibstil und seiner sprunghaften Gedankenführung. Es kommt daher auch zu eingestreuten Exkursen und zu vielen Wiederholungen. Aus diesen Gründen ist die Lektüre des »Nervösen Charakters« langatmig, manchmal sogar ärgerlich. Das ist keineswegs nur einem schlechten Schreibstil Adlers geschuldet, es entspricht seinem Denkansatz. Es ist nicht in die Grundlegung bestimmter theoretischer Prinzipien oder Annahmen gegliedert, um dann zu theoretischen oder praktischen Anwendungen voranzuschreiten. So ist auch der »Praktische Teil« seines Hauptwerkes durchsetzt von theoretischen Erläuterungen. Die theoretischen Prinzipien und die Beispiele werden nicht getrennt, sondern ineinander verwoben (vgl. Witte 1994, S. 26).
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V. Krieg und Kriegsneurosen
Der Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 rief bei der Mehrheit der Bevölkerung einschließlich der Intelligenz eine Welle nationalistischer Begeisterung in Deutschland und Österreich hervor. Auch die Sozialdemokratie beeilte sich, für die erforderlichen Kriegskredite zu stimmen und (in Österreich) sich die Kriegsparolen des Staats zu eigen zu machen.' Nur eine verschwindende Minderheit protestierte gegen den Krieg oder beteiligte sich zumindest nicht an der »Mobilmachung des Geistes«. Allerdings hielt die allgemeine Begeisterung nicht lange vor, erste Enttäuschungen und Ernüchterungen machten sich bereits ein paar Monate später breit. Adler, aber auch Freud, gehörten zunächst zu der Mehrheit der Befürworter des Krieges (vgl. Bottome 1939). Daraus ist eine scharfe Ablehnung, j a eine pazifistische Haltung geworden. Adler wurde 1916 als Militärarzt an die Front geschickt. Dies war bereits eine Zeit, in der die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges ihren Höhepunkt erreicht hatte. Unendliches Blutvergießen an der Front (Verdun 1916), Hunger und Elend in der Heimat und diktatorisches Regiment im Inneren hatten eine Verbitterung hervorgerufen und die Autorität der Regierungen längst schon erschüttert. Die Stimmen gegen den Krieg wurden zahlreicher, offener und militanter. Trotzdem aber, so schreibt Arthur Rosenberg, wurde die Vaterlandsverteidigung von der Masse der Bevölkerung 1 Da der Reichsrat in Österreich bereits seit M ä r z 1 9 1 4 ausgeschaltet war, konnte das Parlament nicht über Kriegskredite abstimmen.
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noch bis zum Sommer 1918 als Pflicht verstanden (1961a, S. 86) und hielt auch die Sozialdemokratie ihre Durchalteparolen aufrecht. Als Arzt hatte Adler seinen medizinischen Dienst im Lazarett zu versehen, und dazu gehörte nicht zuletzt, Soldaten mit neurotischen Leiden auszulesen, von Simulanten zu unterscheiden oder rasch so zu behandeln, daß sie wieder für die Front oder wenigstens für den »Heimatdienst« dienstfähig wurden. Bevor wir uns betrachten, wie Adler mit dieser Aufgabe umgegangen ist, möchte ich zum besseren Verständnis einige Bemerkungen zur Kriegsneurosenbehandlung allgemein und zur Stellungnahme der Psychoanalyse machen. Kriegsneurosen waren in diesem Krieg epidemieartig aufgetreten und 1916 als Problem hoch akut geworden. Deren Hauptsymptome waren Zittern im Zusammenhang mit Granatexplosionen, aber es traten auch viele andere Symptome auf wie Tics, Lähmungen, Krämpfe, psychogene Blindheit, Taubheit und anderes mehr. Diese Erscheinungen gefährdeten natürlich in hohem Grad die Wehrkraft durch Dienstunfähigkeit und durch Zersetzung der Truppenmoral. Die Psychiater waren deshalb aufgefordert, mit allen Mitteln dagegen vorzugehen und zusätzlich alle Rentenansprüche, die sich aus der Krankheit ergeben würden, abzuweisen. Die gesamte Psychiatrie und Neurologie bot ihre Kräfte auf, um den kriegsführenden Regierungen zu dienen, indem sie ihre Theorie der Neurose und ihre praktischen Behandlungsmethoden den Erfordernissen und Wünschen des Militärs anpaßten, so vor allem und endgültig auf der »Kriegstagung« der »Gesellschaft Deutscher Nervenärzte« 1916 (Fischer-Homberger 1975, S. 88). Eine Fülle von Methoden wurde eingesetzt, die alle mehr oder weniger stark von der militärischen Disziplin bestimmt waren. Ihr Kern war, wie Adler (19180 schreibt, den »Eigenwillen zu biegen« (S. 294), die Behandlung mehr als den Kriegsdienst und den Tod zu fürchten. Dazu gehörten Suggestivtherapie, erzieherische Wachsuggestion, Hypnose, repressive Therapiemethoden wie Schmerz-, Zwangs-, Schreckprozeduren, totale Isolierung, Dauerbäder, Scheinoperationen und sehr schmerzhafte Faradisationen (vgl. Riedesser u. Verderber 1985, S. 12f.; Schröder 1995, S. 168ff.). Die »Kaufmannsche Kur« mit Starkstrom war die bekannteste und zugleich brutalste Methode.
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Auch theoretisch gehört die Frage der traumatischen und Kriegsneurosen zu den makabersten und spannendsten Kapiteln der Psychiatriegeschichte, weil gerade dadurch die Neurosentheorie ihre Wandlungen erfahren hat und weil an ihr sich erhellend zeigen läßt, wie Theorien den ökonomischen, politischen (und militärischen) Erfordernissen angepaßt wurden. Der Erste Weltkrieg brachte hierin einen markanten Einschnitt. Vor und nach Beginn des Krieges galt - um dies hier nur ganz grob zusammenzufassen - ganz klar die Unfalls- und Kriegsneurose als eine durch ein mechanisches oder psychologisches Trauma verursachte Krankheit, die somit einer milden Behandlung und einer Entschädigung bedurfte. Dies war nun während des Krieges nicht mehr die für die militärische und politische Führung geeignete Theorie. Die Traumatheorie (von H. Oppenheim vertreten) wurde auf der »Kriegstagung« 1916 endgültig gestürzt zugunsten einer ausschließlich individualisierenden, psychogenen Erklärung, und zwar in ihrer plattesten und zugleich moralisierenden Form. Die Kriegsneurose galt nun als ein rein psychogenes »hysterisches Leiden«, nicht als Krankheit, für das ein Trauma keinerlei ätiologische Bedeutung habe. Es galt als zielgerichtetes, direkt dem Willen unterworfenes Leiden, bei dem das Unbewußte keine Rolle spielt. Ernst Kretschmer und Karl Bonhoeffer machten sich allen voran für die Willensidee und für die Kritik am Unbewußten stark. Dem Willen unterworfen hieß, der eigenen Schuld und Verantwortung anheimgestellt, und von daher rechtfertigte die »Kriegshysterie«, wie sie nun vornehmlich hieß, eine harte Behandlung und das Versagen von Rente. Für die Ärzte, die sich zunehmend dem »Kollektivethos« unterwarfen, galten Kriegsneurose und Simualation als Boshaftigkeit, Unkameradschaftlichkeit, Feigheit (FischerHomberger 1975, S. 165). Diese Wende in der Betrachtungsweise und das Scheitern der klassischen und repressiven Verfahren (Schröder 1995, S. 175) bewirkten bei den Psychiatern eine gewisse Hinwendung zur Psychoanalyse. Die psychogene Erklärung, Krankheitsgewinn und Flucht in die Krankheit als Schlagworte wurden von nun an akzeptiert. Zudem wurde auch die Methode der Psychoanalyse von Interesse, da die Wirkungen der verschiedenen anderen Methoden im Lauf des Krieges nachgelassen hatten (Eissler 1979, S. 236f.). Aber man holte sich von der Psychoanalyse nur das, was man brauchte, man 51
bekämpfte weiter Freuds Festhalten am Unbewußten, hielt die sexuelle Ätiologie für endgültig widerlegt und überging, daß »Flucht in die Krankheit« bei Freud nicht als Ursache verstanden wurde, sondern als etwas, das vom Ich nicht zu verhindern war. Freud hielt auch daran fest, daß Kriegsneurose eine traumatische Neurose sei, und zwar eine solche, »die durch einen Ichkonflikt,... zwischen dem alten friedlichen und dem neuen kriegerischen Ich des Soldaten« ermöglicht und begünstigt ist (Freud 1919, S. 323). Es seien die unbewußten Tendenzen, die sich den gefahrvollen oder das Gefühl empörenden Anforderungen entziehen, aus Angst um das eigene Leben oder Sträuben gegen den Auftrag zu töten (Freud 1920, zit. n. Eissler 1979, S. 32). Freud bezog also sehr wohl die besondere Situation des Krieges ein, das Traumatische und Bedrohliche, den Konflikt und den Protestcharakter der Neurose, und er zeigte auch Verständnis dafür, wenn er schreibt, daß die »Flucht in die Krankheit« in manchen Fällen »vollberechtigt« sei, »und der Arzt ... wird sich schweigend und schonungsvoll zurückziehen« (1917/18, S. 398). Trotzdem wurde der Psychoanalyse nicht nur neue Aufmerksamkeit geschenkt, sondern bot sie sich auch selbst zur Behandlung von Kriegsneurosen an. Es war vor allem Ernst Simmel, der die Behandlung mit einer vereinfachten Psychoanalyse, zu der er 2 bis 3 Sitzungen benötigte, praktiziert hatte. Er wandte eine Kombination aus analytisch-kathartischer Hypnose, analytischer Aussprache, Traumdeutung und Abreaktion an (Eissler 1979, S. 83; Reichmayr 1984, S. 22). Die Psychoanalyse hatte nun das Interesse des Militärs geweckt und damit war dem Prozeß ihrer Professionalisierung der Weg bereitet. Wie nun war Adler als Lazarettarzt mit der Auslese und Behandlung von Kriegsneurotikern und mit der Theorie der Kriegsneurose umgegangen? Phyllis Bottome (1939) schreibt, daß es »one of Adl e r s most painful duties during the war« gewesen sei, »to advice what soldiers after convalescense were fit to be sent back to the trenches« (S. 118). Furtmüller dagegen berichtet, Adler sei »äußerst streng« mit Simulanten verfahren, auch dann, »als er schon Kriegsgegner war« (1946, S. 262). Das scheint sich zu widersprechen, und tatsächlich sind Adlers eigene Äußerungen in diesen Jahren widersprüchlich und gespalten.
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Im November 1916 hielt er einen Vortrag zur Kriegsneurose in der militärärztlichen Sitzung in Krakau, von dem wir eine - vielleicht veränderte - Fassung vom Januar 1918 (19180 haben. 2 Der Vortrag ist im wesentlichen ein wissenschaftlicher Überblick über die seinerzeit gängigen Auffassungen der Kriegsneurose und vor allem ihrer Behandlungsformen. Der »Zweck der Militärneurologie« liege »selbstverständlich« darin, »den Erkrankten nicht sich und der eigenen Verfügung, sondern ... dem Dienste und der Allgemeinheit zuzuführen« (1918f, S. 291). Distanzierungen Adlers dazu sind nicht zu erkennen. Eigene Positionen sind in die Darstellung eingestreut, zum Teil auch durch Zitate anderer Autoren ausgedrückt (so bezieht er sich in dieser Weise auf Liebermeister, Lewandowsky, Strasser und Wexberg). Für ihn ist die Kriegsneurose wie jede andere Neurose ein »Mittel des Ausweichens« »unter der Herrschaft des sichernden Ziels der Zukunft«. Der Neurotiker sei ein Mensch, der »in einem subjektiven Gefühl der Schwäche« vor den »allgemeinen Forderungen des Lebens zurückweicht«, der sein Symptom gemäß dem neurotischen Zweck fixiert (1918f, S. 296). Mit dem Individuaipsychologen Wexberg wendet er sich gegen die Traumatheorie, der gesagt habe, »wer bei einem Erlebnis ... derart verändert wird, wird nicht erst daran krank, sondern ist schon krank« (S. 300). Mit einem längeren Zitat von Strasser, der offensichtlich Adlers eigene Position nur zugespitzt formuliert, endet sein Vortrag: »Individualpsychologisch läßt sich hinter der Neurose immer der Schwächling erkennen. Seine Unfähigkeit, sich in den Allgemeinheitsgedanken einzufügen, erweckt gegen denselben Aggression, die sich neurotisch gestaltet. Eine Therapie muß den grundlegenden Konflikt zwischen Staatspflicht und Individualität lösen können« (S. 303). Für die Behandlung betont Adler »die Bedeutung der individualpsychologischen Methode«, »einer erzieherischen Psychotherapie, bei der die seit Kindheit bestehenden neurotischen Grundlinien des Charakters als fehlerhaft und irrtümlich aufgedeckt werden« (S. 296). »Psychotherapie im engeren Sinn«, Methoden, die »vor jedem Eingriff erst die Psyche des Patienten erschlossen haben« (S. 294), schließt er aus. Im weiteren empfiehlt er das Versagen der Entschädigung, also der Rente (S. 296). 2 Die spätere Fassung in Adler 1920a ist nur unwesentlich verändert.
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Adler, so müssen wir feststellen, ist hier also ganz auf der Linie der Militärpsychiater, so ließ er es auch 1918 noch drucken. Er sieht auch in der folgenden Zeit den Kriegsneurotiker nicht anders, als er längst schon gegen den Krieg eingestellt war: Kriegsneurose als »Furcht vor Entscheidungen« (1919, Anm. in 1912a, S. 76), als Verhütung einer Niederlage (1920, Anm. in 1913a, S. 56), als Rückzug aus der Gemeinschaft (1920, Erg. in 1912e, S. 72f.). Für ihn ist gerade die Kriegsneurose eine Bestätigung seiner Theorie ( 1 9 3 0 d , S . 30). Ebenso beunruhigend ist, daß er, vielleicht in vereinfachter Form, seine Theorie in Übereinstimmung mit der Militärpsychiatrie seiner Zeit bringt bezüglich Verantwortlichkeit - ein Hinweis auf unbewußte Prozesse fehlt Ablehnung der Traumatheorie und Rentenfrage. Auch die entwertende Einschätzung ist zu spüren, und nicht erst dann, wenn das Wort »Schwächling« (Strasser) fällt. In der Tendenz ist für Adler der Kriegsneurotiker einer, der aus seiner Schwäche heraus sich einen »sekundären Krankheitsgewinn« auf Kosten der Allgemeinheit erschleichen will. An der Frage der Kriegsneurose wird ein prinzipielles Problem der Adlerschen Theorie deutlich, soweit und insofern die Betrachtung der Pathogenese auf die Finalität und Ganzheitlichkeit zugespitzt und, unausgesprochen, auf ein bewußtes Geschehen (»Wille« in der Militärpsychiatrie) reduziert wird. Denn bei der Kriegsneurose tritt besonders eklatant zutage, wie unhaltbar die damit verbundene Geringschätzung der (äußeren) kausalen Faktoren und der Konfliktsituationen und die Unterbelichtung des Unbewußten ist und wie sehr sie den Patienten belastet. Indem Adler die Bedeutung des (kausalen) traumatischen Faktors prinzipiell ablehnt, kann er die Besonderheit der Situation, wie es der Krieg an der Front ist, oder die ähnlicher Lebenslagen wie Unfall oder Gefängnis nicht mehr erfassen. A m Ende des Krieges war Adler mit aller Entschiedenheit gegen den Krieg. Ohne Zweifel war er entsetzt und mag er aus diesem Entsetzen heraus gesagt haben, »was die Welt braucht, ist Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl«. Es beschäftigen ihn die Frage der Schuld und das Phänomen der Kriegsbegeisterung. 1918 erscheint in der »Internationalen Rundschau« eine knappe, sehr scharf gehaltene Anklage gegen die »Kriegspsychose«, und das
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war hier gegen die Kriegsbegeisterten gemeint: »Sie können abtreten: Das tiefste Geheimnis des Weltkrieges: daß fast die meisten mit Überzeugung und Begeisterung vertreten, was sie andernfalls unter dem Zwang des Militär-Reglements vertreten müßten. Sie haben die Gottheit in ihren Willen aufgenommen, um dem G e f ü h l der Ohnmacht nicht zu erliegen. Ihre Strafe ist: sie können uns nie etwas neues sagen, immer nur das, was uns auch das Militär-Reglement sagt. Folglich können sie abtreten« (Adler 1918g, S. 362). In verschiedenen Äußerungen im Jahr 1919 verlagert er die Schuldfrage auf die Kultur und den Kapitalismus. Krieg ist für ihn das Ergebnis »unserer neurotisch-kranken Kultur, zerfressen von ihrem Machtstreben und ihrer Prestigepolitik«, die das »unsterbliche Gemeinschaftsgefühl der Menschen drosselt oder listig mißbraucht« (1919c, S. 26). Krieg ist für ihn aber auch Ausdruck des Kapitalismus, »der die Raublust in der menschlichen Seele angefacht« hat (1919b, S. 25). In ähnlichem Sinn schreibt er auch später vom »Mißbrauch des Gemeinschaftsgefühls« (z. B. 1933b, S. 72f.). Die engagierteste und umfassendste Stellungnahme erscheint 1919, als Anklage der Herrschenden und als Verteidigung des Volkes. In der Broschüre »Die andere Seite: eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes« (1919a), verteidigt er das Volk gegen den Vorwurf der Schuld an diesem Krieg, schildert er, wie im Inneren des Landes der Druck ins Unerträgliche gestiegen ist, wie sich das Volk zu wehren wußte, und er findet eine individualpsychologische Erklärung für die Kriegsfreiwilligen: Es war die »Dressur« des Volkes, die es »zum Gehorsam gegen die Oberen« gebracht, es war die »List und Gewalt«, die es »zur Schlachtbank gezerrt, gestoßen getrieben« hat (1919a, S. 16). Alle wollten d e m Dienst entgehen. Die Oberen, die akademisch Gebildeten und Finanzkräftigen entwandten sich dem Dienst durch Bestechungen und Beziehungen, aber »der arme Teufel Volk« desertierte (S. 7) oder ersann »wirkliche, eingebildete oder simulierte Leiden«, und diese Menschen »erklärten so dem Verstehenden ihre Abneigung gegen den Krieg« (S. 6). Adler prangert dann vor allem die Musterungsärzte an, die dem Militarismus »willig zur Verfügung« standen und »immer neue Menschenleiber an die Mündung der Kanonen« spien (S. 5). Zu den Kriegsfreiwilligen meint Adler, daß sie sich aus dem Gefühl tiefster menschlicher Erniedrigung, gegen ih55
ren Willen, in den Krieg gepeitscht zu werden, befreiten, als hätten sie selbst den »Ruf, der vom Generalstab ausging«, ausgestoßen, seien Helden, Verteidiger des Vaterlandes. »Im Rausch des wiedergefundenen Selbstgefühls ... wichen sie scheu vor der Erkenntnis aus, nur armselige Opfer fremder Machtgelüste zu sein« (S. 14). Obgleich Adler auch hier individualpsychologisch argumentiert, ist seine Position zum Krieg und zur Kriegsneurose nun also eine ganz andere als im Vortrag von 1916. Desertion, Simulation und Neurose sind Mittel oder Auswege, die dem »armen Teufel Volk« bleiben, sie sind »geheime und passive Resistenz« (S. 9) gegen den Krieg, der nicht die Sache des Volkes, der Allgemeinheit ist, sondern die der Herrschenden. Es ist ein »Ausweichen«, aber keines, das zu verurteilen wäre. Und doch: Adler hält zugleich an einem - naiven - »Kollektivismus« fest, der den Kriegsdienst aus der Perspektive der Kameradschaftlichkeit sieht: Es habe auch »Edelmenschen« gegeben - ich denke nicht, daß Adler dies ironisch meint - , die den Urlaubsschein nach einer Heilung einer Schußwunde zurückgegeben haben und sagten, »ich bringe es nicht über mich, meine Freunde und Kameraden allein im Felde zu lassen« (S. 15). Adler hatte sich im Krieg offenbar in einem moralischen Dilemma befunden - das sehr wohl zu verstehen ist: Kollektivismus einerseits, Ablehnung des Krieges andererseits. So könnte es sein, daß er streng gegen Simulanten gewesen war, wie Furtmüller sagt, und zugleich aber diese Arbeit der Auslese im Lazarett auch als eine »painful duty« (Bottome 1939) empfunden hatte. Dieses Dilemma wird in einem weiteren Dokument zu dieser Frage deutlich, im »Mördertraum«, den er allerdings erst ab 1929 berichtet, der aber für Adler wohl so gewichtig war, daß er ihn an vier verschiedenen Stellen bringt. Hannen (1986) beschäftigte sich ausführlich damit. Adler erzählt darin von einer Situation, wie sie sicher häufig vorkam: Ein Soldat mit »schwachen Nerven« bat ihn dringend um Befreiung vom Heeresdienst. Adler habe das nicht tun können, aber er habe ihm Erleichterung durch den Wachdienst angeboten, was dieser jedoch nicht akzeptierte. In dieser Nacht träumte Adler, daß er ein Mörder sei, schuldig-unschuldig ein Mörder (1929b, S. 80f.). Offensichtlich hat ihn sein eigenes Tun belastet, er hatte gegen den Mann gehandelt (schuldig), er war in »die Komplizenschaft der Mordmaschine Krieg« verstrickt (Witte 1988, S. 24). Er stand unter
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Druck von oben und sah selbst in einer Dienstbefreiung ein »im Stich lassen« der anderen (unschuldig). Wie löste er nun diesen Gewissenskonflikt? Er wehrt sich vehement, rechtfertigt sich, entschließt sich sogar, von nun an nicht mehr zu träumen. Sein Traum würde zeigen, wie Träume uns betrügen, benebeln, unsere Gefühle aufpeitschen. »Ich wollte im Traum meine Logik morden. Ich bin diesem Selbstbetrug auf die Spur gekommen und blieb bei meiner logischerweise begründeten Auffassung« (zit. n. Hannen 1986, S. 137). Adler spricht sich frei, nicht nur weil er nicht anders hätte handeln können, sondern indem er auf seiner »Auffassung« besteht: Dienstbefreiung bedeute, den einzelnen anderen im Stich lassen, wogegen »beim Kameraden bleiben« Gemeinschaftsgefühl sei. Wir verstehen nun auch, wenn Furtmüller (1946) sagt, die Erfahrungen mit Simulanten zur Zeit des Krieges sei die Wurzel für Adlers »Gemeinschaftsgefühl«. Eine Wurzel zumindest, und eine, die nachdenklich stimmt. Denn ist nicht diese Art von »Kollektivismus« ein Mittel, das Gemeinschaftsgefühl zu mißbrauchen, wie es Adler an anderen Stellen formuliert?
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VI. Neuanfang im Roten Wien Chronologie 1918/19-1922
A m Ende des Krieges brach das habsburgische Österreich auf der ganzen Linie zusammen. Die militärische Niederlage und die Unabhängigkeitsbewegungen der nichtdeutschen Nationen erzwangen einen deutsch-österreichischen Staat, der durch die riesigen Gebietsverluste und die damit verbundenen Verluste an Rohstoffund Energiequellen wie auch an Bevölkerung gar nicht lebensfähig erschien. Österreich stand ökonomisch auf seinem Tiefpunkt, mit Hunger, Teuerung und hochschnellender Arbeitslosigkeit. In der Bevölkerung entwickelte sich rasch eine revolutionäre Stimmung, die Arbeiter drängten auf eine sozialistische Revolution, vor der auch die Sozialdemokratie Angst hatte. In dieser Situation wurde die Republik am 12.11.1918 ausgerufen, eine provisorische Koalitionsregierung mit Sozialdemokraten, Christlich-Sozialen und Großdeutschen gebildet. Diese Koalition hielt bis Juni 1920. Nach den Wahlen im Februar 1919 bekam die SPÖ als stärkste Fraktion in der Koalition die wichtigsten Positionen - denn die revolutionäre Stimmung dauerte weiterhin an (bis Herbst 1919). Österreich war eine bürgerliche Republik mit einem Zweiparteiensystem (Christliche und Sozialdemokraten) geworden, die über die ganze Republikzeit hinweg ökonomisch in einer Art Dauerkrise stand. Die Zeit 1918/19 gilt als Adlers »röteste Zeit« (Bottome 1939), in der er Mitglied im Arbeiter- und Soldatenrat war. Dieser Ze it entstammten die zwei politischen Schriften Adlers, die Antikriegsbroschüre »Die andere Seite« (1919a) und der »Bolschewismus«-Aufsatz (1918e, 1919b), in dem Adler sein Bekenntnis zur sozialisti-
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sehen Republik mit einem Angriff auf den Bolschewismus verbindet (s. Kap. XIV). In der Stadt Wien war die Sozialdemokratie bereits vor dem Krieg die stärkste Partei, aber erst 1919 konnte ein sozialdemokratischer Gemeinderat mit einem sozialdemokratischen Bürgermeister (Jakob Reumann) an die Spitze kommen. Als Wien 1920 eigenes Bundesland wurde, konnte die Sozialdemokratie ihre Ideen in größerem Maßstab realisieren, freilich immer auch in Auseinandersetzung mit der christlich-sozialen Regierung. Wien wurde das »Rote Wien«, eine »Insel des Sozialismus«, Modell sozialdemokratischer Reform und Herrschaft, auf das alle ökonomische, politische und ideologische Kraft konzentriert wurde. Wien pulsierte von Reformideen und Reformprojekten in allen Lebensbereichen, so in der Steuerpolitik, im Wohnungsbau, im Gesundheits- und Sozialwesen und in Erziehung und Bildung. Das Leben der Bevölkerung war davon bestimmt, eingebunden in Kollektiven von Parteiorganisationen. In diesem Roten Wien nimmt die Individualpsychologie als Schule und als Bewegung ihren Ausgangspunkt, im Zeichen der gesellschaftlichen Umwälzung. Hier beginnt die Blütezeit der Individualpsychologie als praktischer Wissenschaft, getragen von einem Heer von engagierten Pädagogen, Lehrern, Ärzten, die vielfach ihre pädagogisch-psychologische Arbeit als politische Aufbauarbeit verstanden. Der Siegeszug der Individualpsychologie lebte von dem Aufschwung der SPÖ - der Niedergang des Roten Wien und der Reformpolitik, leitete auch ihren Niedergang ein. Adler und seine Anhänger hatten sich von Anfang an an der sich entfaltenden Reformpolitik beteiligt, vor allem in der Schulreform und im Volksbildungswesen, wofür Adlers bereits bestehende Kontakte zu führenden Sozialdemokraten sehr wichtig waren. Adler selbst hielt Vorträge im Volksheim 1919/20, Furtmüller arbeitete an maßgeblicher Stelle in der Schulreform. Aus Adlers Vortragstätigkeit entwickelte sich 1920 die Erziehungsberatung, die in den weiteren Jahren das Hauptfeld individualpsychologischer Praxis wurde und deren Erfolge sie über Wien hinaus verbreitete. Entscheidend für Adlers Mitarbeit an der Reform und für seinen Erfolg ist seine Konzentration auf praktische Pädagogik, die sich inhaltlich mit den sozialdemokratischen Erziehungskonzepten mühelos verbinden ließ. Die Einführung der Idee der Gemeinschaft und des 59
Gemeinschaftsgefühls in Adlers Theorie ist der Auftakt für weitgehende Änderungen seiner Theorie der Neurose (als Mangel an Gemeinschaftsgefühl) und des Charakters der Individualpsychologie insgesamt. Der Wiener Verein selbst mußte sich neu organisieren, da die Mitglieder durch den Krieg zerstreut waren. Die Veränderungen der allgemeinen Situation und die Hinwendung zur praktischen Pädagogik und zur Gemeinschaftsidee führten zu einer neuen personellen Zusammensetzung. Sie zog vor allem Erzieher und Lehrer aus d e m Umfeld der Sozialdemokratie an, während manche bisherige Mitglieder daran kein Interesse hatten oder sogar davon abgestoßen waren. Dies wird vor allem über Paul Schrecker und Robert Freschl berichtet. »Als gute Nietzscheaner konnten Schrecker und Freschl den Willen zur Macht nicht durch diesen sentimentalen Gemeinplatz ersetzen, sie gerieten mit Adler in Streit und verließen ... den Kreis« (Brome 1969, zit. n. Handlbauer 1983, S. 106). Die publizistischen Aktivitäten in der Zeit von 1919-22 bestehen im wesentlichen in veränderten Neuauflagen und Neuherausgaben. Zunächst erscheint die veränderte 2. Auflage des »Nervösen Charakters« im Mai 1919, in die vor allem das neu gewonnene Gemeinschaftsgefühl eingefügt wird. Adler kündigt im Vorwort bereits einen 2. Band an und meint damit die Aufsatzsammlung »Praxis und Theorie der Individualpsychologie«, die dann 1920 erscheint. In diesem Band sind Aufsätze von Adler vereint, die im wesentlichen aus der Zeit von 1911-14, also aus seiner nach-freudianischen Zeit stammen und Beiträge zur Psychologie der Neurose darstellen. Auch sie sind gegenüber den Originalen entsprechend der neuen Theorie verändert. Einige wenige Aufsätze sind neueren Datums von 1918-20, von denen sich zwei mit pädagogischen Fragen befassen. Im Unterschied zu »Heilen und Bilden« (1914) tritt in dieser Aufsatzsammlung die explizit kinder- u n d j u gend-pädagogische Themenstellung deutlich zurück. Aber Adler gibt seinen Aufsätzen einen erwachsenen-pädagogischen Auftrag, indem er die »Vertiefung der Menschenkenntnis« als Aufgabe der individualpsychologischen Forschung bezeichnet (1920a, S. 15) und damit zur Programmatik der Individualpsychologie erhob. Zwei Jahre später, 1922, erscheint bereits die 3. Auflage des »Nervösen Charakters« und die 2., neubearbeitete und erweiterte Auflage von »Heilen und Bilden« (1922a), redigiert und mit einem
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Geleitwort versehen von Erwin Wexberg. 1 Das Geleitwort stellt vor allem eine Abgrenzung von der Psychoanalyse dar - offenbar war das (noch) ein Problem für die Individualpsychologie: »Einmal muß es doch gelingen, auch dem wissenschaftlichen Publikum diese Scheidung zwischen Psychoanalyse und Individualpsychologie zum Bewußtsein zu bringen« (Wexberg 1922a). Diese 2. Auflage von »Heilen und Bilden« weist eine beträchtliche Veränderung auf in der Zusammenstellung der Aufsätze und in Adlers Beiträgen selbst. Die pädagogische Ausrichtung wurde noch verstärkt, und Adler bezieht sich mit zwei neuen Beiträgen über »Verwahrlosung« und über »Erziehungsberatungsstellen« ganz gezielt auf die aktuelle Situation. Ansonsten treten die Anhänger Adlers um diese Zeit noch nicht publizistisch hervor, auch die Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie war noch nicht wieder erschienen. Insgesamt war die Individualpsychologie also in diesen Jahren bis 1922 dabei, sich zu organisieren, zu wachsen und zu verbreiten, nun auch über Wien hinaus, vor allem nach Deutschland. Denn hier war mit Kriegsende, nach der Revolution und der Gründung der Weimarer Republik eine vergleichbare Entwicklung eingetreten, mit vergleichbaren Bedürfnissen und Notwendigkeiten von Reformen. München war die erste Stadt, in der die Individualpsychologie Fuß faßte, eine Ortsgruppe (1920) gründete und eine Erziehungsberatungsstelle (1922) einrichtete. 1922 konnte hier der 1. Internationale Kongreß stattfinden (8.-10. Dezember). Referenten waren ausschließlich Wiener und Münchener.
1 Erwin Wexberg (1889-1957), Dr. med., war eines der frühesten Mitglieder der Individualpsychologischen Vereinigung und gehörte zu den produktivsten Mitgliedern in Wien, der mit einer R e i h e von Veröffentlichungen hervorgetreten ist. Er war Verbindungsmann zum sozialistischen Flügel. E m i gration 1934 in die U S A , dort als Psychiater tätig.
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VII. Blütezeit als tiefenpsychologische Pädagogik Chronologie 1923-1926
Die Zeit 1923-26 und darüber hinaus ist zweifellos der Höhepunkt der individualpsychologischen Entwicklung. Das gilt sowohl für die vielen Aktivitäten Adlers, seine Vorträge, Kurse und praktische Tätigkeit, für seine zahlreichen Veröffentlichungen und Reisen als auch für die Rezeption der Individualpsychologie, ihre Verbreitung in Ortsgruppen und die publizistischen Aktivitäten seiner Anhänger. In Wien war die Individualpsychologie unangefochten die wichtigste psychologische Richtung. Diese Blütezeit fällt in Wien zusammen mit einer Situation, in der die Sozialdemokratie bei den Wiener Landtagswahlen einen vollen Sieg errungen hatte. Auf dem Linzer Parteitag 1926 war die Eroberung des Sozialismus auf demokratischer Grundlage (mit dem Stimmzettel) in greifbarer Nähe gesehen worden. Unter Bürgermeister Seitz (1923-33) wurde das Reformwerk, vor allem im Wohnbauprogramm und der Schulreform in großem Stil betrieben. Andererseits war die ökonomische Lage keineswegs beruhigt, die Zahl der Arbeitslosen stieg weiter an. Politisch wurden die faschistischen Verbände »Heimwehr« und NSDAP immer stärker, die Wiener Reformen wurden von der christlich-sozialen Regierung behindert und hintertrieben. Für die Weimarer Republik war das ganze Jahr 1923 dramatisch, mit Zuspitzungen der politischen Auseinandersetzungen und der ökonomischen Entwicklung. Deutschland stand am Rand des Krieges (Ruhrbesetzung, Januar 1923), am Rand der sozialistischen Revolution (Sommer 1923) und am Rand des gegenrevolutionären Putsches. Die Berliner Reichsregierung stand in Konflikt mit Frank-
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reich, mit den Völkischen und den Freikorps, mit der Arbeiterregierung in Sachsen und Thüringen, dem Hamburger Aufstand (Oktober 1923) und der gegenrevolutionären bayerischen Regierung. Die Inflation spitzte sich katastrophenartig zu einem Kollaps der Währung zu und rief Hunger und Elend im allergrößten Ausmaß hervor. Eine wirkliche Wende brachten 1924 die amerikanischen Auslandsanleihen (Dawes-Plan), die die Währung stabilisierten und die Wirtschaft ankurbelten. Die Arbeitslosenzahlen sanken, die Löhne stiegen. Dies führte zu einer überraschenden Befestigung der Republik, zu einer Beruhigung der politischen Auseinandersetzungen und zu einem Rückgang der radikalen Parteien. Diese Phase der Stabilisierung hielt bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 an (vgl. Rosenberg 1961b). Die Individualpsychologie war als Verein in Wien nicht straff organisiert. Ende 1925 bildete sich eine Medizinische Fachgruppe unter Leitung von Rudolf Allers und Karl Nowotny und eine Geisteswissenschaftliche Fachgruppe unter David Oppenheim. Aus diesen Fachgruppen entstanden 1927 die »Arbeitsgemeinschaft Ärzte« und die »Pädagogische Arbeitsgemeinschaft«. Ab 1926 wurden Diplome für die Absolvierung von Kursen ausgegeben. Adler leitete um diese Zeit selbst einige Erziehungsberatungsstellen, aber hauptsächlich hielt er wohl Kurse, Seminare und Vorträge vor Lehrern und einem breiteren Publikum. Er hielt zum Beispiel von Wintersemester 1923 bis Sommersemester 1926 am Pädagogischen Institut der Stadt Wien wöchentlich Vorlesungen (und wurde 1924 dort Professor), veranstaltete Vortragszyklen, Seminare und Vorlesungen im Volksheim, in Volkshochschulen, in der Urania, bei den sozialistischen »Kinderfreunden« und in Arbeiterbildungsvereinen, mit Titeln wie »Schwererziehbare Kinder«, »Menschenkenntnis« oder »Einführung in die Individualpsychologie«. Aus diesen Kursen gingen Schriften hervor, die später als Bücher veröffentlicht wurden, so »Menschenkenntnis« 1927 oder »Individualpsychologie in der Schule« 1929. Adler hatte auch außerhalb Wiens Vorträge gehalten, vor allem in Deutschland, aber auch im europäischen Ausland, zum Beispiel in Paris und Holland 1924 und ab 1926 in den USA. Die USA zu bereisen hieß damals, die Welt erobern. Dies war für Adler ein großer Erfolg und wurde für ihn persönlich und für die
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Weiterentwicklung der Individualpsychologie von grundlegender Bedeutung. Die Zahl der Erziehungsberatungsstellen in Wien wuchs ebenfalls, für das Jahr 1923 werden 4 Beratungsstellen, Mitte 1926 bereits 17 in verschiedenen Bezirken und unter unterschiedlicher Verantwortung genannt. Daneben richtete Sofie Lazarsfeld 1925 eine Ehe- und Sexualberatungsstelle ein, und es gab ab Januar 1924 ein Erziehungsheim, ab 1926 eine Ambulanz für neurotische und schwererziehbare Kinder. In Deutschland schössen Ortsgruppen geradezu aus dem Boden. Mit diesen Ortsgruppen waren meistens Vortragstätigkeiten, Arbeitsgemeinschaften und Erziehungsberatungsstellen verbunden. Der wichtigste Vorstoß war zweifellos die »Eroberung« Berlins, die durch Fritz und Ruth Künkel 1924 erreicht wurde. Die Berliner Gruppe sollte sich als äußerst aktive, freilich auch als labile Gruppe entwickeln (s. Kap. XI). Die Zahl der Mitglieder in Wien und in Deutschland stieg rasch an. Das sagt allerdings über die wirkliche Breite der Individualpsychologie nicht viel aus - die Zahl der unorganisierten Anhänger und solcher, die informiert waren und individualpsychologisch arbeiteten, muß sehr groß gewesen sein. In diesen Jahren erweiterte sich auch sprunghaft die Rezeption der Individualpsychologie in Fachkreisen, Medizin, Psychotherapie, Pädagogik, Psychologie, in weltanschaulichen und politischen Gruppierungen. Adler hielt Vorträge und publizierte in deren Organen, vor allem in den Jahren 1925/26. So hält er 1926 auf dem I. Internationalen Kongreß für Sexualwissenschaft ein Referat und einen Vortrag im Berliner »Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht«. Er publiziert 1926 im »Handbuch für normale und pathologische Physiologie« (Hg. Bethe) mit 6 Beiträgen über Sexualität, in der Zeitschrift »Scientia«, in einem psychologischen Sammelband (Hg. von Saupe) und in den Zeitschriften »Bereitschaft« und »Gemeinschaft«. Er hatte auch Kontakt zu Graf Hermann Keyserling, wo er in dessen Jahrbuch »Der Leuchter« 1 1924 und in Keyserlings »Ehebuch« 1925 schreibt. 1 »Jahrbuch der Schule der Weisheit« der Gesellschaft für (freie) Philosop h i e . In d e n S c h r i f t e n d i e s e r G e s e l l s c h a f t g e h t es viel u m » G e i s t « , » g e i stig«. »Verstand«, »Sinn«, »Weisheit«, »Ganzheit«.
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Für die wissenschaftliche Anerkennung Adlers ist auch der Beginn der Organisierung der ärztlichen Psychotherapeuten von Bedeutung. Adler gehört zum einladenden Komitee zum 1. Kongreß der »Allgemein ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie« im April 1926. Die Individualpsychologie wird in diesem Kreis (neben der Psychoanalyse) als die zweite große tiefenpsychologische Schule betrachtet. Für Adlers Bekanntheit in breitem Maß, vor allem in Deutschland, ist auch die Verankerung der Individualpsychologie innerhalb der Arbeiterbewegung von großer Bedeutung. In Wien war sie von vornherein gegeben, in Deutschland wurde sie durch einige seiner Anhänger hergestellt, besonders durch das Ehepaar Rühle. Das wichtigste publizistische Ereignis dieser Zeit ist das Wiedererscheinen der Zeitschrift als »Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie« (IZI), das im September 1923 beginnt. Ein Jahrgang umfaßt 6 Hefte von zunehmend wachsendem Umfang (ab 1927 ca. 500 Seiten). Neben inhaltlichen Beiträgen bringt die Zeitschrift Rezensionen, Mitteilungen aus der Praxis, Kongreßberichte und Vereinsnachrichten (Chronik). Sie beginnt 1923 bereits »international«, mit Autoren aus Wien, Deutschland, Amerika, England, wobei die deutschsprachigen Autoren auch in den folgenden Jahren weitestgehend bestimmend sind. Die IZI ist eine Fundgrube für die inhaltliche, thematische, personelle und organisatorische Entwicklung der Individualpsychologie. Für eine neue Buchpublikation blieb Adler in dieser Zeit offenbar keine Zeit. Lediglich »Praxis und Theorie der Individualpsychologie« erscheint in der 2. Auflage und in einer englischen Übersetzung (1924). Die Fülle von Aufsätzen aus dieser Zeit sind zum großen Teil Abdrucke von Vorträgen flir unterschiedliches Publikum zu Fragen der Erziehung, Weltanschauung, Sexualität und Ehe. Zum großen Teil lesen sich diese Texte wie immer wieder neu variierte Einführungen und Grundlegungen. Sie sind wie Redetexte an ein breites, wenig in Individualpsychologie vorgebildetes Publikum gerichtet, unsystematisch, flüchtig, nicht lange bei einem Gedanken verweilend oder ihn entfaltend. Diese Flüchtigkeiten und vielen Wiederholungen hatten sicher der Verbreitung und Popularisierung der Individualpsychologie gedient, weniger aber wohl der wissenschaftlichen Reputation und Weiterentwicklung der individualpsychologischen Theorie.
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Eine ganze Reihe von Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften, Sammelbänden und Schriftenreihen liegen nun auch von Adlers Anhängern vor, besonders ab 1925/26. Deren Hauptgebiet ist das Erzieherische im weiteren Sinn, Überlegungen zu pädagogischen Mitteln, Praxisbeschreibungen und Kasuistik. 1926 gibt Wexberg ein zweibändiges »Handbuch der Individualpsychologie« heraus, das mit großer Themenbreite - Neurosentheorie, Fragen der Erziehung, heilpädagogische Behandlung, Beziehung zu anderen Wissenschaften, soziologische und politische Verankerung - einen guten Einblick in den Stand der IndividuaJpsychologie dieser Zeit gibt. Die Autoren sind vorwiegend aus Wien. Im Anhang findet sich eine ausgezeichnete Bibliographie individualpsychologischer Schriften. Adler, Leonhard Seif und Otto Kaus geben 1926 eine Schriftenreihe »Individuum und Gemeinschaft« heraus. Von Alice und Otto Rühle erscheint ab 1926 die Schriftenreihe »Schwererziehbare Kinder«. Daneben gibt es populärwissenschaftliche Schriften wie zum Beispiel »Richtige Lebensführung« (1926), herausgegeben von Sofie Lazarsfeld 1926 2 oder »Du und der Alltag« (1926) von Johannes Neumann. Angesichts der Verbreitung der Individualpsychologie konnten in diesen Jahren zwei weitere Internationale Kongresse organisiert werden, 1925 in Berlin, 1926 in Düsseldorf. Adler hat sich und seine Individualpsychologie um diese Zeit nicht nur als eine wissenschaftliche Schulrichtung, sondern als eine »Bewegung« verstanden - eine Bewegung die nicht nur eine wissenschaftliche Theorie, sondern eine »Lehre« anzubieten hat, die ergreift, die man bekennt, die ein außerwissenschaftliches Ziel verfolgt. Bereits im Mai 1919 war dies programmatisch bei Adler: »Die philosophische Gesamtanschauung von der menschlichen Seele, mit der ich den nervösen Charakter durchleuchtete, ist für mich und einen großen Kreis von Bekennern Weltanschauung und 2 Folgende Hefte sind 1926 angezeigt: Adler: Begabung und Unbegabtheit; Hilde Krampflitschek: Elternliebe; Gina Kaus: Die Welt des Kindes; Robert Lazarsfeld: Schönheit und Persönlichkeit; Sofie Lazarsfeld: Vom häuslichen Frieden; Sofie Lazarsfeld: Erziehung zur Ehe; Ida Löwy: Technik der Erziehung; Hugo Lukacz: Schule und Familie; Susanne Schallt: Soll man strafen?; Leopold Stein: Sprachstörungen; Erwin Wexberg: Seelische Entwicklungshemmungen; Margarete Hilferding: Geburtenregelung (s. Anzeige in Hilferding, 1926).
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Menschenkenntnis geworden ... Die gewonnenen Erkenntnisse werden ihn dann freilich mit einer Lebensaufgabe belasten: voranzugehen bei dem Abbau des Strebens nach persönlicher Macht und bei der Erziehung zur Gemeinschaft« (1919c, S. 36f.). Sehr viel später heißt es einmal bei Manes Sperber: »Wir glauben an die einzigartige Kraft unserer Bewegung, wir glauben an die werbende Kraft der Adlerschen Individualpsychologie, und wir glauben daran, daß dem Individualpsychologen sein Bekenntnis zu seiner Lehre mehr ist als irgendeine positive Einstellung zu irgendeinem wissenschaftlichen System« (Sperber 1928). Diese Emphase entsprach der Zeitstimmung, den vielfältigen Auseinandersetzungen und Neuerungen. In dieser neuen Zeit steckt Aufbruch und Mission, natürlich auch Weltanschauung und Gemeinschaftsgefühl eines Kreises von Menschen, die sich nicht nur als Experten und Professionelle verstehen. Solche Bewegungen hat es viele gegeben, in allen Lebensbereichen, in der Kultur, Politik und den Wissenschaften. Auch die Psychoanalyse verstand sich als Bewegung; man kann von einer psychoanalytischen »Bewegung« sprechen, die vor allem unter Intellektuellen weit über den Kreis der Mitglieder hinausging. Der »Bewegungscharakter« ist für die Individualpsychologie in besonderem Maß kennzeichnend und hatte die spezifische Bedeutung, eine Bewegung von »Laien«, eine »Basisbewegung« zu sein.
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VIII. »Menschenkenntnis« (1927)
»Menschenkenntnis« ist 1927 erschienen, hervorgegangen aus Mitschriften von Vorträgen, die Adler in den frühen 20er Jahren im Wiener Volksheim vor einem großen (»vielhundertköpfigem«) Publikum gehalten hatte. Dieses Buch gehört zu den klarsten, vielleicht auch sympathischsten Büchern Adlers. Metaphysische Höhenflüge unterbleiben ebenso weitgehend wie der moralische Ton. der bei Adler sonst oft zu finden ist. Es ist wohl sein erfolgreichstes Buch geworden, als erstes seiner Bücher wurde es sofort ins Englische übersetzt. Durch dieses Buch wurde Adler in Amerika bekannt, es ist dort in Millionenauflage erschienen (Hoffman 1997, S. 247). Adler ist um diese Zeit auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, ständig unterwegs mit Vorträgen, auch in England und Amerika. Das Vorwort atmet schon das Pathos des Erfolgreichen, wie wir es auch in späteren Schriften spüren: »Dieses Buch versucht dem breitesten Leserkreis die unerschütterlichen Grundlagen der Individualpsychologie und ihren Wert für die Menschenkenntnis, zugleich auch ihre Bedeutung für den Umgang mit Menschen und für die Organisation des eigenen Lebens zu zeigen« (1927a, S. 17). »Menschenkenntnis« ist eine Art von Psychohygiene, von Selbsterfahrung und Selbsterziehung. Zu ihr gehört »Kontakt mit den Mitmenschen und dem Leben«, das »Erleben« von eigenen »Verfehlungen« und »Einfühlung« (S. 27). Diese aufklärerische Absicht zur Verbesserung des Zusammenlebens entsprach dem neuen Interesse an der (Selbst)Erziehung des »neuen Menschen« und gehörte zu den zentralen Anliegen des
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Volksbildungswesens, das in den Republiken nach 1919 enormen Aufschwung erlebt hatte. Die Psychologie des Normalen, nicht die des Neurotikers, steht daher in diesem Buch an erster Stelle. In seinem (interessanteren) allgmeinen Teil ist »Menschenkenntnis« eine systematische Einführung in individualpsychologische Betrachtungsweise der Entwicklung der Persönlichkeit, in seinem zweiten Teil »Charakterlehre« die Darstellung einzelner Charakterzüge und Affekte wie Zorn, Trauer und Angst. Hervorstechend sind die Ganzheitsbetrachtung, die Lehre der Zielgerichtetheit und der soziale Ansatz. Seelisches Leben sei »Bewegung, die auf ein Ziel gerichtet ist«, »Vorbereitung auf etwas Kommendes« (S. 31), zum Angriff, zur Abwehr, zur Sicherung und zum Schutz (S. 30). »Verstehen« kann man die »Einzelerscheinungen im Seelenleben« nur als »Teile eines untrennbaren Ganzen«, aus dem man »die Bewegungslinie, die Lebensschablone, den Lebensstil« aufdeckt (S. 21). Mit der Zielgerichtetheit ist Adlers fiktionale Sicht - »als ob sie auf ein Ziel gerichtet wäre« (S. 31, auch S. 74f.) ebenso verbunden wie seine - modern ausgedrückt - konstruktivistische Sicht, daß »man seine Erfahrungen macht«, indem nur bestimmte Erfahrungen verwertet werden (S. 25). Vor allem aber tritt die »soziale Beschaffenheit des Seelenlebens« konkreter und realitätsbezogener als in anderen seiner Bücher hervor. Auch »Charakter« ist ein »sozialer Begriff«, er ist »die Art und Weise, wie ein Mensch seiner Umwelt gegenübersteht« (S. 146). Adler beschreibt die Einwirkungen der Umgebung auf das Individuum, die Angewiesenheit auf die Gesellschaft und die Notwendigkeit für das Individuum, auf die »Logik des menschlichen Zusammenlebens« zu achten. Diese Beschreibungen gehen in Anweisungen an den gesunden Menschenverstand, in Forderungen und Werturteile über, die den einzelnen am »Idealbild des Gemeinschaftsmenschen« messen. Der Begriff Gemeinschaft wird hier teils synonym mit Gesellschaft, teils aber als idealer Wert verstanden. »Gemeinschaftsgefühl« erscheint in verschiedenen Versionen, als Bewußtsein über gesellschaftliche Zusammenhänge, als internalisierte gesellschaftliche Spielregeln, als emotionale Verbundenheit oder als ethische Kategorie. Es steht dem Streben nach Macht gegenüber und kann durch dieses eingeschränkt werden (s. Kap. XVII).
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An zentraler Stelle stehen die Darstellungen des Minderwertigkeitsgefühls und des kompensatorischen Geltungs- und Machtstrebens. Ein eigenes Kapitel bekommen die sozialen »Positionen« Geschlechtsrolle beziehungsweise Frauenfrage und die Stellung des Kindes in der Geschwisterreihe - in beiden Fällen neigt Adler zum Typologisieren. Die Stellung innerhalb der Geschwisterreihe bestimme die Ausgangslage des Kindes, die mit einer gewissen Flegelhaftigkeit bestimmte Umgangsweisen nahelegten und sich deshalb in seinem »Lebensstil« niederschlage. Adler war wohl der erste, der diese Frage sehr wichtig nahm und damit die Betrachtung von der Eltern-Kind-Beziehung auf die Familie und die Familiendynamik erweiterte und systematisierte ein Blickwinkel, der inzwischen durch die Familientherapie vertraut und akzeptiert ist. Adler mag durch seine persönlichen Erfahrungen in einer Reihe von fünf Geschwistern wie auch durch Volksweisheit und Märchen, in denen die Geschwisterposition häufig schicksalsentscheidend ist, dazu angeregt worden sein. Solche Überlegungen zur Geschwisterfrage waren bei Adler erstmals 1918 aufgetaucht (vgl. Ansbacher u. Ansbacher 1972, S. 353). In aller Regelmäßigkeit erscheinen sie in den späteren Schriften.
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IX. Ausbreitung der Individualpsychologie Chronologie 1927-1933
Die sechs Jahre zwischen 1927 und 1933 mit den Eckpfeilern 1927,1929/30 und 1933/34 haben sich für die Geschichte Deutschlands und Österreichs, ja für die gesamte Welt als Wendejahre erwiesen. In Wien kommt es im Juli 1927 zu einem Arbeiteraufstand (»Justizbrandskandal«), der die Sozialdemokraten in die Defensive drängt und die rechten Kräfte an Stärke gewinnen läßt. Schließlich wird nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise im Dezember 1929 eine staatsstreichartige Verfassungsänderung durchgesetzt, die viele demokratische Rechte aufhebt. Die Weimarer Republik befindet sich bis 1929 in einer relativ ruhigen Phase der Stabilität. Mit dem Börsenkrach im Oktober 1929, der die Weltwirtschaftskrise einleitet, beginnen wirtschaftliche Not, Hunger und Arbeitslosigkeit allergrößten Ausmaßes. Damit ändert sich schlagartig die politische Situation. Es mehrten sich die erregten, zum Teil gewaltätig verlaufenden Auseinandersetzungen auf der Straße. Im März 1930 bildete Brüning eine Diktaturregierung, er regierte mit Notverordnungen. Die Septemberwahlen 1930 brachten der SPD starke Verluste und der NSDAP einen spektakulären Wahlerfolg. Damit war das Jahr 1929/30 das Ende der Reformpolitik und das Ende der Republik in beiden Ländern. Die ökonomische Krise wurde für eine reaktionäre Politik genutzt, mit galoppierender Eile trieben beide Länder auf den Sieg des Faschismus zu.
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Für die Individualpsychologie waren diese Jahre weiter sehr erfolgreich. Sie gewann weiteres Terrain in der praktischen Arbeit und in medizinischen und therapeutischen Kreisen, die Zahl ihrer Ortsgruppen nahm zu. Schließlich organisierte sie noch einmal zwei große Internationale Kongresse 1927 und 1930 (Wien und Berlin), die als Höhepunkte gelten konnten. Doch gibt es in dieser Zeit, besonders nach 1929/30, auch gewisse Anzeichen eines Niedergangs und Zeichen von Zerfallsprozessen. Das zeigt sich an einer rapiden Abnahme der Erziehungsberatungsstellen in Wien nach 1932, in einer Abnahme von Zeitschriftenaufsätzen von Individualpsychologen und über Individualpsychologie nach 1930 wie auch in internen Auseinandersetzungen und Spaltungen. Adler selbst beteiligte sich kaum mehr an der Wiener Praxis und ließ sich in Wien auch bei den Vorlesungen und Kursen vertreten. Er reiste mit Vorträgen durch ganz Europa, war ab 1926 die längere Zeit in den USA, auch hier immer auf Reisen - über diese Zeit bringt nun die Biographie von Edward Hoffman (1997) einiges ans Licht. Neben einzelnen Vortragsreisen zum Beispiel in Kliniken in ganz Amerika lehrte er vor allem in New York an der New School for Social Research, der Columbia University und am Long Island Medical College. In späteren Jahren (ab 1929) hatte er zur Finan zierung einen Mäzen gefunden, der ihm entsprechende Stellen einrichtete (Hoffman 1997, S. 277; S. 281 f.). Zweifellos hatte Adler also großen Erfolg in Amerika, aber er galt wohl immer mehr als populärer Psychologe neben dem Behavioristen Watson (S. 271). Die intellektuelle und künstlerische Avantgarde konnte er nicht interessieren, wie H o f f m a n schreibt (S. 270). Adler hat in diesen Jahren in Deutschland vor allem ein breiteres Publikum in medizinischen und pädagogischen Fachkreisen gewonnen. Er hält dort Vorträge und kann in ihren Zeitschriften veröffentlichen, so unter anderem im Verein für medizinische Psychologie (Wien), Verein für Innere Medizin und Kinderheilkunde (Berlin), im Berliner Ärztehaus, im Archiv für Psychiatrie und Nervenheilkunde, Verein für neue Erziehung, Vierteljahresschrift für Jugendkunde, Schweizerische Erziehungsrundschau und Pädagogische Warte. Seine Publikationstätigkeit insgesamt steigt in diesen Jahren gewaltig an. Neben der großen Zahl von Aufsätzen in Fachzeitschriften und in der IZI erscheinen in den Jahren 1927-30 allein 8 neue 72
Bücher, 4 in deutscher und 4 in amerikanischer Sprache. 1930-34 kommen noch drei weitere Bücher hinzu. Daneben gibt es Neuauflagen der »Studie über Minderwertigkeit von Organen« (1927), der »Praxis und Theorie der Individualpsychologie« (1927), von »Über den nervösen Charakter« (1928), der »Menschenkenntnis« (1928) und von »Heilen und Bilden« (1928). Die neuen Publikationen aus dieser Zeit sind eigentlich nur immer wieder etwas anders formulierte, sich gleichbleibende Wiederholungen mit einführendem Charakter - auch in Amerika scheinen sie als stereotyp und schlechter werdend kritsiert worden zu sein (Hoffman 1977, S. 307). Einen Grund dafür kann man Hoffmans Bericht entnehmen: Adler, der selbst nicht gern geschrieben habe, habe (in Amerika) seine Bücher aus Vortragsnotizen schreiben lassen (S. 257ff.). In den Texten spürt man ab 1927/28 zugleich neue Akzente in der Theorie und Sprache Adlers, die er nach 1930 fortsetzt und auch verstärkt: Er führt den Begriff Evolution ein, betont das Weltanschauliche und spricht vom Streben nach Vollkommenheit als positiver kompensatorischer Kraft. Seine Sprache wird missionarischer. Es finden sich gehäuft auch selbstbewußte - oder autoritative - Wendungen wie »unabwendbar«, »unwiderleglich« und »gegen die kein Gegengrund zu finden ist«. Es ist dies die Fassung der Theorie, die man als den »späten« Adler bezeichnet und die für die Individualpsychologie der USA und der deutschen Nachkriegszeit bestimmend war. Die Zahl der Publikationen von Individualpsychologen ist von 1926 an nennenswert gestiegen, erreicht bis 1930/31 einen Höhepunkt und nimmt dann ab (vgl. Dietrich 1901-1944). So erscheinen 1930-32 sechs Bände der »Beihefte der IZI« 1 und ab 1927 eine ganze Reihe von Büchern von Individualpsychologen, unter anderem von Sofie Lazarsfeld, Erwin Wexberg, Alice Rühle-Gerstel, Rudolf Dreikurs und Fritz Künkel. Der Anzahl und Bedeutung 1 1. A l f r e d A d l e r : Das Problem der Homosexualität (1930) 2. E r w i n Wexberg: E i n f ü h r u n g in die Psychologie des Geschlechtslebens (1930) 3. Rudolf Dreikurs: Seelische Impotenz (1931) 4. Arthur Holub: Die Lehre von der Organminderwertigkeit (1931) 5. F e r d i n a n d B i r n b a u m : Die seelischen G e f a h r e n des Kindes (1932) 6. Fritz Künkel: Eine Angstneurose und ihre B e h a n d l u n g (1932)
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nach stehen seit 1927 die Bücher von Künkel an erster Stelle. (Kunkel entfernte sich inhaltlich dabei aber immer mehr von Adler. Bereits eine individualpsychologisch interne Debatte 1928 zeigt, daß er umstritten war.) Auch die Rezeption der Individualpsychologie verbreiten sich. In pädagogischen, psychologischen oder medizinischen Büchern finden sich häufig Verweise oder mehr oder weniger ausführliche Auseinandersetzungen mit ihr. In der Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie hatte sie ihren festen Platz gefunden, war die Adlersche Theorie immer wieder Gegenstand der - oft kritischen Diskussion (s. Kap. XI). Die Wiener Individualpsychologie stand auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs, aber sie war nicht mehr unangefochten die Psychologie und Pädagogik. Die akademische Kinderpsychologie durch Karl und Charlotte Bühler hatte ihren Platz, und die Psychoanalyse fand nun mehr Beachtung, da sie in diesen Jahren sich stärker um (Reform)Pädagogik und um Popularisierung kümmerte (s. Kap. XII). Es werden weiter sehr viele Vorträge im Volksheim und in den Volkshochschulen von verschiedenen Individualpsychologen gehalten, auch noch nach 1930. 1932 findet eine erste »Sommerschule« statt, die eine gewisse Tradition bekommen sollte. Es bilden sich eine Reihe von neuen Arbeitsgemeinschaften, neben der pädagogischen und ärztlichen die Arbeitsgemeinschaften »wissenschaftliche Materialsammlung«, »Kriminologie«, »Graphologie«, »Klavierpädagogik« und »Mutter und Vater«. Es werden Kurse und Seminare zur individualpsychologischen Ausbildung angeboten, die sich in einem formellen Lehrplan niederschlagen. In diesen Jahren können zwei individualpsychologische Ambulanzen (1926, 1930) und ein Ambulatorium (1929) eingerichtet werden. Ein großer Erfolg ist die Einrichtung einer individualpsychologischen Versuchsschule 1931 durch Oskar Spiel, Ferdinand Birnbaum und Fritz Scharmer, die zu einer Vorführschule der sozialdemokratischen Stadtverwaltung wird. Die Zahl der Erziehungsberatungsstellen steigt bis 1929 weiter an. 1929/30 werden 28 genannt. Dann tritt eine starke Fluktuation ein, in der eine Rücknahme der Reformen einsetzt und sich ein Nachlassen der Reformstimmung bemerkbar macht. 1933 sind es nur noch 10, 1934 5 (bzw. 9), bis die Erziehungsberatungsstellen 1934 dann zwangsweise aufgelöst werden. 74
Im Jahr 1927 kommt es in Wien innerhalb der individualpsychologischen Gruppe zu einer heftigen Auseinandersetzung, vor allem mit dem damals bedeutenden philosophisch und katholisch orientierten Rudolf Allers. Im Verlauf dieses Streits kam es zum Austritt beziehungsweise zu Ausschlüssen von Rudolf Allers, Oswald Schwarz und Viktor Frankl. 1930 wurde in Wien Adlers 60. Geburtstag gefeiert, zu dem er zum Ehrenbürger der Stadt Wien ernannt wurde und zu dem seine Anhänger den Sammelband »Selbsterziehung des Charakters« herausgegeben haben (Hg. Seif u. Zilahi). In den Ortsgruppen in Deutschland und in den europäischen Ländern haben sich sehr viele Aktivitäten mit Vorträgen, Kursen, Fachgruppen sowie Erziehungsberatungsstellen und Erziehungsheimen entwickelt. Es kamen immer wieder neue Ortsgruppen hinzu, so in Hamburg, Stuttgart, Bremen, Zagreb, Budapest, Paris und London. In Berlin wurde 1927 ein Ausbildungsinstitut mit festen Lehrplänen unter Führung von Künkel und Sperber gegründet - es hatte offenbar formelleren Charakter und größere Bedeutung als das Wiener Ausbildungsseminar (s. Kap. XI). Ebenfalls 1927 hatten sich in Wien, Berlin und Dresden marxistische Arbeitsgruppen gebildet, die unter Führung von Alice Rühle-Gerstel zwei Tagungen durchführten. In Berlin und Dresden, nicht aber in Wien, kam es darüber zu Spaltungen. Durch diese Ausweitung ist die Individualpsychologie in Theorie und Praxis nun nicht mehr identisch mit Adlers Ideen. Sie wird heterogen, verschiedene wissenschaftliche, ideologische und praktische Strömungen, Interessen und Aufgabengebiete fließen zusammen. Trotzdem bleibt Adlers Einfluß für lange Zeit und insgesamt sehr prägend, und es entstehen zunächst keine eigentlichen Sonderentwicklungen und Fraktionierungen. Solche gibt es erst Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre, und zwar einerseits durch die religiös orientierten Mitglieder um Allers und Künkel, andererseits durch die Marxisten. Otto Müller-Main (Berlin) will vier Richtungen innerhalb der Individualpsychologie unterscheiden, die biologistische, marxistische, religiöse und philosophische (1930, S. 258).
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X. »Sinn des Lebens« (1933)
»Der Sinn des Lebens« (1933b) gehört in eine Reihe von drei späteren Übersichtswerken Adlers, und zwar neben den in englischer Sprache erschienenen »Science to living« (»Lebenskenntnis«, 1929d) und »What life should mean to you« (»Wozu leben wir«, 1931b). Der »Sinn des Lebens« ist das letzte in dieser Reihe und gilt als eines der Hauptwerke Adlers - von vielen wird es als seine reifste Leistung bezeichnet. Alle drei Werke entstammen einer Zeit, in der Adler Wien längst hinter sich gelassen hatte und in der dort ebenso wie in Deutschland die Reformpolitik, die H o f f n u n g auf soziale und sozialistische Ent würfe zurückgedrängt waren. Für die Individualpsychologie begann damit eine gewisse Stagnation und Ideologisierung in theoretischer, organisatorischer und praktischer Hinsicht. Diese Veränderungen spiegeln sich in diesen späten Werken, die sich untereinander in Thematik und Position stark ähneln. Bereits die Titel sind bemerkenswert. Sie verweisen darauf, daß es Adler nun um die größere Weltsicht geht, um Weltanschauung, getragen von Lebensphilosophie. Es geht nicht mehr nur um Psychologie oder besser: Psychologie soll in ein Ganzes, in eine Weltanschauung eingebettet werden. Deshalb ist in diesen Werken so viel die Rede vom Ganzen, vom Kosmos, von der Evolution. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens geht Adler zweifach an, metaphysisch und psychologisch: Der »wahre« Sinn des Lebens ist für ihn der Beitrag zur »Höherentwicklung der gesamten Menschheit«, etwas leisten zum »Wohl der Allgemeinheit« (1933b, S. 169), also der Bezug zur Gemeinschaft und z u m Kos-
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mos. Davon abweichend gebe sich jeder Einzelne individuell den Sinn seines Lebens, und dieser sei immer fehlerhaft. Dieser Sinn gibt »die Richtschnur für sein Denken, Fühlen und Handeln« (S. 32), »wie einer sich bewegt, so ist der Sinn seines Lebens« (S. 66). Der Sinn ist der »Lebensstil«. Die Individualpsychologie geht für Adler über den Empirismus der »unmittelbaren Erfahrung« hinaus zur »Metaphysik«, da wir gezwungen seien, »uns Gedanken zu machen über unsere Zukunft, über das Resultat unserer Handlungen usw.«. Das nennt Adler »Metaphysik«, in die jede Wissenschaft münden müsse (S. 166f.). Adler bekennt sich explizit zu einer »wertenden Wissenschaft«, »Individualpsychologie wird Wertpsychologie« (S. 36). Die Individualpsychologie ist nach ihm eine Wissenschaft, die »im Strom der Evolution« steht, womit er sagen will, daß sie dem »Fortschritt der Menschheit« dient - und somit unangreifbar ist. Das Sendungsbewußtsein, das aus diesem Buch spricht, das beschwörende Pathos, findet hierin seine Legitimation. Adler wird ein Stück weit zum Verkünder; das erfordert ein positives Ziel und erklärt seine Wendung zum Positiven überhaupt. Die ideale Gemeinschaft und das Gemeinschaftsgefühl werden zum leuchtenden Ziel, das zerstörerische Streben nach Macht wird positiv gewendet zum Streben nach Vollkommenheit, das quälende Minderwertigkeitsgefühl wird zum »Segen« umgedeutet, zum notwendigen, heilsamen Stachel der »Menschheitsentwicklung« (S. 69). Mit dieser Wende zum Positiven ist unverkennbar ein Stück Konservativismus verbunden. Adler hat seine Kritik an der Gesellschaft weitgehend aufgegeben und wendet Kritik nun statt dessen verstärkt gegen die, die vom Pfad der Evolution abweichen - und das sind bei Adler die Neurotiker. Diese Tendenzen sind bei ihm nicht prinzipiell neu, sie waren latent schon da und wurden dann mit dem Gemeinschaftsgefühl verbunden, aber sie bekommen in den frühen 30er Jahren eine neue Qualität: sie werden zugespitzt und vorherrschend. Die Suche nach Sinn und Weltanschauung, der Entwurf einer idealen Gemeinschaft hatten bei Adler sicher eine sozialdemokratische Wurzel, aber Adler schließt sich mit ihr auch einer allgemeinen Neigung der bürgerlichen Wissenschaft in den späten 20er und frühen 30er Jahren an. Die Wissenschaft philosophierte über das Leben, sie geriet allenthalben in den Sog von Weltanschauung und Mission. Sie wendete ihr Bewußtsein von Krise und Verfall der tra77
dierten Werte und Strukturen in die Suche nach Sinn, nach dem Ganzen, nach Weltanschauung 1 (s. Kap. X V I ) .
Evolution Adler führt in seinem Buch »Der Sinn des Lebens« ein Konstrukt ein, das alle seine Axiome zusammenbinden und seine Theorie legitimieren soll. Das ist der Begriff der »Evolution«, der Glaube an die biologisch und kosmisch begründete Höherentwicklung der Menschheit. Ganzheit, Bewegung, schöpferische Kraft, Streben nach Vollkommenheit erhalten durch »Evolution« ihren Stellenwert und ihre Würde, ihre letzte Begründung. Evolution ist Entwicklung, Entwicklung ist Leben, Leben ist B e wegung - das ist Adlers lebensphilosophische Argumentationslinie. »Bewegung, die nach Selbsterhaltung geht, nach Vermehrung, nach Kontakt mit der Außenwelt, nach siegreichem Kontakt, um nicht unterzugehen« (S. 163). Dieser »siegreiche Kontakt« kann nur in einer »aktiven Anpassung an die kosmischen Forderungen« gelingen (S. 163). »Aktive Anpassung« ist, lamarckistisch gedacht, durch die »schöpferische Evolution« gesetzt, ist Überwindung, ist die »Bewältigung aller durch den Kosmos gesetzten Vor- und Nachteile«, es ist die »Anpassung sub specie aeternitatis... für die äußerste Zukunft« (S. 164). Evolution ist schöpferisch. Leben und Bewegung sind handelnd, ein Streben nach Vollkomenheit. Gesellschaft ist hiernach ein Teil der kosmischen Gesetzlichkeit, Geschichte der Menschheit ist Naturgeschichte, Geschichte ist Geschichte zum Höheren. Das Streben nach Vollkomenheit, das sich entweder als Idee Gottes (S. 165) oder wie in der Individualpsychologie als Idee der idealen Gemeinschaft (S. 166) konkretisiert, ist daher für Adler seelischer Ausdruck der Evolution. Gemeinschaftsgefühl, ideale Normen des Zusammenlebens, sind die Forderungen und die Errungenschaften der Evolution (S. 35f.; 165). Die Naturgeschichte ist damit bei Adler Weltenlenkerin und Weltenrichterin, sie wird ihm, wie Böhringer ( 1 9 8 5 , S. 27) schreibt, zur »Kosmodizee«: Wer 1 M a x W e b e r hatte sich mit seinem Postulat der »Wertfreiheit der Wissenschaften« dagegen gewandt.
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»mit dem Zwang der Evolution in Widerspruch« gerät, wer »durch Neurose, Psychose, Delinquenz das Ziel der Vollkommenheit« verfehlt. wem diese »aktive Anpassung nicht gelungen ist«, von dem wird sich in der Zukunft keine Spur mehr finden lassen, von ihm wird nichts übrigbleiben (1933b, S. 165f.). Indem nun die Individualpsychologie das Gemeinschaftsgefühl als kosmische Forderung erkannt habe und entfalten wolle, werde sie zur »Förderin der Evolution« und damit zur »wertenden Wissenschaft« (S. 36). Dieser Glaube an die Evolution als Hoffnungsträgerin, als Lenkerin der Welt zum Guten und als ethischer Maßstab hat den Charakter einer säkularisierten Religion, in deren Diensten sich die Individualpsychologie anbietet. Sie habe neben Religionen und politischen Bewegungen ihren Platz, ausgestattet mit der Autorität des »unausweichlichen« Gesetzes der Natur, des ewigen Kosmos. Evolution, das ist nun die »wissenschaftliche« und moralische Legitimation der Individualpsychologie. Adler hat sich tief in die Metaphysik verstrickt. Adler hatte sich schon einmal auf die Evolution - und von hier aus auf die Kulturgeschichte - bezogen, aber in einem ganz anderen Sinn. 1907 (»Studie über Minderwertigkeit von Organen«) und 1908 (»Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose«) stellte er seine Theorie in den Zusammenhang der Darwinschen Deszendenztheorie, in den »struggle for life«. Dieser »struggle for life« fehlt hier aber (fast) ganz. Konnte Adler es nicht (mehr) ertragen, dem »struggle for life«, dem Machtstreben, ins Auge zu sehen und mußte er deshalb, wie Witte (1988) sagen würde, »wegschielen«? Adler schrieb ja dieses Buch - allerdings aus Amerika - zu einer Zeit, in der dieser Optimismus nicht mehr angebracht schien. Er räumt daher auch ein, daß »heute ein leichter Verdacht vorhanden ist«, daß die Menschheit an der evolutionären Entwicklung scheitert (S. 39). Die Herstellung der Beziehung von Natur und Leben, »Biologie und Biographie« (Böhringer 1985, S. 15), entspringt lebensphilosophischen, sozialdarwinistischen und lamarckistischen Quellen, während der Gedanke, die ideale Gemeinschaft (Sozialismus) »als letzte Erfüllung der Evolution« zu sehen, zumindest auch austromarxistischer Herkunft Max Adlers ist.
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Antikausalität Es ist auffällig, mit welcher Vehemenz Adler in diesem Buch Regeln (außer Grundregeln) zurückweist und Kausalität im Psychischen leugnet. Im Psychologischen gebe es keine »absolute Sicherheit« (S. 23), deshalb spielten das Erraten und die Intuition für die psychologische Analyse eine wichtige Rolle. Die Einflüsse der Umgebung und Erziehung benütze das Kind als »Bausteine«, aus denen es »in spielerischer Kunst seinen Lebensstil aufbaut« (S. 22). Sie wirkten nicht nach einem kausalen Grundgesetz, sondern als »verleitendes Moment nach statistischer Wahrscheinlichkeit« (S. 42). Die Einmaligkeit des Individuums sei darin begründet, daß wir »nicht von den Tatsachen, sondern von unseren Meinungen der Tatsachen beeinflußt sind« (S. 29), daß die individuellen Erscheinungen »der Ausdruck der nahezu willkürlich schaffenden Kraft des Kindes in der Gestaltung seines Bewegungsgesetzes« sind (S. 42). Adler formuliert hier noch einmal seine antideterministische und heute würden wir auch sagen konstruktivistische (vgl. Bruder 1996) - Haltung, die er im Ansatz bereits 1912 mit dem Fiktionsund Finalitätsbegriff ausdruckte. Er schaltet zwischen Ursache und Wirkung die »schöpferische Kraft«, die soweit gehen kann, daß die Wirkung die Ursache umdrehen zu können scheint. (»Statistische Wahrscheinlichkeit« ist eine Außenbetrachtung.) Er bezieht damit ein, daß Tatsachen nicht unmittelbar wirken, sondern nur als wahrgenommene, die entsprechend den Sichtweisen und der Lebenssituation, gefiltert und interpretiert werden. Adler leugnet damit nicht die Macht der Einflüsse, vielleicht können wir hier von einer Dialektik von Subjekt und Objekt, von Kausalität und Finalität sprechen. Und doch kommt er auch immer wieder einem nur subjektivistischen Verständnis nahe, was ihm auch vorgeworfen wurde (vgl. Sperber 1932a; Kruttke-Rüping 1984). Adler konnte sich mit seiner Idee des Antikausalen und Finalen in voller Übereinstimmung mit einer antipositivistischen und antideterministischen Stimmung in allen wissenschaftlichen Bereichen seiner Zeit sehen. Kausalität wurde zu einem »herabsetzenden Begriff« (Troeltsch 1921, zit. n. Forman 1971, S. 17). Das betraf auch die exakten Wissenschaften, besonders die Physik, in der in den frühen 20er Jahren weitgehend, eigentlich von fast allen
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namhaften Physikern (wie Weyl, Schrödinger, Born, Heisenberg) der Kausalitätsbegriff zugunsten der »statistischen Wahrscheinlichkeit« aufgegeben wurde. 2 Adler selbst bezog sich darauf als Beleg für die Richtigkeit der »Leugnung der Kausalität im seelischen Geschehen«: »Seit sogar die Physik ihnen den Boden der Kausalität entzogen hat, um statt dessen einer statistischen Wahrscheinlichkeit ... das Wort zu reden« (S. 23). 3
Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl Die Antwort Adlers auf die Frage nach dem »wahren« Sinn des Lebens lautet: Beitrag für die Höherentwicklung der gesamten Menschheit. Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl zu erreichen und anzustreben ist die Botschaft des Buches »Der Sinn des Lebens«. Adler betont ganz ausdrücklich und entschieden, daß er mit Gemeinschaft keine gegenwärtige Gemeinschaft meint, sondern eine solche sub specie aeternitatis (S. 31), und definiert ebenso Gemeinschaftsgefühl als ein Streben zur Erfüllung der Evolution (S. 166). Adler wird aber an keiner Stelle seines ganzen Werks näher ausführen, was er unter der »idealen Gemeinschaft« versteht, wie sie konkret aussieht. Wir ahnen nur, daß er sie fast ins Jenseitige, ReligiösParadiesische rückt, wenn es heißt, Gemeinschaft sei der Zustand, in dem alle Fragen des Lebens gelöst sind (S. 167). Für eine psychologische Analyse kann man damit wohl nicht viel anfangen, und es ist wenig sinnvoll, diesen idealen Maßstab anzulegen. Adler gerät daher mit der »idealen Gemeinschaft« in ein Dilemma, soweit es um (empirische) Psychologie geht, so daß er dann doch unausgesprochen - »Gemeinschaft« auch auf diese Gesellschaft bezieht. Seine Kriterien für Gemeinschaftsgefühl in der praktischen Menschenkenntnis sind nämlich durchaus an die Normen 2 In den späten 20er Jahren wurde in der Physik allerdings versucht, Kausalität und statistische Wahrscheinlichkeit als sich nicht widersprechend zu verbinden (vgl. Forman 1971). 3 Die Idee von der »statistischen Wahrscheinlichkeit« tritt bei Adler seit 1932 auf (Rogner 1985, S. 496). A g n e s Zilahi-Beke stellt bereits 1924 eine Analogie zwischen Individualpsychologie und d e m
Relativitätsprinzip
Einsteins bezüglich der Kausalitätsfrage her.
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der gegenwärtigen Gesellschaft gebunden: Gemeinschaftsgefühl zeige bereits der, der seinen Beruf ausübt, eine Dauerehe führt, Kinder aufzieht und für gesellschaftliche Fragen offen ist. Ein Anspruch, durch diese »Mitarbeit« nicht nur diese Gesellschaft aufrechtzuerhalten, sondern einen Beitrag zur Erfüllung der idealen Gemeinschaft zu leisten, wird dann, in diesem Zusammenhang, nicht mehr formuliert, und die gesellschaftlichen Anforderungen selbst werden nicht in Frage gestellt. Adler bleibt also in diesen Fragen uneindeutig (s. Kap. XVII).
Neurose Was Adler zum Thema Neurose schreibt, muß man sich zusammensuchen und die unscharfe Schreibweise und den Wechsel zwischen Beschreibung und Erklärung in Kauf nehmen. Störend sind dabei die Übergewichtigkeit von Verwöhnung als Erziehungsfehler (s. Kap. XV, Exkurs) und der immer wiederkehrende, moralisierende und denunzierende Ton gegen den Neurotiker als dem, der sich der Erfüllung seiner täglichen Aufgaben entzieht. Indirekt und direkt stellt sich Adler bei diesem Thema der Auseinandersetzung mit Freud, so in den Fragen des Traumas, des Unbewußten, des Konflikts, der Regression und des Sinns oder der Funktion der Neurose. Neurose ist für Adler ein unbewußt geschaffenes, schöpferisches Gebilde, kunstvoll und in sich stimmig. Sie ist, wie er wohl gegen Freud gerichtet betont, »kein Rückfall in infantile oder atavistische Formen« (S. 87), auch wenn dies zuweilen so aussehen mag. »Die Taktik des Rückzugs kann leicht eine Regression auf infantile Wünsche vortäuschen« (S. 108). Der zentrale Erklärungsbegriff für Neurose ist ihm »Sicherung«, angesichts eines vertieften Minderwertigkeitsgefühls (oder -komplexes). Sicherung ist der Sinn der Neurose, sie ist nicht »sekundär«, sondern »hauptsächlich« (S. 109), also primär. Der Neurotiker schützt seinen »bedrohten Nimbus« (S. 109), er sichert sich vor dem »Zusammenbruch seines persönlichen Hochgefühls« (S. 109), vor dem Gefühl, »als etwas Wertloses dazustehen« (S. 105). Der Neurotker »nimmt lieber alle nervösen Leiden in Kauf als die Enthüllung seiner Wertlosigkeit« (S. 104). Die Sicherung erfolgt
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durch Rückzug vor den Lebensaufgaben. Dieser Rückzug wird durch das Festhalten, Steckenbleiben (S. 104) oder die »Steigerung der Schockerscheinungen« (S. 109) aufrechterhalten. Daher träten die Symptome der Neurose angesichts einer Situation oder Aufgabe auf, die in einer Niederlage enden könnten oder bereits eine Niederlage bedeuten (S. 87f., 107). Die Schwierigkeiten bei der Lösung dieser Aufgaben hätten eine »Schockwirkung«, an der der Neurotiker im Unterschied zum Normalen festhalte, so daß sie zum Dauerzustand oder Dauersymptom werden (S. 103). Der Schock als auslösendes Moment wird zum Mittel der Absicherung. Eine der Definitionen von Neurose lautet daher »Neurose ist die Ausnutzung der Schockerlebnisse zum Schutz des bedrohten Nimbus« (S. 109). Diese Funktion der Neurose sieht Adler nun nicht als willentlich hervorgebracht, sie ist vielmehr unbewußt. Ausdrücklich heißt es, »er [der Neurotiker] hat sie [die Neurose] nicht gemacht, er wünscht sie nicht« (S. 104). »Deswegen müssen wir alle Auseinandersetzungen, einer erzeuge sein Leiden, er wolle krank sein, alle diese unrichtigen Anschauungen ... a limine beseitigen« (S. 104). Zwischen final und nicht willentlich bestehe kein Widerspruch, weil die Vorgänge unbewußt, dem »Verständnis entzogen« seien (S. 112). »Er hat sie nicht gemacht« - diese Formulierung müssen wir besonders festhalten, denn Adlers finalistische Ausdrucksweisen (wie Arrangement, Trick, Machen von Erinnerungen etc.) haben immer wieder zu dem Mißverständnis geführt, Adler schiebe dem Neurotiker die Absicht, den Willen, j a die Schuld zu. Hier, an dieser Stelle widerspricht Adler eindeutig einem solchem Verständnis, aber es gibt in seinem Werk eine Menge von Stellen, an denen dies keineswegs klar ist - wir haben dies bereits bei der Kriegsneurose diskutiert. Ist die Erklärung mit dem Willen wohl fälschlich verstanden worden, so muß man doch sagen, daß Adler selbst dazu beigetragen hat, und zwar durch seinen moralisierenden Ton und durch die Ablehnung einer Entgegensetzung von bewußt-unbewußt, wie er es auch in »Sinn des Lebens« tut. Es ist auch nicht sicher, ob er dem »Mißverständnis« nicht zuweilen selbst aufgesessen ist. In der Frage des Konflikts wird von Adler die Auseinandersetzung mit Freud direkter und offener als in den anderen Fragen geführt. Er argumentiert auf verschiedenen Ebenen. Auf einer ersten Ebene hat man den Eindruck, als ginge es ihm nur darum, seine
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Gegnerschaft gegen Freuds Neurosendefinition anzumelden, denn er bestreitet nicht die Konflikte des Neurotikers, der vielmehr »häufiger und stärkere« Konflikte habe (S. 108). Aber Konflikte sagten nichts über das »Wesen« der Neurose aus (S. 100f.), »wesentlich« sei, wie der Neurotiker mit diesen Konflikten umgehe: »durch Rückzug und Sicherung« (S. 108). »Neurose als Konflikt zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten« sei eine »willkürliche Definition« (S. 100f.). Auf einer anderen Ebene wird der Konfliktbegriff selbst in Frage gestellt zugunsten der »Einheit« des Individuums: was als widerspruchsvoll erscheint, bildet einen Zusammenhang. Wer in »scheinbar kontrastierenden Ausdrucksformen eine Ambivalenz, eine Spaltung des Bewußtseins, ein Doppelleben erblickt, kennt nicht die Einheit der Person, in der scheinbar Widerspruchsvolles nur aus dem Vergleich der Minus- mit der Flussituation analysierend und den Zusammenhang verkennend entnommen wird« (S. 150) (s. Kap. XVI; XVII).
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XI. Institutionalisierung der Individualpsychologie
Die 20er Jahre sind für die Individualpsychologie die Jahre ihrer Institutionalisierung und Verankerung in der Öffentlichkeit. Nach einer gewissen Anlaufzeit gewinnt sie ungeheuer rasch an Stärke und Verbreitung, weit über Wien hinaus, vor allem in Deutschland. Bald nach dem 1. Internationalen Kongreß 1922 schössen die Ortsgruppen geradezu aus dem Boden und es wurden Praxisfelder, meist Erziehungsberatungsstellen, eingerichtet und Vorträge, Kurse und Kongresse organisiert.
Internationaler Verein und Ortsgruppen Die ersten Ortsgruppen waren München (1920), Nürnberg, Dresden, Berlin, Frankfurt (1924), dann Heidelberg, Hamburg und Hannover (1925). Bis 1927 gab es neun Ortsgruppen, bis 1932 stieg die Zahl auf 36 in Deutschland und bald im Ausland. 1 Die Ortsgruppen galten eine Zeitlang als »Sektionen des Internationalen Vereins für Individualpsychologie« (Zentrale Wien), ab 1931 - nachdem festgestellt wurde, daß es diesen Internationalen Verein formell nicht gibt 2 - hießen sie »Vereine« oder »Arbeits1 In den Chroniken der IZI sind diese Ortsgruppen aufgelistet. Zusätzlich berichten über die Vereinsaktivitäten von 1926 bis 1928 das Berliner »Mitteilungsblatt der Sektionen«, » G e m e i n s c h a f t « bzw. »Sachlichkeit«. Von 1932 bis 1934 gibt es Entsprechendes aus Wien: das »Mitteilungsblatt für individualpsychologische Veranstaltungen« (Hg. von Danica Deutsch). 2 Zu dieser Entwicklung siehe: IZI 1925, S. 46; 1931, S. Vllf.; XXI, und Gröner 1993, 1994.
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gruppen«. Die Münchener Ortsgruppe zum Beispiel nannte sich 1932 »Gesellschaft für Individualpsychologie München e.V. (vgl. Gröner 1993). Einen formellen Status mit Eintrag ins Vereinsregister haben sie im allgemeinen nicht, den Wiener Verein gab es de jure erst ab 1926. Die Vereine und Arbeitsgruppen scheinen sehr unterschiedlich groß gewesen zu sein. Öffentliche Mitgliederlisten gibt es nur für Wien 1925 (IZI 1925, S. 351) und München 1926 (IZI 1926, S. 48). Wien hatte zu diesem Zeitpunkt 75, München 73 Mitglieder, aber die Zahl der Anhänger und Mitarbeiter muß diese Angaben bei weitem überschritten haben. Die größeren Vereine sind meistens in fachliche Arbeitsgruppen unterteilt, so in Wien, München, Berlin, Frankfurt und Dresden. Je nach Größe der Gruppe gibt es unterschiedlich viele Aktivitäten. Immer werden Vorträge angeboten vereinsinterne und öffentliche - , vielmals sogar wöchentlich, dann auch Kurse, sehr häufig werden eine oder mehrere Erziehungsberatungsstellen unterhalten, manchmal auch Kinder- oder Erziehungsheime. Einzelne Mitglieder haben eine private Beratungspraxis. Zwei dieser Ortsgruppen, München und Berlin, will ich etwas näher beleuchten.
Ortsgruppe München 3 Die Münchener Ortsgruppe ist im Herbst 1920 als »Gesellschaft für vergleichende Individualpsychologie« unter Leitung des Nervenarztes Leonhard Seif entstanden. Dies hat eine längere Vorgeschichte. Seif war Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) seit deren Gründung 1910, war Vorsitzender der Psychoanalytischen Ortsgruppe München 1911 und soll 1913 mit C. G. Jung sympathisiert haben (Grunert 1984, S. 866). Im Sommer 1919 wurde die »Gesellschaft für angewandte Seelenkunde« gegründet, aus der, nach Austritt der Psychoanalytiker, die Individualpsychologische Vereinigung hervorging (IZI 1923, S. 47). In dieser frühesten Zeit 1919-22, dann auch auf dem Internationalen Kongreß 1922 in München, treten neben Seif Eugen 3 Ausführlich zur Entwicklung der Münchener Ortsgruppe vgl. G r ö n e r 1993.
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Schmidt, Else Sumpf, Isa Herrmann, Folkert Wilken, Alfred Appelt, Prinzessin Eleonore Salm-Salm (später Rieniets), Otto Naegele, Grete Querfeld, Max Rheinstein, dann Lene Credner, Kurt Weinmann und Kurt Seelmann auf. Die meisten dieser Namen erscheinen in den folgenden Jahren immer wieder, was auf die Stabilität dieser Gruppe verweist. Es kommen auch eine Reihe von neuen hinzu, als Referenten, Kursleiter oder Leiter von Erziehungsberatungsstellen, so zum Beispiel Alfons Simon, Sofie Freudenberg, Johannes Neumann, Alice Lüps, Trude Weigl. Die Gruppe - Mitglieder und Mitarbeiter - muß sehr groß gewesen sein, 1926 werden 73 Mitglieder genannt, Seelmann sprach einmal von etwa 150 Mitgliedern (persönl. Mitteilung). München war die erste und wurde die bedeutenste, stabilste und wohl auch größte Ortsgruppe, sozusagen die deutsche Außenstelle Wiens. 1922 wurde hier der 1. Internationale Kongreß abgehalten und die erste Erziehungsberatungsstelle gegründet. Immer wieder auch gab es Treffen zwischen der Wiener und der Münchener Gruppe, so in Schloß Kiesheim bei Salzburg (vgl. Gröner 1993). Diese Bedeutung Münchens hängt eng mit der Person Seifs zusammen, aber wohl auch mit der räumlichen Nähe zu Wien und vielleicht - mit der Verwandtschaft in der Mentalität zwischen Wien und München, die Adler offenbar mehr als Freud repräsentierte. Denn die Psychoanalyse hatte sich hier nie recht entwickeln können, so daß die Individualpsychologie auch nicht in Konkurrenz zu ihr treten mußte. Leonhard Seif (1866-1949) hatte persönlichen Kontakt zu Adler, der sich bald sehr eng gestaltete. Er war sehr aktiv, hatte offenbar organisatorisches Talent und stellte Kontakte zu Ärzten, Psychotherapeuten, Erziehern und Lehrern her. Seif wurde der wichtigste Lehranalytiker und somit Lehrer für eine ganze Reihe von deutschen Individualpsychologen, für seine Münchener Schüler und auch für Künkel, Alice Rühle-Gerstel und M. H. Göring. Seif publizierte einige Aufsätze, vor allem über Erziehung, gehörte ab 1926 zum Herausgeberkreis der IZI, war aber insgesamt wohl mehr Praktiker. Ab 1927 bereiste er die USA mit Vorträgen und Kursen, worüber in der Zeitschrift 1927 und 1929 emphatisch berichtet wird. In der »Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie« ist er aktiv, auch Mitglied des Vorstands. Nach 1933 spielte Seif eine wichtige Rolle im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie (s. Kap. XVIII). 87
Die Münchener Gruppe tritt in der Chronik mit vielen Aktivitäten auf: wöchentliche Vereinsabende mit Vortrag, öffentliche Vorträge, Kurse und Vortragsreihen für Ärzte, Lehrer, Kindergärtnerinnen und Eltern. Sie richtete Erziehungsberatungsstellen ein. ein Erziehungsheim in Hindelang (1926, Leitung Else S u m p f ) und hielt Ferienkurse und Sommerschulen ab. Innerhalb der Gruppe gab es eine Arbeitsgruppe für Erzieher (ab 1923) und eine für Heilpädagogik (ab 1927); die Münchener Gruppe stand in Beziehung zur »Gesellschaft für Jugendgerichtsfürsorge« und zum »Arbeitskreis für Erneuerung der Erziehung«. Zudem pflegten einige der Gruppe engeren Kontakt zum Musikpädagogen Heinrich Jacobi. 4 Herausragend und auch außerhalb Münchens bekannt waren die Erziehungsberatungsstellen und ihre enge Zusammenarbeit mit den Schulen. Die erste Beratungsstelle wurde im Oktober 1922 eingerichtet, deren Beratungen einmal wöchentlich in der Amalienschule stattfanden. Im Februar 1923 kamen 2 weitere hinzu, eine geleitet von Kurt Weinmann in der Annaschule, eine andere von Else Sumpf in der Heimhauserschule und Frauenschule. 1928 wird von 5 Erziehungsberatungsstellen berichtet. 5 Sofie Freudenberg gibt 1928 einen ausführlichen Bericht über die Tätigkeiten der Münchener Erziehungsberatungsstellen in derZeit zwischen 1922-26. Sie waren von einer Arbeitsgruppe mit jeweils etwa 12 Mitarbeitern, Ärzten, Erziehern, Fürsorgerinnen getragen. Wie in Wien fanden die Beratungen öffentlich mit 20-40 Zuhörern statt. An einem dreistündigen Beratungsabend wurden 2-3 Kinder vorgestellt. Im Jahr 1926 war die Gesamtzahl aller Konsultationen an 30 Abenden 94. Häufig blieb es bei einmaligen Beratungen. Die Zahl der Erstkonsultationen stieg im Lauf der Jahre stetig an: 1922: 4; 1924: 25; 1925: 40; 1926: 39. In den Beratungsstellen gab es auch Vortragsabende und ab 1926 Spielund Bastelnachmittage für Schulkinder und Lese- und Arbeitsabende für schulentlassene Jugendliche (vgl. Freudenberg 1928).
4 Heinrich Jacobi aus Dresden, dann Berlin, arbeitete ab Mitte der 20er Jahre in Berlin mit Elsa Gindler in der Musik- und K ö r p e r p ä d a g o g i k zus a m m e n - u. a. daraus ging die »Konzentrative B e w e g u n g s t h e r a p i e « hervor. 5 Von-der-Tannstraße 2 (Seif) - Franz-Josefstraße 2 9 (Credner) - Wiedenmayerstraße 52 (Querfeld) - A n n a s c h u l e ( W e i n m a n n ) und Fürstenstraße 24 (v. L a n d m a n n ) (IZI 1928, S. X I I ) .
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Ähnlich wie in Wien waren auch die Münchener stark daran interessiert, individualpsychologische Grundsätze prophylaktisch in der Schule anzuwenden und die Klassengemeinschaft didaktisch zu nutzen. Die Schule war vor allem das Feld der beiden Lehrer Kurt Seelmann und Alfons Simon, die hierin eine eindrucksvolle Praxis entwickelten und darüber berichteten. Kurt Seelmann (1900-1987) gehörte zu den wichtigsten Mitarbeitern Seifs ab 1922 und prägte die Münchener Individualpsychologie bis zu seinem Tod. Er war Lehrer, ab 1939 Hauptlehrer, nach dem Krieg Direktor des Jugendamtes und Jugendtherapeut. In München war er vor allem später dadurch bekannt, daß er (ab 1955) die Elternbriefe »Pelikan« herausgab. Er war mehr Praktiker als Theoretiker, schrieb aber einige Aufsätze und populäre Bücher über sexuelle Aufklärung (vgl. Seelmann 1973; Mohr 1986; weiteres s. Kap. XVIII).
Ortsgruppe Berlin Die Berliner Ortsgruppe geht auf die Initiative des Arztes Fritz Künkel zurück, der 1924 nach Berlin gezogen ist. Damit war der Anfang für eine Ortsgruppe gelegt, die neben München ein bedeutendes Zentrum der Individualpsychologie werden sollte. Dies ergab sich bereits aus der kulturpolitischen Bedeutung Berlins, in dem sich alle intellektuellen und politischen Kräfte sammelten. Berlin war der magnetische Anziehungspunkt für kulturelle, wissenschaftliche und künstlerische Initiativen, für Revolution, Reform und Reaktion. Wollte die Individualpsychologie Anerkennung und Verbreitung gewinnen, war die »Eroberung« Berlins entscheidend, zumal die Psychoanalyse bereits seit 1920 hier ihren Hauptort neben Wien hatte. Schon aus diesem Grund lag das Augenmerk immer auf Berlin, fanden deshalb auch in Berlin zwei Internationale Kongresse statt (1925 und 1930) und war Adler sehr häufig zu Vorträgen und Kursen hier. Von der Berliner Ortsgruppe gingen produktive Impulse aus, die für die Individualpsychologie insgesamt von Bedeutung waren: Sie war zu eigenständiger Weiterentwicklung, zu Diskussionen und Publikationen in der Lage und gründete das einzige größere Ausbildungsinstitut. Für drei Jahre ist die Entwicklung der Ortsgruppe Berlin ganz 89
mit dem N a m e n Künkel verbunden. Dann kam Sperber, und Kunkel wurde zur - weiterhin einflußreichen - Gegenfigur. Egal, wie man Künkel beurteilt, so muß man ihn doch zu den anerkanntesten und bedeutendsten Individualpsychologen neben Adler zählen. Er ist einer, vielleicht der einzige, der die Adlersche Theorie weiterentwickelt hatte - freilich nicht zu Adlers Entzücken. Künkel war in der Lage, sowohl theoretisch anspruchsvolle als auch leicht verständliche Bücher zu schreiben; er war praktisch aktiv und darin offenbar auch ideenreich, und er hielt Kontakt zu Pädagogen und Ärzten. In seiner Zeit erschien in Berlin das »Mitteilungsblatt« und wird von ihm das Ausbildungsinstitut gegründet. Adler betrachtete Künkels Aktivitäten und seine Selbständigkeit, seine religiöse und wahrscheinlich auch seine politisch konservative Haltung offenbar mit wachsendem Unbehagen. 1927, nach der Gründung des Berliner Instituts, schickte er seinen jugendlichen, 22jährigen Schüler, Manes Sperber nach Berlin, der (nach dem Zuwachs an rechten Kräften in Wien nach dem »Justizbrandskandal« im Juli 1927) in Berlin in der KPD arbeiten will. Sperber, dynamisch, selbstbewußt, vielleicht auch heißspomig, mischte nun gleich kräftig mit, nahm seine beiden »Aufträge«, die Individualpsychologie und die KPD, gleichzeitig in die Hand. Künkel und Sperber - das konnte wohl nicht lange gut gehen. Allerdings schien es Künkel eine Zeitlang verstanden zu haben, die nun zentrifugal auseinanderstrebenden Kräfte zusammenzuhalten, und war in der Lage, die von Sperber initiierte politische Diskussion zu führen. In gewisserWeise haben sich beide sogar als streitende Partner verbündet, vor allem dann, als beide ihre Not mit Adler hatten. Trotzdem brach die Gruppe auseinander und wurde, zu einem zwar bedeutenden, aber ungebliebten Kind. Die Spaltung der Gruppe 1929 leitete ihren Zerfallsprozeß ein. Bei der Gründung der Berliner Ortsgruppe im April 1924 war Fritz Künkel der Vorsitzende, Groeger der Schriftführer, Otto Kaus der Kassenwart und Valentine Adler 6 (Adlers Tochter) die Bibliothekarin. Die Geschäftsstelle lag zunächst in Charlottenburg, Kantstraße 94, bald darauf, ab Juli 1924 in Dahlem, Falkenried 12. Das waren 6 Valentine Adler taucht 1924 und 1925 noch ein paar Mal auf, dann nicht mehr. Weiteres über sie s. Kap. XIII u. XIV.
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Künkels Privatadressen, die auch später immer wieder wechselten. Künkels Frau Ruth war von Anfang an mit aktiv, gründete 1924 bereits die 1. private Erziehungsberatungsstelle, in Dahlem. Angesichts der Fülle von Aktivitäten, Arbeitsgruppen und Publikationen, die sich in den folgenden Jahren entwickeln, muß man davon ausgehen, daß die Berliner Gruppe sehr groß war. Zahlenangaben oder Mitgliederlisten liegen nicht vor. Es ist aber gerade in Berlin einzubeziehen, daß die Zahl der Anhänger und der Aktiven die Zahl der Mitglieder sicher weit übersteigen. Solche »unorganisierten« Anhänger kamen vermutlich vor allem aus den Reihen der Linken - von denen Henry Jacoby der bekannteste ist. Häufig auftauchende Namen der Berliner Ortsgruppe sind neben dem Ehepaar Künkel und Manes Sperber: Otto Kaus, Otto Müller (-Main), Ada Beil, Hermann Laasch, Gottfried Kühnel, Edith Cohn, Herta Orgler, Alfred Appelt (ehem. München), Heinz (später Henry) Jacoby und Arthur Kronfeld. Die Treffpunkte des Vereins, der Arbeitsgruppen, der Kurse oder Beratungen wechselten ebenso wie die Geschäftsstelle und sind zum Teil private Adressen. Sie konzentrierten sich in den (bürgerlichen) Vierteln Charlottenburg, Steglitz und Wilmersdorf. 7 Die Aktivitäten der Berliner Gruppe umfassen Vorträge und Kurse, Arbeitsgruppen, Beratungen, Erziehungsheime und Ausbildung, Publikationen und die Ausrichtung zweier Internationaler Kongresse. Der Verein tagte im allgemeinen alle zwei Wochen, die Vorträge und Kurse nahmen an Häufigkeit im Lauf der Jahre zu. Eine ganze Reihe von diesen Vorträgen fanden öffentlich statt, unter anderem in der Lessing-Hochschule, im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, in der Humboldt-Hochschule, in der Sozialen Frauenschule und im Saal des Sozialwissenschaftlichen Clubs. Ab 1925 wurden regelmäßig die musikpädagogischen Heinrich-Jacobi-Kurse angeboten. Seit Oktober 1924 war auch Adler häufig, verstärkt Anfang der 30er Jahre, zu Besuch mit öffentlichen oder vereinsinternen Vorträgen.8 7 Häufig werden genannt: Wilhelmstraße 48, Rüdesheimerstraße 2, Lutherstr. 10, Steglitzerstraße 47, Pommersche Straße 7a, Hohenzollerndamm 3 und /.um Clubabend »Cafe Ulm« in der Kleiststraße 13. 8 Nach meinen bisherigen Ermittlungen war dies: im Oktober 1924, Oktober und Dezember 1928, Februar, April, Oktober und Dezember 1931, im Februar und März 1932 und bei den Internationalen Kongressen im September 1925 und 1930.
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Innerhalb des Vereins wurden Arbeitsgruppen oder Fachgruppen gebildet, so 1924 eine Pädagogische Arbeitsgruppe, 1927 eine Heilpädagogische und eine Marxistische, 1932 gab es die Arbeitsgruppe für Ärzte. Die Entwicklung der Beratungsstellen ging von der Initiative Ruth Künkels 1924 aus, die sie bis 1926 noch allein betrieb. Ab 1927 kommen neue hinzu, so daß es 1927 drei, 1928 sieben und 1930 sechs waren. Getragen werden sie im wesentlichen von Ruth und Fritz Künkel, Ada Beil, Otto Müller, Manes Sperber, Edith Cohn, Sidonie Reiß. Es handelte sich vorwiegend um Erziehungsberatungsstellen, aber auch solche für Jugendliche und f ü r Ehefragen. Fritz Künkel bot darüber hinaus eine »Psychopathenberatung« an. Die - jeweils stundenweisen - Beratungen fanden in Privaträumen, Schulen oder an Vereinsorten statt. 9 Es gab im Lauf der Zeit zwei Erziehungsheime, und zwar 1926/ 1927 eines in Frohnau/Hermsdorf (Oranienburger Chaussee 53) unter Leitung von Annemarie Richter-Wolff 1 0 und 1927 eine heilpädagogische Anstalt für männliche Jugendliche in Falkenhein, unter Leitung von Ada Beil. Seit 1927 konzentriert sich alle Aufmerksamkeit auf die Institutsgründung und Durchführung der Lehre. 1928 schließt die Berliner Gesellschaft ihre Ausbildungs- und Beratungseinrichtungen zu einem »Individualpsychologischen Institut« zusammen, das sich gliedert in: I. Seminar, II. öffentliche Beratung, III. Fachgrup9
Im einzelnen wurden, über die Jahre hinweg, f o l g e n d e Orte genannt: Falkenried 12, Paulsenstr. 39, Lutherstr. 10, Flora-Realschule, Stuttgarterstr. 52, Stegitzerstr. 47, Blumenstr. 97 (Kinderhaus), Goethestr. 22 (Jugendheim), Bayerstr. (Kinderhort), Jüdischer Frauenbund, P o m m e r s c h e Str. 7a, Achenbachstr., Augustastr. (Jüdische Kinderhilfe) und
Jugendamt
Neukölln. 10 Über das F r o h n a u e r Kinderheim von A n n e m a r i e Richter-Wolff wissen wir inzwischen einiges m e h r durch Zeitzeugen. Als heilpädagogisches Heim b e h e r b e r g t e es sowohl Kinder aus zerrütteten Familien, die durch Jugendund W o h l f a h r t s ä m t e r zugewiesen wurden, als auch Kinder sozialistischer, k o m m u n i s t i s c h e r und meist jüdischer Eltern. In der Zeit des Nationalsozialismus m u ß t e A n n e m a r i e Richter-Wolff mit einem Teil dieser Kinder in verschiedenen anderen Bezirken Berlins untertauchen, sie w u r d e mehrmals verhaftet, bis sie mit den Kindern nach Jugoslawien emigrierte, dort aber 1944 in ein K Z kam und 1945 dort u m g e k o m m e n ist (vgl. Goldberg 1994, S. 216ff.).
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pe ausübender individualpsychologischer Pädagogen (IZI 1928, S. XIX). Die Leitung der Ausbildung hatten 1927 Fritz Künkel und Otto Müller. Als Lehrende werden unter anderem genannt: Manes Sperber, Otto Müller, Gottfried Kühnel, Sidonie Reiß, Franz Schauer, Ruth Künkel, Albert Jovishoff, später auch Arthur Kronfeld und Jehoschua Bierer. Die Berliner Gruppe trat insgesamt sehr stark mit Publikationen hervor. Die wichtigsten und zahlreichsten Einzelveröffentlichungen und Bücher stammten von Fritz Künkel. Eine Reihe von Aufsätzen wurde von Otto Müller, Otto Kaus, Manes Sperber, Ruth Künkel, Heinz Jacoby und Edith Cohn geschrieben. 1926 gaben Fritz und Ruth Künkel und Otto Kaus die Schriftenreihe »Mensch und Gemeinschaft« heraus. Ab Januar 1926 erschien monatlich das »Mitteilungsblatt« aller Sektionen des Internationalen Vereins, unter der Schriftleitung von Ada Beil. Es trug zuerst den Titel »Gemeinschaft«, ab Januar 1927 - unter dem Einfluß von Künkel - den Titel »Sachlichkeit«." Im Geleitwort stellt Ada Beil die Individualpsychologie als »Anschauung der Gesamtheit des Lebens« vor, als Psychologie der Gesamtpersönlichkeit. Sie diene »all denen, welche Gemeinschaft und Leben als unendliche Aufgabe fassen« (Beil 1926). Das »Mitteilungsblatt« enthielt Nachrichten aus den Sektionen und übernahm damit die Funktion der Chronik in der IZI. Die Berliner Ereignisse, vor allem die Aktivitäten der Linken - die in der IZI kaum mehr berücksichtigt wurden - erhielten allerdings besonderes Gewicht. Das Blatt brachte aber auch kleine Beiträge und Diskussionen. Mit der 1. N u m m e r im Jahr 1928 wurde Ada Beil von der Schriftleitung durch Sperber abgelöst. Zugleich kündigt der Vorstand (Künkel und Otto Müller) an, daß »Sachlichkeit« ab der nächsten N u m m e r als Beiblatt zur neuen Zeitschrift für »Individualpsychologische Pädagogik und Psychohygiene« (IPP) erscheinen wird. Diese Zeitschrift IPP wurde von Sperber ab März 1928 herausgegeben, hatte aber mit 10 Nummern bis Ende des Jahres nur ein kurzes Leben. Mit ihrem Ende wurde zugleich auch ihr Beiblatt 11 »Sachlichkeit« bedeutet bei Künkel das Pendant zu Ichhaftigkeit und ersetzt den Begriff G e m e i s c h a f t s g e f ü h l .
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»Sachlichkeit« eingestellt. Sperber strebte mit der IPP eine Zeitschrift für »angewandte Individualpsychologie« an, die der Prophylaxe der Neurose dienen sollte. Er versteht die Individualpsychologie als eine »dialektische Wissenschaft«, die in Theorie und Praxis an Veränderungen mitwirken wolle und als Sozialpsychologie Stellung nehme gegen all diejenigen »Kräfte in unserem gesellschaftlichen Leben, die die Realisierung der Gemeinschaft unmöglich machen« (Sperber 1928). Im Frühjahr 1929 kommt es zur Spaltung der Ortsgruppe, die eindeutig eine politische Spaltung zwischen Sperber und Künkel darstellt. Es gibt nun zwei Gesellschaften: die »Berliner Gesellschaft für Individualpsychologie« und den »Neuen Verein Berliner Individualpsychologen«. Den Vorsitz der »Berliner Gesellschaft« (ab 1930 Sektion I) hatten M. Sperber und Otto Müller-Main inne, ab 1930 gehörten noch Ruth Künkel und Edith Cohn dem Vorstand an. Die Geschäftsstelle hatte Otto Müller-Main, Hindenburgstraße 90a. übernommen. Vorsitzende des »Neuen Vereins« (ab 1930 Sektion II) waren Künkel und Appelt, mit der Geschäftsstelle bei Fritz Künkel, Pommersche Straße 7a. 12 Die Leitung des Instituts hatte 1929 Arthur Kronfeld 13 übernommen, vermutlich deshalb, weil er weniger eng in die Individualpsychologie eingebunden und deshalb neutraler war. In der Zeit der Spaltung der Berliner Gesellschaft boten beide Sektionen sowohl getrennte als auch gemeinsame Veranstaltungen an.
12 Ruth Künkel gehörte somit d e m Verein ihres M a n n e s nicht an. Sie lebten u m diese Zeit nicht m e h r z u s a m m e n und waren dann geschieden. Ruth Künkel starb im J a n u a r 1932. Im gleichen Jahr (Juni) heiratete Fritz Künkel erneut (Elisabeth Künkel). - Unklar ist, w a r u m Appelt zur KünkelG r u p p e gehörte, obgleich er doch 1932 in der Buchveröffentlichung der Berliner dialektisch-marxistischen Fachgruppe mit einem marxistischen A u f s a t z hervortritt. 13 Arthur Kronfeld, (1886-1941) war in Berlin ein renommierter, sehr vielseitiger Psychiater, a.o. Professor seit 1931, Mitglied in vielen Vereinen, ab A n f a n g der 20er Jahre Leiter der Abteilung für seelische Sexualstörungen am Institut für Sexualwissenschaft (Hirschfeld-Institut), Mitglied der S P D und Mitglied im Verein sozialistischer Ärzte. In der Berliner G r u p p e trat er erstmals 1925 mit einem Vortrag auf (s. Kronfeld 1926) und schrieb in den folgenden Jahren eine Reihe von Artikeln zur Individualpsychologie (vgl. Kittel 1986 u. 1988).
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Vor dem Internationalen Kongreß in Berlin 1930, möglicherweise unter dem Einfluß seiner Vorbereitung, kommt es zu einer (vorübergehenden) »Wiedervereinigung« und damit Reorganisation der Berliner Ortsgruppe. Die beiden bisher getrennten Vereine werden als Sektionen eines Spitzenverbandes (»Berliner Verein«) zusammengefaßt. Vorsitzender dieses Spitzenverbandes ist A. Kronfeld, mit den Vorständen Otto Müller-Main, Alexander Neuer, Edith Cohn und Elisabeth Beilot. Vermutlich hatten sich 1931 die Gegensätze wieder zugespitzt. Jedenfalls tritt Kronfeld 1931 vom Berliner Verein und vom Vorsitz des Instituts zurück. Ab da wird es ziemlich still um Berlin, zumal inzwischen sowohl Sperber als auch Künkel mit Adler zerstritten waren. In der IZI-Chronik ist nur die »Berliner Gesellschaft« unter Leitung von Otto Müller-Main aufgeführt, über Aktivitäten wird wenig berichtet. 1932 taucht zunächst Berlin in der Liste der Ortsgruppen nicht mehr auf, dann erfolgt eine neue Initiative: Es erscheint eine »Individualpsychologische Gruppe in Berlin« unter Vorsitz von Annie Heinrichsdorff und eine »Arbeitsgruppe individualpsychologischer Ärzte in Berlin« unter Vorsitz von Wilhelm Brandt. Beide Gruppen organisieren Vorträge unter anderen mit Alexander Neuer, Otto Kaus, Alexander Müller. 1933 wird noch ein Lehrgang in Trisemestem im »Klubhaus am Knie« 14 angekündigt, mit folgenden Lehrenden: Alexander Müller, Wilhelm Brandt, Paul Fischl, Otto Kaus, Alexander Neuer, Sidonie Reiß und Hertha Orgler. Die Spaltung der Berliner Gesellschaft war der Chronik der IZI kommentarlos zu entnehmen. Daß es eine politisch Spaltung war, ist der Konstellation Sperber-Künkel und den Kommentaren an anderen Stellen zu entnehmen. Im »Zentralblatt für Psychotherapie« (ZB) wird 1930 von einer »soziologisch-dialektischen« Gruppe um Sperber und einer »sinndeutenden Psychologie« um Künkel gesprochen (ZB 1930, S. 197). Sperber selbst gibt 1931 in derselben Zeitschrift eine polemische Erklärung (»Rundschreiben«) ab: Die jetzige Berliner Gesellschaft wolle die »soziologische Fragestellung« in der Individualpsychologie verfolgen und dafür den Marxismus als Grundlage betrachten und Wissenschaft als dialektisch-materialistische verstehen. Ihre Mitglieder müßten keine entschiedene Marxisten sein, dürften sich durch ihn aber nicht belei14 »Knie«: heute Ernst-Reuter-Platz.
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digt fühlen. Nichtprofessionelle und solche individualpsychologischen Mitglieder, die aus Dankbarkeit immer nur hören wollten, daß die Individualpsychologie die alleinseligmachende Lehre sei, hätten hier keinen Platz, da diese ein wichtiger Stock des Sektierertums seien. Die andere Richtung »suchte eine Fundierung der sinndeutenden Psychologie ... in Fundamenten des Wesens von Individualität« (Sperber 1931, S. 351ff.). In der Veröffentlichung der »Fachgruppe für dialektisch-materialistische Psychologie« von 1932 wird im Vorwort ebenfalls auf die Differenz mit Künkel hingewiesen, allerdings in einem freundschaftlichen Ton, der auf die Diskussionsbereitschaft Künkels hinweist. Es heißt: »Künkel verneint unsere dialektisch-materialistische Arbeitsweise; er anerkennt aber die soziale Problematik in der Psychologie, und eine mehijährige, kontradiktorische Diskussion hat ihn uns - wenn auch antithetisch - verbunden.« Zu drei Berliner Individualpsychologen, die auch heute noch bekannt sind, Fritz Künkel, Manes Sperber und Henry Jacoby seien noch kurze biographische Anmerkungen angefügt. Fritz Künkel (1889-1956) ist zweifellos einer der bekanntesten, einflußreichsten und produktivsten Individualpsychologen der 20er und 30er Jahre gewesen und ist auch heute der Autor, der neben Adler innerhalb der Individualpsychologie am häufigsten zitiert wird und dessen Bücher schon seit Jahren wieder aufgelegt werden. Künkel ist allerdings seinen eigenen Weg gegangen, worüber es zum Bruch mit Adler kam. Geboren 1889 in Stolzenberg bei Landsberg/Warthe (gest. in Los Angeles) studierte Künkel ab 1907 in München Medizin und wurde bald nach seinem Studienabschluß in den Krieg eingezogen. Er lebte dann in der Nähe von München (Eichenau), lernte Seif und Adler kennen, ging 1924 nach Berlin als niedergelassener Nervenarzt und baute hier mit seiner Frau Ruth die individualpsychologische Gruppe und die Beratungsstellen auf (s. Kap. XI). Neben der Psychotherapie war er in der Wohlfahrtspflege, Sozialpädagogik und Heimerziehung beratend und ausbildend tätig (Sperber 1975, S. 189). Er bewegte sich in protestantischen Kreisen, war aktiv in der Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie und gehörte in der NS-Zeit zu den führenden Psychotherapeuten. Künkel schrieb eine Fülle von Büchern, die sich allerdings in
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vielem wiederholen. Sie beinhalten Menschenkenntnis und Anleitung zur Selbsterziehung, »Philosophie« und Weltanschauung. Sie scheinen enorm verbreitet gewesen zu sein, vermutlich in Kreisen gebildeter »Laien«, die gerade das - heute so ermüdende - Geisteswissenschaftlich-Philosophierende, den Hang zur »Tiefe« und das Belehrende Künkels besonders ansprach - Rattner (1979) spricht von »Predigtstil« (S. 162). Die soziale Verankerung des Menschen ist für ihn selbstverständlich. Künkel war bewußt konservativ, er galt als deutschnational (Sperber 1975, S. 138) und betont protestantisch. Gleichwohl war er zumindest so weit für andere Standpunkte offen, als er sie zur Kenntnis nahm und diskutierte. So schrieb auch Sperber: »Wir waren Gegner, aber diskutierten gern« (1975, S. 170). Er war innerhalb der Individualpsychologie wohl anerkannt und respektiert, aber er wurde auch kritisiert. Adler war ihm offenbar schon lange mit Mißtrauen begegnet. Künkels christliche und politische Position muß ihm mißfallen haben, aber sicher hatte es Adler auch nicht ertragen können, daß Künkel eigene Wege ging. Bereits anläßlich Künkels erstem Buch, »Einführung in die Charakterkunde« (1928), entbrannte innerhalb der Individualpsychologie eine heftige Debatte, wozu es sonst eher selten kam. Wexberg (1928) und Neuer (1928a) schrieben länger darüber in der IZI, in der Berliner Zeitschrift »Sachlichkeit« beziehungsweise IPP entspann sich 1928 eine Diskussion zwischen Künkel, Müller, Kühnel und Ada Beil. Manes Sperber (1905-1984): Weit über die Individualpsychologie hinaus und unabhängig von ihr ist Sperber der bekannteste der besprochenen Personen, und zwar als Romancier, Autobiograph, Essayist und politischer Schriftsteller. Sperber hatte sich ab 1917 in der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung in Wien engagiert und wurde ab 1921 (löjährig) in den Kreis Adlers aufgenommen. Zwischen Adler und Sperber entwickelte sich bald eine persönliche Beziehung, Sperber galt als »Lieblingsschüler«, was von den anderen Mitgliedern offenbar mißgünstig beobachtet wurde. 1926 durfte er eine Monographie über Leben und Werk Adlers schreiben, die ein »Lobgesang« auf den »Meister« wurde, wie es Sperber später selbst bezeichnete (1975, S. 128). Diese Stellung änderte sich in seiner Berliner Zeit ab 1927, im Zusammenhang mit seinen
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kommunistischen Aktivitäten. Er hielt Vorträge und Vorlesungen in der individualpsychologischen Gruppe und im Institut, gründete eine marxistische Arbeitsgruppe und hielt Vorträge in politischen Kreisen, in der Marxistischen Arbeiterschule der K P D (MASCH), bei der (anarchistischen) Sozialistischen Jugend. Er hielt auch Kurse am Sozialpolitischen Seminar der Preußischen Hochschule für Politik, an Ausbildungsinstitutionen für Fürsorger und Heimerzieher und war Berater an der Berliner Zentrale für Wohlfahrtspflege, gab Kurse für Fürsorger, Sozialpädagogen, Jugendgericht, und anderes mehr (Sperber-Katalog 1987, S. 27). Seine Kritik an Adler, niedergelegt vor allem in einem Aufsatz von 1932 (Sperber 1932a), brachte beide in zunehmend feindliche Haltung zueinander. Gleichwohl atmet der in der Pariser Emigration geschriebene Essay »Die Analysis der Tyrannis« (1937), der im Zusammenhang mit seinem Bruch mit dem Kommunismus (Stalins) steht, individualpsychologischen Geist. In den 70er Jahren wendet er sich in kritischer Solidarität wieder Adler zu, schreibt sein - überaus lesenswertes - Buch über Geschichte und Theorie der Adlerschen Psychologie,»Elend der Psychologie« (1970), und veröffentlicht 1978 seine individualpsychologischen Vorlesungsmanuskripte aus den frühen 30er Jahren (Sperber 1934; vgl. Sperber 1975, Bottome 1939 u. Sperber-Ausstellungskatalog 1987; s. Kap. XIV). Heinz (später Henry) Jacoby, (1905-1986) war nie als Mitglied in der Individualpsychologie verankert, schrieb aber einige Artikel in der IZI sowie über marxistische Individualpsychologie 1930 in der Zeitschrift »Aufbau« und setzte die Individualpsychologie in seiner praktischen Arbeit als Sozialarbeiter um. Ähnlich wie Sperber wandte er sich nach einer Adler-kritischen Phase in den frühen 30er Jahren später erneut positiv der Individualpsychologie zu mit seinem Buch »Dialektische Charakterkunde« (1974). Jacoby war ab 1920 Mitglied einer anarchistischen und pazifistischen Jugendgruppe (»Freie Jugend«) gewesen. Im »Antikriegsmuseum« von Emst Friedrich, an dessen Aufbau er beteiligt war, wurde er durch Vorträge von Otto Rühle, Otto Kaus, später auch Manes Sperber, mit der Individualpsychologie vertraut gemacht. Über Otto Rühle hatte Jacoby dann auch Kontakt zu den (ebenfalls anarchistischen) Kreisen der »Allgemeine Arbeiterunion (Einheit)« (AAUE) und dem »Aktionskreis« (Pfemfert). Er wurde hier Anhänger und
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Freund von Rühle. Jacoby arbeitete als Sozialarbeiter vor allem in der Jugendgerichtsfürsorge. 1934 wurde er verhaftet. Nach 2 Jahren Zuchthaus kam er 1936 über Prag, Paris und französische Konzentrationslager 1940 schließlich in die USA, von wo aus er später als UNO-Angestellter nach Genf übersiedelte. In diesen späteren Zeiten veröffentlichte er eine Reihe von Büchern über Sozialismus, Bürokratie und über Otto Rühle, dessen Nachlaß er verwaltete. In zwei Bänden stellte er seine eigene politische Biographie dar (1980, 1982).
Internationale Kongresse Neben den regelmäßigen Treffen und Veranstaltungen der einzelnen Ortsgruppen gab es mehr oder weniger regelmäßig größere Treffen oder Tagungen der Wiener Gruppe, zum Teil mit anderen Ortsgruppen, vor allem der Münchener. So trafen sie sich ab 1922 jährlich bei Salzburg oder auch in anderen Städten. 1932 - in der Zeit, in der Adler meistens in den USA weilte - wurde eine »Sommerschule« in Semmering veranstaltet, eine Tradition, die dann von der Münchener Gruppe fortgesetzt wurde. In den Jahren 1922 bis 1930 fanden 5 Internationale Kongresse statt, die für die Darstellung nach außen und für die Festigung der Organisation und des Gefühls der Zusammengehörigkeit natürlich bedeutsam waren. Im wesentlichen waren es deutsch-österreichische Kongresse: I. 8.-10. Dezember 1922, München II. 5.-7. September 1925, Berlin III. 26.-29. September 1926, Düsseldorf IV. 16.-19. September 1927, Wien V. 26.-28. September 1930, Berlin Für 1934 war in Wien ein Kongreß geplant, der aber angesichts der politischen Entwicklung in Deutschland und Österreich nicht stattfinden konnte. Die Kongresse waren auch in dem jeweiligen Ort ein öffentliches Ereignis, Adler hielt meist eine Eröffnungsrede vor hunderten von Menschen. Der Berliner Kongreß 1930 scheint mit 2000 oder mehr Zuhörern ein Höhepunkt gewesen zu sein. Auf dem Programm standen stets Fragen der klinischen Psycho99
logie gleichberechtigt neben pädagogischen Themen als die beiden Hauptthemen. Daneben gab es immer auch Vorträge zur Literaturpsychologie, Strafrecht/ Justiz und Soziologie/ Sozialpsychologie, vielfach auch zur Religionspsychologie und Philosophie. Ab dem Kongreß 1925 waren die Vorträge durch Hauptthemen strukturiert. Ein außenstehender Berichterstatter hebt - etwas verwundert aber wohlwollend, die weltanschauliche und politische Prägung der Referenten hervor und ihre Verankerung bei medizinischen Laien. 1931 betont er besonders, daß die Individualpsychologie nun die Brücke zur Klinik geschlagen habe (Kankeleit 1931).
Ausbildung Die vielen Vorträge und Kurse, die Möglichkeit, bei den Beratungen als Zuhörer dabei zu sein, und die populären Schriften dienten einem großen Kreis von Menschen der Einführung in die Individualpsychologie und der Fort- und Weiterbildung. Hierfür wurde in den 20er Jahren viel angeboten. Anders stand es mit der formalisierten Ausbildung im Sinn einer Professionalisierung. Diese hatte lange Zeit keine große Rolle gespielt, denn eigentlich war jeder willkommen, der mitarbeiten wollte, die individualpsychologische Praxis war kein Beruf und sollte es auch gar nicht sein. Trotzdem gab es in Wien seit 1926 Diplome und seit 1927 eine Ausbildung in Berlin. Der Gedanke an eine formalisierte Ausbildung kam also erst spät, und sicher spielte hierbei der Druck von außen eine Rolle, denn zum einen hatten die Psychoanalytiker in Berlin bereits seit 1920, in Wien seit 1924, ein Ausbildungsinstitut, zum anderen war die Frage der Ausbildung bei den ärztlichen Psychotherapeuten, die sich ab 1926 zu organisieren begannen, von Anfang an von großer Bedeutung, um sich sowohl vor dem (psychiatrischen) Vorwurf der »Kurpfuscherei« zu schützen als auch, um die kassenärztliche Anerkennung zu bekommen. Da die Individualpsychologie in diesem Kreis Fuß fassen wollte, mußte auch sie sich um eine Ausbildungsmöglichkeit kümmern. So wurde in Wien im November 1925 die Verleihung von Diplomen beschlossen, die ab 1926 ausgestellt wurden, und im Frühjahr 1927 wurde das Berliner Ausbildungsinstitut gegründet. Für die Er100
langung des Diploms in Wien war eine theoretische und eine praktische Ausbildung erforderlich. Die theoretische Grundausbildung verlief in Kursen, wohl über 2 Semester an je 2 Abenden in der Woche. Für die praktische Ausbildung mußte begleitend einmal wöchentlich ein mehrmonatiges Praktikum in einer Beratungsstelle absolviert werden, das mit einer praktischen Prüfung abgeschlossen wurde. Soweit es Lehranalysen gab, waren diese wohl nicht verbindlich. In der Wiener Ausbildung wirkten als Lehrende unter anderem Alice Friedmann, Leopold Stein, Erwin Wexberg, Olga Oller, Regine Seidler und Alexander Neuer mit. In Berlin war die Ausbildung formalisierter. 1928 wird eine Staffelung der Ausbildungszeit für die Angehörigen verschiedener Berufsgruppen von 4 bis 10 Monaten angeboten (IZI 1928, S. XIX): Für Kindergärtnerinnen und Erziehungsberater dauerte sie 4 Monate, für Pädagogen 10 Monate. Die vollständige Ausbildung umfaßte 3 Trisemester, also einen Jahreslehrgang. In einem Lehrplan wurde festgelegt, welche theoretischen und praktischen Kurse für welche Berufsgruppe obligatorisch waren. Ein Kurs umfaßte 2-12 Stunden. Da die Ausbildung berufsbegleitend war, feinden die meisten Kurse am Abend statt. Neben diesen Kursen waren praktische Übungen, Lehranalyse zweimal wöchentlich und eine wissenschaftliche Arbeit vorgeschrieben. Es wird kaum näher spezifiziert, wozu ausgebildet wurde beziehungsweise wird kein professioneller Anspruch formuliert. Aus dem Berliner Institut hieß es nur, daß »Kenntnisse und Erfahrungsmöglichkeiten ... zum selbständigen Weiterarbeiten als Forscher, Lehrer oder Heilpädagoge« vermittelt werden (IZI 1927, S. XII). Von einer Ausbildung zum Psychotherapeuten war nicht die Rede. Das mag einerseits mit dem Schwerpunkt »Beratung« zusammenhängen, zum anderen mit dem Problem der »Laienanalyse«, das den Individualpsychologen, wie auch den Psychoanalytikern, von den Ärzten aufgedrängt wurde. In Wien hatte die Ausstellung der Diplome zu einer Anzeige der Ärztekammer geführt, woraufhin sowohl unterschiedliche Diplome für Ärzte und Nichtärzte eingeführt wurden als auch die Mitglieder in der Beratung auf die strenge Beschränkung ihrer Tätigkeit verpflichtet wurden (vgl. Handlbauer 1983, S. 130ff.). Der Prozeß der Professionalisierung war mit der Institutionalisierung der Ausbildung eingeleitet, aber er gedieh noch nicht weit. 101
Individualpsychologie und die ärztlichen Psychotherapeuten Adler und die Individualpsychologie hatten trotz ihrer pädagogischen Orientierung Interesse daran gezeigt, in Kreisen von Ärzten aller Richtungen, Psychiatern und ärztlichen Psychotherapeuten Anerkennung und Verbreitung zu finden. Adler war dies bis Mitte der 20er Jahre auch gelungen. Er konnte vor medizinischem Publikum sprechen und in den Organen der verschiedenen ärztlichen Sparten publizieren oder dort wenigstens Beachtung finden. Er wurde auf psychiatrischen Kongressen, in psychiatrischen Zeitschriften immer wieder genannt, besonders 1913 (nach Erscheinen des »Nervösen Charakters«) und 1925. Ebenso wurden seine Bücher dort rezensiert - diese Rezeptionen wurden nun in zwei Dissertationen im einzelnen untersucht (Busch 1994; Salier 1994). Der Kontakt zu den ärztlichen Psychotherapeuten wurde für die spätere Zeit der folgenreichste; bei ihnen gewann die Individualpsychologie als die zweite große Schule der Tiefenpsychologie an Gewicht. Vor dem Hintergrund einer »Krise der Medizin« (Baader 1984. S. 85), gewannen die biologische Medizin, Psychohygiene und Psychotherapie an Boden. Durch die Initiative des Psychohygienikers Robert Sommer und des Psychiaters Wladimir Eliasberg, fand der 1. Allgemeine Ärztliche Kongreß für Psychotherapie im April 1926 in Baden-Baden statt. Die Stoßrichtung war klar gegen Schulmedizin und Psychiatrie gerichtet. In der Eröffnungsrede des Kongresses umriß Eliasberg die Programmatik gegen den »Materialismus« der Medizin und für eine Behandlung, die die Individualität als Ganzes, die leib-seelische Einheit im Blick habe. Ziel der Gesellschaft war auch die Anerkennung der Psychotherapie bei den Krankenkassen (Eliasberg 1927, S. 6 f f . ) ' 5 (weiters. Kap. XVIII). 15 In der Denktradition, ganzheitliche und anti-mechanistische S t r ö m u n g e n mit Irrationalismus o d e r Deutschtümelei gleichzusetzen, und im Blick darauf, daß diese Gesellschaft sich bereits 1933 »gleichgeschaltet« hatte, sieht C o c k s (1975) in dieser P r o g r a m m a t i k bereits eine Affinität zum Nationalsozialismus. Das ist sicher nicht richtig und übergeht dabei die Haltung der Ärzteschaft insgesamt, die schon in der Weimarer Republik zum großen Teil weit rechts stand und sich o h n e U m s c h w e i f e zum Nationalsozialismus bekannte. Die Psychotherapeuten haben sich in diesen Fragen nicht besonders hervorgetan.
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Die Individualpsychologie hatte, anders als die Psychoanalyse, sofort versucht, hier Fuß zu fassen. Adler und die Individualpsychologen Künkel, Seif und Wexberg gehörten zum einladenden Komitee des 1. Kongresses. 16 Die Individualpsychologen Seif und Allers referierten (Seif 1927, S. 225), 11 Individualpsychologen nahmen am Kongreß teil. Auf dem 2. Kongreß im April 1927 (Bad Nauheim) wurde die »Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie« mit dem Organ »Zentralblatt für Psychotherapie« gegründet. Auf der Mitgliederliste dieser Gesellschaft (400 Mitglieder) von 1928 lassen sich einige Individualpsychologen oder ihr Nahestehende ausmachen: Credner, Seif, Weinmann (München); Fürnrohr (Nürnberg), Sumpf (Hindelang); Klopfer, Kronfeld, Kühnel, Künkel (Berlin); M. H. Göring (Elberfeld); E. Rieniets (Hamburg); Adler, Wexberg, Neuer (Wien); Merzbach, Lenzberg (Frankfurt); Mohr (Koblenz). Auf dem Kongreß 1927 waren die Individualpsychologie und der Vergleich zur Psychoanalyse mehrmals Gegenstand der Referate und Diskussionen, vertreten durch Künkel, Weinmann, August Homburger und Rudolf Allers 17 . Auf dem dritten Kongreß 1928 in Baden-Baden ist der Individualpsychologie ein ganzes »Hauptreferat« gewidmet, zu dem die Individualpsychologen Seif, Wexberg und Künkel und als Gegenreferenten Schultz-Hencke und Paul Schilder sprechen. Zusätzlich gibt es dazu Einzelreferate unter anderem von Kurt Weinmann, Ernst Speer, Oswald Schwarz. Wexberg spricht für die Individualpsychologie das Schlußwort. Dort kennzeichnet er die beiden gegensätzlichen Umgangsweisen mit der Individualpsychologie: »Während Schilder die Individualpsychologie durch Negation bekämpft, will Schultz-Hencke sie durch Zustimmung umbringen« (Eliasberg u. Cimbal 1929, S. 80). Bei den anderen Referaten und Diskussionsbemerkungen wird immer wieder kritisch die Werthaftigkeit, das Weltanschauliche, Ethische und die Simplizität der Begriffe gegen die Individualpsychologie angeführt. Von Hattingberg 16 Neben Binswangen Bleuler, Eliasberg, Goldstein, Kretschmer. Kronfeld, W. Reich, E. Simmel, Speer, Schultz, v. Weizsäcker u. a. 17 Allers bezeichnet sich zu dieser Zeit als »Gegner der Psychoanalyse« und »als nicht den orthodoxen Anhängern der Individualpsychologie zugehörend« (IZI 1927, S. 309; Lenzberg).
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bezeichnet dann die Individualpsychologie als »Psychologie für Oberlehrer« (Neuer 1928b, S. 325)' 8 - eine Kennzeichnung, die der Individualpsychologie noch lange anhalten wird.
18 N e u e r k o n t e r t d a g e g e n , d i e s sei » d i e g l ü c k l i c h s t e F o r m u l i e r u n g f ü r Individ u a l p s y c h o l o g i e « , d e n n » d i e I n d i v i d u a l p s y c h o l o g i e heilt, i n d e m sie erz i e h t « ( 1 9 2 8 b , S. 3 2 5 ) .
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XII. Individualpsychologie und die Praxis in der Reformbewegung
Reformbewegung in Wien und die Rolle der Psychologie Im folgenden werde ich mich bei der Darstellung der Praxis der Individualpsychologie in der Reformbewegung schwerpunktmäßig auf Wien konzentrieren, denn Wien war für sie nicht nur der Ausgangsort, sondern blieb das Zentrum aller individualpsychologischen Praxis. Das war nur möglich, weil die Individualpsychologie hier in eine Reformbewegung eingebettet war, die in ihrem Umfang und in ihrer Homogenität beispiellos war. Sie war selbst Teil dieser Bewegung und konnte daher ihre Praxis hier voll entfalten. Die politischen Umwälzungen in Wien und die reformerische Aufbauarbeit wurden das Umfeld, in dem die Individualpsychologie zu einer Schule heranwuchs und den Charakter einer Bewegung annahm.
R e f o r m in Bildung und Erziehung Das Ende des Krieges 1918 hat ein zerschlagenes Österreich und eine revolutionär gesinnte Bevölkerung zurückgelassen. Österreich wurde Republik. 1920 wurde Wien ein eigenes Bundesland in der Hand der Sozialdemokratie, Wien wurde das »Rote Wien«, eine Enklave der Arbeiterbewegung. Für die Sozialdemokratie bot sich nun die Möglichkeit, mit dem »Neuen Wien« ein Stück Sozialismus zu realisieren. In keiner anderen Stadt und in keinem ande-
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ren (deutschen und österreichischen) Bundesland wurde die Reformpolitik so konzentriert und so weit entwickelt wie hier. Wien pulsierte von Ideen und Reformeifer, veränderte die Steuerpolitik, das Gesundheits- und Sozialwesen, den Wohnungsbau und das gesamte Erziehungs- und Bildungswesen. Neu eingerichtet oder umgestaltet wurden im Fürsorge- und Gesundheitswesen die Kindergärten, Horte, schulärztlichen Dienste, Mütter- und Erziehungsberatungstellen. Der ganze Bereich der Schul-, Lehrer-, und Volksbildung wurde reformiert. Das Rote Wien war durchdrungen von der antiklerikalen »sozialistischen Kulturbewegung« (Wandruska 1954, S. 458), getragen von der pädagogischen Vision vom »Neuen Menschen« (Max Adler 1924). Die Reform in Bildung und Erziehung und in der Kinder- und Jugendfürsorge war in der Folge des Krieges und der revolutionären Ereignisse aus zwei Gründen in Deutschland und Österreich vordringlich geworden. Einerseits drohte durch das große materielle Elend, durch Hunger und Wohnungsnot und durch das kriegsbedingte Auseinandereißen der Familien die Vernachlässigung und Verwahrlosung der Kinder und Jugendlichen. Andererseits erfor derte der Wandel der Gesellschaft von einer Monarchie zu einer Demokratie die Überwindung bisheriger qualifikatorischer und vor allem ideologischer Strukturen vom Kindesalter an. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft bedurfte des »neuen Menschen«, durch eine demokratische Bildung und Erziehung. Die Notwendigkeit der Bildungs- und Erziehungsreform selbst wurde von allen Parteien und Interessengruppen anerkannt und war unbestritten. Umstritten und Gegenstand heftigster Kämpfe war dagegen die inhaltliche Konkretisierung dieser Reform. Kernstück der Reform im Erziehungsbereich war die Schulreform. Es ging um eine Vereinheitlichung des Bildungsangebots durch die »Allgemeine Mittelschule« (bzw. »Einheitsschule«), um die Weltlichkeit der Schule und um neue Inhalte. Sie war in Wien mit dem Namen Otto Glöckel, des Präsidenten des Wiener Stadtschulrats verbunden und galt international als vorbildlich. Aber gerade die Schulreform gehörte zu den Bereichen, die von der christlich-sozialen Bundesregierung am heftigsten angefochten wurde, was sich zu einem regelrechten »Schulkampf« ausweitete, in dem, wie Rumpier 1981 zu Recht meint, der Kampf um die Sonderstellung Wiens und um die sozialdemokratische Politik ausgetragen
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wurde. So wurde die Reform dadurch beschnitten, daß sie nur in Gestalt zeitlich begrenzter Schulversuche oder Versuchsklassen von der Regierung genehmigt wurde, und selbst dies wurde zum großen Teil 1927 wieder zurückgenommen. Die Schulreform bedurfte zu ihrer Realisierung begleitend der Aus- und Weiterbildung der Lehrer. In Wien wurde dafür im Januar 1923 das »Pädagogische Institut der Stadt Wien« wieder neu errichtet, an dem namhafte Wissenschaftler, unter anderem die Psychologen Karl und Charlotte Bühler, der Soziologe Wilhelm Jerusalem, der Jurist Hans Kelsen, der (austromarxistische) Philosoph Max Adler und Alfred Adler lehrten. Sie trafen auf eine interessierte, ja begeisterte Lehrerschaft. Ergänzt wurde die Schulreform weiter durch die Erziehungs- und Schulberatungsstellen, die auf die Initiative der Individualpsychologie zurückgingen. Neben der Schulreform gab es eine Fülle von Reformen in Einrichtungen im Bereich der vor- und außerschulischen Kinder- und Jugendfürsorgeerziehung, die behördlich gefördert oder durch Einzelinitiative entstanden waren: Krippen, Kindergärten, Horte, Heime, Beratungseinrichtungen. Die für diese Einrichtungen entsprechenden Ausbildungen wurden umgestaltet oder neu konzipiert. Parallel dazu wurde die kinder- und jugendpsychologische Forschung und Lehre ausgebaut. Darüber hinaus gab es Kinder- und Jugendgruppen von freien Trägem, der Kirche und politischen Parteien. Im Ressort der Gesundheit sorgten neue oder ausgebaute Ambulatorien, Kliniken und Heime verstärkt für die Versorgung und Behandlung von psychopathologischen Entwicklungen von Kindern und Erwachsenen. Auch der Ausbau des Volksbildungswesens durch Vorträge, Kurse und Beratungsstellen zu Fragen der Psychologie, Gesundheit, Psychohygiene, Erziehung und Sexualität gehörte in das Konzept der Bildung eines »neuen Menschen«. Für all diese Aufgaben, die in großem Maßstab angegangen wurden, brauchte Wien Psychologie. So war Wien zum »Mekka der Psychologie« geworden, mit den drei Richtungen Individualpsychologie, Psychoanalyse und akademische Entwicklungspsychologie und den drei Führern: Adler, Freud und Bühler. Der populärste und wohl einflußreichste von ihnen war Adler (vgl. Gardner u. Stevens 1992).
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Individualpsychologie Die Wiener Individualpsychologie war personell, praktisch und ideologisch aufs engste mit der Sozialdemokratie verknüpft, so daß die Schulbehörde Kurse, Vorträge, Vorlesungen und Beratungsstellen der Individualpsychologie gebilligt und unterstützt hat (Freudenberg 1928, S. 38f.). Ein sehr großer Teil ihrer Mitglieder, Anhänger und Anhängerinnen gehörten der Partei an und verstanden ihre Mitarbeit als Beitrag zum Aufbau einer neuen Gesellschaft. Adler selbst hatte immer schon enge persönliche Verbindungen zu sozialdemokratischen Führern. Herausragende Köpfe der Wiener Erziehungsreform - Furtmüller und Papanek von der Schulreform, Kanitz von der sozialistischen Erziehung - entstammten der Individualpsychologie. Dieser persönlichen und politischen Nähe entsprachen viele Übereinstimmungen in inhaltlichen Positionen der (Erziehungs)Reform, die sich durch die praktische Zusammenarbeit noch verstärkten. Dazu gehörten das prinzipiell prophylaktisch-pädagogische Interesse der Individualpsychologie, die Betonung der Eigenverantwortlichkeit des Individuums und der Gleichwertigkeit der Geschlechter wie auch die Ausrichtung auf Gemeinschaft und Gemeinschaftserziehung. Auch grundlegende Übereinstimmungen des Menschenbilds und ebenso der Erziehungs- und Fortschrittsoptimismus finden sich bei der Sozialdemokratie und Individualpsychologie. Das bevorzugte Terrain der Individualpsychologie war die Schulreform und die Erziehungsberatung im schulischen Alter. Sie war daher vor allem für Lehrer und Erzieher die maßgebliche Psychologie und Pädagogik, die sie über Kurse, Vorträge und über die Erziehungsberatungsstellen kennenlernten. So kann man davon ausgehen, daß die Gedanken der Individualpsychologie von vielen Lehrern im regulären Unterricht oder in Versuchsklassen, später auch in der Versuchsschule, umgesetzt wurden. Die Individualpsychologie beherrschte auch die sozialdemokratischen pädagogischen Zeitschriften, dominierte den Bestand der psychologischen Literatur in den Volksbüchereien und hatte den denkbar größten Einfluß auf die »sozialistische Erziehung«. Ebenso einflußreich war sie im Volksbildungswesen durch populäre Schriften, Vorträge und Vortragsreihen über Psychologie, Menschenkenntnis oder Erziehung in der Familie. Zu diesem Volksbildungsbereich ist auch
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die Beteiligung an der Sexualreformbewegung durch Aufklärungsbücher und Beratungen zu rechnen. Schließlich entstanden unter der Leitung von Individualpsychologen ein Kinder- beziehungsweise Erziehungsheim (unter Leitung von Alice Friedmann und Stefanie Horovitz), verschiedene heilpädagogische Einrichtungen und ein Ambulatorium für Neurosentherapie (unter Leitung von Lydia Sicher). Die Individualpsychologie wuchs unter diesen Bedingungen heran und erreichte eine nie mehr wiedererlebte Blütezeit. Sie war in Wien die Psychologie und Pädagogik, die theoretisch und praktisch eindeutig alle anderen Richtungen dominierte, wenigstens bis Mitte der 20er Jahre. Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre verlor sie ein wenig von dieser Dominanz, da sich zum einen die politischen Schwierigkeiten gerade in Zusammenhang mit der Schulreform zuspitzten und zum anderen die Psychoanalyse nun, vor allem im Bereich der Vorschulerziehung, stärker hervortrat. Das Schicksal der Individualpsychologie war so eng mit der Sozialdemokratie verbunden, daß der Niedergang der Wiener Sozialdemokratie (1927, 1934) auch ihren Niedergang einleitete. In der Weimarer Republik wuchs die Individualpsychologie ebenfalls rasch und erwarb sich vor allem im Bereich der Erziehungsreform einen festen Platz. Auch hier entstanden eine ganze Reihe von Erziehungsberatungsstellen, wurden Grundsätze der Individualpsychologie im Unterricht, in heilpädagogischen Heimen und in der Jugend- und Sozialarbeit angewandt. Doch scheint es so, als wäre diese Arbeit mehr der Initiative von Einzelpersonen und Gruppierungen überlassen gewesen und als hätte die Individualpsychologie nicht annähernd in so enger und durchgängiger Verbindung zur Reformbewegung und zur Arbeiterbewegung gestanden wie in Wien. Die politischen Zusammenhänge, denen die deutschen Individualpsychologen entstammten, waren heterogener, allerdings bekam die Individualpsychologie in den demokratischen und sozialistischen Kreisen starkes Gewicht.
Psychoanalyse Die Psychoanalyse hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg ganz auf die Neurosentheorie und auf die Behandlung von Erwachsenen 109
konzentriert und sich von Kinderpsychologie, pädagogischer Praxis und Fragen der Reform weitgehend ferngehalten. Eine Ausnahme, die von Freud sehr gefördert wurde, war die Kinderpsychologie und praktische Kinderanalyse von Hermine Hug-Hellmuth ein Stück psychoanalytischer Geschichte, das inzwischen der Vergessenheit entrissen wurde (Lück 1987; Graf-Nold 1988). Hermine Hug-Hellmuth war in der Öffentlichkeit bald umstritten und rief wütende Proteste seitens der Entwicklungspsychologen und Lehrer hervor - und war damit einer der Anlässe für die Feindschaft gegen die Psychoanalyse. 1 Sie vertrat eine Kinderpsychologie, die für den (Über)Eifer der frühen Psychoanalyse wohl kennzeichnend, für die pädagogisch orientierte Psychoanalyse der 20er Jahre aber nicht mehr vertretbar war. So war sie nach 1918 auch innerhalb der psychoanalytischen Vereinigung isoliert. 2 Die Psychoanalyse hatte es relativ schwer, im Roten Wien Fuß zu fassen, da ihr zunächst sowohl das pädagogische und reformerische Interesse als auch das Nahverhältnis zur (sozialdemokratischen) Partei fehlte. Einzelne Analytiker, wie August Aichhorn und Siegfried Bernfeld, hatten allerdings bereits 1918/19 mit psychoanalytisch orientierter Pädagogik begonnen, aber in breiterem Maßstab begann ihr erziehungs- und bildungspolitisches Engagement erst Mitte bis Ende der 20er Jahre. In dieser Zeit wandten sich Psychoanalytiker auch mit populären Schriften an die Öffentlichkeit, wodurch sie mehr Beachtung und Zustimmung bekamen. Das fiel in die Zeit, in der die Individualpsychologie bereits etwas an Gewicht verloren hatte. Die ersten bedeutsamen »Anwendungen« der Psychoanalyse auf die Pädagogik waren die Heime von Aichhorn und Bernfeld. Siegfried Bernfeld (mit Willi Hoffer) gründete 1919 das »Kinderheim Baumgarten« für proletarische jüdische Kriegswaisenkin1 Unter Führung des Psychologen William Stern gab es 1913 Protest gegen Hug-Hellmuths Buch »Aus dem Seelenleben des Kindes«. 1919 wurde sie verdächtigt, das »Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens« gefälscht zu haben (vgl. Graf-Nold 1988). 2 Da selbst noch ihr Tod 1924, ihre Ermordung durch ihren Neffen, für die Psychoanalyse zu einer delikaten Angelegenheit wurde, wurde sie dem »Vergessen« anheimgestellt. Adler nutzte die Volkserregung über diesen Fall für sich und hielt am Abend des Prozesses gegen den Neffen einen öffentlichen Vortrag im Volksheim (Adler 1925c; Graf-Nold 1988. S. 317).
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der und versuchte, sozialistische und psychoanalytische Pädagogik zu verbinden. 1921 schreibt er darüber einen Bericht und verarbeitet seine Erfahrungen theoretisch in seinem Buch »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« (1925). August Aichhom, der den Christlich-Sozialen nahestand, leitete 1918-1921 ein Fürsorgeheim für Jugendliche in Oberhollabrunn. Besondere Beachtung schenkte er dem Verstehen des Zöglings und der »Übertragungsbeziehung«. Aus diesem kurzen Versuch ging das bis heute weithin bekannte Buch »Verwahrloste Jugend« (1925) hervor, für das Sigmund Freud das Geleitwort schrieb. In den weiteren Jahren gehörte Aichhorn zu den rührigsten und aktivsten psychoanalytischen Pädagogen. Ab 1923 leitete er eine Erziehungsberatungstelle des städtischen Jugendamtes Wien (unter Mitarbeit von K. R. Eissler) und arbeitete in den Erziehungsberatungsstellen der psychoanalytischen Vereinigung sowie in Anna Freuds Kindergarten mit. Er hielt ab 1921 Vorträge und Vorlesungen an der städtischen Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen und ab 1929 am Pädagogischen Institut der Stadt Wien, womit er der erste war, der dort Psychoanalyse lehrte. Die psychoanalytische Vereinigung hatte in dieser Zeit zwei Erziehungsberatungsstellen eingerichtet, die erste 1923 unter Leitung von Hermine Hug-Hellmuth als Ergänzung zu dem 1922 gegründeten Ambulatorium (vgl. Graf-Nold 1988, S. 263ff.), die zweite ab 1932 unter Mitarbeit von Aichhorn, Anna Freud, Willi Hoffer, Edith Sterba, Fritz Redl und Margaret Mahler. Bevorzugtes Terrain der psychoanalytischen Pädagogik war die vorschulische Kinderpsychologie und Kindererziehung, in dem auch Anna Freud arbeitete. Sie hatte bereits ab 1921 Vorlesungen für Kindergärtnerinnen gehalten und Anfang der 30er Jahre (mit Dorothy Burlingham) Seminare für Kindergärtnerinnen des Montessori-Kindergartens durchgeführt, den beide ab 1937 leiteten und in dem sie Studien über das 1. und 3. Lebensjahr durchführten. Anna Freuds bleibende Leistung aber war vor allem die Kinder- und Jugendanalyse, die sie unabhängig von Hermine HugHellmuth und in Abgrenzung von Melanie Klein (Berlin) entwikkelte (vgl. Adam 1981; Besser 1977; Dworschak 1981; Fallend 1988; Huber 1981; Reichmayr 1981). Für die Erwachsenenbildung wurde 1925 ein psychoanalytisches »Propagandakomitee« gebildet, das Informationsschriften für Ärz111
te und für volkstümliche Aufklärung herausgab. Fritz Wittels verfaßte dazu 1926/27 einige einführende Schriften, Paul Federn und Heinrich Meng veröffentlichten eine populäre Reihe: »Bücher des Werdenden« (1926). Seit 1926 gab Heinrich Meng eine »Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik« heraus, die bis 1937 erschien. Zur reformerischen Volks- und Jugendbildung sind auch Wilhelm Reichs Vorträge und Beratungsstellen zur Sexualaufklärung zu zählen, mit denen er (mit Marie Frischauf-Pappenheim) 1928 begann (vgl. Fallend 1988). Die Bemühungen der Psychoanalyse in der Erziehungsreform und Volksbildung hatten also insgesamt durchaus Erfolg und bekamen nach der Mitte der 20er Jahre einiges Gewicht, aber doch gilt der Versuch, Einfluß in der Schule und unter den Lehrern zu finden, als mißlungen (Fallend 1988, S. 51 ff.). Zum überwiegenden Teil hatten ihre Einrichtungen keine behördlichen Bindungen und wurden sie in eigener Regie unternommen. Dies kam der Psychoanalyse 1934 zugute, da sie dadurch von dem Verbot der Sozialdemokratie nicht tangiert war und daher, im Unterschied zur Individualpsychologie, weiterarbeiten konnte.
Akademische Psychologie Eingebunden in die Wiener Reformbewegung wurde auch die akademische Psychologie, verbunden mit dem Ehepaar Karl und Charlotte Bühler. Karl Bühler (1879-1963) bekam 1922 in Wien einen Lehrstuhl für Psychologie mit dem Auftrag, ein psychologisches Institut aufzubauen. Seine Interessen in Psychologie waren weit gestreut: Denken, Wahrnehmen, Psycholinguistik und Entwicklungspsychologie. Er prägte die Psychologie in Wien über 15 Jahre lang und gehörte auch weit darüber hinaus zu den einflußreichsten Psychologen. Er hielt Vorlesungen vor einem großen Publikum. Neben seinen universitären Aufgaben hatte er - und auch seine Frau Charlotte - die Verpflichtung, Vorlesungen am Pädagogischen Institut zu halten. Karl Bühlers Wirken in Wien ist nicht ohne das seiner Frau Charlotte Bühler (1893-1974) zu denken, die in jeder Hinsicht, als Dozentin, Assistentin und Privatdozentin, am Institut mitwirkte. 112
Sie vor allem betrieb empirische Entwicklungspsychologie, zum Beispiel Beobachtungsstudien im 1. Lebensjahr. Dafür wurde ihr von der Jugendfürsorge die »Städtische Kinderübernahmestelle« als Arbeitsgebiet zur Verfügung gestellt - in diese »Kinderübernahmestelle« kamen Kinder, die vorerst nicht anders untergebracht werden konnten, für die man aber andere Unterbringungsmöglichkeiten, vorzugsweise Pflegefamilien, suchte. Finanziert wurde dies zum Teil über einen Rockefeiler Fund. Aus dem Umfeld beider Bühlers gingen eine ganze Reihe von Psychologinnen und Psychologen hervor, die später in verschiedenen Bereichen berühmt wurden, so unter anderem Egon Brunswik, Else Frenkel, Hildegard Hetzer, Maria Jahoda, Paul Lazarsfeld, Lotte Schenk-Danzinger, René Spitz. Karl Bühler war offen für ein breites Spektrum von theoretischen und methodischen Ansätzen, er hatte Verbindung zum Wiener Kreis, aber freudianische Konzepte waren an seinem Institut verboten. Trotzdem gab es bei seinen Schülern personelle Überschneidungen zur Psychoanalyse (René Spitz, Rudolf Ekstein, Fritz Redl) und zur Individualpsychologie (Paul Lazarsfeld, Karl Popper und - weniger bekannt - Else Freistadt) (vgl. Adam 1981; Gardner u. Stevens 1992; Schenk-Danzinger 1981).
Individualpsychologie in der Schulreform Die Wiener Schulreform und die Individualpsychologie sind personell und konzeptionell so eng miteinander verflochten, daß es gar nicht möglich ist, die Anteile beider voneinander zu unterscheiden. Vielmehr könnte man zugespitzt sagen, Individualpsychologie ist in ihrem pädagogischen Denken die Wiener Schul- und Erziehungsreform und umgekehrt, Wiener Schulreform ist Individualpsychologie. Beide haben sich gegenseitig befruchtet, so daß auch die individualpsychologische Konzeption durch diese Praxis erst konkretisiert und weiterentwickelt wurde. Beide wiederum können auf eine Tradition der bürgerlichen Reformpädagogik zurückgreifen bezeihungsweise sich als Teil von ihr verstehen. Die Reformpädagogik, die seit der Jahrhundertwende f ü r eine Elite praktiziert wurde, hatte nun erst Gelegenheit, allgemein zu werden und sich mit demokratischen und sozialistischen Ideen zu verbinden. In ihrer Kritik hatte die Reformpädagogik sich 113
gegen die »Zivilisation«, gegen Technisches, Positivismus, Vermassung und Vereinzelung, als Schulkritik gegen bloße Wissensvermittlung, Überlastung der Schule mit Stoff, gegen das Pauken und den Drill gewandt. Positiv wollte sie die ganze Persönlichkeit bilden oder vielmehr wachsen lassen. Arbeit und Leben, Natur und Kultur, Körper, Seele, Geist seien zu versöhnen. So entstanden Landerziehungsheime, die Arbeitsschul-, Kunst- und Musikpädagogik und die Einheitsschulbewegung. Für alle reformpädagogischen Richtungen war die Idee der Gemeinschaft zentral, Gemeinschaft als Medium und Ziel der Erziehung. 3 Alle diese Momente finden wir in der individualpsychologischen Pädagogik und in der Wiener Erziehungsreform wieder. Neben den Zielen der Erweiterung der Qualifikation und des Abbaus von Bildungsprivilegien ist das übergreifende Ziel der Schulreform die Demokratisierung der Schule durch den Abbau autoritärer und konkurrenzhafter Strukturen und die Erziehung zur und in der Gemeinschaft. Die Mitsprache der Schüler in der Klassengemeinschaft und in der Schulgemeinde wie auch die Mitsprache der Eltern gehörten zum verbindlichen Rahmen. Zu den neuen Unterrichtsmethoden gehörten daneben: der Gesamtunterricht, das heißt die Konzentration auf einen Unterrichtsgegenstand in allen Fächern; der Arbeitsunterricht, das heißt Förderung der Selbsttätigkeit der Schüler; das Prinzip der Bodenständigkeit und Anschaulichkeit, das heißt der Unterricht sollte an der Lebenswelt des Kindes ansetzen; Schülerbeschreibungsbogen statt Zensuren (vgl. Furtmüller 1929; O. Spiel 1947; Papanek 1962; W. Spiel 1981). Die Individualpsychologie war auf allen Ebenen der Reform, der Konzeptualisierung und psychologischen Begründung, der praktischen Umsetzung, der Weiterbildung und der flankierenden Erziehungsberatung tätig. An führender Stelle im Wiener Stadtschulrat standen die Individualpsychologen Carl Furtmüller und Ernst Papanek, die für die strukturelle Rahmenplanung zuständig waren. Furtmüller galt als der »geistige Vater der Allgemeinen Mittelschule«. Er war Landesschulinspektor und Hauptreferent für die Allgemeine Mittelschule (vgl. Lux Furtmüller 1983, S. 18f.). 3 Zur Zeit der J a h r h u n d e r t w e n d e reichte das politische S p e k t r u m der Ref o r m p ä d a g o g i k von demokratisch-sozialistisch stisch. 114
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reaktionär-nationali-
Adler selbst und einige seiner Anhänger übernahmen in Vorträgen, Kursen und Beratungen die »Erziehung der Erzieher« und damit auch die Aufgabe, die Ideen zu verbreiten, die Begründungszusammenhänge und die Veranschaulichung der Didaktik am konkreten Material zu liefern. Adler hielt im Pädagogischen Institut der Stadt Wien von 1924-26 Vorlesungen und wurde später darin von Ferdinand Birnbaum vertreten. Ein Teil dieser Vorlesungen sind zum Beispiel in Adlers Buch »Individualpsychologie in der Schule« (1929b) erschienen. Die größte Zahl von Individualpsychologen oder der ihr Nahestehenden setzten die individualpsychologischen Ziele und Methoden im Unterricht als Lehrer, im normalen Unterricht, in Versuchsklassen oder in der Versuchsschule praktisch um oder arbeiteten in den Beratungsstellen. Zu den bekanntesten gehörten Regine Seidler, Friederike Friedmann, Oskar Spiel, Ferdinand Birnbaum und Fritz Scharmer. Die drei zuletzt Genannten wurden Anfang der 30er Jahre vom Stadtschulrat beauftragt, eine Versuchsschule auf individualpsychologischer Grundlage zu errichten, und zwar als normale Sprengelschule. Diese wurde im September 1931 im 20. Bezirk (Staudingergasse) eröffnet und errang internationales Aufsehen (vgl. Oskar Spiel 1947; Walter Spiel 1981). 4 Welche individualpsychologischen Grundlagen und welche didaktischen Einstellungen und Mittel kamen hier im einzelnen zum Tragen? Mit zwei Grundüberzeugungen, für die die Individualpsychologie sowohl bei Anhängern als auch bei Gegnern bekannt war, betrat der individualpsychologische Lehrer den Klassenraum: 1. Es gibt keine angeborene Unbegabung, 2. Strafe ist abzulehnen, aber auch die anderen traditionellen Erziehungsmittel wie Belohnung, Drohen und Mahnen sind zu vermeiden. In den theoretischen und didaktischen Diskussionen wurden diese Positionen immer wieder begründet und differenziert. Angesichts der praktischen Schwierigkeiten damit und angesichts wiederkehrender heftiger Widerstände wurden sie aber auch als »heuristisches Prinzip« oder als Zielangabe abgemildert (vgl. Birnbaum 1926, S. 113; Spiel 1947, S. 43). 4 W i e alle anderen Reformprojekte mußte auch diese Schule 1934 geschlossen werden. Nach 1945 begann Oskar Spiel einen neuen Versuch im 15. Bezirk (vgl. W. Spiel 1981).
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Zu den immer wiederkehrenden praktischen diaktischen Unterrichts- und Erziehungsmitteln gehörten: die »Aussprache« mit den Kindern oder »Klassenbesprechungen« über alle anfallenden Ereignisse und Probleme, durch die die Klasse und die Mitschüler zu Miterziehern werden sollten; freie Diskussion als Lehrform, entsprechend der Idee der Arbeitsschule. Die freie Diskussion kann als »Erarbeitungs-, Auswertungs- und Wiederholungsgespräch auftreten« (Spiel 1947, S. 56f.)- Dahinter steht die Überzeugung, daß Erziehung als Selbsterziehung oder Selbsterkenntnis und Gemeinschaftserziehung oder Erziehung zur Gemeinschaft zusammengesehen werden müssen. »Gemeinschaftserziehung ist ... Erziehung des Individuums. Allerdings eines Individuums, das hineingestellt ist in eine real existierende Menschengruppe . . . und das sich selbst wieder aktiv auf die umgebenden Individuen bezieht« (S. 16f.). In der Schulpraxis bedeutete das, daß alle Anforderungen und Probleme dem Klassenverband übertragen wurden und soweit wie möglich keine Hervorhebung und Sonderbehandlung einzelner erfolgte. Vor allem wird der Klassengemeinschaft erzieherische und selbsterzieherische, j a heilende Funktion zugeschrieben. Die Klasse ist selbstverständlich keineswegs von vornherein eine solche Gemeinschaft, sie muß erst dazu erzogen werden. Oskar Spiel schreibt der Klasse im einzelnen folgende Aufgaben zu: Klasse als Arbeits-, Erlebnis-, Verwaltungs-, Aussprache- und Hilfeleistungsgemeinschaft (1947) (ähnlich Birnbaum 1932). Die Rolle des Lehrers ist die des »Erziehers«, aber er tritt in seiner Bedeutung gegenüber der Klasse zurück. Er steht nicht mehr im Brennpunkt der Klasse, sondern ist - zumindest bei älteren Schülern - »Mitglied der Unterrichts- und Erziehungsgemeinschaft«, der dem Zögling als gleichberechtigtem und vollwertigem Menschen gegenübertritt (Furtmüller 1930, S. 164, 167ff.). Spiel weist dem Lehrer eine Reihe von Aufgaben oder Rollen im Sinn von »Tiefenpädagogik« (S. 56) zu: Lehrer als Beobachter, Erforscher und Deuter, Kontaktsucher, Entlaster, Enthüller, Trainer und Regisseur. Auch die Rolle eines »Ingenieurs« wurde ihm zugewiesen, weshalb Oskar Spiel sein Buch über die Versuchsschule »Am Schaltbrett der Erziehung« (1947) nennt. Birnbaum, der mit ihm zusammengearbeitet hatte, schrieb in diesem Sinn 1932: »Unserer Meinung nach sollte der Lehrer gar nicht in erster Linie direkt auf die Kinder zu wirken suchen, sondern gleich dem Ingenieur die ungeheuren Kräf116
te, die im Klassenkollektiv schlummern, richtig einzuschalten und zu verteilen verstehen« (Birnbaum 1932, S. 178). In Deutschland waren die Bedingungen individualpsychologischer Schulpädagogik nicht so günstig und nicht so strukturiert wie in Wien. Die Schulreform war hier nicht so weit gediehen. 5 Es blieb vielfach Sache des einzelnen Lehrers im Rahmen von häufig traditionell gebliebenen Schulen. Bei der Münchener Gruppe, die darin am meisten hervorgetreten ist, und hier vor allem an Kurt Seelmann und Alfons Simon, ist diese erschwerte Situation zu spüren, so beeindruckend auch ihr liebevolles Bemühen ist, die Klasse als Gemeinschaft zu formen. Seelmann ist mit seinen Überlegungen zur Unterrichtspraxis und mit Falldarstellungen aus der Schule bereits ab 1924 in der IZI (1924, 1925, 1927) und auf Internationalen Individualpsychologischen Kongressen aufgetreten.
R e z e p t i o n der Individualpsychologie in der P ä d a g o g i k Die pädagogische Ausrichtung und Praxis der Individualpsychologie in Wien und Deutschland schlägt sich auch in ihrer führenden Rolle in den Wiener sozialdemokratischen Erziehungszeitschriften nieder, aber auch in der Rezpetion der Individualpsychologie in pädagogischen Publikationen, Fachzeitschriften und reformpädagogischen Zeitschriften im deutschsprachigen Raum. So finden sich Beiträge von Individualpsychologen oder über Individualpsychologie in einer ganzen Reihe von kleineren oder größeren Schulzeitungen oder Lehrerzeitungen vor allem nach 1926. 6 Starke Beachtung erfährt die Individualpsychologie durch das »Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht« (Berlin) und in des5 Allerdings gab es in der Weimarer Republik gewissen R a u m für private Initiativen. S o kam es zu verschiedenen Privatschulen und Versuchsschulen bürgerlich-kritischer und sozialistischer Prägung, wie z. B. der Freien Wald o r f s c h u l e oder Schulen des » B u n d e s entschiedener S c h u l r e f o r m e r « von Peter Petersen, Paul Österreich und Fritz Karsen. 6 So z. B . in: Allgemeine d e u t s c h e Lehrerzeitung, P r e u ß i s c h e Lehrerzeitung, P r e u ß i s c h e Volksschullehrerinnen Zeitung, W ü r t t e m b e r g i s c h e Schulwarte, Zeitschrift für Schulgesundheitspflege und soziale H y g i e n e (vgl. Dietrich, Intern. Zeitschriften-Bibliographie).
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sen Organ »Pädagogisches Zentralblatt«. Das Zentralinstitut organisierte selbst Vortragsreihen über »Individualpsychologie und Pädagogik«, zum Beispiel 1926 in Berlin mit Vorträgen von Bruno Klopfer, Fritz Kiinkel, Egon Weigl und Praxisberichten von Ruth Künkel, Alfons Simon und Francke und 1927 in Görlitz mit Weigl, Klopfer und Künkel. Immer wieder finden sich in der Zeitschrift »Pädagogisches Zentralblatt« auch Beiträge von Individualpsychologen, unter anderem von Klopfer, Weigl, Hilde GrünbaumSachs und Hans Künkel. Ein Heft zum Thema Strafe (1926) wird von Individualpsychologen bestritten (von Weigl, Hans Künkel, Klopfer, R. Künkel). In der Zeitschrift »Aufbau« des sozialistischen »Bundes der Freien Schulgesellschaft Deutschlands« finden sich (ab 1928) häufig positive Darstellungen und Auseinandersetzungen mit der Individualpsychologie, so von Helmut von Bracken (Dezember 1928) und Otto Kaufmann (November 1929). Das Septemberheft 1930 ist ganz dem T h e m a »Individualpsychologie und proletarische Erziehung« gewidmet mit Beiträgen von den Individualpsychologen Otto Müller-Main (Berlin), Therese Merzbach (Frankfurt), Manes Sperber (Berlin) und Erwin Wexberg (Wien). In der Zeitschrift »Neue Erziehung« des »Bundes für entschiedene Schulreform« (Paul Österreich) ist zumindest in einem Heft (1928) ein ganzer Teil der Individualpsychologie gewidmet, mit Beiträgen der Berliner Individualpsychologen Manes Sperber, Hermann Laasch. Elisabeth Beilot, Franz Schauer. Die »Neue Erziehung« scheint allerdings insgesamt in psychologischer Hinsicht eher der Psychoanalyse zugeneigt. 1926 würdigte der prominente Pädagoge Hermann Nohl den Einfluß Freuds und Adlers auf die moderne Pädagogik. Beide tiefenpsychologischen Richtungen hätten auf alle Merkmale der »neuen Pädagogik« förderlich, anregend und bewußtmachend eingewirkt (Nohl 1926).
Erziehungsberatung Die Geschichte der Individualpsychologie ist sehr wesentlich mit der Geschichte der Erziehungsberatungsstellen verbunden. Im Zuge der Schulreform und der reformerischen Erziehungsbewegung in beiden Republiken war sie es, die zur Institutionalisierung und 118
Etablierung von Erziehungsberatungsstellen die entscheidenden Impulse gegeben hatte, zuerst und vor allem in Wien, dann auch in Deutschland. Diese Tätigkeit trug entscheidend zur Verbreitung der Individualpsychologie bei. Diese Erziehungsberatungsstellen hatten Vorläufer, die einerseits mit dem Ausbau des Wohlfahrtsbereichs, andererseits mit der Entdeckung des Kindes- und Jugendalters in der Zeit der Jahrhundertwende zusammenhängen. Es wurde den Kindern und Jugendlichen zugestanden, anders zu sein als Erwachsene, aber zugleich galt es, ihre Andersartigkeit zu zähmen und in den Griff zu bekommen. Zur Beobachtung, diagnostischen Auslese, zu ihrem Schutz und zu ihrer Kontrolle wurden Kinder und Jugendliche Gegenstand der Wissenschaften - der Entwickjungspsychologie, Psychiatrie und Pädagogik - und der Aufsichtsbehörden. Durch die Initiative von Einzelpersonen und Vereinen entstanden solche caritativen und psychiatrischen Behörden. 1908 gab es in Berlin eine medico-pädagogische Poliklinik für Kinderforschung, um die gleiche Zeit einen Verein »Erziehungshilfe für abartige und psychopathische Kinder«. In Hamburg wurde 1908 eine »Behörde für öffentliche Jugendfürsorge« eingerichtet und noch vor oder zu Beginn des Ersten Weltkrieges in verschiedenen Städten erste Jugendämter für schulentlassene Jugendliche, die als besonders gefährdet galten. Mit Beginn des Krieges, durch den sich die Probleme mit Kindern und Jugendlichen verschärft hatten, waren weitere, meist medizinischpsychiatrische Einrichtungen entstanden, zum Teil in Verbindung mit Kliniken, mit Jugendämtern oder privaten Trägem (vgl. Vogel 1960; Koblank 1967). Aber erst in den Republiken fanden Erziehungs- und Jugendberatungsstellen wirkliche Verbreitung und gesetzliche Absicherung. 7 Dabei trat der medizinsch-diagnostische Blick zugunsten des erzieherischen Gedankens zurück. Erziehungshilfe und neue Methoden der Erziehung von Kindern und Jugendlichen in der Schule und in der Familie waren für den Aufbau einer neuen Gesellschaft und angesichts der Gefahr der Verrohung und Verwahrlosung zu dringlichen präventiven Maßnahmen geworden. Erziehungsberatungsstellen wurden zu einer flankierenden Einrichtung der Schulreform und Teil des Jugendfürsorgesystems. 7 In D e u t s c h l a n d 1922 durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, das 1924 in Kraft trat.
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Die Anzahl der Beratungsstellen in den 20er Jahren insgesamt ist schwer feststellbar, die Angaben darüber schwanken. Es wurden nicht alle Stellen erfaßt, es gab starke Fluktuationen, manche wurden in privaten Arztpraxen betrieben, andere in Kliniken oder Jugendämtern oder durch politische und kirchlichen Organisationen. Das eigentliche Zentrum der Erziehungsberatungsstellen war aber Wien, und dort gingen sie auf die Initiative Adlers zurück. Daher waren die dortigen Beratungsstellen in weit überwiegender Zahl individualpsychologische. Als solche galten mit der Zeit nur diejenigen, die beim Verein angemeldet und von diesem besetzt wurden. Sie hatten eine gemeinsame, zentrale Geschäftsstelle (vgl. Seidler u. Zilahi 1929, S. 165). Die erste Wiener Erziehungsberatungsstelle entstand 1920 im Zusammenhang mit Vorträgen Adlers im Volksheim, als Einweisung in und Demonstration seiner Beratungstechnik und Fallanalysen. 1923 waren es bereits 4, 1929 war der Höhepunkt mit 28 Erziehungsberatungsstellen. Danach trat eine stärkere Fluktuation und schließlich ein Rückgang ein. Es wurden Beratungsstellen geschlossen, andere geöffent, bis ihre Zahl stark zurückging (vgl. Handlbauer 1983, S. 144f.). Wo es in Deutschland individualpsychologische Ortsgruppen gab, existierten meistens auch eine oder mehrere Erziehungsberatungsstellen, getragen von der Ortsgruppe, von Einzelpersonen oder anderen Vereinen. Unter ihnen ragen vor allem die Münchener heraus, sie waren die ersten und bekanntesten. Leonhard Seif betrieb seit November 1922 eine Erziehungsberatungsstelle, später gab es 5, mit 12 ständigen Mitarbeitern. In Berlin betrieben Ruth und Fritz Künkel ab 1924 eine Erziehungsberatungsstelle, später gab es zusätzlich weitere unter anderen Leitungen. Es waren dort aber nie mehr als 7. Die Wiener Erziehungsberatungsstellen waren von unterschiedlichen Vereinen oder Institutionen, wie Elternvereinen 8 , Lehrervereinigungen, der sozialdemokratischen Elternfraktion und dem Erziehungsverein »Freie Schule«, den Kinderfreunden, der sozialdemokratischen Frauenorganisation, der Arbeiterkammer. Caritas, 8 Die Elternvereine waren zur Begleitung und Unterstützung der Schulref o r m gegründet worden und hatten eine rege Tätigkeit mit der Organisierung von Vorträgen und eigenen Publikationen und in der Zusammenarbeit mit Lehrern entfaltet (vgl. H a n d l b a u e r 1983, S. 148f.).
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Poliklinik und anderen getragen (Freudenberg 1928). Die Leitung der Erziehungsberatungsstelle hatten meist ein Arzt und ein Lehrer inne, Mitarbeiter waren Ärzte und Nichtärzte. Die Mitarbeit war ehrenamtlich, die Beratung kostenlos - ein Grund sicher, daß die Beratungen nicht sehr häufig, oft nur wenige Stunden pro Woche angeboten werden konnten. Zum Spezifikum von individualpsychologischen Erziehungsberatungsstellen gehört, daß sie die enge Zusammenarbeit mit Lehrern und Schulbehörden ins Zentrum stellen. Dies ist vor dem Hintergrund der Schulreform zu sehen und hängt mit Adlers Überzeugung zusammen, daß der »Kampf gegen Verwahrlosung« nur in der - veränderten - Schule Aussicht auf Erfolg habe, weil hier zum einen Menschen seien, die Erziehungsfragen näherstünden und einer Ausbildung zugänglich seien, zum anderen, weil Verwahrlosung »bei Mißerfolgen in der Schule« beginne (Adler 1921, S. 340f.). Dagegen sei einerseits die Arbeit mit Eltern »unergiebig«, sei »Sisyphusarbeit« und griffen andererseits die Instanzen der Rechtspflege, Jugendgericht, Fürsorge- und Besserungsanstalten immer erst nach geschehenem Unglück ein. Für die erzieherische Aufgabe müßten die Lehrer theoretisch und praktisch geschult werden, durch Vorträge und durch die praktische Arbeit. Daher waren die meisten Erziehungsberatungsstellen als »Erzieherlehrstätten« (Freudenberg 1928) gedacht und arbeiteten in den Schulen als Schulberatungsstellen. Umgekehrt waren im Lauf des Ausbaus der Erziehungsberatungsstellen fast alle Wiener Pflichtschulen an eine Schulberatungsstelle angeschlossen. Das Schwergewicht lag also auf den »Lehrberatungsstellen«, im Unterschied zu den »Behandlungsberatungsstellen«. Hauptzweck der Lehrberatungsstellen war »die Heranbildung individualpsychologisch geschulter Lehrer und Erzieher« (Seidler u. Zilahi 1929, S. 162). Den Beratungen dort wohnten Vertreter des Lehrkörpers, Ärzte, Lehrer, Fürsorger und Studenten bei, wobei die Beratung meist nur einmal erfolgte und das weitere dem Erzieher überlassen wurde (S. 165). Der Lehrer sollte selbst erste Anzeichen von Problemen bei seinen Schülern erkennen, sein eigenes Verhalten darauf abstimmen und »Klassenbesprechungen« mit den Schülern und gegebenenfalls Beratungen mit den Eltern durchführen. Diese Betonung der Aktivität und Fortbildung des Lehrers gegenüber Einzelbehandlungen von Kindern folgt dem Gedanken, 121
daß primäre Prävention im alltäglichen Erziehungsverhalten erfolgversprechender ist als die sekundäre Prävention einer nachfolgenden Behandlung und wesentlich mehr Menschen erfassen kann. Z u m anderen wird eine »Behandlung« im Gemeinschaftsverband der Klasse einer Einzelbehandlung vorgezogen. Die »Behandlungsberatungsstellen« richteten sich stärker an die Familie und Familienerziehung. Zumindest bei Seif in München wurde nicht selten die ganze Familie eingeladen (Freudenberg 1928, S. 109). Die Eltem und Kinder erschienen hier zu mehreren Sitzungen, »bis das Kind eben seine Schwierigkeiten überwunden hat« (Seidler u. Zilahi 1929, S. 166). Ziel der Beratung war auch hier die »>Erziehung der E r z i e h e n d e r Abbau ihres Egoismus zugunsten einer freundlichen, >sachlichen< Haltung gegenüber ihrer Aufgabe«. »Die Schwererziehbarkeit ist eine soziale Störung«, die »ein fehlerhaftes Verhalten des Erziehers« widerspiegelt (Seif, zit. in Freudenberg 1928, S. 105f.). In keinem Fall war eine Kindertherapie im heutigen Sinn angestrebt, da eine »Beratung, die allein das Kind erfaßt, nur sehr selten, nur unter ganz besonderen Umständen, zum Ziele führen wird«. Nötigenfalls erteilte ein individualpsychologischer Helfer Nachhilfeunterricht oder nahm näheren Einblick in die Familienverhältnisse, um auf deren Gestaltung einen gewissen Einfluß gewinnen zu können (Seidler u. Zilahi 1929, S. 166f.). Aus den genannten Vorstellungen zur Prophylaxe und zu den Aufgaben der Erziehungsberatungsstellen ergaben sich (zumindest teilweise) zwei Arbeitsweisen, die spezifisch für individualpsychologische Beratungsstellen sind, bereits damals aber umstritten waren und mit der Praxis heutiger Erziehungsberatungsstellen in denkbar krassem Gegensatz stehen: 1. Öffentlichkeit der Beratung, 2. Kurzberatung mit stark aufklärerischen Zügen. Die Beratungen waren für eine »disziplinierte Hörerschaft« (Adler 1921, S. 381) von Eltern, Erziehrn, Lehrern, Sozialarbeitern und Helfern öffentlich. Sofie Freudenberg berichtet, daß in Adlers (Lehr)Beratungsstelle 30-50 Zuhörer anwesend waren, in der von Seif ebenfalls zwischen 20 und 40. Für dieses Öffentlichkeitsprinzip wurden zwei Gründe angeführt: 1. Fortbildung für einen möglichst großen Kreis, 2. Förderung des Gemeinschaftsgefühls des Kindes. Adler schreibt dazu: »Ich habe den Eindruck bekommen, daß das Erscheinen eines Kindes vor einer größeren Versammlung sehr gut wirkt. Es bedeutet für das Kind soviel, daß seine Sache kei-
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ne private Angelegenheit ist, da sie auch Fernstehende interessiert. Sein sozialer Geist wird vielleicht mehr geweckt« (1930e, S. 73). Ist die erste Begründung (Fortbildung) noch verständlich, so ist die zweite doch zweifelhaft. Anders als bei »Klassenbesprechungen« nach einer längeren Phase der Vertrauensbildung ist es doch hier eine autoritäre Situation, in der sich das problematische Kind, vielleicht auch die Eltern, einer Front von professionellen Erwachsenen gegenüber sieht und sich leicht auf die Anklagebank gesetzt fühlen konnte. Adler hatte vielleicht nicht den Gerichtssaal, sondern den medizinischen Hörsaal als Vorbild, in dem Patienten »vorgeführt« werden. Es mag als Hintergrund auch die Lockerung der Privatsphäre im Roten Wien eine Rolle gespielt haben, in der sich das Alltagsleben weitgehend in Kollektiven abgespielt hatte und durch Gemeinschaftseinrichtungen im neuen Wohnbau gefördert worden war. Das Öffentlichkeitsprinzip war aber gleichwohl auch damals schon umstritten. Es wurde eingewandt, daß das D e m o n strative die Eitelkeit wecke und das Schamgefühl verletze (Freudenberg 1928, S. 163). 9 Die Beratung, aber auch die Behandlungen, waren ausgesprochene Kurzberatungen, was die Dauer einer Sitzung und die Häufigkeit der Vorstellungen anbelangt. Zweifellos hing dies mit der begrenzten Kapazität der Berater und mit der Fülle der Probleme zusammen. Der Andrang muß sehr groß gewesen sein. Es entsprach aber auch dem Konzept, im wesentlichen eine Beratung der Erzieher und eine Hilfe zur Selbsthilfe zu sein. 1 0 Die Kurzberatung spiegelt sich auch in der Arbeitsweise und in dem Ablauf der Beratung wider. Seidler und Zilahi beschreiben den Ablauf einer Beratung folgendermaßen: Der Klassenlehrer stellt den Fall vor, dieser wird im Kreis erörtert, danach werden die Mutter oder die Eltern, dann das Kind vorgestellt. Zentrum der Beratung ist 1. »das blitzartige Erfassen« des Lebensplans, 2. die Darlegung des zugrundeliegenden Irrtums. Seidler und Zilahi nennen als Schema f ü r
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Dieses Prinzip der Öffentlichkeit w u r d e noch bis E n d e des Krieges a u f rechterhalten und wird z u m Teil noch heute an d e m an Dreikurs orientierten Institut in C h i c a g o praktiziert.
10 Man m u ß allerdings einbeziehen, d a ß generell p s y c h o t h e r a p e u t i s c h e Behandlungen, auch bei Freud, damals nicht annähernd die D a u e r heutiger Psychotherapien hatten.
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die Aufgabe des Beraters: 1. Gewinnen des Vertrauens des Ratsuchenden, 2. Aufdeckung der Fehlerquellen des irrtümlichen Lebensstils, 3. Ermutigung, 4. Anbahnung des Gemeinschaftsgefühls (1929, S. 167f.). Den »Irrtum aufdecken« und »ermutigen« sind die zentralen Stichworte in der Adlerschen Kurzberatung und Therapie. Offenbar hat es auch daran bereits damals Kritik gegeben, denn verteidigend wird immer wieder betont, daß dies nicht anklagend und beschuldigend zu verstehen sei. Adler selbst wird immer als einfühlsam, gütig, herzlich, die Sprache der Arbeiter sprechend geschildert. In seinem Buch »Die Technik der Individualpsychologie« (1930e) sind Beispiele solcher Beratungen enthalten. Sie zeigen eine etwas kumpelhafte und aufklärerische Art, die viel mit gutem Zureden arbeitet. Bei Adlers Konzepten der Erziehungsberatung - Anbindung an die Schule, Öffentlichkeit, Kurzberatung - ist es schwer zu sagen, ob beziehungsweise wie weit sie sich an die Gegebenheiten (der Kapazität und Schulreform) angepaßt haben oder wie weit sie davon unabhängig seinem Denk- und Arbeitsstil entsprachen. Die Praxis hat zumindest das Konzept weithin geprägt. Da heute die Bedingungen andere sind, ist vieles nicht mehr so zu übernehmen, mancher Erfolg hing gewiß auch von der Person Adlers ab. Damals jedenfalls haben seine Beratungen durchaus Aufsehen erregt, das Konzept »erweckte internationales Interesse, lockte zahlreiche ausländische Besucher nach Wien und inspirierte die Gründung von individualpsychologischen Sektionen und Erziehungsberatungsstellen im Ausland« (Handlbauer 1983, S. 143).
Exkurs: Therapie in der Gruppe Das Verfahren der »Klassenbesprechung« und die Gewichtung der Klassengemeinschaft entsprechen (reformpädagogischen) Ansätzen jeglicher Gemeinschaftserziehung, aber sie gehen zweifellos darüber hinaus: Die Klasse (Gruppe) hat erziehende, aber auch heilende Funktion. Diese Überlegung ging sowohl in die Arbeit der Erziehungsberatungsstellen ein, die in der Gruppe erfolgte, als auch in verschiedene Arbeitsgemeinschaften, die der »Selbsterziehung« dienten. Im Grunde genommen waren dies Formen von Selbsterfahrung oder von Gruppentherapie. Angesichts der sozial-
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psychologischen Grundüberzeugung der Individualpsychologie und angesichts ihres gesundheitspolitischen Denkens, möglichst vielen (prophylaktisch) helfen zu wollen - durch Beratung, populäre Vorträge und Schriften - , ist es nicht verwunderlich, wenn man in dieser Weise arbeitete und auch erste Überlegungen und Versuche zur Gruppentherapie im engeren Sinn anstellte. Mit Recht zählte Dreikurs die Adlersche Bewegung zu den »Pioniere(n) der Gruppentherapie« (1958, S. 845) (vgl. Titze 1986). Dreikurs selbst hat seit 1928 »Kollektivtherapie« in privater Praxis durchgeführt. Er meint in seinem rückblickenden Aufsatz, man sei sich damals »nicht bewußt« gewesen, mit Gruppenbehandlung »eine grundsätzlich neue Phase der psychiatrischen Forschung und Therapie« begonnen zu haben, da die soziale Bedingtheit des Menschen und die Gruppe als Bezugspunkt für die Individualpsychologie selbstverständlich gewesen sei (Dreikurs 1958, S. 846). Dreikurs druckt in diesem Aufsatz ein interessantes Protokoll der individualpsychologischen Wiener Ärztlichen Arbeitsgemeinschaft von 1930 ab, einige Bemerkungen dazu finden sich auch in seinem Aufsatz von 1932. In der Arbeitsgemeinschaft 1930 berichtet Dreikurs von Erfolgen der Kollektivtherapie (neben Einzeltherapie). Die Patienten seien hier sehr offen, es würde das »Gefühl der Einzigartigkeit ihrer Beschwerden gründlich zerstört«, und es komme nicht zum »Prestigekampf zwischen Arzt und Patient« (S. 846f.). Aus gleicher Zeit stammen Erfahrungen über Therapie oder Selbsterziehung in der Gruppe von Alice Rühle-Gerstel aus der von ihr geleiteten marxistisch-individualpsychologischen Arbeitsgemeinschaft. Sie charakterisiert solche Arbeitsgemeinschaften als eine Form von »Autotherapie«, die dort neben dem Hören von Vorträgen und Lesen von psychologischer Lektüre stattgefunden habe und die solange notwendig sei, als die »große Anzahl von Heilbedürftigen durch Einzeltherapie« nicht erfaßt werden kann (1930, S. 52). In der Gruppe erfolge »Ermutigung und wechselseitige Therapie«, jeder erlebe »seine Fehler als Durchschnittsfehler« und erfahre Kameradschaft (S. 60). Rühle-Gerstel stellt die Überlegung an, ob nicht »Einzeltherapie, die Privatgesundung, bloß ein Ersatz der kollektiven und öffentlichen Ermutigung sei«, zumal die Einzeltherapie eine »lebensunwirkliche« und die Arzt-Patient-Situation eine »einseitige und autoritäre Situation« sei (S. 61). Überlegungen zur Gruppentherapie finden sich auch bei Künkel, 125
der von der »heilenden Gruppe« spricht. Innerhalb der Individualpsychologie wurde sie aber erst in den 40er Jahren, vor allem von Jehoschua Bierer, weiterentwickelt, während die Gruppentherapie heute in der individualpsychologischen Therapie nicht den herausragenden Stellenwert hat, den man vermuten könnte.
Individualpsychologie und die sozialistische Erziehung Die »Kinderfreunde«-Bewegung war eine sozialdemokratische Massenorganisation zur Erfassung und Erziehung proletarischer schulpflichtiger Kinder außerhalb der Schule. Ortsgruppen, Horte, Zeltlager und Kinderheime sollten der Erziehung zur sozialistischen Demokratie und Gemeinschaft dienen, hatten aber sehr stark das pflegerische Wohl der Kinder im Auge. Auch wenn sie eingebunden war in die Arbeiterbewegung und sich teilweise einer klassenkämpferischen Sprache bediente, war ihre Praxis an der Reformpädagogik und Jugendbewegung orientiert, von denen sie sich nicht allzusehr unterschied. Die sozialistischen Erzieher waren daran interessiert, ihre Pädagogik auf eine für sie geeignete wissenschaftlich-psychologische Grundlage zu stellen - und dafür bot sich (in Wien) die Individualpsychologie an. Durch personelle Überschneidungen und durch Fortbildung der Erzieher, hatte die Individualpsychologie auf die Pädagogik der Kinderfreunde den denkbar größten theoretischen Einfluß. Umgekehrt wirkte, wie bei der Schulreform, die Praxis der Kinderfreunde auf das Selbstverständnis individualpsychologischer Psychologie ein. Sie wurde hier konkretisiert und bekräftigt. Die »Kinderfreunde«, in Österreich 1908 gegründet, hatten 1920 dort 182 Ortsgruppen mit 55.000 elterlichen Mitgliedern, auf ihrem Höhepunkt 1929 gab es 387 Ortsgruppen mit 100.000 Mitgliedern (Langhof 1983, S. 152). Führende Theoretiker und Praktiker waren Felix Kanitz, Max Winter, Anton Tesarek, Alois Jalkotzy und Max Adler. Publikationsorgan war »Die sozialistische Erziehung«. Nach dem österreichischen Vorbild wurden auch in der Weimarer Republik 1919 »Kinderfreunde« gegründet, die sich 1923 zur »Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde« unter Führung des Berliner Stadtschulrats Kurt (Kerlow-)Löwenstein zu126
sammenschlossen. 1925 gab es circa 183, 1929 441 Ortsgruppen mit etwa 200.000 Kindern. Publikationsorgan waren »Kinderfreund« und »Sozialistische Erziehung« (vgl. Fadrus 1930). Für die Konzeptionierung sozialistischer Erziehung waren in Österreich Max Adler für den theoretischen Überbau, und Felix Kanitz für die pädagogisch-psychologische Begründung maßgebend. Kanitz entwickelte ein Erziehungsmodell, das auf der »Gefühlsbildung« aufbaut, der die »Erziehung zum soziologischen Denken« und zur Disziplin folgen könne (1929). Kanitz ist persönlich eng mit der Individualpsychologie verbunden und gründet seine Thesen in hohem Maß auf die Adlersche Psychologie, teilweise vermittelt über die individualpsychologisch orientierten Ausführungen von Otto Rühle (1924, 1925a) (vgl. Kotlan-Werner 1982). Kanitz hebt in einer Würdigung Adlers zum 60. Geburtstag hervor, daß Adler »das Primat von Milieu und Erziehung« gegenüber der Anlage vertrete und damit »eine wichtige soziologische Erkenntnis von Karl Marx psychologisch« begründe. Adlers Lehre vom Minderwertigkeitsgefühl sei »revolutionär«, weil sie uns zu verstehen gebe, »welche furchtbaren Wirkungen der wirtschaftliche, elterliche, rechtliche, schulische und soziale Druck« ausübe und »welche seelischen Gefahren« er mit sich bringe. Denn der Lebensplan aus dem Minderwertigkeitsgefühl und der Überkompensation sei kein sozialistischer, sondern einer des »Dranges nach oben, des Herrschenwollens um jeden Preis«. Adlers Lehre vom »Primat des Gemeinschaftsgefühls« sei eine wissenschaftliche Unterstützung für die Bedeutung des Solidaritätsgefühls und zeige Wege, dieses zu entwickeln (Kanitz 1930, S. 49f.). Die Verbindung zwischen sozialistischer Erziehung und Individualpsychologie stellte nicht nur Kanitz her. Wexberg schrieb 1924 in einem Aufsatz, Adlers Psychologie beantworte die Frage nach der seelischen Voraussetzung des Sozialismus (1924, S. 428). Sozialistische Erziehung sei Erziehung zur Freiheit ohne Autoritätsglaube, Erziehung zur Gleichheit gegen Vorurteil und Begabung und Erziehung zur Brüderlichkeit (Gemeinschaftsgefühl) (S. 433) - womit er die Parolen der Französischen Revolution mit denen des Sozialismus gleichsetzt. Weitere Individualpsychologen wie beispielsweise Paul Lazarsfeld (Wien) oder Therese Merzbach (Frankfurt), standen in unmittelbarem praktischen Kontakt zu den Kinderfreunden. Lazarsfeld, 127
damals selbst noch jung, leitete 1924 ein S o m m e r l a g e r 1 ' , das - im Unterschied zu anderen - nicht von Erwachsenen, sondern von Jugendlichen, unter der Parole der Gemeinschaftserziehung durch Erziehungsgemeinschaft, geleitet wurde (Lazarsfeld 1924). Schließlich wurde Adlers Psychologie auf Tagungen und Schulungen sozialistischer Erzieher gelehrt; Adler selbst hatte den Psychologieunterricht in der Wiener Schönbrunner Erzieherschule übernommen und bei den »Kinderfreunden« immer wieder Vorträge gehalten. Von sehr großem Einfluß auf die sozialistische Erziehung, auch auf die »Kinderfreunde«, war Otto Rühle (Dresden). Er hatte sich schon vor dem Krieg mit proletarischer Erziehung beschäftigt und griff dies Mitte der 20er Jahre wieder verstärkt auf. Er verband diese Fragen nun mit der Adlerschen Psychologie, die er durch seine Frau Alice kennengelernt hatte. Zusammen mit ihr brachte er 1924 die Zeitschrift » A m anderen Ufer. Blätter für sozialistische Erziehung« heraus, die der Theorie sozialistischer Erziehungspraxis dienen sollte. 1925 gründeten sie die Erziehungsgemeinschaft »Das proletarische Kind« mit einer gleichnamigen Zeitschrift, die nun viel stärker auf praktische Probleme und Ratschläge konzentriert war (vgl. v. Werder 1975, S. 29f.). Die Erziehungsgemeinschaft selbst, die in regionalen Arbeitsgemeinschaften organisiert war, war als »Lese-, Studien- und Erziehungsgemeinschaft« konzipiert, die sich mit den Existenz- und Entwicklungsbedingungen des proletarischen Kindes und mit einer Erziehungspraxis beschäftigte, die diesem proletarischen Kind »und den Erfordernissen der sozialistischen Gemeinschaftskultur entspräche« (zit. n. Jacoby u. Herbst 1985, S. 63). Eine Reihe von rein individualpsychologischen Erziehungsschriften »Am anderen Ufer« erschien noch 1926 in dem Verlag, den das Ehepaar Rühle betrieb. Unter dem Hauptthema »Schwererziehbare Kinder« erschienen 14 Broschüren von bekannten Individualpsychologen wie Adler, Wexberg, Seif, Künkel, Appelt, Otto Kaus und den Rühles selbst. 1925 schrieb Rühle das Buch »Die Seele des proletarischen Kindes«, das er als psychologisch ausgerichtete Ergänzung seines soziologisch orientierten Buchs »Das proletarische Kind« von 1911 11 D i e s e hießen »Kinderrepubliken«, weil sie streng p a r l a m e n t a r i s c h - d e m o kratisch organisiert waren.
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verstand. Mit Adlerschen Begriffen und in individualpsychologischer Denkweise legt er damit eine Psychologie des (proletarischen) Kindes vor, die vor allem für Kanitz von großem Einfluß war. Rühle beschreibt hier sehr anschaulich und konkret die untergeordnete Lebenslage des Kindes in dieser Gesellschaft, seine Formen der »Abwehr« gegen diese Lage (männlicher Protest) und häufige und mögliche »Verwirrungen« wie Verwahrlosung. Kriminalität und so weiter. In besonderem Maß gelte das für das proletarische Kind und verschärfe sich noch beim proletarischen Mädchen. Vor allem liegt Rühle daran, die negativen und quälenden Auswirkungen autoritärer Unterdrückung eindrücklich zu machen, die zu autoritären Menschen und zur Verhinderung des Klassenbewußtseins führe. Die erzieherische Lösung kann für ihn nur in einem Leben in einer unautoritären Gemeinschaft liegen, die es im idealen Sinn nur in der Gemeinschaft von Gleichaltrigen oder Kindern und Jugendlichen (wie bei Lazarsfeld) geben kann. »Um zur Gemeinschaft zu kommen, braucht es ein Kind, wie es selber ist, ein Mitkind« (1925a, S. 147). Von hier aus kritisiert Rühle die »Kinderfreunde« als Eltemorganisation. »Hinter den Kinderfreunden stehen Partei und Gewerkschaften, autoritäre Verbände reinsten Wassers. So groß und redlich auch ihr Bemühen sein mag, sie kommen von der Autorität nicht los« (S. 147). Rühle unterstützte deshalb vor allem die »antiautoritären Erzieher« der anarchistischen Jugendbewegung und hatte damit auf die »Freie Jugend« großen Einfluß (vgl. v. Werder 1975, S. 30f.). Die Übereinstimmng in den psychologischen Zielen und in einzelnen Erziehungsfragen war offensichtlich, freilich fehlte bei Adler selbst die explizit politische Zielsetzung. Sozialistische Erziehung und Individualpsychologie stimmten in ihrer Stellungnahme gegen Benachteiligung, für eine bessere Gesellschaft und für eine Erziehung in der Gemeinschaft überein. Damit verbunden war ihr Konsens darüber, daß die Familienerziehung eine schlechte Vorbereitung zur Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls oder Solidaritätsgefühls sei, da in der Familie sich das autoritäre Prinzip durchsetze, die Vorherrschaft des Vaters ein schlechtes Vorbild sei und »dem Streben nach Macht, der Entwicklung zur Eitelkeit außerordentlich Vorschub« leiste (Adler 1927a, S. 244). Adler selbst ging allerdings nie soweit, die Kollektiverziehung als Ersatz für Familienerzie129
hung zu propagieren, wie es die Individualpsychologin Sofie Lazarsfeld tat: »Wir sind für Gemeinschaftserziehung, gegen Familienerziehung« (1926, S. 327). Was Gemeinschaft und Gemeinschaftserziehung ist, konnte nicht nur in der Schulreform, sondern auch in der sozialistischen Erziehung konkretisiert und praktiziert werden. Adler wurde umgekehrt natürlich auch von der Praxis sozialistischer Erziehung beeinflußt und bestätigt, denn sie konkretisierte und praktizierte ja das, was er Gemeinschaft und Gemeinschaftserziehung nannte. »Gemeinschaft« bedeutete bei beiden eine zu ermöglichende Gegenwart durch gegenseitige Hilfe und Achtung und eine anzustrebende Zukunft als besserer Welt der »Menschheit«.
Individualpsychologie und Sexualreform Sexualität hat in der Individualpsychologie gewiß nicht den Stellenwert, der ihr in der Psychoanalyse zukommt. Adler hat Sexualität von ihrer primären Rolle verdrängt. Er hat sie als Ausdrucksform der Persönlichkeit und als eine im wesentlichen soziale Funktion gesehen. Sexualität ist für ihn nicht mit Kausalmacht ausgestattet und nicht der Kultur entgegengestellt. Das Reden über Sexualität ist für ihn eher Metapher, »sexueller Jargon«, und es spricht viel mehr das (soziale) Verhältnis der Geschlechter zueinander aus (»männlicher Protest«, »psychischer Hermaphroditismus«), als daß es auf (»natürliche«) Triebbefriedigung abziele. Dies hängt natürlich mit Adlers Ablehnung des Triebbegriffs zusammen, wohl aber auch mit seiner Orientierung an unteren Schichten, denen der Diskurs über Sexualität nicht so bedeutsam war wie der bürgerlichen und bohemienen Schicht der Jahrhundertwende (vgl. Foucault 1976). Gleichwohl ist natürlich dieses Thema nicht ausgespart, zunehmend mehr aber stellt er es in den sozialen Kontext von Liebe, Ehe und Familie. Dem Kontext des sexualpathologischen und sexualreformerischen Diskurses der Jahrhundertwende - und seiner Zusammenarbeit mit Freud - sind Adlers beiden kleineren Aufsätze zur Sexualhygiene und Sexualaufklärung der Kinder (1904b, 1905a) entsprungen. Im »Nervösen Charakter« von 1912 zitiert er bemerkenswert viele Sexualpathologen dieser Zeit. Schließlich widmet 130
er sich in der Zeit des Ersten Weltkriegs dem großen Thema dieser Diskussion, dem Thema Homosexualität, das mit dem Namen Magnus Hirschfeld 12 verbunden war. In der Reihe »Schriften des Vereins der Individualpsychologie« erscheint zu diesem Thema von Adler eine Broschüre (1917b) 13 und 1918 hält er in Zürich darüber einen Vortrag (1918a). 1930 erscheint, nur leicht verändert und erweitert, die Broschüre von 1917 als »Beihefte der IZI« (1930d). Homosexualität ist für Adler, entgegen der Meinung von Hirschfeld und in Übereinstimmung mit vielen anderen, nicht angeboren. Sie ist für ihn »eine Gesamterkrankung der Individualität« die weder physiologisch bedingt noch angeboren ist (1930d, S. 34), eine Neurose oder Perversion.' 4 Sie sei Kompensation eines Minderwertigkeitsgefühls gegenüber dem überschätzten anderen Geschlecht, eine »Revolte gegen die Einfügung in die normale Geschlechtsrolle« (1930d, S. 27). Männliche Homosexuelle seien in der Familie durch einen tyrannischen Vater oder durch eine starke, unnachgiebige Mutter entmutigt worden (S. 32f.). Adler ist zwar klar gegen eine Strafverfolgung der Homosexuellen, aber er unterstützt die Homosexuellenbewegung nicht, und zwar mit einer Argumentation, die sich an tradierten Sexualnormen und an bevölkerungspolitischen Überlegungen - also an der »Gemeinschaft« - orientiert. Er kommt dabei zu einigermaßen schauderlichen Sätzen, wie: Homosexualtät sei eine »volksschädigende« Neurose (S. 26), weshalb »staatlicher Zwang zur Heilung« (S. 89) zu fordern sei. Da Homosexualität »gegen den Gemeinsinn« gehe, könne keine Theorie und keine Bewegung die Ächtung 12 Magnus Hirschfeld hatte bereits 1897 zur Erforschung der Homosexualität und gegen ihre Diskrimenierung das »Wissenschaftlich-Humanitäre Komitee« (WHK) ins Leben gerufen. Eine Beschäftigung mit Homosexualität bedeutete immer auch eine Auseinandersetzung mit Hirschfeld. Kontakte zur Psychoanalyse zwischen 1905-1911 endeten in gegenseitiger Abgrenzung. Hirschfeld war am 31.1.1914 Gast im individualpsychologischen Verein (s. IZI 1, S. 32) mit einem Vortrag über seine Theorie der »sexuellen Zwischenstufen«, mit der er Homosexualität als angeborene, unbeeinHußbare Variation einordnete (vgl. Herzer 1992). 13 Sie wurde bereits 1914 als »demnächst« erscheinend angekündigt (IZI 1914, S. 17). 14 Die Abnormität von Homosexualität, heute umstritten, stand damals kaum in Frage.
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von Homosexualität durch den »Volkswillen« ändern (S. 24). Adlers theoretische und gesellschaftspolitische Position zur Homosexualität ist unter den damaligen Individualpsychoiogen Konsens geblieben. 1 5 In den 20er Jahren schrieben Adler selbst und auch seine Anhänger eine große Anzahl von Aufsätzen und Bücher zum Themenkreis Sexualität, Liebe und Ehe, womit sich die Individualpsychologie in den Kontext der Sexualreformbewegung gestellt hat. Die hier von den Individualpsychoiogen dargelegten Positionen zur Ehe- und Sexualmoral sind heute nicht mehr vertretbar. Gemessen an seiner Zeit kann man sie als aufgeklärt-gemäßigt bezeichnen, denen sexualrevolutionäre Impulse fremd waren. In der Sexualreformbewegung der 20er Jahre ging es um Sexualaufklärung, sexuelle Emanzipation und um ein neues Verständnis von Ehe, Familie und Kindererziehung. In Frage gestellt wurde die eheliche Bindung und der Mutterschaftszwang; diskutiert und propagiert wurden verschiedene Formen sexueller Befriedigung, Sexualerziehung und Jugendsexualität. Das Recht und die Notwendigkeit von Verhütungsmethoden wurden nicht mehr in Frage gestellt, während die Legalisierung der Abtreibung ebenso wie die Tolerierung von Homosexualität weiter u m k ä m p f t waren. In dieser Sexualreformbewegung kamen verschiedene Interessen zusammen, rieben sich aneinander und vermischten sich: frauenemanzipatorische, sexualrevolutionäre und eugenisch-bevölkerungspolitische. Die Forderungen nach sexueller Befriedigung der Frau und Selbstbestimmung über ihren Körper - und damit auch nach Verhütung und Schwangerschaftsabbruch - gehörten zur neuen Sexualmoral der »Neuen Frau« (s. Kap. XIII). Die Sexualreform k a m diesen Forderungen ein Stück weit entgegen, aber sie versuchte zugleich, mit der Erotisierung der Ehe, die Institution Ehe zu retten. Sexualität wurde offengelegt, aber auch versachlicht, verwissenschaftlicht und kontrollierter Rationalität unterworfen. Die Pro15 S. O t t o K a u s und Fritz KUnkel in: Wexberg 1926a, S. 562 und Wexberg 1930a, S. 179ff. W e x b e r g belegt weibliche Homosexualität mit dem Begriff » m ä n n l i c h e r Protest« und unterstützt eindeutiger die Straffreiheit des Homosexuellen.
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pagierung der Geburtenregelung entsprach dem Bedürfnis nach Selbstbestimmmung, aber sie wurde zugleich unter den eugenischen Gesichtspunkt gestellt, die Zahl der gesunden und »begabten« Bevölkerungsteile zu vergrößern - deshalb war der Gedanke an Zwangssterilisation und Euthanasie weitgehend akzeptiert. Hintergrund dieser Überlegungen war, daß durch die Veränderungsbewegungen nach Krieg und Revolution (wobei die Russische Revolution von besonderer Bedeutung war) die traditionellen Werte von Ehe und Fortpflanzung eine Erosion erlebten, so daß die Zahl unkontrollierter Abtreibungen, Ehescheidungen und Geburtenrückgang enorm angestiegen war (vgl. Grossmann 1985; Peukert 1987; von Soden 1988). Es gab eine geradezu unüberschaubare Fülle von Aufklärungsund Ratgeberliteratur, von Vorträgen und Massenveranstaltungen. Bücher wurden zu Bestsellern, Redner (wie z. B. Max Hodann, Berlin) avancierten zu Massenagitatoren der Jugend. Vor allem wurden Beratungsstellen zur Aufklärung und Hilfe bei Verhütung und gegebenenfalls Schwangerschaftsabbruch eingerichtet was von höchster Bedeutung vor allem für proletarische Frauen war. Die erste solcher Sexualberatungsstellen in Deutschland wurde 1919 im Institut für Sexualwissenschaft unter Leitung von Magnus Hirschfeld in Berlin eingerichtet, die nächste 1924 vom »Mutterschaftsbund« unter Leitung von Helene Stöcker. Bis 1932 gab es etwa 400 solcher Stellen, davon 40 in Berlin, in freier oder öffentlicher Trägerschaft. Dazu kamen noch - weniger frauenorientierte - Eheberatungsstellen, die eine körperliche Untersuchung für Ehekandidaten aus eugenischen Gründen anboten (vgl. v. Soden 1988). In Wien ist nach 1918 die Entwicklung ganz ähnlich. Ab 1922 richtete der »Bund gegen Mutterschaftszwang« hier (und in den österreichischen Bundesländern) Sexualberatungsstellen ein, die Gemeinde Wien betrieb ab 1922 eine Eheberatung (vgl. Lehner 1985), 1925 richtete die Individualpsychologin Sofie Lazarsfeld eine Sexual- und Eheberatungsstelle ein, ab 1928 gab es verschiedene »proletarische Sexualberatungsstellen« des Vereins »Sozialistische Gesellschaft für Sexualleben und Sexualforschung« unter der Leitung von Wilhelm Reich und Marie Frischauf-Pappenheim, die sich im sexualrevolutionären Sinn vor allem an proletarische Jugendliche wandten (vgl. Fallend 1988).
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Die Individualpsychologen beteiligten sich somit an dieser Bewegung einerseits durch Vorträge und Publikationen wissenschaftlicher und populärer Art, so unter anderem - neben Adler - Oliver Brachfeld, Rudolf Dreikurs, Otto Kaus, Sofie Lazarsfeld, Alice Rühle-Gerstel, Oswald Schwarz, Erwin Wexberg, andererseits durch praktische Beratungstätigkeit, vor allem von Sofie Lazarsfeld in Wien. In Berlin war der der Individualpsychologie nahestehende Arthur Kronfeld auch Mitarbeiter am Institut für Sexualwissenschaft (Hirschfeld-Institut); Otto Müller und Fritz Künkel werden auch als Eheberater genannt (vgl. v. Soden 1988, S. 105). Adler selbst war 1926 beim I. Internationalen Kongreß für Sexualwissenschaft in Berlin mit einem Vortrag aufgetreten (s. Adler 1928c, auch IZI 1927, S. 230). Im gleichen Jahr 1926 schrieb er sechs Aufsätze zur Sexualität und Sexualpathologie in einem »Handbuch zur normalen und pathologischen Physiologie« (Hg. Bethe). In der Reihe »Beihefte zur IZI« erschienen als Band II. von Erwin Wexberg »Einführung in die Psychologie des Geschlechtslebens« (1930), die einen wissenschaftlichen Überblick über Fragen der Erotik, Fortpflanzung, Sexualpädagogik und Sexualpathologie, darstellt und als Band III von Rudolf Dreikurs »Seelische Impotenz« (1931), ebenfalls eine wissenschaftliche Darstellung. Ganz anderen Charakter haben eine Reihe von Aufsätzen von Oliver Brachfeld in der »Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik« in den Jahren 1929-31. Es sind fast durchweg kulturgeschichtliche Beiträge zur Sexualforschung, die Belesenheit und eine Liebe für Witz und Abwegiges verraten. 1 6 Den unmittelbar praktischen Zugang hatte Sofie Lazarsfeld durch ihre Ehe- und Sexualberatungsstelle in Wien (1925), aus der heraus sie eine Reihe von populärwissenschaftlichen Büchern mit Ratgebercharakter schrieb. Die Beratungsstelle, die sie leitete, wurde von beiderlei Geschlecht, von allen Schichten und Altersklassen aufgesucht. Beratung, die sie auch schriftlich gab, hieß für sie dabei nicht, einen »Ratschlag« zu geben, sondern die »psychische Klärung der Situation« (S. 8).
16 E i n i g e Titel: Z u m » M ä n n e r k i n d b e t t « 1929; » E m p f ä n g n i s durch das Lekken von Pulver im Volksmärchen« 1930; zur »Glyptophilie« 1930.
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In ihrem umfassendsten Buch, »Wie die Frau den Mann erlebt« (1931), behandelt sie sexuelle Fragen wie Orgasmusfähigkeit und -kurven bei Frauen und Männern, Onanie, Frigidität und anderes mehr. Diese sexuellen Funktionen und Probleme sieht sie individualpsychologisch unter dem Vorzeichen, daß Sexualität nur (sekundäre) Ausdrucksform anderer Tendenzen, des Lebensstils insgesamt, sei. Sie schlußfolgert allerdings daraus, daß der »Sexualtrieb«, da er »keine absolute Macht« sei, doch schließlich beherrscht werden müsse. Mit diesem Tenor relativiert sie dann auch die damals viel diskutierte »Sexualnot der Jugend«. Adler nimmt, vor allem in seinen späteren Schriften, zur Ehe eine traditionelle und wenig kritische Position ein. Die Ehe gehört für ihn zu den drei Lebensaufgaben - oder Pflichten - und ist für ihn per se bereits Ausdruck des Gemeinschaftsgefühls. Allerdings müßten in der Ehe Zusammenarbeit, Gleichheit und Gleichberechtigung herrschen. Auch für Sofie Lazarsfeld ist die eheliche Dauerbeziehung Ziel und Ideal des Zusammenlebens; daß sie »viele Hemmungen der Erotik in sich schließt«, beweise nichts gegen die Ehe an sich (1931, S. 135). Trotzdem geht Sofie Lazarsfeld - mehr als Adler, aber weniger als Alice Rühle-Gerstel in ihrem großen Frauenbuch (1932) - auf die problematischen Seiten der Ehe vor allem für die Frau ein und fordert sehr entschieden Selbständigkeit und Berufstätigkeit der Frau. Zur Ehe gehört für Adler auch die Entscheidung für Kinder, deren Erziehung er, traditionellerweise, in die Hand der Mutter legt. Kinderlose Ehen verurteilt er immer wieder scharf, sie seien Ausdruck des Egoismus, des mangelnden Gemeinschaftsgefühls und des männlichen Protests der Frau - oder wie Margarete Hilferding sagt, Ausdruck der Entmutigung. Hilferding bezieht dies auch auf die nur Ein- und Zweikindehe (1926, S. 19). Folgerichtig hält Adler dann auch die Familienerziehung für die beste Form der Erziehung - trotz seiner Vorbehalte. In der Frage der Abtreibung nimmt Adler den Standpunkt ein, daß sie im Interesse des Kindes legalisiert werden müsse, während er Gesichtspunkte der Indikation oder ökonomische Gründe nicht gelten läßt: »Gegenüber diesem Argument: daß nur eine Frau, die das Kind will, ihm eine gute Mutter sein kann, treten alle anderen zurück« (1925i, S. 339). Hilferding plädiert für eine verantwortungsvolle Prävention und befürwortet Abtreibung, aber nur unter 135
ausschließlich eugenischen Gesichtspunkten, also zur Verhütung der Fortpflanzung »geschädigter Keimmasse« im Interesse der Bevölkerungspolitik an »Quantität und Qualität« des Nachwuchses. Das »Bestimmungsrecht« über Abtreibung habe, notfalls mit Zwang, »die Gesellschaft«. Den gesunden Eltern aber müsse man klar machen, »daß sie Kinder wollen müssen, als ein Geschenk für sich selbst und als eine Pflicht gegen die Gesellschaft« (1926. S. 20). Die Haltung der Individualpsychologen zu diesen Fragen entsprach weitgehend der sozialdemokratischen Position. Auch die Austromarxisten verteidigten die Ehe und wandten sich gegen Kinderlosigkeit. In der Frage der Abtreibung waren sie mehrheitlich gegen eine einfache Freigabe und rangen sich schließlich, nach jahrelangen Diskussionen, in einer Beschlußfassung am Linzer Parteitag 1926 zur Indikationslösung (medizinisch, sozial und eugenisch) durch (vgl. Lehner 1985). Diese insgesamt eher traditionelle Grundhaltung gegenüber Sexualität zeigt im Grunde, in wie engen Grenzen Individualpsychologen und Austromarxisten sich mögliche gesellschaftliche Veränderungen dachten und innerhalb dieses Rahmens das - tatsächliche oder vermeintliche - Wohl der Gesellschaft über die individuelle Befreiung stellten. Sie wollten die bestehenden Sexualund Ehenormen zwar verbessern, aber in ihrer Struktur unangetastet lassen.
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XIII. Individualpsychologie und die Frauenfrage
Es ist das besondere Verdienst Adlers gewesen, immer gegen die Erniedrigung und Geringschätzung der Frau und für ihre Gleichstellung eingetreten zu sein. Diese Frage war ihm sogar ein so zentrales Anliegen, daß sie sich terminologisch und konstitutiv in seine psychologische Theorie niederschlug und seine Kulturkritik bestimmte. Er hat dieses Interesse an der Gleichberechtigung der Frau durchweg aufrechterhalten, auch wenn seine Lösungsvorstellungen sich später wieder traditionellen Denkmustern anschlössen. Die Frauenfrage blieb auch in den ganzen 20er Jahren ein wichtiges Thema innerhalb der Individualpsychologie. Ähnlich wie bei Fragen zur Sexualität müssen wir auch hier einbeziehen, daß Thesen zur weiblichen Psychologie, Einzelpositionen zur Beurteilung der Lage der Frau und Angebote zur »Lösung« der Frauenfrage in hohem Maß sensibel auf historische Entwicklungen antworten und dementsprechend in kürzester Zeit Veränderungen unterworfen sind. 1 Um die Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg hatte es eine starke Frauenbewegung gegeben, die die traditionellen Vorrechte des Mannes, besonders im Beruf und in der Ausbildung, angegriffen und Gleichstellung gefordert hatte. Die Mehrheit der wissenschaftlichen und kulturellen Intelligenz wehrte sich gegen diese 1 Bereits in einem so kurzen Z e i t r a u m s wie beispielsweise d e n letzten 30 Jahren haben sich innerhalb der F r a u e n b e w e g u n g die Leitbilder g e w a n d e l t von der Gleichartigkeit zur Andersartigkeit, von der A n g l e i c h u n g an den M a n n zur »Neuen Weiblichkeit« (vgl. Bruder-Bezzel 1988b, 1996).
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Ansprüche, diffamierte und erniedrigte die Frau als intellektuell unterlegen, als bloßes Sexualwesen. Eine solche Haltung war auch gerade in Adlers Umkreis, unter Ärzten und Psychiatern, und im Freud-Kreis, eine Selbstverständlichkeit. Adler setzte sich in der Mittwochsgesellschaft - vor allem in den Diskussionen mit Fritz Wittels - mit seiner Position in Gegensatz dazu, er war der einzige Konsequente. 2 1908 bereits nahm Adler verschiedentlich zu dieser Frage Stellung und betonte vor allem die intellektuelle Gleichwertigkeit der Frau. Er bezeichnete sich in diesem Zusammenhang als Sozialist, griff die marxistische Analyse von Bebel auf und stellt den Emanzipationskampf der Frau neben den des Klassenkampfes, die beide einer Furcht vor Degradierung entspringen (s. Protokolle Bd. 1, S. 331 und Bd. 2, S. 82; 88). Für Adler ist diese Gesellschaft eine patriarchalische, in der die Entwertung der Frau durch den Mann »geradezu als Triebkraft für unsere Kultur angesehen werden« muß (Protokolle Bd. 3, S. 140), so daß eine Änderung der Gesellschaft genau hier anzusetzen habe. Die Herabsetzung der Frau und die Überbewertung alles Männlichen reproduziere sich selbstverständlich in der psychischen Struktur: »weiblich« gelte als unten und minderwertig, »männlich« als oben und stark - so wie es das Kind als N o r m von seiner sozialen Umgebung übernimmt. Die kompensatorische Kraft erscheint als A b w e h r der weiblichen Rollenzuweisung und zugleich als Anstreben von Männlichkeit. Stark sein wollen heiße: »ich möchte ein M a n n sein« und »ich m u ß beweisen, daß ich keine Frau bin«. Diese kompensatorische Tendenz nennt Adler »männlicher Protest«, der für beide Geschlechter gelte. Er ist die Grundlage der Neurosendynamik. Das Kind schwanke zwischen Kleinheits- und Größenideen, zwischen »männlich« und »weiblich«, was Adler »psychischer Hermaphroditismus« nennt (1910c). Die kulturelle Wertung von männlich und weiblich wird dem Kind durch seine familiale Umwelt vermittelt. Vorbild für die Gleichsetzung von Macht und Stärke mit Männlichkeit sei zunächst der Vater, dann auch weitere männliche Figuren, denen mit besonderer Hochachtung begegenet wird. Es könnten aber auch starke Frauenfiguren, wie weibliche Idealfiguren oder dominante 2 Siehe vor allem die Diskussionen am 15.5.1907, 11.3.1908, und a m 12.1.1910 (Protokolle Bd. 1 und Bd. 2).
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16.12.1908
Mütter, insbesondere beim Jungen Gefühle von Schwäche hervorrufen, gegen die er sich mit der Geste des Männlichen und der Abwertung der Frau zur Wehr setze. Von diesen Überlegungen ausgehend, entwickelt Adler Ansätze zu einer Psychologie der Frau. Ausgangspunkt ist, daß es für ihn keine angeborenen weiblichen Charakterzüge gibt, sondern daß diese vielmehr aus der untergeordneten Lage der Frau zu erklären seien. Das Mädchen und später die Frau müsse sich mit dem Vorurteil ihrer Unterlegenheit oder ihrer Andersartigkeit auseinandersetzen. Sie dränge aus dieser Lage heraus, zumal sie die Vorteile und Vorrechte der Männer sehr deutlich spüre. Das könne bei ihr einerseits zur Bewunderung des Mannes und des Männlichen, damit auch zur Selbstverachtung führen, andererseits zu kompensatorischem Protest, Feindseligkeit gegen den Mann und zu Unzufriedenheit. »Weibliche Charakterzüge« seien so ein »Notprodukt, das zustande kommen muß, weil das kleine Mädchen einen männlichen Aberglauben von der Aussichtslosigkeit ihres geistigen Strebens in sich aufgenommen hat und nun dauernd mit einer männlichen Stimme zu reden versucht« (1914f, S. 482). In dieser »Selbstentwertung« kann sie aber keine Ruhe finden. »Der Schluß ist eine meist verborgene, aber leicht zu entziffernde, sonderbare Feindseligkeit gegen den scheinbar bevorzugten Mann« (S. 483). Die früheste Schrift einer Individualpsychologin zur Frauenfrage erschien 1914 von Hedwig Schulhof in der Reihe »Schriften des Vereins für Individualpsychologie«. Hedwig Schulhof erläutert die Position der Individualpsychologie, gibt einen Überblick über die Darstellung des Geschlechterverhältnisses in Philosophie, Mythologie und Literatur und nimmt zur Frauenbewegung Stellung. Sie schreibt, daß die Frau dadurch jahrhundertelang erniedrigt worden sei, daß die Frauenfrage als Mutterfrage galt. Die Frau aber müsse die Möglichkeit haben, die Mutterschaft und die Ehe als Versorgungsinstitution abzulehnen. Der männliche Protest sei ein »Zwangsprodukt der herrschenden Kultur«, das bei allen Neurotikern, Männern und Frauen, und »spurenweise« auch bei Normalen zu finden sei (Schulhof 1914, S. 7). Denn der Anspruch, nicht unterdrückt werden zu wollen, sei »stets auf dem Sprung, in das Gefühl, herrschen zu wollen umzuschlagen« (S. 8). Bei Mädchen wandle sich der männliche Protest nicht selten in ein »Prinzessinnenideal« (S. 10). 139
Adlers Position gehörte vor dem Krieg (unter den Männern) eher zu einer Minderheit. Dies änderte sich nach dem Krieg. Das Rollenbild der Frau und ihre öffentliche Stellung hatten sich verändert. Die Frau hatte im Krieg erlebt, ohne die Männer lebensfähig, j a sogar gesellschaftlich in der »Heimat« sehr wichtig gewesen zu sein. Sie bekam nach der Revolution das aktive und passive Wahlrecht und erhielt Zugang zu neuen Berufen. Das neue Selbstbewußtsein der Frau, ein erweitertes Maß an Unabhängigkeit, ihre neue Rolle im Beruf und im öffentlichen Leben waren Fakten, die zwar noch umstritten waren und angefeindet wurden, aber die nicht mehr einfach rückgängig zu machen waren. Zwar dominierte noch das traditionelle Leitbild der Frau als Ehefrau und Mutter und überwogen faktisch die traditionellen Berufsfelder im Haushalt, in der Landwirtschaft, als Mithelfende im Familienbetrieb oder als Aushilfs- und Gelegenheitsarbeiterin (Peukert 1987, S. 103), und die Zahl der erwerbstätigen Frauen war insgesamt nicht gestiegen, aber es gab das neue weibliche Berufsfeld als Angstellte in den modernen Sektoren der Industrie, des Handels und öffentlichen Dienstes. Allerdings galt dieses Berufsfeld für die junge, ledige und für die ältere alleinstehende Frau, während die erwerbstätige verheiratete Frau als »Doppelverdienerin« sehr heftiger Kritik ausgesetzt war, besonders angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen. Diesem Berufsfeld der jungen Angestellten entstammte ein Bild der Frau, das zwar mehr Mythos der Medien als gelebte Realität, aber doch Leitbild war. Es war die coole, attraktive, konsum- und medienorientierte »Neue Frau« mit Bubikopf, Make-up und Zigaretten - ein Typ, der dem neu-sachlichen »Amerikanismus« derZeit entsprach. Mit diesem Frauentyp konnten weder die alte Frauenbewegung noch die Frauen aus der Arbeiterbewegung etwas anfangen. Akzeptierter und tatsächlich verbreiteter waren die Frauen, die dem »modernen« Leben aufgeschlossen waren, auch als Ehefrau und Mutter. Das Leben dieser »modernen« Frau sollte durchrationalisiert und geplant werden, angefangen von der Organisation der Hausarbeit, der Gestaltung der Erziehung, der bewußten Ernährung, Gesundheit und Hygiene bis hin zur Sexualität nach sachlichen, wissenschaftlichen Grundsätzen. Im Verlauf der 20er und Anfang der 30er Jahre gab es von Adler und von einer Reihe von Individualpsychologinnen eine ganze Fülle von Publikationen und Vorträgen, Aufsätzen und Büchern, die sich 140
mit der Psychologie der Frau und der Frauenfrage beschäftigten (vgl. Lehmkuhl 1988, S. 79f.). Neben kleineren Arbeiten ragen zwei Bücher heraus, die Anfang der 30er Jahre erschienen sind: das im vorigen Kapitel bereits zitierte Buch von Sofie Lazarsfeld 1931 und das von Alice Rühle-Gerstel 1932. Sie stimmen in vielen Einschätzungen überein. entstammen beide dem Umkreis der Arbeiterbewegung. Sofie Lazarsfelds über 300seitiges Buch behandelt neben Fragen der Sexualität und Ehe vom Standpunkt der Frau die unterdrückte gesellschaftliche Stellung der Frau, deren Folgen für die Psychologie der Frau und die Frage des Berufs. Jahrtausendelang sei die Frau entmutigt worden, man habe sie »niemals dazu ermutigt, ihr Teil zur Bewältigung der Lebensaufgaben beizutragen«, man habe sie in ein »Training der Hilflosigkeit« gedrängt, wodurch sie dazu gekommen sei, »auf ihre vollwertige persönliche Entwicklung zu verzichten« (1931, S. 159f.). Entschieden ermutigt Lazarsfeld die Frau zur Berufstätigkeit, die die Voraussetzung für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit und für die Erlangung ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit sei (S. 193ff.). Alice Rühle-Gerstel (1932) schreibt ein über 400 Seiten starkes gründliches Buch, das in vielen Punkten seine Aktualität noch nicht eingebüßt hat - in vielerlei Hinsicht ein gleichrangiger Vorläufer von Simone de Beauvoirs »Das andere Geschlecht« (1949). Alice Rühle-Gerstel nimmt sich der Frauenfrage von einer radikal sozialistischen Position aus an, verbindet historisch-materialistische und individualpsychologische Analysen zur Unterordnung und Geringschätzung der Frau und ihrer spezifischen Verarbeitungsweise. Sie behandelt alle in diesem Bereich denkbaren Fragen und Positionen und gibt eine Fülle von psychologisch bedeutsamen Einzelbeobachtungen über die Frau in Familie, Ehe, Beruf, über Mädchenerziehung, weiblichen Charakter und weibliche Sexualität. Der »weibliche Charakter« ergebe sich aus der spezifischen Position, ihrer biologischen und soziologischen Frauenrolle, keinesfalls aus der Mutterschaftsfunktion. Besonders energisch wendet sie sich gegen die Fixierung der Frau auf die Ehe-, Hausfrauen- und Mutterrolle, auf eine Mutterideologie - ohne die konkrete Lage der Frau im Beruf in irgendeiner Weise zu idealisieren (S. 77). Die Frau sei dazu gezwungen, mit der Situation fertig zu werden, daß Erziehung zur Weiblichkeit eine Erziehung zu Zweitrangigkeit, zur Min141
derwertigkeit und zum Minderwertigkeitsgefühl sei (S. 63). Man verweise das Mädchen auf Bescheidenheit. Fleiß, Sittsamkeit, Gehorsam und Sanftmut (S. 46). Da die Position der Frau real und ideologisch »unten« sei, würde ihr kompensatorisches Leitbild nach der Höhe weisen. Sie b e k o m m e Angst vor der Weiblichkeit oder revoltiere gegen sie (S. 43), »die Ziele der Weiblichkeit finden sich darum alle irgendwie auf der Linie der Männlichkeit« (S. 75). Adlers Position zur Frau, die er vor allem 1927 in seinem Werk »Menschenkenntnis« darstellt, bleibt zunächst im wesentlichen gleich, differenziert sich aber in der Frage des männlichen Protests und der Frauenbewegung. Er entwickelt aus seiner Psychologie der Frau eine Typologie, entsprechend der Form der Auseinandersetzung der Frau mit der weiblichen Rolle. Er unterscheidet zwei extreme Typen von Frauen im »Kampf gegen die Frauenrolle« (1927a, S. 125), den aktiv-männlichen und den passiv-resignativen, und fügt diesen noch einen dritten Typ hinzu, der zwar resignativ, aber doch etwas aktiver ist, etwa dem Typ der traditionellen Frau entspricht. Der 1. Typ suche »mit einer Art Männlichkeit das Übel gutzumachen«. »Die Abwehrstellung gegen die Frauenrolle ist ein Grundzug ihres ganzen Wesens. Zuweilen wendet man auf sie den Ausdruck >Mannweiber< an« (S. 126). Der 2., entgegengesetzte Typ gehe »mit einer Art Resignation durchs Leben« und zeige »einen unglaublichen Grad an Anpassung, Gehorsam und Demut«. Diese Frauen seien ungeschickt, produzierten nervöse Symptome, präsentierten ihre Schwäche und zeigten, »wie eine solche Dressur ... für ein Leben in der Gesellschaft unfähig macht« (S. 127). Der 3. Typ lehne die Frauenrolle nicht ab, aber sei »von der Minderwertigkeit der Frau überzeugt sowie davon, daß nur der Mann allein zu tüchtigeren Leistungen berufen sei. Sie befürworten daher auch seine privilegierte Stellung« (S. 127). Eine ähnliche Typologie, nur etwas ausgefeilter, stellt Alice Rühle-Gerstel auf. Sie unterscheidet 4 Typen von Frauen. Neben der sogenannten normalen, traditionellen Frau - die alles andere als ein Vorbild sei - unterscheidet sie 3 Typen, die ihre Minderwertigkeitsposition nach 3 Richtungen hin kompensierten, nämlich 1. zur männlichen Richtung: »ich will ein Mann sein«, 2. zur weiblichen: »ich will eine besondere Frau sein« und 3. zur übergeschlechtlichen: »ich will den Schranken der Gesellschaft ledig sein« (1932, S. 82). Diese 3 Typen unterscheidet Alice Rühle-Ger-
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stel wieder in vier A b s t u f u n g e n von Normalität bis Neurose bezeih u n g s w e i s e von Wirklichkeitsnähe zur Wirklichkeitsfremde. Typen der männlichen Richtung sind die Tüchtige, Gescheite, Schlaue, Protestlerin; Typen der weiblichen Richtung die Ideale, Barmherzige, Prinzessin, Kindweib, Liebesgöttin und Typen der übergeschlechtlichen Richtung die Furie, die D ä m o n i s c h e und Überspannte ( » N e u e Frau«) (S. 83). 3 Rühle-Gerstel ist im Unterschied zu Adler zugleich der Überzeugung, daß die Frau w e g e n ihres vertieften M i n d e r w e r t i g k e i t s g e f ü h l s das »neurotischere G e schlecht« sei, aber d a ß diese Neurose n o t w e n d i g sei: »Ihre N e u r o s e o d e r neurosenähnliche Verhaltungsweise ist der gangbarste Weg zur Selbstdurchsetzung, den die M ä n n e r w e l t den Frauen offenhält. Die neurotische L e b e n s h a l t u n g der Frauen ist zugleich das Ergebnis ihrer Minderwertigkeitsposition und ein Mittel, dieser zu entrinnen« (S. 118). 4 Wir sehen an diesen Analysen und Typen von Frauen, d a ß m ä n n licher Protest in verschiedenen F o r m e n , in » m ä n n l i c h e r « o d e r »weiblicher« Gestalt auftritt und somit nicht identisch ist mit d e m Anstreben von M a n n g l e i c h h e i t - in dieser B e d e u t u n g aber w u r d e »männlicher Protest« in dieser Zeit vorwiegend verwendet. Für die Frau hat der männliche Protest auch einen e m a n z i p a t o rischen Gehalt, den A d l e r sehr wohl anerkannte. U m sich aus der Unterordnung zu befreien, Gleichberechtigung zu erlangen, m u ß sie aus ihrer z u g e w i e s e n e n Rolle heraustreten und Fähigkeiten, Rechte und auch Positionen anstreben, die in der m ä n n l i c h - d o m i nierten Kultur d e m M a n n vorbehalten sind. Das ist o f t nichts a n d e res als C h a n c e n einzuklagen, die d e m M e n s c h e n schlechthin zuk o m m e n (vgl. de B e a u v o i r 1949). D a m i t aber befindet sich die Frau schnell in e i n e m D i l e m m a , denn indem sie diese R e c h t e anstrebt und einklagt, begibt sie sich entweder tatsächlich in G e f a h r , »manngleich« werden zu m ü s s e n , oder sie gerät in den Verdacht, dies werden zu wollen. Das sieht auch Adler, w e n n er schreibt, d a ß
3 D i e s e A b l e h n u n g der » N e u e n Frau« teilt A l i c e R ü h l e - G e r s t e l mit der Einstellung der A r b e i t e r b e w e g u n g zu d i e s e m » T y p « . 4 Es ist w i c h t i g 7.u w i s s e n , d a ß » N e u r o s e « von R ü h l e - G e r s t e l nicht i m klinis c h e n S i n n verstanden wird, sondern der Z u s p i t z u n g einer g e s e l l s c h a f t s k r i tischen P o s i t i o n entspringt, die den kulturellen Z w a n g zur D e f o r m i e r u n g der Persönlichkeit ausdruckt.
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»jedes Herausrücken aus der Frauenrolle notwendigerweise als männlich erscheinen muß« (1927a, S. 126). Die Auseinandersetzung mit der weiblichen Stellung bleibt also in j e d e m Fall problematisch. Die komplexe Frage der Psychologie der Frau und des männlichen Protests und die Schwierigkeit, Begriffe der individuellen Psychologie auf kollektive Phänomene anzuwenden, spiegeln sich in der spannenden Diskussion über das Verhältnis von männlichem Protest und Frauenbewegung. Darüber wurde in der Individualpsychologie kontrovers diskutiert, j e nachdem, ob männlicher Protest als gesunder Protest, als Ausdruck von Emanzipation oder als neurotisches Streben nach Manngleichheit definiert und je nachdem wie die Frauenbewegung eingeschätzt wurde. Hedwig Schulhof hatte 1914 männlichen Protest im Sinne einer demonstrativen »Vermännlichung« aufgefaßt. Diese sei am Anfang der Frauenbewegung vorherrschend gewesen, während später das Weibliche als das Andere gesehen und Manngleichheit nicht erstrebt wurde. Adler betont - vor allem später - den neurotischen Charakter des individuellen männlichen Protests und setzt ihn vom kollektiven Emanzipationskampf ab. Im individuellen männlichen Protest werde der Emanzipationsgedanke verzerrt und neurotisch überspitzt, aber dennoch geht er in den kollektiven Kampf ein und ist dieser von ihm geprägt. In der Besprechung eines Falls einer (neurotischen) Patientin heißt es bei Adler: »Das ganze Rüstzeug des sozialen Emanzipationskampfes der Frau wird sich in ihrem Gebaren wiederfinden, nur verzerrt, ins Unsinnige, Kindische und Wertlose umgebildet. Dieser individuelle Kampf, sozusagen eine Privatunternehmung gegen männliche Vorrechte, zeigt aber als Analogon, als Vorläufer, oft auch als Begleiter des großen, wogenden sozialen K a m p f e s für Gleichberechtigung der Frau, daß er auf dem Wege aus der Minderwertigkeit zur Kompensation, aus der Tendenz zur Manngleichheit entspringt« (1920 Erg. in 1911c, S. 137). Der kulturelle Fehler »kann durch persönliche Auflehnung nicht überwunden werden« (1931b, S. 223). Erst mit einer Frauenbewegung könnten Bedingungen hergestellt werden, »die es der Frau ermöglichen, sich mit der Frauenrolle auszusöhnen« (1927a, S. 136). Adler unterstützt also prinzipiell die Ziele der Frauenbewegung, aber er steht den aktuellen Bewegungen und Forderungen um die Mitte
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der 20er Jahre wohl etwas reserviert gegenüber, wenn es heißt, »soweit die Frauenbewegung in der Hitze des Gefechtes den Bogen nicht überspannt« (1927a, S. 115), wenn er sie auch verteidigt: »Sie ist weit davon entfernt, die Frau zu entweiblichen oder die natürlichen Beziehungen von Mann und Frau ... zu zerstören« (S. 115). 1925/26 entspann sich in der IZI darüber eine Diskussion zwischen Margret Minor, Valentine Adler und Hilde Grünbaum-Sachs. Für Minor, die ganz hinter der Frauenbewegung steht, ist die Frauenbewegung »der männliche Protest der Frau gegen die Herrschaft des Mannes« (1925, S. 312), sie ist erzwungene Rebellion gegen die männliche Überlegenheit, gegen die geistige und wirtschaftliche Abhängigkeit. Adlers Tochter Valentine faßt den männlichen Protest als neurotische Form des Protests mit dem Ziel der Manngleichheit auf und sieht einen solchen als treibenden Faktor in der bürgerlichen Frauenbewegung, was sich an ihren Auswüchsen gezeigt habe, die es in der proletarischen Frauenbewegung nicht gegeben habe (1925, S. 307ff.). Grünbaum-Sachs wendet sich zwar vornehmlich gegen die Diffamierungen der bürgerlichen Frauenbewegung durch Valentine Adler, wehrt sich aber ohnehin dagegen, die Frauenbewegung in die Theorie des männlichen Protests »hineinzuzwingen«, weil diese mehr und anderes wollte als die Manngleichheit (1926, S. 88ff.). In ihrem Buch von 1932 bezeichnet Alice Rühle-Gerstel die Frauenbewegung als den »sozialen Ausdruck der Geschlechterspannung« (S. 124), als »Hinausverlagerung des kompensatorischen Ziels aus dem Lebensplan vieler Einzelfrauen in den sozialen Raum« (S. 128). Die Frauenbewegung sei keineswegs nur Ausdruck des männlichen Protests und des Anstrebens der Manngleichheit. Wie bei einzelnen Frauen gebe es in ihr verschiedene psychologische Motivierungen und somit männliche und weibliche Ziele (S. 131). Schließlich widmet auch Manes Sperber in seinem Buch von 1934 der Frauenfrage ein Kapitel und geht auch an anderen Stellen darauf ein. Er weist dem männlichen Protest der Frau die positive Rolle zu, den Blick für jede Benachteiligung der Frau zu schärfen und darin den positiven Anstoß zu ihrer Aufhebung zu geben (1934, S. 251). Den Kampf um die Frauenemanzipation interpretiert er als »sozialen männlichen Protest«, den er für sehr wichtig 145
und positiv hält, während der »individualistische männlichen Protest« die Neurose sei (S. 250) - in dieser Gegenüberstellung von individuellem und kollektivem Kampf stimmt er ganz mit Adler überein. Er fügt dem noch hinzu: »Damit die Frau sich wirklich emanzipiere, ist es auch notwendig, daß der Mann sich seinerseits von seiner Männerideologie emanzipiere« (S. 272). Mit dem Ende der Republiken in Deutschland und Österreich und deren Wende zum Autoritären Anfang der 30er Jahre veränderte sich das vorherrschende Frauenbild. Es wurde wieder das alte Ideal der Mutter im Kreis der harmonischen Familie reaktiviert und mit neuem Status ausgestattet. Dieses »Fluchtbild« (Peukert 1987, S. 104) entwarfen nicht nur die Männer, sondern entstand auch unter Frauen, die durch die zusätzlichen Lasten des modernen Lebens, des Berufsalltags und der Doppelbelastung überfordert wurden und enttäuscht waren. Die »Rückzugsbewegungen in die scheinbar heilen überlieferten« Familienideale »des >ganzen Hauses Aufstandmännlicher Protest< gegen Unterdrückung, Schwierigkeiten, Hemmungen ... des Kindes« ( 1985, S. 21). Das Kind entdeckt seine eigene Kraft und ist stolz. Es wird bewundert - oder in seinem Aufstand wieder in die »Minderwertigkeit« zurückgestoßen. So wird seine »Gier nach Geltung« entfacht, es will noch mehr, es versteift sich darauf, es bleibt im Netz seiner Ansprüche gefangen. »Die Kompensation neigt... dazu, über das Ziel hinauszuschießen ... Die Grenzen zwischen Kompensation und Überkompensation sind fließend« (S. 60). 171
Oberstes Ziel ist es, »der Unsicherheit des Lebens ... ein Ende zu machen« (Adler 1912a, S. 91) oder Sicherheit zu erhalten und »Schwierigkeiten zu überwinden«. »Der allgemeinen menschlichen Unsicherheit ein Ende« zu machen sei ein Streben und Begehren, das »tief in der menschlichen Natur begründet« ist (1912a, S. 72). Diesem Ziel dienen eine ganze Anzahl von sogenannten männlichen oder sogenannten weiblichen Charakterzügen, die in der Neurose verstärkt sind. Die Formen der Kompensation nennt Adler Sicherungstendenz, Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls, männlicher Protest, Geltungsstreben, Wille zur Macht - allesamt Fiktionen, mit denen das Individuum versuche, sich über die Realität zu erheben und der Erniedrigung zu entkommen. »Männlicher Protest« spielt in den Jahren 1910-12 eine herausragende Rolle, die er später nicht mehr hatte - es war die Formel, unter der die Beziehung zu Freud gebrochen wurde. Männlicher Protest ist ein »Formenwandel« (1912a, S. 78), in dem »der ältere kompensatorische Wille zur Macht steckt« (1912a, S. 79). Durch ihn wird bei Männern und Frauen das Ziel (der Erhebung etc.) im »sexuellen Jargon« ausgedrückt. Dieser erklärt für Adler den »sexuellen Einschlag« der Neurose, den Ödipuskomplex und sexuelle Perversionen. Der Status des »Willens zur Macht« ist um diese Zeit nicht ganz klar. Einerseits bezeichnet Adler den »Willen zur Macht« als »Vertiefung« des Strebens nach Sicherheit oder der »Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls« - damit also als eine neurotische Ausprägung. Andererseits spricht Adler vom »Primat des Willens zur Macht« (1912a, S. 108) und faßt ihn damit im umfassenden Sinn als oberste, treibende (kompensatorische) Kraft - vergleichbar dem Freudschen Lustprinzip oder Selbsterhaltungstrieb ohne ihn aber als Trieb zu betrachten.
20er Jahre In diesen Jahren wird das Adlersche Grundkonzept weiter ausgeführt und konkretisiert, aber infolge der Einführung des Gemeinschaftsbegriffs ist es nicht mehr das allein beherrschende Thema. Minderwertigkeitsgefühl wird als universelle Erscheinung und als
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Ausgangsbedingung für neurotische Entwicklungen betont. Zugleich stellt sich für Adler das Problem, dieses Konzept mit dem Gemeinschaftsbegriff zu verbinden. Terminologisch bleibt Adler beim Minderwertigkeitsgefühl, Geltungs- und Machtstreben, während der männliche Protest eine geringere Rolle spielt. Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation sind für Adler universell. »Bedenkt man, daß eigentlich jedes Kind dem Leben gegenüber minderwertig ist«, daß es »ihm den Eindruck vermittelt, dem Leben nur schwer gewachsen zu sein, dann muß man annehmen, daß am Beginn jedes seelischen Lebens ein mehr oder weniger tiefes Minderwertigkeitsgefühl steht« (1927a, S. 71). Durch diese Erweiterung zu einer schmerzlichen Grundsituation »des« Menschen »dem Leben« gegenüber wird das soziale Moment in den Hintergrund gedrängt und erfährt das Minderwertigkeitsgefühl zugleich eine positive Würdigung - eine Entwicklung, die sich aber erst in den 30er Jahren voll zeigt. Es heißt aber bereits 1926: »Mensch sein heißt ein Minderwertigkeitsgefühl haben.... Dies ist aber kein Schaden, sondern ein Glück des Menschen, der Beginn, der Ansporn zur Entwicklung der Menschheit« (1926k, S. 144). Böhringer bemerkt zu Recht: »In der Übertragung der einzelnen Organminderwertigkeit auf die konstitutionelle Minderwertigkeit des normalen Kindes liegt ein anthropologisches Potential, das in Adlers Schriften der zwanziger Jahre allmählich wirksam wird« (Böhringer 1985, S. 59). Im Vordergrund steht um diese Zeit aber noch die negative individuelle Erfahrung des verstärkten Minderwertigkeitsgefühls als Ausgangspunkt neurotischer Entwicklung. 2 Adler nennt immer nebeneinander die drei Bedingungen - deren »Wirkungsgrad« aber »von der Auffassung des Individuums« abhänge (1927a, S. 76), nämlich 1. Organminderwertigkeit, 2. kalte Erziehung und 3. Verzärtelung. Organminderwertigkeit hat nun aber an Bedeutung verloren, und die Erziehungseinwirkungen, die nochmal durch die Geschlechtszugehörigkeit und Geschwisterposition modifiziert werden, haben an Gewicht gewonnen. Adler stellt sich die Wirkung dieser Einflüsse folgendermaßen vor: 2 D u r c h g ä n g i g verwendet Adler d a f ü r diesen A u s d r u c k »verstärktes Minderwertigkeitsgefühl« und nur beiläufig, in e i n e m a m e r i k a n i s c h e n Interview (1925h), »Minderwertigkeitskomplex«.
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1. Kinder mit »Mängeln körperlicher Organe« können den »Anforderungen des Lebens nicht recht nachkommen« und begegnen ihnen daher - kompensatorisch - mit Mißtrauen, überschätzen die Licht- und Schattenseiten des Lebens, geraten in Kampfstellung und ziehen sich von den Aufgaben zurück (1927a, S. 45f.). 2. Bei einer strengen, kalten Erziehung kann sich der »Zärtlichkeitstrieb nicht entfalten«. Nicht geliebt, fühlt sich das Kind also nicht wert und wird selbst den Wunsch, geliebt zu sein, als minderwertig abwerten. Das Leben erscheint diesen Kindern besonders schwer, sie stehen ihm mißtrauisch, vorsichtig gegenüber, werden entweder alle Schwierigkeiten erdulden oder bekämpfen (S. 49). 3. Innerhalb der Gruppe der »verzärtelten« Kinder unterscheidet Adler zwei Formen von Verzärtelung. Bei der ersten Form gerät das Kind in eine solche Abhängigkeit, daß es ohne die verzärtelnde Person nicht mehr sein kann und ständige Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit fordert und dieses als Mittel einsetzt, um Druck auszuüben oder im Vordergrund zu bleiben. In der zweiten Form von Verzärtelung werden dem Kind alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt, so daß es keine Gelegenheit hat, sich in der Überwindung von Schwierigkeiten zu üben (S. 49). Adler schildert mit diesen Grundlagen des Minderwertigkeitsgefühls, die er an vielen Beispielen veranschaulicht, Erziehungshaltungen, die sehr weit verbreitet, ja fast alltäglich sind. Damit könnten sie eine weitere Begründung für die Universalität des Minderwertigkeitsgefühls und für den fließenden Übergang von Kompensation zu Überkompensation, von normal zu neurotisch abgeben. Auch das Macht- und Geltungsstreben selbst grenzt Adler nicht als pathologisch aus. Der Mensch setze »bei der Herstellung und Sicherung seiner Lebensbedingungen ... sein Geltungsstreben, sein Streben nach Macht und Überlegenheit durch« (1927a, S. 113). Zugleich haben (übermäßiges) Macht- und Geltungsstreben aber eine deutlich negative Bedeutung - und dies ist Adlers Ansatz seiner Kulturkritik: Es ist »das hervorstechendste Übel in der Kultur der Menschheit« (1927a, S. 75, ähnlich bereits 1919c, 1922c) - eine Sichtweise, die vorwiegend mit der Kritik am Krieg verbunden war.
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In dieses Konzept von Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation führt Adler nun den Gemeinschaftsbegriff als Regulator des Machtstrebens ein: die erzieherische Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls biete die Möglichkeit, »daß das Machtstreben nicht übermächtig werden kann« (1927a, S. 75). Die »Größe des Gemeinschaftsgefühls« bestimme das Ziel mit, das durch das Minderwertigkeitsgefühl gesetzt worden sei (S. 73). Machtstreben und Gemeinschaftsgefühl stellt Adler in dieser Zeit in einen negativen, sich bedingenden Zusammenhang, das heißt ein starkes Machtstreben drossele das Gemeinschaftsgefühl, und ein starkes Gemeinschaftsgefühl bremse das Machtstreben. Da das Minderwertigkeitsgefühl die Voraussetzung für das Machtstreben sei, sei auch jede Einwirkung, die das Minderwertigkeitsgefühl mildert, für die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls förderlich. In einer anderen Sprache ausgedrückt bedeutet das, daß Selbstachtung oder ein starkes Selbstwertgefühl die Basis für soziale Orientierung und Achtung des anderen ist. Das quantitative und qualitative Verhältnis von Machtstreben und Gemeinschaftsgefühl geben der Psyche die Richtung und seien bei der Erfüllung der drei »Lebensaufgaben« (Arbeit, Liebe, Gemeinschaft) entscheidend (1927a, S. 113).
30er Jahre Mit Beginn der 30er Jahre spitzt Adler Tendenzen der 20er Jahre zu und kommt dadurch zu einigermaßen bedeutsamen Veränderungen seiner Theorie. Adler betrachtet nun alles hauptsächlich unter dem Blickwinkel der Evolution und der idealen Gemeinschaft. Seine Psychologie bekommt den Charakter einer Anthropologie. Dementsprechend tritt das Minderwertigkeitsgefühl als schmerzliche Erfahrung zugunsten eines universellen »positiven Erleidens« (1929b, S. 22) ganz zurück, wird das kompensatorische Machtstreben zum Streben nach Vollkommenheit erhöht und wird in der Folge die Differenz normal-neurotisch polarisiert. In gebündelter Form konnten wir diese Tendenzen bereits in seinem Buch »Der Sinn des Lebens« (1933b) finden (s. Kap. X). Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation gehören für Adler zum Wesen des Menschen. »Das Gefühl der Unzulänglichkeit« ist »ein von Natur aus gegebenes und ermöglichtes Gefühl« (1933b, 175
S. 67). Ebenso ist von Natur aus das Streben nach Überwindung vorgezeichnet (S. 69), »Grundgesetz des Lebens ist demnach Überwindung« (S. 55). Ansbacher (1981) nennt dieses Streben nach Überwindung »Wachstumsmotivation« und sieht darin deshalb eine bedeutsame Neuerung in Adlers Theorie, als diese Wachstumsmotivation primär gegenüber dem nun sekundären Minderwertigkeitsgefühl sei. Adler scheint Ansbacher auch Recht zu geben, wenn er sagt: »Im steten Vergleich mit der unerreichbaren idealen Vollkommenheit ist das Individuum ständig von einem Minderwertigkeitsgefühl erfüllt« (1933b, S. 35, ähnlich S. 71). Aber gegen alle Interpretationen und Kritiker bestand Adler darauf, daß das Minderwertigkeitsgefühl die »Triebfeder« (19331, S. 35) sei, daß wir nicht danach streben würden, »überlegen zu sein und Erfolg zu haben, wenn wir nicht das Gefühl hätten, unserem gegenwärtigen Zustand fehle etwas« (1929d, S. 41). Dies aber bedeutet für Adler auch nicht eine statische Folge von primär-sekundär, sondern ein dialektisches Verhältnis, in dem - vom Ausgangspunkt Minderwertigkeitsgefühl her - beide zugleich vorhanden sind und aufeinander einwirken: »Alle Erscheinungen tragen eine Minus- und eine Plussituation (Minderwertigkeitsgefühl-Streben nach Überlegenheit) zugleich in sich« (1932i, S. 265). Da Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation für Adler zum Leben gehören, sind sie für ihn durch die Evolution begründet und haben somit eine segensreiche Wirkung. »Das dauernde Streben nach Sicherheit drängt zur Überwindung der gegenwärtigen Realität zugunsten einer besseren« (1933b, S. 69). In ihrer höchsten Form sei diese Überwindung zum Besseren das Streben nach Vollkommenheit, das mit dem idealen Gemeinschaftsgefühl zusammenfällt. Es sei wie dieses »angeboren als etwas, was dem Leben angehört« (1933il, S. 22). Die Frage, ob der Mensch »wesenhaft« nach Vollkomenheit strebt, ist eine letztlich unentscheidbare philosophisch-anthropologische Frage. Jedenfalls idealisiert Adler damit das Macht- und Konkurrenzstreben des Normalen, und man kann fragen, ob Streben nach Vollkommenheit überhaupt so positiv einzuschätzen ist, wie Adler das tut, denn es ist doch hypertroph und fiktiv, wenn nicht gar, als Streben nach Perfektion oder Totalität, destruktiv. Adler hat, wie Witte schreibt, den »Machtwillen ... zu veredeln ver176
sucht« und damit »der Gefahr des heuchlerischen Optimismus, des moralischen und politischen Pharisäertums, ohne es zu wollen, eine Tür geöffnet« (1988, S. 17). Eine weitere Folge der evolutionär-anthropologischen Betrachtung des Minderwertigkeitsgefühls bei Adler ist, daß er die soziale Dimension eliminiert. Man würde, so sagt Adler nun, Minderwertigkeitsgefühl mißverstehen, wenn man es »relativ, aus einem Vergleich ... sieht« (1929b, S. 22). Adler führt in dieser Zeit nun eine begriffliche Trennung zwischen dem universellen, normalen Gefühl und Streben und ihrer neurotischen Ausprägung ein. Diese nennt er - wenn auch nicht immer - »Komplex«: »Minderwertigkeitskomplex« oder »Überlegenheitskomplex«. Die Bezeichnung »neurotisches Machtstreben« kommt nur noch selten vor, und die des »männlichen Protests« bezieht Adler nur noch auf neurotische Frauen. »Komplex« ist der »übermäßige Grad von Minderwertigkeitsgefühl und Überlegenheitsstreben« (1929d, S. 41), die verfestigte, habitualisierte Form. Als verschärfter, überdauernder Zweifel am Selbstwert ist der Minderwertigkeitskomplex bereits kompensatorisch im Sinn des sekundären Minderwertigkeitsgefühls. Er hat die Bedeutung eines Symptoms. »Neurose ist die weiterentwickelte Form eines Minderwertigkeitskomplexes« (1929b, S. 122). Adler hat allerdings dem Komplex-Begriff gegenüber Vorbehalte, da mit diesem die Vorstellung verbunden war, aus einem Ganzen einen Teil herauszudestillieren, (im Sinne von Jungs Komplex oder Freuds Ödipuskomplex), was Adlers ganzheitlichem Denken nicht entsprach (s. z. B. 1929b, S. 38). Brachfeld meinte, Adler habe den Komplex-Begriff übernommen, weil er in Amerika als Erfinder des Minderwertigkeitskomplexes empfangen worden war (1953, S. 136), und tatsächlich erscheint die Bezeichnung »Komplex« erst in Adlers amerikanischer Zeit, beiläufig 1925, systematischer in seinem ersten amerikanischen Buch »The Science of Living« (1929b). Die Bedingungen für das Entstehen des Minderwertigkeitskomplexes - die Adler nun vielfach als »gemeinschaftshindernde Kindheitssituation« bezeichnet - , sind wie bisher Organminderwertigkeit, kalte Erziehung und Verwöhnung. Neu aber ist nun, daß die »Verwöhnung« als das eigentliche Übel hervorgehoben wird, seitenweise wird sie zum Beispiel im »Sinn des Lebens« (1933b) ge177
geißelt, während »kalte Erziehung« ganz zurücktritt. »Es gibt keine Nervosität ohne Verzärtelung!« (19311, S. 164). Diese einseitige Betonung ist befremdlich, aber sie fügt sich ein, wie mir scheint, in das Wegsehen vom Schmerz, von der Not des Neurotikers und in das Idealisieren des »Normalen«, bei dem kein Wille zur Macht oder Machtstreben mehr gesehen wird. Adler war insgesamt, neben der begrifflichen Unterscheidung zwischen Komplex und Gefühl/Streben, einen weiteren Schritt gegangen, mit dem eine Kluft zwischen normal und neurotisch hergestellt wurde, die einer moralisierenden Polarisierung gleichkommt. Adler tut so, »als ob nur der Neurotiker ... abirre vom Pfad der allgemeinen Tugend« und »verschärft ... die Kluft zwischen der kollektiven und individuellen Neurose« (Witte 1988, S. 22f.). Adler hat sich mit seiner Anthropologie und seiner evolutionären Sichtweise am Ende seines Lebens zwar wieder der Gesellschafts- und Kulturtheorie zugewandt, aber er hat damit zugleich die gesellschaftlichen Bedingungen naturalisiert und durch »das Streben nach Vollkommenheit« und durch die Kluft zwischen normal und neurotisch seiner Theorie den Stachel der Kritik an einer Gesellschaft genommen, die das Individuum zum Macht- und Konkurrenzstreben deformiert.
Exkurs: Verwöhnung Da Verwöhnung oder Verzärtelung bei Adler als eine Form, dem Kind Minderwertigkeitsgefühle zuzufügen, eine besondere Rolle spielt, sei auf sie gesondert eingegangen und in ihren historischen Kontext gestellt. Verwöhnung, ein Begriff aus dem allgemeinen Sprachgebrauch, wird stets als ein negativer Begriff verwendet, aber es ist sehr unterschiedlich, was darunter verstanden und wie stark sie als Erziehungsfehler verurteilt wird. Diese Diskussion scheint einerseits schichtabhängig zu sein und andererseits vom allgemeinen gesellschaftlichen Klima bestimmt, als Seismograph für das vorherrschende Ausmaß an Strenge, Autoritarismus und Aggressivität. Auch Adler hat Verwöhnung immer als schädlich abgelehnt, aber er gab ihr als »Erziehungsfehler« im Laufe der Jahre ein sehr unterschiedliches Gewicht. Seine Warnung vor Verwöhnung reicht 178
in seine Freudianische Zeit zwischen 1905 und 1908 zurück, als Warnung vor zuviel körperlicher Zärtlichkeit - sicher ein Rest aus Freuds Verführungstheorie. Ein Zuviel an libidinöser, sexuell zärtlicher Befriedigung des Kindes führe zu sexueller Frühreife und entziehe das Kind der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Kultur (1908d). Ein Teil dieses Zärtlichkeitsbedürfnisses müsse daher unbefriedigt bleiben als Antrieb zur Teilnahme an der Kultur. Diese Position entsprach auch der Freuds und späterer Psychoanalytiker, die alle ein gewisses Maß an Triebverzicht zugunsten der Aufrechterhaltung der Kultur beziehungsweise des Enkulturationsprozesses befürworteten. 3 In den 20er Jahren werden bei Adler verwöhnende und vernachlässigende oder autoritäre Erziehung innerhalb der Individualpsychologie gleichwertig nebeneinander als Erziehungsfehler behandelt, obgleich zum Beispiel bereits in Wexbergs Aufsatz von 1922 eine sehr stark restriktive Tendenz gegenüber Zärtlichkeit vorherrscht: Was an Übermaß an Liebe erscheine, sei die Tyrannei der Liebe, der dann die affektbetonte Zurückweisung folge, da die Geduld der Eltern nicht mehr ausreiche (1922b, S. 241 ff.). In der psychoanalytischen Diskussion dieser Zeit wird das Problem der Verwöhnung ähnlich als gleichermaßen schädlich gesehen, so bei Anna Freud, Aichhom, Zulliger, später bei Spitz und Bettelheim. Franz Alexander nennt (1927) Überstrenge und Verwöhnung die «beiden Haupttypen der pathogenen Erziehungsmethoden« (S. 167), beide führten zu »gewaltsameren Verdrängungsmechanismen, fördern die pathologische Überstrenge des Überichs« (S. 165) und »verhindern die Sublimierung« (S. 164). Bei Adler ist nun auffällig, wie stark er ab 1930 die Verwöhnung hervorhebt und mit welcher Vehemenz er sie als das entscheidende erzieherische Fehlverhalten anprangert. Verschiedene inhaltliche und zeitliche Zusammenhänge könnten diese Schärfe begründen: In Adlers Kritik an der Verwöhnung spiegelt sich (1.) sein Ressentiment gegen die Psychoanalyse wider, denn sehr häufig verbindet er die Ablehnung von Verwöhnung 3 An dieser Stelle setzt bereits die Kritik von R. Brunner ein, daß Wärme und Zärtlichkeit für den Säugling in seinem eigenständigen Wert nicht als entscheidend betrachtet, sondern unter dem Gesichtspunkt der Enkulturation behandelt wird (1982, S. 156ff.).
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mit einem Hieb gegen die Psychoanalyse. Diese sei die Theorie der verwöhnten Schicht. Die Ablehnung der Verwöhnung spiegelt (2.) eine Nähe oder auch Identifikation mit den unteren Schichten, mit denen er in Wien in Kontakt war. Zumindest ist dies bei Wexberg und Sperber deutlich. Für Wexberg (1930a) ist »Verwöhnung« ein Phänomen, das vor allem bei »reichen Leuten« (S. 139) und »Verweichlichung durch Überzärtlichkeit« in der stickigen Atmosphäre der mittelständischen Familienbindung vorkomme (S. 141), während das »proletarische Kinderdasein« eher von Freudlosigkeit (S. 127), Verwahrlosung und Lieblosigkeit (S. 131) geprägt sei. Diesen Zusammenhang stellt auch Sperber her, der ebenfalls aggressiv gegen die Verzärtelung der Wohlhabenden (und gegen die verzärtelnde Psychotherapie) schreibt (1934, S. 192). (3.) In den späten 20er, Anfang der 30er Jahre, aber begegnete Adler auf seinen Vortragsreisen und bei seinen dortigen Beratungstätigkeiten in den USA als ausländischer Gast dieser »verwöhnten« Schicht vermutlich häufiger, und sie wurde sein Anschaungsmaterial für neurotische Entwicklungen. 4 Eine andere (4.) Vermutung zielt darauf, daß Adlers Schärfe gegen Verwöhnung um 1930 einer vorherrschenden Haltung entspricht, die mit dem veränderten politischen und damit pädagogischen Klima zusammenhing. Der renommierte Pädagoge Hermann Nohl beispielsweise schreibt 1930, daß durch die verschlechterte ökonomische Lage, durch die politische Rechtsentwicklung und durch immanente Schwierigkeiten in der (Reform)Pädagogik selbst, der »äußere und innere Abbau« der Reformpädagogik, ja der Pädagogik überhaupt, betrieben wurde. Pädagogik galt als Luxus, den man glaubte sich nicht mehr leisten zu können. Die Errungenschaften der Reformpädagogik wurden nun als »Verwöhnung« diskreditiert. Der alte Geist von Autorität, Leistung, Härte, Disziplin und »Dienst« zog wieder ein. Indem Adler Verweichlichung und Verzärtelung als Teufel an die Wand malte, ist er nicht weit von denen entfernt, die diesen alten Geist beschworen. Es scheint, daß er sich (auch) hier in den Sog der Zeit hat mitziehen lassen. 4 Meine Vermutung zielt auf die schichtspezifische Differenz des Erziehungsstils, weniger darauf, den amerikanischen Erziehungsstil generell als verwöhnender zu bezeichnen (eine Behauptung, die in diesem Zusammenhang häufig geäußert wird).
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Diskussion und Weiterentwicklung innerhalb der Individualpsychologie Wenn auch das Adlersche Konzept von Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation von seinen Anhängern im wesentlichen in seinem Sinn vertreten und dessen überragende Bedeutung beibehalten wurde, gab es doch unterschiedliche Meinungen, terminologische Änderungen und Konkretisierungen. Das Konzept wurde unter anderem für konkrete Untersuchungen zur Psychologie der Frau (Schulhof, Rühle-Gerstel), zur Lage des Proletariats (Rühle, Kanitz, Wexberg) und (später) für allgemein historische Überlegungen (Brachfeld) herangezogen. Vor allem wurde eine Beziehung zu den Phänomenen Angst und Autoritarismus hergestellt. In Frage stand der theoretische Status des Macht- und Geltungsstrebens und die entwicklungspsychologische Bedeutung des Minderwertigkeitsgefühls. In der modernen Diskussion stehen wieder entwicklungspsychologische Überlegungen im Vordergrund. Ich möchte einige dieser Diskussionen und (Weiter)Entwicklungen aufgreifen.
Verhältnis von Minderwertigkeitsgefühl zum Machtstreben Adler war immer wieder (und bis heute) vorgeworfen worden, er postuliere einen zum Menschen gehörigen Machttrieb und einen Willen zur Macht im Nietzscheanischen Sinn (s. Bloch 1959). Anfang der 30er Jahre aber wurde ihm nun umgekehrt vorgeworfen, er folge Nietzsche nicht konsequent genug und sehe daher nicht den (nicht-kompensatorischen) »primären Machtwillen«, demgegenüber das Minderwertigkeitsgefühl sekundär sei. Eine solche Kritik formuliert beispielsweise Hans Kunz (1928), der die Adlersche Theorie von einem phänomenologisch-existentialanalytischen Standpunkt aus einer prinzipiellen (philosophischen) Kritik unterzog, bei der er sich vor allem auf Klages, Scheler, Nietzsche und Heidegger stützt. Kunz faßt das Minderwertigkeitsgefühl im Sinn eines Selbstzweifels. Dieses so verstandene Minderwertigkeitsgefühl könne nicht die psychische Dynamik einleiten, da dem Selbstzweifel ein Selbstbewußtsein und Machtbewußtsein vorausgehe. Minderwertigkeitsgefühl entstehe nur reaktiv, und zwar da, wo der 181
Machtwille eine Hemmung, einen Widerstand erfahre (1928, S. 709ff.). 5 In der Verteidigung Adlers gegen Kunz verbindet Arthur Kronfeld (1929) diese Frage nach dem theoretischen Status des Machtstrebens (als primärem oder kompensatorischem) mit dem (entwicklungspsychologischen) Ort des Minderwertigkeitsgefühls. Kronfeld konstatiert zwar (primäre) »organische Wachstums- und Machttriebe«, die den »Selbsterhaltungstendenzen« nahestünden, aber er hält zugleich auch an einem »kompensatorischen Machttrieb« als der »Strebensseite des gehemmten Selbstwertgefühls« fest (1929, S. 257f.). Schließlich besteht Kronfeld auf dem Primat des Minderwertigkeitsgefühls. Das Minderwertigkeitsgefühl als Verneinung und Zweifel sei die »erste genetische Entstehungsform des Selbstwerterlebnisses«, das Ich erlebe sich in der Infragestellung. Diesem Ich-Erlebnis gehe allerdings das Fremderlebnis voraus (S. 257). Erwin Wexberg unterscheidet drei unterschiedliche Gefühle von Minderwertigkeit, die sich im Prozeß der Ich-Findung und Du-Erfassung differenzieren: 1. das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit, das in der Spannung zwischen Wollen und Können entstehe und mit der Entwicklung der Kräfte zugleich wachse, 2. das Gefühl des Schwächerseins im Vergleich zwischen Ich und Du und 3. das Erlebnis der Abhängigkeit vom Du (1930a, S. 66ff.) Allerdings ist für Wexberg das Minderwertigkeitsgefühl ohnehin ein Konstrukt, über dessen »seelische Realität wir nichts wissen«, das nur erschlossen werde aus Anzeichen des Nach-oben-Wollens. »Das Geltungsstreben des Kindes ist die eigentliche seelische Realität« (S. 69). Damit stellt Wexberg die berechtigte Frage nach der Erlebnisrealität des Minderwertigkeitsgefühls, der sich auch Zweifel am ubiquitären Vorkommen des erlebten Minderwertigkeitsgefühls anfügen lassen. Solche Zweifel bringt Gaston Roffenstein gegenüber der psychologischen Brauchbarkeit der Anthropologisierung des Minderwertigkeitsgefühls ins Spiel. Er bezweifelt, »ob denn die Hinfälligkeit gegenüber der Natur noch psychologisch als Minderwertigkeit empfunden wird« (1926, S. 245). Roffenstein, der im übrigen eine 5 Hans Kunz' zum Teil polemische Kritik ist sehr umfangreich und beschäftigt sich mit allen Grundsatzfragen der Adlerschen Theorie.
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bemerkenswerte Auseinandersetzung mit der Adlerschen Theorie vorlegt, will auch den Geltungsbereich des Zusammenhangs von Minderwertigkeitsgefühl und Machtwillen auf »gewisse Fälle des Einzel- und Gruppenlebens« einschränken (S. 244ff.). In der heutigen individualpsychologischen Diskussion wird verschiedentlich kritisiert, daß Adler kaum entwicklungspsychologische Überlegungen angestellt habe. Auf grund solcher Überlegungen ließen sich aber, so Hackenberg und Lemm-Hackenberg (1984), zwei Formen (und Quellen) von Minderwertigkeitsgefühl unterscheiden: das Adlersche Minderwertigkeitsgefühl, das aus dem sozialen Vergleich hervorgehe als entwicklungspsychologisch spätere Form, und ein Minderwertigkeitsgefühl beziehungsweise eine Störung des Selbstwertgefühls, die diesem vorausgehe und aus einem Mangel an primärer Liebe im Sinn von Balint resultiere. Walter Spiel kritisiert, daß Adler phasenspezifische Entwicklungsstufen außer acht gelassen habe. Ihm selbst schwebt ein Entwicklungs- oder Lebenslaufkonzept ähnlich dem von Erikson vor (1983, S. 166). In der Tat könnte man Eriksons Stufen und deren krisenhafte Ausprägungen als Stufen oder Formen von Minderwertigkeitsgefühl bezeichnen. »Urmißtrauen« als frühster Krisenstufe entspräche dem Minderwertigkeitsgefühl aus Mangel an Liebe ähnlich Karen Horneys »Grundangst« oder Wexbergs »Urangst« während das, was bei Erikson als »Minderwertigkeit« (versus Fleiß) bezeichnet wird, sehr spät auftritt und im Unterschied zu Adlers Minderwertigkeitsgefühl ganz auf den Leistungsbereich bezogen ist. Auch die früheren Stufen »Scham und Zweifel« und »Schuldgefühl« könnten als Formen des Minderwertigkeitsgefühls angesehen werden.
Angst Von zusätzlicher psychologischer Bedeutung ist es, das Minderwertigkeitsgefühl mit dem Konzept der Angst zu verbinden. Adler selbst hat sich darüber zumindest gelegentlich geäußert. Er stellte bereits 1912 (ähnlich Wexberg) diese Beziehung her: Angst entstehe, »wenn dem Selbstgefühl des Individuums eine Erniedrigung droht. Die Angst enthält zwei Elemente: 1. Das Bild der Zerstörung und 2. den Versuch, das erniedrigte Persönlichkeitsniveau zu he183
ben, was auf Aggressivität hinlenkt«. Die Angst »läßt den Patienten sich in einer weiblichen Rolle fühlen, so daß ... ein psychischer Hermaphroditismus entsteht« (1912 zit. n. Kretschmer 1982, S. 178). 1931 heißt es bei Adler einmal: »Angst ist eine der konkretesten Formen des Minderwertigkeitsgefühls« (1931 f, S. 88). Er betont allerdings weniger das Erleben der Angst als dessen kompensatorische, finale Bedeutung. So sei Angst »Mittel zur Macht« (S. 88) oder, beim Pavor nocturnus, »Mittel, die Mutter ständig festzuhalten«, und zwar als Erscheinung bei verwöhnten Kindern (1931 r, S. 68). Es war vor allem Wexberg, der die Angst ins Zentrum der kindlichen und neurotischen Entwicklung stellte. Die reale Minderwertigkeitsposition werde als Angst erlebt; Angst sei der »affektive Ausdruck der Minderwertigkeitsposition« (1930a, S. 246). Wexberg unterscheidet das »primäre Erlebnis, diese Ur-angst«, die uns weder »subjektiv noch objektiv unmittelbar gegeben ist«, vom »Angstaffekt in sekundärer Verwendung, als Aggression mit den Mitteln der Schwäche«. Alle Neurosen seien um den »Kern > AngstMinderwertigkeitsgefühl < gruppiert« (S. 246.), Angst sei das Kernproblem der Neurose (1926b, S. 427f.). Bei Sperber spielt Angst ebenfalls eine wichtige Rolle, vor allem als Zugang zum Autoritarismusproblem. Er unterscheidet vier Arten von Angst als Ausdruck eines finalisierten Minderwertigkeitsgefühls (1934, S. 206). Die »sozial adressierte« Angst (1.) ist an andere gerichtet, sie ist ein Signal, das die Überwindung des eigenen Schwächegefühls an den anderen abgibt (1937, S. 37f.). Angst als »sekundäres Minderwertigkeitsgefühl« (2.) ist die unbewußt arrangierte Angst, mit der das Individuum sich kompensatorisch vor der Gefahr des Versagens schützt (1934, S. 11). Die »aggressive« Angst (3.) steckt in dem Gefühl, in der Defensive zu sein und deshalb meint sich wehren und andere entwerten zu müssen (S. 200f.). Es ist die Angst, die kompensatorisch zur Macht strebt. In der »Intensitätsangst« (4.) stecken Elemente der sozial adressierten Angst und des sekundären Minderwertigkeitsgefühls. Es ist die Angst, die das Intensitätsbedürfnis befriedigt, als »Zuflucht eines leeren Lebens, als das wahrhaft erregende, aus dem Alltag herausfallende Erleben« (S. 203).
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Autoritarismus Einen anderen Aspekt bekommt die Adlersche Theorie, wenn wir sie als Theorie der »autoritären Persönlichkeit« betrachten, wie es vor allem Rühle (1925) und Sperber (1934, 1937) getan haben. Die Theorie der autoritären Persönlichkeit wird üblicherweise mit der Psychoanalyse und speziell dem Frankfurter Sozialforschungsinstitut (Horkheimer, Fromm, Adorno) verbunden, und das insofern zu Recht, als diese detaillierte Analysen und empirische Forschungen vorgelegt und zu einer ganzen Reihe von weiteren Forschungen angeregt haben. Gleichwohl liegt dieser Blickwinkel der Adlerschen Richtung näher und wurde das Autoritätsprinzip von hier aus zuerst bearbeitet. Denn auch wenn Adler selbst nicht vom autoritären Menschen spricht, was ist denn seine Theorie anderes als eine Theorie der autoritären Persönlichkeit? Man denke an: das gedemütigte Kind, das sich in Machtphantasien oder Machtausübung flüchtet oder durch Unterwerfung Teilhabe an der Macht sucht. Bereits 1910 beschreibt er »Trotz und Gehorsam« als die zwei Seiten einer Medaille (191 Od), 1912 spricht er vom »Marschallstab im Tornister des kleinen Soldaten« (1912a, S. 112), 1917 bezeichnet er das Machtstreben als »Heroismus des Schwächegefühls« (1917b, S. 29) und des Kriegsfreiwilligen (1919a). Autoritäre Erziehung und Strafe in der Erziehung war von frühester Zeit an Gegenstand der Kritik Adlers und seiner Anhänger, unter anderem bei Seif (1922), Otto Rühle (1925), Wexberg (1926b, 1930a) und Sofie Lazarsfeld (1926). Sie alle betonen, daß das autoritäre Prinzip durch die Ungleichheit zwischen Erwachsenem und Kind und besonders durch die Stellung des Vaters in der patriarchalischen Familie reproduziert werde. Die Bezeichnung »autoritärer Mensch« aber hatte Otto Rühle 1925 in die individualpsychologische Diskussion eingebracht. Sein Buch »Die Seele des proletarischen Kindes« ist die Analyse der Sozialisierung zum autoritären Menschen, der für ihn der durchschnittlich normale Mensch in einer Gesellschaft ist, in der das »Sicherungsstreben zu Machtstreben« geworden ist (1925a, S. 162). Der »Glaube an die Macht der Autorität« (74) wird nach Rühle durch Demütigung und Unterwerfung, also durch Herstellung eines Minderwertigkeitsgefühls, durch die Autorität des Vaters, des Unternehmers, des Lehrers, der Religion und des Staats 185
durchgesetzt. Der »Abbau der Autorität in der menschlichen Seele« durch »anti (oder besser: un)autoritäre Erziehung« (1925a, 165) ist für ihn die wichtigste Aufgabe zur Veränderung der Gesellschaft. Zur Befreiung vom Autoritätsprinzip seien Gemeinschaftsgefühl, Steigerung des Vertrauens und des Muts, Vermeidung von Minderwertigkeitsgefühl und Zwang zur Kompensation nötig. »Der in höherem Maße sich selbst vertrauende ... Mensch flüchtet nicht mehr ... zu dem Starken« (1977, S. 448). Autoritarismus (als Ausdruck von Angst) ist auch für Manes Sperber immer wieder Gegenstand der Analyse, ausführlich in seiner »Analyse derTyrannis« von 1937. Der Tyrann (gemeint waren Hitler und Stalin) und das sich ihm unterwerfende Volk bedingten und brauchten einander, und zwar auf Grund ihres Minderwertigkeitsgefühls, das sich in Angst (sozial adressierter und aggressiver) äußere. In Zeiten der Krise und Not entwickle das Volk eine kompensatorische, sozial adressierte Angst, die sich nach einem sehnt, der den Mut für sie alle besitzt (S. 54). Einem solchem Volk verspreche der Tyrann alles, vor allem Teilhabe an der Macht, und gebe ihm einen positiven Wert (S. 52). Er selbst habe aus eigenem Minderwertigkeitsgefühl eine aggressive Angst entwickelt, die alles beseitigen muß, um die Angst loszuwerden. Wille zur Macht über die anderen sei die kompensatorische Form der aggressiven Angst (S. 39-42). Das Spannungsverhältnis von Macht und Ohnmacht, das Schwanken zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Größen- und Allmachtsphantasien hat nach und außerhalb der Adlerschen Theorie einen gewichtigen Stellenwert in analytischen Theorien bekommen, und zwar sowohl zur Erklärung von Angst und Autoritarismus, als auch zur Erklärung narzißtischer Störungen. So ist für Karen Horney das »Sicherheitsbedürfnis« im Zusammenhang mit der »Grundangst« so zentral, daß sie es in ihrer Kritik an Freud dem Lustprinzip gegenüberstellt (Horney 1992). Ebenso ist für Erich Fromm das Gefühl der Ohnmacht, die »Überzeugung von der eigenen Schwäche und Machtlosigkeit« beim neurotischen Menschen regelmäßig vorhanden und in Ansätzen beim Gesunden. Es entstehe ein »Selbstgefühl«, das »zwischen Größenideen und dem Gefühl der absoluten Wertlosigkeit schwankt« (1937, S. 96ff.). In seinem späteren Buch, »Die Furcht vor der Freiheit« (1947), sieht Fromm in autoritären, destruktiven oder konformistischen Verhal186
tensweisen die Flucht aus dem Ohnmachtsgefühl. Horst Eberhard Richter spricht in seinem Buch »Gotteskomplex« (1979) von dem »Ohnmachts-Allmachts-Komplex«. Aus der infantilen Abhängigkeit und Ohnmacht erfolge der Sprung in die Allmachtsphantasien, in die Illusion narzißtischer Omnipotenz und in Haß. Das Leid werde damit abgewehrt oder beschwichtigt oder in Ersatzbefriedigung betäubt. In der modernen individualpsychologischen Literatur wird besonders die Übereinstimmung mit der psychoanalytischen Narzißmustheorie (Kernberg, Kohut) hervorgehoben. Den Auftakt hierzu hat wohl Monika Kruttke-Rüping gegeben. Sie formulierte 1986, Narzißmus sei eine »Folge mangelnder Entwicklung eines positiven Selbst aufgrund unzulänglicher Befriedigung des frühkindlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses«, die zu »vernichtenden Gefühlen des eigenen Unwerts und eigener Ohnmacht« führe. Die narzißtische Störung sei dann der kompensatorische Versuch, sich gegen »das entwertende Erlebnis des Ungeliebtseins zu sichern« (Kruttke-Rüping 1986, S. 20f.). Gerade über die weitere Narzißmusdiskussion hat die Individualpsychologie einen Zugang zur Psychoanalyse gewonnen; die Rezeption der Kohutschen Selbstpsychologie spielt, neben der der Objektbeziehungstheorie, für einige eine besonders bedeutende Rolle (so z. B. bei Dieter Tenbrink in der ZflP 1994, 1996a, 1996b).
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XVI. Grundannahmen über die psychische Struktur
Als Adler 1912 den Begriff »Individuum« einführte, der dann zur »Individualpsychologie« führen sollte, zitierte er Rudolf Virchow: So wird »das Individuum eine einheitliche Gemeinschaft, in der alle Teile zu einem gleichartigen Zweck zusammenwirken (Virchow)« (1912a, S. 35). »Individuum« ist also eine zielgerichtete Einheit. Einheit und Zielgerichtetheit (Finalität) gehören zusammen; diese zielstrebige Einheit drückt sich im Lebensplan und im Lebensstil aus: »Jeder kleinste Zug des Seelenlebens ist von einer planvollen Dynamik durchflössen«, ist »Abdruck, sozusagen ein Symbol des einheitlich gerichteten Lebensplans« (1912a, S. 36). Durch das Ziel, den Lebensplan, (und später auch Lebensstil), wird die Einheit der Psyche hergestellt und aufrechterhalten. Dadurch ist das »seelische Leben« in »Bewegung«, »Seele« ist kein »ruhendes Ganzes«, sondern es sind »bewegende Kräfte« (1927a, S. 31). Durch die Aufstellung eines Ziels muß eine Bewegung mit Notwendigkeit erfolgen (S. 32). Dabei ist die Zielsetzung, zumindest in der frühen Zeit von Adler, mit dem Begriff der Fiktion (und Gegenfiktion) verbunden, das heißt sie baut auf unrealen Annahmen auf und strebt solchen nach. Fiktive Finalität, Einheit und Lebensstil gehören bei Adler somit aufs engste zusammen und sind miteinander verwoben. Sie sind für ihn die Grundlagen aller seelischen Funktionen. Das ist sein Blickwinkel, unter dem er die seelische Struktur betrachten und beschreiben will: als ob sie sich selbst erschafft und (aufrecht)erhält und als ob sie zielgerichtet einem einheitlichen Lebensstil gehorcht.
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Finalität und Fiktion Die »zielsetzende Psyche« ist für Adler ein grundlegendes Postulat, das ihn von Freuds Triebpsychologie trennt. Adler meint, daß bereits alle basalen menschlichen Funktionen wie Wahrnehmung, Erinnerung, Erfahrung von einem Ziel geleitet und nicht passiv erlitten werden, »schon die einfache Wahrnehmung ist nicht objektiver Eindruck oder nur Erlebnis, sondern eine schöpferische Leistung von Vor- und Hintergedanken, bei der die ganze Persönlichkeit in Schwingung ist« (1912e, S. 68). Damit drückt Adler die Aktivität und »schöpferische Leistung« der psychischen Funktionen aus, womit eine Zurückweisung der Vorstellung essentialistischer Realitäts- oder Wahrheitssicht oder der Vorstellung des bloßen Einwirkens »objektiver« Realität verbunden ist. In diesem - konstruktivistischen - Sinn also macht das Individuum seine Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühle und bildet es seine Charakterzüge aus. So heißt es konsequent: »Der Neurotiker leidet nicht an seinen Reminiszenzen, sondern macht sie« (1912a, S. 137), oder: »Keines dieser Erinnerungsbilder hat je pathogen gewirkt«, sondern sie werden hervorgeholt, »wenn das Gefühl starker Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls zum männlichen Protest führt und damit zum engeren Anschluß an die längst gebildeten kompensatorischen Leitlinien« (1912a, S. 110f.). Unter diesem Blickwinkel betrachtet Adler auch die umfassenderen, der Sicherheit oder Selbsterhöhung dienenden Leitlinien und Charakterzüge: Das Kind bildet Charakterzüge aus, die es ermöglichen, diese Leitlinien zu verfolgen. Diese Züge werden (beim Neurotiker) zu »Wächtern gegenüber der Außenwelt« (S. 183), zu sichernden Bereitschaften, zu »Fühlem«, die unaufhörlich alles prüfen »auf ihre Vor- und Nachteile bezüglich des gesetzten Zwecks« (S. 52). Mit diesem Ansatz der Zielgerichtetheit stellt sich Adler ganz auf die Linie pragmatischer Philosophie seiner Zeit und im weiteren in die Reihe all der Psychologen, die von Intentionalität und Teleologie sprechen (Gestaltpsychologen, Brentano, Bühler, Stern). Heute würden wir dies als konstruktivistisch bezeichnen (vgl. Bruder 1996, 1998). Adler bezieht sich selbst vorwiegend auf Hans Vaihinger und nennt auch Henri Bergson. Bei Vaihinger (1911) 189
heißt es: Denken ist zweckmäßige Verarbeitung des Empfindungsmaterials, um das Handeln vorauszuberechnen. Die Seele ist nicht nur aufnehmend, sondern auch aneignend und verarbeitend (1911, S. 3, 7). Auch für Bergson hat der Mensch als handelndes, tätiges Wesen die Fähigkeit, einem Ziel zuzuarbeiten durch aktive Einwirkung auf die Außenwelt. Der Fiktionsbegriff im Zusammenhang mit dem Ziel taucht bei Adler bereits 1910/11 (1910f.) auf, wird aber erst 1912, im »Nervösen Charakter«, eingearbeitet und geradezu zu seinem Anliegen. Fiktionen sind unreale, aber nützliche Annahmen, Hilfskonstruktionen, Schemata. Der Fiktionsbegriff soll den illusionären Charakter des Leitbildes ausdrücken. Das Ziel oder der Lebensplan sind fiktiv, weil sie ein Ideal (der Überlegenheit, der Sicherheit), eine Fiktion also, anstreben und weil sie nicht auf Tatsachen, sondern auf unrealen Annahmen, auf Meinungen über sich und die Welt aufgebaut sind. Auf Fiktionen sind ebenso die wissenschaftlichen, psychologischen Betrachtungen im Sinne einer »heuristischen Methode« (1927a, S. 74) aufgebaut: das Seelenleben so zu betrachten, als ob es auf ein Ziel gerichtet wäre (S. 31). Fiktionen sind also nicht speziefisch neurotisch, sie prägen alles Denken, Wahrnehmen und Handeln. Aber die neurotische Fiktion ist sowohl maßlos überhöht als auch starr: Das Persönlichkeitsideal gerät in die »Nähe einer Gottähnlichkeit« (1912a, S. 116), der »Nervöse« verleiht der Fiktion »willkürlich Realitätswert« (S. 77). Der Gesunde bedient sich seiner Fiktionen, er kann diese Krücken jederzeit aufgeben (S. 105), während der Neurotiker »Diener seines fiktiven Zwecks« ist (S. 54), »er ist ans Kreuz seiner Fiktionen geschlagen« (S. 105). Ob das fiktive Ziel bewußt oder unbewußt ist, ist für Adler eine Frage der Funktionalität für den Lebensplan. Im allgemeinen wird die Fiktion dem Bewußtsein entzogen, weil sie im Gegensatz zur Realität steht und gegen andere feindlich ist. Wo allerdings Bewußtheit des Endziels der Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls dient, da kann es auch ins Bewußtsein treten (1913h). Ein anderer Ausweg, mit dem irrealen und aggressiven Charakter der Fiktion umzugehen, ist es, eine »Gegenfiktion« zu errichten. Um nicht in Schwierigkeit zu geraten, muß die Überhöhung und Feindseligkeit versteckt, maskiert werden. Es kann daher nötig
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sein, die Leitlinie in ihr Gegenteil zu verkehren, die »weiblichen« Züge zu verstärken oder ethisch und sozial hochstehende Linien zu verfolgen: »Durch Bescheidenheit zu glänzen, durch Demut und Unterwerfung zu siegen.« Zu diesen Gegenfiktionen ist der Neurotiker aber nur in »Zeiten der Gehobenheit, der Sicherheit« fähig (1912a. S. 115). Adler hat den Fiktionsbegriff von Hans Vaihinger übernommen, dessen Buch »Philososphie des Als Ob« 1911 erschienen ist. Vaihinger synthetisiert darin die erkenntnistheoretischen Strömungen seiner Zeit, 1 bezeichnet seine »Philosophie des Als Ob« als »idealistischen Positivismus«. Fiktionen sind bei ihm »Kunstgriffe des Denkens« (Vaihinger 1911, S. 18), falsche Annahmen, um im wissenschaftlichen, religiösen, moralischen Denken zum Richtigen zu kommen. Adler verwendet später den Fiktionsbegriff nur noch selten oder bindet ihn ganz an die neurotische Dynamik im Sinne eines Irrtums - und hat damit seine kritische, konstruktivistische Sichtweise wieder der essentialistischen Sicht geopfert. Schon in »Menschenkenntnis« heißt es zur psychologischen Betrachtung: Die »heuristische Methode« ist mehr als ein »Hilfsmittel der Forschung«, »die Zielstrebigkeit der Psyche ist demnach nicht bloß unsere Anschauungsform, sondern auch eine Grundtatsache« ( 1 9 2 7 a , S. 75).
Einheit und Ganzheit Zu der bisher gemeinten intrapsychischen Einheit kommt bei Adler - begrifflich nicht ganz klar unterschieden - die Auffassung von »Ganzheit« hinzu, die den Zusammenhang des Individuums mit seiner sozialen und kosmologischen Umwelt meint. Diese Ganzheit oder wie Adler auch sagt, »Zusammenhangsbetrachtung«, ist bereits in seinen sozialmedizinischen Schriften enthalten und im 1 D e n Voluntarismus Wundts, die biologische Erkenntnistheorie
Machs,
N i e t z s c h e und den Pragmatismus, wie Vaihinger selbst schreibt. Er sieht sich selbst außer von den genannten von Kant, Fichte, Darwin und S c h o penhauer beeinflußt. Vaihinger war Herausgeber und K o m m e n t a t o r der K a n t - W e r k e und Kant-Studien, Gründer des Kant-Vereins.
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Gemeinschaftsbegriff und in den Überlegungen zur Evolution impliziert. Dieser Ganzheits- und Einheitsgedanke erfährt bei Adler eine zunehmend stärkere Gewichtung, ja verschiedene individualpsychologische Autoren, wie zum Beispiel Ansbacher, meinen, erst der späte Adler habe seinen Anspruch auf Ganzheit wirklich realisiert. Der Einheitsbegriff ist bereits 1910/11 der Hintergrund der Kritik an Freud - vorgezeichnet selbst schon in der Studie »Minderwertigkeit von Organgen« von 1907, in der es heißt, daß die Kompensation das gesamte Individuum aktiviert, der »Struktur der Psyche« ein »eigenartiges Gepräge« gibt und sich »psychische Achsen« ausbilden, nach welchen das Individuum gerichtet ist (1907a, S. 47). Tragend aber wird dieser Gedanke erst in der Freud-Kritik (1911a, 191 lb) und dann im »Nervösen Charakter« (1912a). In der Differenz zu Freud meint Adler vor allem, den Einheitsgedanken gegen Freuds Konfliktbegriff wenden zu können, wie er besonders später betont. In der Einheit der Persönlichkeit gebe es »keine Widersprüche ... keine Ambivalenzen, keine zwei Seelen« (1933b, S. 66). Er besteht darauf, daß im Spannungsverhältnis zweier Tendenzen eine Einheit dadurch gegeben sei, daß diese einander bedingen und sich ergänzen: »Der Irrtum aller Psychologen, die in solchen Fällen eine Ambivalenz annehmen, eine mehr oder weniger gegensätzliche seelische Bewegung, ... besteht bekanntlich darin, daß sie die Entstehung des einen Ausdrucks aus dem anderen nicht gesehen haben (Kompensationsbestrebungen), ferner auch darin, daß sie bei ihrem einseitigen Analysieren den Zusammenhang (Lebensplan, Lebensstil) aus dem Auge verlieren und daß sie statt seelischer Bewegung (die alles ist, alles durchfließt) abgesonderte Teile vorzufinden glauben ...« (1927j, S. 197f.). Der Neurotiker hebe allerdings gegensätzliche Tendenzen besonders hervor, er würde insoweit den Konflikt »machen« oder »arrangieren«, als Mittel der Distanzierung und Sicherung. Eine scharfe, ausführliche Begründung für die Zurückweisung des Konfliktbegriffs hatte Künkel vorgelegt. Ausgehend von der Kritik am Triebkonflikt als Schein, Selbsttäuschung und Maske (1925, S. 63) bestreitet er generell eine Ambivalenz der Zwecke und Mittel (S. 67). Erlebte Ambivalenzen seien ein »Manöver«, »mit dessen Hilfe er [der Neurotiker] seinen eigentlichen Lebens192
aufgaben auszuweichen sucht« (S. 77). 2 Wexberg referiert Künkels Position 1926 zustimmend (1926b, 436), 1930 dagegen bekräftigt er nicht nur »das subjektive Erlebnis des seelischen Konflikts« (S. 51), sondern versucht auch, anders als Künkel. Konflikt als Geschehen innerhalb eines Ganzen ernst zu nehmen. »Der Ablauf vom Auftauchen des Konflikts angefangen bis zur Entscheidung und zur nachträglichen Stellungnahme ist im wesentlichen, soweit psychologische Momente in Frage kommen, durch den Charakter des Individuums determiniert« (1930a, S. 54). Der Angriff gegen den Konfliktbegriff (Freuds) erfolgt nicht zufällig in den späten Jahren, Ende der 20er, Anfang der 30er, denn um diese Zeit betont Adler in besonderem Maß die Ganzheitlichkeit seines Ansatzes und spitzt sie zu im Sinne einer Totalisierung des kosmischen und sozialen Ganzen - was nicht ohne Gefahr der Harmonisierung und der Unterordnung des Individuums unter das Ganze ist. Nach Ansbacher (1981) habe Adler eigentlich erst in dieser Zeit seinen holistischen Ansatz verwirklicht, als er nämlich das Gemeinschaftsgefühl nicht mehr konflikttheoretisch dem Machtstreben gegenübergestellt habe (s. Kap. XVII). Diese These wurde bereits in den 20er Jahren laut - und zugleich immer wieder als falsch zurückgewiesen. Wexberg zum Beispiel schreibt 1926, daß es mißverständlich sei, wollte man einen Konflikt zwischen Geltungsstreben und Gemeinschaftsgefühl annehmen (1926b, S. 437). Allerdings, so räumt er ein, könnten beide als Antithese erlebt werden, denn erst in einem »imaginär« späten historischen Zeitpunkt könne es zu einer »Synthese zwischen Individualismus und Gemeinschaftsgefühl« kommen (1930a, S. 88). Auch Erich Stemberg wendet sich gegen den Vorwurf Roffensteins (1926), Adler hätte mit der Einführung des Gemeinschaftsgefühls die teleologische Einheit der Person durch einen Konflikt zwischen zwei entgegengesetzten Tendenzen zerbrochen. Für die Individualpsychologie aber könne es »einen strengen Gegensatz von Ich und Gemeinschaft, Ichstreben und Gemeinschaftsgefühl nicht geben« (1927, S. 191f.). Für Adlers Auffassung vom »Individuum« als Einheit wird seit Ansbacher 1977 immer wieder auf Virchows Zellenlehre als Quel2 Z u r K r i t i k a n K ü n k e l vgl. T i t z e 1 9 8 4 , S. 2 5 0 f f .
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le verwiesen, den Adler 1912 zitiert hatte (vgl. Böhringer 1985; Wengler 1989). »Individuum« bei Virchow meint Einheit oder einheitliche Gemeinschaft der Teile zu gleichem Zweck, woraus Einzigartigkeit und Selbstbestimung folgt (vgl. Ansbacher 1977). Der Einfluß Virchows auf Adler ist nicht zu bestreiten. Allerdings sollte trotz allem dessen Bedeutung für Adlers Einheits- und Ganzheitsidee nicht überschätzt werden, denn dieser Rückgriff auf Virchow 1912 geschieht in einer Zeit, in der der Ganzheitsgedanke schon lange wieder neu aufgetaucht war: in der Lebensphilosophie und der Gestalt- und Ganzheitspsychologie. Zugleich ist die Idee der Einheit im Individuum und der Ganzheit des Lebenszusammenhangs eine der Grundannahmen, die in der Geistesgeschichte immer wieder nachzuweisen ist (vgl. Bruder-Bezzel 1987). Um die Jahrhundertwende meinte »Leben« und »Ganzheit« in der Lebensphilosophie Diltheys, in der Lebensreform- und Jugendbewegung und im Jugendstil die Kritik an den Verhältnissen, die die menschlichen, kulturellen und sozialen Zusammenhänge zerstört haben. So wurde die Einheit von Körper und Geist, die Einheit in der Kunst und die Einheit von Kunst und Leben gefordert und deren Verwirklichung angestrebt. »Leben ist überall nur als Zusammenhang da. ... Dieser Lebenszusammenhang ist ... eine durch Beziehungen konstituierte Einheit, die alle Teile verbindet« und den Einzelvorgängen ihre Bedeutung gibt (Dilthey 1894). In der akademischen Psychologie begann die Idee der Ganzheit sowohl innerhalb der naturwissenschaftlichen als auch der geisteswissenschaftlichen Richtungen Fuß zu fassen, und durch sie wurden neue Strömungen initiert. Zu nennen sind die Konzepte der »intentionalen Einheit des Psychischen« von Franz Brentano, die »Gestalt« der österreichischen Gestaltpsychologen (v. Meinong, v. Ehrenfels), dann die der Berliner Gestaltpsychologen (Köhler, Wertheimer, Koffka), die »Strukturpsychologie« von Eduard Spranger, die Leipziger »Ganzheitspsychologie« von Felix Krüger, die »Charakterologie« von Ludwig Klages und der »Personalismus« von William Stern. 3 Adler selbst zitiert gelegentlich vor allem Klages, Sprangerund Stern, (vgl. Bruder-Bezzel 1983, 1987). 3 Diesen Psychologien steht Adler näher als dem »neuen Physikalismus« der Berliner Gestaltpsychologie. Seit W. Metzger (1973, S. 12) wird dies in der Sekundärliteratur allerdings anders behauptet.
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Aber erst in den 20er Jahren setzte sich die Einheits- und Ganzheitsbetrachtung voll durch. In dem Bewußtsein, vor einer Krise in der Wissenschaft, Politik und Kultur zu stehen, steigerte sich eine neue, neoromantische Bewegung zu einem breiten Angriff gegen alle »mechanistischen« Ansichten (vgl. Gay 1970; Ringer 1969). Ganzheit/Synthese gegenüber Teil/Analyse wurde zum Zauberwort, das diese Krise lösen sollte. »Ganzheit« war zu einem wissenschaftlichen Bekenntnis der Erneuerung, zu einer weltanschaulichen Bewegung geworden. Wer wissenschaftlich oder kulturell im weiteren Sinn gehört werden wollte, mußte sein ganzheitliches Denken nachweisen und stand immer unter Druck, nicht ganzheitlich genug zu sein - unter diesem Konformitätsdruck stand selbstverständlich auch Adler. Das ist ein entscheidender Grund dafür, daß der späte Adler den Einheits- und Ganzheitsgedanken zuspitzte und deshalb so heftig gegen die Konflikttheorie polemisierte. Vielfach ging es in dieser Diskussion gar nicht um die Einheit im Individuum, sondern um die Übertragung der Ganzheitsvorstellung auf den (»organischen«) Staat und die Gesellschaft. Die mehrheitlich antirepublikanisch gesinnten Professoren benutzten die Ganzheitsidee zur ideologischen Waffe gegen die Republik, sie wurde zur Rechtfertigungslehre für eine monarchistische, ständestaatliche oder faschistische Lösung der »Krise«. Dies ist nicht per se im Ganzheitsbegriff enthalten, er wurde aber damit diskreditiert. Zwar verleitet »Ganzheit« zu harmonistischen Verschmelzungsvorstellungen und zur Widerspruchslosigkeit, in seiner gesellschaftlichen Übertragung zu hierarchischen Forderungen nach Unterordnung des Individuums unter das Ganze - das können wir auch an verschiedenen aktuellen Ganzheitstheorien sehen - , aber diese politische Wende ergab sich nicht aus dem Begriff selbst, sondern aus der Affirmation der Macht, die mit ihm betrieben wurde. Sie ist nur die scheinbare Logik der Ganzheitsidee und wurde daher keineswegs von all jenen geteilt, die ganzheitlich dachten. Dies trifft jedenfalls auf die Mehrheit der Berliner Gestaltpsychologen und auch auf Adler zu. Adler hatte sich allerdings nicht deutlich von diesen reaktionären Positionen abgegrenzt, und auch er neigte dazu, innerpsychische und interpsychische Spannungstendenzen zu negieren und zu harmonisieren. Der Fiktionsbegriff spielte um diese Zeit bei Adler 195
keine Rolle mehr - unter diesen aber hätte er auch den Einheitsund Ganzheitsgedanken stellen können.
Lebensplan und Lebensstil Im »Lebensplan« oder »Lebensstil« sind alle Äußerungen und alle Charakterzüge unter eine »Aktionslinie« oder »Melodie« oder »Bewegungslinie« zusammengefaßt. Lebensstil meint die charakteristische, »immer wiederholte Art, wie einer sich ... den Fragen des Lebens gegenüber benimmt« (1930j, S. 37), er enthält die »Meinung« über sich und die »Welt«. Die »Meinung« von den Tatsachen, von sich, vom Leben, ist die Grundlage des Lebensstils, sie wird zur Richtschnur seines Lebens (1933b, S. 32). »Meinung« können wir, in Adlers früher bevorzugten Sprache, ebenso die »Fiktion« nennen, die Fiktionen über sich und andere. Und wir wissen, daß diese Fiktionen/Meinungen einem Ziel gehorchen: sich zu orientieren und - in welch konkreter Ausprägung auch immer - sein »Selbstwertgefühl« zu sichern. Das Ziel wäre das, was die Einheit herstellt und wodurch eine »Bewegungslinie« entsteht. Als »Richtschnur« wäre Lebensstil dann als die alle zu einem »Charakter« vereinheitlichten Tendenzen zu verstehen, was noch nicht selbst Ambivalenzen oder Konflikte ausschließt. Daß der Le bensstil, so gefaßt, als unbewußt gesehen wird, versteht sich eigentlich von selbst - auch wenn das immer wieder angezweifelt wird. U m 1912 bezeichnet Adler dies mit Leitlinie, Leitbild oder Lebensplan, ab 1926(n) führt er den Begriff Lebensstil ein, ohne die anderen Begriffe ganz aufzugeben (Ansbacher 1995, S. 281 ff.). Im Lebensstil sind alle früheren Erfahrungen und Entscheidungen des Individuums aufgehoben, er legt die gegenwärtigen und zukünftigen Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gefühlserlebnisse nahe. Der Lebensstil ist Produkt der »schöpferischen Kraft« des Kindes, aber auf der Grundlage und »in Abhängigkeit von bestimmten Umweltbedingungen« (1929d, S. 53). Ist er so einmal entwickelt - was Adler als frühzeitig abgeschlossen ansetzt, spätestens mit dem 4. bis 5. Lebensjahr wird er zur quasi determinierenden Struktur, die in einer Art Wiederholungszwang Denken, Handeln und Fühlen leitet. Die ersten Kindheitserinnerungen, die Position des Kindes in der Geschwisterreihe, die Kinderfehler, die
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Tag- und Nachtträume und die Art des exogenen, krankmachenden Faktors sind die diagnostischen Zugänge zum Lebensstil (1933b, S. 38). Der Lebensstil ist ein »Schema« und stellt als solches im Grunde eine Abstraktion von der Vielfalt der konkreten Erlebnisse, eine Selektion von aktiven und perzeptiven Reaktionsmöglichkeiten und eine Generalisierung über Personen und Situationen hinweg dar. »Lebensstil kommt zustande ... durch Akte der Abstraktion« (1930j, S. 37). Darin liegt die Verbindung zur Herausbildung eines »Stils« in der Kunst, Literatur oder Alltagskultur - auf diesen Zusammenhang hatte Adler selbst hingewiesen (1930j, S. 37). Durch diese Abstraktion (bereits in der Entstehung, nicht nur in der Analyse) hat der Lebensstil einen statischen Charakter, da in ihm an einer Meinung oder Reaktionsform festgehalten wird, auch dann, wenn sich die ursprünglichen Bedingungen längst verändert haben. »Der Lebensstil ist der Kritik, auch der Kritik der Erfahrung entzogen« (1933b, S. 25). Er kann dadurch die Funktion der Sicherung erfüllen, er ist Abwehrmechanismus, da er vor überwältigenden, korrigierenden, neuen Erfahrungen schützt und Distanz zum Objekt herstellt. 4 Es wäre nahegelegen, wenn Adler vom Lebensstil zur Typologie gekommen wäre, zumal in den 20er Jahren die Typologien in der Psychologie geradezu inflationär aus dem Boden schössen - als Zeichen eines Bedürfnisses nach Ordnung und Klarheit, in einer Zeit, in der das Bewußtsein der »Krise« vorherrschte. 5 Aber Adler ist sehr zögernd damit. Es könne »kein Mensch typisiert oder klassifiziert werden.« Es sei eine »Versuchung«, die »unfruchtbaren Bahnen der Klassifizierung einzuschlagen, ... der wir in unserer praktischen Arbeit nie nachgeben dürfen« (1935e, S. 71). Gleichwohl läßt Adler sich gelegentlich, zu »Lehrzwecken«, darauf ein, Typen aufzustellen: im Zusammenhang mit der Geschwisterkonstellation, Typen von Frauen und Typen nach dem Grad ihrer so-
4 Watzlawick bezeichnet ganz ähnlich den Lebensstil als »wirklichkeitsschaffend«, da das Individuum seine Sichtweise i m m e r bestätigt b e k o m m t , weil es genug Belege gibt und diese Sichtweise eine sich selbsterfüllende Prophezeiung herstellt (1986, S. 677ff.). 5 G. Rexilius stellt einen solchen Z u s a m m e n h a n g e b e n s o her (1986, S. 409f.).
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zialen Integration und Bewegung: 1. dominierender/herrschender. 2. nehmender Typ, 3. lösungsvermeidender Typ, 4. sozial nützlicher Typ (1935e, S. I i i . ) . Diese Typologie spieltbei ihm aber keine weitere Rolle, wohingegen die Typologie bei Künkel oder später bei Dreikurs einen gewichtigen Platz einnimmt. Adlers Lebensplan und Lebensstil entstammen der Lebensphilosophie, Phänomenologie, Existentialphilosophie und Soziologie, womit immer auch das ganzheitliche Moment, Bewegung, Intentionalität und das unverwechselbar-spezifische Gepräge impliziert war (vgl. Müller 1989, S. 56f.). »Intentionalität« teilt er unter anderem mit Dilthey, Brentano, Husserl, Krüger, Stern. Wir finden ihn auch in Heideggers »Entwurf« und später in Sartres »ursprünglicher Wahl«. 6 Den Begriff »Leitbild« scheint Adler direkt von Ludwig KJages übernommen zu haben, den er 1912 ausführlich zitiert (1912c, 119ff.). Klages hatte bereits 1906 vom »persönlichen Leitbild« gesprochen, das die Ausdrucksbewegungen mitbestimmt (vgl. Ansbacher 1995, S. 283; Böhringer 1985, S. 39). Der Begriff Lebensstil wurde in den 20er Jahren im allgemeinen Sprachgebrauch als soziologisch-kulturanthropologischer Begriff verstanden. Lebensstil meinte den Stil der Verhaltens- und Lebensweise einer kulturellen Gruppe oder einer Epoche. Max Weber hatte ihn - allerdings als »Lebensführung« - in der Soziologie zu breiterer Verwendung gebracht. In diesem soziologischen Sinn verwendet Wexberg den Lebensstil, wenn er vom Lebensstil des Stadtund Landkindes, der Naturvölker oder der reichen Leute spricht (1930a). Der Stilbegriff selbst, bezogen auf das Leben, geht allerdings bereits auf Dilthey und vor allem auf Simmel zurück, der ihn eigentlich in die Soziologie einführte. Er steht bei Simmel im Zusammenhang mit der »Stilwende« um 1900, die eine Absage von der flüchtigen, unverbindlichen Reizsamkeit oder neurasthenischen Sensibilität hin zur reinen Form, zum Wesentlichen, Typi6 Die »ursprüngliche Wahl« ist die »Wahl der Stellung in der Welt«, durch sie macht » j e d e Person sich zur P e r s o n « (Sartre 1943, S. 717; 722). - Auf die g r o ß e Ü b e r e i n s t i m m u n g z w i s c h e n Sartres »existentieller P s y c h o a n a lyse und der Individualpsychologie h a b e ich bereits hingewiesen (s. Kap. XV, S. 170).
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sehen, meint. Der »moderne Lebensstil« oder die »Stilisierung des Lebens« bei Simmel sind vor diesem Hintergrund zu verstehen als ein Gestus des Sich-wesentlich-Machens oder Identisch-Machens, das aus dem Streben nach Identität entsteht, das ein Streben nach einer Ganzheit mit einem Zentrum ist, »von dem aus alle Elemente seines Seins und Tuns einen einheitlichen, aufeinander bezüglichen Sinn erhalten« (zit. n. Müller 1989, S. 55; vgl. auch Lohmann 1985).7 In der Psychologie hat der Begriff Lebensstil oder haben ähnliche Begriffe seither eine gewisse Rolle gespielt, teils unabhängig von Adler, teils in Anlehnung an ihn. So hatte Spranger von »Lebensformen« gesprochen (und darauf eine Typologie aufgebaut), Allport von »Lebensstil« oder »Persönlichkeitsstil«, Thomae von »Daseinstechniken«, Watzlawick von »Lebensstil« und Eric Berne in der Transaktionsanalyse von »Skript«. In der modernen Soziologie erfährt die Lebensstilforschung eine neue Renaissance, unter anderem zur Erfassung der »Lebenswelt« über das soziale Milieu (U. Becker, H. Nowak), als sichtbarer Ausdruck der Klassenzugehörigkeit (Bourdieu) oder im Sinn von Konsummustem (Sobel) (vgl. Müller 1989). 8 Der Lebensstil hat oder hatte in der Individualpsychologie seine zentrale Bedeutung als therapietechnischer Begriff, insofern es in der »individualpsychologischen Technik ... um die Erfassung des individuellen Lebensstils« geht, »der sich uns als formale Bewegungslinie ergibt« (Adler 1926n, S. VI). Das führte schon zu Adlers Lebzeiten zu einer Entlarvungstechnik, die bei Individualpsychologen allgemein verbreitet, wenn auch nicht unumstritten war (vgl. Bruder-Bezzel 1995). Dreikurs (Chicago) führte dies weiter aus zu einer schematischen Technik der Lebensstilanalyse oder Teleoanalyse, als dem Zentrum der Therapie, in der ganz zu Beginn der Lebensstil ermittelt, »blitzschnell erfaßt« wurde. Mit diesem Verfah7 G o f f m a n (1974) spricht in ä h n l i c h e m Sinn von »Stil« als der » A u f r e c h t e r haltung expressiver Identifizierbarkeit« (zit. n. H a h n 1986, S. 603). 8 Bourdieu (1982) untersucht in äußerst s p a n n e n d e n A n a l y s e n die G e schmackskultur als Lebensstil, die er als M e r k m a l der K l a s s e n z u g e h ö r i g keit herausarbeitet. Für ihn ist dabei der Z u s a m m e n h a n g zwischen K l a s senstruktur und Lebensstil über den »Habitus« vermittelt, als D e n k - , W a h m e h m u n g s - und Beurteilungsschema, die aus früheren E r f a h r u n g e n stammen.
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ren korrespondieren quantitative, bewußtseinsnahe diagnostische Verfahren zur Erfassung des Lebensstils, wie sie heute innerhalb der amerikanischen Individualpsychologie üblich sind (vgl. Lehmkuhl 1997). Aus dieser Entwicklung heraus wurde der psychoanalytisch werdenden deutschen Individualpsychologie dem Lebensstilkonzept (auch der Finalität und Einheit) mit Vorsicht und vor allem der Lebensstilanalyse mit Distanz begegnet. Lebensstilanalyse wurde allenfalls als Ergebnis einer allmählichen Erarbeitung über einen längeren Therapieverlauf hinweg verstanden (vgl. Kruttke-Rüping 1984, S. 228) oder ganz aufgegeben. In neuen Publikationen wird nun versucht, das Wertvolle am Lebensstilkonzept doch wieder zu retten und mit psychoanalytischen Vorstellungen kompatibel zu machen (so bei Heisterkamp 1991: Witte 1991; Lehmkuhl 1997): Lebensstil als Struktur oder IchStruktur, als Bewegung, dem Bewußtsein entzogen. Vor allem Lehmkuhl fordert dazu auf, den Lebensstilbegriff zu revidieren und in die Psychoanalyse zu integrieren. Er bezeichnet ihn als Regulationsmodus zur Vermittlung innerer und äußerer Realität und überlegt, ihn mit dem Triebmodell zu verbinden. Er wendet sich dagegen, den Lebensstil als nicht entwicklungsfähig und veränderbar zu sehen - was für die Überlegungen eines Therapieziels oder der Wirkung von Therapie weitreichende Bedeutung hätte.
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XVII. Soziale Einbettung des Menschen
Adler war es, der innerhalb der frühen Psychoanalyse am entschiedensten und einflußreichsten den sozialpsychologischen Standpunkt betonte. Seine Distanz zu Naturgrößen wie Trieben und Veranlagung, sein pädagogisches Interesse und sein ich-psychologischer Ansatz, hängen mit dieser Sichtweise zusammen. Adler muß damit zweifellos als Vorreiter innerhalb der Psychologie und Psychoanalyse gelten. Sozialpsychologische Überlegungen hat man allenfalls der sich entwickelnden Soziologie überlassen, die aber umgekehrt kaum in der Lage war, der psychischen Struktur des Menschen näherzukommen. Innerhalb der Psychoanalyse waren es dann, außerhalb der marxistischen Kreise, erst die Neoanalytiker, die diese Sichtweise in ihre Theorie integrierten, wodurch sie in engste Verbindung zur Individualpsychologie kamen. Für Adler ist der Mensch ein soziales Wesen, und das bedeutet: Er ist vom sozialen Zusammenhang geprägt, er ist auf ihn angewiesen, und er muß sich folglich auf ihn beziehen. Diese Betrachtungsweise ist Adlers Zugang zur Medizin, Psychologie und Pädagogik bereits in seiner vorfreudianischen Zeit. Sie geht dann, in der freudianischen und frühen individualpsychologischen Zeit, mehr implizit in seine Theorie ein. Erst in den 20er Jahren wird sie emeut aufgegriffen und explizit ausformuliert und erweitert. Ich stelle im folgenden Adlers grundlegende sozialpsychologische Position in ihrer Entwicklung dar, ergänze diese mit seinen »massenpsychologischen« Verallgemeinerungen und wende mich schließlich seinem zentralen Begriff von Gemeinschaft zu. 201
Mensch als soziales Wesen Adlers Denken in frühester Zeit ist stark vom Interesse an größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen geprägt, das zugleich mit sozialkritischen und sozialreformerischen Intentionen verbunden ist. Davon zeugen sowohl die Arbeiten zur Sozialmedizin (18981903), als auch seine Beiträge zur Frauenfrage und zur Arbeiterbewegung im Freud-Kreis 1908/09. Als Adler 1908 das Triebkonzept Freuds systematisiert und erweitert - in seinen Aufsätzen zum »Aggressionstrieb« und zum »Zärtlichkeitsbedürfnis« - spielt die soziale Bedingtheit und Orientierung eine große Rolle. Die Triebe werden demnach als durch die kulturellen Einflüsse gehemmt, umgewandelt, verfeinert betrachtet. Diese Triebverwandlungen bedingen die Stellung des Individuums zur Außenwelt und bewirken die verschiedenen individuellen und kulturellen Lebensäußerungen. Die »Kultur« wird dabei im wesentlichen als »hemmend« dargestellt, was der psychoanalytischen Überzeugung von der antagonistischen Kraft der Kultur entspricht. In späteren Auflagen des »Aggressionstriebs« korrigiert Adler diese Sichtweise im Sinn eines Zusamenwirkens des Triebs mit dem Gemeinschaftsgefühl (vgl. Bruder-Bezzel 1995; Bruder-Bezzel u. Bruder 1996). Das »Zärtlichkeitsbedürfnis«, die erste libidinöse Regung, ist bei Adler, im Unterschied zu Freuds primär narzißtischer Libido, als Wunsch nach Zärtlichkeit auf andere gerichtet. »Das Ziel liegt in der Befriedigung dieser nach dem Objekt ringenden Regung« (1908c!). 1 Das Zärtlichkeitsbedürfnis ist für Adler Vorläufer und Bestandteil späterer »sozialer Gefühle« und der »Gemeinschaftsgefühle« (S. 64). »Weg und Ziel des Zärtlichkeitsbedürfnisses (werden) auf eine höhere Stufe gehoben, und die abgeleiteten, geläuterten Gemeinschaftsgefühle erwachsen in der Seele des Kindes. Auch später, in den 20er Jahren, stellt Adler das Zärtlichkeitsbedürfnis (oder Zärtlichkeitsgefühl, Zärtlichkeitsregung) als Vorläufer des Gemeinschaftsgefühls dar (1926a, S. 101; 1927a, S. 50) - und darin liegt für Adler die große Bedeutung des frühen mütter-
1 Dies ist die ursprüngliche Formulierung von 1908, an deren Stelle später getreten ist: »Das Ziel liegt in der befriedigenden Stellungnahme des Kindes zu seiner Umwelt« (S. 63).
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liehen Kontakts: »Wahrscheinlich verdanken wir dem mütterlichen Kontaktgefühl den größten Teil des menschlichen Gemeinschaftsgefühls« (1933b, S. 135). Als Adler dann auf das Triebkonzept verzichtet (ab 1910), ist der Weg frei, die sozialpsychologische Sichtweise nicht nur ergänzend zu berücksichtigen, sondern zum Prinzip psychischer Dynamik zu machen. Adlers Grundkonzept Minderwertigkeitsgefühl-Kompensation ist in zweierlei Hinsicht ein zutiefst sozialpsychologisches Konzept. Zum einen entspringt das Minderwertigkeitsgefühl selbst dem sozialen Vergleich - kleiner, schwächer als der andere sich zu erfahren - und ist die Form der Kompensation - stärker, mächtiger, männlicher sein zu wollen - ebenfalls durch diesen sozialen Vergleich geprägt. Dies wird dem Kind über die Erwachsenen, zunächst in der Familie, vermittelt, die ihm den Vergleich und Maßstab vorgeben. Die psychische Dynamik ist also - durch das soziale Vorbild - gesellschaftlich bestimmt, die Kompensation erscheint als »Geltungstrieb, den wir der Tatsache zuschreiben, daß die erste Gemeinschaft jedes Menschen eine höchst ungleiche, nämlich die eines ganz Schwachen mit einem oder mehreren wesentlich Stärkeren ist« (Kaus 1926, S. 143). Zum anderen ist das Spannungsverhältnis Macht-Ohnmacht im Zentrum der psychischen Dynamik ein Abbild der gesellschaftlich herrschenden Mechanismen in der Struktur der Psyche. Adler verbindet damit eine Kritik an der Gesellschaft, in der das Individuum zu Macht und Geltungsstreben, zu Konkurrenz und »Männlichkeit« gezwungen wird. Für Adler ist die kulturelle Vörbildwirkung dieses Mechanismus offensichtlich - vor allem hinsichtlich des männlichen Protests. Vielleicht aber ist er sich der metatheoretischen Bedeutung des methodischen Schritts des Abbilds oder der Widerspiegelung nicht ganz bewußt. In den folgenden Jahren, bis zum »Nervösen Charakter« von 1912, wird die soziale Dimension zusätzlich im Begriff der »Gegenfiktion« und im Ausbau seiner Theorie zu einer »Charakterlehre« deutlich. Gegenfiktion ist die von der Kultur erzwungene Erscheinungsweise, in der sich die feindliche, aggressive, machtorientierte Fiktion oder fiktive Leitlinie umgestaltet oder maskiert, um gesellschaftlich toleriert zu werden. Der Machtanspruch muß kaschiert werden. Adlers Augenmerk für Charakerzüge zeigt insofern sein Interesse an sozialen Beziehungen, als jene sich alle in irgend203
einer Weise auf das soziale Verhalten auswirken und ausgerichtet sind. Beim »Nervösen« stehe dessen Feindseligkeit und dessen »Erschwerung der Einfügung in die Gesellschaft« im Vordergrund (1912a, S. 51). In einigen Arbeiten aus der unmittelbaren Vorkriegszeit oder der beginnenden Kriegszeit 1914 bekommt der größere soziale Zusammenhang wieder ein deutlich stärkeres Gewicht, und zwar sowohl in der Forderung, das Kind auf seine »gesellschaftliche Brauchbarkeit« hin zu erziehen und seinen »Gemeinsinn« zu fördern, als auch in der Formulierung, daß »das seelische Ganze des Menschen« nur »im Gefüge seiner gesellschaftlichen Stellung« zu erfassen sei, da durch die Erziehung »die seelische Entwicklung des Kindes ununterbrochen aus dem gesellschaftlichen Leben seiner Zeit Direktiven und Richtungslinien empfängt« (1914f, S. 474, 480). Der Lebensplan des Neurotikers zwinge ihn, »den gesellschaftlich durchschnittlichen Entscheidungen gegenüber mit der Revolte des Krankseins zu antworten« (1914k, S. 114). Die Aufforderung Adlers, die Forderungen der Gemeinschaft zu erfüllen, und der moralische Unterton gegen den Neurotiker - was vor allem am späten Adler heute kritisch gesehen wird - schwingen in den Beschreibungen dieser Zeit bereits mit. Allerdings verweist Adler immer wieder darauf, daß in der Neurose »allgemein menschliche Züge wiederkehren«, nur daß sie als »Variante« zu sehen sei (S. 115). In den 20er Jahren bekommt die soziale Dimension nun eine neue Qualität und wird von tragender Bedeutung. Adler wendet sich betont und positiv der Gesellschaft zu, die ja nun (als Republik und Rotes Wien) Neues verspricht. Das kommt vor allem im Begriff Gemeinschaft zum Ausdruck, aber auch in systematischeren, wiederholten Darlegungen über den sozialen Einfluß auf das Individuum. In »Menschenkenntnis« von 1927 ist der ganze erste Teil des Buchs der »sozialen Beschaffenheit des Seelenlebens« und dem »Zwang zur Gemeinschaft« gewidmet. Den Menschen als soziales Wesen zu sehen, heißt zu berücksichtigen, daß alle psychischen Funktionen von der Gesellschaft geprägt sind und daß der Mensch notwendig auf den sozialen Zusammenhang angewiesen ist. Sprache, Denken, Fühlen, Urteilen »tragen den Einschlag eines gesellschaftlichen Lebens in sich« (1927a, S. 40). Es sind die »auf den Menschen einstürmenden Eindrücke der Umgebung ..., 204
die die Haltung des Säuglings und später des Kindes und des Erwachsenen zum Leben auf das nachhaltigste beeinflussen« (S. 50). Deswegen könnten sich die Fähigkeiten nicht ohne Gemeinschaftsgefühl entwickeln und sei Erziehung notwendig, auf die Vorbereitung in die Gruppe ausgerichtet (1930a, S. 69, 71). An verschiedenen Stellen führt Adler etwas näher einige relevante Einflüsse auf, die auf das Kind einwirken, so die wirtschaftliche Situation der Familie, besonders bedrückende Umstände, plötzliche Veränderungen, allgemeine Umwelt der Familie, deren Beziehung zur Außenwelt, Verwandte, Großeltern oder Diskriminierung der Eltern aufgrund von Fehlverhalten oder nationalen, rassischen oder religiösen Vorurteilen (1930a, S. 107ff.). Als soziale Einflüsse von herausragender Bedeutung gelten für Adler die Geschlechtszugehörigkeit und die Geschwisterposition, die die soziale Stellungnahme, und damit das Gemeinschaftsgefühl entscheidend prägen. Ihre Erfassung steht bei Adler für einen bedeutsamen diagnostischen Zugang und ist das bekannteste Beispiel für das, was Adler gelegentlich als »Positionspsychologie« bezeichnet. Sie ist in dem Satz ausgedrückt, daß die Position, nicht die »Disposition«, also der erlebte oder zugewiesene Rang im sozialen Umfeld, für die Entwicklung entscheidend sei. Allerdings versteht Adler diese soziale Einwirkung nicht als kausal wirkend, sondern als »Nahelegung«. Die Entwicklung verlaufe »in Übereinstimmung mit seiner [des Kindes] unbewußten Deutung der Position, die es in Beziehung zu seiner Umwelt innehat« (1930a, S. 79). Die anti-kausale Haltung verstärkt sich bei Adler in den späten 20er und frühen 30er Jahren, wo er dazu neigt, die sozialen Einwirkungen zugunsten der »schöpferischen Kraft« und der »Meinung« zurückzudrängen - Sperber kritisiert daher Adler in dieser Zeit als »Indeterminist« (1932a).
Massenpsychologie Adler versuchte an einigen Stellen, seine Psychologie auf zeitgeschichtliche Erscheinungen und Ereignisse zu beziehen und daraus eine »Massenpsychologie« - in ersten Ansätzen - zu entwickeln. Dies war eine Antwort auf seine Zeit, die voll von Ereignissen war, die ein massenpsychologisches Interesse erweckten, und sie wurde 205
zugleich eine Antwort auf Freuds »Massenpsychologie« (1921) (explizit 1934i, S. 57ff.). Adlers Vortrag »Zur Psychologie des Marxismus« von 1909 über Klassenbewegung und Klassenkampf (1909d) stellte den ersten Versuch dar. 1918/19 beschäftigte er sich - in Aufsätzen und in gelegentlichen Bemerkungen - mit der politischen Macht der Herrschenden und der Revolutionäre wie auch mit dem Verhalten der Mehrheit des Volkes im Krieg. Er nannte seine Broschüre, »Die andere Seite: eine massenpsychologische Studie« (1919a). Unter dem Titel »Massenpsychologie« hatte Adler im Wiener Volksheim ein Seminar durchgeführt, das im Oktober 1923 bis Januar 1924 bereits im 5. Jahrgang getagt haben soll - also demnach seit 1919. Alice Friedmann berichtet darüber im März 1924 (IZI, S. IV; 30f.). Erstaunlicherweise beschäftigten sich die ersten Jahrgänge mit der Psychologie des Kleinkindes, Schulkindes und den Pubertätsjahren, wodurch deutlich wird, daß Massenpsychologie im Sinn von Sozialpsychologie oder der Psychologie bestimmter Gruppen verstanden wurde. Es folgten Seminare über die Psychologie großer Männer, besonders des Revolutionärs. Im Seminar von 1924 ging es dann um Massenpsychologie im engeren Sinn, also um Fragen wie Massensuggestion, Masse und Führer, Individuum und Gemeinschaft und Wirtschaft. Für das folgende Jahr wurden Vorträge zur Psychologie des Proletariats, der Jugendbewegung und der Mode angekündigt, aber es gibt später keinen Hinweis darauf, daß diese auch stattgefunden hätten. 2 In ihrem Bericht über das Seminar von 1924 hebt Alice Friedmann als Ergebnis besonders hervor, daß für die Massenbildung das gemeinsame Ziel, das Gleichgerichtetsein, entscheidend sei, um die Schwäche des einzelnen zu überwinden. In bezug auf den Führer betont sie den Geltungstrieb. In dieser Zeit sind es wenigstens drei Aufsätze Adlers, die dieses Thema ausführlicher zum Gegenstand haben (1925h, 1928m, 1934i). Sie handeln von Massenpsychologie, Massenpsyche und Massenneurose. Dabei betrachtet er die »Massenpsyche« und Massenbewegungen nach dem Modell der Einzelpsyche und deren Dynamik durch Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation, wie sie sich im Lebensstil niederschlägt. Wie bei der Einzelpsyche seien 2 Adler war u m diese Zeit schon viel auf Vortragsreisen außerhalb Wiens.
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auch Massenprobleme aus dem Streben nach Überwindung einer Minussituation zu verstehen (1934i, S. 64), als »Befreiung von Umständen, ... die als unerträglich empfunden werden« (1925h, S. 94). (Wir hatten bereits im Kap. XIV auf die Ambivalenz hingewiesen. mit der Adler diesen Bewegungen gegenübersteht.) Er versteht unter »Massenpsyche« die in der Bevölkerung vorherrschenden Einstellungen und Haltungen, wie sie sich möglicherweise in Massenbewegungen niederschlagen. In ihnen komme der Lebensstil der »aktiveren Gruppe« beziehungsweise derer, die »materiell oder numerisch das Übergewicht haben«, zur Geltung (1934i, S. 68, 61). In diesen Aufsätzen äußert Adler sich auch zum »Führer« und zum Verhältnis von Führer und Masse. 1925 ist der Führer für ihn eine positive Figur, er besitze starkes Gemeinschaftsgefühl, Mut, Selbstvertrauen (1925h, S. 96), aber er könne nur wirken, »wenn die Sehnsucht der Massen durch ihn verkörpert wird« (S. 95). Diese positive Haltung zu einem Führer entspricht noch einer Haltung aus der Zeit der Jugendbewegung und Reformpädagogik, in der die persönliche Autorität eines Führers in der Gemeinschaftserziehung von Bedeutung war, unter dessen Leitung die Selbstverantwortlichkeit der Persönlichkeit wachsen sollte. 1934, also zur Zeit des Faschismus, wird aber bei Adler ein kritischer Ton über das Verhältnis von Masse und Führer deutlich: Die Menschen erwarteten »alles von den anderen, meist von einem Führer, der für sie denkt, schafft, die Verantwortung übernimmt und ihnen gestattet, sich an ihn anzulehnen. Zeigt er ihnen die Möglichkeit günstigerer Positionen, ... so werden sie ihm begeistert folgen« (1934i, S. 63). Massenpsychologische oder soziologische Themen wurden auch von Anhängern Adlers verschiedentlich behandelt. Dies war wohl mehr das Feld der Linken, aber keineswegs nur. In der IZI, in Sammelbänden oder auf internationalen Kongressen (1926, 1930) erschienen Aufsätze und Vorträge zu Themen der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Der Band II. des Handbuchs von Wexberg (1926a) ist fast ausschließlich diesen Themen gewidmet. Der früheste dieser Beiträge stammt bereits 1916 von Vera Strasser: »Massenpsychologie und Individualpsychologie«, worin sie das Hineinwachsen des einzelnen in Staat, Nation und Volk untersucht und angesichts des Krieges allgemein die Frage nach den »Anschlußur207
Sachen des Einzelnen an die Vielen« stellt. Zu nennen wäre noch Künkel, in dessen Büchern ab Ende der 20er Jahre stets die kulturhistorische Frage eine - zum Teil sogar sehr große - Bedeutung hat und die späteren Bücher von Sperber (1937) und Brachfeld (1953). 3
Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl Adler hatte für die Beschreibung des sozialen Bezogenseins ab 1918 auch die Begriffe Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl verwendet. In dieser Weise erscheint Gemeinschaftsgefühl 1918 im »Bolschewismus«-Aufsatz (1918e), in Verbindung mit Sozialismus, dann in »Die andere Seite« (1919a). Wie wir wissen, ist der Gedanke an die soziale Orientierung des Individuums 1918 nicht neu, auch deren positive Wertschätzung und selbst die Begriffe Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl waren, dem allgemein gängigen Wortgebrauch entsprechend, aufgetaucht. Trotzdem bekommen diese Begriffe eine neue, tragende Bedeutung für die Theorie. Neu daran ist, daß Adler Gemeinschaftsgefühl nun im Sinn eines psychologischen Fachbegriffs verwendet, daß dieser ihm die wissenschaftliche Begründung für eine positive Stellungnahme des Menschen zur Umwelt liefert (angelegt im Zärtlichkeitsbedürfnis), wo er vorher vorwiegend die feindliche Haltung gesehen hatte. Ab diesem Zeitpunkt hatte Adler seine bisherigen Schriften im Sinn der Integration des Gemeinschaftsgefühls modifiziert. Die Einführung des Begriffs »Gemeinschaftsgefühl« wurde als der entscheidende Einschnitt, als »neue Grundlage« (Furtmüller 1946, S. 260) auch damals verstanden. Adlers Krankenberichte hätten nun anders als früher geklungen (Furtmüller, S. 264). Wexberg bezeichnet sie »als den Tag der Geburt der Individualpsychologie« (1930b, S. 235). Im Wiener Verein wurde diese Wende nicht ohne Diskussion und Widerstand hingenommen, »es gab Einige um Adler, die den Kopf schüttelten und Bedenken erhoben« (Wexberg 1930b, S. 235), vor allem hätten sich die Nietzscheaner eini3 Brachfeld untersucht u. a. verschiedene Erscheinungsformen und gesellschaftliche Bedingungen des individuellen und kollektiven Minderwertigkeitsgefühls und seiner Kompensation in ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Individuen, Gruppen und Nationen.
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gemäßen entsetzt abgewandt (Bottome 1939). Es gab Austritte. Handlbauer vermutet, daß die veränderte Zusammensetzung des Wiener Vereins nach 1918 zumindest zu einem gewissen Teil auf diese Neuerung zurückgeht (1983, S. 106). Auch heute löst der Gemeinschaftsbegriff innerhalb und außerhalb der Individualpsychologie am meisten Kritik und Diskussionen aus.
Begriffsbedeutungen Gemeinschaft und Gemeinschaftsgefühl bewegen sich auf verschiedenen Ebenen. Gemeinschaft als Synonym verstanden für Gesellschaft oder gesellschaftliche Zusammenhänge, reicht vom engsten familialen oder interaktiven Kreis zu größeren Zusammenhängen der Gesellschaft bis zur weltumspannenden Menschheit. Auf einer weiteren Ebene meint Gemeinschaft einen politisch-ethischen Begriff als Gegensatz zu Gesellschaft im Sinn von Tönnies (»Gemeinschaft und Gesellschaft« 1887), die von allen konkreten Zusammenschlüssen als ein anzustrebendes Ideal abgehoben ist. Gemeinschaft bezieht sich somit sowohl auf die konkrete Gegenwart, die Adler im allgemeinen nicht näher spezifiziert, als auch auf eine zukünftige, ideal gedachte Gemeinschaft. Damit wird auch Gemeinschaftsgefühl als Beziehungsfähigkeit sowohl an den Forderungen der konkreten Gemeinschaften als auch an einem idealen Maßstab gemessen. Der jeweilige Bedeutungsgehalt bleibt in vielen Fällen offen, was eine der Schwierigkeiten im Umgang mit diesen Begriffen ist. Gemeinschaftsgefühl im engeren Sinn meint die Fähigkeit zur Kooperation und Mitarbeit, »eine Tendenz, sich mit anderen Menschenwesen zu verbinden« (1930a, S. 67). In psychologischer Hinsicht kann dies soweit gehen, daß darin die Fähigkeit zur Identifikation und Einfühlung enthalten ist. Eine der meist zitierten Definitionen von Gemeinschaftsgefühl drückt dies aus: Gemeinschaftsgefühl als »Lebensform« im Sinn von »mit den Augen eines anderen zu sehen, mit den Ohren eines anderen zu hören, mit dem Herzen eines anderen zu fühlen. ... und wir sehen ... daß diese Gabe teilweise zusammenfällt mit einer anderen, die wir Identifikation, Einfühlung (Lipps) nennen« (1928f, S. 224). In einem etwas umfassenderen Sinn ist Gemeinschaftsgefühl ein 209
Gefühl der Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit zu einem engeren oder weiteren Kreis, ein breiteres soziales Interesse am Leben in der Gesellschaft, in der »man sich vom sozialen Standpunkt aus ganz allgemein nützlich macht« (1930a, S. 67). Eine bereits relativ frühe Formulierung drückt dieses Verständnis aus: Gemeinschaftsgefühl »liegt jeder Beziehung des Kindes zu Menschen, Tieren, Pflanzen und Gegenständen zugrunde und bedeutet Verwachsenheit mit unserem Leben, die Bejahung, die Versöhntheit mit demselben«. Und Adler zählt als Differenzierungen auf: »Elternliebe, Kindesliebe, Geschlechtsliebe, Vaterlandsliebe, Liebe zur Natur, Kunst, Wissenschaft, Menschenliebe« (1922, Erg. in 1908b, S. 62). Auf einer vergleichbaren Ebene beschreibt Wexberg (1930a) das Gemeinschaftsgefühl als Gegensatz zum Individualismus und Egozentrismus und sieht in dem sich entwickelnden Gemeinschaftsgefühl des Kindes »die Bereitschaft, die Mauern des Ich zu sprengen, die Festung seines Ich zu verlassen« (S. 82f.). In dieser Bedeutung gehe Gemeinschaftsgefühl über Mitmenschlichkeit hinaus und bedeute Sachlichkeit, Logik im Denken, Bereitschaft zur Leistung, Bereitschaft zur Hingabe an das Erlebnis der Natur und der Kunst, Bereitschaft zur Verantwortung (S. 83f.). 4 In bezug auf Gemeinschaftsgefühl als Streben nach einer besseren Gesellschaft erweiterte sich im Lauf der Jahre Adlers Anspruch und Begründungszusammenhang. Das Interesse am Wohl der Gesellschaft bezog sich zunächst auf eine konkrete Utopie, die als erreichbar erscheinen konnte - zumindest in der Stimmung des Roten Wien. Es sollte eine Gesellschaft der Freiheit und Gleichwertigkeit sein, die Adler zunächst Sozialismus nennt - und an dem er das Experiment »Bolschewismus« mißt - und eine Gesellschaft ohne Krieg, wie e r e s 1918 verschiedentlich ausdrückt. In den späteren 20er Jahren erweiterte er das kompensatorische Streben zum Streben nach Vollkommenheit, die sich auf die »Menschheit« beziehe und schließlich auf das »Einssein mit dem All« (1928f, S. 229). Damit hat er nun eine ideale Gemeinschaft vor Augen, die er als nie erreichbar ansieht und deren Begründung in der »Erfüllung der Evolution« liege. Folgendes Zitat soll zeigen, was er damit meint: 4 Man würde hier vielleicht besser von Zeichen oder Folgen des Gemeinschaftsgefühls sprechen.
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»Gemeinschaftsgefühl besagt vor allem ein Streben nach einer Gemeinschaftsform, die für ewig gedacht werden muß, wie sie etwa gedacht werden könnte, wenn die Menschheit das Ziel der Vollkommenheit erreicht hat. Es handelt sich niemals um eine gegenwärtige Gemeinschaft oder Gesellschaft, auch nicht um politische oder religiöse Formen, sondern das Ziel, das zur Vollkommenheit am besten geeignet ist, müßte ein Ziel sein, das die ideale Gemeinschaft der ganzen Menschheit bedeutet, die letzte Erfüllung der Evolution. ... Unsere Idee des Gemeinschaftsgefühls als der letzten Form der Menschheit, eines Zustandes, in dem wir uns alle Fragen des Lebens, alle Beziehungen zur Außenwelt gelöst vorstellen, ... dieses Ziel der Vollendung muß in sich das Ziel einer idealen Gemeinschaft tragen« (1933b S. 166f.). Adler ist damit also von »Gesellschaft« zur »Menschheit« und von hier zum »All« gelangt. Er hat sich damit zu metaphysischen Höhen aufgeschwungen - zu denen er sich auch bekennt. Dies konnte nicht mehr von allen geteilt werden. Wexberg hatte diese Wende nicht mitgemacht und betonte besonders die biologischen Grundlagen. Furtmüller - und ähnlich Sperber - warfen Adler die »Wende zur Metaphysik« vor, mit der sich Adler vom »Boden der Biologie entferne« (Furtmüller 1946, S. 275). Schließlich bezeichnete Sperber diesen späten Gemeinschaftsbegriff Adlers als »ethischen Dunst« (1934, S. 115), und Rühle soll ihn mit »WischlWaschl« abgetan haben (zit. n. Jacoby 1980, S. 101). Adlers Kritiker aus seinem Kreis waren also gerade die, die (als Marxisten) selbst eine Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft hatten, diese aber wissenschaftlich begründet sehen wollten.
Gemeinschaftsgefühl als Disposition Für Adler gehört das Gemeinschaftsgefühl zum Wesen des Menschen, zur menschlichen Natur. In der Unvoilkommenheit und Schwäche liege seine biologische Wurzel. In diesem Sinn ist das Gemeinschaftsgefühl für ihn »angeboren«, es ist »der kompensatorische Faktor für das körperliche Minderwertigkeitsgefühl des Menschen« (19310, S. 204; ähnlich 1929c, S. 49; 1930a, S. 69). Hat Adler in den früheren Schriften vielfach nur vom »angeborenen Gemeinschaftsgefühl« gesprochen, so später davon, daß das 211
Gemeinschaftsgefühl eine »angeborene Möglichkeit ist, die es bewußt zu entfalten gilt« (1929c, S. 49). Ansbacher (1981) möchte hierin (zwischen »angeboren« und »angeborene Möglichkeit«) eine Wende Adlers nach 1928 sehen und stützt sich vor allem auf den Zusatz: »Wir können uns auf irgendeinen sogenannten »sozialen Instinkt< nicht verlassen« (1929c, S. 49). Mir erscheint es allerdings fragwürdig, hierin eine grundsätzliche Sichtänderung Adlers zu sehen. Denn nach allem, was Adler auch vor 1928 über die soziale Natur des Menschen schreibt und über die geringe Bedeutung der Vererbung (z. B. bei der Begabung), ist davon auszugehen, daß »angeboren« von ihm immer als Disposition verstanden wurde, die erst entfaltet werden muß, als gattungsmäßige Anlage, nicht als Trieb oder Instinkt, der sich automatisch oder zwangsläufig (im Sozialverhalten) äußern würde. Und an dieser ursprünglich biologischen, wesenhaften, Wurzel des Gemeinschaftsgefühls hält Adler ja auch nach 1928 fest, nur »müssen wir das angeborene Substrat des Gemeinschaftsgefühls als zu gering bewerten, nicht stark genug, um sich ohne soziales Verständnis durchsetzen und entfalten zu können« (1933il, S. 29). Seine späteren Formulierungen erscheinen eher als Erläuterung oder als Verteidigung gegen mögliche oder lautgewordene Mißverständnisse und allenfalls, wie es Lux Furtmüller meint, als eine »Akzentverschiebung«, die wieder die Notwendigkeit des Lernens stärker betont (1983, S. 284). Adlers Tendenz nach 1928 von der Wissenschaft und Biologie hin zur Metaphysik - die Ansbacher richtig sieht und die er selbst auch begrüßt - läßt sich also nicht an der Frage festmachen, ob das Gemeinschaftsgefühl als angeboren oder nur als eine angeborene Möglichkeit gesehen wird. In der individualpsychologischen Literatur wurde damals, mit unterschiedlichem Akzent, diese Frage des Angeborenen ähnlich diskutiert, als »Gesetzmäßigkeit der sozialen Anlage«, die noch zu entwickeln sei (Beil 1927, S. 65), oder »aus den ersten Erfahrungen von Angewiesenheit« stammend (Kaus 1926, S. 143f.). Vor allem Wexberg betont deutlich die biologische Wurzel: »Der faktischen Lebensnotwendigkeit des Gemeinschaftslebens muß ein psychologischer Zwang in der Richtung auf Sozialität, muß also ein Gemeinschaftsgefühl entsprechen.« Das ist für ihn gleichbedeutend mit einem »angeborenen Instinkt« (1930a, S. 79). Dieser sei aber beim Kleinkind noch nicht ausgebildet, müsse sich durch die Be212
Ziehung zur Mutter erst langsam entwickeln. Als minderwertiges Wesen sei das Kleinkind Parasit der Mutter, eigennützig (während Gemeinschaftsgefühl immer Wechselseitigkeit bedeute). Erst wenn es »zur Selbständigkeit gelangt«, also »seine objektive Minderwertigkeit überwindet, kann es zum Mitmenschen werden« (S. 81).
Gemeinschaftsgefühl und Machtstreben Die Integrierung des Gemeinschaftsgefühls in das ganzheitliche Grundkonzept von Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben hat Adler gewisse Schwierigkeiten bereitet und war daher Veränderungen unterworfen. Ansbacher (1981) unterscheidet im Verhältnis vom Gemeinschaftsgefühl zum Minderwertigkeitsgefühl und Machtstreben zwei Phasen, von 1918 bis 1927 und ab 1928: 1. Gemeinschaftsgefühl als Gegenkraft zum Machtstreben und 2. Gemeinschaftsgefühl als »kognitive Funktion«, das meint als Kraft oder Eigenschaft, die dieses Machtstreben modifiziert und sich dem Streben einfügt. In der Auffassung von Gemeinschaftsgefühl als Gegenkraft (1.) sieht Adler Gemeinschaftsgefühl als zweiten Faktor neben dem Streben nach Macht (1927a, S. 150), »die Bewegungslinie des menschlichen Strebens« entspringt »einer Mischung von Gemeinschaftsgefühl und Streben nach persönlicher Überlegenheit« (1920a, S. 15). Ein starkes Gemeinschaftsgefühl kann daher das Machtstreben mildern und hemmen, und umgekehrt kann das Gemeinschaftsgefühl durch das Machtstreben gedrosselt oder auch mißbraucht werden. »Es wird jedem einleuchten, daß jede Verstärkung des Strebens nach persönlicher Macht der Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls Abbruch tut« (1926m, S. 164). Daher ist auch jedes ausgeprägte Minderwertigkeitsgefühl der Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls hinderlich. So sieht auch Wexberg zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Gemeinschaftsgefühl eine Beziehung umgekehrter Proportionalität, also »je geringer ein Mensch sich einschätzt, um so egozentrischer ist er« (1930a, S. 81). Ich habe bereits darauf verwiesen, daß Ansbacher (1981), wie auch einige von Adlers Zeitgenossen, in dieser Auffassung des Gemein213
schaftsgefühls einen konflikttheoretischen Ansatz gesehen haben (s. Kap. XVI). Nach 1928 erst habe Adler diesen antithetischen Charakter des Gemeinschaftsgefühls aufgehoben und ihn damit erst mit einem holistischen Ansatz vereint. Folgt man Ansbacher darin, so bleibt die Frage, wie Adler das bewerkstelligt hat. Meine These ist, daß Adler das Gemeinschaftsgefühl in ein ganzheitliches Konzept dadurch zu integrieren versucht, daß er das kompensatorische Streben nach Geltung positiv umformuliert als Streben nach Vollkommenheit und dafür die Kategorie der »Nützlichkeit« einführt beziehungsweise in den Vordergrund stellt. Das Streben nach Überlegenheit wird nun durch das Gemeinschaftsgefühl nach der »sozial nützlichen Seite« hin gelenkt und geformt (1929d, S. 120). das Gemeinschaftsgefühl damit in die Zielgerichtetheit integriert, es wird »Teil dieses Ziels« (Ansbacher 1981, S. 187). Gina Kaus hatte dies aber bereits 1926 formuliert: Der »Geltungstrieb« des seelisch gesunden Kindes »liegt durchaus auf dem Weg der Leistung, und solange dies der Fall ist, kann er gar nicht in Konflikt mit d e m Gemeinschaftsgefühl kommen« (1926, S. 147). Das »geringe M a ß an Gemeinschaftsgefühl«, der »Mangel an Gemeinschaftsgefühl« wäre dann bei Adler »gleichbedeutend mit (der) Ausrichtung zur unnützlichen Seite des Lebens (1929d, S. 19), das heißt mit persönlichem Machtstreben. So kommt Adler dazu, den Grad an Gemeinschaftsgefühl zum Kriterium psychischer Gesundheit zu machen und dieses mit »Nützlichkeit« gleichzusetzen - ein Schritt, der zumindest heute zu vielen Kontroversen und Kritiken geführt hat. »Jede Art von Handlungen auf der unnützlichen Seite des Lebens, wie das Verhalten von Sorgenkindern, Neurotikem, Kriminellen, sexuell Perversen, Prostituierten und Selbstmördern, läßt sich mehr oder weniger genau auf einen Mangel an Gemeinschaftsgefühl ... zurückführen (1929c, S. 50). Nun kann »nützliche Seite« als Kriterium so verstanden werden, daß sich die Nützlichkeit auf die konkreten, gegenwärtigen Lebensaufgaben bezieht - und in vielen Fällen scheint das Adler durchaus so verstanden zu haben - oder daß sie sich auf die zweite Dimension von Gemeinschaft bezieht, auf Verantwortlichkeit für eine Menschheit im idealen Sinn - was beides ja nicht zusammenfallen muß. Den antithetischen Charakter des Gemeinschaftsgefühls aufzuheben ist Adler aber doch nicht ganz gelungen, denn auch um diese
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Zeit ist es noch so, daß ein starkes Minderwertigkeitsgefühl und die ihm entsprechende Kompensation der Ausbildung des Gemeinschaftsgefühls hinderlich ist, also als »Gegenkraft« wirkt: Kinder mit unvollkommenen Organen, verzärtelte und abgelehnte Kinder entwickeln ein Leitbild mit geringem Maß an Gemeinschaftsgefühl (1929d, S. 19).
Diskussion des Gemeinschaftsbegriffs Adlers Gemeinschaftsbegriff gehört zu den problematischsten und am heftigsten umstrittenen Begriffen seiner Theorie. Es ist ein psychologischer, zugleich ein politisch-soziologischer und ethisch verstandener Begriff, der zudem so uneindeutig und für verschiedene Verwendungen offen ist, daß Kritiker und Verteidiger sich jeweils auf unterschiedliche Facetten und Textstellen beziehen können, so daß jeder im Recht ist oder zu sein scheint. Die Verknüpfung dieses Begriffs mit Sozialismus einerseits, verschiedene affirmative Wendungen Adlers andererseits und schließlich die allgemeine Karriere dieses Begriffs in der deutschen Geschichte (als Volksgemeinschaft) haben zu dieser Diskussion beigetragen oder vor seiner Verwendung zurückschrecken lassen. So gibt es auch innerhalb der Individualpsychologie heute viele Vorbehalte gegen ihn und eine starke Neigung, diesen Begriff aus der Theoriesprache zu eliminieren. Ich möchte die Diskussion vom historischen Zugang her führen, denn gerade dieser Begriff ist ohne seinen Entstehungszusammenhang nicht zu verstehen. Er ist eng an diesen Kontext gebunden. Ich gehe dabei von drei Schattierungen/Dimensionen des Adlerschen Gemeinschaftsbegriffs aus, die in jeweils unterschiedlichem historischen Zusammenhang stehen: - »Betroffenheit und Trauer« über die Unzulänglichkeit der Gesellschaft (Schmidt 1987a, S. 153 und 1987b, S. 254), - Hoffnung auf eine bessere, menschlichere Gesellschaft, - Affirmation gegenüber den gesellschaftlichen Forderungen. Alle drei Dimensionen ziehen sich bei Adler durch und stehen nebeneinander. Sie sind an die Erfahrungen des Kriegs, der revolutionären Umwälzungen (auch in Rußland), der Republikgründung und schließlich der Entwicklung zum Faschimus gebunden. 215
Trauer und Betroffenheit Als Adler den Gemeinschaftsbegriff einführte, war er eng mit dem Entsetzen über den Krieg verbunden. Adler sei erschüttert vom Krieg heimgekehrt und habe gesagt, was die Menschheit brauche, sei Gemeinschaftsgefühl. Er sagte dies zu einer Zeit, als gerade das falsche Pathos der Gemeinschaft im Krieg und für den Krieg verklungen war, das seit 1914 die Massen im Interesse der Herrschenden in den Krieg getrieben und zum Durchhalten angespornt hatte. Diesem Mißbrauch des Gemeinschaftsgefühls im Krieg setzte er seinen Gemeinschaftsbegriff entgegen. Adler war im weiteren aber, mit vielen anderen, über die Entwicklung des Bolschew i s m u s betroffen, der für ihn in seinem Machtstreben und seiner Gewaltsamkeit einen Verrat an der sozialistischen Gemeinschaftsidee darstellte. Er muß schließlich auch über die Entwicklung in Österreich und Deutschland enttäuscht gewesen sein: Das Rote Wien erfüllte nicht die H o f f n u n g e n , und die K ä m p f e zwischen den politischen Strömungen dauerten an und steigerten sich. Ein Teil von Adlers Anklage gegen die, die die Gemeinschaft stören, wird den Feinden der Republik gegolten haben - nur hat er dabei die Anklage gegen die falschen, gegen einzelne, gewendet. Anfang der 30er Jahre drückt er im N a m e n der Gemeinschaft (und Gewaltlosigkeit) auch seine Ablehnung der faschistischen Entwicklung aus. Adler hatte Gemeinschaft immer wieder als einen kritischen Begriff eingesetzt, als etwas, was nicht erreicht, was in dieser Gesellschaft unterentwickelt ist und dessen Mangel zerstörerische Folgen für die Menschheit und für das Individuum hat.
Hoffnung Gemeinschaft drückt die H o f f n u n g auf eine neue, menschlichere Gesellschaft aus. Angesichts des Kriegsendes und der revolutionären Bewegungen schien diese sehr nahe. Sie war Gegenwart geworden und zugleich noch Zukunft, das Noch-nicht-Erreichte, aber Kommende. Diese H o f f n u n g war 1918/19 ganz allgemein mit dem Begriff Gemeinschaft oder Sozialismus verbunden, als Aufbau eines solidarischen, gleichberechtigten Zusammenwirkens, das eine
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Wiederholung eines solchen Krieges unmöglich machen sollte. Die Idee einer klassenlosen Gesellschaft, Befreiung von Unterordnung und Elend schien realisiert werden zu können. Dieser Gemeinschaftsbegriff konnte auf Vorstellungen zurückgreifen. die bereits vor dem Krieg in der Jugendbewegung, Lebensreform und Reformpädagogik ihren Ausdruck gefunden hatten. Gemeinschaftserlebnis, Gemeinschaftserziehung gegen autoritäre Unterordnung und gegen Isolierung im Konkurrenzkampf waren das verbindende Moment dieser selbst in sich sehr heterogenen Bewegungen. Als sich nun in den 20er Jahren die H o f f n u n g auf eine sozialistische Gesellschaft in Deutschland und Österreich nicht erfüllte Adler dies zumindest als nicht erfüllt sah - , tauschte Adler »Sozialismus« nicht gegen ein anderes »Programm« aus, sondern versuchte, seine H o f f n u n g zu bewahren, indem er sie nun in weitere (räumliche und zeitliche) F e m e rückte, auf die allumfassende Menschheit projizierte. Gemeinschaft wurde zur Fluchtvision, um so mehr, je bedrohlicher die politische Entwicklung sich in eine andere Richtung bewegte. Auch gegen diese nun hielt er seinen Gemeinschaftsbegriff hoch. Allerdings brachte er sich damit zugleich in schlechte Gesellschaft, da der Gemeinschaftsbegriff wieder zu einem Kampfbegriff gerade der reaktionären Kräfte wurde, die sich in den späten 20er Jahren als Ausdruck einer Krisenstimmung formierten. Diese »revolutionär-konservativen« Kräfte setzten Gemeinschaft gegen das »System« (der Republik) und dachten dabei immer an eine hierarchische Struktur. Sie verbanden »Gemeinschaft« mit dem »Urerlebnis« im Schützengraben, der »Frontgemeinschaft«, und bezogen sich dabei auf einen autoritären, totalen Staat. Gegen diese immer mächtiger werdende Entwicklung setzte Adler den Optimismus der Gesetze der Evolution, auch wenn es so aussehen mochte, als würde sich die ideale Gemeinschaft doch nicht erreichen lassen. Diese H o f f n u n g hatte keinen realen Bezug, keine reale Basis mehr, sondern allenfalls eschatologische Bedeutung. Adler wurde zum Prediger, zum Verkünder, seine Gemeinschaft verlor an Kontur, und der Weg dorthin blieb offen. In d e m Maß, wie bei Adler dieser kontrafaktische Optimismus stieg, wich die Kritik an der Gesellschaft zurück und wurde das Machtstreben nur noch Merkmal einzelner Neurotiker gegenüber dem allgemei217
nen menschlichen Streben nach Vollkommenheit. Adler machte nicht gemeinsame Sache mit den Reaktionären, aber er verwendete weiter ihren Begriff und schüttelte dadurch diese nicht wirklich ab. Und so wurde er von allen Seiten verstanden und zugleich mißverstanden. Die Zahl seiner Anhänger unter den »Unpolitischen« und Konservativen war vermutlich beträchtlich, nicht zuletzt wegen eben dieses Gemeinschaftsbegriffs. In der heutigen Individualpsychologie wird gerade dieser ideale Begriff von Gemeinschaft kontrovers diskutiert. Von manchen wird Adlers Versuch, die bestehende Gesellschaft zu transzendieren, als ideologisch verworfen - mit unterschiedlichen Begründungen und Hintergründen. Unter der Prämisse, die bestehende Gesellschaft verteidigen und ihre Kosten dafür in Kauf nehmen zu müssen, bezeichnet beispielsweise Wiegand diesen Gemeinschaftsbegriff als regressiv und antirational. Es sei »romantischer Protest«, der die bürgerliche Gesellschaft seit Rousseau begleite (1986, S. 116). Von einem existentialanalytischen Standpunkt aus wirft Witte (1988) Adler vor, er »schiele« mit dem Gemeinschaftsbegriff und dem Streben nach Vollkommenheit und übersehe das »wölfische Wesen Mensch« und seinen Willen zur Macht. In der Verteidigung Adlers wehrt sich Brunner dagegen, das Gemeinschaftsgefühl, das er mit Zärtlichkeit und Geborgenheit verbindet, als regressives Handeln und als antirational zu bezeichnen (1988, S. 11) und ähnlich ist auch für R. Schmidt gerade die Perspektive auf eine Gesellschaft, die das Machtstreben überwunden hat, wertvoll und somit der Gemeinschaftsbegriff unverzichtbar, »solange jeder Blick in diese uns umgebende Welt uns lehrt, daß es eine nicht verwirklichte Möglichkeit ist« (1987b, S. 254). Ich selbst würde mich dem anschließen und Adler nicht kritisieren, soweit er mit dem Begriff »Gemeinschaft« ein emanzipatorisches, unabgegoltenes Bedürfnis nach solidarischen, gleichwertigen Beziehungen ausdrückt, das sich kritisch gegen eine Gesellschaft wendet, die solche Beziehungen verhindert. Das Leiden des Menschen ist in diesem Sinn ein Leiden an dem Mangel an Gemeinschaft.
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Affirmation Unübersehbar hat der Gemeinschaftsbegriff bei Adler auch eine affirmative Bedeutung, im Sinn eines naiven Kollektivismus oder der Ablehnung von Abweichungen von den allgemeinen gesellschaftlichen Normen. Das zeigte sich bereits bei der Kriegsneurose, wo Adler sich trotz seiner Ablehnung des Kriegs - gegen alle Formen von »Desertion« ausgesprochen hatte. Auch dann, wenn er über den Mangel an Gemeinschaftsgefühl in der Zeit des Roten Wien klagt, ist ein affirmativer Zug nicht zu verkennen. Das brachte die Kritik an der Gesellschaft zum Verstummen. Statt dessen fordert er immer wieder dazu auf, sich einzufügen und die Pflichten des Lebens zu erfüllen und legt dabei als Maßstab die herrschenden, moralischen und rechtlichen Durchschnittsnormen an (z. B. in seiner Sexualmoral zur Ehe, Familie, Homosexualität). Das Affirmative darin meint nicht den politischen Konservativismus, sondern entspricht eher dem, was man mit »wertekonservativ« bezeichnen würde. Diesen Wertekonservativismus könnte er durchaus sowohl mit seinen sozialdemokratischen Genossen als auch mit seiner rechten Anhängerschaft geteilt haben. Adler wird diese Affirmation heute ebenso oft vorgeworfen wie sie bestritten wird. So schreibt R. Schmidt, »wer es [das Wort Gemeinschaft] als Anpassungswort an die bestehenden Verhältnisse versteht, hat es mißverstanden« (1987b, S. 254). Indem aber Adler das Vorhandensein von Gemeinschaftsgefühl an der Erfüllung jedweder konkreter Aufgaben mißt, indem er meint, die Einfügung in die Gemeinschaft entspreche dem Common sense, erweist sich Adlers Gemeinschaftsbegriff sehr wohl als Anpassungsbegriff. In der Tradition der Individualpsychologie ist dieses Verständnis belegbar, und dies scheint eben nicht nur einem Mißverständis Adlers zu entspringen. Wir kommen dieser Frage noch ein Stück näher, wenn wir den Gemeinschaftsbegriff im Zusammenhang mit Adlers Neurosentheorie betrachten, in der Adler behauptet, daß sich der Neurotiker durch einen Mangel an Gemeinschaftsgefühl auszeichne. Soweit Adler hier in erster Linie meint, daß Neurose eine Beziehungsstörung ist, wäre dem zuzustimmen. Aber Beziehungsstörung ist noch nicht mit »Mangel an Gemeinschaftsgefühl« gleichzusetzen. Denn 219
zum einen kann sich diese Beziehungsstörung in recht unterschiedlicher Weise äußern, zum anderen - darauf verweist Witte - kann nicht nur ein Mangel, sondern auch ein Zuviel an Gemeinschaftsgefühl (im Sinn von Überidentifikation oder Trennungsproblematik) neurotisch oder neurotisierend sein ( 1 9 8 8 , S. 19f.). Schließlich stellt sich die Frage, ob Mangel an Gemeinschaftsgefühl denn ein exklusives Merkmal des Neurotikers ist, denn wir finden diesen Mangel ebensooft oder sogar häufiger beim sogenannten Normalen, da es sich in dieser Gesellschaft recht gut damit leben läßt oder sogar zum Überleben notwendig ist (wie Alice Rühle-Gerstel feststellt). Adler aber schafft mit diesem Kriterium von »Gesund« und »Krank« einen Ausgrenzungsbegriff und nimmt, tendenziell, seine Position des fließenden Übergangs zwischen normal und neurotisch zurück. Hier ist noch einmal Wittes richtige Kritik zu erwähnen, der sagt, daß Adler damit von der »kollektiven Neurose« und der zerstörerischen Normalität wegsieht. Adler tue so, als ob nur der Neurotiker seiner privaten Logik folge. »Wo haben denn die moderne Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik ihre >Lebensaufgaben< erfüllt, ohne für eine Menge unnützen Tand, weltweite Armut, Korruption, Gewalt und Naturzerstörung in Kauf zu nehmen?« (1988, S. 23). Adler würde Witte auch Recht geben, und er würde sagen: j a eben, weil die Menschheit unter einem Mangel an Gemeinschaftsgefühl leidet. Aber damit ist dieser Mangel kein klinisches Kriterium mehr, es sei denn man sagte, wir sind alle Neurotiker, oder Neurotiker sind die, die die Macht haben. Adler verbindet mit dem Gemeinschaftsgefühl die »Nützlichkeit«. Der Mangel an Gemeinschaftsgefühl aber hat mit dieser Frage eigentlich nichts zu tun und müßte davon getrennt werden. Will man sich überhaupt auf diese Ebene begeben, so wissen wir sehr wohl, daß es sehr »nützliche« Neurotiker und sehr »unnütze« Normale gibt - aber auch hier wäre zu differenzieren, welche Gemeinschaft man im Auge hat. Adler gerät mit seinem Gemeinschaftsbegriff und der Nützlichkeitskategorie in eine gefährliche Nähe zur Gemeinschaftsethik (versus Individualethik), die die Gemeinschaftsaufgaben über das Indivdiduum stellt. S o äußert Adler sogar einmal sehr unbedacht: »>Richtig< ist, was der Gemeinschaft nutzt. Wir haben erkannt, daß jegliches Abweichen von der Sozialnorm als ein Angriff gegen das Rechte und Richtige zu werten ist« (1930a, S. 16), auch wenn er einräumt, daß es im einzelnen schwie-
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rig sei zu sagen, was nützlich ist: »Wahr ist freilich, daß es erhebliche Meinungsunterschiede hinsichtlich der Frage gibt, was als nützlich für die Gemeinschaft anzusehen sei« (S. 39). Wir kommen somit dem Gemeinschaftsbegriff, wie ihn Adler meinte, nur näher, wenn wir diese drei Dimensionen, Trauer, Hoffnung und Affirmation, zusammen sehen. Aufgrund der Schwierigkeiten mit dem Gemeinschaftsbegriff heute besteht die Neigung, dafür Ersatzbegriffe wie »soziales Interesse« oder »Sachlichkeit« (Künkel) oder ähnliches zu verwenden. In den meisten Fällen meinen diese Begriffe jedoch nicht mehr das gleiche beziehungsweise werden sie der umfassenden Bedeutung des Adlerschen Gemeinschaftsbegriffs nicht gerecht.
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XVIII. Individualpsychologie im Nationalsozialismus und Austrofaschismus
Die Geschichte der Individualpsychologie im Nationalsozialismus und Austrofaschismus ist ganz ähnlich wie die der Psychoanalyse, j a sie verläuft mit dieser gemeinsam. Sie ist keine Geschichte der Organisation mehr, da es diese nicht mehr gegeben hat. Sie ist die Geschichte einer großen Zahl von Verfolgten und Emigranten und die Geschichte einer nicht geringen Zahl von Menschen, die sich arrangiert haben oder die aktiv hervorgetreten sind. In der Darstellung der Geschichte der Psychoanalyse im Nationalsozialismus waren immer wieder zwei Behauptungen aufgetaucht, die auch in der individualpsychologischen Literatur zu finden sind: (1.) Psychoanalyse oder Individualpsychologie, überhaupt Psychotherapie und Psychologie, sind liquidiert worden oder (2.) Psychoanalyse/Individualpsychologie wurden, dankenswerter Weise, gerettet. Durch eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten ist inzwischen erwiesen, daß sich diese gegensätzlichen Behauptungen so nicht aufrechterhalten lassen, daß beides, »Rettung« und »Liquidierung«, Mythen (Lohmann 1984, S. 8) und Teilwahrheiten sind, die die Funktion haben, zu entlasten und zu verdrängen. Die Arbeiten zur Psychoanalyse von Cocks (1975), Zapp (1980), Lockot (1985) und anderen mehr zeigen zwar einen ungeheuren Verlust an personellen und theoretischen Kapazitäten in der Zeit des Nationalsozialismus, aber sie zeigen sehr wohl, daß die Psychoanalyse von einigen ihrer Vertreter und von einer ganzen Reihe von Nachwuchskräften weiterbetrieben wurde, und zwar nicht nur geduldet, sondern in einer institutionell abgesicherten und geförderten Form, als Profession. Wir werden das gleiche auch für die
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Individualpsychologie nachweisen können. Für die Psychologie hat vor allem Geuter (1984) materialreich einen Prozeß der Institutionalisierung und Professionalisierung nachweisen können. 1 Der Mythos der Liquidierung verdrängt den Anteil derer, die sich in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt haben. Dahinter mag das Entsetzen über diesen in einer Weise stehen, die nur den Bruch, nicht aber die Kontinuität zur vorherigen und zur nachfolgenden Zeit sehen kann. Er täuscht sich über die Widerständigkeit sowohl der psychologischen Theorie als auch der der praktisch handelnden Personen. Die umgekehrte These, Psychologie, Psychoanalyse, Individualpsychologie seien »gereuet« worden, ist zumindest ebenso problematisch, zumal wenn sie, wie dies meist herauszuhören ist, mit Stolz und Dankbarkeit verbunden ist. Zwar konnte nach der NS-Zeit an den vorhandenen Strukturen und Modellen angeknüpft werden und wurden personelle Kontinuitäten aufrechterhalten, aber es wird dabei nicht einbezogen, daß die Theorie in dieser Zeit auch verändert wurde und der Kontext dieser Zeit der Theorie und Praxis eine andere Funktion gegeben hatte. Die Rettungsthese verharmlost den Nationalsozialismus und die Bereitschaft zur Mitarbeit. Die Dankbarkeit darüber ist sehr zweifelhaft. Ich werde im folgenden im wesentlichen die Geschichte der organisatorischen Auflösung und der organisatorischen und personellen Verflechtungen der Individualpsychologie in der Zeit des Nationalsozialismus darstellen. Die aktive Geschichte der Individualpsychologie ist Teil der Geschichte der Psychotherapie, die ich deshalb, soweit für das Verständnis nötig, mit darstellen werde. Personell handelt es sich im wesentlichen um die Kreise, die sich um zwei Individualpsychologen geschart hatten, die vor der NSZeit bereits zu den prominenstesten und bekanntesten deutschen Individualpsychologen zählten: Leonhard Seif und Fritz Künkel. Diese Kreise wiederum bildeten sich um die Führerfigur der Psychotherapie im Nationalsozialismus, um Matthias Heinrich Göring (Vetter des Ministerpräsidenten Hermann Göring), der selbst Individualpsychologe war. Während Seif bis zu dieser Zeit zu den en1 Ein markanter A u s d r u c k f ü r die Professionalisierung der Psychologie ist die Verabschiedung
der
Diplom-Prüfungsordnung
1941
(vgl.
Geuter
1984).
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gen Freunden Adlers zählte, hatte Kunkel noch vor 1933 mit Adler gebrochen. Trotzdem ist es berechtigt, ihn hier als Individualpsychologen zu betrachten, da er lange Zeit an zentraler Stelle in der Individualpsychologie gestanden hatte und auch heute als Individualpsychologe reklamiert wird. M. H. Göring war Lehranalysand von Seif gewesen und mit Künkel befreundet. Seit 1932 hatte er eine individualpsychologische Erziehungsberatungsstelle in Wuppertal betrieben. Im Unterschied zur Geschichte der Psychoanalyse im Nationalsozialismus steht die Erforschung der Geschichte der Individualpsychologie noch ganz am Anfang. Entscheidendes Material über die Geschichte von Personen, die sich arrangiert haben, habe ich den detaillierten Forschungen zur Psychotherapie und Psychoanalyse bei Cocks und vor allem bei Lockot entnommen. Ich habe dies mit einigen Archivunterlagen ergänzen können. 2 Für die Geschichte im Austrofaschismus (1934-38) werde ich mich ganz auf Handlbauer (1983) stützen.
Niedergang der Individualpsychologie Die Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 setzte einen Auflösungsprozeß der Individualpsychologie in Gang, der allerdings in seinen Einzelheiten derzeit kaum zu rekonstruieren ist. Adler war Jude und hatte in der Individualpsychologie viele jüdische und nicht wenige marxistische Anhänger. Adlers Schriften wurden bei der Bücherverbrennung im Mai 1933 mitverbrannt, sie kamen auf die Liste des »schädlichen und unerwünschten Schrifttums« - was übrigens nicht bedeutete, daß sie in öffentlichen Bibliotheken nicht mehr zu finden gewesen wären. Die Weiterarbeit war dennoch gefährdet oder ausgeschlossen. Da die IZI in Wien herauskam, konnte sie zu dieser Zeit noch in vollem U m f a n g erscheinen. Erst zusammen mit den Ereignissen in Wien 1934 nahm sie erheblich an U m f a n g ab, bis sie schließlich, nach Adlers Tod 1937, ihr Erscheinen einstellte. Ab 1934 fehlen allerdings in der IZI unter den »ständigen Mitarbeitern« die Deutschen (Seif, Credner, Kurt Wein2 Ich danke Frau Lockot für den Zugang zu den Materialen des Bundesarchivs.
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mann), ab dieser Zeit publiziert auch fast kein deutscher Autor mehr. Vor allem aber wird bereits ab 1933 die »Chronik« der IZI, also die Nachrichtenseiten über die Ortsgruppen, immer schmäler. Von den deutschen Gruppen gibt es bald keine inhaltlichen Nachrichten mehr, sowenig wie von den Erziehungsberatungsstellen und ähnlichen Einrichtungen. In der Liste der Ortsgruppen sind sie aber weitgehend noch bis 1936 aufgeführt, nur die »Vereine« München und Nürnberg fehlen ab 1934 - offensichtlich, um ihre Zugehörigkeit zur Individualpsychologie b e z i e h u n g s w e i s e zu Adler zu verbergen. Es ist nicht klar, was sich hinter dieser Auflistung der Gruppen noch real verbarg, sicher waren die Gruppen - außer München - zumindest funktionslos geworden. Denn im eigentlichen Sinn verboten waren sie offenbar nicht, zumindest soweit sie nur als Arbeitsgemeinschaften und nicht als Vereine auftraten. Göring schrieb am 26. Mai 1933 (nach der Bücherverbrennung) an Seif: »Selbstverständlich stehen wir zu allen Ortsgruppen und Arbeitsgemeinschaften« (der Individualpsychologie). Ihr Schicksal hing w o h l entscheidend auch von der örtlichen Zusammensetzung und Leitung ab. S o g e b e es, schreibt Göring weiter, für die Berliner (Künkel), die Düsseldorfer (Lenzberg) und die Wuppertaler (Göring) »keine Schwierigkeiten«, und er versprach, sich für die Müchener Ortsgruppe notfalls b e i m Kultusminister einzusetzen. Göring empfiehlt, daß die Leiter der Ortsgruppen, soweit sie Ärzte sind, Mitglieder der deutschen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie - die erst noch zu gründen war werden sollten. Man müsse »den zuständigen Stellen klarmachen, w i e wertvoll die I. P. gerade für die nationalsozialistische Idee ist«, und er fügt aber auch hinzu, »wir müssen aber auch andererseits daran denken, w e l c h e n Einfluß Juden und Marxisten bei uns gehabt haben und daß diese Tatsache die N S D A P kopfscheu gemacht hat« (Göring an Seif, 2 6 . 5 . 1 9 3 3 ) . Trotz dieser Zusicherungen Görings scheint in den folgenden Jahren nur die Münchener Gruppe einigermaßen stabil geblieben zu sein, - obgleich sie sich selbst am 5 . 6 . 1 9 3 3 offziell aufgelöst hat (Gröner 1993, S. 220). Sie konnte zumindest eine ihrer fünf Erziehungsberatungsstellen weiterführen und kam i m weiteren zu größerer Bedeutung. U m die Spur zu Adler zu verwischen, benannte Seif diese Gruppe um in »Arbeitsgemeinschaft für Gemeinschaftsp s y c h o l o g i e « . Kurt Seelmann, der zur Münchener Gruppe gehörte,
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behauptete, daß Lene Credner vorher Adlers »Genehmigung« in den USA eingeholt habe (1977, S. 517). Vielleicht hat Adler tatsächlich zugestimmt - aber was blieb ihm in dieser Situation viel anderes übrig? 3 Für die deutschen Juden oder politisch Aktiven innerhalb der Individualpsychologie war die Situation eine andere. Eine nicht bekannte Zahl von ihnen wurde verhaftet und/oder mußte emigrieren. Namentlich sind mir derzeit allerdings nur bekannt: Sperber, Jacoby, Sidonie Reiß, Annemarie Richter-Wolff (Berlin), Hugo Freund, Plottke (Dresden). Otto und Alice Rühle waren bereits vorsorglich 1932 fortgegangen. Die Leidensgeschichte der Wiener individualpsychologischen Vereinigung beginnt im Februar 1934 mit dem Sieg der Austrofaschisten und dem Verbot der Sozialdemokratie. Durch die enge Verflechtung der Wiener Individualpsychologie mit den Sozialdemokraten traf sie (ungleich der Psychoanalyse) unmittelbar das Verbot und die Verfolgung. Der Verein selbst wurde zwar nicht verboten, aber ihm wurde die Grundlage seiner Praxis entzogen, denn von heute auf morgen wurden alle Sozial- und Reformprojekte, Erziehungsberatungsstellen, Versuchsklassen und die Versuchsschule, aufgelöst. Der Wiener Stadtschulrat wurde entlassen, einige seiner Mitglieder verhaftet, viele Lehrer zwangspensioniert. Birnbaum mußte seine Vorlesungen am Pädagogischen Institut einstellen, Oskar Spiel konnte seine Kurse an der Volkshochschule Brigittenau nicht fortsetzen. Eine erste Verhaftungs- und Emigrationswelle setzte ein, bei der Wexberg (1934) und die Familie Adler (1935) emigrierten, nachdem Raissa Adler wegen politischer Tätigkeit zwei Tage in Haft gesessen hatte. 4 Der individualpsychologische Verein stand unter ständiger polizeilicher Kontrolle und wurde öffentlich attackiert. Er wiederum schützte sich damit, daß er seinen wissenschaftlichen, unpolitischen Charakter erklärte und dokumentierte. Zum einen wechselte er den Vorstand so aus, daß in ihm hinfort nur noch Parteilose wa3 Auch die Berliner Psychoanalytiker hatten sich mit ähnlichen »Zustimmungen« Freuds gerechtfertigt - doch Freud war wütend. 4 Aus Briefen Adlers an seine Familie geht hervor, daß die Übersiedelung durch Adler schon lange geplant und vorbereitet war und daß Raissa noch 1935 gezögert hatte.
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ren, zum anderen distanzierte sich der Vorstand von der »Jugendgruppe marxistischer Individualpsychologen« (Handlbauer 1983, S. 169f.). Die Aktivitäten des Vereins wurden in reduzierter Form aufrechterhalten. Es gab Diskussionen im Verein und in der ärztlichen Arbeitsgemeinschaft, auch einige Vorträge an der Volkshochschule. 1937 konstituierte sich ein »Klub der Freunde der Individualpsychologie«, der für Eltern und Lehrer Arbeitsgemeinschaften und Vorträge anbot. Zu den Vortragenden gehörten unter anderem Lydia Sicher, Sofie Lazarsfeld, Rudolf Dreikurs, Fritz Fischl, Ida Löwy, Margaret Hilferding-Hönigsberg, Danica Deutsch, Franz Plewa, Elly Rothwein, Emmerich Weißmann (Handlbauer 1983, S. 395). Die Annexion Österreichs durch Deutschland 1938 führte bald zur Auflösung des individualpsychologischen Vereins. Ende Januar 1939 wurde er verboten. 1938/39 nun mußte die große Mehrheit der Individualpsychologen emigrieren, soweit viele einzelne nicht bereits kurz vorher gegangen waren. Es ist eine sehr lange Liste, so unter anderem Carl Furtmüller, Emst Papanek 5 , Rudolf Dreikurs, Leonhard und Danica Deutsch, Lydia Sicher, Sofie Lazarsfeld, Otto Krausz, Regine Seidler. Einge kamen in Konzentrationslagern um, so Alexander Neuer, Margarete Hilferding, David Oppenheim, vermutlich auch Helene Bader und Arthur Holub. Von den bekannten Individualpsychologen waren nur noch 4 oder 5 geblieben: Birnbaum, Spiel, Scharmer, Nowotny (Handlbauer S. 169).
Individualpsychologie im Rahmen der Deutschen Psychotherapie Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie 1933 löste sich der Vorstand der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie auf, da in den Vorständen der wissenschaftlichen Vereine keine Juden sein durften. Im April 1933 legte dann der bisherige 1. Vorsitzende Ernst Kretschmer sein Amt nieder, 5 Ernst Papanek leitete im französischen Exil Kinderheime für jüdische Kinder. Über seinen persönlichen Einsatz und seine Pädagogik unter diesen schwierigen Bedingungen schrieb er ein beeindruckendes Buch (1983).
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die Nachfolge übernahm der bisherige 2. Vorsitzende, C. G. Jung (Juni 1933). In seiner Begrüßung als neuer Vorsitzender erwies er sich auch als geeignet, indem er zwischen einer germanischen und einer jüdischen Psychologie unterschied (ZB 1933, S. 139f.). Um der Gefahr der Auflösung der Gesellschaft zu begegnen, planten verschiedene führende Mitglieder die Gründung einer »Deutschen« Gesellschaft, die sich dem neuen Regime als ergeben anbieten konnte. In die Vorverhandlungen dazu waren Cimbal, Haeberlin und die Individualpsychologen Göring, Seif, Künkel einbezogen. Man einigte sich auf Göring als Vorsitzenden, da der Vorsitzende Mitglied der NSDAP sein mußte. Göring, der sich bisher fachlich nicht profiliert hatte, war »von Herzen NS i. S. Hitlers« (Göring an Cimbal, 6.8.1933) und hatte über seinen Vetter Hermann die besten politischen Verbindungen. Es sollten bei der Gründung der deutschen Gesellschaft alle psychotherapeutischen Richtungen vertreten sein. Schwierigkeiten sah man bei den Psychoanalytikern, sie galten als »Sorgenkind« (Künkel an Göring, 12.12.1933). Für eine Integration erschien ihnen Schultz-Hencke möglich, was auch zutraf. Seif galt als der Vertreter der Individualpsychologie, womit Göring gegenüber Cimbal die Einladung Seifs zur Gründung rechtfertigte, da »wir Künkel wohl kaum mehr als Vertreter der Individualpsychologie ansprechen können« (6.9.1933). In einem Brief Künkels an Göring bekundete Künkel seine Bereitschaft zur Mitarbeit und bekräftigte die se mit ersten organisatorischen Überlegungen (9.8.1933). Kurz vor der Gründung drückte Göring noch einmal aus, worum es ging: Die Gründungskollegen müßten sagen, ob sie in der Lage seien, »auf einem Kongreß einen Vortrag zu halten, der eine Verbindung darstellt zwischen den Ideen Hitlers und seiner Richtung«. Für Hattingberg, Künkel, Seif, J. H. Schultz sah er dafür keine Schwierigkeit, aber für Schultz-Hencke (Göring an Cimbal 6.9.1933). Nach Vorgesprächen mit Regierungsvertretern, unter anderem mit Ministerpräsident Hermann Göring und Ministerialrat Conti wurde nun am 15.9.1933 die »Deutsche allgemeine ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie« in Berlin gegründet, und zwar im Haus Fritz Künkels. Anwesend waren: Göring, Cimbal, Haeberlin, v. Hattingberg, Künkel, Seif, J. H. Schultz, Schultz-Hencke. 6 Das Gründungsprotokoll ist sehr kurz. 6 Neben diesen Gründern gehören dann auch Heyer und v. Weizsäcker dem »vorläufigen Ausschuß« an (ZB 1933, S. 141).
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Die zwei wesentlichen Punkte sind: 1. Die Deutsche Gesellschaft ist die Ländergruppe der Allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie - das heißt formell, daß sie der Allgemeinen Gesellschaft untergeordnet sei. was de facto aber nie zutraf, 2. alle psychotherapeutischen Gruppen sind darin zusammengefaßt, ohne Untergruppen. Dieser 2. Punkt, der die Aufhebung der Schulen(spaltung) bedeutete, war für die Gründer selbst ein Problem, mit dem sie irgendwie umzugehen versuchten. Aus diesem Grund verfaßte Kunkel eine »Denkschrift« (11.12.1933), in der er sich um einen Kompromißvorschlag bemüht: »Erweichung der Schulkruste« und »Erhalt der Selbständigkeit der Forscherkreise«, »Einheit und Sonderarbeit«. In einem Begleitschreiben (12.12.1933) an Göring macht er sein persönliches Interesse an der Weiterführung seiner Schule geltend. Er habe internationale Verbindungen, die nach den Gesichtspunkten der dialektischen Charakterkunde »die rassischen, völkischen und ständischen Charakterstrukturen erfassen«. Künkel wollte sich also arrangieren, aber auch seine eigenen Interessen wahren. Ähnlich wehrt sich auch Seif gegen eine »Verschmelzung« der Schulen mit der Aufgabe der »weltanschaulichen und wissenschaftlich methodologischen Voraussetzungen« (gemeint ist die Verbindung mit dem Münchener Jungianer Heyer). Er ist aber zur Zusammenarbeit bereit (Seif an Göring 8.1.1934). In der Gründungserklärung der Deutschen Gesellschaft durch Göring heißt es programmatisch, diese Gesellschaft »will mitarbeiten an dem Werke des Völkskanzlers, das deutsche Volk zu einer heroischen, opferwilligen Gesinnung zu erziehen«. Es sollte eine deutsch-stämmige, germanische Seelenheilkunde entwickelt werden, bei der Hitlers »Mein Kampf« als Grundlage vorausgesetzt werde (ZB 1933, S. 140f.). Im gleichen Heft des Zentralblattes kündigt Göring bereits das »1. Sonderheft der deutschen Gesellschaft für Psychotherapie« mit Aufsätzen der Ausschußmitglieder an (aber statt v. Weizsäcker schreibt Kranefeldt). 1934 erscheint dann diese programmatische Schrift als »Deutsche Seelenheilkunde« (Hg. Göring 1934a). Göring schreibt darin über »Die NS-Idee in der Psychotherapie«, Seif über »Volksgemeinschaft und Neurose« und Künkel über »Die dialektische Charakterkunde als Ergebnis der kulturellen Krise«. Während Görings Beitrag - wie alle seine späteren Beiträ229
ge - reine nationalsozialistische Propaganda ist, läßt sich dies von Seifs und Künkels Beiträgen nicht so sagen, auch wenn beide doch deutlich um Anpassung bemüht sind - oder ist es Überzeugung? - , was sich bereits an der Themenstellung, die gerade opportun war, und an der Terminologie, erweist. Seif koppelt den Begriff »Volksgemeinschaft« (anstelle von »Gemeinschaft«) mit Ehre, Hingabe, Tapferkeit. Sehr betont lehnt er die »selbstischen Werte« ab, den Materialismus und Pessimismus, denen er »die überindividuelle Weltanschauung des Idealismus« gegenüberstellt (was damals als NS-Idealismus verstanden werden konnte). Dieser Idealismus sei auf einen Wert gerichtet, »für den auch das Leben hingegeben werden kann«, er mache »mutig, aktiv und heroisch« (Seif 1934, S. 54). So drückte Seif nun das Adlersche Streben nach der idealen Gemeinschaft, sub specie aeternitatis, aus. Seif benützt weitgehend die Adlersche Terminologie - Streben nach Macht, Minderwertigkeitsgefühl, Lebensstil, »Meinung« von sich - und er nennt sogar Adlers Individualpsychologie positiv »diese Psychologie der Gemeinschaft« (S. 53). Auch Künkel bleibt sich in seinem Aufsatz insgesamt treu, geht aber weiter in dem, was man als direkte »Zugeständnisse« bezeichnen könnte, insofern als es gerade jetzt opportun war - auch wenn er dies schon vorher vertreten hatte - , sich von Adler explizit abzusetzen, Jung und Kiages positiv zu zitieren und sein Fronterlebnis (als Wir-Erlebnis) hervorzuheben. Es gibt aber auch noch direktere Bezüge zum nationalsozialistischen Regime, wenn er von der »gesunden Erziehung, wie sie der Staat in seinen ständischen und kulturpolitischen Organisationen jetzt leistet« schreibt (1934, S. 70) und - sein brieflich bekundetes Interesse leugnend - die Notwendigkeit und Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit betont, »damit eine deutsche Psychotherapie zustande komme« (S. 71). Aufgabe dieses Manifests »Deutsche Seelenheilkunde« war es, der Öffentlichkeit, vor allem den Psychiatern und Ärzten, die neue deutsche Psychotherapie als linientreu, gereinigt von Juden und Marxisten, vorzustellen und glaubhaft zu machen. Dies war angesichts des Mißtrauens der Ärzte und Psychiater gegen die Psychotherapie und gegen Freud schon vor 1933 nötig und erwies sich als schwierig. Denn zum einen war die ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie erklärtermaßen gegen die Schulmedizin und Psychiatrie angetreten und stand der ganzheitlich orientierten, biologi230
sehen Medizin viel näher. Sie hatte daher auch Probleme mit der rassistischen Erbtheorie und der Eugenik. Es bestand der Verdacht, daß sie diese Positionen auch nach 1933 nicht aufgegeben haben würden - und das erwies sich als berechtigt. Zumindest in Briefen äußerten sich verschiedene Psychotherapeuten in diesem Sinn. Heyer wandte sich gegen die »materialistische Welt- und Naturanschauung«, gegen die »Bücher der Gehimmythologen« der »alten Psychiatrie« (Heyer an Göring 18.10.1933), Cimbal gegen den »Materialismus der Erbgesetze (Cimbal an Göring 22.7.1934) und ebenso schreibt Seif an Göring gegen die Betonung der Erbmasse: »Durch solchen Materialismus die Menschen vom Materialismus heilen, hieße, das alte Rezept wieder anwenden, den Teufel durch Beelzebub austreiben«. Er sieht einen Widerspruch zwischen dem »pessimistischen Glauben an das verantwortungslos machende Causalitätsprinzip« das dem »prächtigen Mut, Glauben und Optimismus Hitlers contercarriert (Seif an Göring 8.1.1934). In einem Vortrag 1940 spricht auch Seelmann kritisch gegen die »Erbbiologie«, die heute in »volkstümlicher Weise« verbreitet werde. Mit ihr könnte er nicht den »pädagogischen Glauben« und das »Selbstvertrauen« im Umgang mit seinen »Fällen« haben (1941, S. 52ff.). Zum anderen galt die Psychotherapie, mit ihrem »Vater« Freud (und Adler) als jüdisch. Von diesem Erbe wollte sich die Psychotherapie dadurch befreien, daß sie von Freud und Adler nicht mehr sprach und durch das Adjektiv »deutsch« ihre Ablösung (vom Jüdischen) dokumentierte. So richtig gedankt aber wurde ihnen das Bekenntnis zum Nationalsozialismus nicht, die neue deutsche Seelenheilkunde wurde keineswegs gleich mit offenen Armen in die ärztliche Gemeinschaft aufgenommen. Ihr Umschwung zum Nationalsozialismus wurde vom NSDÄB 7 mit viel Mißtrauen, Skepsis und auch Hohn empfangen. In der Zeitschrift des NSDÄB, »Ziel und Weg«, schreibt Robert Blum: »Unsere Psychotherapeuten« haben sich »gleichgeschaltet«, aber solange in ihren Köpfen »immer noch die Gedanken eines Sigmund Freud und Alfred Adler ihr Unwesen treiben«, sie »auf den Schultern derartiger der deutschen Art so we7 NS-Deutscher Ärztebund ( N S D Ä B ) , gegründet 1929 als Kampforganisation der NSDAP. Er hatte ab 1930 im Kampf gegen Krankenkassen einen zunehmend stärkeren Einfluß (vgl. Zapp 1979; Baader 1984).
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sensfremden Größen« stehen, solange kann »von einer deutschen Seelenheilkunde nicht die Rede sein und gibt es keine Verständigung« (Blum 1934, S. 467). Noch deutlicher spricht später Oswald Bumke - der alte psychiatrische Kämpfer gegen Psychoanalyse und Psychotherapie - von einer »Tarnung« der »deutschen Psychologen«, »diese Helden haben sich hinter Jungs breiten Rücken versteckt« (Bumke 1938, S. 2). Zumindest am Anfang derZeit des Nationalsozialismus stand zudem die Psychotherapie vor der Aufgabe, ihren Platz innerhalb der nationalsozialistischen »Revolution« zu finden. Sie mußte den »NS als Überwinder des Zeitalters der Neurose« - so ein Aufsatztitel in »Ziel und Weg« (J. Hobohm) - als »die umfassendste Psychotherapie« anerkennen (Herzog 1940). Die Psychotherapeuten definierten Psychotherapie als Erziehung und Selbsterziehung, Psychotherapeuten als Führer und Lenker Werte und Vorstellungen, die in der nationalsozialistischen Propaganda große Bedeutung hatten. Ab 1934 wurden wieder die jährlichen Allgemeinen Kongresse der ärztlichen Gesellschaft durchgeführt und zusätzlich Tagungen der »Deutschen Gesellschaft« veranstaltet. Göring war bei diesen Kongressen stets der Leiter und Propagandist. Künkel und Seif traten 1934 und 1935 auf dem Allgmeinen Kongreß, 1938 auf der Tagung der deutschen Gesellschaft mit Referaten auf. 1940 hielt auch Seelmann auf der deutschen Tagung einen Vortrag. 8 Die individualpsychologischen Ärzte Göring, Seif und Künkel haben sich mit ihrer Gründungsaktivität somit nicht einfach nur arrangiert, sondern sich, und zwar von Anbeginn an, an die vorderste Front gestellt und sind, wie wir noch weiter sehen werden, dort auch geblieben. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von ärztlichen und nicht-ärztlichen - als außerordentliche Mitglieder waren auch 8 Vgl. die K o n g r e ß b e r i c h t e der Kongresse der A l l g e m e i n ärztlichen Gesellschaft im Z B , der Tagungen der »deutschen« G e s e l l s c h a f t jeweils als eigenständiger Kongreßbericht. -- Die Referate, meist im Zentralblatt abgedruckt, hatten f o l g e n d e T h e m e n : Künkel: »Die T i e f e n p s y c h o l o g i e als Rahmen der G e s a m t b e h a n d l u n g von Neurotikern« (1934); »Lehrbarkeit der t i e f e n p s y c h o l o g i s c h e n D e n k w e i s e « (1935); »Vorbeugung der N e u r o s e « (1938). Seif: » W e l t a n s c h a u u n g und Psychotherapie« (1934); » E r z i e h u n g s b e r a t u n g « (1935); » P r o p h y l a x e gegen Neurose« (1938). S e e l m a n n : »Die E r z i e h u n g des Kindes im Hinblick auf seine L e b e n s a u f g a b e n « (1940).
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Nicht-Ärzte zugelassen - Individualpsychologen oder Künkelianern, die Mitglied dieser deutschen ärztlichen Gesellschaft waren. Auf einer nicht datierten, vielleicht von 1936 stammenden Mitgliederliste zählt man von den 210 Mitgliedern 13 Namen, die als Individualpsychologen/ Künkelianer gelten müssen: Lene Credner, Johanna Dürck. Max Fürnrohr, M. H. Göring, Erika Hantel, Edgar Herzog, Fritz Künkel, Alice Lüps, Fritz Mohr, Johannes Neumann, Sidonie Reiß 9 , Eleonore Rieniets, Leonhard Seif, Elisabeth Sorge und Else Sumpf.
Deutsches Institut f ü r p s y c h o l o g i s c h e Forschung und Psychotherapie Im Frühjahr 1936 wurde, nach Verhandlungen mit dem Reichsinnenministerium und dem Reichsärzteführer in Berlin, das »Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« gegründet, und zwar, wie es in der »Erklärung« heißt, durch Vertreter der »Deutschen allgemeinen ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie«, der »Deutschen psychoanalytischen Gesellschaft«, der »C. G. Jung-Gesellschaft« und Runkels »Arbeitskreis für angewandte Charakterkunde«. Leiter des Instituts war Göring (ZB 1936, S. 129). Die drei psychotherapeutischen Richtungen, Freud, Adler und Jung - mit ihren jeweiligen Varianten - wirkten am Institut als »Arbeitsgruppen« zusammen. Sie führten gemeinsame und getrennte wissenschaftliche Sitzungen sowie gemeinsame Fallbesprechungen (sog. Dreierseminare) durch. Die Zusammenarbeit wurde allgemein als sehr angenehm und fruchtbar erlebt und in späteren Berichten geradezu begeistert erinnert. Dem Berliner Institut wurden außerhalb Berlins Arbeitsgemeinschaften beziehungsweise Zweigstellen angeschlossen: Düsseldorf, Wuppertal, München, Stuttgart, später (1938) auch Wien. Die Zahl der ordentlichen Mitglieder wuchs stetig von 125 Mitgliedern 1937 auf 240 im Jahr 1941. Ebenso wuchs die Zahl der Ausbildungskandidaten von 42 auf 140. Ordentliche Mitglieder 9 Sidonie Reiß ist zumindest später emigriert. In einer Aktennotiz an Curtius 1940 wird sie als »bei uns völlig unbekannt ... könnte sie vielleicht Jüdin sein?« genannt. Reiss schreibt selbst in der IZI 1947 über ihr »Untertauchen«.
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waren ausgebildete Psychotherapeuten, Ärzte und Nicht-Ärzte die Ärzteschaft außerhalb des Instituts nahm an diesen »Laienbehandlern« natürlich Anstoß. Die Mitgliedschaft in der NSDAP war keine Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Institut. Nur ein sehr geringer Prozentsatz gehörte der Partei an. Das Institut war reichlich mit finanziellen Mitteln ausgestattet, die im Lauf der Jahre über den Reichsforschungsrat, die Stadt Berlin, das Luftfahrtministerium, die Deutsche Arbeitsfront (DAF) und die Industrie flössen. (Lockot 1985, S. 188, 198, 207f.). Die wichtigsten Mitarbeiter, die Leiter und Abteilungsleiter, hatten Spitzengehäiter (S. 194). Aufgabe des Instituts war Forschung in allen Abteilungen, Lehre und Behandlung. Ausgebildet wurden ärztliche und psychologische Psychotherapeuten (»behandelnde Psychologen«) und Berater. Behandelt, aber auch »gesichtet« und ausgesondert 1 0 wurde in den Abteilungen Poliklinik, Erziehungshilfe und Kriminalpsychologie, und zwar neurotisch gestörte Erwachsene und Kinder, j u gendliche Kriminelle und Homosexuelle. Das Institut war in verschiedene Abteilungen, untergliedert: Abteilung für Ausbildung; Abteilung für Erziehungshilfe, Betriebspsychologie, Kriminalpsychologie, Weltanschauung, Literatur, Poliklinik, Abteilung f ü r Begutachtung und Katamnese und Abteilung für Bewegung. Atmung und Ton und weitere (Lockot 1985, S. 193; ZB 1940, 1. Sonderheft). Die Zahl und Untergliederungen der Abteilungen veränderten sich im Lauf der Jahre. Die Individualpsychologen und Künkelianer hatten im Institut eine recht starke Stellung, gemessen an der Anzahl und am Status ihrer Mitglieder und an ihrem inhaltlichen Einfluß. Sie arbeiteten bevorzugt in der Ausbildung und in den Abteilungen Erziehungshilfe und Betriebspsychologie. An leitender Stelle des Instituts neben Göring standen Künkel, Seif und Felix Scherke. Künkel und Seif hatten jeweils eine Reihe von Anhängern und Mitarbeitern um sich, 10 » A u s g e s o n d e r t « wurden die als nicht psychotherapeutisch
behandelbar
Geltenden und sog. E r b m i n d e r w e r t i g e . Laut Cocks (1975) gehörten a m Institut dazu nur in M ü n c h e n sog. erbbiologische Untersuchungen, die L e n e C r e d n e r d u r c h f ü h r t e . Über solche Untersuchungen schreibt sie 1940 in »Wege der E r z i e h u n g s h i l f e « .
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so daß insgesamt eine größere Zahl von Mitgliedern am Institut war, die zur Individualpsychologie und zu ihrem Umkreis zu rechnen waren. Aus einer undatierten Mitgliederliste (vermutlich 1940) gehen folgende Namen hervor: Alfred Appelt, Lene Credner, Erika Hantel, Edgar Herzog, Johanna Herzog-Dürck, Margarete KrauseAblaß, Elisabeth Künkel, Alice Lüps, Fritz Mohr, Johannes Neumann, Eleonore Rieniets, Felix Scherke, Kurt Seelmann, Desta und Christel Timme. Aufgeführt sind hier auch die Wiener Ferdinand Birnbaum, Lambert Bolterauer und Oskar Spiel (Lockot 1985, S. 352f.). Eine Zugehörigkeit zur NSDAP ist (mir) nur bei wenigen bekannt. Mitglied war selbstverständlich Göring, Mitglied war auch Lene Credner (seit 1937)." Gesichert ist ferner, daß Künkel, Seif und Seelmann keine Parteimitglieder waren. Über alle weiteren ist es mir nicht bekannt. Nun einige Angaben zu einzelnen Individualpsychologen bezüglich ihrer Institutsmitarbeit. Als Gründungsmitglied und Vertreter einer eigenen Schulrichtung hatte Fritz Künkel (vgl. Kap. XI) am Institut ohnehin eine exponierte Stellung. Er war dort Abteilungsleiter für die Ausbildung von Beratern und Mitglied des Verwaltungsrats. Er zählte gewiß zu den führenden Leuten am Institut und zu den populärsten Psychotherapeuten. Er wurde von verschiedenen NS-Ärzten besonders lobend und als repräsentativ für die »neue Seelenheilkunde« hervorgehoben. So schreibt zum Beispiel der biologische Mediziner Werner Zabel, Künkels Gedanken »stellen eine Auslese von Erkenntnissen dar, die in weitester Übereinstimmung mit dem vom NS Erstrebtem stehen« (1934, S. 120). 12 Ähnlich schätzt heute Wilhelm Bitter Künkel ein: Es wurde am Institut eine deutsche Psychologie angestrebt, die sich am ehesten an Künkel orientieren konnte (1973, S. 41). 11 Credner war darüber hinaus Mitglied der NS-Frauenschaft (seit 1934) und Mitglied des N S D Ä B . Alice Lüps, ebenfalls Mitglied der NS-Frauen, hatte 1937 die Parteimitgliedschaft beantragt. 12 Zabel war leitender Arzt am Rudolf-Heß-Krankenhaus in Dresden. Dieses Krankenhaus, dem das Mutterhaus der »Braunen Schwestern« angegliedert war, stand ganz unter der Führung der Partei und diente der Forschung und Ausbildung in biologischer Medizin. Es wurde bereits 1934 eingeweiht (vgl. »Ziel und Weg« 1934). Zabel ist heute als biologischer Krebsmediziner bekannt. Zur Stellung der biologischen Medizin im Nationalsozialismus vgl. Baader 1984.
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Künkel stand somit im Institut und bereits bei der Psychotherapeutengesellschaft an einer der ersten Stellen. Um so überraschender ist es, daß er sich zu Kriegsbeginn 1939 in die USA absetzte und seine Frau Elisabeth, ebenfalls Mitglied am Institut (Abt. für Erziehungshilfe) zurückließ. Er kam von einer Reise einfach nicht mehr zurück. Die Reise selbst war nichts Auffälliges und wurde weder verheimlicht noch negativ vermerkt, da solche Kontakte ins Ausland - ebenso wie wirtschaftliche Verbindungen (vgl. Higham 1983) - in gehobenen Positionen nicht unerwünscht waren. Künkel hatte auch gegenüber der Reichsschrifttumskammer Reisen angekündigt. 13 Anläßlich einer Routineanfrage der Reichsschrifttumskammer teilte seine Frau im Juli 1939 Künkels Abwesenheit mit und vertröstete sie auf seine Wiederkehr. Im November 1939 teilte sie dann mit, daß er nicht mehr zurückkommen konnte. In den Verlautbarungen des Instituts (ZB 1940, Sonderheft) und in einem Rundschreiben (1942) heißt es lapidar, daß Künkel in Amerika weilt. Die Motivation für Künkels Absetzung ist noch nicht geklärt. Sein Bruder Hans schreibt 1984, Künkel habe sich aus Unzufriedenheit mit dem System schon längerfristig nach Möglichkeiten im Ausland umgesehen und sei dann einer Einladung der Quäker gefolgt. Auch Leonhard Seif war uns bereits bei der Selbstgleichschaltung der Psychotherapeuten begegnet. Anders als Künkel war er »echter« Adlerianer, langjährig und eng mit Adler befreundet. Seif war Leiter der Münchener »Arbeitsgemeinschaft für Gemeinschaftspsychologie«, die neben der Arbeitsgemeinschaft des Jungianers Heyer dem Berliner Institut seit seiner Gründung angegliedert war. Offenbar aufgrund der Weigerung Seifs zur Zusammenarbeit mit Heyer (s. Brief 8.1.1934) erfolgte der Zusammenschluß der Schulen daher in Bayern erst Ende 1939/Anfang 1940. Beide Arbeitsgemeinschaften waren dann als »Zweigstelle Bayern« dem Institut angeschlossen. Dieser Arbeitsgemeinschaft für Gemeinschaftspsychologie gehörten neben Seif an: Lene Credner als stellvertretende Leiterin, Kurt Seelmann als Geschäftsführer, Alice Lüps als Kassenwart. Zur Münchener Gruppe gehörten auch Johannes Neumann als Institutsmitglied, Else Triibswetter als Ausbildungskandidatin. Die Arbeitsgemeinschaft hielt Vorträge, organisierte Sommer13 K ü n k e l w a r in ihr a l s A u t o r M i t g l i e d .
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kurse und unterhielt eine Erziehungsberatungsstelle, für die Seif sich 1934 eingesetzt hatte. Als Praktiker und Erziehungsberater war Seif weithin bekannt und akzeptiert - so wird die »Gemeinschaftspsychologie« von Seif auch in einem Handbuch für Erziehungsberatung 1941 (hg. von Otto Kersten) an verschiedenen Stellen zitiert und lobend hervorgehoben. 1940 bringt Seif mit seinen Mitarbeitern Credner, Seelmann und Lüps als »Veröffentlichung des deutschen Instituts« einen umfangreichen Bericht über ihre Erziehungsberatungstätigkeit heraus (»Wege der Erziehungshilfe«). Neben den genannten schreiben hier folgende Autoren: Christel Timme, Else Trübswetter, Maria Hettich, Hilde Troidl, Otmar Reinecke, Desta Timme und Line Schmidt, Luise Weizsäcker, M. Wunderle, Grete Schmidt, Margarete Krause-Ablaß, Martha Fröhlich, Else Schwaniger und Else Wildfang. 14 Seif war Mitglied des NSDÄB 15 und galt als »zuverlässig«. So hob Göring die »Münchener unter Seif« hervor, die »mit ihrem arischen Instinkt gegen die marxistische Richtung Fronte machten« (1936a, S. 286), womit er vermutlich auf Seifs Rolle als Kontrahent gegen Sperber anspielte. Die Beurteilungen Seifs durch die Parteistellen sind durchweg positiv: Er sei »positiv zum NS eingestellt«, »sein soziales Verhalten ist sehr gut« (1941). Später (1946) wurde von ihm gesagt, daß er »stets sehr ausgesprochen für den NS, seine Thesen und Einrichtungen eingetreten ist« (zit. n. Grunert 1984, S. 869). Seif hatte durch die Umbennnung der Individualpsychologie in Gemeinschaftspsychologie die Spuren zu Adler selbst zu verwischen versucht. Anläßlich seines 75. Geburtstages 1941 wurde, vielleicht aber nicht durch eigenes Betreiben, die enge Beziehung zu Adler explizit verleugnet: Mit Adler »kam es nie zu einer Verständigung«, es sei schon seit 1930 - also noch vor dem Nationalsozialismus - zu einer »Entfremdung« gekommen, »da die Lebensanschauungen zu verschieden waren« (ZB 1940, S. 321). 14 D i e s e s Buch ist 1952 wieder erschienen, gereinigt von NS-Zusätzen wie z. B. von »Volksgemeinschaft« (das wieder durch Gemeinschaft ersetzt wurde) oder von den Stellen, aus denen die Zusammenarbeit mit NS-Parteiorganisationen (NSV, NSLB, NS-Mütterdienst, HJ, B D M etc.) hervorgeht. Auch Lene Credners Beitrag zur Erbbiologie fehlt. 15 Eingetreten im Januar 1941. Normalerweise war dafür die Parteimitgliedschaft Voraussetzung. Bei Seif heißt es aber stets, er sei nicht Mitglied der N S D A P gewesen.
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Dieser Darstellung ist nicht zu trauen - mögliche Differenzen hatten zumindest damals nicht zur »Entfremdung« geführt. Adler hatte sich auch später noch um Kontakt zu Seif bemüht, aber Seif und Credner sind ihm dann aus dem Weg gegangen, was schließlich doch zu Adlers Verärgerung geführt hatte. In einigen Briefen aus dem Jahr 1936 (an Phyllis und Ernan Bottome) wird dies deutlich. Es ging um ein Treffen und um einen gemeinsamen Vortrag mit Seif in England. Adler ist bereit, dafür auf Seifs Wünsche einzugehen, und versteht, wenn Seif wegen des »political pressure« diese Einladung nicht annehmen kann. Verärgert ist er dann, als Seif sagen ließ, nicht er, sondern Adler wolle nicht und habe mit ihm gebrochen, (23.9., 2.10., 10.10.1936) und pikiert schreibt er über Lene Credner, daß sie 10-14 Tage in New York gewesen sei und ihn erst 4 Stunden vor der Abfahrt besucht habe und sich dabei noch darüber beklagt habe, daß überall ein Mißtrauen gegen Deutschland bestehe (2.10., 15.12.1936). Schließlich drückt Adler aus, daß er mit Seifs Entwicklung ganz und gar nicht einverstanden ist: »His development of course does not agree with the long lasting adherence to IP. The change was a little too quick. I understand that he had not much choice and expect scarcely martyrdom of anybody. But there are at least thousand middle roads« (16.12.1936). Kurt Seelmann gehörte neben Credner zu den wichtigsten Mitarbeitern Seifs, trat allerdings nach außen nicht sehr stark in Erscheinung. Er war Lehrer und Mitglied des NS-Lehrerbundes (NSLB). 16 1939 wurde er zum Hauptlehrer befördert mit Hilfe einer sehr guten Beurteilung durch das »Amt für Erzieher« (J. Streicher) (Mai 1939). Darin heißt es: Er ist »ernster Psychologe und sozialer Kämpfer ..., ist Betreuer von Strafentlassenen im Sinne der Wiedereingliederung in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft«. Laut Cocks soll sein Aufklärungsbuch von 1942, »Kind, Sexualität und Erziehung«, eines der drei Bücher von Psychotherapeuten gewesen sein, die in der NS-Bibliographie empfohlen waren als »praktische Hilfe für Eltern und Erzieher« (Cocks 1975, S. 175). Andererseits gab es über Seelmann eine negative Beurteilung vom »Kulturpolitischen Archiv« (Amt Rosenberg), aber diese 16 Seit Juli 1933. Der N S L B war die - alleinige - Standesorganisation der Lehrer, in der im Laufe der Jahre 97 % aller Lehrer erfaßt waren (vgl. Broszat et al. 1977).
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bezieht sich nicht auf seine Person - »danach liegt zwar politisch nichts gegen Seelmann vor« sondern auf seine Herkunft aus der Individualpsychologie, auf seine Zusammenarbeit mit Seif in der »Systemzeit«, in der »nach den Regeln der Individualpsychologie und der Psychoanalyse gearbeitet wurde. Heute hat sich der genannte Dr. Seif auf >Gemeinschaftspsychologie< umgestellt. Es ist jedoch anzunehmen, daß Seelmann nach wie vor den früheren Gedankengängen verhaftet ist« (15.8.1941). Seelmann warnach 1945 Rektor, dann Jugendamtsdirektor in München und von entscheidendem Einfluß auf die Münchener Individualpsychologie. Johannes Neumann, Mitglied des Instituts zumindest ab 1941, bei der Zweigstelle Bayern, kam von der Religionspsychologie und schrieb vor und in der Zeit des Nationalsozialismus einige Bücher, in denen er Individualpsychologie mit Wertphilosophie und Ganzheitspsychologie in enge Verbindung bringt. Zustimmend zitiert er Scheler, Spranger, Kriiger, Pfänder und andere. In der Zeit des Nationalsozialismus kritisiert er Adler - dieser sei zu rationalistisch, kenne keine konkrete Gemeinschaft - und betont die »deutsche Wissenschaft« und die »dem Deutschen eigene Ganzheitserfassung des Lebendigen« (1936, S. 78). Felix Scherke (geb. 1892) war wohl, wie Edgar Herzog und Frau Herzog-Dürck, Künkel-Anhänger. Laut Ernst Bomemann hatte Scherke in Berlin eine Gesellschaft für individualpsychologische Erziehung gegründet (1972, S. 24). Am Institut war er Direktor der Abteilung Betriebspsychologie, ab 1941 Geschäftsführer des Instituts. Scherke war langjährig als wissenschaftliche Hilfskraft im Reichskriegsministerium beschäftigt, hatte am Institut für Konsumforschung im Auftrag der I. G. Farben gearbeitet und war einer der Vermittler des Instituts zur Industrie. 1938 brachte er, zusammen mit Ursula Vitzthum die Schrift »Bibliographie der geistigen Kriegsführung« heraus. Scherke schrieb nach 1945 ein Buch zur Betriebspsychologie (1948) und eines zum »politischen Charakter« (1961), ganz im Geist Künkels. Der Einfluß der Individualpsychologie in der Betriebspsychologie und Wehrmachtspsychologie scheint nicht gering gewesen zu sein - auch wenn spätere Angaben darüber eventuell aus Stolz auf die Individualpsychologie diesen überschätzen mögen. Die Betriebspsychologen und Institutsmitglieder Erika Hantel und Ludwig Zeise hatten Beziehungen zur »Gemeinschaftspsychologie«. 239
Erika Hantel hatte bei Bosch, ab 1942 in der Luffahrtindustrie gearbeitet (vgl. Geuter 1984, S. 252; Bornemann 1972, S. 24). Ludwig Zeise war von der Wehrmachtspsychologie zur Betriebspsychologie bei I. G. Farben gekommen. Zeise sei stark von Adler angetan gewesen. Seiner Ansicht nach sei die Adlersche Theorie in der Wehrmachtspsychologie immer lebendig, eine Persönlichkeitsstudie zum Zweck der Auslese ohne Adlersche Ansichten undenkbar gewesen (zit. n. Bornemann u. Ansbacher 1949, S. 31). Ernst Bornemann schreibt später ebenfalls, daß in der »Kriegszeit« im Sinn der Individualpsychologie auf betriebliche Führungsstrukturen eingewirkt wurde (1972, S. 24). 17 Scherke, Seelmann und Johannes Neumann gehörten 1962 zu den Mitbegründern der Alfred-Adler-Gesellschaft (vgl. Gröner 1987). Der führende Kopf dieser Gründung war Wolf gang Metzger, Gestaltpsychologe und später Herausgeber von Adlers Schriften im Fischer Verlag. Er gehörte nach 1945 zu denen, die behaupteten, Psychologie und Gestaltpsychologie seien unvereinbar gewesen mit dem Nationalsozialismus (1965, 1979). In den Forschungen von Geuter (1984) erscheint aber ein anderes Bild von Metzger. Er hatte in Aufsätzen (1938, 1942) durchaus angeboten, die »völkische Staatsauffassung mit gestaltpsychologischen Gesetzen der Wahrnehmung zu untermauern«. Metzger hatte 1942 eine Professur in Münster bekommen. Laut einem Gutachten des NSD (Dozentenbund) von 1942 war er seit 1933 Mitglied der SA. seit 1937 Parteimitglied (vgl. Geuter 1984, S. 32, 477, 507). Unmittelbar nach der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich am 13. März 1938 wurde damit begonnen, eine Wiener Zweigstelle des Deutschen Instituts zu gründen. Göring veranlaßte noch im März die Gründung der Wiener Arbeitsgemeinschaft mit den wenigen verbliebenen Psychotherapeuten. Die Arbeitsgemeinschaft wurde offiziell 1939 eröffnet und stand praktisch unter der Leitung des Psychoanalytikers August Aichhorn. 1944 übernahm 17 Ernst B o r n e m a n n selbst, der z u m i n d e s t über seine Frau in enger F ü h l u n g mit der Seifschen G e m e i n s c h a f t s p s y c h o l o g i e stand, war 1938-42 Assistent a m Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie,
1942-45 Be-
t r i e b s p s y c h o l o g e b e i m H ö s c h - K o n z e m , ab 1946 an der Universität M ü n ster ( G e u t e r 1984, S. 565f.).
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Victor von Gebsattel die Leitung und richtete ein Institut als Filiale des Reichsinstituts ein (vgl. Solms-Rödelheim 1976). Die Wiener Arbeitsgemeinschaft traf sich regelmäßig zu Diskussionen, organisierte die Ausbildung und führte Behandlungen durch. Neben den gemeinsamen Treffen gab es ab 1942 auch Treffen eines kleinen Kreises von Individualpsychologen. Der Arbeitsgemeinschaft des Instituts gehörten die Individualpsychologen Ferdinand Birnbaum, Oskar Spiel und Karl Nowotny an. Spiel stellt später die Mitgliedschaft weniger förmlich dar: »Birnbaum, ich und Aichhom wurden ohne gefragt zu werden zu > Behandelnden Psyc h o l o g e n ernannt und wir waren einfach die >Wiener Ortsgruppe< des deutschen Instituts für Psychotherapie ... Bald nahmen wir auch die Verbindung mit Nowotny auf, und er, Birnbaum und ich arbeiteten zusammen« (Spiel, o.J., zit. n. Handlbauer 1983, S. 175f.). Birnbaum und Spiel veröffentlichten 1940 innerhalb des Deutschen Instituts jeweils zwei kleine Beiträge zur Erziehungshilfe. Die Geschichte des Deutschen Instituts schien zunächst mit der Kapitulation beendet. Ungebrochen aber wurde die Tätigkeit sofort im Jahr 1945 wiederaufgenommen und fortgesetzt. Felix Scherke spielte hier eine entscheidende Rolle - diese Geschichte beschreibt ausführlich Grunert (1984). Scherke hatte sich bereits mit Kasse und Akten des Instituts noch vor der Kapitulation, im Februar 1945, von Berlin nach Bayern abgesetzt. Verschiedene Institutsmitglieder waren dann ebenfalls aus Berlin nach München geflohen. Dort waren auf den ersten Sitzungen im S o m m e r 1945 von den Individualpsychologen und Künkel-Anhängern Lene Credner, Alice Lüps, Felix Scherke, Leonhard Seif, Else Trübswetter und Kurt Weinmann anwesend. Zu diesem Kreis gehörten auch Kurt Seelmann und Johanna Herzog-Dürck. Es wurde ein Arbeitsausschuß gegründet, in d e m Kurt Seelmann zum Mitglied und Felix Scherke, in Fortführung seiner bisherigen Funktion, zum Geschäftsführer ernannt wurde. Scherke verhandelte mit der amerikanischen Militärregierung über die Zulassung zur Weiterarbeit des Instituts in seiner bisherigen Form der Zusammenarbeit der Schulen, nun aber im Dienst der »Re-Education«. Im Februar 1946 wurde dazu die Erlaubnis erteilt. Das Konzept der Zusammenarbeit der verschiedenen Schulrichtungen - wobei nur Fritz Riemann Freudianer war wurde nie zur Diskussion gestellt und blieb bis Ende der 60er Jahre
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bestehen. Das galt auch für Wien noch lange Zeit nach Kriegsende. 1948 schreibt Oskar Spiel: »Die ehemals feindlichen Brüder sind zwar nicht versöhnt, aber doch von gegenseitiger Toleranz erfüllt, man kann sogar sagen, gegenseitiger Achtung« (an Seidler, zit. n. Handlbauer 1983, S. 175). S o wurde in diesem kleinen Kreis sehr ernsthaft die Möglichkeit einer »Wiedervereinigung« der beiden tiefenpsychologischen Schulen diskutiert und ins Auge gefaßt.
Einschätzung Abschließend möchte ich noch einige Überlegungen zur Funktion des Instituts, zur Motivation der Mitarbeit und schließlich zur Stellung der Individualpsychologie als Theorie anstellen. Die Existenz dieses Instituts und seine umfangreiche finanzielle Förderung ist ein Ausdruck dafür, daß Psychologie, Erziehung und Psychotherapie im Nationalsozialismus anerkannt und gefördert wurden, allerdings unter ideologischen Vorgaben, unter Kontrolle eines Instituts und - insgesamt - in reduzierter Form. Die Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie selbst hatte ihre Mitarbeit angeboten; sie hatte es verstanden, sich für wirtschaftliche und betriebliche, volkserzieherische und gesundheitspolitische Probleme und schließlich für die Kriegsaufrechterhaltung, wenn wohl auch nicht als unentbehrlich, so doch als nützlich anzubieten. Die Psychotherapeuten hatten damit zumindest eine das System objektiv und ideologisch unterstützende Funktion und haben sich den damit verbundenen Anforderungen unterstellt. In ihren Behandlungen und Aussonderungen, in der Lehre und Forschung waren sie dem Gesundheitsbegriff unterworfen, der Gesundheit als Pflicht verstand und medizinische Leistung und Wohlfahrtshilfe unter die KostenNutzen-Rechnung zum »Wohl der Gemeinschaft« (Gemeinschafts- über Individualethik) stellte. 1 8 Durch ihre Funktion der »Aussonderung« waren die Psychologen und Psychotherapeuten nicht direkt, aber indirekt an den Verbrechen der Medizin beteiligt, denn diese Aussonderung konnte Zwangssterilisierung, »Ausmer18 In der Wohlfahrtshilfe der N S V galt das Prinzip, dem »minderwertigen« Individuum nur die »Mindestfürsorge« zukommen zu lassen - schließlich wurde dann nicht einmal mehr diese gegeben.
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zung« von »Minderwertigen« und »Gemeinschaftsunfähigen« in Heimen, Psychiatrie und Konzentrationslager - die es auch für Jugendliche gab - wie auch »Behandlung« in medizinischen und pädagogischen Experimenten zur Folge haben. Diese objektive Funktion der Mitarbeit mußte subjektiv nicht ihre Entsprechung haben und hatte es im allgemeinen auch nicht. Was Geuter (1984) für die Psychologen, vornehmlich die Wehrmachtspsychologen, an Motivationen und Haltungen und späteren Legitimationen herausgearbeitet hat, gilt aller Wahrscheinlichkeit nach im wesentlichen auch für die Mitglieder dieses Instituts. Die allerwenigsten waren überzeugte Nationalsozialisten, andere kamen ihnen durchaus nahe, viele hielten sich wohl subjektiv auf Distanz- wie es gerade Intellektuelle gern tun. Die Frage nach dem Zweck und den Bedingungen des Tuns wurde ausgeblendet. Man konzentrierte sich auf die tägliche wissenschaftliche oder therapeutische Arbeit, wie es John Rittmeister schrieb. »Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter« (1939, zit. n. Brecht et al. 1985). 19 Ganz ähnliches sagte mir in einem Gespräch ein ehemaliges Institutsmitglied: »Wir haben eben unsere wissenschaftliche Arbeit weitergemacht«. Die Forschungen und praktischen Anwendungen, die Diskussionen und Gespräche waren am Institut offensichtlich auch ungezwungen und anspruchsvoll genug, um als reizvoll erlebt zu werden. Gerade die Zusammenarbeit der verschiedenen Schulen muß das Gefühl der Erleichterung und Zusammengehörigkeit geschaffen haben. Die Schranken des Mißtrauens zwischen den Schulen, die Angst um Anerkennung, konnten weitgehend entfallen. Wir können auch durchaus davon ausgehen, daß in der therapeutischen Arbeit, in der man nur dem jeweils einzelnen unmittelbar begegnet, das eigene Tun als human und unparteiisch begriffen wurde, vielleicht sogar in dem Bewußtsein, den einzelnen vor Aussonderung und Schlimmerem bewahrt zu haben. Schließlich war das Institut eine Existenzgrundlage, die Möglichkeit, um Geld zu verdienen - für einige sogar viel. Außerhalb des Instituts beziehungsweise ohne Anbindung daran, war zumindest therapeutische Arbeit nicht oder kaum möglich (Zapp 1980, S. 26). 19 Rittmeister war Psychoanalytiker, gehörte dann einer W i d e r s t a n d s g r u p p e an und w u r d e hingerichtet (vgl. Brecht et al. 1985).
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Die Mitarbeit am Institut war durchaus eine Auszeichnung, nicht nur der Profession, sondern auch für den einzelnen. Da der NS-Staat all dies ermöglichte, ist anzunehmen, daß die Existenz dieses Instituts und die Mitarbeit in ihm die Loyalität der Psychotherapeuten zu diesem Staat gefördert hat. unabhängig von der Ausgangsmotivation und unabhängig davon, ob sie alles befürworteten. Es gab natürlich viele andere, für die die angegebenen Gründe nicht hinreichend waren und die deshalb auf die Mitarbeit verzichteten. Wir haben gesehen, daß die Individualpsychologie als Gemeinschaftspsychologie und als Wir-Psychologie am Institut eine durchaus starke Stellung hatte, daß sie vor allem bei Psychologen in der Beratung, Persönlichkeits- und diagnostischen Psychologie und bei manchen Ärzten sogar ziemlich respektiert war. Es liegt nahe zu fragen, ob und inwieweit der Grund für diese breite Akzeptanz der Individualpsychologie in ihrer Praxis und Theoriesprache gelegen hatte. Die Individualpsychologie konnte reibungsloser in das System des Nationalsozialismus integriert werden und stand den praktischen Erfordernissen näher, während die Psychoanalyse mit ihrer artifiziellen Sprache, mit dem Ausblenden gesellschaftlicher Einflüsse, der Dichotomisierung von Individuum und Gesellschaft und der Zentrierung auf innerpsychische Prozesse sperriger war - was aber dann doch kein Grund war, daß sie sich nicht auch integriert hatte. Integrationsfähig an der Individualpsychologie schien der Gemeinschaftsbegriff, die Verurteilung von »Egoismus« und »persönlichem Machtstreben« und Formulierungen über die »unnütze Seite des Lebens«. Dem Wortlaut des Gemeinschaftsbegriffs sah man seine Differenz zur NS-Volksgemeinschaft nicht an, und wenn man es nicht so genau nahm - wie Seif dies tat - konnte man ihn mit Volksgemeinschaft identifizieren, womit der Gemeinschaftsbegriff natürlich an Ungleichheit und Herrschaft gebunden wurde, als Beschwörungsformel für diesen Staat und als Zustimmung zur Ausgrenzung von »Gemeinschaftsunfähigen« diente. Im Sinn dieser Ausgrenzung der »Gemeinschaftsunfähigen«, »Asozialen«, »Schädlinge« konnte auch die individualpsychologisch geläufige »unnütze Seite« verstanden werden. Schließlich gehörten »Egoismus« und »persönliches Machtstreben« im Nationalsozialismus zur »Gegen244
weit des Üblen« - Gemeinnutz vor Eigennutz - , zum Begriffsarsenal der »Faschisierung des Subjekts« (Haug 1986, S. 79). In einem Staat, in dem die individuellen Interessen der Masse der Bevölkerung mit Füßen getreten werden, kommt die Verurteilung von Egoismus und Machtstreben der Aufforderung zur Entwaffnung des Individuums gleich. Andererseits aber wurde Adler selbst vor allem von Psychiatern und Psychotherapeuten als jüdisch, liberal und marxistisch gebrandmarkt. In deren Kritik mischten sich alte Ressentiments gegen Psychotherapie überhaupt, Abfälligkeiten seitens der Psychoanalyse gegen die Individualpsychoiogie und Standpunkte aus der nationalsozialistischen Ideologie. Sie sahen und betonten - zu Recht - die Differenz zwischen Adler und dieser Ideologie. In Psychiaterkreisen alter Schule fiel allerdings das Urteil über Adler milder aus als das über Freud. So wird Adler und seine Schule von Bumke als harmloser, bürgerlicher, spießiger eingestuft (1938, S. 3), »ein Gift wie die echte Psychoanalyse verspritzen sie nicht« (S. 87). Im Zentrum der Kritik von dieser Seite steht Adlers Konzept der Minderwertigkeit und seine Ablehnung des Machtstrebens einerseits und sein Gemeinschaftsbegriff, der die »natürliche Ungleichheit« nicht kenne und das Individuum über die Gemeinschaft stelle, andererseits. Ich will unkommentiert zu beiden Themenbereichen einige dieser Vorwürfe zitieren. Bereits 1929 hatte der Berliner Psychiater und Eugeniker Kurt Hildebrandt, Mitbegründer des NSDÄB, Adler vorgeworfen, seine Lehre bedeute »die Förderung der Minderwertigen«, er leugne, daß »die tüchtigen Rassenlinien sich stärker als die minderwertigen fortpflanzen« müssen. »Die männliche, kräftigende Gesinnung ist ihm fremd« (1929, S. 50). In ähnliche Richtung zielt Bumke, wenn er schreibt, Adlers Schlußfolgerungen »sind unerfreulich weichlich und führen ziemlich gesetzmäßig zu einem vollkommenen Mangel an Ehrfurcht und zu einer marklosen und schlaffen Moral« (1938, S. 87; ähnlich Eggert 1939, S. 203f.). In bezug auf den Gemeinschaftsbegriff wird Adler die Differenz zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft immer wieder vorgeworfen. So schreibt Achelis 1936 (ähnlich Eggert 1939): Die »Idee des Dienstes an der deutschen Volksgemeinschaft« hat »zur Voraussetzung die These von der natürlichen Ungleichheit der Menschen ... All dies ist der liberalistischen Mentalität Alfred Ad245
lers, die sich ja auf der Anschauung von der grundsätzlichen Gleichheit der Menschen aufbaut, total fremd« (1936, S. 87). Adler kenne daher keine »natürliche völkische Bindung« (Hattingberg 1934, S. 100). »Er will die Menschen nivellieren« (Göring 1936a, S. 286). Vor allem M. H. Göring betont seine Distanz zum Adlerschen Gemeinschaftsbegriff: »Trotzdem Adler viel von Gemeinschaft redet, steht ihm doch das Individuum höher. Er will den Gemeinschaftsgedanken im Individuum wecken, damit das Individuum gesundet« (1936a, S. 286). »Adler benutzt den Gemeinschaftsbegriff als Mittel. Für ihn ist nicht die Gemeinschaft das wesentliche, sondern die Heilung des Einzelmenschen. Für uns ist das Primäre und das Wichtigste der Gemeinschaftsgedanke, das Gemeinschaftsgefühl. Sekundär entsteht aus diesem Gemeinschaftsgefühl heraus die seelische Heilung« (1936b. S. 294f.). Es gab also einerseits Versuche, vor allem von Seiten der Individualpsychologen selbst, die Adlersche Theorie in das ideologische System des Nationalsozialismus zu integrieren - und das schien in diesem Fall sogar leicht möglich -, und es gab andererseits den Versuch, vor allem von Seiten der »deutschen« Psychotherapeuten, die Differenz zwischen Adler und dem Nationalsozialismus scharf zu betonen - aus welchen Gründen auch immer - und damit Adler zu verurteilen. Diese beiden polaren Bestrebungen treffen in gewisser Weise überraschend gut den Kern der Differenzen. Spätere Kritiker wie zum Beispiel Ernest Bomeman (nicht: Ernst), die meinten, die Adlersche Theorie zeige bereits mit ihrem Ganzheits- und Gemeinschaftsbegriff eine Affinität zum Nationalsozialismus (Bornemann 1982), begehen dagegen den grundlegenden Fehler, Begriffe und Denkansätze aus ihrem theoretischen Kontext und historischen Zusammenhang zu reißen und die Gleichheit des Worts für die Gleichheit in der Sache zu halten - wobei zugegeben werden muß, daß Adlers Äußerungen nie sehr klar und deutlich waren und daß Leute wie zum Beispiel Seif Bornemanns Überlegungen Recht zu geben scheinen. Indem Individualpsychologen die Adlersche Theorie zu integrieren anboten, haben sie selbst den individualpsychologischen Hintergrund gelöscht. Diese Integration war nur möglich unter Preisgabe des Geistes der Adlerschen Theorie, durch einen Bruch mit der Tradition des Adlerschen Denkens, seiner Herkunft und seiner Intention als einer humanen und kritischen Psychologie. 246
Die Frage nach der Theorie gibt uns ohnehin keine Antwort auf die Frage, wie es kommen konnte, daß Individualpsychologen sich in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt haben - diese Frage müßte ebenso an die Psychoanalyse und an andere Theorien gestellt werden - , denn die wissenschaftliche Auffassung selbst war für die Mitarbeit im Nationalsozialismus nicht entscheidend. Entscheidend dafür war die Praxis, und dafür konnte eine »unpassende« Theorie gebeugt werden. Das heißt: Von seilen des nationalsozialistischen Apparats lagen das Interesse an psychologischer und therapeutischer Praxis und das entsprechende Angebot zur Arbeit vor; von seiten der Psychologen und Psychotherapeuten gab es die Bereitschaft, dieses Angebot wahrzunehmen. Insofern ist die Mitarbeit im Nationalsozialismus nicht eine Frage der (individualpsychologischen) Theorie, sondern Sache der einzelnen (Individualpsychologen), die sich dazu entschieden haben, vorwiegend aus pragmatischen Gründen. Das bedeutet allerdings auch wiederum nicht, daß dies eine Privatentscheidung war, die uns heute unberührt zu lassen habe. Denn diese Entscheidung wirkte fort, über die Personen, über das Verständnis der Theorie und über das Ansehen der Individualpsychologie. Gehen wir zu den Thesen am Ausgang unserer Untersuchung zurück. Wurde die Individualpsychologie zerschlagen, oder wurde sie gerettet? Sie wurde beides und beides nicht. Sie wurde »gerettet«, wenn wir damit persönliche und organisatorische Verbindungen und die Übernahme von Worthülsen meinen - und dafür den Preis der Opfer und der Verkehrung der Theorie in Kauf zu nehmen bereit sind. Sie wurde zerschlagen, wenn wir damit die Organisation der Individualpsychologie, die Vertreibung vieler ihrer Mitglieder und die Zerstörung der Intention Adlers meinen. Adler selbst war über die »Integration« Seifs der Meinung, »seine Entwicklung stimmt nicht mit der langwährenden Zugehörigkeit zur Individualpsychologie überein« (16.12.1936).
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XIX. Neuorganisierung der Individualpsychologie nach 1945
Die Reorganisation der deutschsprachigen Individualpsychologie gestaltete sich ungleich schwieriger als die der Psychoanalyse, so daß sie erst mit reichlicher Verzögerung Fuß fassen konnte. Unmittelbar nach Kriegsende war sie zwar noch im gemeinsamen Institut in München eingebunden und an der Zeitschrift »Psyche« 1 beteiligt, blieb aber bereits seit Anfang der 50er Jahre hinter der Entwicklung der anderen tiefenpsychologischen, therapeutischen Schulen zurück. Die Gründe für diese Schwierigkeiten sind noch nicht hinreichend untersucht und gewiß vielfältig. Es fehlte an organisatorischen Strukturen, an Hilfe von außen, auch an Selbstbewußtsein und an der Flexibilität, sich rechtzeitig in der Theorie und Praxis umzustellen. Die Individualpsychologie war schon in den 20er Jahren nur lose organisiert und hatte sich eher als Basisbewegung verstanden. Dies war zumindest teilweise mit dem Selbstverständnis verbunden, weniger ein wissenschaftlicher Verein mit einem wissenschaftlichen Auftrag zu sein, als vielmehr Teil einer Reformbewegung. So hatte sie, obgleich Adler in den USA war und obgleich es verschiedene europäische und außereuropäische individualpsychologische Gruppen gab, keine internationale Organisation. Ihre Zerschlagung in Deutschland und Österreich bedeutete daher für sie in viel höherem 1 D i e Zeitschrift »Psyche« w u r d e seit 1947 von Mitscherlich, Kunz und Schottlaender h e r a u s g e g e b e n . Bis 1953 schrieben hier die Individualpsyc h o l o g e n J o h a n n a H e r z o g - D ü r c k , J o h a n n e s N e u m a n n , Erwin Ringel und Walter Spiel.
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Maß als für die Psychoanalyse eine Zerstreuung. Zwar gab es seit den 30er Jahren in den USA individualpsychologische Gruppen und Institute, vor allem in New York (Alexandra und Kurt Adler) und Chicago (Rudolf Dreikurs), wo sich die meisten Emigranten gesammelt hatten. Sie hatten allerdings hier nicht unerhebliche Schwierigkeiten in der Konkurrenz mit der Psychoanalyse, die in der Kriegszeit noch verstärkt wurde. Auch gab es sogar seit 1935 ein »International Journal of Individual Psychology« und einen lockeren internationalen Kontakt durch das Nachrichtenblatt, das Paul Plottke (Paul Rom) zirkulieren ließ. Dieses war aus einer Folge von Rundschreiben für die Emigranten in den 30er Jahren enstanden und hatte sich Anfang der 50er Jahre zu dem noch heute existierenden »Individual Psychology News Letters« (IPNL) entwickelt. Als dann erst 1954 ein Internationaler Verein gegründet wurde - anläßlich des 6. Internationalen Kongresses in Zürich - , hatte dieser zunächst auf die deutsche Gruppe kaum Auswirkungen. Während die Internationale Psychoanalytische Vereinigung Entscheidendes für den Wiederaufbau der Organisation und für die Institutionalisierung der Ausbildung leisten konnte, kam eine solche Hilfe, von einzelnen Personen abgesehen, von der Internationalen Individualpsychologie nicht oder erst sehr spät. Es scheint, als hätten sowohl die in Deutschland gebliebenen als auch die Emigranten gar keine dringende Notwendigkeit zu einem solchen organisatorischen und institutionalisierten Aufbau und einer ihr entsprechenden Ausbildung gesehen. Dies wiederum mag damit zusammenhängen, daß die deutschen Individualpsychologen an der Tradition der prophylaktischen Pädagogik festhielten und sich nicht an der von der Psychoanalyse betriebenen Anstrengung zur Anerkennung von Therapien beteiligten. Sie beanspruchten gar nicht, als therapeutische Richtung zu arbeiten und anerkannt zu sein, und betrieben - man möchte sagen, in aller Stille - ihre individualpsychologisch orientierte Didaktik in der Schule und ihre individualpsychologische Technik der Beratung. Weder sprangen sie auf den Zug »Therapie« auf, noch propagierten sie ihr Konzept der Prophylaxe offensiv. Das war für eine neue Rezeption der Individualpsychologie, für eine Weiterentwicklung und für die Verbreitung und Anerkennung freilich wenig dienlich.
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Sehr frühzeitig hatte sich die Wiener Gruppe reorganisiert. Am 20.5.1946 hielt der »Wiener Verein« seine Wiedereröffnungssitzung mit einem Festvortrag von Ferdinand Birnbaum im Kreis von 20-25 Personen (W. Spiel 1987). Hier entfaltete sich nun, mit den alten und neu hinzugekommenen Mitgliedern, rasch eine rege Tätigkeit. Es gab Seminare und Kurse unter anderem am Pädagogischen Institut und an Volksheimen verschiedener Stadtbezirke, und es wurden Erziehungsberatungsstellen eingerichtet. 1948 wurden bereits wieder 8 solcher Einrichtungen genannt. Aktiv beteiligten sich hier unter anderem Oskar Spiel, Ferdinand Birnbaum, Karl Nowotny, Friederike Friedmann, Margarete Hofbauer, Hilde Ertl, Josef Aiginger, Knut Baumgärtel und auch Walter Spiel und Erwin Ringel. Vor allem aber hat die Wiener Gruppe die IZI als deutschsprachige Zeitschrift seit 1947 zu neuem Leben erweckt. Sie wurde von Alexandra Adler herausgegeben, unter der Schriftleitung von Birnbaum, Nowotny und O. Spiel. Es schrieben hier im wesentlichen die Wiener, die (Wiener) Emigranten und einige wenige deutsche Autoren. Die Rubrik »Rundschau und Mitteilungen« (früher Chronik) gibt ein wenig Einblick in die Aktivitäten, vor allem in Wien und in den USA. Dieser Zeitschriften-Versuch erwies sich allerdings als verfrüht. Die IZI konnte sich nicht halten und mußte ihr Erscheinen bereits 1951 einstellen. In den Westzonen beziehungsweise der BRD scheinen die Individualpsychologen zunächst verstreut und vereinzelt, außer in München. Die ersten Meldungen über deutsche Individualpsychologen waren bereits 1947 in der IZI aufgetaucht: Aus der Umgebung von Hamburg wird über ein »langsames Wiederzusammenfinden der Individualpsychologie« berichtet, aus Karlsruhe zeigt Karl Sulzer eine Erziehungsberatungsstelle an, und aus Wetzlar hat sich Johannes Neumann gemeldet (IZI 1947, S. 96). Alle drei Orte werden auch im folgenden wieder genannt. In München hatte sich ein Kern von Individualpsychologen um das Nachfolgeinstitut des ehemaligen Berliner Deutschen Instituts gesammelt. Sie arbeiteten hier mit den anderen psychotherapeutischen Schulen zusammen, aber es gab auch weiterhin eine kleine Gruppe von Individualpsychologen, die sich gesondert traf. In der IZI erscheinen die Münchener zum erstenmal 1949 mit einer Mitteilung. Sie bringen 1952 sowohl Kurt Seelmanns Buch »Kind, Sexualität und Erziehung« als auch das von Seif et al. herausgegebene
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Buch »Wege der Erziehungshilfe« in der 2. Auflage heraus. Letzteres erscheint nun in »gereinigter« Form. Erst 1955 schreibt Lene Credner in der IPNL - offenbar nach einem Treffen mit Ansbacher - dazu eine »Erklärung«. Sie entschuldigt sich dafür, daß der Name Adler darin fehle. Vor lauter Herausschneiden von entsprechenden nationalsozialistisch geprägte Passagen der 1. Auflage- hätten sie unter Zeitdruck übersehen, daß der Name Adler hätte ergänzt werden müssen (IPNL April/Mai 1955). In diesen Jahren ist Heinz L. Ansbacher durch Vorträge und persönliche Kontakte aktiv in der BRD. Er hat damit und mit seinen späteren Büchern als einzelner sich maßgeblich und einflußreich an der formalen und inhaltlichen Reorganisation der frühen deutschen Individualpsychologie beteiligt. Ansbacher, der bereits seit den 20er Jahren in Amerika lebte und dort Adler kennengelernt hatte, hatte seine persönlichen Kontakte in der Zeit seiner Untersuchungen über die deutsche Wehrmacht und Betriebspsychologie als Psychologe der amerikanischen Warfare Division hergestellt (Geuter 1984, S. 564). In dieser Zeit, in den 50er und frühen 60er Jahren, erscheinen auch einige weitere Bücher von Individualpsychologen, so von Oliver Brachfeld 1953, Alexander Müller 1954, Felix Scherke 1948 und 1961 und Hugo Freund 1954. Zu einem wirklichen Neuanfang kam es dann 1962 mit der Gründung der Alfred-Adler-Gesellschaft (AAG) am 29.7.1962 in München - ich stütze mich im folgenden im wesentlichen auf Gröner (1987). Anwesend waren: Brachfeld, Scherke, Simon und Weinmann. Zusätzliche, nicht anwesende Gründungsmitglieder waren Metzger, Neumann und Seelmann (Gröner 1987, S. 56). Bis 1967 blieb der Kreis noch klein. Das änderte sich allmählich, als die AAG Kurse und Seminare anzubieten begann. Ab 1967 gab es Weiterbildungskurse in Münster und Aachen. Ausbildungsleiter 1967-69 waren Metzger, Seelmann, Sulzer, Trübswetter und W. Brandt als »Alte«, Seeger und R. Schmidt als »Junge« und Ackerknecht, Dreikurs und Rom von den Emigranten (S. 69). Vereinsintern gab es in dieser Zeit verschiedene Vorstandsänderungen, Sat2 Es heißt wörtlich bei Credner: » ... to eliminate those passages ... which had to be included at that time to make its publication possible« (vgl. dazu Kap. XVII).
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Zungsänderungen, UmOrganisierungen und Krisen und Krache unter anderem um die Institutsgründungen und den Plan eines Zentralinstituts. 1970 benannte sich die AAG um in »Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie« (DGIP), in der heute 8 Landesverbände organisiert sind. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre gab es eine Reihe von Impulsen, die zusammengenommen zur Verbreitung und Entwicklung der Individualpsychologie beitrugen. Auf der publizistischen Ebene ist die Herausgabe der Adlerschen Schriften als Taschenbücher von großer Bedeutung. Sie setzt 1966 als Vorlauf mit »Menschenkenntnis« ein, ab 1972 erscheinen nach und nach alle Werke. In gleicher Zeit erscheinen 1970 Manes Sperbers Adler-Buch, 1972 die Bild-Monographie von Josef Rattner und 1974 Henry Jacobys Buch über Adlers Individualpsychologie. Sperbers Buch, das die Theorie mit der Geschichte in brillianter Weise verbindet, macht einen zu dieser Zeit nicht mehr bekannten (wohl auch nicht erwünschten) Adler sichtbar, nämlich den Sozialpsychologen in marxistischer Tradition - auch das Buch von Henry Jacoby deutet diese Linie an. Für das Selbstverständnis der Individualpsychologie selbst in dieser Zeit war der Einfluß aus Chicago durch Rudolf Dreikurs, entscheidend. Er schrieb eine Reihe von (übersetzten) Büchern und veranstaltete seit 1967 eine »Internationale Sommerschule« (ICASSI), die erstmals 1981 in der BRD tagte. Dreikurs, AdlerSchüler aus Wien, hatte in Chicago eine Individualpsychologie eigener Prägung entwickelt, die die pragmatisch-pädagogischen und finalistischen Ansätze der Adlerschen Theorie verdeutlichten und zuspitzten. Er arbeitete vor allem in der Beratung und mit Kurztherapien. Der Einfluß Dreikurs' auf die deutsche Individualpsychologie war immens. Individualpsychologie war um diese Zeit und noch lang darüber hinaus identisch mit Dreikurs, er gab ihr ihr Gesicht. Zu gleicher Zeit, ab 1968, entstand in Berlin ein therapeutisches Großprojekt mit Josef Rattner, das zwar für die Individualpsychologie insgesamt eher am Rand und in die offizielle Individualpsychologie kaum integriert, schließlich als unakzeptabel abgewiesen wurde, aber in Berlin von bedeutendem Einfluß war und dort für Aufsehen gesorgt hatte. Aus der Adlerschen Schule kommend amalgamierte Rattner verschiedene therapeutische und analytische Richtungen zu einer »Bewegung«, zu Lebensgemeinschaften in 252
therapeutischen Großgruppen. Er selbst entstammt einer vergleichbaren »Bewegung« in Zürich (Gruppe um Friedrich Liebling). Rattners Erfolg in Berlin war Produkt und Ausdruck der Studentenbewegung, in der das Interesse an Selbsterziehung und Selbstveränderung, die Sensibilität in der Gruppe und das kollektive Leben neu erwacht waren. Die Studentenbewegung hatte ansonsten wenig Einfluß auf die Entwicklung der Individualpsychologie, ganz im Unterschied zur Psychoanalyse. Weder ließ sich die Individualpsychologie von ihr erschüttern, noch wurde sie umgekehrt von ihr entdeckt. Sie wurde, paradoxerweise, nicht in die Diskussion um Psychologie, Psychoanalyse und Marxismus einbezogen nur Rühle als revolutionärer Pädagoge (nicht als Individualpsychologe) erreichte Neuauflagen. Die Individualpsychologie war damit auch hier ihrem Schattendasein nicht entkommen und hatte den Profilierungsschub, den die Psychoanalyse in dieser Zeit erreichte, versäumt. Die weiteren Jahre bedeuteten demnach einen Prozeß der Konsolidierung, Professionalisierung und der theoretischen Erneuerung. In den Jahren 1971-76 wurden vier Ausbildungsinstitute zur Ausbildung von Beratern und Therapeuten gegründet (Aachen, Delmenhorst, Düsseldorf, München). Nach und nach (1979 und 1984) wurde die Therapieausbildung von der Kassenärztlichen Vereinigung als analytische Ausbildung anerkannt. Inzwischen sind noch zwei weitere Institute, Berlin (1992) und Mainz (1996) hinzugekommen. Diese sechs Institute sind Mitglied der DGPT. 1976 tagte der Internationale Kongreß in München, erstmals auf deutschem Boden. Seit diesem Jahr 1976 erscheint regelmäßig die »Zeitschrift für Individualpsychologie« und treten die DGIP beziehungsweise ihre Landesverbände mit Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen in die Öffentlichkeit, von denen die jährlichen Delmenhorster Fortbildungstage seit 1980 die bedeutendsten sind. Mit dieser Professionalisierung war und ist ein gründlicher Prozeß der theoretischen und praktischen Umorientierung verbunden, in dem die Individualpsychologie, natürlich nicht ohne innere Schwierigkeiten, sich vom Erbe Dreikurs' befreit und eine Identität als analytische Richtung gewonnen hat. Das begann spätestens mit einem Vortrag des damaligen Vorsitzenden Rainer Schmidt 1985 auf dem 16. Internationalen Kongreß in Montreal (Schmidt 1985). Inzwischen zeichnet sich die analytische Individualpsychologie 253
durch Vielfältigkeit aus, offen für die verschiedenen Ansätze innerhalb der Psychoanalyse, die sie rezipiert und zu denen sie eigene Beiträge liefert.
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Abkürzungen von Zeitschriften
Beitr. IP: Beiträge zur Individualpsychologie. München/Basel: Ernst Reinhardt. Ab: 1978. IPP: Zeitschrift für Individualpsychologische Pädagogik und Psychohygiene. In Gemeinschaft mit individualpsychologischen Pädagogen und Ärzten. Hg. von Man&s Sperber. 1928. IZI: Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie. Arbeiten aus dem Gebiet der Psychotherapie, Psychologie und Pädagogik. Hg. von Alfred Adler. 1914-1937, 1947-1951 (Reprint). ZflP: Zeitschrift für Individualpsychologie. München/Basel: Emst Reinhardt. Ab: 1976. ZB: Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete einschließlich der Medizinischen Psychologie und Psychischer Hygiene. Organ der Internationalen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie. Ab: 1928.
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Werke Alfred Adlers
Die f o l g e n d e Aufstellung zitierter Literatur ist in ihrer Indexierung an der von H. L. Ansbacher zusammengestellten Bibliographie orientiert (in: B r u n n e r e t a l . 1995). 1897: D a s empfohlene Treiberlein. gez. Aladin. (Feuilleton) Arbeiter-Zeitung (Wien), 19. Aug., S. 1-2. 1898: Gesundheitsbuch f ü r das Schneidergewerbe. Berlin. 1902a: D a s Eindringen sozialer Triebkräfte in die Medizin. Ärztl. Standeszeitung, Wien, 1. Jg., 1: 1-3. 1902b: E i n e Lehrkanzel für soziale Medizin. Ärztl. Standeszeitung, Wien,
1. Jg-, 7: 1-2. 1903b: Staatshilfe oder Selbsthilfe? Ärztl. Standeszeitung, Wien, 2. Jg., 21: 1-3 u. 22: 1-2. 1904a: Der Arzt als Erzieher. Ärztl. Standeszeitung, Wien, 3. Jg., 13: 4-5; 14: 3-4; 15: 4-5. Reprint: 1914a. 1904b: Hygiene des Geschlechtslebens. Ärztl. Standeszeitung, Wien, 3. Jg., 18: 1-2; 19: 1-3. 1905a: D a s sexuelle Problem in der Erziehung. Neue Gesellschaft. SoziaIistische Wochenschrift Berlin, Bd. 8: 360-362. Reprint: Z f l P 1977, 2. Jg.: 2-6. 1905b: Drei Psycho-Analysen von Zahleneinfällen und obsedierenden Zahlen. Psychiatr. neurol. Wschr. 7: 263-266. 1907a: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Wien. Reprint: Frankfurt a. M „ 1977. 1908b: Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose. Fortschr. Med. 26: 577-584. Reprint 1914a. 1908d: Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes. Monatsh. Päd. Schulpol. 1: 7-9. Reprint: 1914a. 1908h: Sadismus in Leben und Neurose. In: Protokolle der Wiener psychoanalytischen Vereinigung, Bd. 1. Frankfurt a. M „ 1976, S. 382-385.
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1909a: Über neurotische Disposition: zugleich ein Beitrag zur Ätiologie und zur Frage der Neurosenwahl. Jb. Psychoanal. psychopath. Forsch. 1: 526-545. Reprint: 1914a. 1909d: Zur Psychologie des Marxismus. In: Protokolle der Wiener psychoanalytischen Vereinigung. Frankfurt a. M., 1977, S. 155-156. 1909e: Über die Einheit der Neurosen. In: Protokolle der Wiener psychoanalytischen Vereinigung. Frankfurt a. M., 1977. S. 234-240. 1910b: Über den Selbstmord, insbesondere den Schülerselbstmord. Diskuss. Wien, psychoanal. Ver. No. 1. Wiesbaden, S. 44-50. Reprint: 1914a. 1910c: Der psychische Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose. Fortschr. Med. 28: 486-493. Reprint: 1914a. 191 Od: Trotz und Gehorsam. Monatsh. Päd. Schulpol. 2: 321-328. Reprint: 1914a. 191 Of: Die psychische Behandlung derTrigeminusneuralgie. Zbl. Psychoanal. 1: 10-29. Reprint: 1920a. 1910n: Psychischer Hermaphroditismus. In: Protokolle der Wiener psychoanalytischen Vereinigung, Bd. 2, Frankfurt a. M., 1977, S. 384-388. 1911a: Die Rolle der Sexualität in der Neurose. In: 1914a. 1911b: Verdrängung und »männlicher Protest«: ihre Rolle und Bedeutung f ü r die neurotische Dynamik. In: 1914a. 1911c: Über männliche Einstellung bei weiblichen Neurotikem. Zbl. Psychoanal 1: 174-178. Reprint: 1920a. 191 l d : Beitrag zur Lehre vom Widerstand. Zbl. Psychoanal. 1: 214-219. Reprint: 1920a 1911h: Einige Probleme der Psychoanalyse. In: Protokolle der Wiener psychoanalytischen Vereinigung, Bd. 3, Frankfurt a. M., 1979. 1912a: Über den nervösen Charakter: Grundzüge einer vergleichenden Individual-Psychologie und Psychotherapie. Wiesbaden. Reprint: Frankfurt a. M., 1972. Kommentierte texkritische Ausgabe, hg. K. H. Witte, A. Bruder-Bezzel, R. Kühn. Göttingen, 1997. 1912c: Organdialekt. In: 1914a. 1912e: Zur Theorie der Halluzinationen. In: 1920a. 1912h: Das organische Substrat der Psychoneurosen: zur Ätiologie der Neurosen und Psychosen. Z. ges. Neurol. Psychiat. 13: 481-491. In: 1924j. 1913a: Individualpsychologische Behandlung der Neurosen. In: Sarason, D. (Hg.): 1. Jahreskurs f. ärztl. Fortbildung. München: Lehmann, S. 3951. Reprint: 1920a. 1913h: Zur Rolle des Unbewußten in der Neurose. Zbl. Psychoanal. 3: 169-174. Reprint: 1920a. 1914a: (Hg. mit Carl Furtmüller). Heilen und Bilden: ärztlich-pädagogi-
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Relativitätsprinzip.
Personenregister
Avenarius, Richard 48
Achelis, Werner 246 Ackerknecht, Lucy 251 Adam, Erik 111, 113 Adler, Alexandra 249, 250 Adler, Cornelia 153 Adler, Kurt 155, 249 Adler, Max 79, 106,107, 126, 127, 154, 158, 159 Adler, Raissa 37, 38,40, 149, 153, 226 Adler, Valentine 19, 90, 145, 153, 154 Adomo, Theodor W. 185 Aichhom,August 110, 111, 179, 241 Aiginger, Josef 250 Alexander, Franz 179 Allers, Rudolf 63, 75, 103 Allport, Gordon 199 Ansbacher, Heinz L. 70, 163, 192, 193, 194, 196, 198,212,213, 214, 240, 251 Ansbacher, Rowena 70, 176 Anton, G. 22
Baader, Gerhard 102, 231, 235 Bader, Helene 227 Bahr, Hermann 29 Barth, Karl 164 Bauer, Otto 151 Baumgärtel, Knut 250 Beauvoir, Simone de 141, 143 Bebel, August 138 Becker, Ulrich 199 Beil, Ada 91,92, 9 3 , 9 7 , 2 1 2 Beilot, Elisabeth 95, 118 Bergson, Henri 189, 190 Berne, Eric 199 Bemfeld, Siegfried 110 Besser, Roland 111 Bethe.A. 134 Bettelheim, Bruno 179 Bierer, Jehoschua 93, 126 B ins wanger, Ludwig 103 Birnbaum, Ferdinand 73, 74, 115, 116, 117, 226, 227, 235,241, 250
Appelt, Alfred 87,91,94,128,158, 235 Aquila-Schasch, Gyula 154 Asnaourow, Felix 39
Birstein, J. B. 40 Bitter, Wilhelm 236 Bleidick, Ulrich 167 Bleuler, Eugen 48, 103
277
Bloch, Ernst 181 Blum, Robert 231, 232 Böhringer, Hannes 22, 78,79, 169, 171, 173, 194, 198 Bolterauer, Lambert 235 Bonhoeffer, Karl 51 Born, Max 81 Borneman, Ennest 246 Bornemann, Emst 239, 240 Bottome, Eman 238 Bottome, Phyllis 17,49,52,56,58, 98, 209, 238 Bouillard, H. 164 Bourdieu, Pierre 199 Brachfeld, Oliver 134, 177, 181, 208, 251 Bracken, Helmut v. 118 Brandt, Wilhelm 95, 251 Brecht, Karin 243 Brentano, Franz 189, 194, 198 Brentano, Luio v. 20 Broch, Hermann 27 Brome, Vincent 60 Bruder, Klaus-Jürgen 80, 202 Bruder-Bezzel, Alinuih 20, 22, 24, 2 8 , 3 5 , 3 6 , 4 2 , 4 3 , 137, 194,195, 199, 202 Brunner, Reinhard 179, 218 Brunswik, Egon 113 Buber-Neumann, Margarete 154 Bühler, Charlotte 74, 107, 112, 113 Bühler, Karl 74, 107, 112, 113,189 Bultmann, Rudolf 164 Bumke, Oswald 232, 245 Burlingham, Dorothy 111 Busch, Johannes 102 Cimbal, Walter 104, 228, 231 Cocks, Geoffrey C. 103, 222, 224, 234, 238, 239 Cohn, Edith 91, 92, 93,94, 95, 158
278
Conti 228 Credner, Lene 87, 88, 103, 224. 226, 233, 234, 235, 236. 237. 238, 241, 251 Curtius 233 Darwin, Charles 28, 30, 79. 191 Deutsch, Danica 85, 227 Deutsch, Leonhard 37, 227 Dietrich 73, 117 Dilthey, Wilhelm 194, 198 Dreikurs, Rudolf 73, 123, 125, 134, 198, 199, 227, 249, 251. 252, 253 Dürck, Johanna 233 Dworschak, Rosa 111 Eggert, Gerhard 245, 246 Ehrenfels, Christian v. 194 Ehrenstein, Albert 40 Einstein, Albert 81 Eissler, Kurt Robert 51, 52, 111 Ekstein, Rudolf 113 Eliasberg, Wladimir 102, 103, 104 Ellenberger, Henry F. 28, 38 Elrod, Norman 32 Engels, Friedrich 154 Epstein, Raissa 19 Erikson, Erik H. 183 Erti, Hilde 250 Fadrus, Viktor 127 Fallend, Karl 44, 111. 112, 133, 153, 155 Federn, Paul 34, 112 Fichte 191 Fischer-Homberger, Esther 50, 51 Fischi, Fritz 227 Fischi, Paul 95 Forman, Paul 80, 81 Foucault, Michel 130 Francke 118
Frankl, Viktor 75 Freistadt, Else 1 13 Frenkel, Else 11 3 Freschl, Robert 37, 60 Freud, Anna 34, 111, 179 Freud, Sigmund 11, 12, 1 5 , 2 0 , 2 1 , 23, 2 4 , 2 5 , 2 9 , 3 1 , 3 2 , 3 3 , 3 4 , 3 5 , 38, 4 4 , 4 5 , 5 2 , 82, 8 3 , 8 4 , 107, 110, 111, 118, 130, 150, 171, 172, 177, 179, 186, 189, 192, 193, 202, 206, 230, 231, 232, 233
223, 224, 225, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 235, 237. 240, 246 Graf-Nold, Angela 31, 110, 111 Groeger 90 Gröner, Horst 85, 86, 87, 225, 240, 251 Groos, Karl 31 Grossmann, Anita 133 Grün, Heinrich 20 Griinbaum-Sachs, Hilde 118, 145 Grüner, Franz 37
Freudenberg, Sofie 87, 88, 108,
Grüner, Gustav 37
121, 122, 123 Freund, Hugo 226, 251 Friedmann, Alice 101, 109, 206 Friedmann, Friederike 115, 250 Friedrich, Emst 98 Frischauf-Pappenheim, Marie 112, 133
Grunert, Johannes 86, 237, 241
Fröhlich, Martha 237 Fromm, Erich 185, 186 Fümrohr, Max 103, 233 Furtmüller, Aline 35, 52, 114, 159 Furtmüller, Carl 35, 37, 38, 39, 56, 57, 59, 108, 114, 116, 1 4 9 , 2 0 8 , 211, 227 Furtmüller, Lux 114, 2 1 2 Gardner, Sheldon 107, 113 Gay, Peter 195 Gebsattel, Victor v. 241 Geuter, Ulfried 223, 240, 243, 251 Gindler, Elsa 88 Glöckel, Otto 106 Goffman, Erving 199 Gogarten, Friedrich 164 Goldberg, Bettina 9 2 Goldstein, Kurt 103 Golebiewski, Eduard 19 Göring, Hermann 223, 228 Göring, Matthias Heinrich 8 7 , 1 0 3 ,
Hackenberg, Waltraud 183 Haeberlin, Karl 228 Hahn, Alois 199 Hamann, Richard 29 Handlbauer, Bernhard 21, 32, 34, 3 5 , 3 6 , 3 7 , 6 0 , 102, 120, 124, 155, 166,209, 224, 2 2 7 , 2 4 1 , 242 Hannen, Hans-Wilhelm 56, 57 Hantel, Erika 233, 235, 240 Härle, W. 164 Hattingberg, Hans v. 104, 228, 246 Haug, Wolfgang Fritz 245 Heidegger, Martin 181, 198 Heinrich, Daniel 41 Heinrichsdorff, Annie 95 Heisenberg, Werner 81 Heisterkamp, Günter 200 Herbst, Ingrid 128, 156, 157 Hermand, Jost 29 Herrmann, Isa 87 Herzer, Manfred 131 Herzog, Edgar 232, 233, 235, 239 Herzog-Dürck, Johanna 235, 239, 241,248 Hettich, Maria 237 Hetzer, Hildegard 113
279
Heyer, Gustav Richard 229, 231, 236
Kankeleit 100 Kant, Immanuel 48, 191
Higham, Charles 236 Hildebrandt, Kurt 245 Hilferding-Hönigsberg, Margarete
Karsen, Fritz 1 17
37, 66, 1 3 5 , 2 2 7 Hirschfeld, M a g n u s 94, 131, 133, 134
Kaus, Otto 39, 66, 90, 91, 93. 95, 98, 128, 132, 134. 158. 203. 212 Kautsky, Karl 151 Kelsen, Hans 107 (Kerlow-)Löwenstein, Kurt 126 Kernberg, Otto 187 Kersten, Otto 237 Key, Ellen 31
H o b o h m , Johannes 232 Hodann, Max 133 Hofbauer, Margarete 250 Höfele, Joachim Bernd 38 Hoffer, Willi 110, 111 H o f f m a n , Edward 9, 21, 68, 72, 73 H o f m a n n s t h a l , H u g o v. 29 Holtz, Axel 35 Holub, Arthur 73, 227 Homburger, August 103 Horkheimer, M a x 185 H o m e y , Karen 183, 186 Horovitz, Stefanie 109 Hubenstorf, Michael 20, 149 Huber, Wolfgang 111 Hug-Hellmuth, H e r m i n e 110, 111 Husserl, E d m u n d 198
Jacobi, Heinrich 88, 91 Jacoby, Henry (Heinz) 91, 93, 96, 9 8 , 9 9 , 158, 162, 1 6 7 , 2 1 1 , 2 2 6 , 252 Jacoby, Russell 128, 164 Jahoda, Maria 113, 159 Jalkotzy, Alois 126 Janet, Pierre 4 8 Jerusalem, Wilhelm 48. 107 Jovishoff, Albert 9 3 Jung, Carl Gustav 86, 177, 228, 230, 232, 2 3 3 Kahane, Max 32 Kanitz, Felix 108, 126, 127, 129, 157, 159, 160, 162, 181
280
K a u f m a n n , Otto 118 Kaus, Gina 66, 214
Keyserling, Hermann Graf 64 Kiss, György 40 Kittel, Ingo-Wolf 94 Klages, L u d w i g 181, 194, 195, 198, 2 3 0 Klein, Melanie 111 K l e m m , Bernd 156, 157 Klemperer, Paul 37 Klopfer, B r u n o 103, 118 Koblank, Eva 119 Koffka, Kurt 194 Köhler, Woifgang 194 Kohut, Heinz 187 Korrodi, Eduard 40 Kotlan-Werner, Henriette 127 Kraepelin, Emil 48 Krampflitschek, Hilde 66 Kranefeldt, W. M. 229 Kraus, Karl 27 Krause-Ablaß, Margarete 235, 237 Krausz, Otto 227 Kretschmer, E m s t 48, 51, 103, 184, 228 Kretschmer, Wolfgang 38 Kronfeld, Arthur 91, 93, 94, 95, 103, 134, 182 Krüger, Felix 194, 198, 239 Kruttke-Rüping, Monika 80, 187,
200
Kühn, Rolf 42, 43 Kühnel, Gottfried 91, 93, 97, 103 Kuiemann, Peter 152 Künkel, Elisabeth 94, 235 Künkel, Fritz 18,64, 73,74,75, 87, 89, 9 0 , 9 1 , 9 2 , 9 3 . 9 4 , 95,96,97, 103, 118, 120, 125, 128, 132, 134, 158, 164, 192, 193, 198, 208, 221, 223, 224, 228, 229, 230, 232, 233, 235, 236, 239 Künkel, Hans 118 Künkel, Ruth 64, 91, 92, 93, 94, 96, 118, 120 Kunz, Hans 181, 182, 248 Kutz, Wolfgang 157 Laasch, Hermann 91, 118 Landmann, v. 88 Langhof, Kordula 126 Lazarsfeld, Paul 113, 127, 128, 129, 157, 159 Lazarsfeld, Robert 66 Lazarsfeld, Sofie 64, 66, 73, 130, 133, 134, 135, 141, 185, 227 Lehmkuhl, Ulrike 141,200 Lehner, Karin 133, 136 Leibiin, Valerie 40 Lemm-Hackenberg, R. 183 Lenzberg, Karl 103 Leonhard, Susanne 154 Lesky, Erna 19 Lewandowsky 53 Liebermeister 53 Liebling, Friedrich 253 Linke, Norbert 38 Lipps, Theodor 209 Lockot, Regine 222, 224, 234, 235 Lohmann, Georg 199, 222 Loos, Adolf 27 Löwy, Ida 66, 227 Lück, Helmut E. 110 Lueger, Karl 27, 28
Lukacz, Hugo 66 Lüps, Alice 87, 233, 235, 236, 237, 241 Luxemburg, Rosa 151 Mach, Emst 191 Maday, Stefan 37. 40 Mahler, Margaret 111 Marx, Karl 28, 149, 151, 154, 160 Meinong, Alexius v. 194 Meng, Heinrich 112 Merzbach, Therese 103, 118, 127 Messel, Alfred 29 Metzger, Wolfgang 194, 240, 251 Minor, Margret 145 Mitscherlich, Alexander 248 Mohr, Franzjosef 103 Mohr, Fritz 89, 233, 235 Montada, Leo 31 Mühlleitner, Elke 35 Müller, Alexander 95, 97, 251 Müller, Hans-Peter 198, 199 Müller (-Main), Otto 75, 9 1 , 9 2 , 93, 94, 95, 118, 134, 158, 159 Naegele, Otto 87 Neuer, Alexander 37, 95, 97, 101, 103, 104, 227 Neumann, Johannes 66, 87, 233, 235, 237, 239, 240, 248, 250, 251 Nietzsche, Friedrich 28, 44, 48, 181, 191 Nohl, Hermann 118, 180 Nowak, Horst 199 Nowotny, Karl 63, 227, 241, 250 Olbrich, Joseph M. 29 Oller, Olga 101 Oppenheim, David Ernst 37, 63, 227 Oppenheim, H. 51
281
Orgler, Herta 17, 91, 95 Österreich, Paul 117. 118 Papanek, E m s t 108, 114, 227 Petersen, Peter 1 17 Peukert, Detlev 133, 140, 146 Pfänder, Alexander 239 Plewa, Franz 227 Plottke, Paul (= Rom, Paul) 226, 249 Popper, Karl 113 Preyer, Wilhelm 31 Querfeld, Grete 87, 88 Radek, Karl 154 Rattner, Josef 97, 252, 2 5 3 Redl, Fritz 111, 113 Reich, Wilhelm 44, 103, 112, 133, 166 Reichmayr, Johannes 52, 111 Reinecke, Otmar 237 Reiß, Sidonie 92, 93, 95, 226, 233 Reitler, Rudolf 32 R e u m a n n . Jakob 59 Rexilius, Günther 197 Rheinstein, Max 87 Richter, Horst Eberhard 187 Richter-Wolff, Annemarie 92, 226 Riedesser, Peter 50 R i e m a n n , Fritz 242
Rousseau, Jean Jaques 218 Roux, Wilhelm 22 Rubiner, Ludwig 4 0 Rühle, Otto 65, 66, 98. 99, 127, 128, 129, 156, 157, 159, 160, 161, 181, 185, 211, 226, 253 Rühle-Gerstel, Alice 6 5 , 6 6 , 7 3 , 7 5 , 87, 125, 128, 134. 135, 141, 142. 143, 145, 147, 156, 157, 158, 160, 161, 162, 164, 165, 181. 220, 226 Rumpier, Helmut 106 Salier, T h o m a s 102 Salm-Salm, Eleonore Prinzessin (s. Rieniets, Eleonore) 87 Sartre, Jean-Paul 170, 198 Schalit, Susanne 66 Scharmer, Fritz 74, 115, 227 Schauer, Franz 93, 118 Scheer, Peter 166, 167 Scheler, Max 181, 239 Schenk-Danzinger, Lotte 113 Scherke, Felix 235, 239, 240, 241, 251 Schiferer, Rüdiger 9. 19. 21. 40 Schilder, Paul 103. 104 Schmidt, Eugen 87 Schmidt, Grete 237 Schmidt, Line 237 Schmidt, Rainer 215, 218, 219,
E.) 1 0 3 , 2 3 3 , 2 3 5 Ringel, Erwin 248, 250 Ringer, Fritz K. 195 Rittmeister, John 243 Roffenstein, Gaston 182, 193 Rogner, Josef 81 R o m , Paul (s. Plottke, Paul) 249, 251
251, 253 Schmoller, Gustav v. 20 Schönerer, Georg v. 27 Schopenhauer, Arthur 191 Schorske, Carl E. 28 Schottlaender, Felix 248 Schrecker, Paul 37, 39, 60 Schröder, Christina 21, 50, 51 Schrödinger 81
Rosenberg, Arthur 49, 63 Rothwein, Elly 158, 159, 227
Schulhof, Hedwig 39, 139, 144, 181
Rieniets, Eleonore (= Salm-Salm,
282
Schultz, J. H. 1 0 3 , 2 2 8 Schultz-Hencke, Harald 103, 104, 228 Schwaniger, Else 237 Schwarz, Oswald 75, 103, 134 Scupin, Emst 31 Seeger, Siegfried 251 Seelmann, Kurt 87, 89, 117, 225, 231, 232, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 250, 251 Seidler, Regine 101, 115,120, 121, 122, 123, 227, 242 Seif, Leonhard 66, 86, 87, 88, 89, 96, 103, 120, 122, 128,156,166, 185, 223, 224, 225, 228, 229, 230, 2 3 1 , 2 3 2 , 233, 2 3 5 , 2 3 6 , 237, 238, 239, 240, 241, 244, 246, 247 Seitz, Karl 62 Shinn, M. 31 Sicher, Lydia 109, 227 Simmel, Ernst 52, 103, 198, 199 Simon, Alfons 87, 89, 117, 118, 251 Sobel, Michael 199 Soden, Kristine v. 133, 134 Solms-Rödelheim, Wilhelm 241 Sommer, Robert 102 Sorge, Elisabeth 233 Speer, Ernst 103 Sperber, Manès 18, 67, 75, 80, 90, 9 1 , 9 2 , 93, 94, 9 5 , 9 6 , 97, 98, 118, 145, 147, 156, 157, 158, 162, 164, 165, 166, 167, 171, 180, 184, 185, 186, 205, 208, 211, 226, 252 Spiel, Oskar 74, 114, 115, 116, 226, 227, 2 3 5 , 2 4 1 , 2 4 2 , 250 Spiel, Walter 114, 115, 116, 183, 248, 250 Spitz, R e n é 113, 179 Spranger, Eduard 194, 195, 199, 239
Stein, Benno 158 Stein, Leopold 66, 101 Stekel, Wilhelm 21. 32, 35 Sterba, Edith 111 Stem, Clara 31 Stern, William 31. 48, I 10. 189, 194, 195, 198 Stemberg, Erich 193 Stevens, Gwendolyn 107, 113 Stöcker, Helene 133 Strasser, Charlot 40, 41, 53, 54 Strasser-Eppelbaum, Vera 39, 40, 41, 207 Streicher, J. 238 Sully, James 31 Sulzer, Karl 250, 251 Sumpf, Else 8 7 , 8 8 , 1 0 3 , 2 3 3 Tenbrink, Dieter 187 Tesarek, Anton 126 T h o m a e 199 Tillich, Paul 164 Timme, Christel 235, 237 Timme, Desta 235, 237 Titze, Michael 125, 193 Tönnies, Ferdinand 209 Traube, L u d w i g 22 Troeltsch, Ernst 80 Troidl, Hilde 237 Trotzki, Leo 153 Trübswetter, Else 237, 241, 251 Uehli-Stauffer, B. 17 Vaihingen Hans 44, 48, 189, 191 Virchow, Rudolf 20, 44, 188, 194 Vitzthum, Ursula 239 Vogel, Martin Rudolf 119 Wagner, Otto 29 Wagner-Jauregg, Julius v. 38 Wandruska, A d a m 106
283
Watson, B . 7 2
Wiegand, Ronald 2 1 8
Watzlawick, Pau! 197, 199
Wildfang, Else 2 3 7
Weber, M a x 198
Wilken, Folkert 87
Wedekind, Frank 2 9
Winter, M a x 126
Weigl, Egon 118
Witte, Karl Heinz 42, 43, 4 7 , 48,
Weigl, Trade 87 Weinmann, Kurt 87, 88, 103, 2 2 4 , 2 4 1 , 251
56, 79, 176, 178, 200, 2 1 8 , 2 2 0 Wittels, Fritz 36, 112, 138 Wunderle, M . 2 3 7
Weißmann, Emmerich 159, 2 2 7
Wundt, Wilhelm 191
Weizsäcker, Luise 2 3 7
Wyrubow, N. A. 4 0
Weizsäcker, Viktor v. 103, 2 2 9 Werder, Lutz v. 128, 129
Zabel, Werner 2 3 5
Wertheimer, M a x 194
Zapp, Albert 2 2 2 , 2 3 1 , 2 4 4
Wexberg, Erwin 37, 53, 6 1 , 6 6 , 73,
Zapp, Gudrun 2 3 1 , 2 4 4
97, 1 0 1 , 1 0 3 , 118, 1 2 7 , 1 2 8 , 1 3 2 ,
Zeise, Ludwig 2 4 0
134, 157, 159, 163, 179, 180,
Zilahi, Ladislaus 120, 121, 122,
181, 182, 183, 184, 185, 193,
123
198, 2 0 7 , 2 0 8 , 2 1 0 , 2 1 1 , 2 1 2 ,
Zilahi-Beke, Agnes 81
213,226
Zulliger, Hans 179
Weyl, Hermann 81
284
Wenn Sie weiterlesen möchten. Alfred Adler
Über den nervösen Charakter Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie Hrsg. von Almuth Bruder-Bezzel, Rolf Kühn und Karl Heinz Witte unter Mitarbeit von Michael Hubenstorf. Die kommentierte textkritische Ausgabe des grundlegenden Werkes von Alfred Adler „Über den nervösen Charakter" stellt als fortlaufenden Text die Originalfassung von 1912 vor. Damit wird der Stand der Theorie Adlers nach seiner Trennung von Freud zugänglich, wie er sie innerhalb des Kreises um Freud und zugleich gegen Freud entwickelt hatte. Der Variantenapparat dokumentiert alle Veränderungen der Neuauflagen von 1919,1922 und 1928. Man kann so diese Ausgabe wie einen Werkstattbericht aus Adlers Arbeit an seiner Theorieentwicklung lesen. Die philosophie-, psychologie- und medizinhistorischen Verflechtungen werden im Kommentarteil durch die biographischen und sachlichen Erläuterungen zu zahlreichen von Adler genannten oder zitierten Autoren und Fachbegriffen deutlich. Dadurch kann diese Ausgabe als Handwerkszeug für die Erforschung eines Astes dienen, der am Ursprung zahlreicher Psychotherapiekonzepte steht, mit noch heute wirksamen psychosomatisch, psychoanalytisch oder sozialpädagogisch orientierten Verzweigungen.
Alice B e r n h a r d - H e g g l i n
Die therapeutische Begegnung Verinnerlichung von Ich und Du In jeder menschlichen Begegnung nehmen wir den anderen, unser Gegenüber, in einer bestimmten seelisch-geistigen Weise in uns auf, wir verinnerlichen ihn. Alice Bernhard-Hegglin untersucht diesen dialogischen Vorgang in der Psychotherapie. Auch in der therapeutischen Begegnung verinnerlichen sich Patient und Therapeut gegenseitig, so daß ein neues inneres Du entsteht. Diese Wirklichkeit bildet, wenn sie entdeckt wird, eine unerschöpfliche Ressource für den therapeutischen Prozeß. Bewegende Falldarstellungen zeigen anschaulich, wie das innere Du im therapeutischen Geschehen wirkt. Es erlaubt dem darauf ausgerichteten und sensibilisierten Therapeuten mit einer neuen Form tiefenpsychologischer Kurztherapie zu arbeiten. Das Modell läßt sich in allen tiefenpsychologischen Richtungen anwenden, es ist ein integrierendes Konzept. Die Auseinandersetzung damit kann für jeden psychotherapeutisch Tätigen inspirierend sein.
Rudolf Ekstein und die Psychoanalyse Schriften. Herausgegeben von Jörg Wiesse Rudolf Ekstein gehört zu den letzten Psychoanalytikern der alten Wiener Schule, und er ist ein amerikanischer Psychotherapeut. Er hat enorm viel publiziert, zu Psychoanalyse und Philosophie, zu den psychischen Krankheitsbildern im Kinder- und Jugendalter, zur psychoanalytischen Pädagogik, kulturkritischen Schriften. Gerade bei den jüngeren Psychoanalytikern und Pädagogen ist er fast zu einer Legende geworden. Und wie es Legenden eigen ist, weiß man wenig über ihn, seine Arbeiten sind versprengt; es wird sich auf seine Ideen berufen, und man kann sie nicht nachlesen. Das Buch zeichnet eine dynamische Entwicklung nach und eine große Beharrlichkeit: die eines guten Lehrers, dem nicht so sehr die endgültigen Antworten am Herzen liegen, sondern die richtig gestellten Fragen.
Ronald Wiegand
Individualität und Verantwortung Sozialpsychologische Betrachtungen Die Moderne ist nach dem Zusammenbruch der großen Menschheitslösungen zu einer dauerhaften Zumutung geworden. In der Reaktion darauf verwirren sich die Ideologeme, die Sehnsüchte, die Gegnerschaften. Links im ehemaligen politischen Spektrum, wo Emanzipation, Gleichheit, Solidarität die wichtigsten Orientierungen waren, erwachsen Bedürfnisse nach Heimat, Geborgenheit in ganzheitlichem Zusammenhang, Gemeinschaft. Auf der Rechten, ohnehin mit antimodernen, antiliberalen, antibürgerlichen Ressentiments vertraut, wächst die Gegnerschaft gegen eine globalisierte kapitalistische Wirtschaftsordnung. Uneigennutz des einzelnen und Kampf gegen ein alles organisierendes Profitinteresse werden ideologische Grundpfeiler. Ronald Wiegand analysiert diese Entwicklungen als Soziologe und Individualpsychologe. Er erörtert die menschlichen Bedürfnisse, die Defizite und Ängste, aus denen sie erwachsen, und die aktuellen Fragen zur Gestaltung des Alltags, in der politischen Entscheidung und für eine gesellschaftlich verantwortliche, aufgeklärte Psychotherapie.
Berthold Rothschild (Hg.)
Selbstmystifizierung der Psychoanalyse Grundlegendes Ziel der Psychoanalyse ist es von Anfang an, die menschlichen Verhältnisse bis in ihre tiefsten Tiefen zu demystifizieren. Das hat sie nicht davor bewahrt, selbst Gegenstand von mannigfaltigen Mystifikationen zu werden. Zunächst haben die Zeitgenossen von außen die wunderlichsten Trugbilder in die Psychoanalyse (projektiv) hineingeheimnist. Aber bald haben Vertreter des Fachs diesen Part auch gern selbst übernommen. In der Formulierung ihrer Theorie, durch die Riten ihrer Weiterbildung und Praxis und im Nimbus ihrer „Aufklärer" umgibt die Psychoanalyse eine selbstgeschaffene Aura, die sie stellenweise in die Nähe der Magie zu rücken droht.
Psychoanalytische Sichtweisen
Till Bastian
Der Blick, die Scham, das Gefühl Eine Anthropologie des Verkannten Sammlung Vandenhoeck. 1998. 155 Seiten, Paperback ISBN 3-525-01440-6
Wilhelm Burian (Hg.)
Die Zukunft der Psychoanalyse Psychoanalytische Blätter, Band 3. 1995. 157 Seiten mit einigen Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-46002-3
Annelise Heigl-Evers / Peter Günther (Hg.)
Blick und Widerblick
Gegensätzliche Auffassungen von der Psychoanalyse 1994. 180 Seiten mit 1 Abbildung und 13 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-45308-6
Sexualberatungsstelle Salzburg (Hg.)
Trieb, Hemmung, Begehren
Psychoanalyse und Sexualität 1998. 158 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-45826-6
Wolfgang Tress / Claudia Sies (Hg.)
Subjektivität in der Psychoanalyse 1995. 228 Seiten mit 1 Abbildung,i, kartoniert. ISBN 3-525-45784-7
Dieter Wyss
Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart Entwicklung - Probleme - Krisen 6. erg. Auflage 1991. XXXII,568 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-45731-6
Peter Kutter / Raúl Páramo-Ortega / Thomas Müller (Hg.)
Weltanschauung und Menschenbild Einflüsse auf die psychoanalytische Praxis 1998. 288 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-45806-1
V&R
Vandenhoeck Ruprecht