Geschichte der gotischen Literatur

An einer auf wissenschaftlicher Grundlage ruhenden, ausführlicheren und lesbaren Geschichte der gotischen Literatur hat

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Table of contents :
Überblick über die Geschichte der Goten 9
Die gotische Literatur
A. Weltliche Literatur 23
B. Geistliche Literatur 27
I. Wulfila
a) Quellen über ihn
1. Arianische
a) Auxentius 27
ß) Philostorgios 34
2. Athanasianische [Orthodoxe]
a) Sokrates 37
ß) Sozomenos 40
γ) Theodoret 45
δ) Jordanes 47
ε) Isidor von Sevilla 47
ζ) Walahfrid Strabo 48
b) Sein Leben und seine Lehre
1. Sein Leben 49
2. Seine Lehre 54
c) Die gotische Bibel
1. Überlieferung 56
2. Vorlage 60
3. Stil 65
II. Die Skeireins
a) Überlieferung 69
b) Entstehung und Verfasser 70
c) Übersetzung 72
Unliterarische Sprachreste 81
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Geschichte der gotischen Literatur

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DÜMMLERS PHILOLOGISCHE HILFSBÜCHER

Geschichte der gotischen Literatur von

D r. R u d o l f P l a t e Stadienrat am Städt. Gymnasium und Realgymnasium zu Danzig

FERD. D Ü w MLERS V E R L A G · BERLIN U N D B O N N · 1931

Meinen Lehrern

RUDOLF MEISSNER GEORG BAESECKE in dankbarer Erinnerung

V on d e m s e l b e n V e r f a s s e r :

E tym ologisches W örterb u ch der f r a n z ö s i s c h e n S p r a c h e 1931. G r.-8°. 285 S. Geb» RM. 9-75 (F. DümmlersVerlag · Berlin u. Bonn)

VORWORT A n einer auf wissenschaftlicher Grundlage ruhenden, ausführlicheren und lesbaren Geschichte der gotischen Literatur hat es bisher gefehlt. Diese Lücke hofft unser Büchlein auszufüllen. Es möchte dem angehenden G er­ manisten die W ege erleichtern und dem im Amte stehenden Deutschlehrer namentlich für den Unterricht in Obersekunda das nötige Material bieten. Es wendet sich aber auch an jeden Leser, welcher der Geschichte und Literatur des Gotenvolkes Teilnahme entgegen­ bringt. M öge es seinen Zweck erfüllen! Danzig, Frühjahr 1931 D R . R U D O L F PLATE

IN H A L T Seite

Überblick über die Geschichte der G o te n .................

9

D ie gotische Literatur A. Weltlidie L ite ra tu r................................................................... 23 B. Geistliche L iteratur.............................................................. 27 I.

Wulfiia a) Quellen über ihn

1 . Arianisdie a) A u x e n tiu s ............................................................2J ß) P hilostorgios............................................................... 34

2. Athanasianisdie [Orthodoxe] a) ß) γ) δ) ε) ζ)

S o k r a te s...................................................................... 37 S ozom en os.................................................................. 40 T h e o d o r e t .................................................................. 45 J ord a n e s...................................................................... 47 Isidor von S e v illa .......................................................47 Walahfrid S tr a b o .......................................................48

b) Sein Leben und seine [.ehre 1 . Sein L e b e n .......................................................................49 2 . Seine L e h r e .......................................................................54 c) Die gotisdie Bibel 1 . Ü berlieferu n g............................................................... '5 6 2. V orla g e .............................................................................. 6o 3 . S t i l ......................................................................................65 II. Die Skeireins a) Ü berlieferung...................................................................... 69 b) Entstehung und Verfasser ............................................... 70 c ) Ü b e r s e t z u n g ...................................................................... 72

Unliterarische S prachreste...............................................Hi

Ü BERBLICK ÜBER D IE G E S C H IC H T E D E R G O T E N Die Heimat der Goten1 ist in Skandinavien, d. h. in Schweden und auf den dänischen Inseln zu suchen. In dem Namen der Insel Gotland und ihrer alten Bewohner, aisl. Gotar, besitzen wir hierfür noch ein sicheres Zeugnis. An die Goten erinnert vielleicht auch der Volksstamm der Gauten2, der «von der Mündung des Gautelfr [Göta 1 So — und nicht Gothen — ist auf Grund der germ. Überlieferung [aisl* Gotar, aengl. Gotan] zu schreiben; das gelegentliche th der römischen und griechischen Überlieferung ist als irrtümlich zu betrachten. Etymologisch hängt der Name wohl mit germ. *geutan ‘gießen’ , dann im Sinne von ‘ emittere semen* zusammen, woraus sich die Bedeutung ‘ männ­ liches Wesen* [Tier oder Mensch] entwickelte. Nhd. Gaul [in der Bed. 'Pferd* seit dem 15. Jhd.] < mhd. gül ‘ Eber*, dann ‘ männliches Tier* überhaupt, geht auf eine einfachere Form derselben Wurzel zurück, wie sie in griech. χέω 'ich gieße’ , χύμα 'Ergossene*, ‘ Guß’ vorliegt [Sommer: Idg. Forsch. 31, p. 362]. Als — in ihrer Beziehung noch nicht völlig geklärte — Parallelen zum Goten­ namen führt man an: aisl. gotnar ‘Männer, Helden*, aisl. gautar 'Männer*, norw. gut 'junger Mann*, schwed. gösse [< *gotse] ‘junger Mann*; aisl. goti 'R oß, Hengst’ und Goti, Name von König Gunnars Roß. In diesem aisl. goti 'Roß* scheint die Erklärung für die von Jordanes [V, 38] zurückgewiesene Behauptung zu liegen, wonach die Goten um ein Pferd aus der Gefangenschaft losgekauft wurden. Über die verschiedenen Deutungen des Gotennamens vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Goten. 2 Sie erscheinen als: Γουται [für Γαυται verschrieben] bei Ptolemaios [2. Jhd. n. Chr.], Γαυτοί bei Prokop [6. Jhd.; Gotenkrieg II, 15], Gauthigoth bei Jor­ danes [6. Jhd.; Gotengeschichte III, 22]; anord. Gautar, aengl. Géatas, Wedergeatas [Wederas], Güö-geatas, Sœ-géatas [Beowulf!]. Die beiden Namen Gauten und Goten stehen im Ablautverhältnis zueinander und sind insofern lautlich durchaus verschieden; daher aisl. Gautar, aengl. Geatae 'Bewohner von Götaland* und aisl. Gotar ‘ Bewohner von Gotland*, aengl. Gotan. Wenn in lat. Quellen schlechtweg Gothi mit o erscheint, so beruht das einmal auf dem geschichtlichen Übergewicht der Goten, sodann auf dem Einfluß des Nieder­ deutschen, wo germ. au stets zu δ kontrahiert wurde. Vor Dental und h fand diese Kontraktion auch im Ahd. statt; daher nhd. Ost-, Westgotland, Goten­ burg, während das Schwed. öster-, Västergötland, Göteborg und Gotland [den Namen der Insel] scharf getrennt hält.

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Überblick über die Geschichte der Goten

älv] im Westen südlich vom Vänersee und auch noch östlich vom Vättersee bis zur Ostsee seine Sitze hatte».8 Ob abgesehen von solcher Namensübereinstimmung [Gotland] oder -ähnlichkeit [Gauten] sich aus der Sprache Beziehungen der Goten zu Skandinavien ergeben, bleibt ungewiß. Man hat aus mancher Übereinstimmung des Gotischen mit dem Nordischen auf sprach­ liche Gemeinschaft und damit auf nordische Herkunft der Goten schließen wollen. «Die neuere Sprachwissenschaft fügt Gotisch und Nordisch gern zusammen zu einer ostgerm. Gruppe, die der westgerm. Gruppe [Anglofriesisch und Deutsch] gegenübergestellt wird. Für eine ostgerm. Sprachgruppe können aber nur ganz unerhebliche und keinerlei durchschlagende Gemeinsamkeiten in Anschlag gebracht werden, so daß es auch Forscher gibt, die sie leugnen und das Nor­ dische gegenüber dem Gotischen selbständig hinstellen.»*4 Inwiefern archäologische Funde5 und rechtsgeschichtliche Grün­ 9 Vgl. R. Much in Hoops’ Reallex. s. v. Gauten. — Der Vättersee teilte das Gebiet der Gauten in Vestra- und Eystra-Gautland, jetzt Vaster- und Östergötland. 4 Vgl. F. Kluge in Hoops* Reallex. s. v. Germ. Sprachen §27. Die Ansicht von der Dreiteilung der germ. Sprachen stammt von A. Schleicher: Die deutsche Sprache. Stuttgart 1860, 51888, p. 91 ff., die von der Zweiteilung von K. Müllenhoff bei W. Scherer: Zur Geschichte der deutschen Sprache. Berlin 1868, *1896, p. 97 ff., von A. Holtzmann: Altdeutsche Grammatik VI und ausführlich von H. Zimmer: Zs. f. d. A. 19, p. 393ff. vertreten. 5 Es ist hier namentlich auf die Forschungen von Gustaf Kossinna hinzuweisen, deren Ergebnisse allerdings bisher schwankend und wenig gesichert sind. Er be­ trachtet u. a. die Körperbestattung, die seit Beginn der römischen Kaiserzeit [sie rechnet ca. 1— 400 n. Clir.] bei den nördlichen Ostgermanen [in Skandinavien wie in Nordostdeutschland] neben der herkömmlichen, auf Leichenverbrennung deutenden Urnen- und Brandgrubenbestattung stärker hervortritt, als eine besondere Eigentümlichkeit des gotischen Kulturkreises. Es lasse diese skandinavisch-nordostdeutsche Übereinstimmung auf Stammesverwandtschaft der Bewohner Südschwedens und der benachbarten Inseln mit denjenigen Nord­ ostdeutschlands schließen und sich am besten aus der gleichen gotischen Be­ völkerung erklären [Zs. f. Ethnologie 37 (1905), p. 387 ff. sowie in späteren Schriften]. Einzuräumen ist zunächst jedoch nur das etwa seit dem 1. Jhd. n. Chr. zunehmende Erscheinen von Körpergräbern neben Urnen und Brand­ gruben in den genannten Gegenden, sowie der Umstand, daß von den westlichen Nachbarn der Goten, den etwa von Weichsel bis Persante die Küste bewohnen­ den Rugiern und den sich westlich daran schließenden, über Bornholm [d. i. Burgundarholmr 'Burgunderinsel*] eingewanderten Burgunden, namentlich die letzteren noch während der römischen Kaiserzeit die — durch besonders viele Brandgruben bezeugte — Leichenverbrennung bevorzugt zu haben scheinen. Ob aber bei der Undurchsichtigkeit der ganzen Verhältnisse diese Beobachtung ausreicht, um die Körperbestattung gerade den Goten zuzuweisen und damit

Überblick über die Geschichte der Goten

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de6 die nordische Herkunit der Goten erweisen können, muß erst genauer untersucht werden. Besonders wichtig erscheint für die Lösung dieses von den ver­ schiedensten Seiten gleichartig belichteten Problems der sagenhaft ausgeschmückte Bericht, den der gotische Geschichtsschreiber Jor­ danes7 offenbar auf Grund alter Stammesüberlieferung seinem Freunde Castalius von dem Zug seines Volkes aus Skandinavien bis zu den Gestaden des Schwarzen Meeres gibt : «Es hat auch dieses ungeheuere Meer [der die Erde umgebende Ozean] in seinem arktischen, das heißt in seinem nördlichen Teile, ihren Zusammenhang mit dem Norden zu erhärten, darf zum mindesten zweifel­ haft bleiben. Wert hat diese Vermutung nur, sofern sie andere Anzeichen stützt, die nach der gleichen Richtung deuten. — Im Sinne Kossinnas die Darstellung bei W. La Baume: Vorgeschichte von Westpreußen. Danzig 1920, p. 70, 82ff. Vgl. auch die auf diese Gotenfrage nicht eingehenden Darlegungen von H. Seger in Hoops* Reallex. s. v. Brandgruben, Totenbestattung, Urnengräber usw. Ferner: F. Kauffmann: Zs. f. d. Phil. 40 (1908), p. 460ff., Deutsche Altertums­ kunde I (1913), p. 132f f .; L. Schmidt: Gesch. d. dtsch. Stämme. I. Abt., p. 326; O. Schräder: Reallex. d. idg. Altertumsk.2 Halle 1917ff. u. a. 6 Namentlich J. Ficker [Untersuch, zur Rechtsgesch., 4 Bde., Innsbruck 1891 ff.] suchte aus den Rechtsverhältnissen die von vielen Sprachforschern ver­ tretene Ansicht zu stützen, daß die germ. Völkerwelt sich in zwei Ilauptgruppen gliedere, Westgermanen und Ostgermanen, zu deren letzteren außer der alt­ nordischen Gruppe die Goten, Burgunder, Warnen, Friesen und Langobarden gehörten. Was von den archäologischen Folgerungen gilt, gilt auch von diesen rechtsgeschichtlichcn: eigene Schlagkraft besitzen sie nicht, wohl aber sind sie im Zusammenhang mit anderen Erscheinungen sehr beachtenswert. Über­ einstimmung der Rechtsbräuche braucht an sich nicht unbedingt auf ererbtes Urrecht und damit auf völkische Einheit zurückzudeuten, sondern könnte sich auch aus Entlehnung oder paralleler Entwicklung erklären. Allerdings spricht die Festigkeit, mit der rechtliche Bräuche im Leben der Germanen verankert zu sein pflegen, im allgemeinen mehr für die erste Ansicht. Vgl. L. Schmidt: Gesch. d. dtsch. Stämme I. Abt. p. 24; v. Amira: Recht8 p. lO ff.; Brunner: DRG I 2 p. 9 ff., 150ff., 412ff., 465f f .; v. Schwerin: D R G 2 p. 2ff., ders. in Hoops’ Reallex. s. v. Recht usw., Schröder: D R G 5, Zöpfl: DRG u. a. 7 Ostgote aus Mösien, urspr. Notar eines Alanenfürsten, war oströmischer Untertan und lebte späterhin vielleicht in Thessalonich. Im Jahre 551 hat er auf Antrieb wißbegieriger Freunde zwei Geschichtswerke geschrieben; zunächst für Castalius die Gotengeschichte: De origine actibusque Getarum, dann für Vigilius, einen weltlichen Würdenträger des Reiches, seine Chronik: De summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum. Beides sind z. T. recht ungeschickte Kompilationen aus Werken anderer Geschichtsschreiber. Nur wras er selbst mit­ erlebt hat, ist wertvoll. Seine Gotengeschichte ist stark abhängig von derjenigen Cassiodors. Sie steht tief unter der gleichzeitigen Gotengeschichte des Prokop. Aber sie ist z. T. doch recht lebendig und oft als einzige Quelle von hohem Werte. Vgl. K. Hampe in Hoops* Reallex. s. v. Jordanes.

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Oberblick über die Geschichte der Goten

eine umfangreiche Insel, namens Scandza8, worüber unsere Erzäh­ lung mit Gottes Hilfe anheben soll. Denn das Volk, nach dessen Ursprung du fragst, kam, wie ein Bienenschwarm aus dem Schoß dieser Insel hervorbrechend, nach Europa. Wie aber und unter welchen Umständen, das werden wir im folgenden, wenn der Herr es gibt, erzählen.» [I, 9.] «Von dieser Insel Scandza [die V or der Mündung der Vistula* liege] also sollen einst wie aus einer Werkstatt der Völker oder einer Mutter der Nationen die Goten mit ihrem König Berig ausgefahren sein9. Sobald sie ihre Schiffe verließen und ans Land stiegen, gaben sie diesem sogleich ihren Namen. Denn noch heute heißt, wie man erzählt, dort ein Land Gothiscandza10. Von da rückten sie bald vor 8 Die Bezeichnung *Insel* deutet darauf, daß nur die Südküste umfahren, der nördliche Zusammenhang mit dem Festland noch unbekannt war. Auch in dem zweiten Bestandteil des heutigen Namens Skandinavien steckt germ. *awl'Insel*; was der erste bedeutet, ist unsicher, jedenfalls ist die n-loseJForm des Wortes, Scadinavia [germ. *Skadinawi], die ursprüngliche und richtige, vgl. aengl. Scedenig, Beowulf 1687, Scedeland [< *Scedelland < *Scedenland], Beow. 19. In dem Scandza des Jordanes [Scandia bei Plinius, Σκανδια bei Ptolemaios] «haben wir es mit einer andern Namensform von ursprünglich wohl adjektivi­ schem Charakter, germ. Skaönl [ = got. Skadni, pl. Skadnjös] zu tun». Vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Scadinavia. 9 Aus dieser Angabe des Jordanes geht hervor, daß als nordische Heimat der Goten nicht nur, wie man zuerst meinte, die Insel Gotland, sondern auch Skan­ dinavien selbst in Betracht kommt. Archäologische Beobachtungen weisen eben­ falls neben Gotland auf die Nachbarinsel Öland und namentlich auf Südost­ schweden hin. Vgl. La Baume: a. a. O. p. 85 und die dort angeführte Literatur. 10 Wie diese Bezeichnung des von den Goten besetzten und nach ihnen be­ nannten Küstenstriches sprachlich zu deuten ist, bleibt ungewiß. Kossinna [Idg. Forsch. 7, p. 285 ff.] sieht darin eine Verderbnis aus Codaniska und stellt es so zu Danzig, Gdansk, das er — wie nach ihm Much [Anz. f. dtsch. Alt. 27, p. 116f.; Hoops* Reallex. s. v. Codanus sinus] — auf *Kudan-isku zurückführt und an den Namen des von dem römischen Geographen Pomponius Mela [ca. 43 n. Chr.] mitgeteilten sinus Codanus anknüpft. Über die Bedeutung des Wortes Codanus gehen die Ansichten dieser beiden Forscher auseinander. Nach Kossinna ist es ein germ. Name des Meeres nördlich und südlich der dänischen Inseln gewesen; nach Much soll damit «die ganze Ostsee und nicht nur das Meer nördlich und süd­ lich der dänischen Inseln» bezeichnet sein. Im Gegensatz zu Kossinna hält Much den Namen *Kudan-isku, Gdansk, nicht für eine germ. Wortprägung, sondern — unter Hinweis auf russische Ortsnamen wie Dwinsk, Obsk, Jeniseisk u. a. — für eine slavische Bildung. «Als die Slaven an die Ostsee kamen, lernten sie dort den germ. Namen für diese kennen und benannten passend gerade den ersten Ort am Meere, den sie an der Westseite der Preußen besaßen, *Kudan-isku 'die Ostseestadt*.» Ist aber — wie wahrscheinlich — *Kudan-isku in diesem Sinne cu erklären, so hat Much recht, daß Danzig mit dem Gothiscandza des Jordanes

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ins Land der Ulmerugier*11, die damals an den Meeresküsten saßen, zogen gegen sie zu Felde, lieferten ihnen eine Schlacht und vertrieben sie aus ihrer Heimat. Ihre Nachbarn, die Vandalen, unterwarfen sie schon damals und machten sie sich durch ihre Siege untertan. Als nun die Zahl des Volkes immer mehr zunahm und ungefähr der fünfte König nach Berig herrschte, nämlich Filimer, der Sohn des Gadarich, faßte dieser den Entschluß, in bewaffnetem Zug mit W eib und Kind auszuwandern. Als er nach geeigneten Wohnsitzen und passenden Örtern suchte, kam er in die Lande von Scythien, die in ihrer Sprache Oium12 heißen. Die fruchtbaren Gegenden gefielen dem Heer. Da nichts zu tun hat, da dieses nicht eine Ortschaft, sondern einen ganzen Küsten­ strich bezeichnet [X V II. 94: ad ripam Oceani citerioris id est Gothiscandza]. Er stimmt daher [Anz. f. dtsch. Alt. 27, p. 117; Hoops* Reallex. s. v. Gothiscandza] v. Grienberger zu, der Gothiscandza als 'gotische Küste* versteht. Besser als v. Grienberger, der zunächst [Zs. f. dtsch. Alt. 39, p. 173 Anm.] ein starkes Femininum *Gutisk-andi ansetzte, dann [Untersuch, zur got. Wortkunde: Wiener Sitz.-Ber. 142, 8, p. 102] die Ansicht aussprach, daß die Form bei Jor­ danes unmittelbar einen gotischen lokativisch gebrauchten Dat. Sg. *Gutiskandja, zu einem Nom. *Gutisk-andeis, allenfalls auch Neutr. *Gutisk-andi,‘ wiedergebe, glaubt Much in Gothiscandza ein schwaches Mask. *Gutisk-andja zu sehen, dessen zweiter Bestandteil sich völlig mit altnord, endi [neben endir = got. andeis] decke, und verweist für die Bedeutung auf den Namen des frie­ sischen Gaues Nordendi und des langobardischen Grenz- oder Ufergaues Ant-aib. Immerhin erscheint die von beiden Gelehrten vorgenommene Gliederung des Kompositums sehr zweifelhaft. Die schon von W . Bessell [Ersch u. Grubers Enzyklopädie I. Sekt. Bd. 75, p. 148] und dann von A. Kock [Historik Tidskrift 1905, p. 19] vertretene Ansicht, daß das Wort als Gothisc-Scandza 'GotischScandza’ zu deuten sei, hat doch viel für sich; die gelandeten Goten übertrugen den Namen ihrer Heimat [Scandza] auf den von ihnen besiedelten Küstenstrich, eine gewiß natürliche Erscheinung. Soeben deutet auch G. Neckel [Zs. f. Deutsch­ kunde 1931, Heft 3, p. 154— 164] Gothiscandza mit Axel Kock als GutiskSkandia 'gotisch Skandia', versteht darunter aber die Insel Gotland. 11 Der von Jordanes lat. als Ulmerugi wiedergegebene germ. Name bedeutet, wie Kaspar Zeuß zuerst erkannt hat, 'Insel-Rugier* und würde im Munde der Goten etwa *Hulmarugeis gelautet haben. Die Rugier waren, wie wir aus obigem Berichte sehen, schon vor den Goten an der südlichen [deutschen] Ostseeküste ansässig, wohin sie, wie jene, aus nördlicheren Gegenden gekommen waren. Mit ihnen identisch sind die Rygir [im Rogaland; am Boknfjord] im südwestlichen Norwegen, für die auch die Bezeichnung Holmrygir 'Insel-Rugier* belegt ist. Geradezu unsere Ulmerugi dürften mit den *Holmryge des aengl. Gedichtes Wids5> [überliefert ist dort V. 21 der verderbte Dativ Holmrycum] gemeint sein. Vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Rugier; R. Jordan: ibd. s. v. Widsith. 12 D. i. 'Wasserland* [ = got. *aujom, Dat. Plur.]. Mit dieser fruchtbaren Land­ schaft wird kaum die heutige Poljesje am Oberlauf des Pripet, sondern eher die Schwarzerde [Tschernosjom] gemeint sein. Vgl. M. Ebert: Südrußland im Alter­ tum. Bonn-Leipzig 1921, p. 359.

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Überblick über die Geschichte der Goten

brach jedoch, nachdem schon die Hälfte die Brücke überschritten hatte, die über den Fluß führte, diese zusammen, und man konnte sie nicht wiederherstellen: so konnte niemand mehr hinüber oder herüber. Denn jene Gegend ist, wie erzählt wird, von einem Abgrund mit un­ sicherem Moor umgeben, und die Natur hat sie so auf doppelte Art unwegsam gemacht. Noch bis auf den heutigen Tag aber lassen sich dort Stimmen von Herden vernehmen, und man hat Anzeichen von dem Vorhandensein von Menschen entdeckt, wie man nach dem Zeugnis der Wanderer, die es zwar nur aus der Ferne vernommen haben, glauben darf. Der Teil der Goten also, der unter Filimer über den Fluß setzte und nach Oiuni kam, bemächtigte sich des ersehnten Bodens. Gleich darauf kamen sie zu dem Volk der Spaler13, lieferten ihnen eine Schlacht und gewannen den Sieg. Im Siegeslauf gelangten sie dann bis an den entferntesten Teil Scythiens, der an den Pontus grenzt, wie das in ihren alten Heldenliedern14 insgemein fast nach der Art eines Geschichtsbuches erzählt wird.» [IV, 26—28.] «Wenn du aber erfahren willst, wie Geten15 und Gepiden stammesverwandt sind, so will ich es kurz berichten. Du mußt dich erinnern, daß ich schon am Anfang erzählt habe, die Goten seien mit ihrem König Berig aus dem Schoß der Insel Scandza aufgebrochen und auf nur drei Schiffen16 zum diesseitigen Ufer des Ozeans, das heißt nach Gothiscandza, gekommen. Von diesen drei Schiffen soll eines, weil es, wie es ja oft vorkommt, später ankam, dem Volk den Namen gegeben haben. Denn in ihrer Sprache heißt träge gepanta. Daher kam es, daß sie allmählich und in verderbter Form von diesem Schelt­ wort den Namen Gepiden17 erhielten. Denn unzweifelhaft leiten auch 18 R. Muchinlioops* Reallex.s. v. Goten vergleicht altslowenisehspolinü*Riese*. 14 Davon ist uns nichts erhalten. 15 Für die nicht-gepidischen Gothi gebraucht Jordanes den Namen Getae, der noch der Erklärung bedarf. Geten heißen sonst die Bewohner Dakiens, zu denen ja nach ihrer Wanderung vom Schwarzen Meer auch die Goten gehörten [vgl. Philostorgios]. J. Grimm hielt Geten und Goten für identisch. 14 Mit diesen drei Schiffen soll wohl die [spätere?] Dreiteilung des Volkes in Ostgoten, Westgoten und Gepiden angedeutet werden. Vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Ostgoten. L. Schmidt a. a. O. p. 51. 17 Der Name der Gepiden, die nach obigem Bericht gotischer Abkunft und bald nach ihrer Niederlassung im Weichseldelta zu einer selbständigen Gruppe zu­ sammengeschlossen waren, ist in doppelter Gestalt belegt. In westgerm. Quellen erscheint eine Form mit b [aengl. f], die auf urgerm. b> b zurückweist [Gibedi, Gebe di, Gibidi, Gebeti, Gibites, Gebidi; aengl. Dat. Plur.: Gefðum, Widsíþ V. 60, Gifðum, Beowulf V. 2495]. In Zeugnissen dagegen, die auf got. Über­ lieferung beruhen, erscheint die Form mit p [Gepidae, Gepedae, Gipedae, Ge-

Oberblick über die Geschichte der Goten

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sie aus der Goten Geschlecht ihren Ursprung her. W eil aber, wie gesagt, gepanta etwas Träges und Langsames bedeutet, so entstand als ein willkommenes Schimpfwort daraus der Name Gepiden, der auch nicht ganz unpassend sein dürfte. Denn sie sind trägen Geistes und schwerfällig in bezug auf Körperbewegung.» Die Gepiden ließen sich nach ihrer Landung auf einer «Insel» nieder, «die rings von den Untiefen der Viscla umgeben ist», und «die sie in ihrer Sprache Gepidöios18 nannten». [X V II, 94—96.] Die Stelle der Ostseeküste, wo die Goten landeten und von wo aus sie die Inselrugier vertrieben, darf in der Gegend der Weichselmündung gesucht werden19. Die Zeit dieser Einwanderung dürfte — namentlich aus archäologischen Gründen — um Christi Geburt anzusetzen sein20. Die allmähliche Ausbreitung der Goten an der unteren Weichsel läßt sich aus literarischen Zeugnissen wie archäologischen Funden ziemlich deutlich erkennen. Die Angabe der wohl 98 n. Chr. erschie­ nenen Germania des Tacitus [Kap. 44]: Trans Lugios Gothones regnantur 'Über die Lugier hinaus [d. h. nördlich] befinden sich die Goten, die [von Königen] regiert werden* deutet auf jene Gegend, und etwa sechs Jahrzehnte später setzt der Geograph Ptolemaios pides], die nach Jordanes die geistige und körperliche Schwerfälligkeit dieses Volksteils bezeichnet und lautlich wie begrifflich durchaus zu lat. hébés, -etie ‘ stumpf’ , ‘ träge’ , ‘ schwerfällig* paßt. Das lautliche Verhältnis der b- und pFormen ist noch unklar. Die alte Heimat der Gepiden in Südschweden oder auf den dänischen Inseln läßt sich vielleicht noch in der Zusammenstellung mit Dänen und Schw eden erkennen, die sich Beow. V. 2495f. findet [to Gifðum oððe tö Gar-Denum oððe in Swio-rice ‘ bei den Gepiden oder bei den Speerdänen oder im Schwedenreich’ ]. Vgl. R. Much in Hoops’ Reallex. s. v. Gepiden. 18 D. i. Gipidaujös ‘ Gepideninseln’ . Auffällig ist, daß erst von einer, dann von mehreren Inseln die Rede ist. Vielleicht erklärt sich die Bezeichnung ‘ Inseln* aus der Gliederung durch die von Jordanes an anderer Stelle [V, 36] überlieferten drei Mündungsarme der Weichsel: «An der Küste des Ozeans aber, wo sich in diesen die Vistula mit drei Mündungen ergießt, sitzen die Yidivarier, die sich aus verschiedenen Stämmen zusammengeschart haben.» Vgl. P. Sonntag: Geo­ logie von Westpreußen. Berlin 1919, p. 237ff. Ders.: Über einige Fragen aus der Entwicklungsgeschichte des Weichseldeltas. Mitt. des westpreuß. Geschichts­ vereins 19, 1920, Nr. 2. 19 Die Rugier erstreckten sich also urspr. weiter nach Osten, eben über das Weichseldelta, als später, wo sie die westlichen Nachbarn der Goten waren, denen sie hatten weichen müssen. An sie erinnert noch die Insel Rügen. Der Name gehört vielleicht zu germ. *rugi — ‘ Roggen* und bedeutet ‘ Roggenbauer’ oder ‘ Roggen­ esser’ . Vgl. R. Much in Hoops’ Reallex. s. v. Rugier. 20 Vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Goten; G. Kossinna: Zs. d. Vereins f. Volksk. VI, 10; W. La Baume a. a. 0. p. 84.

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Überblick über die Geschichte der Goten

die Goten auf der Ostseite der Weichsel an. Eine Ausdehnung got. Macht auf das westliche Ufer dieses Flusses ergibt sich aus Jordanes* Bericht [X V II, 96f.], daß der kriegerische Gepidenkönig ’ Fastida sein auf dem Weichselwerder bisher friedlich lebendes Volk gegen die Burgunden führte und diese fast bis zur Vernichtung schlug. Da derselbe König sich später auch gegen die seit etwa 150 n. Chr. nach dem Süden abgewanderten got. Stammesbrüder wendet, dürfen wir uns seinen Burgundensieg um die Mitte des 2. Jhds. denken. Was sich aus geschichtlicher Überlieferung über die Goten an der Ostseeküste erschließen läßt, wird durch archäologische Forschungen bestätigt21. Im ganzen liegt die Zeit, da die Goten an der unteren Weichsel saßen, im Dämmer der Geschichte. Es sind nur zwei schwache Licht 21 Kossinnas Ansicht, daß die kaiserzeitlichen [1— 400 n. Chr.] gemischten Gräberfelder aus Urnen- und Körpergräbern ein besonderes Kennzeichen der gotischen Kultur seien, ließe das Wachstum des gotischen Gebietes im Sinne der geschichtlichen Überlieferung verfolgen. «Um 100 n. Chr. macht sich eine Aus­ dehnung der gotischen Kultur der gemischten Gräberfelder [Urnen- und Skelett­ gräber] vom Weichselmündungsgebiet her nach Osten, Süden und Westen be­ merkbar; zu den bisherigen, von der Spatlaténezeit [150— 1 v. Chr.] her fort­ geführten Gräberfeldern treten jetzt neue hinzu [z. B. das große Gräberfeld von Hansdorf, Kreis Elbing], was vielleicht auf neuen Zuzug aus der skandinavischen Heimat hindeutet. Um diese Zeit verschwindet die bis dahin im Kreise Neidenburg [Ostpr.] ansässige Kulturgruppe, die ihrem Charakter nach der lugischvandalischen Stammesgruppe zuzurechnen war, und wird durch die Skelett­ gräberkultur ersetzt; ein Vorgang, in dem nach Blume [Mannusbibliothek 8, p. 156] eine Bestätigung der Nachricht des Jordanes zu sehen ist, wonach die Goten nach Vertreibung der Ulmerugier deren Nachbarn, die Vandalen, unter­ worfen haben. In gleicher Weise wie nach Südosten breitet sich die Skelettgräber­ kultur auch nach Nordosten zu aus und erreicht schließlich die Passarge.» W . La Baume: a. a. O. p. 85 f. Wir haben demnach als got. Gebiet außer dem von Gepiden besetzten Weichseldelta die Gegend zwischen Nogat und Passarge sowie die südlich davon gelegene Landschaft östlich der Weichsel zu betrachten und finden uns damit im Einklang mit dem Kartenbilde des Ptolemaios. Das Übergreifen gotischen Besitzes nach dem linken Weichselufer auf Kosten der Burgunden, wie es aus Jordanes’ Nachricht folgt, wird archäologisch eben­ falls «dadurch bestätigt, daß gegen Ende des zweiten Jahrhunderts die burgundische Brandgrubenkultur im Weichselkniegebiet aufhört und an ihrer Stelle die gotisch-gepidische Skelettgräberkultur erscheint. Die Burgunden wurden durch den Angriff der Gepiden zur Abwanderung veranlaßt, wie wir daraus. schließen können, daß die für ihre Kultur typischen Brandgrubengräber um dieselbe Zeit in der Niederlausitz und im Kreise Niederbarnim, Provinz Branden­ burg, erscheinen und so, wie Kossinna [Zs. f. Ethnol. 1905] nachgewiesen hat, den Weg, den die Burgunden auf ihrer Wanderung nach dem Rhein zu einge­ schlagen haben, erkennen lassen.» La Baume a. a. O. p. 86.

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quellen, die einigen Schimmer in dies Dunkel werfen, und eine von ihnen könnte sich noch als trügerisch erweisen. Im siebenten Buche seiner Γεωγραφικά berichtet der griech. Geo­ graph Strabo [ca. 63 v. bis 19 n. Chr.], daß der Volksstamm der Βούτονες zu jenem von dem Markomannenkönig Marbod geleiteten Völkerbunde gehörte, der das ganze östliche Deutschland umfaßt zu haben scheint. Wenn statt des überlieferten Βούτονες wirklich Γούτονες zu lesen ist, wie gewöhnlich angenommen wird, so wäre dies ein sehr frühes geschichtliches Zeugnis für die Goten auf deut­ schem Boden. Da Strabos Werk wohl schon vor Christi Geburt abgefaßt ist222 , hätten wir damit einen terminus ad quem für die 3 Landung der Goten, die dann im letzten Jahrhundert vor Chr. erfolgt sein müßte. Aber, wie gesagt, im Text steht Butonen, und darin könnte sich auch ein anderer Volksstamm bergen, etwa die am Nord­ rand von Böhmen sitzenden Βατεινοί23, 24 des Ptolemaios oder die von der Oder bis zur Weichsel sich erstreckenden Burgunder24. Dagegen dürfte die Nachricht der zweiten Quelle eher als Zeugnis für denn gegen die Deutung Gutones angeführt werden. Wenn Tacitus in den Annalen [II, 62] erzählt, daß der markomannische Edling Catualda, von Marbod vertrieben, bei den Gotones Zuflucht gefunden und später mit ihrer Hilfe Marbod gestürzt habe, so ist solcher Bei­ stand trotz des mit Marbod bestehenden Bundesverhältnisses wohl denkbar25. Da die Gotones hier neben Marbod genannt werden, liegt es nahe, sie auch im ersten Fall zu vermuten. Übrigens ließe sich aus dieser Angabe des Tacitus ebenfalls ein terminus ad quem für die Ankunft der Goten gewinnen, da Catualda 19 n. Chr. in die Heimat zurückkehrte und Marbod zur Flucht zwang. Über die kulturellen Zustände dieser Weichselgoten werden wir durch Tacitus etwas unterrichtet, der im 44. Kap. seiner Germania hervorhebt, daß die Goten «von Königen schon etwas strenger regiert würden als die übrigen Volksstämme der Germanen, doch noch nicht über die Freiheit hinaus», und daß die Eigentümlichkeit dieses Stammes wie der benachbarten Rugier und Lemovier sei «runde Schilde, kurze Schwerter und ihr Gehorsam gegen die Könige». Inwieweit die Weichselgoten sich in Stämme gliederten, läßt sich nicht sicher sagen. Wahrscheinlich ist, daß die Gepiden schon damals 22 Vgl. P. Meyer: Straboniana. Grimma 1890, p. 14fl\ 23 Vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Βατεινοί. 24 So vermutet L. Schmidt a. a. O. p. 52. 26 Ebenso R. Much a. a. O. s. v. Goten; anders L. Schmidt a. a. 0. p. 52. Plate, Geschichte der gotischen Literatur. 2

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innerhalb der got. Gemeinschaft eine selbständige Stellung behaup­ teten, wie das in ihrer abgeschlossenen Ansiedlung auf dem Weichsel­ werder zum Ausdruck kam. Ob aber die übrigen Goten sich bereits in Ost- und Westgoten teilten, ist umstritten. Wahrscheinlich fand diese Gliederung erst nach der Wanderung der Goten an das Schwarze Meer statt26. Nach der Mitte des 2. Jhds. scheinen die Goten, mit Ausnahme der zurückbleibenden Gepiden27, die Weichselgegend verlassen zu haben28. Man setzt den Beginn ihrer Wanderung so an, weil sie den sog. Markomannenkrieg [166— 180] veranlaßt haben soll29. Der Abzug geschah allmählich und scheint nicht vor Anfang des 3. Jhds. vollendet zu sein. Für das Jahr 214 ist uns der erste Zusammenstoß der Goten 26 So heißt es bei Jordanes [X IV , 82]: «Der Geschichtsschreiber Ablabius nämlich berichtet, daß dort an einem Küstenstrich des Pontus, wo sie, wie er­ wähnt, in Skythien verweilten, ein Teil derer, die im Osten wohnten und deren Fürst Ostrogotha war — es ist unsicher, ob von seinem Namen oder von der östlichen Lage — Ostrogothen genannt worden seien, die übrigen aber Wese­ gothen von der westlichen Lage.» Unter den Ostrogotheae, die Jordanes [III, 23] unter den Bewohnern von Scandza nennt, sind daher die mit den Goten oft verwechselten Gauten zu verstehen, deren Gebiet durch den Vättersee in Vestraund Eystra-Gautland, jetzt Vaster- und Östergötland, geteilt wurde [vgl. Fuß­ note 3], Ebensowenig dürfen die drei Schiffe, welche die Goten über die Ostsee trugen, für das Alter der Dreiteilung herangezogen werden; in jener Angabe liegt nichts als eine Rückversetzung der späteren Zustände in die ferne Vergangenheit. Schließlich wäre zu beachten, daß als Führer der abwandernden nicht-gepidischen Weichselgoten von Jordanes nur Filimer überliefert und so durch die Einheit des Herrschers die Einheit des Stammes nahegelegt wird. 27 Sie kamen später auch in Bewegung, versuchten in Dakien einzudringen, wurden aber von den dort sitzenden Goten in einer großen Schlacht geschlagen. Sie gehören dann zu den Hilfsvölkern des Attila, nehmen an dem Freiheitskampf der Germanen gegen Attilas Söhne teil und gewinnen sich durch diesen Sieg Dakien als Beute. Dort wurde ihr Reich schließlich 567 durch die mit den Avaren verbündeten Langobarden zerstört. Der Rest der Gepiden zog teils mit den Langobarden nach Italien, teils blieb er unter avarischer Herrschaft. Im Jahre 600 stießen die Oströmer bei einem Einfall ins Avarenland jenseits der Theiß auf drei Gepidendörfer; ja noch für die zweite Hälfte des 9. Jhds. sind dort Gepidenreste bezeugt. In der Lombardei deutet der Ortsname Zebedo noch auf eine gepidische Niederlassung. Vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Gepiden. 28 Ptolemaios [2. Jhd. n. Cbr.] ist der letzte Schriftsteller, der die Goten dort kennt. 29 Anders R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Goten: «Daß während des Marko­ mannenkrieges die gegen das röm. Reich vorgehenden Germanenstämme selbst hierzu durch einen Druck seitens der Goten veranlaßt wurden, ist unerweislich und unwahrscheinlich, denn deren Ziel ist ein anderes, östlicheres.»

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mit den Römern30, und zwar an der dakischen Grenze bezeugt31. Damals saßen die Goten also schon am Schwarzen Meer. Ihr Gebiet erstreckte sich von den Grenzen Dakiens bis zu den Ufern des D on8 82*8 1 8 0 . 7 5 4 Hier gliedern sie sich nun sicher in zwei Hauptstämme33, die Austrogothi34 oder Greutungi36 und die Visigothi36 oder Tervingi37. Alsbald beginnen die Einbrüche in römisches Gebiet. Dakien geht den Römern seit 257 verloren, wird 274 auf gegeben, die nördlich der Donau stehenden Legionen werden zurückgezogen. An diesen Kämpfen sind als unmittelbare Nachbarn natürlich vor allem die Westgoten be­ teiligt38. Allmählich dehnten sie ihre Herrschaft über das heutige 80 Vgl. B. Rappaport: Die Einfälle der Goten in das röm. Reich bis auf Constantin. Leipzig 1899. 81 Von ihren Sitzen an der unteren Weichsel machen sich die Goten den Rö­ mern wenig bemerkbar. 82 Nach Ammianus Marcellinus [31, 3] trennt sie der Tanais [Dön] von den Alanen. 33 Bezeugt ist uns diese Teilung zuerst für die Regierungszeit des Kaisers Claudius II. [268— 270]. 84 Dies die ursprüngliche, got. *Austragutans nächststehende Form; sonst noch als Ostrogothi, Ostrogothae überliefert. Es bedeutet 'Ostgoten’ [vgl. aengl. Eastgota, WldsIJ) V. 113]. Vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Ostgoten. 85 Got. *Griutuggös ist von der germ. Wurzel *greut- 'Zerriebenes, Zer­ bröckeltes* abgeleitet, die in ahd. grio3 'Sand*, 'Kies*, mhd. grie3, nhd. Grieß, asächs. griot, aengl. greot 'Sand*, anord. grjöt 'Stein* wiederkehrt und, wie aslaw. gruda 'Erdscholle* zeigt, wohl in idg. Zeit zurückgeht. Die Greutungi hat man darum als die 'Bewohner sandiger Ebenen’ oder — wegen der im Asächs., Fries, und Ahd. auch vorhandenen Bedeutung '(sandiges) Ufer’ als die 'Ufer­ bewohner* gedeutet. Vgl. R. Much in Hoops’ Reallex. s. v. Ostgoten. 88 Daß der Name, der vor dem 6. Jhd. nur als Visi, Vesi, dann als Visi-, Vesigothi, -ae überliefert ist, urspr. etwas mit West zu tun hat, wird bestritten. Nach Streitberg [Eiern. δ»β p. 7] u. a. gehört dies Visi, Vesi zu idg. *vesu [aind. väsu-, illyr. vese-, gall. vesu-, germ. wesu-, wisu-] 'gut*. Aber als Gegenstück zu Austrogothi 'Ostgoten* erwartet man doch Visigothi 'Westgoten*, wie ja schon Jordanes [vgl. Fußnote 26] es so verstanden hat. Daher haben R. Much [Hoops* Reallex. s. v. Westgoten] u. a. mit Recht die alte Deutung wieder aufgenommen. 87 Got. *Tairwiggös gehört wohl zu germ. *terwa-, Nebenform von *trewa'Baum, Holz* [vgl. anord. tyrvi 'Knieholz*, dtsch. zirbe 'Arve*], und bedeutet 'Waldbewohner*. Der Gegensatz Greutungi — Tervingi dürfte demnach [mit K. Zeuß: Die Deutschen und die Nachbarstämme. München 1837, Neudruck Göttingen 1904, p. 407] der russischen Gegenüberstellung der Poljane 'Feld­ bewohner* und Derevljane 'Waldbewohner’ verglichen werden. Beide Namen sind später durch Ostro- und Visigothi verdrängt worden. Vgl. R. Much in Hoops’ Reallex. s. v. Westgoten. 88 Die Raubzüge der Goten über Land und Meer beschränkten sich nicht auf die Balkanhalbinsel. Sie gingen auch nach Kleinasien, wo die Γοτθογραικοι noch

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Bessarabien, die Moldau und große Walachei, sowie das südliche Siebenbürgen aus. Die Donau bildet die Grenze, schützte aber keines­ wegs das oströmische Reich vor häufigen Einfällen der kriegerischen Nachbarn. Als durch den Vorstoß der Hunnen das Ostgotenreich Ermanariks zusammenbrach [375], wurden auch die Westgoten aus ihren Sitzen aufgeschreckt. Ein Teil von ihnen trat unter der Führung Frithigerns im Jahre 376 mit Erlaubnis des oströmischen Kaisers Valens [wohl bei Durostorum, j. Silistria] über die Donau, um sich in NiedermÖsien anzusiedeln. Ostgotische Scharen folgten ihnen eigenmächtig nach. Ein anderer Teil der Westgoten unter Athanarik suchte zunächst in den Bergen Siebenbürgens Schutz und schloß sich erst später den übrigen Volksgenossen an. In NiedermÖsien zwischen Balkan [Hämus] und Donau saßen nun die Westgoten als Bundesgenossen Ostroms. Doch kam es oft zu blutigen Zusammen­ stößen. Im Verein mit Ostgoten und Alanen errangen sie 378 den Sieg bei Adrianopel, wo Kaiser Valens den Tod fand. Verheerend überschwemmten die siegreichen Germanen die Balkanhalbinsel bis nach Konstantinopel und den Julischen Alpen. In dieser Not berief der Kaiser Gratian, der sich damals in Sirmium befand, den Theodosius zum Herrscher über den Osten [19. Jan. 379]. Mit wechselndem Erfolge wurde gekämpft. Durch Verträge gelingt es schließlich, den Frieden leidlich herzustellen. Den Ostgoten und Alanen werden 380 Pannonien und Obermösien, den Westgoten 382 wieder NiedermÖsien zugewiesen. Aber auf diese Bundesgenossen ist für die Römer kein großer Verlaß. Im Jahre 395 erhoben sich die Westgoten unter Alarik gegen Rom, verwüsteten Thrakien, Makedonien, Thessalien und Griechenland und rückten, die Feindschaft zwischen Ost- und Westrom ausnutzend, 399 sengend und brennend in Epirus ein, das ihnen dann durch Vertrag abgetreten wurde. Nach sorgsamen Vorbereitungen, die namentlich der Ausrüstung seines Heeres galten, trat Alarik den Marsch nach Italien an [401], wo er siegreich vordrang, aber bald nach der Er­ oberung Roms starb [411]. Die weiteren Schicksale der West- und Ostgoten brauchen hier nur angedeutet zu werden. Nach Alariks Tode zog sein Schwager Athaulf [412] mit den Westgoten nach dem südlichen Gallien und Spanien ab. Dessen Nachfolger Wallia [415—419] begründete das tolosanische späterhin anzutreffen waren. Diese sind uns im Inlandgebiet von Kyzikos und am Granikos bezeugt. Wie ihr Name zeigt — sie werden auch kurz Γραικοί ‘ Griechen* genannt — sind sie dem Griechentum früh erlegen. Vgl. W. Toma>chek: Anz. f. dtsch. Alt. 23, p. 121 f.

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Reich der Westgoten. Nach der siegreichen Abwehr Attilas [451] erlagen die Westgoten [507] den verbündeten Franken und Burgundern und mußten Gallien größtenteils räumen. In Spanien unterwarfen sie sich noch das Suevenreich [585] und behaupteten sich, bis die Schlacht von Xerez de la Frontera [711] ihrer Herrschaft ein Ende machte. Die Ostgoten waren nach ihrer Niederlage [375] unter hunnische Oberherrschaft geraten. Sie blieben jedoch ziemlich selbständig, behielten ihre eignen Könige, mußten dafür aber Heeresfolge leisten. Bei dem allgemeinen Zerfall des Hunnenreiches nach Attilas Tode gewannen auch sie ihre volle Unabhängigkeit wieder und erhielten von den Römern Pannonien gegen Söldnerstellung und Jahrgelder. Sie wohnten räumlich getrennt unter den drei Brüdern Walamer, Widemer und Theodemer. Es fanden wiederholt sowohl mit Ostrom wie mit den benachbarten Sueven und Sarmaten Kämpfe statt. Nach Walamers Tode fiel dessen Teil Theodemer zu. Während dieser gegen Byzanz kämpfte, wandte sich Widemer [474] gegen Italien, doch gelang es dem weströmischen Kaiser, nach Widemers Tode dessen gleichnamigen Sohn auf Gallien abzulenken, wo dieser Teil der Ostgoten ganz mit den Westgoten verschmolz. Auf Theodemer folgte sein Sohn Theoderich [471—526], der seinem Volke dauernde Wohnsitze gewinnen wollte, sei es im Ost- oder im Westreiche. Zu­ nächst hatte er sich in Niedermösien festgesetzt und stand in wech­ selnden Beziehungen zu Ostrom. Auf Betreiben Kaiser Zenos, der so den unbequemen Nachbarn los sein wollte, zog Theoderich nach Italien, wo er den Usurpator Odovakar vertreiben sollte. Theoderich besiegte ihn 489 am Isonzo, dann bei Verona. Odovakar sah sich auf Ravenna beschränkt, drang aber bald von neuem vor. Im Jahre 490 wurde er an der Adda abermals geschlagen. Theoderich nahm bis auf wenige feste Plätze das ganze Land ein. Odovakar wurde in Ravenna belagert. Da man die Stadt nicht einnehmen konnte, kam es zum Vertrage von Ravenna [493]. Odovakar trat Ravenna ab, erhielt dafür Sicherheit und königliche Ehren verbürgt, wurde aber bald darauf von Theoderich beim Gastmahl niedergestoßen [493]. Nur 50 Jahre hat das italische Ostgotenreich, das unter Theoderichs 33 jähriger Regierung seine Blütezeit erlebte, bestanden. Es erlag nach fast 20jährigem Kampfe den oströmischen Heeren unter Beiisar und Narses, die Kaiser Justinian [527—565] entsandt hatte. Heldenmütig war ihr letzter Kampf unter Totila und Teja, deren letzterer 552 am Berge Vesuv fiel. Das Ostgotenvolk war so gut wie vernichtet. Reste

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mögen bei germ. Nachbarstämmen Aufnahme gefunden haben. So mag auch die ostgotische Heldensage zu den oberdeutschen Stämmen, insbesondere zu den Baiern, gekommen sein. Reste der nördlich des Schwarzen Meeres zurückgebliebenen Goten und der mit ihnen verbündeten germ. Stämme [Heruler u. a ]39 erhielten sich als Krimgoten40 und Tetraxiten41 [auf der Halbinsel Taman, am westl. Kaukasus] bis ins 18. Jhd. Sie erlagen sprachlich erst der Einwirkung der russischen Eroberung. 89 Vgl. R. Löwe: Die Reste der Germanen am Schwarzen Meer. Halle 1896 [dazu: Tomaschek: Anz. f. dtsch. Alt. 23, p. 121 ff. R. Much: Idg. Forsch. Anz. 9, p. 193 ff.]. 40 Da sie sich völlig selbständig nicht zu behaupten vermochten, schlossen sich die Krimgoten, schon früh dem orthodoxen Glauben gewonnen, Byzanz an oder mußten die Oberherrschaft mächtiger Wanderstämme wie der Hunnen, Chazaren, Tataren anerkennen, die nacheinander in den Pontusländern erschienen. Doch machte erst die Eroberung ihrer Hauptstadt Mankup durch die Türken im Jahre 1475 ihrem politischen Dasein ein Ende. Ihre Sprache aber, von der uns Busbecq aus dem 16. Jhd. einige Dutzend Wörter überliefert hat [s. u. krimgot. Vokabu­ lar], scheint erst im 18. Jhd. völlig ausgestorben zu sein. Vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Krimgoten. 41 Sie, die Γότθοι ol Τετραξΐται, erwähnt Prokop: De bello Goth. IV, 4. 5. 18. Der Name ist wohl von griech. τετραξός ‘vierfach* abgeleitet als Wiedergabe eines einheimischen Namens. Vgl. R. Much in Hoops* Reallex. s. v. Tetraxiten.

D IE G O T IS C H E L IT E R A T U R A . W eltliche Literatur42 Wie überall dürfen wir auch bei den Goten eine primitive Volks­ poesie annehmen, die lange vor aller literarischen Überlieferung liegt. Götterlieder, Zaubersprüche, Natur- und Tanzlieder, Spruchdichtung und Rätsel, Preis- und Spott-, Jubel- und Klagelieder und vor allem der Heldensang werden auch bei ihnen geblüht haben. Es fehlt auch nicht ganz an direkten Zeugnissen dafür. Namentlich der Geschichts­ schreiber der Goten Jordanes [ca. 550]43, der ja selbst Ostgote war, ist hier eine ergiebige Quelle. «Filimer, König der Goten», so berichtet er [Kap. 24], «erfuhr von dem Aufenthalt gewisser Zauberweiber [quasdam magas mulieres] in seinem Volk, die er selbst in seiner Muttersprache Haliurunnen444 5nennt. Da er sie für verdächtig hielt, vertrieb er sie und nötigte sie, fern von seinem Heer in Einöden umherzuirren.» Wie bei den übrigen Germanen waren also auch bei den Goten namentlich Frauen im Besitz der Zauberweisheit und Sehergabe46. Anderswo gibt Jordanes uns Kunde von Liedern, die zu Ehren Verstorbener gesungen wurden. Nach der blutigen Schlacht auf den katalaunischen Gefilden [451], heißt es da [Kap. 41], vermißten die Vesegothen ihren König Theodorid. «Und da sie ihn nach längerem Suchen mitten in den dichtesten Haufen der Leichen, wie es tapferen Männern geziemt, gefunden hatten, ehrten sie sein Andenken mit 42 Vgl. R. Kögel: Gesch. d. dtsch. Lit. bis zum Ausgange des Mittelalt. Bd. I, Straßburg 1894, passim; G. Ehrismann: Gesch. d. dtsch. Lit. bis zum Ausg. d. Mittelalt. Bd. I, München 1918, p. 14ff .; A. Heusler in Hoops* Reallex. s. v. Dichtung, Heldensage; ders.: Altgerm. Dichtung [in Walzels Handbuch]; H. Schneider: Heldendichtung, Geistlichendichtung, Ritterdichtung, Heidel­ berg 1925, p. 3 f f .; ders.: Germ. Heldensage Bd. I, Berlin 1928 u. a. 43 Vgl. Fußnote 7. 44 D. i. got. *haljarüna 'Helraunerin*, 'Totenbeschwörerin*, zu got. halja 'Hölle*, 'Unterwelt*; vgl. ahd. helliruna 'necromantia’ , 'Totenbeschwörung*, aengl. helrün 'Zauberin*. Urspr. 'Unterweltsrunen*, 'Totenrunen*, 'Totenbe­ schwörungen, die am Grabe oder an der Leiche geheimnisvoll geraunt wurden, um den Toten zu erwecken und ihn um die Zukunft zu befragen*. 45 Kirche und Gesetz eifern noch später gegen solchen Zauberwahn; vgl. Lex Wisigothorum [Mon. Germ. Leg. I, Tom. I, p. 257 ff.].

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Liedern und trugen ihn angesichts der Feinde fort. Da sah man die Scharen der Goten, wie sie noch während der W ut des Kampfes mit ihren unharmonischen Stimmen der Leiche die letzte Ehre erwiesen. Tränen wurden vergossen, aber solche, die tapferen Männern nach­ geweint zu werden pflegen.» Unter Waffenlärm trugen sie den hehren König fort. Sein Sohn, Thorismund, folgt unmittelbar hinter der Leiche, entschlossen, den Tod des Vaters zu rächen. Auch die Totenfeier Attilas [ f 453], die Jordanes [Kap. 49] nach dem Bericht eines Augenzeugen, des griechischen Geschichtsschreibers Priskos, schildert, der als oströmischer Gesandter am Hofe des Hunnenkönigs in Ungarn weilte, vollzieht sich ganz nach gotischgermanischem Brauch46. «Mitten auf dem Felde unter seidenen Zelten wurden seine sterblichen Reste aufgestellt. Dann führten sie ein wunderbares, feierliches Schauspiel auf. Die besten Reiter aus dem ganzen Hunnenvolk ritten um den Platz herum, wo er lag, wie bei Zirkusspielen, und verherrlichten seine Taten in Leichengesängen . . Nachdem sie ihn mit solchen Klageliedern betrauert, feierten sie ihm auf seinem Grabhügel eine strava47, wie sie es nennen, mit unermeß­ lichem Trinkgelage, und indem sie Gegensätze miteinander verbanden, vermischten sie die Todesklage mit Äußerungen der Freude48. Dann übergaben sie in der Stille der Nacht den Leichnam der Erde.» Hier haben wir zwei Beispiele einer vornehmen Leichenfeier. W o ein Großer dieser Erde dahinging, da verband sich mit der schlichten Wehklage, den Schmerzensrufen der Hinterbliebenen, das rühmende Preislied des Kunstdichters, das, von Edlen gesungen, die Taten des Verstorbenen andeutend und oft formelhaft in die Erinnerung rief. Einförmig und unharmonisch war solch Leichengesang. Aber nicht nur dem großen Toten erschollen diese Preislieder, auch der lebende Große hatte Anspruch darauf. Am Abend eines Fest­ mahls an Attilas Hofe traten, so berichtet Piiskos [Hist. Goth. 205,11], zwei Barbaren auf und sangen Lieder, die sie verfaßt hatten und in denen sie seine Siege und kriegerischen Tugenden priesen, so daß sie die Zuhörer zu Tränen rührten. W ir haben hier ein Zeugnis für 46 Vgl. dazu Beowulf V. 3137 ff. die Bestattung des Gautenkönigs. — Priskos schrieb eine Geschichte von Byzanz und von Attila, die bis 472 reichte und bruch­ stücksweise erhalten ist. 47 Wenn germ., so vielleicht zur Wurzel *straw- in got. straujan ‘ streuen*. Während strava bei Jordanes das Totengelage bezeichnet, bedeutet es anderswo eine aus den Rüstungen der Feinde aufgeschichtete Leichenbühne, einen Scheiter­ haufen, auf dem der Tote verbrannt wird. 48 Vgl. den noch vielfach üblichen Leichenschmaus.

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gotische Sitte, da die Hunnen unter gotischem Kultureinfluß standen. Unklar ist, welcher Art jene άσματα Σκυθικά, d. h. gotischen Lieder waren, mit denen Attila, nach Priskos [188, 9ff. der Bonner Ausg.], beim Einzug in seine Residenz von tanzenden Mädchen begrüßt wurde. Es mögen wohl Preislieder [got. hazeins 'Lobgesang5] ge­ wesen sein. Reich entfaltet war nach unsern Zeugnissen der gotische Helden­ sang, der die Erinnerung an die große Vergangenheit wachhielt. Es waren epische, bailadenhafte Lieder, die einzeln oder im Chor ge­ sungen wurden. Vor der Schlacht ertönten sie aus dem Munde der Krieger, ihnen selbst zur Stärkung des Mutes und den Feinden zum Schrecken. Als Westgoten und Römer sich 378 bei Adrianopel schlachtbereit gegenüberstanden, so erzählt Ammianus Marcellinus [X X X I, 7, 11], da erscholl auf beiden Seiten Kampfeslärm. «Die Römer erhoben ihr Kriegsgeschrei, Barritus mit Namen, das leise anfängt und dann immer lauter anschwillt, und stärkten dadurch noch ihren Mut; die Barbaren priesen in wüstem Geschrei die Taten ihrer Ahnen, und unter den disharmonischen Klängen der verschiedenen Sprachen begann der erste Kampf.» Mit Gesang und Zitherspiel, so berichtet Jordanes [V, 43], feierten die Goten «die Taten ihrer Vorfahren, des Eterpamara, Hanala, Fridigern, Vidigoia und anderer, deren Namen bei diesen Völkern in so hohem Ansehen stehen, wie das bewundernswerte Altertum kaum von den Heroen rühmt». Ihr Sieges­ zug ans Schwarze Meer wurde «in ihren alten Heldenliedern insgemein fast nach der Art eines Geschichtsbuches erzählt» [IV, 28]. Historische Lieder von Kämpfen der Goten gegen die Hunnen «am Weichsel­ walde» [ymb Wistlawudu] bezeugt der altengl. Widsiþ [V. 119ff.]. Nicht nur kriegerisches Heldentum wird gefeiert, sondern auch jene erste Tugend der Germanen, die Treue, das unverbrüchliche Band zwischen Fürst und Mannen. Ein solcher Getreuer ist der Ostgote Gensimund, der weise Hüter der jungen Königssöhne, dessen edle Gestalt nach Cassiodor [Variar. 8, 9 ]49 in gotischen Liedern fortlebt. Aber nicht nur diese direkten Zeugnisse weisen auf gotischen Heldensang. Vieles schimmert auch sonst unter der verdeckenden 49 Der Römer Cassiodorus [ca. 490— 583] war ein treuer Helfer Theoderichs bei dem Ausgleich römischer und gotischer Kultur. Er hat hohe Vertrauensposten im Ostgotenreich bekleidet. Seine «Zwölf Bücher gotischer Geschichten», die er auf Veranlassung Theoderichs verfaßte, sind uns leider nur in dem Auszuge des Jordanes erhalten. Unter dem Titel Variae veröffentlichte Cassiodor 537 eine Sammlung seiner Briefe und Kanzleikonzepte, die als Geschichtsquelle von hohem Werte sind. Vgl. K. Hampe in Hoops* Reallex. s. v. Cassiodor.

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Hülle hindurch. Ganze Abschnitte bei Geschichtsschreibern sind nichts als in Prosa aufgelöste got. Heldenlieder. Das gilt z. B. für Jordanes5 Bericht über Ermanarich [Kap. 24]: «Zwar hatte der Gotenkönig Hermanarich, wie wir oben berichtet haben, über viele Völker triumphiert; als er sich jedoch Gedanken machte wegen der Ankunft der Hunnen, gelang es dem treulosen Volk der Rosomonen, das ihm damals mit andern untertan war, ihn auf folgende Weise zu hintergehen. Als er eine Frau namens Sunilda aus eben diesem Volk im Zorn über die trügerische Flucht ihres Mannes hatte an wilde Pferde binden und so auseinanderreißen lassen, rächten ihre Brüder Sarus und Ammius der Schwester Tod und stachen dem Hermanarich mit dem Schwert in die Seite. Infolge dieser Wunde schleppte dieser bei siechem Körper ein elendes Dasein dahin.» Wenig jünger als dieses Ermanarichlied dürfte jenes westgotische Lied von der Hunnenschlacht [451] sein, das in altnordischer Um­ dichtung verwittert in der Edda erhalten ist. Ja, die ältesten Bestand­ teile dieses Liedes führen auch in die Zeit Ermanarichs zurück. Die große Schlacht findet hier nicht auf den katalaunischen Gefilden, sondern auf der Dunheide statt, und dieser Name wie der gleichfalls erwähnte Danpr deuten auf Don und Dnjepr [lat. Danaper], also auf das Gotenreich am Schwarzen Meer. Von dort nahmen die West­ goten Sangesreste nach Gallien mit, die umgeschaffen durch Jahr­ hunderte erklangen und schließlich nach dem Norden den W eg fanden, wo ein Dichter des 13. Jhd. die Trümmer auflas. Dagegen dürfte die Dietrichsage, wenigstens so wie wir sie kennen, nicht schon bei den Goten, sondern erst bei den germ. Nachbarn völlig ausgebildet sein, denen das Schicksal der Goten zu Herzen ging. Sie enthält so viel Geschichtswidriges und Betrübliches [Nieder­ lage statt Sieg bei Ravenna, Verbannung u. a.], daß ihr Entstehen im eignen Volke kaum denkbar ist. Nicht ganz vergessen dürfen wir bei unserer Erschließung gotischer Weltdichtung die sprachlichen Zeugnisse. Das W ort steht ja immer für die Sache. Auch die Sprache zeugt für das Vorhandensein von Lied [got. liuþ, dazu liuþon 'singen5, liuþareis 'Sänger5; saggws 'Sang5, siggwan 'singen5] und Tanz [laiks 'Tanz5, laikan 'hüpfen5, 'tanzen5]. Aber nicht nur der Ausdruck der Freude, auch derjenige der Trauer spiegelt sich reichlich in ihr wider [gaunön 'klagen5, 'Totenklage anstimmen5, gaunoþus 'Klage5; gretan 'weinen5, 'klagen5, grets'Weinen5 u. a.]. Von der Macht des Zauberwesens zeugt das Wort rüna, wenn es in got. Kirchensprache auch nur in der Bedeutung 'Geheimnis5,

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nicht 'geheimnisvoller Buchstabe* überliefert ist. Die Goten pflegten den Runenzauber so gut wie die andern Germanenstämme und werden die Schauer der geraunten Zaubersprüche ebenso oft empfunden haben. Neben dem Lied und sangesmäßigen Vortrag gab es auch bei ihnen die schlichte Erzählung, das spill, das Sage und Geschehnisse der Vergangenheit den Hörern übermittelte. Es wird neben den Liedern auch wichtige Quelle für Geschichtsschreiber gewesen sein. So können wir uns trotz mangelnder Überlieferung ein recht deut­ liches Bild von der weltlichen Literatur der Goten machen.

B. Geistliche Literatur

I. Wulfila50’ Der älteste Vertreter kirchlicher Literatur bei den Goten und bei den Germanen überhaupt ist Wulfila, der Schöpfer der gotischen Bibel. Über den ersten Gotenbischof sind wir durch verschiedene Quellen unter­ richtet, die ihm, dem Arianer, je nach ihrem arianischen oder athanasianischen [orthodoxen] Standpunkt wohlwollend oder mißgünstig, wenigstens kühl gegenüberstehen. Wir beginnen mit der Darstellung dieser Quellen.

a) Quellen über ihn 51 Í. Arianische52 a) A u x e n t i u s Auxentius war ein Schüler Wulfilas und Bischof von Durostorum [Silistria] in Niedermösien. Er ist Arianer wie Wulfila. In seinem Schreiben, dessen Anfang und Schluß fehlt, schildert Auxentius 50 Vgl. W. Bessell: Über das Leben des Ulfilas und die Bekehrung der Goten zum Christentum. Göttingen 1860; R. Kögel: Lit. I p. 176ff.; H. Böhmer: Realencyklop. f. prot. Theol.3 Bd. 21, p. 548ff.; W. Streitberg: Grundr. d. germ Phil.2 Bd. 2, p. 4 ff .; ders. in Hoops’ Reallex. s. v. Wulfila; F. Vogt: Allg. dtsch. Biogr. Bd. 44, p. 270ff.; H. v. Schubert: Staat u. Kirche in den arian. König­ reichen. München 1912, p. 49 ff.; J. Mansion: Les origines du christianisme chez les Gots. Analecta Bollandiana, Bd. 33 [Brüssel 1914]; S. Feist: Einf. i. d. Got. Leipzig 1922, p. 3 ff. 61 Man findet die Originaltexte bequem in Streitbergs Got. Bibel. Bei der Übersetzung der oft recht schwierigen griech. Texte [besonders Sozomenos] haben mich die Altphilologen Koll. Hempler und Liebenstein freundlichst unter­ stützt, wofür ich ihnen auch hier herzlich danke. 52 Arius [von Geburt Libyer?], Schüler Lucians von Antiochien, wirkte, schon in höherem Alter, zunächst als Diakon, dann als Presbyter an der wegen

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Glauben, Leben und Sterben seines Lehrers und väterlichen Freundes. Dieses Schreiben findet sich in der zwischen 382 und 384 verfaßten, gegen Ambrosius gerichteten Streitschrift eines arianischen Geistihrer Flaschenform so genannten Kirche Baukalis zu Alexandrien, wo er das Amt, die Hlg. Schrift auszulegen, mit Verstand und gewandter Dialektik versah. «Er wird uns als ein Mann von ernstem Aussehen geschildert, asketisch streng, aber freundlich und von einnehmendem Wesen, jedoch eitel. Er stand in hoher Achtung in der Stadt; namentlich die Asketen und Jungfrauen hingen ihm an.» [Harnack: Lehrb. d. Dogm. I I 2, p. 188.] Seine Lehre brachte ihn — um 318 — mit seinem Bischof Alexander [ca. 312— 328] in einen Streit, welcher der Anlaß des arianischen Kampfes werden sollte. Auf der Synode von Alexandrien wurde er — um 320 — aus der ägyptischen Kirchengemeinschaft ausgestoßen und aus Alexandrien verbannt. Hilfesuchend wandte er sich an den einflußreichen Bischof Eusebius von Nikomedien, einen entfernten Verwandten des Kaiser­ hauses, der mit ihm in Antiochien Schüler Lucians gewesen war. «Gedenke unserer Trübsal, du treuer Genosse Lucians!» heißt es am Schluß des griechisch wie auch in zwiefacher lat. Übersetzung erhaltenen Briefes, den Arius wohl nicht mehr von Alexandria, sondern erst etwa von Palästina [Syrien] aus an Eusebius richtete. Dieser, der mit Alexander in alter Feindschaft lebte, nahm sich tatkräftig des Vertriebenen an. Von mehreren Gesinnungs- und Leidens­ genossen begleitet, scheint Arius bald nach jenem Schreiben in Nikomedien eingetroffen zu sein, wohin ihn wohl eine Einladung des Studienfreundes gerufen hatte. Auf einer dort von Eusebius veranstalteten Synode legte Arius — offen­ bar unter dem Einfluß des aus politischen Gründen zur Mäßigung ratenden Freundes — ein Glaubensbekenntnis in Form eines offenen, versöhnlichen Briefes an Alexander von Alexandrien vor, der uns in griechischer und lateinischer Fassung überliefert ist. Zu Nikomedien verfaßte Arius auch eine größere — wohl aus Prosa und Poesie gemischte — Schrift unter dem Titel Thalia ‘ GastmahP, von der uns nur Bruchstücke bekannt sind. In diesem Buche, das von den An­ hängern gerühmt, von den Gegnern als profan, weichlich und geziert verurteilt wurde, mögen jene Schiffer-, Müller- und Wanderlieder gestanden haben, in denen Arius nach dem Zeugnis des Philostorgius [Hist. eccl. II, 2] seine Lehre niedergelegt haben soll, um sie unter das niedere Volk zu bringen. Die politischen Verhältnisse und der Schutz befreundeter Bischöfe ermöglichten ihm die Rück­ kehr nach Alexandrien, wo er seine Tätigkeit wieder aufnahm. Der Gegensatz zu Alexander bestand fort, und die Spaltung ergriff bald alle Küstenprovinzen des Orients. Auf dem Konzil zu Nicäa [325], das die kirchliche Einheit herzu­ stellen suchte, ward Arius verdammt und von Kaiser Konstantin [nach Niko­ medien? Illyrien?] verbannt. Seine Schriften sollten dem Feuer übergeben und diejenigen, welche sie zurückbehielten, mit dem Tode bestraft werden. Bald aber, spätestens 328, wurde Arius aus dem Exil zurückberufen, da Konstantin durch Nachgiebigkeit den kirchlichen Frieden erreichen wrollte. Ein Glaubens­ bekenntnis, das er dem Kaiser persönlich übergeben hat und das in seiner ge­ milderten Form den abweichenden Standpunkt weniger hervorkehrt, ist uns durch Sokrates [Hist. eccl. I, 26] und Sozomenus [Hist. eccl. II, 27] mitgeteilt worden. Der kirchlichen Wiedereinsetzung des Arius, dessen unversöhnlicher Gegner Athanasius in die Verbannung geschickt wurde, kam 336 ein plötzlicher

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liehen, die als Randschrift im Cod. lat. 8907 der Pariser National­ bibliothek überliefert ist53. Die wichtigsten auf Wulfila bezüglichen Stellen lauten54: Tod zuvor. Nach kaum glaubhafter Überlieferung soll Arius am Abend vor dem festgesetzten Sonntag auf einem öffentlichen Abort zu Konstantinopel gestorben sein. Obwohl Arius, so wenig wie seine Anhänger, ein dogmatisches System aus­ gestaltet hat, lassen sich die Grundzüge seiner Lehre aus der eignen wie der gegnerischen Überlieferung erkennen. Gott — so behauptete er — ist allein ungezeugt [αγέννητος], anfangslos und ewig. Neben ihm gibt es keinen andern, der ihm schlechthin gleich [όμοούσιος] wäre. Alles Seiende hat er nach seinem Willen aus dem Nichts [έξ ούκ δντων] geschaffen. Vor dem Anfang der Welt erzeugte er den Sohn als ein Werkzeug, durch das die übrigen Kreaturen, welche die Gottheit selbst nicht hätten ertragen können, hervorgebracht werden sollten. Wie alles Geschaffene aus dem Nichts entstanden, ist der Sohn seinem Wesen nach vom Vater völlig getrennt und verschieden. Er ist darum auch nicht wahr­ haftiger Gott, besitzt nicht absolute Weisheit und Erkenntnis und darf also nicht die gleiche Ehre beanspruchen wie der Vater. Aber er steht über den andern Geschöpfen, deren Erzeuger er ist. Er erfreut sich der Gnade Gottes, die ihm durch seine stete freie Neigung zum Guten nach göttlicher Voraussicht zuteil geworden ist. Er hat sich durch diese Vorzüge allmählich zu einer Gottheit ent­ wickelt, so daß man ihn jetzt ‘ eingeborenen Gott* oder ‘ starken Gott* nennen kann. Sein Menschsein, wie es Schrift und Überlieferung treffend berichten, zeigt ihn uns als ein leidensfähiges Wesen, das demnach nicht voller Gott ist. Neben dem Sohn steht als zweites, selbständiges Geschöpf der Hlg. Geist, von dem Arius, wie seine Anhänger, gelehrt zu haben scheint, daß er ein durch den Sohn geschaffenes, ihm untergeordnetes Wesen darstelle. 63 Die von Knust 1840 entdeckte Randschrift ist in zwei Stücken [Fol. 298 bis 311 u. 336— 349] von einer und derselben Hand in der Halbunziale des 6. Jhds. geschrieben. Der Kodex selbst enthält Schriften des Hilarius, die zwei ersten Bücher von Ambrosius De fide und die Acta des Konzils zu Aquileja. Der Zweck der Randschrift ist die Verteidigung der illyrischen Bischöfe Palladius von Ratiaria und Secundianus, die auf Betreiben des Mailänder Bischofs Ambrosius [ t 397] vom Konzil zu Aquileja [3. Sept. 381] wegen Ketzerei ihres Amtes ent­ setzt worden waren. Die Randschrift ist aus sehr verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt, die z. T. überarbeitet und durch Einfügungen erweitert sind. Maximinus ist nicht der Verfasser der Randschrift, sondern wird nur als Verfasser einer Dissertatio wiederholt zitiert. Der erste Teil der Randschrift enthält auf Fol. 304'— 308 das Schreiben des Auxentius. Dies wurde zuerst von G. Waitz: Über das Leben und die Lehre des Ulfila. Hannover 1840 veröffentlicht. Die ganze Randschrift gab Fr. Kauffmann heraus: Aus der Schule des Wulfila [Texte u. Unters, zur altgerm. Religionsgesch. Texte 1] Straßburg 1899. Daß der Text nicht einheitlich, sondern z. T. ein recht buntes Gemisch ist, haben insbesondere die schallanalytischen Forschungen von E. Sievers wahrscheinlich gemacht. Danach wäre z. B. in dem überlieferten Schreiben des Auxentius, das für uns als Quelle über Wulfila ja besonders wichtig ist, der Abschnitt Fol. 304'— 306', 27 [est ordinatus] echt und unverfälscht, dagegen Fol. 306', 27 [ut non solum] bis

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«Diesem [d. h. dem vorher dargelegten Dogma] und diesem Ähn­ lichen nachfolgend, 40 Jahre herrlich im Bischofsamte blühend durch apostolische Gnade, predigte er in griechischer, lateinischer und gotischer Sprache ohne Unterbrechung in der einen und einzigen Kirche Christi, weil auch eine ist die Kirche des lebendigen Gottes, 307', 34 [Elisei prophetae] ein buntes Gemisch von Quellen und Einschiebungen; dann zeige sich im allgemeinen wieder reiner Auxentiustext, jedoch nicht ohne Einfügungen [zu denen immo vero Cristianopolim gehöre]; echt sei vor allem das den Abschluß des Auxentiusschreibens bildende Glaubensbekenntnis des Wulfila. Bei solcher Zusammensetzung wäre allerdings, wie Streitberg [Got. El.5·· p. 9] betont, der Quellenwert des Auxentiusbriefes erheblich vermindert. 54 Inhalt der ganzen Randschrift: Sie beginnt mit einer Kritik der den Text des Kodex bildenden Akten des Aquilejer Konzils. Diese Kritik schließt mit dem Hinweis auf die weiter unten folgende Schrift des Palladius, in der das Verfahren der Orthodoxen auf diesem Konzil eingehend beleuchtet werde. Darauf folgt eine Verteidigung der arianischen Lehre, und zum Beweis für die Richtigkeit dieser dogmatischen Erörterung wird auf Arius, Theognis, Eusebius und weiter auf Bischöfe hingewiesen, die mit Ulfila an den Hof des Theodosius gekommen seien. Es wird hinzugefügt, daß deren Bekenntnisse unten aufgeführt werden sollen. Tatsächlich wird dann aber nur das Bekenntnis des Ulfila mitgeteilt und zwar in der Schrift eines Bischofs Auxentius. Es folgt ein Nachtrag über einen Aus­ druck jener Schrift, in dem sich wieder eine leider unverständliche Angabe über Ulfila und seine Gefährten findet. Dann sind etwa 50 Randseiten leer gelassen, um die anderen oben angekündigten Bekenntnisse der mit Ulfila nach Konstan­ tinopel gekommenen Bischöfe aufzunehmen, die dem Verf. der Randschrift nicht gleich zur Hand sein mochten. Dann folgt der in Form eines Briefes an Ambrosius erstattete Bericht des Palladius [oder Palladius und Secundianus] über das Konzil von Aquileja. Es wird da nachzuweisen versucht, daß die Ver­ handlung auf dem Konzil nicht frei gewesen sei. Ambrosius führe zwar inmitten seiner Partei das große Wort, scheue aber den offenen Kampf. Die arianische Partei aber sei bereit, den Kampf aufzunehmen. Sie werde insbesondere auf jedem Konzil die Sache des von Theodosius plötzlich abgesetzten arianischen Bischofs Demophilus von Konstantinopel verteidigen. Mit dieser stolzen Ver­ sicherung schließt Palladius. Es folgt nun ein Schlußwort, das deren Wahrheit erhärten soll. Es wird da erzählt, daß die von Palladius genannten Bischöfe in Konstantinopel, wohin sie mit dem heiligen Ulfila zu einer anderen Versammlung gekommen waren, eine Audienz beim Kaiser Theodosius nachsuchten und dort um ein Konzil baten. Es sei ihnen auch zugesagt worden, aber dann hätten die Orthodoxen wieder das Ohr des Kaisers gewonnen und durchgesetzt, daß ein Gesetz gegeben ward, das 1. das Konzil und 2. alles Disputieren über den Glau­ ben, sowohl privatim als öffentlich, verbot. Dies Gesetz sei folgendes. Nun werden aber zwei Gesetze angeführt statt eines, von denen das eine dem Jahre 388, das andere dem Jahre 386 angehört. Beide Gesetze sind aus dem 438 aus­ gegebenen Codex Theodosianus falsch ausgewählt. Die Schlußbemerkungen weisen auf den Anfang der Randschrift zurück, die also trotz der großen Lücke als e-twas Zusammenhängendes zu betrachten ist. Cf. G. Kaufmann: Zs. f. dtsch. Alt. 27, p. 195— 196.

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die Säule und Stütze der Wahrheit; und er versicherte und bezeugte, daß die Herde Christi, unseres Herrn und Gottes, eine sei, eine die Verehrung und eines das Gebäude; eine die Jungfrau, eine die Gattin, eine die Königin; daß es nur einen Weinstock [Weinberg], ein Haus, einen Tempel, eine Gemeinde der Christen gebe, daß alle übrigen Versammlungsstätten nicht Kirchen Gottes, sondern Synagogen des Satans seien. Und wer es liest, der möge wissen, daß er dies alles über die gött­ lichen Schriften gesagt und uns beschrieben [dargelegt] hat. Er hinter­ ließ auch in eben jenen drei Sprachen mehrere Abhandlungen und viele Auslegungen [interpretationes], den Wollenden zu Nutzen und Erbauung, sich zu ewigem Gedächtnis und Dank. Ihn gebührend zu loben, geht über meine Kraft, und doch wage ich nicht zu schweigen. Mehr als alle bin ich sein Schuldner, da er auch an mir reichlicher arbeitete. In frühem Alter nahm er mich von meinen Eltern als Schüler an, lehrte mich die Hlg. Schrift und ver­ kündete mir die Wahrheit. Durch die Barmherzigkeit Gottes und die Gnade Christi hat er mich leiblich und geistig wie seinen Sohn in Treue [im Glauben?] aufgezogen. Nach Gottes Ratschluß und Christi Barmherzigkeit wurde dieser Ulfila — um der Seligkeit vieler willen — im Volke der Goten im Alter von 30 Jahren aus der Stellung des Lektors heraus zum Bischof geweiht, damit55 er nicht nur Erbe Gottes und Miterbe Christi wäre, sondern durch die Gnade Christi auch darin ein Nachahmer Christi und seiner Heiligen, daß wie der heilige David im Alter von 30 Jahren zum König und zum Propheten bestellt ward, um das Volk Gottes und die Kinder Israel zugleich zu leiten und zu lehren, so auch dieser gottselige Mann gleichsam als Prophet offenbart und zum Priester Christi eingesetzt ist, um das Volk der Goten zu leiten und zu bessern, zu lehren und zu erbauen. Und nach Gottes Willen und mit Christi Hilfe ist dies durch seinen Dienst [Tätigkeit] auf bewunderungs­ würdige Weise erfüllt. Und wie Joseph mit 30 Jahren in Ägypten bezeugt wurde [d. h. als Gesandter Gottes], und wie der Sohn Gottes, unser Herr und Gott Jesus Christus, mit 30 Jahren nach dem Fleische [d. h. seines irdischen Lebens] bestellt und getauft ward und das Evangelium zu predigen und die Seelen der Menschen zu weiden begann, so hat auch dieser Heilige auf Christi eigenes Gebot und Ver-6 5 65 Von hier [Fol. 306', 27: ut non solum] bis *des Propheten Elisa* läge nach Sievers nicht echter Auxentiustext vor.

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Ordnung das im Hunger und Mangel der Predigt gleichgültig lebende Volk56 der Goten, gemäß der Regel des Evangeliums, der Apostel und der Propheten, gebessert und leben gelehrt und offenbar gemacht, daß die Christen wahrhaft Christen seien, und die Zahl der Christen gemehrt. Durch den Neid und die Machenschaften des bösen Feindes wurde dann eine Verfolgung der Christen im Barbarenlande57 durch den gottlosen und gottesschänderischen Häuptling [judex]58 der Goten mit tyrannischem Schrecken erregt. Aber Satan, der Übel zu tun begehrte, tat gegen seinen Willen Gutes; er wünschte, sie zu Sündern und Abtrünnigen zu machen; aber mit Christi Beistand und Hilfe wurden sie Bekenner und Märtyrer. Da geriet der Verfolger in Ver­ wirrung, und die, welche Verfolgung erlitten, wurden gekrönt. Der­ jenige, der zu siegen versuchte, errötete als Besiegter, und die, welche versucht [angegriffen] wurden, jauchzten als Sieger. Nach dem ruhmvollen Märtyrertod vieler Diener und Dienerinnen Christi wurde der hochheilige Mann, der gottselige Ulfila, nach sieben im Bischofsamte vollendeten Jahren, durch die heftig drohende Verfolgung mit einer großen Schar der Bekenner aus dem Barbaren­ land vertrieben auf römischen Boden und hier von dem Fürsten Constantius [337— 361] hochseligen Angedenkens ehrenvoll auf­ genommen. Wie Gott durch Moses sein Volk aus der Macht und Gewalt Pharaos und der Ägypter befreite und durch das Meer schreiten ließ und sich zu dienen ausersah, so befreite Gott auch durch den oft Genannten die Bekenner seines hlg. einziggeborenen [unigeniti, meist übersetzt 'eingeboren’ ] Sohnes aus dem Barbarenlande und 56 «In fame predicationis» kann nicht bedeuten 'begierig nach der Predigt*, da das Volk «indifferenter» lebte; fames ist daher gleichbedeutend mit penuria. Cf. Bessell p. 109. 67 Barbaricum heißt den Schriftstellern der Zeit jedes Land, das nicht zum Römischen Reiche gehört. Es bedeutet hier das Gotenland nördl. der Donau. 58 Daß dies Athanarich war, ist möglich, aber unsicher. Von ihm, dessen Vater schon Kaiser Konstantin [ f 337] durch ein Reiterstandbild geehrt hatte, wissen wir, daß er sich ‘ Richter* [δικαστής, judex] nannte und so auch mehrfach be­ zeichnet wird [z. B. von Ammian], Er war nicht König der Westgoten. Als man ihn 381 bei den Verhandlungen in Byzanz mit diesem Titel ehren wollte, lehnte er ihn ab. Er war Häuptling, der über einen großen Teil des Volkes gebot. Neben ihm standen, z. T. fast gleich mächtig, andere Häuptlinge, z. B. Fritigern. Athanarich mag 348 den Platz seines Vaters bereits eingenommen haben. Wulfila kann damals aber auch von einem andern Häuptling vertrieben sein. Cf. Waitz p. 38; G. Kaufmann: Zs. f. dtsch. Alt. 27, p. 239, 427— 249.

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ließ sie durch die Donau gehen und in den Bergen [in montibus]59 nach dem Beispiel der Heiligen sich dienen. Mit seinem Volke ohne jene sieben Jahre [die er im Gotenland nördlich der Donau verbracht hatte] 33 Jahre auf römischem Boden verweilend, predigte er die Wahrheit — wie er auch darin ein Nach­ ahmer gewisser Heiliger war — , vollendete einen Zeitraum von 40 Jahren, so daß er nach Vollbringung vieler Taten und 70 Jahre alt aus dem Leben ging60. Nachdem 40 Jahre [im Bischofsamte] vollendet wraren, brach er mit kaiserlichem Befehl61 nach Konstantinopel auf zu einer Disputation gegen die . . , 62, und er bestand darauf, im Namen unseres Herrn Jesu Christi zu gehen63, damit sie [die Orthodoxen] nicht lehrten und beschwüren, es wären ihnen von Christus Weissagungen ein­ gegeben64. In die oben genannte Stadt eingetreten, begann er sofort zu erkranken, da von den Gottlosen [den orthodoxen Gegnern] wieder über den Stand des Konzils anders überlegt worden war [d. h. wieder gegen die Abhaltung des Konzils intrigiert wurde], damit nicht die noch Bedauernswerteren wie Eienden [die Orthodoxen] als durch das eigene Urteil verdammt und als mit dem ewigen Gericht zu bestrafen [d. h. als Ketzer] erwiesen würden. In welcher Krankheit er nach Art des Propheten Elisa65 hingerafft wurde. Es gebührt sich nun, das Verdienst des Mannes zu betrachten, der unter der Führung des Herrn nach Konstantinopel, vielmehr Christianopel, ging, damit der heilige und unbefleckte Priester Christi von den Heiligen und Mitpriestern, der Würdige von den Würdigen würdig in solcher Menge der Christen für seine Verdienste wunderbar und herrlich geehrt wurde. Bei seinem Hinscheiden bis zum Augen­ 59 Es war das Bergland am Nordabhang des Hämus, Niedermösien, die Gegend des heutigen Plewna. 90 Der hier verstümmelte Text wird von C. Müller [Zs. f. dtsch. Alt. 55, p. 141] ergänzt: ut multis gestis rebus et L X X annorum vir iret e vita. 61 Die kaiserliche Aufforderung, halb Einladung halb Befehl, spielt bei der Einberufung aller Konzile eine Rolle, sie ergeht an alle beteiligten Bischöfe. Cf. C. Müller a. a. O. p. 90. 62 Über die Ergänzung der nicht mehr leserlichen Stelle s. Fußnote 113. 68 C. Müller a. a. O. p. 93 ergänzt: et eundo [inst]abat ‘ und drängte darauf zu gehen*. 64 C. Müller a. a. O. p. 92 ergänzt: ne p[rof]ecias sibi a Cristo [fac-, oder infla-] tas docerent et contestarentfur], 65 Der Vergleich mit dem Propheten Elisa ist recht äußerlich, cf. Lib. Reg. II, 13— 14: Helisaeus autem aegrotabat infirmitate (sua), qua et mortuus est. Plate, Geschichte der gotiechen Literatur. 3

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blick seines Todes hat er dem ihm anvertrauten Volke durch Testament sein Glaubensbekenntnis schriftlich hinterlassen, so sagend: Ich, Ulfila, der Bischof und Bekenner, habe immer so geglaubt, und in diesem einzig wahren Glauben mache ich meinen Übergang zu meinem Herrn: Ich glaube, daß Einer sei Gott der Vater, allein ungeboren und un­ sichtbar. Und ich glaube an seinen einziggeborenen [unigenitum] Sohn, u n s e r n Gott und Herrn, den Schöpfer und Erschaffer aller Kreatur, der nicht seinesgleichen hat. So ist also der Vater einziger Gott über alles, der auch der Gott unseres Gottes ist. Und ich glaube an den einen Hlg. Geist, die erleuchtende und heiligende Kraft, wie Christus nach der Auferstehung zu seinen Aposteln sagt: Siehe, ich will auf euch senden die Verheißung meines Vaters. Ihr aber sollt in der Stadt Jerusalem bleiben, bis daß ihr angetan werdet mit Kraft aus der Höhe [Luc. 24, 49]. Ebenso auch: Ihr werdet die durch den Hlg. Geist über euch kommende Kraft empfangen [Apostelgesch. 1, 8]. Er ist weder Gott noch Herr, sondern treuer Diener Christi, nicht dem Sohne gleich, sondern ihm in allem untergeben und gehorsam. Und der Sohn ist in allem seinem Gott, dem Vater, untergeben und gehorsam66.» ß) P h i l o s t o r g i o s Philostorgios war um 368 n. Chr., wohl in Borissos, in Kappadokien geboren und von seinen Eltern zu einem begeisterten Anhänger der Lehre des Eunomius67 erzogen. Im 20. Lebensjahre kam er nach Konstantinopel, wo er, der in der Abgeschiedenheit Kappadokiens Aufgewachsene, reiche Eindrücke empfing. Aber er blieb zeitlebens ein treuer Sohn seiner Heimat; bereitet es ihm doch in seiner Kirchen­ geschichte offensichtlich Freude, von Personen und Ereignissen seines Heimatlandes zu erzählen. Er ist stolz darauf, wenn die Wiege großer Männer, wie Eunomius, Gregor von Alexandrien u. a., oder ihrer M Der Schluß des Bekenntnisses, mit dem das Schreiben des Auxentius endet, ist nicht mehr leserlich. 67 Eunomius, aus Dakora in Kappadokien, wurde 360 Bischof von Kyzikos an der Propontis [Marmarameer], ging nach baldigem Verlust seines Bistums nach Konstantinopel und veröffentlichte dort um 361 unter dem Titel Απολογία ein Glaubensbekenntnis, das ihn, wie sonstige Schriften, als strengen Arianer zeigt. Erwähnt sei noch eine längere Darlegung seines Glaubens, die er 383 dem Kaiser Theodosius auf dem Friedenskonzil zu Konstantinopel überreicht hat. Gestorben ist er um 393 zu Dakora, wohin er von Theodosius verbannt war. Philostorgios hat das Andenken seines in Tyana beigesetzten Lehrers durch eine begeisterte Lobrede geehrt.

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Vorfahren, wie der Großeltern Wulfilas, in jenem rauhen Kappadokien gestanden, das man vielfach so geringschätzig behandelte. Wie die Eindrücke und Anregungen der Hauptstadt auf den empfänglichen und wissensfreudigen Geist des jungen Kappadokiers einwirkten, spiegelt sich in manchen Zügen seiner Kirchengeschichte wider. Manches, was er dort erzählt, wird auf eigene Erlebnisse zurück­ gehen. In religiöser Hinsicht wird die Sektenfeindschaft der orthodoxen Obrigkeit und die durch sie bedingte Erschwerung aller nicht recht­ gläubigen Andachtsübung das Glaubensfeuer unseres Eunomianers noch mehr entfacht haben. Eifrig wohnte er dem Gottesdienste bei und erwarb sich schließlich eine gründliche Kenntnis der Hlg. Schrift. Er war überhaupt für seine Zeit ein recht gelehrter Mann, in dessen Kopf allerdings, wie damals zumeist, Wissen und Aberglauben bei­ einander wohnten. Wahrscheinlich ist Philostorgios mehrmals längere Zeit in Konstantinopel gewesen und hat wohl auch Palästina und Alexandrien kennengelernt. Manches in seinem Werke deutet darauf hin. Vollendet wird er sein Werk nach 425 und vor 433 in Konstan­ tinopel haben. Wann er gestorben ist, wissen wir nicht. Mehr als in den Werken des Sokrates, Sozomenos und Theodoret kommt in der Geschichtsschreibung des Philostorgios das weltliche neben dem herrschenden kirchlichen Element zur Geltung. Doch trotzdem handelt es sich auch bei ihm durchaus um eine έκκλησιαστική ιστορία, um eine Kirchengeschichte, die als Fortsetzung derjenigen des Eusebios gedacht war. Die großen Ereignisse der Religionsgeschichte bestimmen die Hauptabteilungen seiner Darstellung. Leider ist uns dies wichtige Werk nur in Bruchstücken aus verschiedenen Quellen bekannt, als deren wichtigste die Notizen und Auszüge des orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel Photios [9. Jhd.] zu gelten haben68. Über Wulfila heißt es da: «Um diese Zeit69, sagt Philostorgios70, habe Urphilas viel Volk von den jenseits des Ister [Donau] wohnenden Skythen, die man früher Geten nannte, nun aber Goten nennt, in das Gebiet der Römer hinübergeführt; sie seien ihres Glaubens wegen aus den heimischen Wohnsitzen vertrieben worden. Christianisiert sei das Volk auf folgende 68 Vgl. die Ausgabe von J. Bidez: Philostorgius’ Kirchengeschichte. Leipzig 1913. $D Die Einwanderung Ulfilas in römisches Gebiet erfolgte 348, also nicht unter Konstantin [j* 337], sondern unter seinem Sohne Konstantius [337— 361]. Cf. Fußnote 72. 70 Worte des Photios. 3*

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Weise. Unter der Herrschaft des Valerian und Gallien fiel eine große Schar der jenseit des Ister wohnenden Skythen in das Gebiet der Römer ein, durchzog einen großen Teil Europas, kam übersetzend selbst nach Asien, Galatien und Kappadokien, machte viele Gefan­ gene, worunter sich auch einige Kleriker befanden, und kehrte mit großer Beute heim. Das gefangene gläubige Volk bekehrte nicht wenige aus dem Heidentum durch ihren Umgang mit den Barbaren. Zu dieser Gefangenschaft gehörten auch die Vorfahren des Urphilas, Kappadokier von Geschlecht, aus der Nähe der Stadt Parnassos, aus einer Ortschaft genannt Sadagolthina. Dieser Urphilas war nun der Anführer der Auswanderung der Gläubigen und der erste Bischof derselben. Er ward es aber so. Von dem Herrscher des Volkes zu Konstantins Zeiten zur Gesandtschaft mit anderen ab geschickt (denn auch die dortigen Barbaren hatten sich dem Kaiser unterworfen), wird er von Eusebios71 und den mit ihm versammelten Bischöfen für die neuen Christen im Getenlande geweiht72; und wie er im übrigen für diese sorgte, so erfand er auch für sie eine eigene Schrift und über­ 71 Eusebios von Nikomedien, Schüler Lucians von Antiochien und Freund des Arius, Unterzeichnete aus politischer Klugheit — Kaiser Konstantin erstrebte die einheitliche Reichskirche — das Glaubensbekenntnis von Nicäa [325], stimmte aber der persönlichen Exkommunikation des Arius nicht zu und be­ wahrte ihm seine Freundschaft. Deshalb wurde Eusebios von Kaiser Konstantin abgesetzt und verbannt. Nach der Rückberufung des Arius [ca. 328] wurde auch Eusebios wieder in sein Bistum eingesetzt und 338 oder 339 zum Bischof der neuen Hauptstadt Konstantinopel erhoben. Er war ein klug geschmeidiger Berater der kaiserlichen Kirchenpolitik. Bis zu seinem Tode [341 oder 342] blieb er Arianer. — Nicht mit ihm zu verwechseln ist Eusebios Von Cäsarea [ca. 265— 339 oder 340], der «Vater der Kirchengeschichte», dessen Werk Philostorgios, Sokrates, Sozomenos und Theodoret fortgesetzt haben. Auf dem Konzil zu Nicäa nahm dieser gelehrte Bischof, der als vertrauter Ratgeber des Kaisers zu dessen Rechten saß und anfangs auch die geistige Führung der Synode innehatte, eine vermittelnde Stellung ein, um derentwillen er später, auf dem zweiten Konzil zu Nicäa [787], aus der Reihe der wahren Glaubenszeugen ge­ strichen wurde. 72 Das geschah aber erst 341, nach Konstantins Tode [ f 337], unter dessen Sohn Konstantius [337— 361]. Die Weihe Ulfilas ist also zeitlich ebenso falsch eingeordnet wie seine Einwanderung in römisches Gebiet [cf. Fußnote 69], Der Ulfila-Bericht des Philostorgios steht ziemlich am Anfang des zweiten Buches [II, 5], das noch bis zum Schluß von den Ereignissen unter Konstantin handelt. Nim fassen Kirchenhistoriker aber häufig stofflich Zusammengehöriges in laufen­ der Erzählung zusammen. So mag auch Philostorgios alles, was er von Ulfila weiß, im Anschluß an dessen Reise an den Hof Konstantins erzählt haben. Cf. Waitz: Über das Leben und die Lehre des Ulfila [Hannover 1840] p. 36— 37, Bessell a. a. O. p. 98, G. Kaufmann: Zs. f. dtsch. Alt. 27, p. 215.

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setzte in ihre Sprache die ganze Bibel, außer den Büchern der Könige, weil diese die Geschichte von Kriegen enthielten, jenes kriegsliebende Volk aber mehr eines Zügels der Kriegslust bedürfe als eines Spornes. Welches [Beziehung unklar, wohl Einschub des Photios; die B ibel?] nämlich die Kraft hat, dies zu tun [d. h. zu zügeln], da es [sie] für besonders verehrungswürdig gilt und die Gläubigen zum Dienste Gottes erzieht. Der Kaiser73 siedelte aber das freiwillig kommende Volk in den Gegenden Mösiens an, wo jeder wollte, und hielt den Urphilas in großen Ehren, so daß er ihn oft den Moses unserer Zeit nannte. Zu sehr aber vergöttert er [Philostorgios] diesen Mann und schreibt, daß er und die ihm Untergebenen seines [des Philostorgios] häretischen Glaubens gewesen wären70.»

2. Athanasianiscbe74 [O rthodoxe] a) S o k r a t e s Er ist um 380 in Konstantinopel geboren und war eigentlich Sach­ walter. Seine Kirchengeschichte in sieben Büchern, die von 306— 439 reicht, ist eine Fortsetzung des Werkes von Eusebios von Cäsarea, das mit dem Jahre 324 abschließt. Er schreibt vom orthodoxen Standpunkte aus. Über Wulfila berichtet er75: 78 Gemeint ist, wie Auxentius zeigt, Kaiser Konstantius [337— 361], der Sohn und Nachfolger Konstantins. 74 Athanasius, geh. ca. 295 wohl zu Alexandria, war bei Ausbruch des arianischen Streites Diakon und wohl auch Sekretär des Patriarchen Alexander von Alexandria [ f 328], an dessen Seite er 325 auf dem Konzil zu Nicäa den Arianis­ mus bekämpfte. Nach Alexanders Tode wurde er mit 33 Jahren Bischof von Alexandria. Auf der Synode zu Tyrus [335] wurde er, wohl auf Anstiften seines einflußreichsten Gegners, des Ariusfreundes Eusebios von Nikomedien, seines Amtes entsetzt und aus Alexandria verbannt. Nach einer Audienz bei Kaiser Konstantin, wo beide hart aneinander gerieten, mußte Athanasius nach Trier in die Verbannung gehen [Ende 335, Anf. 336], Je nach der Gunst oder Ungunst der Monarchen hat er dann den Patriarchenstuhl von Alexandria wieder be­ steigen dürfen oder verlassen müssen. Erst die gebieterische Forderung seiner Gemeinde eroberte ihm [366] den Kirchenthron zurück, den er fortan ungestört bis zu seinem Tode [373] innehielt. Er war bis zuletzt ein unerschrockener Kämpfer für den dreieinigen Gott, für die Lehre, daß Vater, Sohn und Hlg. Geist wesensgleich [όμοούσιος] seien. 75 In der Darstellung des Sokrates [vgl. Geppert: Die Quellen des Kirchen­ historikers Socrates Scholasticus. Leipzig 1898] treten vor allem drei Irrtümer hervor. 1. Wulfila, der schon seit 348 südlich der Donau in Niedermösien wohnte, soll noch zu Valens* Zeiten [364— 378] im Gotenlande nördlich der Donau ge­

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II, 41 «Diesem [Glaubensbekenntnis] stimmte auch Ulfilas, der Bischof der Goten, damals zuerst zu76. In früherer Zeit nämlich war er dem nicäischen Bekenntnis zugetan, dem Theophilos folgend, der als Bischof der Goten der Synode in Nicäa beiwohnte und mit unter­ schrieb 77.» IV, 33— 34 «Die Goten genannten Barbaren jenseits des Ister [Donau] erregten einen Krieg innerhalb ihres Stammes und teilten sich in zwei Parteien. Die eine führte Fritigern, die andere Athanarich. Als Athanarich sich als der mächtigere erweist, flüchtet Fritigern zu den Römern und ruft ihre Hilfe gegen den Widersacher an. Das wird dem Kaiser Valens gemeldet, und er befiehlt den in Thrakien stehenden Soldaten, den gegen Barbaren zu Felde ziehenden Barbaren zu helfen; und sie erringen einen Sieg über Athanarich jenseits des Ister und schlagen die Feinde in die Flucht. Dies wurde die Ursache dafür, daß viele der Barbaren Christen wurden. Fritigern nämlich, der für das, was er als Wohltaten empfangen, seinen Dank abstattete, nahm den Glauben des Kaisers an und ermahnte seine Untertanen, dasselbe zu tun. Deshalb sind auch bis jetzt die Goten meist zufällig des wirkt haben. 2. Wulfila, der Bischof der Goten, soll 360 unter Konstantius [337— 361] Arianer geworden sein, die Goten selbst aber erst unter Valens. 3. Besonders durch Ammianus Marcellinus wissen wir, daß ein Kampf der Römer unter Valens mit Athanarich 367— 369 nördlich der Donau stattfand, daß dieser Kampf aber nicht durch Fritigern veranlaßt war, daß vor allem Athanarich, mit dem der Kaiser sogar zum Friedensschluß auf der Donau Zusammenkommen mußte, nirgends darin geschlagen wurde. Aus sonstigen Quellen erfahren wir allerdings, daß bald nach diesem Kriege Athanarich die gotischen Christen ver­ folgte. Vgl. Bessell a. a. O. p. 78; G. Kaufmann: Zs. f. dtsch. Alt. 27, p. 249f.; L. Schmidt: Geschichte d. dtsch. Stämme I, p. 87ff. — Eine z. T. recht unge­ schickte Wiedergabe aus Sokrates ist der Ulfila-Bericht der Acta S. Nicetae [der hlg. Nicetas, ein unter Athanarich um 370 getöteter gotischer Märtyrer], der daher für die Geschichte des Gotenbischofs ohne selbständige Bedeutung ist. Vgl. G. Kaufmann a. a. O. p. 231— 237. 76 Gemeint ist das arianische Glaubensbekenntnis der Konstantinopeler Syn­ ode vom Jahre 360. 77 Unter den nicänischen Vätern, die das Symbolum Unterzeichneten, befand sich in der Tat ein Bischof Theophilus Gothiae. Sein Name steht in den Verzeich­ nissen der nicänischen Väter fast stets unmittelbar mit dem des Herrn [dominus] von Bosporus zusammen, der bald Cadmus, bald Cadamnus, bald Camdos u. ä. lautet. Der Sitz dieses Bischofs war also an der Krim, denn dies Bosporus ist die Residenz der bosporanischen Könige an der Mäotiseinfahrt. Cf. C. Müller: Zs. f. dtsch. Alt. 55, p. 114f.

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arianischen Glaubens, da sie damals durch den Kaiser diesem zuge­ führt wurden. Damals erfand auch Ulfilas, der Bischof der Goten, die gotischen Buchstaben und übersetzte die göttlichen Schriften in die Sprache der Goten und setzte die Barbaren instand, die gött­ lichen Worte kennenzulernen. Da aber Ulfilas nicht allein die Unter­ tanen Fritigerns, sondern auch die des Athanarich das Christentum lehrte, so zog Athanarich, weil die Religion der Väter dadurch ver­ letzt würde, viele der neuen Christen zur Strafe, so daß arianische Barbaren damals zu Märtyrern wurden. Arius aber, der gegen die Lehre des Sabellius78, des Libyers, keine Erwiderung Vorbringen konnte, war vom rechten Glauben abgefallen; er stellte das Dogma auf, Gott der Sohn sei später als Gott Vater. Die Barbaren, die in ihrer Einfalt das Christentum annahmen, verachteten um des Glau­ bens an Christum willen das diesseitige Leben. Soviel über die neuen Christen. Aber nicht lange hatten die Barbaren Freundschaft miteinander geschlossen; sie wurden wieder von andern barbarischen Nachbarn, den sogenannten Hunnen, besiegt und aus dem eigenen Lande ver­ trieben. Sie flüchteten auf das Gebiet der Römer und versprachen, dem Kaiser untertan zu sein und zu tun, was der römische Kaiser auftrage. Dies kam Valens zur Kenntnis. Und nichtsahnend befiehlt er, die Schutzflehenden sollten Mitleid finden; in diesem einen Fall zeigte er sich gerade mitleidig. Er grenzt ihnen also die Teile Thra­ kiens ab und glaubte, am besten hierbei gefahren zu sein. Er dachte nämlich, ein schlagfertiges und gerüstetes Heer gegen die Feinde erworben zu haben, und hoffte, Barbaren würden gefürchtetere Grenzwächter sein als Römer. Deshalb versäumte er den zweiten 78 Sabellius, der von Kirchenscliriftstellern des 4. Jhds. der Afrikaner oder Libyer genannt wird, wirkte seit etwa 215 als Haupt einer christlichen Richtung in Rom. Von hier aus scheint er auch nach seiner Ausstoßung aus der Kirche rege Wirksamkeit, namentlich nach dem Orient, entfaltet zu haben, wo der Sabellianismus seit etwa 230— 240 zu Kirchenspaltungen und heftigen dogma­ tischen Fehden Anlaß gab. Nach dieser Lehre ist Gott selbst in Christus ver­ körpert, dieser ist der leibhaftige Gott, der fleischgewordene Vater. Vater, Sohn und Hlg. Geist sind drei Namen desselben Wesens, das sich nacheinander in Gestalt des Vaters als Schöpfer und Gesetzgeber, in Gestalt des Sohnes .als Er­ löser und endlich und bis heute in Gestalt des Geistes als Lebendigmacher und Lebenspender offenbart hat. Die Sabellianer vertreten also streng die Wesens­ gleichheit und -einheit [δμοούσιος; daher auch Monarchianer genannt]. Gegen diese Anschauung, die den Personenunterschied in der Gottheit aufhob, wandten sich die Orthodoxen mit kaum geringerer Schärfe als die Arianer, die den Homöu­ sianern immer wieder den Vorwurf des Sabellianismus machten.

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Teil seiner Aufgabe [eig. den Rest], die römischen Soldaten zu ver­ mehren. Er sah auf die altgedienten Krieger, die rühmlich gegen die Feinde gekämpft hatten, verächtlich herab. In den Provinzen hatte jedes Dorf einen Soldaten ausrüsten müssen; diese Verpflich­ tung löste er mit einer Geldzahlung ab, und zwar ließ er den so Ver­ pflichteten für jeden Soldaten achtzig Goldmünzen abfordern; bisher hatte er diese Verpflichtung ihnen nicht erleichtert. Das war denn auch der Anfang davon, daß das römische Reich damals beinahe ins Unglück gestürzt wäre79.» ß) S o z o m e n o s Über das Leben des Sozomenos80 wissen wir nur, daß er ein Zeit­ genosse des Kaisers Theodosios II. [401— 450] gewesen ist, dem er seine Kirchengeschichte widmet, und daß er nach 439 gestorben sein muß. In Bethelia, einem Dorf bei Gaza in Palästina, wird er geboren sein. Jedenfalls lebten dort seine Großeltern, die, wie er erzählt, durch die von einem Mönch an einem Mitbürger vollzogene wunder­ bare Heilung zur christlichen Taufe bewogen wurden. In Bethelia mag er seine Jugend verbracht und unter mönchischer Leitung die erste Bildung erworben haben. Später wirkt er als Rechtsanwalt in Konstantinopel. W o er sich auf diesen Beruf vorbereitet hat, wissen wir nicht. Wohl aber können wir aus Schilderungen und Angaben in 79 Vgl. Ammianus Marcellinus [Buch 31, Kap. 4]: «Daher besetzten die Thervinger [Gotenstamm] unter Führung des Alaviv das Ufer der Donau und schick­ ten Gesandte zu Valens mit der demütigen Bitte, man möge sie doch aufnehmen: sie würden sich ganz ruhig verhalten und nötigenfalls Hilfstruppen stellen.» Bisher hatten die Römer den Nachrichten über flüchtende Germanenstämme wenig Beachtung geschenkt. «Aber man fing doch an, aufmerksamer zu werden, als die Gesandten mit der inständigen Bitte kamen, ihr heimatloses Volk dies­ seits des Flusses aufzunehmen. Doch freute man sich, anstatt sich zu fürchten: Die Schmeichler benutzten geschickt die Gelegenheit und priesen laut den Für­ sten, dem ein günstiges Geschick aus fernen Ländern, ohne daß er einen Finger zu rühren hatte, die Rekruten zustellte, durch deren Verbindung mit den heimi­ schen Kräften sein Heer unbezwinglich werden würde. Ferner könne man statt des Ersatzes, den die Provinzen jährlich zu stellen hatten, Geld fordern und so den Staatsschatz mit Gold füllen.» «Auf diese frohe Aussicht hin wurden sofort Leute kommandiert, das wilde Volk auf Schiffen überzusetzen. Man gab sich wahrhaft Mühe genug, ja keinen der künftigen Totengräber des römischen Reiches drüben zu lassen; selbst die Schwerkranken wurden sorgfältigst trans­ portiert. » 80 Vgl. G. Schoo: Die Quellen des Kirchenhistorikers Sozomenos. Berlin 1911, p. l f f .

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seinem Werke auf größere Reisen schließen. Sizilien, Rom, Jerusalem, Cypern u. a. kennt er offenbar aus eigener Anschauung. Seine Kirchen­ geschichte, die bis 425 reicht, ist nicht vollständig überliefert, da sie bis 439 führen sollte und wahrscheinlich doch vollendet war. Der Abschluß des Werkes fällt zwischen 439 und 450, in welchem Jahre Theodosios II. starb. Mit unermüdlichem Fleiß und Forschungseifer ist er an die Arbeit gegangen. Seine Übereinstimmung mit Sokrates, um derentwillen man ihn des Plagiats beschuldigt hat, kann sich auch aus Benutzung derselben Quellen erklären. Darüber hinaus hat er aber Quellen und Urkunden herangezogen, die jener ganz vernach­ lässigt hat. Freilich würde es ihm mehr zur Ehre gereicht haben, wenn er seine Gewährsmänner genannt hätte. Seine Darstellung ist im allgemeinen recht verständig, doch wie jede nicht frei von Irrtümern. Sie ist durchaus Kirchengeschichte, wenn auch der Verfasser hier und da, so namentlich im neunten Buch, sich in Profangeschichte verliert. Sein Werk ist ebenfalls eine Fortsetzung der Kirchengeschichte des Eusebios von Cäsarea von orthodoxem Standpunkte. Über Wulfila heißt es da [VI, 3 7]81: «Die Goten nämlich, die früher jenseits des Ister [Donau] wohnten und über die anderen Barbaren herrschten, wurden von den sogenann­ ten Hunnen vertrieben und setzten nach dem Gebiet der Römer über. Dieser Volksstamm war, so sagt man, vorher den Thrakern längs der Donau und den Goten selbst unbekannt. Sie wußten aber als Nach­ barn nichts voneinander, da ein sehr großer See in der Mitte lag. Alle glaubten nun, daß das von ihnen bewohnte Gebiet das Ende des festen Landes sei; dahinter beginne das Meer und unüberschreitbares Wasser. Nun traf es sich, daß ein wütender Stier den See durch­ eilte, und ein Rinderhirte folgte ihm. Als dieser das gegenüberliegende Land sah, meldete er es seinen Stammesgenossen. Andere dagegen erzählten, daß eine Hirschkuh auf ihrer Flucht einigen hunnischen Jägern diesen Weg zeigte, der auf seiner Oberfläche durch das Wasser 81 Vgl. G. Kaufmann [Zs. f. dtsch. Alt. 27, p. 226]: «Es kann kein Zweifel sein, daß Sokrates und Sozomenus in diesem Abschnitt auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen. Dagegen ist es ganz unmöglich, diesen Abschnitt des Sozomenus als einen durch willkürliche Zutaten veränderten Sokrates zu fassen. Wir dürfen ihre Angaben vereinigen und haben keinen Grund, eine Nachricht schon deshalb zu verwerfen, weil sie sich allein bei Sozomenus findet. Zunächst ist zu vermuten, daß er sie der gemeinsamen Quelle ent­ nahm. Ob und welche Nachrichten er aus anderen Quellen schöpfte, ist nicht zu entscheiden.»

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verdeckt war82. Diese seien dann umgekehrt, indem sie das Land bewunderten, das ein milderes Klima und guten Ackerboden hatte. Dann hätten sie dem Beherrscher des Stammes verkündet, was sie gesehen hatten. Kurz darauf sei es zum ersten Male zur Waffenprobe mit den Goten gekommen. Darauf seien sie in aller Eile zu Felde gezogen, hätten in einer Schlacht gesiegt und das ganze Land erhalten. Als sie verfolgt wurden, seien sie [die Goten] in das Gebiet der Römer hinüber gegangen. Als sie den Fluß überschritten hatten, hätten sie Gesandte zum Kaiser geschickt und versprochen, Bundesgenossen für die Folgezeit sein zu wollen. Auch hätten sie ihn gebeten, er möchte ihnen gestatten, sich anzusiedeln, wo er wolle. Diese Gesandtschaft habe Wulfila, der Bischof des Stammes, geführt. Als sie ihnen nach ihrem Wunsch verlief, sei ihnen gestattet worden, sich in Thrakien anzusiedeln83*8 . Nicht viel später aber hätten sie einen Bruderkrieg 82 Die den Hunnen den Weg weisende Hirschkuh findet sich auch bei Jordanes [Kap. 24], der sich dafür auf Priskus beruft. Sozomenos und Jordanes schöpfen offenbar aus derselben Quelle. Bei Jordanes heißt es: «Diese Hunnen also, von solchem Ursprung, näherten sich dem Gebiet der Goten. Ihr wilder Stamm saß, nach dem Bericht des Geschichtsschreibers Priskus, auf der jenseitigen Küste des Mäotischen Sumpfmeeres, ohne irgendeine Beschäftigung zu kennen außer der Jagd; nur daß sie, nachdem sie zu einem Volk herangewachsen waren, die Rodle ihrer Nachbarvölker durch Raub und Hinterlist beeinträchtigten. Als — wie es so geht — Männer von diesem Volk auf die Jagd auszogen an der inneren Küste der Mäotis [westl. Küstenrand der Krim ?], bemerkten sie, wie unversehens ihnen eine Hindin sich zeigte, die in den Sumpf ging und bald weiterschreitend, dann wieder haltend, ihnen den Wegweiser machte. Die Jäger folgten ihr und gingen zu Fuß durch das Mäotische Sumpfmeer, das sie bisher wie ein wirkliches Meer für undurchgänglich gehalten hatten. Bald auch, als skythischer Boden den Landfremden vor Augen lag, verschwand die Hindin. Dies hatten meiner Mei­ nung nach jene Geister, von denen sie entsprossen sind, aus Feindschaft gegen die Skythen getan. Jene Hunnen aber, die bisher nicht gewußt, daß es noch eine andere Welt gebe außer der Mäotischen, wurden von Bewunderung über das skythische Land ergriffen, und, scharfsinnig wie sie sind, meinten sie, dieser niemanden vorher bekannte Weg sei ihnen durch göttliche Fügung gezeigt worden. Sie kehrten zu den Ihrigen zurück, berichteten ihnen den Verlauf der Sache, rühmten Skythien, überredeten ihr Volk und eilten auf dem Weg, den sie unter der Führung der Hindin kennengelernt hatten, nach Skythien, brachten alle, denen sie beim Zug nach Skythien begegneten, als Siegesopfer dar, die übrigen unterwarfen sie.» 88 Als 376 die Hunnen auf die Westgoten in Dakien heranstürmten, wurde Athanarich zum Führer des ganzen Volkes gewählt. Als er aber geschlagen wurde, folgte die Masse des Volkes den Häuptlingen Fritigern und Alaviv, ließ sich von ihnen über die Donau führen und bat Kaiser Valens um die Erlaubnis, den Strom zu überschreiten. Es ist möglich, daß der seit seinem Zwist mit Atha­ narich [ca. 365] arianische Fritigern sich des bereits [seit 348] auf römischem

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erregt und sich in zwei Parteien gespalten. Die eine führte Athanarich, die andere Fritigern84. Als sie sich aber gegenseitig bekriegten, hatte Fritigern in der Schlacht Unglück und bat die Römer um Hilfe. Der Kaiser befahl den in Thrakien stehenden Soldaten, Hilfe zu leisten und Waffenfreundschaft zu gewähren. Im darauffolgenden Kampfe siegte Fritigern und schlug die Anhänger des Athanarich in die Flucht. Da er Valens den Dank abstatten wollte und für immer sein Freund zu sein versprach, schloß er sich dessen Bekenntnis an. Auch die ihm untergebenen Barbaren überredete er dazu. Ich glaube aber nicht, daß das allein die Ursache war, daß noch jetzt der ganze Volksstamm der Lehre des Arius anhängt. Jedoch auch Wulfila, ihr damaliger Bischof, wich anfangs nicht vom katholischen Glauben ab. Er nahm zwar unter der Regierung des Kaisers Konstantius mit denen um Eudoxios und Akakios85 an der Synode in Konstantinopel teil86, aber, wie ich glaube, nur unbesonnenerweise; denn er blieb auch ferner in Kirchengemeinschaft mit den in Nicäa zusammen-*8 5 4 Boden, in Niedermösien, ansässigen Gotenbischofs bediente, um seine Bitte dem arianischen Kaiser Valens vorzutragen. Mit dem ihm verbliebenen kleineren Teil der Goten behauptete sich Athanarich im siebenbürgischen Hochland gegen die Hunnen. Später [380] wurde er von einem zurückkehrenden Teil der über die Donau gewanderten Goten — ob unter Fritigerns Führung, wird nicht gesagt — aus seinen Sitzen vertrieben. Hilfesuchend fand er mit seinem Gefolge Zuflucht bei Kaiser Theodosius in Konstantinopel, wo er bald nach seiner An­ kunft starb [ f 25. Januar 381]. 84 Der Streit zwischen Athanarich und Fritigern fand aber vor, nicht nach dem durch die Hunnen veranlaßten Donauübergang von 376 statt, zwischen 365 und 370. Athanarich kam erst Anfang 381, kurz vor seinem Tode, über die Donau zu Kaiser Theodosius, und zwar als Hilfeflehender [ικέτης], nicht als siegreicher Häuptling. Er traf am 11. Jan. 381 in Konstantinopel ein, wo er am 25. Jan. 381 starb. Der Kampf kann also nicht in Thrakien stattgefunden haben. Vgl. Bessell a. a. O. p. 77; G. Kaufmann: Zs. f. dtsch. Alt. 27, p. 226, p. 251. 85 Akakios von Cäsarea, Schüler und Nachfolger Eusebs auf dem Bischofssitz zu Cäsarea, den er ca. 340— 366 innehatte. Wenn auch nicht in dem Maße wie sein Vorgänger hat er doch auf kirchenpolitischem Gebiet eine bedeutsame Rolle gespielt und zeitweise großen Einfluß besessen. Gleich seinem Lehrer gehörte er zu den Freunden des Eusebius von Nikomedien []* 341 oder Anf. 342] und war unter Kaiser Konstantius [337— 361] der Hauptvertreter des Homöismus im Orient. Unter Julian Apostatas [361— 363] Nachfolger Jovian [363— 364] nahm er auf der antiochenischen Synode des Jahres 363 das Nicänum an, um unter Valens [364— 378] wieder zum Arianismus überzugehen. Deshalb erklärte ihn die homousianische Synode zu Lampsakus [am Hellespont] im Jahre 365 für abge­ setzt. Auf die Gesinnung des Mannes wirft dieser Wankelmut starken Schatten. 88 Von der Teilnahme Wulfilas an der von Eudoxios und Akakios geleiteten Arianersynode von 360 berichtet auch Sokrates [s. o.].

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gekommenen Bischöfen. Als er aber nach Konstantinopel kam, soll er, als die Häupter der arianischen Sekte mit ihm über das Dogma sprachen und ihm zusagten, seine Gesandtschaft beim Kaiser zu unterstützen, wenn er ihnen gleich glaube — sei es nun, daß er von der Not dazu gezwungen wurde oder daß er in Wahrheit überzeugt war, daß es besser sei, so von Gott zu denken — in Kirchengemein­ schaft mit den Arianern eingetreten sein und sich selbst und das ganze Volk von der katholischen Kirche abtrünnig gemacht haben. Die Goten87 nämlich, die von ihm als ihrem Lehrer im Glauben unterrichtet und durch ihn zu einer milderen Lebensweise bewogen waren, folgten ihm leicht in allen Stücken, überzeugt, daß nichts von dem, was er sagte oder täte, schlecht sei und daß denen, die ihm nacheiferten, alles zum Guten ausschlüge. In der Tat hatte er viele Proben seiner Tugend abgelegt, unzählige Gefahren seines Glaubens wegen bestanden, als jene Barbaren noch dem heidnischen Dienst ergeben waren. Er wurde ihnen auch der erste Erfinder der Buch­ staben und übersetzte die hlg. Bücher in die heimische Sprache. Das ist denn der Grund, weshalb fast alle am Ister [Donau] wohnenden Barbaren der Lehre des Arius anhängen. Zu jener Zeit aber wurde eine Menge der Untertanen Fritigerns als Zeugen für Chi istum ge­ tötet; denn Athanarich, darüber, daß auch seine Untertanen von Wulfila bekehrt seien, erzürnt, weil am väterlichen Glauben geneuert würde, zog viele auf verschiedene Weise zur Strafe. Und die einen zog er zur Rechenschaft, diese aber setzten sich tapfer für ihren Glau­ ben ein; die andern aber, die er nicht an der Rede teilnehmen ließ [denen er keine Redefreiheit gewährte], ließ er umbringen. Es wird erzählt, daß ein Götzenbild auf einen Wagen gestellt wurde. Sie [Leute] wurden von Athanarich beauftragt, dies zu tun, indem sie zu jedem Kirchenzelt88 derer zogen, die ihm als Christen gemeldet waren; sie befahlen, dieses [Götzenbild] anzubeten und ihm zu opfern.8 7 87 Vgl. G. Kaufmann [Z. f. dtsch. Alt. 27, p. 227]: «In diesem Stück [bis 'anhängen’ ] ist der Bericht des Sozomenus offenbar weit besser als der des Sokrates. Wir müssen ihm dankbar sein, daß er uns trotz seines sonstigen ortho­ doxen Eifers ein so lebhaftes Zeugnis von der stillen Größe des in allen Gefahren treu erfundenen Arianers erhalten hat.» 88 Die Behausungen der Goten waren rohe Hütten, vielfach noch Zelte. Wie früher der Zeltwagen [plaustrum] das Haus der wandernden Goten abgab, so diente er den gotischen Christen anfangs auch als Kirche. Überhaupt hat man sich Gemeindebildung, Gottesdienst, Liturgie der Goten in ihrer Sprache — ihr dienten ja auch die Leseabschnitte der got. Bibel — sehr einfach und ursprüng­ lich zu denken. Vgl. G. Kaufmann a. a. O. p. 249; C. Müller: Zs. f. dtsch. Alt. 55, p. 114.

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Sie verbrannten aber mitsamt den Menschen die Zelte derer, die sich weigerten. Ich erfuhr, daß sich damals noch ein anderes, traurigeres Ereignis zugetragen habe. Viele nämlich widersetzten sich der Gewalt derer, die zum Opfern zwingen wollten, und so flohen Männer und Frauen, von denen die einen Kinder mitbrachten, die anderen ihre eben geborenen Kinder an der Brust nährten, in das Zelt der dortigen Gemeinde. Die Heiden legten Feuer an, und alle kamen um 89. Aber nicht lange waren die Goten untereinander einig; sie ließen sich zur Tollkühnheit hinreißen, belästigten die Thraker und verwüsteten deren Städte und Dörfer.» γ) T h e o d o r e t Um 393 geboren, wuchs Theodoret90 in Antiochien heran. Es war die Zeit, da Syrien von stark asketischem Geiste erfüllt war, der auch im Elternhaus des Knaben und Jünglings herrschte. Früh wurde er von den gläubigen Eltern dem Dienst des Herrn geweiht. Nichts galt dem in Antiochien sich heranbildenden Jüngling höherer Be­ wunderung wert als die standhaften Verfechter des orthodoxen Glaubens. Als Bischof [seit etwa 423] von Kyrrhos bei Antiochien erblickte dieser ehemalige Mönch eine wesentliche Aufgabe darin, die Ketzereien der Eunomianer, Arianer u. a. auszurotten, und in heiligem Fieberwahn sah er sein Wirken von Visionen und Wundern begleitet. In den christologischen Kämpfen seiner Zeit spielte Theodoret eine bedeutende Rolle. Er zog sich die Ungunst des Kaisers Theodosios II. [401— 450] zu und wurde auf dem Konzil zu Ephesos [449] ohne Verhör abgesetzt. Erst nach des Kaisers Tode [450] konnte Theodoret seinen Bischofsstuhl wieder einnehmen. Er starb um 457. In mönchischer Stille scheint Theodoret nach seiner Absetzung in Jahresfrist [449— 450] seine Kirchengeschichte verfaßt zu haben. Sie ist das Werk eines orthodoxen Geistlichen, der in seinem Ketzer­ haß nur ein Zerrbild der Glaubensgegner bieten konnte. Nach seinem Bericht wird Arius, der alexandrinische Presbyter, bloß aus Neid gegen seinen Erzbischof Alexander zum Ketzer. Der antiochenische Bischof Stephanus, in dem er einen versteckten Arianer wittert, wird von Theodoret des Ränkespiels und der Schamlosigkeit bezichtigt. 89 Nach G. Kaufmann [a. a. O. p. 238] ließe sich darauf die Angabe des got. Festkalenders beziehen, daß die beiden Priester Verekan und Batvin mit vielen ihrer Gemeindegenossen verbrannt wurden. Jedenfalls aber handelt es sich auch hier um arianische Märtyrer. 90 Vgl. L. Parmentier: Theodoret. Kirchengeschichte. Leipzig 1911.

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Dem offenen Arianer Eudoxios, dem er für die Ausbreitung der Ketzerei eine besonders zweideutige Rolle zuschreibt, sagt er sybaritische Üppigkeit und Thronräuberei nach. Der «Irrwahn» des Aétios und seines Schülers Eunomios wird an den Pranger gestellt und beiden ein Schmeichlerleben am antiochenischen Hofe des Eudoxios zum Vorwurf gemacht. Selbst Wulfila, dessen angeblicher Übertritt vom orthodoxen zum arianischen Glauben von Sokrates und Sozomenos doch ohne den Verdacht rein persönlicher Gründe berichtet wird, erscheint diesem Fanatiker als ein gemeiner Kuppler, der das ihm anvertraute Volk aus schnöder Gewinnsucht der Ketzerei überliefert. Von Eudoxios überredet und mit Geschenken bestochen, habe Wulfila die ihm blind folgenden Goten bewogen, den wahren Glauben, dem sie seit ihrer Bekehrung angehangen, gegen die arianische Irrlehre aufzugeben. Dem eigennützigen Verführungswerk Wulfilas stellt Theodoret rühmend die Versuche gegenüber, die Johannes Chrysostomos unternahm, um die Goten in Konstantinopel wie an der Donau auf dem Wege der Mission der orthodoxen Kirche zu gewinnen. Die Stelle über Wulfila [IV, 37] lautet: «Ich aber halte es für wichtig, die Nichtwissenden darüber zu unter­ richten, wie diese Barbaren den arianischen Wahnsinn [oder: die arianische Seuche] angenommen haben. Als die Goten, über den Ister [Donau] setzend, mit Valens Frieden schlossen, schlug der verabscheuungswürdige Eudoxios dem Kaiser vor, die Goten zum Übertritt zu seinem Glauben zu überreden; denn diese, die schon längst zur Gotteserkenntnis gelangt waren, hielten an der apostolischen Lehre fest. Eudoxios meinte aber, daß eine gemeinsame Konfession den Frieden mehr befestige. Valens billigte diese Ansicht und schlug den Anführern der Goten den Übertritt vor. Diese wollten aber die Lehre ihrer Väter nicht aufgeben. Zu jener Zeit war Ulfilas ihr Bischof, dem sie sehr zugetan waren und dessen Worte sie für unverrückbare Gesetze hielten. Diesen bewog nun Eudoxios mit Worten und Ge­ schenken, daß er die Barbaren zur Annahme der Konfession des Kaisers überrede. Er überredete sie aber dadurch, daß er sagte, der Streit beruhe nur auf Ehrgeiz, in der Lehre sei kein Unterschied. Deswegen sagen die Goten bis auf den heutigen Tag, daß der Vater größer sei als der Sohn, aber sie halten den Sohn für keine Kreatur01, obgleich sie mit denen Gemeinschaft halten, die das sagen. Aber9 1 91 D. h. sie gehörten nicht der radikalen Richtung der Arianer, den Anomoiern, an, die lehrten, der Sohn sei dem Vater ganz unähnlich, überhaupt nicht Gott, sondern Geschöpf wie alle andern.

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dennoch verließen sie nicht gänzlich die väterliche Lehre; denn Ulfilas hatte sie dadurch überredet, mit Eudoxios und Valens in Kirchengemeinschaft zu treten, daß er sagte, in den Dogmen sei kein Unterschied, sondern nichtige Zwietracht habe den Streit ver­ ursacht92.» δ) J o r d a n e s In seiner Gotengeschichte [Kap. 51] berichtet Jordanes93: «Es gab auch noch andere Goten, die sog. Kleingoten [Gothi minores], ein unzähliges94 Volk. Ihr Priester und oberster Bischof war Vulfila, der ihnen auch die Buchstaben erfunden haben soll. Heutzutage bewohnen sie in Mösien die Gegend von Nikopolis am Fuß des Hämusgebirges, ein zahlreiches, aber armes und unkrie­ gerisches Volk, das an nichts reich ist als an Herden aller Art, an Triften für das Vieh und an Holz im W ald; das Land hat wenig Weizen, ist aber reich an anderen Fruchtarten. Von Weinpflanzungen aber wissen sie nicht einmal, daß es anderswo solche gibt, und sie kaufen sich den Wein aus der Nachbarschaft. Meistens aber trinken sie Milch.» ε) I s i d o r v o n S e v i l l a Isidor95, geb. zu Cartagena, wurde 594 Bischof von Sevilla und starb 636. Neben theologischen und sprachlich-grammatischen Werken gab er mehrere geschichtliche Schriften heraus, die trotz ihres z. T. kompilatorischen Charakters doch recht wertvoll, ja unentbehrlich sind. Zu nennen wäre da seine Weltchronik [bis 627 n. Chr.] und vor allem die bis 624 reichende Königsgeschichte der Goten, Vandalen und Sueven [Historia de regibus Gotorum, Vandalorum et Suevorum], der unser Abschnitt über Wulfila entnommen ist96. 92 Nach Theodoret wären also die Goten bis zum Vertrage mit Valens 376 orthodox gewesen. Aber Eudoxios starb bereits 370, kann also nicht 376 Wulfila beredet haben. Der ganze Bericht trägt den Charakter der Verleumdung. Wie bei Sozomenos wird auch hier der Übertritt der Goten zum Arianismus irrtümlich mit dem Donauübergang von 376 verbunden. Daß der Streit über die Person Christi für Wulfila kein bloßer Wortstreit war, ergibt sich daraus, daß diese Frage den Kernpunkt seiner Lehre bildete. Vgl. G. Kaufmann: Zs. f. dtsch. Alt. 27, p. 231. 98 Vgl. Fußnote 7. 94 Natürlich Übertreibung. 95 Vgl. K. Hampe in Hoops* Reallexikon s. v. Isidor von Sevilla. 98 Text mit Ergänzungen aus der Weltchronik wie in Streitbergs Got. Bibel.

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«Damals schuf Gulfilas, ihr Bischof, die gotischen Buchstaben und übertrug die Schriften des Neuen und Alten Testaments in dieselbe Sprache. Sobald aber die Goten die Buchstaben und das Gesetz hatten, gründeten sie sich sogleich Kirchen seiner Lehre, und zwar vertraten sie, Arius gemäß, über die Gottheit solche Lehren, daß sie glaubten, der Sohn sei geringer an Majestät als der Vater, an Ewig­ keit später, der Hlg. Geist aber sei weder Gott noch bestehe er aus der Substanz des Vaters, sondern sei vom Sohn geschaffen und dem Dienste beider ergeben und der Folgsamkeit gegen beide unterworfen. Sie behaupten auch, daß die Person und die Natur des Vaters eine andere sei, eine andere die des Sohnes, eine andere endlich die des Hlg. Geistes, so daß also nicht gemäß der Überlieferung der Hlg. Schrift ein Gott und Herr verehrt wurde, sondern nach dem Aber­ glauben des Götzendienstes drei Götter verehrt wurden.» ζ) W a l a h f r i d S t r a b o Walahfrid Strabo ['der Schieler’ ], feinsinnig als Gelehrter und Lateindichter ö7, wurde um 808 geboren, kam als Knabe ins Reichenauer Kloster, wurde dann in Fulda Schüler des Hrabanus Maurus und nach Abschluß seiner Studien Lehrer Karls des Kahlen am Hofe Ludwigs des Frommen. Im Jahre 839 wurde er Abt im heimatlichen Kloster Reichenau, wo er im Sinne seines Lehrers die Klosterschule ein­ richtete. Er starb 849. Als Theologe und Kirchenschriftsteller, wie überhaupt als Gelehrter, genoß er hohes Ansehen. In seinem «Büchlein über Anfänge und Wachstum gewisser kirch­ licher Bräuche» [Libellus de exordiis et incrementis quarundam in observationibus ecclesiasticis rerum, Kap. 7] heißt es9 98: 7 «Wenn aber gefragt wird, wodurch diese Spuren des Griechentums zu [auf] uns gekommen sind, so ist zu sagen, daß sowohl die Barbaren im römischen Staat als Soldaten gedient haben als auch daß viele der griechischen und lateinischen Rede kundige Prediger gekommen sind, um unter jenen Bestien mit den Irrtümern zu kämpfen, und daß die Unsern viel für diese Dinge Nützliches, das sie früher nicht gekannt hatten, gelernt haben, und besonders von den Goten, die auch Geten heißen, da sie zu der Zeit, wo sie auf allerdings nicht rechtem Wege zum Glauben Christi geführt worden sind, in den 97 Uber Walahfrid als Dichter vgl. P. v. Winterfeld: Deutsche Dichter des lat. Mittelalters2, München 1917, p. 403ff. 98 Walahfrids Zeugnis hat natürlich nicht Quellenwert, ist aber doch beacht­ lich.

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Provinzen der Griechen [d. h. auf oströmischem Boden] ansässig, unsere d. h. die volkstümliche Predigt hatten; und wie die Geschichts­ bücher [Cassiodor, Isidor] bezeugen, haben späterhin Gelehrte jenes V olk es" die göttlichen Bücher in die Eigenart seiner Rede übertragen, wovon Urkunden noch bis heute bei manchen aufbewahrt werden.»

b) Sein Leben und seine Lehre 1. Sein Leben Unter kritischer Benutzung dieser Quellen9 100, deren wichtigste 9 Auxentius und Philostorgios darstellen, ergibt sich für Wulfilas Leben und Wirken folgendes Bild: Seine Vorfahren wurden aus dem Dorfe Sadagolthina, bei Parnassos in Kappadokien, durch eingefallene Goten aus Gefangene entführt. Daß Wulfilas Großeltern Christen waren, geht aus der PhilostorgiosStelle nicht deutlich hervor101, ist aber möglich. Woher kamen diese Goten? Nach Philostorgios waren es jenseits des Ister wohnende Skythen102*, also Donaugoten, die zur Zeit des Valerian und Gallien [264] in Kleinasien einfielen. Man hat gemeint, daß Donaugoten nicht bis Kappadokien gestreift seien und es deshalb Krimgoten gewesen sein müßten. Doch läßt sich die Angabe des Philostorgios nicht ohne weiters abweisen, da er als Kappadokier doch darüber Bescheid wußte, später auch nachweislich Beziehungen zwischen den christlichen Donaugoten und der Kirche Kappadokiens bestan­ den108 und wir überhaupt über die Gotenzüge des 3. Jhds. schlecht unterrichtet sind104*. Daß es Krimgoten gewesen seien, hat man auch 99 Seltsam, wenn auch ohne Belang, daß er Wulfila nicht nennt. 100 Vgl. G. Kaufmann: Kritische Untersuchung der Quellen zur Geschichte Ulfilas. Zs. f. dtsch. Alt. 27, p. 193ff. C. Müller: Ulfilas Ende. Zs. f. dtsch. Alt. 55, p. 76ff. Verfehlt: W. Luft: Die arianischen Quellen über Wulfila. Zs. f. dtsch. Alt. 42, p. 291 ff. 101 Dort heißt es nur, daß sich unter den asiatischen Gefangenen viele Christen, auch Geistliche, befanden, welche die heidnischen Goten später zum Christentum bekehrten. Übrigens gibt auch Basilius d. Gr. [ep. 164] an, daß der Same des Christentums von Kappadokien zu den Goten gelangt sei; vgl. L. Schmidt: Gesch. d. dtsch. Stämme I, p. 90. 102 Als Skythen werden von griech. und lat. Geschichtsschreibern die Völker nördlich der Donau bezeichnet, insbesondere Bastarner, Daker, Goten. Vgl. L. Schmidt a. a. O. p. 55. 108 Vgl. L. Schmidt a. a. O. p. 90. 104 Vgl. G. Kaufmann a. a. O. p. 217. P l a t e , Geschichte der gotischen Literatur. 4

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daraus schließen wollen, daß nach orthodoxer Überlieferung [Sokr.] der orthodoxe Bischof Theophilos an der Mäotis, der 325 das Bekennt­ nis von Nicäa als Metropolit von Gotien unterschrieb, der erste Lehrer und Erzieher Ulfilas gewesen sei105. Es fragt sich aber, ob die Nach­ richt von dessen ursprünglicher Rechtgläubigkeit überhaupt Glauben verdient106. Wulfilas Großeltern waren also Kappadokier. Er selbst ist schon unter Goten auf gewachsen und trägt auch einen gotischen Namen107. Sein Vater dürfte somit Gote, die Mutter kappadokische Griechin gewesen sein108. Durch Elternhaus und Klerus ist Wulfila in schlich­ tem, frommem Bibelchristentum erzogen. So wurde er bis zum Lektor in seiner gotischen Heimatgemeinde vorgebildet. Als solcher hatte er beim Gottesdienst die Bibel vorzulesen und für die des Griechischen Unkundigen auch zu übersetzen und zu erläutern. Bald lenkte sich der Blick des Gotenkönigs auf den jungen, begabten Mann, der drei Sprachen, Griechisch, Lateinisch, Gotisch, beherrschte, und so schickte er ihn — vielleicht als schreibkundigen Dolmetscher — ι°δ Ygi c . Müller a. a. O. p. 114f., nach dem auch die Gesandtschaft, zu der Wulfila gehörte, von dem Ostgotenkönig nach Konstantinopel geschickt wäre. Nach anderer Ansicht [L. Schmidt a. a. O. p. 69, 91] handelt es sich um den Herrscher der Westgoten, die 332 von Konstantin entscheidend geschlagen und zum Frieden gezwungen waren. Die kappadokischen Gefangenen der Krimgoten wären auf dem Wege des Sklavenhandels zu den Donaugoten gelangt. 106 Jedenfalls könnte sie nur für die Jugend Wulfilas zutreffen. Keineswegs könnte dieser sich erst 360 auf dem Konzil zu Konstantinopel dem Arianismus angeschlossen haben, wie Sokrates und Sozomenos berichten, da er bereits 341 arianischer Bischof war. 107 Überliefert ist der Name als Ούλφίλας [Sokr. Soz. Theod.], Ούρφίλας [Philost.], Ulfila [Aux.], Vulfila [Jordanes], Vulphilas [Cassiodor], Gulfila, Gylfila [Isidor]. Als gotische Formen kommen Ulfila und Wulfila in Betracht. Beides sind Kurz- und Koseformen [‘Wölflein’ ] eines mit got. wulfs ‘Wolf* zusammengesetzten Vollnamens. Häufiger als im ersten [Wolfgang] kommt W olf im zweiten Teil von Namen vor [Adolf, Rudolf, Gangolf u. a.], wo es den wAnlaut verliert [got. Atha-ulf 'Adolf*]. Daher wird Ulfila wohl die ursprüngliche Form sein, wie denn auch des Bischofs Schüler Auxentius ihn nur so nennt, obwohl er lateinisch doch auch hätte Vulfila schreiben können. Die Form Wulfila ist offenbar die jüngere, die wieder Anlehnung an wulf zeigt. Auf ihr beruht Isidors Gulfila mit romanisiertem Anlaut [vgl. Wilhelm > frz. Guillaume]. Griech. Ούρφίλας erklärt sich durch Dissimilation. 108 Ein solcher Mischling war auch Bischof Selenas, der Gehilfe und Nach­ folger des Ulfila. Er war von väterlicher Seite Gote, von mütterlicher Phrygier. Die Phrygier waren die Nachbarn der Kappadokier. Von Selenas berichten Sokr. [V, 23] und Sozom. [V II, 17].

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mit einer Gesandtschaft nach Konstantinopel, an den Hof Kaiser Konstantins [ f 337], Hier, in der Hauptstadt, kam Wulfila zum erstenmal in Berührung mit dem politischen und kirchlichen Treiben und insbesondere mit dem arianischen Lehrstreit, der alle Gemüter bewegte. Das Haupt der arianischen Partei war damals Eusebios, Bischof von Nikomedien, der als Vertrauter Kaiser Konstantins und [seit 338] als Patriarch von Konstantinopel den Arianismus zur Staatskirche auszubauen suchte. Durch ihn wurde, wie Auxentius und Philostorgios berichten, Wulfila mit 30 Jahren vom Lektor zum Bischof der christlichen Goten geweiht. So war Wulfila Arianer, Anhänger des Eusebios, ge­ worden und ist es seitdem bis an sein Lebensende geblieben, wie sein uns von Auxentius überliefertes letztes Glaubensbekenntnis beweist. Nach wenigen Jahren der Vorbereitung war der junge «Griechen­ gote» von seiner niederen Kirchenstellung als Vorleser sofort zur höchsten emporgestiegen, ohne je Diakon und Presbyter gewesen zu sein. Diese ungewöhnliche Laufbahn erklärt sich gewiß aus dem Wunsche Ostroms, die Goten im Westen zum Christentum und zwar zum arianischen zu bekehren. Christen gab es dort bereits, wohl meist orthodoxe, aber noch keinen Bischof. Wulfila sollte hier Führer und Mehrer des Arianismus werden. Wann und wo geschah die Bischofsweihe? Jedenfalls vor Eusebios5 Tode, der Ende 341 oder Anfang 342 starb. So dürfte Wulfila im Herbst 341 auf der Arianersynode zu Antiochia [die sich außer mit dogmatischen Dingen auch mit der Mission umliegender Barbaren beschäftigte] durch Eusebios in Gegenwart des Kaisers Konstantius zum gotischen Missionsbischof erhoben worden sein. Da er nach Auxentius damals 30 Jahre alt war, so wurde er 311 geboren. Sieben Jahre hat er dann nach seiner Bischofsweihe als Bekehrer der Westgoten Athanarichs nördlich der Donau gewirkt. Blutige Glaubensverfolgungen zwangen ihn [348/9], sich mit seiner Arianer­ gemeinde auf römischen Boden zu retten. Kaiser Konstantius wies den Flüchtlingen Wohnsitze in Niedermösien, zwischen Balkan und Donau, an, wo noch Jordanes sie als friedliche Ackerbauern unter dem Namen Kleingoten [Gothi minores] kennt100.1 9 0 109 Auch Walahfrid Strabo [808— 849] hat noch Kunde von gotischem Gottes­ dienst in der Gegend von Tomi. In seinem Libellus de exordiis etc., Kap. 7, heißt es: «Gothi in Graecorum provinciis commorantes nostrum i. e. theotiscum ser­ monem habuerunt», d. h. «Die im oströmischen Reich ansässigen Goten hatten unsere, d. h. volksmäßige Predigt.» S. o.

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Mit voller Hingebung widmete Wulfila sich seiner Gemeinde, die ihm durch größtes Vertrauen und grenzenlose Verehrung seine Liebe vergalt. Zur Stärkung und Klärung ihres Glaubens war er durch W ort und Schrift unermüdlich tätig. Er schrieb und predigte in drei Sprachen [got., griech., lat.], erfand seinem Volke die Buchstaben1101 und vollbrachte die gewaltige Arbeit der Bibelübersetzung. Mit väterlicher Sorge widmete er sich besonders der Erziehung und Aus­ bildung der Jugend, und mancher Schüler wird ihm ähnliche Anhäng­ lichkeit bewahrt haben, wie Auxentius, der Bischof von Durostorumm . Sicherlich hat Wulfila bei so hingebender und vielseitiger Tätigkeit kaum Zeit gefunden, sich im kirchlichen Parteikampf führend hervor­ zutun. Aber dem Arianertum ist er stets treu geblieben und hat es auf dem Konzil zu Konstantinopel 360 auch zum Ausdruck gebracht, indem er das arianische Glaubensbekenntnis mitunterzeichnete [Sokr. Soz.]. 33 Jahre hat er, nach Auxentius, als treuer Seelenhirte, nach Jor­ danes auch als Richter [Primas], d. h. als weltliches Oberhaupt112 seiner Gemeinde in Niedermösien gewirkt. Noch einmal rief ihn ein Ereignis auf, sein Missionswerk unter den Goten fortzusetzen. Um 365 brach ein Zwist aus zwischen den nördlich der Donau gebietenden Gotenhäuptlingen Fritigern und Athanarich. Fritigern floh über die Donau auf römisches Gebiet, erbat und erhielt Hilfe von Kaiser Valens [364— 378], besiegte Athanarich und wurde zum Dank dafür Christ und zwar Arianer wie der Kaiser. Bei der Bekehrung von Fritigerns Anhängern soll Wulfila tatkräftig mitgewirkt und durch Übergriffe in Athanarichs Gebiet blutige Verfolgungen hervorgerufen haben [Sokr. Soz.]. Tatsächlich haben im Gotenland nördlich der 110 Vorher kannten die Goten nur die Runenschrift, die sie als erste unter allen Germanen anwandten und am Schwarzen Meer [um 200 n. Chr.] aus den griech. und lat. Alphabeten schufen. Naturgemäß eignete sich die Runenschrift nur für kurze Aufzeichnungen [Wörter und einzelne Sätze], nicht für längere Texte. Die Runen dienten außer zu Inschriften heidnischem Kult hauptsächlich zu magischen Zwecken. Beides, die Ungeeignetheit für fortlaufende Schrift und ihr magischer Charakter, wird Wulfila bewogen haben, für seine umfassenderen und christlichen Zwecke ein neues Alphabet zu schaffen. Er lehnte sich dabei haupt­ sächlich an das griechische Alphabet an, entnahm aber auch dem lateinischen und dem Runenalphabet mehrere Zeichen. Vgl. O. v. Friesen in Hoops* Reallex. s. v. Gotische Schrift und Runenschrift. 111 So und nicht Dorostorum oder Dorostorus wird der Ort geheißen haben; vgl. C. Müller a. a. O. p. 76. 112 Vgl. H. v. Schubert: Staat und Kirche in den arianischen Königreichen. München 1912, p. 49.

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Donau von 369— 372 große Christenverfolgungen stattgefunden, von denen Arianer wie Orthodoxe in gleicher Weise betroffen worden sind. Rühmend wird auch von orthodoxen Kirchengeschichtsschreibem [Sokr. Soz.] hervorgehoben, daß die bekehrten Arianer freudig ihr Leben für ihren Glauben hingaben. So war das Leben des Gotenbischofs ausgefüllt von stiller Tätig­ keit und mancherlei Kämpfen. Am Ende seines Lebens sah er sich noch einmal gezwungen, mit seiner ganzen Persönlichkeit für seinen arianischen Glauben einzutreten. Es war eine Zeit schärfsten Kampfes zwischen Orthodoxen und Arianern. Auf dem Konzil zu Aquileja [3. Sept. 381] waren die illyrischen Bischöfe Palladius von Ratiaria und Secundianus auf Betreiben des Bischofs Ambrosius von Mailand wegen Ketzerei ihres Amtes entsetzt worden. Sie reisten dann, so berichtet die Randschrift, mit Wulfila an den Hof des Kaisers Theodosios, um ein neues Konzil zu erbitten. Ihr Wunsch wurde erfüllt, der Kaiser sagte ihnen das Konzil zu. Vierzig volle Jahre war Wulfila jetzt Bischof seiner Goten [Aux.]. Da berief ihn Anfang 382 der Kaiser zu einem Religionsgespräch nach Konstantinopel. Gegen wen Wulfila die Disputation durchführen sollte, läßt der an dieser Stelle zerstörte Text der Randschrift nicht mehr erkennen113. Der greise Kirchenfürst folgte dem Rufe, trotz aller Beschwerden des Alters und der winterlichen Jahreszeit. Aus Furcht vor einer Niederlage suchten die Orthodoxen das vom Kaiser unlängst verheißene Konzil zu hintertreiben. Diese Machenschaften und die Anstrengungen der Reise warfen Wulfila aufs Krankenlager. Bald darauf [Anf. 382] starb er, 70 Jahre alt. So zahlreich war das Trauergefolge von Amtsbrüdern und Anhängern, das ihn zur letzten Ruhe geleitete, daß Konstantinopel, wie Auxentius sagt, zu einem Christianopel, zu einer Christenstadt wurde. Noch auf dem Sterbe­ bett hat er seinen arianischen Glauben bekannt, und dies Bekenntnis war wie ein letztes Vermächtnis, das der treue Hirte seiner Gemeinde hinterließ. Das Konstantinopeler Konzil vom Sommer 382 hat Wulfila nicht mehr erlebt114. u8 Man hat verschiedentlich einen p-haltigen Sektennamen einsetzen wollen, da dieser Buchstabe noch leserlich ist [Desseil: psathyropolistas; Fr. Kauffmann: pneumatomacos; C. Müller: apollinaristas]. 114 Wulfilas Todesjahr ist immer noch umstritten. Waitz, der zunächst an 383 dachte, ließ sich durch die in der Randschrift — falsch — angeführten Theodosiusedikte von 388 und 386 verleiten, 388 als Todesjahr anzunehmen. Bessell erkannte, daß die Erwähnung jener Gesetze auf einem Versehen des Schreibers beruhe; er nahm seinerseits an, jener habe das Gesetz vom 10. Januar

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2. Seine Lehre Das wichtigste Zeugnis über Wulfilas Glauben ist jenes von Auxentius mitgeteilte Bekenntnis, das der Gotenbischof kurz vor seinem Tode abgelegt hat115. Knapp und ohne offensichtliche Polemik faßt es die Kernpunkte seiner religiösen Überzeugung noch einmal zu­ sammen. In Übereinstimmung damit und darum durchaus vertrauens­ würdig hat Auxentius zu Beginn seines Schreibens breit und kampfes­ freudig die Lehre seines Meisters dargelegt. Klar ergibt sich aus diesen Quellen Wulfilas dogmatische Stellung116. Gott Vater nennt er selbst 'allein ungeboren* [solus ingenitus], den Sohn 'einziggeboren* [unigenitus]. Die Halbarianer [Semiarianer] lehnten diese Bezeichnungen ab, da sie darin eine Gleichstellung des Sohnes mit den übrigen Geschöpfen und eine Verleitung zur Gott­ losigkeit erblickten. Wenn also Wulfila die von den Halbarianern ver­ pönten Ausdrücke in seine Glaubensformel aufnahm, so bekannte 381 im Auge gehabt und setzte deshalb Wulfilas Tod ins Jahr 381. Diese Ansicht war lange herrschend; noch E. Martin [Zs. f. dtsch. Alt. 40, p. 223 f.] und W . Luft [Zs. f. dtsch. Alt. 42, p. 308] haben sie verteidigt. Heute gilt als sicher, daß weder 388 noch 381 in Frage kommen. Letzteres nicht, weil Wulfila nach dem Konzil von Aquileja [3. Sept. 381] mit Palladius und Secundianus an den Hof des Kaisers Theodosius gereist ist, also nicht schon vorher auf dem Konstant!nopeler Konzil vom Sommer 381 [Mai bis 9. Juli] gestorben sein kann. So ent­ schied sich denn W. Krafft [Realenzykl. f. prot. Theol.2 16, p. 140ff.] für 383, wie Waitz vorübergehend schon vermutet hatte. Namentlich E. Sievers [PauPs Grundr. d. germ. Phil.1 II, 1 p. 68; Paul u. Braunes Beitr. 20, p. 302 ff.; 21, p. 247 ff.] hat diese Ansicht zu begründen versucht und damit fast allgemein Anklang gefunden. So findet man meist 383 als Todesjahr Wulfilas angegeben [Streitberg, Kauffmann, v. Schubert, Loofs, Feist u. a.]. Als erster hat F. Vogt [Anz. f. dtsch. Alt. 28, p. 190, 213], der zunächst auch für 383 eingetreten war, und nach ihm eingehender C. Müller [Zs. f. dtsch. Alt. 55, p. 76 ff.] wahrscheinlich gemacht, daß Wulfila 382 gestorben ist. Ihnen haben wir uns oben angeschlossen. Streitberg [Got. Eiern.5,8 p. 15; Hoops* Reallex. s. v. Wulfila] hält an 383 fest, da jene Stellen der Randschrift, auf die sich Vogt und Müller stützen, nach Sievers durch ihre abweichende Intonation als spätere Einschiebungen erwiesen seien. Verfehlt ist A. C. Boumans Versuch [Wulfila’s sterfjaar. Tijdschr. v. Nederl. Taal-en Letterk. 38, p. 165— 177], den Tod Wulfilas wieder ins Jahr 381 zu verlegen. 115 Vielleicht war es ursprünglich griechisch abgefaßt, wie W. Luft [Zs. f. dtsch. Alt. 42, p. 301], W. Streitberg [Got. El.5 6 p. 13, 18] u. a. annehmen. ue Vgl. besonders F. Vogt: Zu Wulfilas Bekenntnis und dem Opus imper­ fectum [Zs. f. dtsch. Alt. 42, p. 309— 321]. Ferner: F. Jostes: Das Todesjahr des Ulfilas und der Übertritt der Goten zum Arianismus [Paul u. Braunes Beitr. 22, p. 158— 187, p. 571— 573; verfehlt!]; Fr. Kauffmann: Der Arianismus des Wulfila [Zs. f. dtsch. Phil. 30, p. 93— 112]; Streitberg: Got. E l.8·6 p. 16— 20.

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er sich damit zum Arianismus. Ja, er hat durch den Zusatz des solus zu ingenitus die Trennung zwischen Vater und Sohn noch schärfer hervorgehoben, ganz im Sinne des μόνος άγέννητος ['einzig unge­ boren*] des Arianismus. Aber auch der Sohn ist nach Wulfila Gott [deus]. Die Gottheit des Sohnes ist jedoch von andrer Art als die des Vaters. Nach Auxentius hat Wulfila den Unterschied in der Göttlichkeit beider hervor­ gehoben, die Verschiedenheit des ungeborenen und des eingeborenen Gottes betont [per sermones et tractatus suos ostendit differentiam esse divinitatis patris et fili, dei ingeniti et dei unigeniti]. Das ent­ spricht wiederum arianischer Lehre. Nach ihr ist der Sohn einziggeborener Gott, aber nicht ungeboren, nicht ungeschaffen, obwohl gezeugt vor der gesamten Schöpfung. Neben dem solus ingenitus [‘allein ungeboren*] gibt Wulfila in seinem Bekenntnis Gott dem Vater noch das Beiwort invisibilis ['unsichtbar*]. Auch das gehört zum arianischen Glauben. Dieser betont insbesondere die negativen Prädikate der Gottheit. Wulfila begnügt sich mit dem Ungeborensein und der Unwahrnehmbarkeit, Auxentius fügt eine Menge verneinender Eigenschaften hinzu, die Gottes Unveränderlichkeit, Unendlichkeit und Unmeßbarkeit ausdrücken sollen und in des Meisters Gedankenrichtung liegen. Nicht Gott hat nach Wulfila alles erschaffen, sondern der Sohn. Er ist der Werkmeister und Verfertiger aller Kreatur [opifex et factor universae creaturae = δημιουργός καί ποιητής] und unser, d. h. der erschaffenen Wesen Gott. Er ist nicht unerreichbar, unsicht­ bar wie der Vater, er ist der Mittler zwischen Gott und Welt und deren Schöpfer, er ist der eigentliche Welt- und Menschengott. Auch nach Auxentius* Darstellung ist neben dem Gezeugtsein das Schöpfertum die wichtigste Eigenschaft des Sohnes in Wulfilas Lehre. Auf Christi Menschwerdung und Erlösungswerk kommt es Wulfila weniger an. In seinem Bekenntnis findet sich kein Wort darüber, und auch Auxen­ tius streift mit dem Ausdruck redemtor und salvator nur flüchtig die Heilslehre. Ihr Zurücktreten hinter kosmologischen Vorstellungen entspricht arianischem Brauche. Hier wie dort ruht der Nachdruck darauf, Vater und Sohn in ihrer verschiedenen Göttlichkeit und ihrer Stellung zur Schöpfung abzugrenzen. In seinem Verhältnis zur Kreatur, so hebt Wulfila weiter in seinem Bekenntnis hervor, hat der Sohn nicht seinesgleichen; er steht über allen Geschöpfen. Wir wissen, daß der Arianismus die Einzigartigkeit des Sohnes wie des Vaters betonte. Beide sind erhaben über alle

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Kreatur. So bringt Wulfila hier seine arianische Überzeugung von der Göttlichkeit des Sohnes klar zum Ausdruck. Der Sohn ist der W eltgott und steht als solcher eine Stufe unter dem Vater. Dem Sohne wieder untergeordnet ist der Hlg. Geist, der ihm in allem untergeben und gehorsam ist wie der Sohn dem Vater. Dieses von Auxentius bestätigte Bekenntnis Wulfilas entspricht mit seiner dreifachen Rangabstufung arianischem Dogma. So erweist sich Wulfilas religiöse Stellung nach eigenem Zeugnis wie dem seines vertrauten Schülers als die des Arianismus. Wieweit seine Versicherung, daß er immer so geglaubt habe, sich mit der Angabe orthodoxer Kirchenschriftsteller [Sokr. Soz.] vereinen läßt, daß er ursprünglich rechtgläubig gewesen sei, ist umstritten. Meist schenkt man letzterer Behauptung überhaupt keinen Glauben, selten erklärt man, daß das 'immer* nicht so wörtlich genommen werden dürfe, daß Wulfila dabei an sein reiferes Alter denke, also in seiner Jugend sehr wohl orthodox gewesen sein könne. Aber das ist eine Frage von untergeordneter Bedeutung; entscheidend ist die Feststellung: der Gotenbischof war Arianer. Das war der christliche Glaube, für den er Verfolgung auf sich nahm, so daß er sich stolz einen Bekenner [confessor] nennen durfte.

c) D ie gotische Bibel 1. Überlieferung Nach unseren Quellen hat Wulfila die Hlg. Schrift ins Gotische übersetzt, und zwar, wie Philostorgios hervorhebt, mit Ausnahme der Bücher der Könige, um nicht durch ihren kriegerischen Inhalt den ohnehin kriegslustigen Sinn der Goten noch anzustacheln. Es sind uns nun in mehreren Handschriften Bruchstücke einer got. Bibelübersetzung ohne den Namen des Verfassers überliefert, die wir auf Grund jener Quellennachrichten unbedenklich dem Goten­ bischof zuschreiben dürfen. Vom AT sind nur Bruchstücke aus Nehemias [Kap. 5— 7] erhalten [Ambrosianus D, 3 Blätter], Unsere Kenntnis der got. Bibel beruht bisher auf folgender Überlieferung: a) C o d e x A r g e n t e u s [CA]U7: Der zuerst 1597 belegte Name ist älter als der silberne Einband und stammt deshalb von der1 7 117 Streng genommen widerspricht diese Signatur philologischem Brauche, da man jede Handschrift immer nur durch einen Buchstaben zu bezeichnen pflegt. Über den CA vgl. Schulte: Zs. f. dtsch. Alt. 23, p. 51 ff., 318ff.; 24, 324ff.

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silbernen Schrift her. Die kostbare Handschrift befindet sich auf der Universitätsbibliothek zu Upsala. Es ist purpurgefärbtes Perga­ ment mit silberner, z. T. goldener Schrift und stammt aus Ober­ italien. Es gehört derselben Zeit [6. Jhd.] und derselben Schreiber­ schule an wie der lat. Codex Brixianus [f] in Brescia, eine Purpur­ handschrift der Evangelien. Von den 330 Blättern des CA sind nur noch 187 erhalten. Sie bieten die Evangelien in der Reihen­ folge Matthäus, Johannes, Lucas und Marcus, wie der Brixianus und verschiedene Handschriften der altlat. Bibel. Der CA weist 16 Randglossen auf [1 M, 10 L, 5 Mc]. Er erscheint zuerst im Kloster Verden, wohin ihn vielleicht der hlg. Liudger aus Italien mitgebracht hat. Im 16. Jhd. sind mehrfach Proben daraus veröffentlicht worden. Dann ging die Hand­ schrift in den Besitz Rudolfs II. [1552— 1612] über [vor 1600] und kam nach Prag. Nach der Einnahme des Hradschins 1648 sandte sie Graf Königsmark der Königin Christine von Schweden. 1654 war sie im Besitz von Isaak Vossius, dem Neffen von Franz Junius, der dann die erste Ausgabe veröffentlichte [Dortrecht 1665]. Noch ehe die Juniussche Erstausgabe 1665 erschien, hatte der schwedische Marschall Graf de la Gardie die Handschrift angekauft, sie in Silber binden lassen und der Königin zur Verfügung gestellt. Diese übergab sie 1669 der Universitätsbibliothek zu Upsala. Zwischen 1821 und 1834 wurden 10 Blätter entwendet, jedoch 1857 wieder zurückerstattet. Die erste sorgsame Lesung unternahm der schwedische Gelehrte Andreas Uppström [1806— 65], der einen zeilengetreuen Abdruck lieferte. Eine phototypische Wiedergabe des CA hat jüngst Prof. Svedberg veranstaltet118. ß ) C o d e x G i s s e n s i s [G ]: Dies Pergamentdoppelblatt ist in Schékh 'Abäde, einem ägyptischen Dorf in der Nähe des alten Antinoe, entdeckt und 1907/08 von der Gießener Universitätsbibliothek erworben worden. Es bietet Bruchstücke einer lat.-got. Evangelienbilingue, also einer zweisprachigen Bibelausgabe. Der lat. und der got. Text, beide in Sinnzeilen [στιχηδόν] geschrieben119, nahmen in der Handschrift je eine volle Seite ein, und zwar stand das Gotische auf den Rückseiten. Unser Blatt war das äußerste 118 Codex argenteus Upsaliensis. Jussu Senatus Universitatis phototypice editus. Upsaliae 1927. Ein Exemplar davon besitzt auch die Danziger Stadt­ bibliothek. 119 Die Einteilung nach Sinnzeilen hat Euthalius [ca. 350— 90] und zwar zuerst bei den Paulinischen Briefen eingeführt.

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Doppelblatt eines quaternio, das Lat. füllte die 1. und 15., das Got. die 2. und 16. Seite. Da nicht nur die untere Hälfte, sondern auch vom Rande viel verloren ist, folgt, daß vom Lateinischen die Anfänge, vom Gotischen die Enden der Zeilen erhalten sind. Der lat. Text überliefert Teile von Luk. 23, 3— 6 und 24, 5— 9, der got. Bruchstücke von Luk. 23, 11— 14 und 24, 13— 17. Zuerst herausgegeben wurde dies got.-lat. Bibelfragment von zwei damals Gießener Gelehrten, dem Theologen Paul Glaue und dem Ger­ manisten Karl Helm [Zeitschr. f. neutest. Wissensch. 11 (1910), p. 1— 38]. Nur 124 Buchstaben und Buchstabenreste sind vom got. Text erhalten, und kein bisher unbekanntes W ort kommt vor. Dennoch ist dieser Fund wertvoll, weil er neben den Bruchstücken im Codex Carolinus den einzigen Überrest einer lat.-got. Bilingue darstellt. Der Schrift nach gehört das Gießener Bruchstück dem 6. Jhd. an. Wie es nach seinem oberägyptischen Fundort gelangt ist, läßt sich natürlich nicht bestimmt sagen. Vielleicht gehört das Blatt zur Bibel eines got. Feldpredigers, der eine got. Söldner­ schar auf einem Feldzuge oder in eine Militärkolonie begleitete, oder eines got. Geistlichen, der nach Oberägypten verbannt worden oder in ein Kloster eingetreten war. γ) C o d e x C a r o l i n u s [C ar]: Die Handschrift befindet sich seit Ende des 17. Jhdts. in Wolfenbüttel und trägt die Signatur Cod. 64 Weißenb. Sie ist wohl während der Kriegsjahre 1672— 79 aus dem Kloster Weißenburg im Elsaß mit anderen Handschriften vor den plündernden Franzosen gerettet und auf Umwegen in der herzog­ lichen Bibliothek zu Wolfenbüttel geborgen worden. Es ist ein Palimpsest, ein codex rescriptus, d. h. der Text ist über älteren, irgendwie unsichtbar gemachten Texten eingetragen worden. Dieser jüngere Text bietet die Etymologiae [Originum sive etymologiarum libri 20] des Bischofs Isidor von Sevilla [ca. 570— 636] in einer Halbkursivschrift des 8. Jhds. aus dem Kloster Bobbio in Ligurien [südwestl. v. Piacenza; 613 von Columban gegründet]. Unter diesem jüngeren Text stehen: 1. Evangelienfragmente, 2. Bruch­ stücke aus einer Schrift des Gallen, beide in griech. Unzialen des 5-/6. Jhds., 3. Bruchstücke der Bücher Job und Judices aus der Vulgata des Hieronymus, in monumentaler Prunkschrift des 5. Jhds., 4. auf Fol. 2778, 2569, 25510, 280 die im 5 . - 6 . Jhd. zwei­ spaltig — in Sinnzeilen — geschriebenen Fragmente des got. und lat. Römerbriefs [Kap. 11— 15], Es handelt sich also wie beim Gießener Bruchstück um Überreste einer lat.-got. Bilingue. Diese

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Bruchstücke wurden im Jahre 1755 vom Abt Franz Anton Knittel entdeckt, 1758 öffentlich angezeigt und 1762 in einer für ihre Zeit bewundernswürdigen Ausgabe wortgetreu [bis auf einige Lese­ fehler] und vollständig unter Beifügung von Schriftproben heraus­ gegeben. Der glückliche Entdecker hat dem regierenden Herzog Karl von Braunschweig zu Ehren den ganzen Cod. 64 Weißenb. auf den Namen Codex Carolinus getauft. Neue Lesung und zeilen­ getreuer Abdruck des got. Textes geschah durch Andreas Uppström [Fragmenta gothica selecta. Upsaliae 1861, p. 5— 13]. Wenig Wert hat die Lichtdruckausgabe von H. Henning [Der Wulfila der Bibliotheca Augusta zu Wolfenbüttel. Hamburg 1914]. Nach Deutschland kam der Codex Carolinus aus dem oberitalischen Kloster Bobbio, wohin er vielleicht aus den Bücherschätzen des Gotoromanen Cassiodor gelangt ist1201 . 2 δ) D ie 4 C o d i c e s A m b r o s i a n i [ A m b r o s i a n u s A, B, C, D ]m : Sie befinden sich auf der ambrosianischen Bibliothek zu Mailand. Kardinal Angelo Mai hat sie 1817 entdeckt und hat 1819 mit dem Grafen Castiglione ein Specimen herausgegeben. Die vollständigen Texte veröffentlichte Castiglione in musterhafter Weise 1829— 39. Neue Lesung und zeilengetreuer Abdruck erfolgte durch Andreas Uppström [Fragmenta gothica selecta. Upsaliae 1861, p. 1— 4: C; Codices gotici Ambrosiani. Upsaliae 1864— 68: A, B, D]. Besondere Verdienste erwarb sich um die schwierige Entzifferung der Hand­ schriften Wilhelm Braun [ f 1913, Schuldirektor in Mailand], dessen zahlreiche neue Lesungen Streitberg besonders in der zweiten Auflage seiner Got. Bibel verwerten konnte. Nach Mailand sind die Codices Ambrosiani aus dem Kloster Bobbio gekommen, wohin sie, wie der Codex Carolinus, wohl aus der Bücherei Cassiodors [ f ca. 570] gelangt sind. Die Schrift weist auf das 6. Jhd. A m b r o ­ s i a n u s A [190 lesbare, 2 unlesbare und 12 leere Blattseiten; hierzu 4 Blätter, die A. Reifferscheid 1866 in Turin entdeckt und Maß­ mann in der Germania 13, p. 271 ff. veröffentlicht hat (Cod. Taurinensis)] umfaßt Bruchstücke aller Paulinischen Briefe mit Ausnahme des Hebräerbriefes122. Dieser hat der Handschrift von 180 Über die Stellung des Codex Carolinus in der got. Überlieferung vgl. F. Kauffmann: Zs. f. dtsch. Phil. 43, p. 401 ff. 121 Vgl. Streitberg: Got. Eiern.6·6 p. 25— 26, dem wir uns hier anschließen. 122 Im Abendland wurde der Hebräerbrief bis in die zweite Hälfte des 4. Jhds. von der Kirche weder als paulinisch noch überhaupt als kanonisch anerkannt. Im Morgenland entschied man sich für ihn. Nur bei den Arianern scheint ein

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jeher gefehlt; denn unmittelbar auf den Brief an Philemon folgt ein got. Festkalender, dessen letzte (9.) Seite, den Schluß des Kirchenjahrs [23. Okt. bis 30. N ov.] umfassend, noch erhalten ist. Die Briefe sind nach dem Umfang geordnet, daher Epheser vor Galater. Der Text ist zunächst in Sinnzeilen geschrieben, dann werden die Satzglieder [Kola] wie in den übrigen ambrosianischen Handschriften [und wohl auch im Codex Argenteus] durch Zwischenräume innerhalb der Zeilen, seltener durch Punkte ange­ deutet. Eine Eigentümlichkeit von A sind die [54] Randglossen. Die Lesezeichen in A [und in B] stimmen im allgemeinen zu den lectiones und capita des Euthalius. A m b r o s i a n u s B [154 be­ schriebene, 2 leere Blattseiten] bietet die Paulinischen Briefe. Römer und Philemon sind verloren, 2. Korintherbrief ist voll­ ständig erhalten. Epheser steht vor Galater, wie in A. Nur eine einzige, noch dazu sinnlose Randglosse [Kor. 15, 57]; Lesezeichen wie in A. A m b r o s i a n u s C [2 Blätter] bietet Bruchstücke aus Matthäus, Kap. 25— 27. A m b r o s i a n u s D [3 Blätter] enthält Bruchstücke aus Nehemias, Kap. 5— 7123.

2. Vorlage Mehrfach [Philostorgios, Sokrates, Sozomenos] wird uns berichtet, daß Wulfila die Bibel ins Gotische übertragen habe124. Die Tatsache seiner Verfasserschaft steht also fest. W ir besitzen aber nur Bruch­ stücke seines Werkes126 und dazu in Handschriften, die mehr als*1 8 2 Schwanken geherrscht zu haben: während sich die einen, darunter Arius selbst, auf ihn berufen, halten ihn andere für unecht. H. Lietzmann [Zs. f. dtsch. Alt. 56, p. 277] vermutet, Wulfila sei durch abendländische Einflüsse bestimmt worden, den Hebräerbrief wegzulassen. 128 Über die ambrosianischen Handschriften vgl. W . Braun: Zs. f. dtsch. Phil. 30, p. 433 ff. u. Germ.-Rom. Monatsschr. 5, p. 371 ff. 184 Nach Philostorgios hätte Wulfila allerdings die Bücher der Könige ihres kriegerischen Inhaltes wegen seinen ohnehin kampflustigen Goten vorenthalten. Ob diese Angabe richtig ist oder nicht, läßt sich nicht entscheiden. Man hat wenigstens den angegebenen Grund bezweifelt, da die Bibel ja auch sonst Kriege­ risches enthalte [z. B. R. Kögel: Gesch. d. dtsch. Lit. I, 1, p. 185]. Wenn Auxentius, Wulfilas Schüler, dessen Bibelübersetzung und Buchstabenerfindung nicht erwähnt, so erklärt sich das aus Absicht und Zweck seines Schreibens. Es ist eine Parteischrift für den Arianismus, die vor allem über Glauben und Wirken Wulfilas berichtet, der also das Dogma mehr gilt als das äußere Leben. Vgl. Bessell a. a. O. p. 47— 48; G. Kaufmann: Zs. f. dtsch. Alt. 27, p. 205. 125 Vom Alten Testament Nehemias Kap. 5— 7 [Teile], vom Neuen Testament Bruchstücke der vier Evangelien und der Paulinischen Briefe [außer Hebräerbrief].

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100 Jahre später [5. u. 6. Jhd.] entstanden sind. In diesem Zeitraum mag der ursprüngliche Wulfila-Text gar manche Veränderungen erfahren haben1 *126, da ja auch der griechische Bibeltext nicht einheit­ 0 2 lich überliefert ist. Tatsächlich werden uns in den got. Bibelhand­ schriften zahlreiche Textvarianten mitgeteilt. Solche Parallelstellen gehören teils schon der griechischen Vorlage an, teils beruhen sie auf Einwirkung der altlat. Übersetzung, teils sind sie gotisches Sonder­ gut. Wenn sie in den got. Bibelhandschriften vielfach verzeichnet sind, so zeigt das, wieviel gewissenhafte Ehrfurcht auch die got. Geistlichkeit dem ehrwürdigen Text entgegenbrachte. Daß die got. Bibel aus dem Griechischen übersetzt ist, lehrt jede Zeile: es ist eine nach griechischem Vorbild geschaffene Prosa. Wie läßt sich nun dieses Vorbild ermitteln? Sicherlich nicht durch ein­ fache Rückübersetzung127. Dabei blieben die erwähnten Textänderun­ gen der got. Bibel außer acht, und ferner würde diese zur bloßen Interlinearversion. Das ist sie bei aller Treue gegen das Original gewiß nicht. Sie hat durchaus auch ihre eigene Note und ihren eigenen Stil. Nur annähernd zum Ziel führt aber auch der andere Weg, den man eingeschlagen hat. Gewiß wird Wulfila sich an die in seinem Bereich geltende Textgestalt der griechischen Bibel gehalten haben; 120 Besonders klar tritt das hervor, wenn derselbe Bibelabschnitt mehrfach überliefert ist und der Wortlaut nicht völlig übereinstimmt. Ob diese Abwei­ chungen sich aus späterer förmlicher Revision der Wulfila-Bibel erklären, wie Fr. Kauffmann u. a. meinen, oder aus im Laufe der Zeit ganz natürlich ein­ tretenden Abänderungen, wie A. Jülicher [Zs. f. dtsch. Alt. 52, p. 369] meint, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß, und zwar recht beträchtliche, Abweichungen bestehen. Übrigens kann, wie H. Lietzmann [Zs. f. dtsch. Alt. 56, p. 265 f.] ge­ zeigt hat, die Praefatio zum Codex Brixianus f, einer lat. Evangelienhandschrift, nicht als Zeugnis für eine Umarbeitung der got. Bibel angesehen werden. Der Verfasser jener Vorrede will gerade durch die aus dem Griech. oder Lat. ins Got. übersetzten Varianten [wulþres = adnotationes] zeigen, daß der got. Bibeltext das hlg. Original getreu wiedergebe. 127 Wie A. Jülicher a. a. O. p. 372 vorschlägt: «Die Vorlage des Ulfilas ist durch möglichst getreue Rückübersetzung des Gotischen ins Griechische mit Hilfe der griechischen Bibelausgabe und ihres Variantenapparates zurück­ zuerobern, nicht durch eine Angleichung des Goten an einen in Wahrheit gar nicht bestimmbaren K- [d. h. κοινή, textus receptus] oder Chrysostomus-Text.» Ähnlich erhebt H. Lietzmann [Zs. f. dtsch. Alt. 56, p. 277] «die Forderung, daß der gotische Text so treu wie möglich nachzubilden ist, da wir angesichts unserer kümmerlichen Kenntnis der alten Koine die Möglichkeit, daß eine zur Zeit noch unbezeugte Variante doch dem Original angehört, stets in Rechnung stellen müssen. Aber der Grad der Sicherheit bzw. Unsicherheit ist kenntlich zu machen.»

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aber wir kennen deren genauen Wortlaut nicht128. W ir wissen nur, daß dies für den Sprengel von Konstantinopel die Textgestalt Lukians129 war. Allerdings gilt das wiederum nur für seine kritische Ausgabe der Septuaginta, also für das Alte Testament. Lukians SeptuagintaText war im 4. Jhd., wie Hieronymus bezeugt, in den Kirchen von Antiochia bis Konstantinopel, in Syrien, Kleinasien, Thrakien, als maßgebend anerkannt. Wir besitzen nun diesen Text nicht mehr. Aber mit Hilfe der alttestamentlichen Zitate in den Schriften der antiochenischen Exegeten Chrysostomos130 und Theodoret131 ist es gelungen, die Revision Lukians in den erhaltenen SeptuagintaHandschriften aufzufinden und wenigstens teilweise — die geschicht128 Es handelt sich hier also um die Lösung einer Gleichung mit zwei Unbe­ kannten. Weder läßt sich der Wulfila-Text durch Angleichung an eine doch nur mutmaßliche griechische Vorlage ermitteln, noch diese durch Rückübersetzung aus dem überlieferten gotischen Text erschließen. Zu ersterem neigen Philologen [Kauffmann, Streitberg], zu letzterem Theologen [Jülicher, Lietzmann]. 189 Lukian, einer der gelehrtesten und wirksamsten Männer des Orients, stand in Antiochia als Presbyter an der Spitze jener berühmten theologisch-exege­ tischen Schule, die der Mutterschoß der arianischen Lehre werden sollte. Um 268 als Ketzer verurteilt, schloß er später wieder seinen Frieden mit der Kirche. Sein Märtyrertod [7. Jan. 312] sicherte ihm auch in kirchlichen Kreisen Ansehen und Ruhm. Bedeutend war er vor allem als Lehrer und Gelehrter. Seine Schüler, zu denen Arius, Eusebius von Nikomedien, Theognis von Nicäa u. a. gehörten, verehrten in ihm den Meister. Wer einst zu Füßen Lukians gesessen hatte, scharte sich in den folgenden Kämpfen um Arius, in dessen Lehre die des Meisters sich auswirkte. Es gibt nur einen Gott, so lehrte er, und ihm kommt nichts gleich, auch der Sohn nicht; denn auch er ist von Gott geschaffen. Eifrig gab sich Lukian dem Studium der Bibel hin. Er schuf eine kritische Ausgabe der Septuaginta und des Neuen Testaments, die nicht erhalten, aber z. T. noch erschließbar ist. 180 Johannes, mit dem Beinamen Chrysostomos [Goldmund], geb. ca. 344 zu Antiochien, aus reicher Familie, hielt sich der ihm um 373 angetragenen Bischofsweihe für unwert, versenkte sich als Einsiedler in die Hlg. Schrift, wurde berühmt als Prediger an der Hauptkirche zu Antiochia, wo man dem von echter Frömmigkeit durchglühten Wort des ‘ Goldmundes* mit Andacht lauschte. Im Jahre 398 wurde er Patriarch von Konstantinopel, aber 404 endgültig nach Armenien verbannt. Er starb 407 im Exil. Seine irdischen Reste wurden 438 in der Apostelkirche zu Konstantinopel beigesetzt. Neben Briefen und Abhand­ lungen sind von ihm vor allem Predigten erhalten, in denen er kirchliche, aber auch weltliche Themen behandelte. Wichtig sind besonders seine exegetischen Homilien, Kommentare in Predigtform, die einen großen Teil der Hlg. Schrift begleiten. 181 Theodoret, Bischof von Kyrrhos [nordöstl. v. Antiochia], verfaßte um 420 einen Kommentar zu den Paulinischen Briefen. Er ist identisch mit dem Kirchen­ geschichtsschreiber, vgl. Quellen über Wulfila.

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liehen Bücher des Alten Testaments — zu rekonstruieren. Diesen Wiederherstellungsversuch hat Paul de Lagarde für Pentateuch, Josua, Richter, Ruth, Könige, Paralipomena, Esdras, Esther aus­ führen können132; an der Vollendung seines Werkes hat ihn der Tod gehindert. In der Vorrede [S. X X I V ] stellt Lagarde Nehemias 5,13— 17 der got. Bibel mit dem lukianischen Text zusammen und zeigt, daß dieser die Grundlage der got. Übersetzung ist133. An Lagarde knüpft Fr. Kauffmann [Zs. f. dtsch. Phil. 29, p. 312— 337] an, der zu dem Ergebnis kommt, daß die Vorlage nicht der reine Lukian-Text, son­ dern nur ein Mischtext gewesen sein könne134. Die Lesungen, die Wilhelm Braun 1911— 1912 an der gereinigten Handschrift vornahm, haben aber eine fast völlige Übereinstimmung zwischen dem W ort­ laut Lukians und den got. Nehemias-Fragmenten ergeben. Die wenigen noch übrigbleibenden Abweichungen lassen sich leicht als Textverderbnisse oder nachträgliche Änderungen verstehen. Somit wäre der Lukian-Text als Vorlage für das got. Alte Testament erwiesen135. Schwieriger gestaltet sich die Aufgabe für das Neue Testament. Durch Hieronymus wissen wir, daß Lukian auch eine kritische Be­ arbeitung des Neuen Testaments unternommen hat. Sie ist als Vor­ lage des got. Neuen Testaments vorauszusetzen, aber ihre Text­ gestalt ist bisher mit Sicherheit noch nicht ermittelt. Wie einst Lagarde die alttestamentlichen Zitate des Chrysostomos [und Theodoret] zur Feststellung der lukianischen Rezension des Alten Testa­ ments benutzte, so hat Friedrich Kauffmann die neutestamentlichen Zitate in den Predigten des Chrysostomos über Matthäus, Johannes und die Paulinischen Briefe herangezogen, um die Vorlage des got. Neuen Testaments zu bestimmen136. Es besteht zweifellos eine enge Verwandtschaft zwischen der von Chrysostomos benutzten Bibel­ rezension und dem griechischen Neuen Testament des Wulfila. Nach den Untersuchungen Hermann v. Sodens137 stellt sich die Bibel des 132 Vgl. Paul de Lagarde: Librorum veteris testamenti canonicorum pars prior. Göttingen 1883. 183 Schon 1876 war Ohrloff [Zs. f. dtsch. Philol. 7, p. 251— 295] zu ähnlichen, wenn auch minder bestimmten Ergebnissen gelangt. 134 Gegen Fr. Kauffmann wandte sich E. Langner [Die got. Nehemia-Fragmente. Progr. Sprottau 1903], der für Neh. 5, 13— 7, 3 [also bis zur Namenliste] mit Lagarde den reinen Lukian-Text als Vorlage annahm. 185 Ygi Streitberg: Got. E l.6·® p. 28. 136 Vgl. Zs. f. dtsch. Phil. 30, p. 148ff. [Matth.]; 31, p. 181 ff. [Joh .]; 35, p. 433ff. [1. 2. K or.]; 43, p. 417ff. [Röm. Carol.].

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Chrysostomos als eine der zweiten Hälfte des 4. Jhs. angehörende Mischform dar, in welcher der syrisch-antiochenische Text, die Κοινή des Hieronymus [* K ] mit Lesarten der auf Eusebius von Caesarea [ f 339 oder 340] und seinen Lehrer Pamphilus [f 309] zurückgehenden palästinensisch-jerusalemitischen Rezension [* J] durchsetzt ist. Weiterhin erkläre sich auch Wulfilas Vorlage als ein * K-Text, in den * J-Lesarten eingedrungen seien. Die Mischung beider Elemente in der Vorlage der got. Bibel decke sich jedoch mit keinem der nach­ gewiesenen Mischtypen vollständig138. Auf Grund dieser Ergebnisse hat dann Wilhelm Streitberg, auch im Anschluß an Lagarde und Kauffmann, es unternommen, das griech. Original der got. Bibel herzustellen1391 . Er sucht dabei so scharf wie möglich zwischen dem 0 4 ursprünglichen Text Wulfilas und den späteren Änderungen zu schei­ den. Hierdurch entsteht, wie Streitberg selbst sagt, nicht selten ein Widerspruch zwischen dem Wortlaut der ü b e r l i e f e r t e n gotischen Fassung und dem der e r s c h l o s s e n e n Vorlage. Da eine gewisse Willkür in der Textbehandlung sich bei diesem Verfahren nicht vermeiden läßt, so sind dagegen mit Recht Bedenken erhoben wor­ den141*. Somit bleibt die Ermittlung der griechischen Vorlage des gotischen Neuen Testaments ein Problem, das noch zu lösen ist. 187 Vgl. H. v. Soden: Die Schriften des Neuen Testaments in ihrer ältesten erreichbaren Textgestalt hergestellt auf Grund ihrer Textgeschichte. Bd. I: Die Textzeugen und die Textformen. Abt. 1— 2. Berlin 1902— 1907. Abt. 2, p. 1469 f. 188 An Kauffmann und v. Soden schließt sich P. Odefey an: Das got. Lukas­ evangelium. Quellenkritik und Textgeschichte. Diss. Kiel 1908. 189 Den ersten kritischen Versuch, den Text der Vorlage wiederherzustellen, hatte E. Bernhardt in seiner Vulfila-Ausgabe Halle 1875 gemacht. Er legt den Codex Alexandrinus zugrunde und sucht dessen Text dem got. möglichst anzu­ gleichen. Seine Ansicht, daß unter allen griech. Handschriften der Codex Alex­ andrinus in seinem Wortlaut der got. Bibel am nächsten stehe, ist aber nicht haltbar. Bereits 1808 hatte J. L. Hug [Einl. in die Schriften des N. T. I, p. 426ff.] durch StellenVergleichung den antiochenisch-konstantinopolitanischen Text als Vorlage der got. Bibel erkannt. 140 Got. EI.5,8 p. 32. 141 Insbesondere von A. Jülicher: Zs. f. dtsch. Alt. 52, p. 365 ff .; 53, p. 369ff. und H. Lietzmann: Zs. f. dtsch. Alt. 56, p. 249 ff. Für die Richtigkeit des von ihm eingeschlagenen Weges beruft sich Streitberg [Got. El.5 6 p. 33] auf die For­ schungen von Eduard Sievers über die Intonation der got. Bibel, welche die Unursprünglichkeit des überlieferten Textes bestätigt hätten. Sievers habe Intonationsstörungen festgestellt, die eben durch nachträgliche Änderungen des got. Urtextes hervorgerufen seien. Die Schwierigkeit liegt aber darin, daß allen Versuchen, den got. Urtext herzustellen, eine gewisse Unsicherheit anhaften muß.

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Eine Streitfrage ist, ob Wulfila neben der griechischen auch die lateinische Bibel benutzt hat. Im oströmischen Reiche waren ja beide Sprachen üblich, und gerade über Wulfila wird uns [von Auxentius] berichtet, daß er Griechisch und Lateinisch redete und schrieb. Nun zeigt der überlieferte gotische Text tatsächlich Lesarten, die als eigentlich abendländisch gelten. Da in Wulfilas Wirkungsgebiet byzantinische und römische Kultureinflüsse sich kreuzen, mag ein Teil dieser Lesarten aus g r ie c h is c h e n Handschriften des Abend­ landes schon in die griechische Vorlage Wulfilas gedrungen sein, die also ein Mischtext gewesen wäre142. Hinzu käme dann der Ein­ fluß der altlat. Bibel143. Er schimmert in gar mancher Hinsicht hin­ durch144. Man hat ihn späteren Bearbeitern zugeschrieben, die auf italischem Boden den wulfilanischen Text nach ihrer lat. Bibel um­ gestaltet hätten145. Aber die Herkunft unserer Handschriften aus Italien ist noch kein ausreichender Grund dafür. Der im Grenzgebiet lebende Gotenbischof kann doch schon selbst die altlat. Bibel mit­ benutzt haben. Mit Recht entscheidet man sich daher meist für diese Annahme146.

3. Stil Solange wir den ursprünglichen Wulfila-Text und seine griechische Vorlage nicht kennen, läßt sich natürlich auch nichts Genaues und Sicheres über den Stil der got. Bibel sagen. Aber ein im allgemeinen zutreffendes Bild von seiner Art können wir uns doch machen. Der von kappadokischen Griechen stammende Wulfila lebte noch mehr als andere Kleriker seiner Zeit in griechischer Ausdrucksform und Denkweise. Außerdem stand ihm ja keine ausgebildete got. Schrift­ 148 v gL H. Lietzmann: Zs. f. dtsch. Alt. 56, p. 275. 148 Also der sog. Itala. Einfluß der Vulgata, der auch behauptet worden ist, bisher nicht erwiesen. Ygl. Streitberg: Got. E l.6·6 p. 31. 144 So Rom. 14, 12, wo λόγον άποδώσει 'er wird Rechenschaft geben* mit raþjon usgibiþ = rationem reddet wiedergegeben wird. Vielleicht deutet das Fehlen des Hebräerbriefes bei Wulfila auch auf die altlat. Bibel, da dieser Brief erst Ende des 4. Jhs. im Abendlande in Aufnahme kam, also in Wulfilas Itala noch nicht vorlag. Vgl. H. Lietzmann a. a. O. p. 277. 146 So Streitberg: Got. E l.5· 6 p. 30f. 146 Dafür C. Marold [Germania 26, p. 129ff.; 27, p. 23ff.; 28, p. 50ff.], Fr. Kauffmann [Zs. f. dtsch. Phil. 43, p. 424: Itala], H. Lietzmann [Zs. f. dtsch. Alt. 56, p. 276f.: Bilingue?], G. Roethe [D. Martin Luthers Bedeutung f. d. dtsch. Lt. Vortrag. Berlin, Weidmann, 1918, p. 32: griech.-lat. Vorlage], dagegen W. Streitberg [Got. E l.6·6 p. 30ff.]. P l a t e , Geschichte der gotischen Literatur. 5

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spräche, nicht einmal ein ausreichendes Alphabet, zur Verfügung; er mußte sich beides erst schaffen. Kein Wunder, daß er in Wortwahl, Satzbau und Rhythmus sich dem griech. Vorbild aufs engste an­ schloß. Sein Gotisch ist kein natürlich gewachsenes, sondern ein gräzisiertes, ein griechisches Gotisch. Es ist eine von volkstümlichen Elementen durchsetzte gelehrte Kunstsprache, in Zeichen geschrieben, die fremdem, griechisch-lateinischem Gut ebenfalls mehr verdanken als dem heimisch-ererbten, den ungefügen heidnischen Runen147. Bei dem damaligen Zustand des Gotischen ist die von Wulfila voll­ brachte Leistung höher anzuschlagen als die späterer Bibelübersetzer, deren Muttersprache sich schon zu größerer Ausdrucksfähigkeit ent­ wickelt hatte. W ie sehr er bei seiner Arbeit neben der Treue gegenüber dem geheiligten Text148 auch die Eigenart seiner Landsleute im Auge behielt, zeigt manches ihrer Anschauungsweise entnommene Wort, das die fremdartigen Verhältnisse ihrem Herzen näher bringen sollte. Bei solcher Rücksicht verdient wohl auch die Angabe des Philostorgios einigen Glauben, daß Wulfilá die Bücher der Könige ihres kriegerischen Inhaltes wegen seinen ohnehin kampflustigen Goten nicht dargeboten habe. Man sieht, Wulfila war nicht nur sprachkundig, sondern auch ein mit pädagogischem Instinkt begabter Sprachgestalter. Übersetzen war ihm nicht bloß ein Umsetzen von Wörtern aus einer in die andere Sprache; sein Werk ist keine Interlinearversion. Er war nicht Sklave seiner Vorlage, sondern formte bei aller Abhängigkeit seinen Text nach bestimmten, selbständigen Gesichtspunkten. Sein Bestreben war, die Bibel und den Gottesdienst zu nationalisieren; aber die Macht des geheiligten Vorbildes und die Beschränktheit heimischer Mittel wirkte dem entgegen. So erklärt sich der dualistische Charakter seiner Stil147 Vgl. Fußnote 110. 148 Die Frage liegt nahe, ob der arianische Standpunkt des Verfassers nicht irgendwo in seiner Übersetzung hervortrete. Nach Castiglione [Gothicae versionis epistolarum d. Pauli ad Galatas etc. 1835, p. 63ff.] und Krafft [Kirchengeschichte p. 345ff.] wäre dies Philipper 2, 6 der Fall: ούχ άρπαγμόν ήγήσατο τό είναι Ισα θεφ ‘ er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein* — ni wulwa [‘ Raub*] rahnida wisan sik galeiko guþa. Hier steht also galeiks, das sonst griech. δμοιος ‘ ähnlich* wiedergibt, für ίσος ‘ gleich* der griech. Vorlage, das an zwei SkeireinsStellen [1, 4 und 5, 24] sonst genau mit ibna ‘ gleich* übersetzt wird. Die Ein­ wände, die F. Jostes [Paul u. Braunes Beitr. 22, p. 186] und F. Kauffmann [Zs. f. dtsch. Phil. 30, p. 96] gegen die Auffassung Castigliones und Kraffts erheben, vermögen nach W. Streitberg [Got. Ε1.δ·β p. 19f.] nicht das Zeugnis dieser beiden Skeireinsbelege zu entkräften.

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Schöpfung. Sie ist hellenisierend und national zugleich, allerdings unter Vorherrschaft des ersten Elements149. Überall blickt das griechische Urbild hindurch, ja hier und da spürt man sogar noch Semitisches150, das dem Übersetzer durch die griechische Vorlage vermittelt wurde. In Wortfügung und W ort­ stellung schließt sich Wulfila fast allzu willig der Vorlage an, verfährt beinahe ängstlich in der Wiedergabe seines Originals und zeigt nur hier und da Ansätze eines selbständigen Stils. Aber diese Texttreue weckt auch schöpferische Kräfte in ihm; sie betätigen sich nament­ lich auf dem Gebiete der Wortwahl und der Wortprägung. Das zeigt sich z. B. bei seinem Bemühen, die Klangwirkungen der Wieder­ holung und die rhetorischen Wirkungen des Gegensatzes nachzubilden. Beides gehört mit zum liturgischen Charakter seiner Vorlage, den er sorgsam zu wahren sucht. Waren doch die heiligen Schriften des N. T. gleich denen des A. T. dazu bestimmt, bei Gottesdienst und Gemeindeversammlung nicht vorgelesen, sondern vorgesungen zu werden. So sollte es auch mit der Gotenbibel geschehen151. Auch sie ist vor allem ein liturgisches Buch, dessen oberstes Formgesetz durch den Gottesdienst bestimmt ist. «An die Rhythmik der Liturgie sich hingebend, hat Wulfila — wie andere Bibelübersetzer auch — dem Bibeltext seinen inneren Schwung abgelauscht und Störung seiner musikalischen Kultsprache ab ge wehrt.»152 Andere Abschnitte wieder [z. B. Phil. 2, 19ff.; Kor. 16, 1— 12] sind der Vorlage gleich in nüch­ tern-prosaischer Art geschrieben. Am reinsten und klarsten treten die für den Stilcharakter der Bibelsprache bedeutsamen Merkmale nicht hier, sondern in den liturgischen Partien hervor. Dort erreicht auch die formale Nachbildungskunst des Übersetzers ihren Höhe­ punkt. Dort ist er ganz im Banne seines Originals. «Im Wetteifer mit*1 2 6 149 Ygj# Friedrich Kauffmanns eingehende, durch zahlreiche Beispiele er­ läuterte Untersuchung: Der Stil der got. Bibel [Zs. f. dtsch. Phil. 48, p. 7— 80, p. 165— 235, p. 349— 388; 49, p. 11— 57]. 150 Z. B. Marc. 4, 1: galeiþan in skip gasitan in marein ['sich auf das Meer setzen* ist ein rein syrischer Ausdruck für 'sich einschiffen’ ]. Vgl. Kauffmann: Zs. f. d. Ph. 48, p. 9, 187. 161 Daher got. siggwan, ussiggwan 'lesen, vorlesen, rezitieren* vom Bibeltext; z. B. Luc. 4, 16, Marc. 2, 25 u. a. 162 Vgl. Fr. Kauffmann: Zs. f. d. Ph. 48, p. 14. Auch nach den Forschungen von Sievers «spiegelt Wulfilas Übersetzung mit bewundernswerter Treue die wechselnden Stimmtypen und Intonationen der Vorlage wider und bezeugt da­ durch die ungewöhnliche Feinfühligkeit ihres Vorfassers.9 Vgl. Streitberg: Got. E l.5·8 p. 33.

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ihm macht er den westgotischen Dialekt ausdrucksfähig für die Vortragsarten der Evangelien und der Episteln und holte aus ihnen die Fülle ihrer Töne heraus.»153 Aber Wulfilas Werk ist nicht bloß Nachahmung des griechischen Vorbildes. Sein Stil ist nicht bloß buchmäßige Schriftsprache, sondern auch nationale, volksmäßige Redesprache. Neben das herrschende hellenisierende tritt das nationalgotische Element. Allerdings ist Wulfila in der Nationalisierung nicht so weit gegangen, wie es später etwa in der altnordhumbrischen Evangelienübersetzung geschehen ist. Die Gotenbibel steht hier zwischen der volksmäßigeren Angel­ sachsenbibel und der gelehrteren althochdeutschen Tatianübersetzurig154. Unverkennbar ist dennoch auch in Wulfilas Stil der Einfluß altgermanischer Überlieferung. Er zeigt sich besonders in Wortwahl, aber auch in Schmuckformen und Rhythmus. Gern stellt er stab­ reimende Wörter zusammen155, und nicht selten klingt geradezu der Rhythmus des Alliterationsverses hindurch156. Oft genug spürt man in Wortwahl, Wortbildung und Wortstellung die Einwirkung der Alliterationsdichtung. Dahin gehört etwa der Gebrauch gewisser Komposita [midjungards ‘ Erde’ , þiudangardi *Königeschloß*, K ö n ig ­ reich*, drauhtiwitoþ *Feldzug’ ] und der Wechsel im Ausdruck, wenn man ihn auf die Variation der altgermanischen Alliterationspoesie zurückführen darf157. Aber auch die gotische Alltagssprache kommt in seinem Wortschatz zu ihrem Recht. Er verwendet ihre Ausdrücke und prägt neue, wo es nötig ist. Fremd- und Lehnwörter158, nament163 Yg]e p r Kauffmann: Zs. f. d. Ph. 48, p. 66. Mit Recht hebt Kauffmann ebenda [Fußnote 7] hervor: «Daß es sich sowohl bei den rhetorischen Figuren als auch bei den Klangfiguren der gotischen Bibel um b e w u ß te Nachbildung der griechischen Typen handelt, und daß die Goten für diese neue Schönheit der Sprache empfänglich waren, wird durch die stilistische Verfassung der Skeireins bewiesen.» 154 Vgl. Kauffmann: Zs. f. d. Ph. 48, p. 166— 167. 155 Z. B. saian jah sneiþan 'säen und schneiden (ernten)’ [Matth. 6, 26, Luc. 19, 21 u. a.], gaunon jah gretan 'klagen und weinen* [Luc. 6, 25], huzd in himina(m) 'Hort, Schatz im Himmel* [Luc. 18, 22; Marc. 10, 2] u. a. Vgl. Kauffmann p. 169f. 158 Z. B. atta unsar Abraham ist [Joh. 8, 39]; fram andjom airþos und andi himinis [Marc. 13, 27]; jah berun du imma blindan jah bedun ina [Marc. 8, 22] u. a. Vgl. Kauffmann p. 171 f. 167 Diese Vermutung bei Kauffmann p. 181. 188 Vgl. C. Elis: Über die Fremdworte und fremden Eigennamen in der got. Bibelübersetzung. Diss. Göttingen 1903. R. Groeper: Untersuchungen über got. Synonyma. Diss. Berlin 1915.

B . Geistliche Literatur

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lieh solche der Kultsprache, übernimmt er häufig — sie mögen seinen auf oströmischem Boden sitzenden Westgoten schon geläufig gewesen sein — aber er gebraucht dafür auch — oft erst von ihm selbst ge­ schaffenes — heimisches W ortgut159. Es ist hier nicht der Ort, bis ins einzelne zu zeigen, wie er fremde Begriffe nachzubilden, zu über­ setzen oder zu ersetzen weiß160, wie Altererbtes zu neuem Sinn ge­ langt161*, wie er eine zugleich hellenisierende und nationale Kult­ sprache zu erschaffen versteht. Überall bewährt er sich als Meister.

II. D ie Skeireins

a) Überlieferung Es sind uns 8 Blätter erhalten, die Bruchstücke einer gotischen Erläuterung des Johannesevangeliums darbieten. Der Handschrift nach stammen diese Blätter aus dem 6. Jhd. n. Chr. Sie befanden sich zunächst im Kloster Bobbio [in Ligurien, südwestl. v. Piacenza; gegründet 613 von Columban], wohin sie nach dem Untergang des italischen Ostgotenreichs gerettet waren. Es sind Trümmer einer größeren Schrift, die auf etwa 78 Blättern mindestens die sieben ersten Kapitel des Johannesevangeliums er­ läutert haben wird. Entdeckt wurden sie von dem Kardinal Angelo Mai [1817]. 1606 waren diese Blätter durch Kardinal Borromeo nach Mailand gekommen, von da später z. T. nach Rom. So befinden sich heute 5 Blätter [1, 2, 5, 6, 7] auf der Bibliotheca Ambrosiana in Mailand, 3 Blätter [3, 4, 8] auf der Bibliotheca Vaticana in Rom. Es sind Palimpseste, d. h. neu beschriebene Pergamente, auf denen der ursprüngliche Text abgekratzt, weggewischt oder sonst unsicht­ ig Vgl. Kauffmann p. 185: «Er fühlte den Drang, die hellenistische Termino­ logie zu nutzen und sie mit gotischer Ausdrucksweise ins Gleichgewicht zu setzen.» Derselbe p. 200: «Der Dualismus des Übersetzers, die Duplizität seines sprachlichen Denkens und Kombinierens verursachte den ganz eigentümlichen Zustand, daß für analoge Begriffe hart neben die Fremdwörter die echtesten Erbwörter zu stehen kamen.» [Z. B. Matth. 9, 32— 33: daimonari — unhulþo; Kor. 13, 2: praufetjans — runos]. 160 Z. B. þraufetjan: fauraqiþan; Synagoge: gaqumþs; aiwlaugia [ευλογία]: wailaqiss; laigaion [λεγεών]: harjis; diabaulus: unhulþa, -o; miþwissei [συνείδησις = conscientia]; merjan ‘ predigen’ , mereins ‘ Predigt’ ; þuhtus, gahugds ‘ Gewissen*; naiteins [βλασφημία = wajamereins] u. a. 161 Z. B. airþeins ‘irden’ > ‘irdisch’ ; gajuko ‘ Verjochung’ , ‘ Verkoppelung’ > 'Gleichnis* [: gajuk 'Joch* = ζεύγμα : ζεύγος ‘ Joch’ ]; garaihts 'gerecht* > ‘fromm’ ; timreins, gatimreins ‘ Zimmern* > ‘ Erbauung’ u. a. Vgl. Kauffmann p. 372ff.

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bar gemacht wurde, ein wegen der Kostbarkeit des Pergaments oft geübtes Verfahren [lat. codex rescriptus]. Eine Probe [einen Teil des 6. Blattes] veröffentlichte 1819 Graf Castiglione in seinem mit Kardinal Angelo Mai herausgegebenen Specimen. Die erste Gesamtausgabe veranstaltete Ferd. Maßmann [München 1834] mit recht eingehenden Erklärungen. 162 Von ihm stammt auch die heute übliche Bezeichnung der Bruchstücke als Skeireins, d. h. 'Erläuterung* [zu got. gaskeirjan 'erläutern*; skeireins ist in der got. Bibel mehrfach belegt]. Nach neuer Lesung gab der schwedische Gelehrte Andreas Uppström [1806— 65] einen zeilengetreuen Abdruck in seinen Fragmenta gothica selecta [Upsaliae 1861]. Sorgsam nachgeprüft wurde der Text später von Wilhelm Braun in Mailand [dessen Ergebnisse: Zs. f. dtsch. Phil. 31, p. 429ff.] und die römischen Bruchstücke von Fr. Kauffmann. Darauf beruht die erste kritische Ausgabe, die K a u f­ manns Schüler Ernst Dietrich mit Übersetzung und eingehenden Untersuchungen 1903 veröffentlichte [Die Bruchstücke der Skeireins. Straßburg 1903]. Auf den Berichtigungen, die namentlich Μ. H. Jellinek [Anz. f. dtsch. Alt. 29, p. 281 ff.] dazu geliefert hat, sowie eigener Forschung fußt die neueste Ausgabe von E. A. Kock [Die Skeireins. Lund-Leipzig 1913], die den gotischen Text mit deutscher Übersetzung und Anmerkungen bietet. Unter Berücksichtigung der von Jellinek [Anz. f. dtsch. Alt. 38, p. 27ff.] vorgeschlagenen Bes­ serungen folgt unsere Übersetzung der von Kock.

b) Entstehung und Verfasser Liegt eine Übersetzung aus dem Griechischen vor oder ein gotisches Originalwerk? Auskunft hierüber gibt der Stil. Er ist mit seinen Anakoluthen und absoluten Partizipialkonstruktionen stark gräzisierend. Zum mindesten schreibt der Verfasser also kein natürliches, sondern nach griechischem Vorbild stilisiertes Gotisch**168. Sein Werk 188 Vgl. hierzu Lobes wertvolle Beiträge zur Textberichtigung und Erklärung der Skeireins. Altenburg 1839. 168 Eine gelehrte gotische Literatursprache ohne griechischen Einfluß ist eben undenkbar. «Wer in dieser Kunstsprache schrieb, hat entweder direkt übersetzt, oder er hat in seiner Gedankenwerkstatt die Wörter und Sätze zuerst griechisch gebildet. Es mußte für einen gotischen Theologen von vornherein eine leichtere Aufgabe sein, eine dialektische Abhandlung gnechisch zu schreiben ale gotisch. Sein wissenschaftliches Denken bewegte sich eben in den Formen der griechischen Sprache.» G. Ehrismann: Zs. f. dtsch. Phil. 38, p. 393.

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ist eine stark gräzisierende, rhetorisch-stilistische Kunstarbeit. Direkt übersetzt, wie man zunächst annahm, hat er wohl nicht. Er arbeitete nach dem Vorbild des paulinischen Briefstils und der rhetorischen Ausdrucksweise seiner Zeit. Periodenbau, Häufung der Anakoluthe und Partizipien machen seinen Stil noch unhellenischer als den des Paulus. Wie meist übertreibt auch dieser Nachahmer die Eigentüm­ lichkeiten seines Vorbildes; er wird zum Manieristen. Rhetorische Schulung zeigt sich schon in der Anlage des Ganzen, wie in einzelnen stilistischen Formen [Subst. -|- Genetiv, Übertreibung der Anakoluthie und Partizipialkonstruktionen] und besonders in der Stili­ sierung des Satzschlusses, die den Paulinischen Briefen fehlt. Man wird diese stärkere Verwendung stilistischer Kunstmittel der zeit­ genössischen griechischen Rhetorik zuschreiben dürfen. In ihrer Ornamentik und wohl auch Melodik weichen also die Skeireins-Bruchstücke von den paulinischen Briefen wesentlich ab164. Wer war nun der Verfasser? Man hat an Wulfila gedacht165. Be­ richtet doch Auxentius, daß sein Lehrer «mehrere Traktate und viele Kommentare» [plures tractatus et multas interpretationes] verfaßt habe. In dessen Bestrebungen, die Goten wissenschaftlich zu bilden, würde sich der Johanneskommentar, der die Dogmen der arianischen Richtung des Wulfila vereinigte, gut einfügen. Aber das enge Ver­ hältnis zu der Sprache der got. Bibelübersetzung ist kein genügender Beweis, zumal sich auch mancherlei Verschiedenheiten im Sprach­ gebrauch zeigen166. Allerdings wäre hier zu beachten, daß Wulfila bei der Übersetzung der Bibel möglichst wortgetreu sein mußte, bei der Abfassung der Skeireins aber mehr Freiheit hatte. Möglich wäre ferner auch, daß die grammatischen Abweichungen erst durch spätere Schreiber veranlaßt sind. Daher ist die sprachliche Verschiedenheit nicht unbedingt ein Beweis gegen die Verfasserschaft des Wulfila. Diese aber bleibt dennoch mindestens sehr zweifelhaft. Sicher ist die Skeireins nach der gotischen Bibelübersetzung entstanden, da die angeführten Bibelstellen wörtlich entlehnt und — der Zitierungs­ weise der Zeit entsprechend — nur im Wiederholungsfälle freier 164 Ygi £ Ehrismann a. a. O. p. 392f. 165 So Maßmann, Sk. p. 87, Krafft: Kirchengesch. p. 35lf . und besonders Dietrich p. L X X ff. Dagegen: O. Behaghel [Literaturblatt f. germ. u. rom. Phil. 1903, Sp. 194], Jellinek [Anz. f. dtsch. Alt. 29, p. 282 f.], Ehrismann [a. a. O. p. 393f . : 'zweifelhaft’ ], R. Lenk [Die Syntax der Skeireins. Paul u. Braunes Beitr. 36, p. 237ff.], Streitberg [Got. E l.6·6 p. 36]. 106 Diese Unterschiede heben besonders Behaghel und Jellinek hervor.

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wiedergegeben sind. Wegen der Ausfälle auf Sabellios167 und Marcellus von Ankyra [f 373]168 darf man annehmen, daß die Skeireins «ein älteres Stadium der arianischen Kontroverse»169 widerspiegelt, also noch dem 4. Jhd. amgehört. Die uns erhaltene Abschrift entstammt erst dem 6. Jhd.

c) Übersetzung Erstes Blatt [ I n h a l t : Die Versöhnungslehre: Der Mensch, der freiwillig gesündigt, müsse sich auch freiwillig bekehren; um ihn dazu zu laden, habe Gott menschliche Gestalt angenommen.]

«. . . D er v e r s t ä n d i g sei o d e r G o t t s u c h e ; al le s i n d sie a b g e w i c h e n , s ä m t l i c h s i n d sie u n b r a u c h b a r g e w o r d e n » [Röm. 3, 11— 12], und schon unter das Gericht des Todes gefallen. Und deswegen kam ein gemeinsamer Heiland für alle, aller Sünden abzuwaschen, der nicht gleich noch ähnlich unserer Gerechtigkeit, sondern selbst die Gerechtigkeit war, damit er, indem er sich für uns als Opfer und Spende an Gott hingab, die Erlösung der W elt vollbrächte. Johannes, der nun dies sah, den Plan, der vom Herrn ausgeführt werden sollte, sprach mit Wahrheit: « Si ehe , das i st das L a m m G o t t e s , das die S ü n d e der W e l t w e g n i m m t » [Joh. 1, 29]. Er hätte allerdings vermocht, auch ohne den Leib eines Menschen, nur mit göttlicher Gewalt, alle aus der Macht des Teufels 167 Sabellios wirkte seit etwa 215 als Haupt einer kirchlichen Richtung in Rom und wurde um 220 vom römischen Bischof exkommuniziert. Von seinem Leben wissen wir wenig, von seinen Schriften nicht einmal die Titel. Hauptdogma seiner Lehre war jedenfalls, daß Vater, Sohn und Hlg. Geist drei einander fol­ gende Erscheinungsformen desselben Wesens seien. Gott habe zunächst in Gestalt des Vaters als Schöpfer und Gesetzgeber, dann in der des Sohnes als Erlöser und schließlich in der des Geistes als Lebenspender gewirkt. Der Sabellianismus, der so die Wesenseinheit [όμοούσιος] scharf betonte, fand namentlich im Orient viele Anhänger. Gegen diese Anschauung, die den Personenunterschied in der Gottheit auf hob, wandten sich die Orthodoxen mit kaum geringerer Schärfe als die Arianer, die den Homöusianern immer wieder den Vorwurf des Sabellianismus machten. 188 Marcellus, Bischof von Ancyra in Galatien, über dessen Leben wrir wenig wissen, betonte streng die Wesenseinheit des Vaters und des Sohnes. Auf der Synode zu Nicäa [325] trat er gegenüber dem Arianismus entschieden für das Homousios ein. Auch später [335] wies er alle Angriffe auf das Nicänum scharf zurück. 189 Vgl. Streitberg: Got. E l.5,8 p. 36.

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zu erlösen; doch er wußte, daß durch solche Gewalt ein Zwang der Macht gezeigt und der Plan der Gerechtigkeit nicht mehr festgehalten worden wäre, sondern daß er das Heil der Menschen durch Zwang vollbracht hätte. Denn da der Teufel von Anfang an den Menschen nicht gezwungen, sondern verführt und durch Lüge angereizt hatte, das Gebot zu übertreten, so wäre es auch gegen das Angemessene gewesen, wenn der Herr, mit göttlicher Macht und Gewalt kommend, ihn erlöst und durch Zwang zur Frömmigkeit bekehrt hätte; denn hätte er nicht etwa den zuvor schon von Anfang an bestimmten Plan, unter Einschränkung der Gerechtigkeit, zu übertreten geschienen? Angemessen war es nun vielmehr, daß diejenigen, die aus eigenem Willen dem Teufel gehorcht hatten, das Gebot Gottes zu übertreten, dieselben auch nachher aus eigenem Willen mit der Lehre des Heilands einverstanden wurden und die Bosheit des früheren Verführers ver­ achteten und die Erkenntnis der Wahrheit auf stellten zum Wieder­ beginnen des Wandels in Gott. Und deswegen nahm er nun auch die Gestalt eines Menschen an, damit er uns ein Lehrer werde in der Hinlenkung zu Gott170; denn so mußte er, um seine Weisheit nachzu­ ahmen [zur Nachahmung seiner Weisheit], auch die Menschen auf­ fordern [auch so weise zu sein] sowohl mit Worten als mit Werken und ein Verkündiger des Wandels im Evangelium werden. Aber weil nun die Einschränkung des Gesetzes nicht nur der Bekehr . . .

Zweites Blatt [ I n h a l t : Die Neugeburt und deren Symbol, die Taufe.]

. . . nem Glauben werdend, wird schon dreist um seinetwillen, nämlich in der Leidenszeit, indem er nach dem Leiden offenkundig mit Joseph seinen Leib begräbt, somit bekundend, daß er sich nicht wegen der Scheltrede171 der Obersten abgewendet hat. Und des­ wegen bezeichnete auch der Heiland, jetzt erst beginnend, den auf­ wärts, in das Reich Gottes führenden Weg, indem er sagte: « W a h r ­ 170 So Jellinek [Anz. f. dtsch. Alt. 29, p. 287; 38, p. 30], der glaubt, daß garaihteins für garaihteinais steht, wie Joh. 10, 33 wajamereins statt wajamereinais und wie in der Skeireins auch sonst noch Formen der ei-Abstrakta statt der eins-Abstrakta erscheinen. Kock, der diese Deutung «erkünstelt» findet, über­ setzt mit Dietrich 'in der Gerechtigkeit v o r Gott* [d. h. nach Dietrich 'die Gerechtigkeit, die bei oder vor Gott gilt*]; aber du erscheint in der got. Bibel nur als Richtungspräposition. 171 Got. hrota hier wohl nicht 'Drohung* [Kock], sondern 'Scheltrede* [Jel­ linek] vgl. Joh. 7, 52.

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l ie h , w a h r l i c h , i c h sage di r, w e n n e i ne r n i c h t v o n o b e n g e b o r e n w i r d , k a n n er das R e i c h G o t t e s n i c h t sehen» [Joh. 3, 3]. «Von oben» aber besagte die heilige und himmlische Geburt als eine zweite durch die Taufe erfahren. Aber das verstand Nikodemus nicht, weil er es jetzt zum erstenmal vom Lehrer hörte. Und deswegen sagte er: «Wie k a nn ein M e n sc h g e b o r e n w e r d e n , der al t i st ; k a n n er e t w a in de n L e i b se i ne r M u t t e r w i e d e r e i n g e h e n und g e b o r e n w e r d e n ? » [Joh. 3, 4], Denn er, der noch unwissend war und die Gewohnheit [des Heilands] nicht kannte und die fleischliche Geburt aus dem Mutterleibe meinte, verfiel in Zweifel. Und deswegen sagte er: «Wie k a n n ein M e n s c h , der al t i s t , g e b o r e n w e r d e n ; k a nn er e t wa in den L e i b s ei ne r M u t t e r w i e d e r e i n g e h e n u n d g e b o r e n w e r d e n ? » Aber der Heiland, der seinen zukünftigen Ruhm sah, und daß er im Glauben wachsen würde, erklärte es ihm als einem damals noch Unwissenden, indem er sagte: « W a h r l i c h , w a h r l i c h , i c h sage di r, w e n n ei ner n i c h t g e b o r e n w i r d aus W a s s e r u n d G e i s t , k a n n er n i c h t in das R e i c h G o t t e s e i nge he n. » Denn eine Notwendigkeit war es und von Natur passend, um die Tauf Ordnung zu empfangen, da nämlich der Mensch aus verschiedenartigen Naturen zusammengesetzt ist, nämlich aus Seele und Leib, und eine von diesen sichtbar ist, die andere aber geistig — daher nannte er auch füglich im Anschluß an dieselben für die Einrichtung der Taufe zwei Dinge, die den beiden angehörig waren, nämlich sowohl das sichtbare Wasser wie den über­ sinnlichen Geist, damit nämlich das sichtbar . . .

Drittes Blatt [ I n h a l t : Des Johannes und Christi Taufe.]

«. . . [ denn] v i e l e [ Wasse r] w a r e n d o r t ; u n d sie k a m e n d a h i n u nd w u r d e n g e t a u f t . D e n n J o h a n n e s w ar n o c h n i c h t ins G e f ä n g n i s g e l e g t » [Joh. 3, 23— 24]. Und indem der Evangelist das sagte, zeigte er, daß der Plan betreffs Johannes der Vollendung nahe war durch die Anstiftung des Herodes. Aber vorher, als beide tauften und ein jeder seine Taufe empfahl, stritten einige miteinander, da sie nicht wußten, wer von beiden der größere sein sollte. «Und d a h e r e n t s t a n d ein S t r e i t s ei t e n s der J ü n g e r des J o h a n n e s m i t den J u d e n ü b e r die R e i n i g u n g » [Joh. 3, 25]; deswegen, weil schon einerseits die Sitte der Leibesreinigungen geändert, andrer­ seits die Reinheit vor Gott geboten war — daß sie sich die jüdischen

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Besprengungen und täglichen Waschungen zu gebrauchen nicht mehr befleißigen, sondern auf Johannes, den Vorläufer des Evan­ geliums, hören sollten — und auch der Herr die geistige Taufe empfahl, daher wurde mit Recht der Disput über die Reinigung in Gang gesetzt. Denn das Gesetz über eine der unvorsätzlichen Missetaten — das Gesetz verordnete die Asche eines außerhalb des Lagers verbrannten Kalbes und ferner, daß man sie in reines Wasser werfen und die­ jenigen, die vergessen wollten, mit Ysop und roter Wolle, wie es sich ziemte, besprengen sollte. Aber Johannes verkündigte die Taufe der Buße und verhieß denen, die sich einfältig bekehrten, die Ver­ gebung der Missetaten; der Herr dagegen, zu der Vergebung der Sünden, auch die Gabe des Hlg. Geistes, ihnen auch verleihend, daß sie Söhne des [Himmel-] Reichs würden. So daß die Taufe des Johannes in der Mitte zwischen beiden liegt, indem sie zwar die Reinigung des Gesetzes übertrifft, aber viel geringer ist als die Taufe des Evangeliums. Und deswegen belehrt er uns deutlich, indem er sagt: « Denn i c h t a u f e e u c h in W a s s e r , a b e r der n a c h mir K o m m e n d e ist s t ä r k e r als i c h , d es s en S c h u h r i e m e n i c h n i c h t w ü r d i g b i n , k n i e n d a u f z u b i n d e n ; u nd er w i r d e u c h im Hlg. G e i st e t a u f e n » [Luc. 3, 16]. Betreffs des Planes nun . . .

Viertes Blatt [ I n h a l t : Des Johannes Zeugnis von Christus.]

«Diese m e i n e F r e u d e w u r d e nun e r fü ll t . J e n e r so l l w a c h ­ sen, i c h a b e r a b n e h m e n » [Joh. 3, 29— 30]. Seinen Jüngern daher nun, die über die Reinigung mit den Juden stritten und zu ihm sagten: « R a b b i , der m i t dir j e n s e i t s des J o r d a n s war , f ür d en du z e u g t e s t , si ehe , der t a u f t , u n d alle g e h en zu ihm» [Joh. 3, 26], weil sie das, was den Heiland anging, noch nicht kannten — deswegen belehrt er sie, indem er sagt: « Je ne r so l l w a c h s e n , i ch a b e r a b n e h m e n . » Denn der Plan betreffs seiner war wohl brauchbar eine kleine Zeitlang, bereitete die Seelen der Getauften vor und über­ gab sie der Verkündigung des Evangeliums. Aber die Lehre des Herrn, die von Judäa aus anfing, verbreitete sich auch über die ganze Welt, indem sie sich bis jetzt nun [bis zu diesem Augenblick] über jeden [alle] ausbreitete und sich vermehrte und alle Menschen zur Erkenntnis Gottes zog. Und deswegen verkündigte er auch in deut­ licher Weise die Größe des Herrn der Herrlichkeit, indem er sagte: «Der v o n o b e n K o m m e n d e ist ü b e r allen» [Joh. 3, 31]. Nicht

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daß er ihn ohne Grund als darüber Seienden [Überlegenen] erklärt hätte, sondern er verkündigte172, indem er ihn himmlisch und von oben gekommen, sich dagegen irdisch und von der Erde redend nannte, diese große Macht seiner Majestät, weil er seiner Natur nach ein Mensch war: sei es, daß er ein Heiliger oder ein Prophet war und die Gerechtigkeit bezeugte, von der Erde war er doch und redete [nur] aus seiner vernünftigen Natur; aber der vom Himmel Ge­ kommene, wenn er auch im Fleische zu sein schien, ist doch über allen, «und was er g e s e h e n u n d g e h ö r t h a t , das b e z e u g t er, u nd sein Z e u g n i s n i m m t n i e m a n d an» [Joh. 3, 32]. Und wenn er auch vom Himmel auf die Erde kam wegen des Planes über die Menschen, so war er deswegen doch nicht irdisch, noch redete er von der Erde her, sondern teilte die himmlischen Geheimnisse mit, die er beim Vater gesehen und gehört hatte. Dies wurde nun von Johannes nachgewiesen nicht nur deswegen, damit er die Größe des Herrn verkündigte, sondern um den gottlosen Streit des Sabellius173 und Marcellus173 zu brandmarken und zu bestrafen [widerlegen?], die sich erkühnten, den Vater und den Sohn als e i ne n zu bezeichnen. Aber ein anderer . . .

Fünftes Blatt [ I n h a l t : Der arianische Standpunkt des Verfassers: Der Vater und der Sohn seien zwei Personen, doch nicht von Wesensgleichheit, sondern nur von Wesens­ ähnlichkeit.]

. . . der Ehre zum Vater, harrt er zu jedem Werke eines Gebotes [d. h. des Geheißes des Vaters]. Aber daß er nun den einen als den Liebenden und den anderen als den Geliebten, den einen als den Zeigenden und den andern als den die Werke jenes Nachahmenden verkündigte, das tat er, weil er die Irrlehre der Zukünftigen kannte, damit sie daraus lernten, zwei Personen, des Vaters und des Sohnes, zu bekennen, und nicht mitsprächen. Und im Anschluß daran sagte er, indem er ein deutliches W ort gebrauchte: « Denn wi e der V a t e r di e T o t e n a u f e r w e c k t u nd l e b e n d i g m a c h t , so m a c h t a u c h de r S o h n di e, w e l c h e er w i l l , l e b e n d i g » [Joh. 5, 21]; damit er, durch eigenen Willen und eigene Macht demjenigen gleich tuend, der vordem die Toten lebendig gemacht, mit dieser Verheißung die Streit­ sucht der Ungläubigen scharf bestrafe. «Und der V a t e r r i c h t e t 172 Got. insakan bedeutet nicht 'nachweisen* [Kock], sondern 'aussagen’ , ‘ erklären’ , 'verkündigen* [Jellinek]. 178 Vgl. Fußnote 167 u. 168.

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n i e m a n d , s o n d e r n hat alles G e r i c h t d e m S o hn e ü b e r g e b e n * [Joh. 5, 22]. Wenn er nun, nach der Aussage des Sabellius, ein und derselbe wäre, [nur] mit verschiedenen Namen bezeichnet, wie könnte derselbe richten und nicht richten? Denn nicht allein die Veränderung der Namen bezeichnet die Verschiedenheit zweier Personen, sondern noch mehr die Bezeichnung der Tätigkeit, indem nämlich einer niemand richtet, sondern dem Sohne die Gewalt des Gerichts ver­ leiht, und der andere vom Vater die Ehre empfängt und alles Gericht nach jenes Willen ausübt, «dami t alle den So h n e h re n , wi e sie den V a t e r ehren» [Joh. 5, 23]. Nun sollen wir alle bei einer so beschaffenen und so klaren Aussage dem ungeborenen Gott Ehre darbringen und dem eingeborenen Sohn Gottes zuerkennen, daß er Gott ist. Also mögen wir gläubig jedem von beiden nach Würdigkeit Ehre erweisen. Denn das W ort «dami t alle den So h n e hr en , wie sie den V a t e r ehren» lehrt uns, nicht gleiche, sondern ähnliche Ehre zu erweisen. Und der Heiland selbst, als er für die Jünger zum Vater betete, sagte: damit du sie liebst, wie du mich liebst [Joh. 17,23], und bezeichnet dadurch nicht gleiche Liebe, sondern ähnliche. In derselben . . .

Sechstes Blatt [ I n h a l t : Christus redet über Johannes und sich selbst.]

. . . end, ward notwendigerweise des andern Aussage unbekannter, wie er selbst sagt: «Er sol l w a c h s e n , i ch abe r a b ne h me n .» Weil sie nun für eine kleine Weile gläubig auf Johannes zu hören schienen, aber nach kurzer Zeit das, was ihn anging, der Vergessenheit über­ gaben, daher erinnert er sie mit Recht, indem er sagt: «Jener war ein b r e n n e n d e s u n d l e u c h t e n d e s L i c h t , u nd i hr w o l l t e t f ü r eine W e i l e in s e i n e m G l an ze f r o h l o c k e n . A b e r i ch h a b e ein g r ö ß e r e s Z e u g n i s als J o h a n n e s ; d en n die W e r k e , di e mi r der V a t e r g e g e b e n h a t , d aß i c h sie t u e , die W e r k e , di e i c h t u e , z e u ge n v o n mi r, da ß der V a t e r m i c h sandt e» [Joh. 5, 35— 36]. Denn jener, indem er mit menschlichen Worten Zeugnis ablegte, schien, trotzdem er wahrhaftig war, denen zweifel­ haft zu sein 174, welche die Macht nicht kannten; «aber des Vaters Zeugnis durch meine Werke, über jede Aussage des menschlichen Johannes hinaus, vermag euch eine unanfechtbare Kenntnis zu gewähren». Denn jedes Wort, das man von Menschen vernommen 174 D. h. er erregte bei ihnen Zweifel.

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hat, kann in etwas anderes verändert werden; aber die heiligen Werke, die unanfechtbar sind, offenbaren des Ausführers Ruhm, deutlich anzeigend, daß er durch den Vater vom Himmel gesandt war. Und deswegen sagt er: «Und der V a t e r , der m i c h s a n d t e , de r z e u g t f ü r m i c h » [Joh. 5, 37]. Indessen, verschieden und zu verschiedenen Zeiten erfolgte das Zeugnis des Vaters für ihn: teils durch die Worte der Propheten und teils durch eine Stimme vom Himmel und teils durch Zeichen. Aber weil, trotzdem diese Dinge so geschehen waren, das Herz der Ungläubigen härter wurde, daher machte er mit Recht einen Zusatz, indem er sagte: « We d er se i ne S t i m m e h a b t ihr j e g e h ö r t , n o c h sein G e s i c h t g e s e h e n , un d sein W o r t h a b t i h r n i c h t in e u c h w o h n e n , da ihr d em n i c h t g l a u b t , den er g e s a n d t hat» [Joh. 5, 37— 38]. Denn bei den Gläubigen wird es [das W ort] nicht verschmäht werden, [da] manche seine Stimme gehört und manche sein Gesicht gesehen haben; denn er sagt: «Selig s i n d , die r ei nes H er z e n s si nd, de n n sie w e r d e n G o t t s c h a u e n » [Matth. 5, 8]. Und darauf schon, als ein Unterpfand durch . . .

Siebentes Blatt [ I n h a l t : Speisung der Fünftausend.]

. . . der die Macht des Herrn kannte und seiner Gewalt eingedenk war. Und er ist nicht der einzige; sondern auch von Andreas, der sagte: «Es is t ein K n a b e hi er , der f ü n f G e r s t e n b r o t e u nd zwei F i s c h e hat» [Joh. 6, 9] wurde ebenso wie von Philippus dar­ getan175, daß er nichts Großes dachte [keines großen Gedankens fähig war] noch der Würde des Meisters eingedenk war, durch das, was er äußerte, als er sagte: « Aber was ist das u n t e r so v i e l e ? » Aber der Herr, sich ihrer kindischen Art anpassend, sagte: « Laßt di e M e n s c h e n s i c h l agern!» [Joh. 6, 10]. Und sie, da viel Gras an dem Ort war, ließen die Menge sich lagern, fünftausend Mann ohne Weiber und Kinder, die sich wie zu einem großen Nachtmahl lagerten, obschon nichts anderes vorhanden war außer den fünf Broten und zwei Fischen. Und er nahm diese und dankte und segnete sie; und indem er die Menschen mit soviel Nahrung befriedigte, gab er ihnen nicht allein genug für ihr Bedürfnis, sondern viel mehr: nachdem die Menge gegessen hatte, wurden von den Broten zwölf1 6 7 176 Hier bedeutet gasakan nicht 'widerlegen*, wie Dietrich und Kock über­ setzen, sondern nach Jellinek 'überführen*, 'dartun, daß jem. etw. Schlechtes tut oder eine schlechte Eigenschaft hat*.

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volle Körbe gefunden, was übriggeblieben war. «Und a u f g le i c h e W e i s e a u c h h a t t e n sie v o n de n F i s c h e n , s o v i e l wie sie w o l l t e n » [Joh. 6, 11]. Und nicht an den Broten allein erzeigte er die Fülle seiner Macht, sondern auch an den Fischen. Denn so viel ließ er sie werden, daß er für jeden so viel machte, wie er davon haben wollte. Und in nichts ließ er für die Menge Mangel entstehen; doch befriedigte er die Jünger damit noch viel mehr, und die andern [d. h. die Juden überhaupt] erinnerte er, darauf zu achten, daß er derselbe wäre, der in der Wüste vierzig Jahre lang ihre Väter speiste. «Und d a n n , als sie s at t w a r e n , s ag te er zu s ei ne n J ü n g e r n : S a m m e l t die ü b r i g g e b l i e b e n e n B r o c k e n , daß n i c h t s u m ­ k o m m e . U n d d a n n l ase n sie z u s a m m e n u nd f ü l l t e n z w ö l f K ö r b e m i t B r o c k e n v o n de n f ü n f G e r s t e n b r o t e n und zwei F i s c h e n , was be i den . . .176 ü b r i g g e b l i e b e n war» [Joh. 6, 12— 13].

Adites Blatt [ I n h a l t : Die Knechte der Pharisäer und Nikodemus ergreifen Partei für Christus.]

. . . «legte die H ä n d e an ihn» [Joh. 7, 44], weil nämlich seine heilige Macht unsichtbar ihre Bosheit noch zerrinnen ließ und nicht erlaubte, daß man ihn vor der Zeit fange. «Dann k a m e n die K n e c h t e zu den H o h e n p r i e s t e r n u n d P h a r i sä er n . U nd di ese s a g t e n nun zu i h n en : W a r u m h a b t ihr ihn n i c h t h e r b e i g e b r a c h t ? Da a n t w o r t e t e n die K n e c h t e u n d s ag t e n : N o c h nie h at ein M e n sc h so g e r e d e t wie di e se r Mensch» [Joh. 7, 45— 46]. Und diese Antwort wurde dem Unglauben der anderen zur Bestrafung, ja zur Verdammung. Denn denen, die sie schalten, weil sie ihn nicht herbeigebracht hatten, antworteten sie, ohne sich vor der Bosheit derer zu fürchten, die sie schalten — sondern sie meinten vielmehr mit Bewunderung, daß die Lehre des Herrn in der ganzen Welt voranstehe. Aber die andern, die in ihrer Bosheit jene Kühnheit nicht duldeten, antworteten ihnen mit Haß und sagten: «Ob a u c h ihr w o h l v e r f ü h r t s e i d ? Se ht , h ä t t e wo hl e i ne r der O b e r s t e n o d e r der P h a r i s ä e r an ihn g e g l a u b t ? Nur die M en g e, die das G e s et z n i c h t k e n n t , ist v e r f l u c h t » [Joh. 7, 47— 49]. Und diese Worte redeten sie mit der Bitterkeit des Zornes, wurden aber dabei lügnerisch erfunden, «daß nicht einer der Obersten oder der Pharisäer an ihn geglaubt hätte», in Anbetracht,1 6 7 176 Etwa at þaim matjandam fbei den Speisenden*.

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D ie gotische Literatur

daß Nikodemus nach dem Plane Gottes bei Nacht zu ihm gekommen war und [jetzt] mit Kühnheit für die Wahrheit eintrat und zu ihnen sprach: «Ob u nse r G e se t z w o h l e i nen M e n s c h e n r i c h t e t . . .?» [Joh. 7, 51] als die andern sagten: « Ni cht e i ner der O b e r s t e n u nd de r P h a r i s ä e r h at geglaubt», nicht bedenkend, daß er eben ein Pharisäer war und ein Ratsherr der Juden und einer der Obersten, bezeichnet [als einer] unter den Verfluchten, [und] an den Herrn glaubte, zur Bestrafung ihrer Bosheit für ihn redend. Aber sie, da sie diese Bestrafung nicht duldeten, antworteten und sagten: «Ob a u c h du w o h l aus G al il äa b i s t ? F o r s c h e u n d siehe, d a ß . . . »

U N L IT E R A R IS C H E S P R A C H R E S T E Außer Bibel und Skeireins sind uns noch einige Überreste erhalten, die nicht als Literatur-, sondern bloß als Sprachdenkmäler zu werten sind und hier daher nur kurz erwähnt sein sollen. 1. Ein B r u c h s t ü c k eines g o t i s c h e n F e s t k a l e n d e r s 177 ist uns im Codex Ambrosianus A der gotischen Bibel überliefert, und zwar steht es dort hinter dem Brief an Philemon. Nur die letzte [9.] Seite des Kalenders, die den Schluß des Kirchen­ jahres [23. Okt. bis 30. N ov.] umfaßt, ist noch vorhanden. Neben einem altenglischen poetischen Menologium [Monats­ register] aus dem 9. Jhd.1781 , das nicht geradezu als Kalender 9 7 bezeichnet werden kann, ist dieses Bruchstück das einzige Beispiel eines in germanischer, nicht lateinischer [oder griech.] Sprache abgefaßten Kalenders. Es ist indessen kaum möglich, sich aus diesem kleinen Überrest eine genaue Vorstellung von dem got. Festkalender zu machen. Er ist, wie die Bibelüber­ setzung, aus der alten Heimat nach Italien mitgebracht worden. Das ergibt sich aus der Bemerkung zum 19. November: þizo [Hs. þize] alþjono in Bairaujai *m* samana. Die 40 Alten von Beroia in Thrakien sind keine Goten, sondern Opfer der römischen Christenverfolgung; ein rein örtlicher Gedenktag ist auf thrakischem Boden in den Kalender aufgenommen worden170. 2. Z w e i l a t e i n i s c h e V e r k a u f s u r k u n d e n [auf Papyrus] mit Beglaubigungen und Unterschriften gotischer Zeugen in gotischer Sprache und Schrift180. Die eine ist um 551 n. Chr. zu Ravenna ausgestellt und befindet sich jetzt auf der Bibliothek zu Neapel. Sie zeigt der Reihe nach die fast gleichlautenden Unterschrift­ sätze von vier Geistlichen der gotischen Kirche St. Anastasia 177 Abdruck mit Erläuterungen in Streitbergs Got. Bibel. 178 Bequem zugänglich bei Grein: Bibi, der ags. Poesie II, p. l f f . 179 Vgl. H. Achelis: Zs. f. d. neutestam. Wissenschaft 1, p. 308 ff. G. Delehaye: Analecta Bollandiana 31, p. 275 ff. J. Mansion: Analecta Bollandiana 33, p. 20ff. Streitberg: Got. E l.5,8 p. 36. 180 Abdruck in Streitbergs Got. Bibel. P l a t e , Geschichte der gotischen Literatur.

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Unliterarische Sprachreste

zu Ravenna, des Bischofs [papa] Ufitahari, des Diakons Sunjaifriþas und der Schreiber [bokareis] Merila und Wiljariþ. Die erste got. Unterschrift lautet in Übersetzung: «Ich, Presbyter Ufitahari, unterschrieb mit meiner Hand, und wir empfingen 60 Schillinge sowohl vorher durch Sicherheitsstellung [als Kaution] mit unserem Diakon Alamod, als auch mit unseren Amtsbrüdern empfingen wir 120 Schillinge, den Wert [Preis] dieser Marschländereien.» Die übrigen Beglaubigungen ent­ sprechen bis auf die Namen. Die zweite Urkunde befand sich früher im Domarchiv von Arezzo und ist jetzt verschollen. W ir besitzen nur eine ungenaue Nachbildung in Doni*s Inscriptiones antiquae [hrsg. von Gori, Florenz 1731]. In dieser sonst ebenfalls lateinischen Urkunde gibt der Verkäufer eines Stückes Land, der Diakon Gudilaib, seine Beglaubigung in gotischer Sprache: «Ich, der Diakon Gudilaib, fertigte die Verkaufsurkunde von mir für dich, den Diakon Alamod, über vier Unzen [lat. uncia, Landmaß] des Landguts181 Caballaria an und nahm 133 Schillinge an und unterschrieb.» 3. In einer A l k u i n - H a n d s c h r i f t der Wiener Bibliothek [früher Salzburg] aus dem 9-/10. Jhd. finden sich dem 5. GenesisKapitel der gotischen Bibel entstammende Zahlen, ferner zwei gotische Alphabete [die Runennamen in verderbter gotischer Sprachform] und einige gotische Sätze, über denen eine Art Umschrift oder Übersetzung in lateinischen Buchstaben steht. Aussprachebemerkungen sind beigefügt182. 4. R u n e n i n s c h r i f t e n : Bereits aus dem 3./4. Jhd. n. Chr. be­ sitzen wir Runeninschriften aus dem Gebiet zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee, das von den Ostgermanen [Goten usw.] beherrscht wurde. Die bedeutsamsten Funde sind 181 Im überlieferten Text steht der Gen. hugsis = lat. fundi 'Landgutes*. Ein hugs 'Landgut* ist nur hier belegt und etymologisch dunkel. Da sich in dem got. Text mindestens ein Lese- oder Schreibfehler [Gudilub statt Gudilaib] findet, möchte F. Holthausen [Zs. f. dtsch. Phil. 48, p. 268] auch bei hugsis einen solchen annehmen und darin ein ursprüngliches hagsis, Gen. von hags 'Ge­ hege, Hag, Landgut*, sehen. «Dieses hags wäre eine Bildung wie ahs 'Ähre*; also aus dem urgerm. s-Stamm *hagaz entstanden, und gehörte zu ahd. hag, aengl. haga, aisl. hagi, germ. hagu- in anord. run. Hagu-stalðaR, asächs. hagustald, ahd. hagu-stalt 'Diener, Mann’ Krieger*, eig. 'Hagbesitzer*.» 181 Abdruck in Streitbergs Got. Bibel.

Unliterarische Sprachreste

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hier der große Goldring von Pietroassa, nördl. von Bukarest [Inschrift: Gutaniowihailag] und das Speerblatt von Kowel in Wolhynien [Inschrift: Tilarids]. Die Inschriften beider sind zweifellos gotisch, ihre Bedeutung aber ist noch unsicher188. 5. V e r e i n z e l t e g o t i s c h e S p r a c h r e s t e finden sich in lat. Texten. So in einem Epigramm 'Über barbarische Gastmähler* [De conviviis barbaris]. Es lautet: Inter eils goticum s c a p i a m a t z i a ia d r i n c a n Non audet quisquam dignos edicere versus*184. 6. Ü b e r r e s t e des K r i m g o t i s c h e n , das erst um die Mitte des 18. Jhds. ausgestorben ist. Der Flame Ogier Ghiselin de Busbecq [geb. 1522 zu Comines, gest. 1592], kaiserlicher Gesandter in Konstantinopel [1555— 1562], hat aus dem Munde zweier Krimgoten 68 krimgotische Wörter und Sätzchen sowie die Zahlwörter von 1— 13, 20, 30, 40 auf gezeichnet. Sie finden sich im letzten seiner vier Briefe aus der Türkei an seinen Freund Nicolas Michault von Indefeldt. Diese Briefe erschienen 1589 in Paris im Druck und zwar ohne sein Zutun. So kommt es, daß das krimgotische Vokabular durch zahlreiche Druckfehler entstellt ist. Die Originalbriefe sowie die gleichzeitigen A b­ schriften davon sind verschollen. Nicht alles, was da über­ liefert ist, stimmt zum Gotischen. Neben ostgermanischen finden sich auch westgermanische Bestandteile. Der sprach­ liche Charakter des krimgotischen Vokabulars bleibt noch zu klären185. 188 Nach R. Löwe [Idg. Forsch. 26, p. 203ff.] wäre die erste zu lesen: Gutan(e) Iowi hailag *dem Juppiter [d. i. Donar] der Goten heilig*. Die zweite Inschrift ist ein Personenname. Über beide vgl. R. Henning: Die deutschen Runendenk­ mäler. Straßburg 1889, p. lf f . [Kowel], p. 27ff. [Pietroassa]. 184 Das könnte heißen: Unter dem gotischen fIIeil! schaffe sowohl zu essen als auch zu trinken* wagt niemand würdige Verse laut werden zu lassen. Vgl. W . L u ft: Anz. f. dtsch. Alt. 23, p. 392ff.; H. Möller: Anz. f. dtsch. Alt. 25, p. 103f . ; van Helten: Paul u. Braunes Beitr. 29, p. 339ff. Das Epigramm steht Anthologia latina, hrsg. von Riese, Bd. I, Nr. 285. Nach Sievers lautet der erste Vers me­ lodisch richtig: Inter a'ils goticum skapiä matiä ia drinkan. — Die got. Wörter sind von den Abschreibern der Anthologie z. T. unrichtig wiedergeben worden. 185 YgL R. Löwe: Die Reste der Germanen am Schwarzen Meer. Halle 1896, p. 127ff. [Dazu: W. Tomaschek: Anz. f. dtsch. Alt. 23, p. 121 ff. R. Much: Idg. Forsch. Anz. 9, p. 193ff.]. Edward Schröder: Nachrichten der königl. Gesellsch. der Wissenschaften zu Göttingen, phii.-hist. Kl. 1910, p. 1— 16.

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