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German Pages 171 [172] Year 1949
JOHN BAGNELL BURY
GESCHICHTE
DER
GEDANKENFREIHEIT
JOHN
BAGNELL
BURY
GESCHICHTE DER GEDANKENFREIHEIT
B E R L I N
WALTER
DE
1949
GRUYTER
vormals G. J. Göschen'sehe Verlagshandlung buchhandlung
/ Georg Reimer
& CO
/ J. Guttentag, Verlags-
/ K a r l J. T r ü b n e r
/ Veit & Comp.
AUB d e m
Englischen
übersetzt
von
Dr. Curt
Thesing
Die englische Ausgabe erschien unter dem Titel " A History of Freedom oi Thought" in der Sammlung " T h e Home University Library of Modern Knowledge" in erster Auflage 1913 bei der Oxford University Press, London, New York, Toronto. Der deutschen Ausgabe liegt die 1944 erschienene Auflage zugrunde.
Archiv-Nr. 422049 Druck von Thormann & Goetsch, Berlin SW 61.
Reg.-Nr. 244
I N H A L T Erstes Kapitel: Gedankenfreiheit u n d die rischen Kräfte (Einführung)
gegne7
Zweites Kapitel: Die Befreiung der Vernunft (Griechenland und Rom)
17
Drittes Kapitel: V e r n u n f t in Fesseln (Das Mittelalter)
37
Viertes Kapitel: Aussicht auf Befreiung (Renaissance und Reformation)
50
Fünftes Kapitel: Religiöse Duldsamkeit
64
Sechstes Kapitel: Das Anwachsen des Rationalismus (Siebzehntes und achtzehntes Jahrhundert) . .
88
Siebentes Kapitel: Der Fortschritt des Rationalismus (Neunzehntes Jahrhundert)
120
Achtes Kapitel: Die Rechtfertigung der Gedankenfreiheit
156
Erstes
Kapitel
GEDANKENFREIHEIT UND DIE GEGNERISCHEN KRÄFTE Einführung Es heißt allgemein, Gedanken seien frei. Ein Mensch kann nie verhindert werden zu denken, was er will, solange er seine Gedanken verhehlt. Die Arbeit seines Verstandes wird lediglich durch die Grenzen seiner Erfahrung und durch die Kraft seiner Phantasie eingeschränkt. Aber diese natürliche Freiheit, im Geheimen zu denken, besitzt nur geringen Wert. Sie ist unbefriedigend, ja sie wird für den Denker sogar zu einer Q u a l , wenn es ihm nicht gleichzeitig gestattet ist, seine Gedanken anderen mitzuteilen, und auch für seine Mitmenschen ist diese Form der Freiheit wertlos. Außerdem ist es außerordentlich schwierig, Gedanken, die über den Geist Macht besitzen, zu verheimlichen. Falls eines Menschen Denken ihn dazu führt, Ideen und Sitten, die das Verhalten seiner Mitmenschen regeln, in Frage zu ziehen, Glaubenssätze, denen diese huldigen, zu verwerfen, und vernünftigere Lebensmethoden zu erkennen als jene, denen sie folgen, ist es für ihn, sofern er von der Wahrheit seiner eigenen Schlußfolgerungen überzeugt ist, schwer, nidht durch Schweigen, durch beiläufige Worte oder durch seine ganze Haltung zu verraten, daß er vom Denken seiner Mitbürger abweicht und ihre Anschauungen ablehnt. Manche haben — gleich Sokrates — es vorgezogen, und manche würden es auch heute noch vorziehen, lieber dem Tode ins Antlitz zu schauen, als ihre Gedanken zu verheimlichen. Daher bedingt Gedankenfreiheit, sofern sie irgendeinen Wert besitzen soll, zugleich Freiheit der Rede. In den meisten zivilisierten Ländern gilt heute Freiheit des Sprechens als etwas Selbstverständliches, und diese Freiheit erscheint uns als eine sehr einfache Sache. Wir sind an diesen Zustand so gewöhnt, daß wir die Redefreiheit als ein natürliches Recht betrachten. Aber dieses Redit ist erst in aller7
jüngster Zeit erzielt worden, und der Weg zu seiner Erlangung führte durch. Ströme von Blut. Jahrhunderte waren erforderlich, um die erleuchtetsten Völker davon zu überzeugen, daß die Freiheit, seine Meinung öffentlich zu äußern und sämtliche Fragen zu erörtern, etwas Gutes und nichts Übles sei. Die menschlichen Gesellschaften (es gibt einige rühmliche Ausnahmen) waren im allgemeinen der Freiheit des Denkens oder — mit anderen Worten — neuen Ideen feindlich gesinnt, und es ist leicht einzusehen, aus welchem Grunde. Der durchschnittliche Verstand ist von Natur aus träge und neigt dazu, die Bahn des geringsten Widerstandes einzuschlagen. Die geistige Welt des Durchschnittsmenschen besteht aus Glaubenssätzen, die er, ohne zu fragen, angenommen hat, und an denen er zähe festhält; instinkiv haßt er alles, was die festbegründete Ordnung dieser ihm vertrauten Welt umstürzen könnte. Ein neuer, mit irgendwelchen seiner Glaubenssätze unverträglicher Gedanke bedingt die Notwendigkeit, das Denken neu zu formen; und diese Aufgabe ist mühsam und erfordert eine unbequeme Aufwendung von Verstandeskraft. Den Durchschnittsmenschen, und diese bilden die überwiegende Mehrheit, erscheinen neue Ideen und Meinungen, welche festbegründete Glaubenssätze und Institutionen erschüttern, da sie unbequem sind, als ein Übel. Dieser bloßer geistiger Trägheit entsprossene Widerstand wird noch verstärkt durch ein positives Gefühl der Furcht. Der konservative Instinkt unterstützt die konservative Doktrin, daß die Grundlagen der Gesellschaft durch jede Änderung ihrer Struktur gefährdet werden. Erst neuerdings haben die Menschen den Glauben aufgegeben, daß die Wohlfahrt eines Staates von der starren Stabilität und der strikten Wahrung und Unveränderlichkeit seiner Überlieferungen und seiner Einrichtungen abhänge. W o immer dieser Glaube vorherrscht, werden neue Anschauungen als gefährlich und lästig empfunden, und jeder ohne Ausnahme, der unbequeme Fragen über das Woher und Warum anerkannter Grundsätze stellt, wird als ein lästiger Mensch betrachtet. Der konservative Instinkt und die diesem Instinkt entspringende konservative Lehre wird durch Aberglauben gefestigt. Wenn die soziale Struktur, einschließlich der Gesamtheit von Sitten und Meinungen, eng mit religiösen Glaubenssätzen verknüpft ist und als unter göttlichem Schutze stehend betrachtet wird, schmeckt Kritik an der gesellschaftlichen Ord-
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nung nach Gottlosigkeit, während Kritik an den religiösen Glaubenssätzen eine unmittelbare Kampfansage an den Zorn übernatürlicher Mächte bedeutet. Die psychologischen Motive, die einen konservativen, freien Gedankengängen feindlichen Geist erzeugen, werden durch aktive Gegnerschaft bestimmter mächtiger Gruppen des Staates — einer Klasse, einer Kaste oder der Geistlichkeit —, deren Interessen mit der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung und der Ideen, auf denen diese Ordnung beruht, eng verbunden sind, noch verstärkt. Nehmen wir zum Beispiel an, ein V o l k glaube, Sonnenfinsternisse wären von der Gottheit zur W a r n u n g bestimmte Vorzeichen, und ein gescheiter M a n n entdecke die natürliche Ursache von Sonnenfinsternissen, dann würden seine Mitbürger diese Entdeckung mit Mißtrauen aufnehmen, und zwar in erster Linie weil sie es äußerst schwierig fänden, sie mit hren übrigen Vorstellungen in Einklang zu bringen; zweitens würde diese Entdeckung das V o l k beunruhigen, weil dieselbe nach dessen Ansicht eine für das Staatswesen außerordentlich vorteilhafte Ordnung über den Haufen würfe; und endlich würde die breite Menge vor dieser Entdeckung als einer Beleidigung ihrer Gottheit zurückschrecken. U n d die Priesterkaste, zu deren Aufgabe es gehört, die göttlichen Zeichen zu deuten, würde über eine solche ihre Macht bedrohende Lehre bestürzt und empört sein. In vorgeschichtlichen Zeiten haben diese damals noch sehr mächtigen Beweggründe vermutlich jede Veränderung zur Fortentwicklung eines Staates gehemmt, ja in manchen Gemeinwesen überhaupt jeden Fortschritt verhindert. Aber sie haben auch im weiteren Verlauf der Geschichte in höherem oder geringerem Grade ihre W i r k u n g ausgeübt und Erkenntnis und Fortschritt verzögert. Selbst heute noch können wir ihre W i r kung sogar in den fortgeschrittensten Gemeinwesen beobachten, obwohl sie freilich nicht mehr die Macht besitzen, die Entwicklung aufzuhalten oder die Veröffentlichung revolutionärer Gedanken zu verbieten. W i r treffen immer noch Menschen, die eine neue Idee als eine Plage, ja sogar als eine Gefahr betrachten. Wieviele von jenen, denen Sozialismus als etwas Abstoßendes erscheint, haben nie die Argumente für und wider ihn geprüft, wenden sich aber trotzdem verekelt ab, einfach weil dieser Gedanke ihr geistiges Weltbild stört und eine scharfe Kritik an der Ordnung der Dinge, an die sie gewohnt
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sind, in sich birgt. U n d wieviele gibt es, die es ablehnen würden, irgendwelche Vorschläge zur Abänderung unserer unvollkommenen Ehegesetzgebung auch nur in Erwägung zu ziehen, weil ein solcher Gedanke zahlreichen mit religiösen Gesetzen verquickten Vorurteilen widerspricht? Sie mögen recht haben oder nicht, aber falls sie Unrecht haben, ist es nicht ihre Schuld. Diese Leute werden von den gleichen Motiven angespornt, die in primitiven Gesellschaftsordnungen einen Hemmschuh f ü r den Fortschritt bildeten. Die Existenz von Menschen dieser Geistesrichtung, aufgewachsen in einer Atmosphäre der Freiheit, Seite an Seite mit anderen, die ständig nach neuen Ideen Ausschau halten und es bedauern, daß sie nicht in größerer Zahl auftauchen, vermittelt uns eine Vorstellung, in welchem Maße das Denken geknebelt wurde, und welche enormen Hindernisse sich der Erkenntnis in den W e g stellten, solange die öffentliche Meinung durch die Ansichten solcher Leute geformt wurde. Obgleich die Freiheit seine Ansichten über jeden Gegenstand offen zu äußern, ohne auf die Obrigkeit oder die Vorurteile der Nachbarn Rücksicht nehmen zu müssen, heute ein fest begründetes Prinzip ist, glaube ich, daß nur eine Minderzahl jener, die bereit wären, lieber bis zum Tode zu kämpfen, als dieses Recht preiszugeben, fähig wäre, dieses Recht mit vernünftigen Gründen zu verteidigen. Wir sind geneigt, die Freiheit der Rede als ein natürliches und unveräußerliches Geburtsrecht des Menschen zu betrachten und diese Hypothese für eine stichhaltige Widerlegung aller Einwände zu halten, die von anderer Seite dagegen erhoben werden könnten. Aber es ist gar nicht so einfach, eine logisch fundierte Begründung für dieses Recht zu finden. Falls der Mensch überhaupt irgendwelche „natürlichen Rechte" besitzt, so gehören dazu bestimmt das Recht, sein Leben zu schützen sowie das Recht, seine A r t fortzupflanzen. Dennoch legen die menschlichen Gesellschaften ihren Mitgliedern selbst in der A u s ü b u n g dieser beiden Grundrechte Beschränkungen auf. Einem Verhungernden ist es z. B. verboten, sich N a h r u n g anzueignen, die einem anderen gehört. Mischehen sind vielfach durch Gesetz oder Sitte verpönt. Man gibt also zu, daß der Staat berechtigt sei, diese elementaren Rechte einzuschränken, weil ohne solche Einschränkungen eine geordnete Gesellschaft nicht zu existieren vermöchte. Damit wird aber gleichzeitig zugestanden, daß auch die freie Meinungsäußerung ein Recht gleicher Art sei. Träfe diese 10
Voraussetzung zu, so könnte man weder behaupten, daß die Freiheit der Meinung gegen Einmischung gefeit sei, noch daß die Gesellschaft ungerecht handelt, wenn sie dieses Recht reguliert. Aber ein solches Zugeständnis ist zu weitgehend. Während nämlich in den anderen Fällen die Beschränkungen das Verhalten jedes einzelnen berühren, betrifft eine Knebelung der freien Meinungsäußerung nur die verhältnismäßig kleine Zahl jener, die überhaupt eine eigene Meinung — sei sie revolutionär oder wenigstens nicht herkömmlicher Art — besitzen. In W a h r heit gibt es kein triftiges Argument, auf das sich der Begriff natürlicher Rechte stützen ließe, weil diese Annahme eine logisch nicht zu begründende Theorie der Beziehung zwischen der Gesellschaft und deren einzelnen Mitgliedern involviert. Andererseits können jene, die das Steuer eines Staatswesens führen, geltend machen, daß es genau so ihre Pflicht sei, die Verbreitung staatsgefährlicher Ansichten wie überhaupt jede antisoziale Handlung zu verbieten. Sie können einwenden, daß ein Mensch erheblich größeren Schaden durch Propagierung antisozialer Lehre anzurichten vermag, als wenn er das Pferd seines Nachbarn stiehlt oder seines Nächsten t r a u verführt. Sie seien verantwortlich für die Wohlfahrt des Staates, und wenn sie die Überzeugung gewännen, eine Ansicht sei gefährlich, weil sie die politischen, religiösen oder moralischen Voraussetzungen bedrohe, auf denen die Gesellschaftsordnung aufgebaut ist, so sei es ihre Pflicht und Schuldigkeit, die Gesellschaft hiergegen wie gegen jede andere Gefahr zu schützen. Die wahre Antwort auf dieses Argument zur Beschränkung der Gedankenfreiheit wird an passender Stelle gegeben werden. Sie liegt keineswegs klar zutage. Eine lange Zeit war erforderlich, um zu dem Schlüsse zu gelangen, daß Gewissenszwang ein Fehler sei, und selbst heute ist nur ein Teil der W e l t von der Berechtigung dieser Annahme überzeugt. Nach meiner Meinung ist aber grade diese Erkenntnis die wichtigste, die je von Menschen erreicht worden ist. Sie bedeutet den Anfang eines ständigen Kampfes zwischen Autorität und Vernunft — und ist das Thema dieses Buches. Das Wort „Autorität" bedarf noch eines Kommentars. Wenn jemand fragt, woher er etwas wisse, entgegnet der Gefragte häufig: „Ich weiß es von autoritativer Seite", oder: „Ich habe es in einem Buche gelesen",oder: „Es ist eine allgemein verbürgte Tatsache", oder: „Ich habe es in der Schule gelernt". Jede dieser Antworten besagt, daß er dieses Wissen von anderen im Ver11
trauen auf deren Kenntnisse übernommen hat, ohne sich über die Wahrheit dieser Behauptungen zu vergewissern, oder über die Sache selbst gründlich nachzudenken. Der größte Teil des Wissens und Glaubens der Mehrzahl aller Menschen ist von solcher Art, das heißt, von Eltern, Lehrern, Bekannten oder aus Büchern, Zeitungen — und zwar ohne Beweis — übernommen. Wenn ein englischer Schulbub französisch lernt, lernt er die Konjugation und die Bedeutung der Worte auf Grund der Autorität seiner Lehrer oder seiner Grammatik. Die Tatsache, daß an einer bestimmten, im Atlas verzeichneten Stelle, eine volksreiche Stadt, Kalkutta, liegt, ist gleichfalls für die meisten Menschen eine auf Autorität begründete Annahme. Das Nämliche gilt für die Existenz Napoleons oder Julius Cäsars. Vertraute astronomische Tatsachen sind uns — abgesehen von den wenigen, die Astronomie studiert haben — auf die gleiche Weise übermittelt worden. Es ist klar, daß jedermanns Wissen außerordentlich beschränkt sein würde, falls wir uns nicht berechtigt fühlten, Tatsachen auf Grund der Autorität anderer für wahr zu halten. Aber wir sind dazu nur unter einer Bedingung berechtigt. Die Tatsachen, welche wir als gesichert hinnehmen, müssen sich beweisen oder nachprüfen lassen. In diese Klasse gehören die von mir angeführten Beispiele. Der Schuljunge kann sich davon überzeugen, daß die Tatsachen, die er auf autoritative Aussage hin als wahr hinnahm, tatsächlich wahr sind; er braucht nur nach Frankreich zu reisen, oder ein französisches Buch zu lesen. Täglich erhalte ich Beweise, die mir zeigen, daß ich mich persönlich von dem Vorhandensein Kalkuttas überzeugen könnte, falls ich mir die Mühe machen wollte, dorthin zu reisen. Über die Existenz Napoleons vermag ich mich nicht auf diesem Wege zu vergewissern, aber falls mir Zweifel kämen, so würde einfaches Nachdenken zeigen, daß es eine Fülle von Tatsachen gibt, die mit seiner Nichtexistenz unvereinbar sind. Ida hege keinen Zweifel, daß die Erde etwa 150 Millionen Kilometer von der Sonne entfernt ist, weil sämtliche Astronomen erklären, diese Tatsache ließe sich berechnen, und diese übereinstimmende Aussage der Astronomen ist nur möglich, weil sich diese Tatsache jederzeit beweisen läßt; falls ich mir die Arbeit machen wollte, selbst die Berechnung auszuführen, würde ich zu dem nämlichen Ergebnis gelangen. Aber nicht unser gesamtes geistiges Gut ist so beschaffen. Die Gedanken des Durchschnittsmenschen bestehen nicht nur 12
aus nachprüfbaren Tatsachen, sondern daneben aus mannigfaltigen Glaubenssätzen u n d M e i n u n g e n , die er sich zu eigen gemacht hat, aber weder nachzuprüfen noch zu beweisen vermag. Der Glaube an die Dreifaltigkeit b e r u h t auf der Autorität der Kirche und unterscheidet sich deutlich von dem Glauben an die Existenz Kalkuttas. W i r sind nicht imstande, hinter diese Autorität zu blicken u n d u n s von der W a h r h e i t zu überzeugen. W e n n wir trotzdem diesen Glaubenssatz annehmen, so tun wir das, weil wir ein solch' schlichtes Vertrauen zu der kirchlichen Autorität besitzen, d a ß wir deren Behauptungen ohne N a c h p r ü f u n g Glauben schenken. Dieser Unterschied erscheint vielleicht so offensichtlich, d a ß es kaum erforderlich ist, ihn besonders zu betonen. Aber es ist trotzdem wichtig, sich über diesen P u n k t völlig klar zu werden. Der primitive Mensch, dem seine Eltern erzählten, es gäbe in den Bergen nicht n u r Bären, sondern auch böse Geister, überzeugt sich bald von der W a h r h e i t der ersten Behauptung, sobald er nämlich einen Bären erblickt, aber wenn ihm auch kein böser Geist über den W e g läuft, kommt es ihm gar nicht in den Sinn — es sei denn, er wäre ein Ausnahmemensch —, daß zwischen diesen beiden Behauptungen ein Unterschied bestehe. Viel eher würde er erklären, falls er überhaupt darüber nachdächte, daß, da seine Stammesgenossen in bezug auf die Bären recht gehabt hätten, sie bestimmt auch in bezug auf die Geister die W a h r h e i t sprächen. Ein Mensch des Mittelalters, der auf Aussage von autoritativer Seite glaubte, d a ß es eine Stadt Konstantinopel gäbe, und d a ß Kometen Vorzeichen göttlichen Zornes seien, würde hinsichtlich der Beweiskraft zwischen diesen beiden Fällen keinen Unterschied bemerken. Bisweilen kann man sogar heute noch A r g u m e n t e hören, die auf die Behauptung hinauslaufen: da ich auf G r u n d autoritativer Aussage an Kalkutta glaube, bin ich auch berechtigt, auf gleicher G r u n d l a g e an den Teufel zu glauben. Z u allen Zeiten wurde den Menschen befohlen, oder von ihnen erwartet, oder sie wurden wenigstens dazu ermuntert, lediglich auf autoritative Aussage hin — z. B. auf G r u n d der Autorität der öffentlichen Meinung, oder einer Kirche, oder eines heiligen Buches — bestimmte Lehren, die weder bewiesen waren, noch sich beweisen ließen, gläubig hinzunehmen. Die meisten Glaubenssätze über N a t u r und Mensch, die sich nicht auf wissenschaftliche Beobachtung stützen, haben direkt oder
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indirekt religiösen und sozialen Interessen gedient und wurden daher gewaltsam gegen die Kritik von Leuten verteidigt, welche die unbequeme Gewohnheit besaßen, ihren Verstand zu gebraudien. Niemand ärgert sich, wenn sein Nachbar eine nachweisbare Tatsache nicht glaubt. Wenn ein Skeptiker leugnet, daß Napoleon gelebt hat, oder daß Wasser aus Sauerstoff und Wasserstoff besteht, macht er sich höchstens lächerlich. Aber wenn er bestimmte Lehren leugnet, die sich nicht beweisen lassen, etwa die Existenz eines persönlichen Gottes, oder die Unsterblichkeit der Seele, erregt ein solcher Zweifel ernste Mißbilligung, ja zu gewissen Zeiten wäre der Zweifler sogar hingerichtet worden. Unser mittelalterlicher Freund würde höchstens als Narr bezeichnet worden sein, falls er die Existenz Konstantinopels angezweifelt haben würde, hätte er aber die Bedeutung der Kometen bestritten, so wäre er vielleicht in ernste Bedrängnis geraten. Ja, wenn er so verrückt gewesen wäre, die Existenz Jerusalems anzuzweifeln, so erscheint es durchaus möglich, daß man ihn nicht einfach als harmlosen Narren laufen gelassen hätte, da ja Jerusalem in der Bibel erwähnt wird. Im Mittelalter umfaßten die Glaubenssätze, welche die kirchliche Autorität als Wahrheiten zu verkünden beanspruchte, einen weiten Bereich, und die Vernunft wurde gewarnt, sich auf dieses Gebiet vorzuwagen. Aber Vernunft vermag nicht willkürliche Verbote oder Hindernisse anzuerkennen, ohne sich selber untreu zu werden. D a s Universum der Erfahrung ist ihre Domäne, und da deren Teile alle miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, ist es für die Vernunft unmöglich, ein Gebiet anzuerkennen, auf das sie nicht den Fuß setzen dürfte, oder irgendeines ihrer Rechte einer Autorität auszuliefern, deren Vollmachten sie nicht geprüft und gebilligt hätte. Die kompromißlose Verteidigung uneingeschränkten Rechtes der Vernunft im gesamten Bereiche ihrer Gedanken wird als Rationalismus bezeichnet, und das leichte Kainszeichen, das heute noch diesem Worte anhaftet, spiegelt die Erbitterung des Kampfes zwischen der Vernunft und den gegen sie aufgerufenen Kräften wieder. Diese Worte beziehen sich auf das Gebiet der Theologie, da auf diesem Gebiet die Selbstbehauptung der Vernunft am heftigsten und hartnäckigsten bekämpft wurde. A u s dem nämlichen Grunde besitzt der Ausdruck Gedankenfreiheit, d. h. die Weigerung des Denkens sich von irgend14
einer Autorität außer der eigenen kontrollieren zu lassen, eine ausgesprochen theologische Beziehung. Während der langen Dauer des Kampfes befand sich die Autorität in der bei weitem vorteilhafteren Stellung. Zu allen Zeiten bildeten d i e Menschen, die wirklich nur der Vernunft folgten, eine verschwindende Minderheit, und vermutlich wird das auch in Zukunft noch lange der Fall sein. Der Vernunft einzige Waffe ist das Argument. Autorität dagegen wandte physische und moralische Gewalt an: gesetzlichen Zwang und gesellschaftliche Ächtung. Bisweilen hat Autorität freilich auch versucht, sich der Waffe ihres Widersachers, des Arguments, zu bedienen, aber sich damit regelmäßig nur selbst Wunden beigebracht. Es war der schwächste Punkt in der strategischen Stellung der Autorität, daß ihre Vorkämpfer, die ja auch nur Menschen waren, bisweilen wohl oder übel Vernunftgründe ins Treffen führen mußten, was regelmäßig damit endete, daß sie einander in die Haare gerieten. Dies verschaffte der Vernunft ihre Chance. In dem feindlichen Lager und augenscheinlich für des Feindes Sache wirkend, bereitete die Vernunft ihren eigenen Sieg vor. Man könnte vielleicht einwenden, es gäbe für Autorität, die sich auf Doktrinen stützt, welche außerhalb menschlicher Erfahrung liegen und daher weder geprüft noch bestätigt, aber gleichzeitig auch nicht widerlegt werden können, eine rechtmäßige Domäne. Selbstverständlich vermag man jede beliebige Zahl von Theorien zu ersinnen, die sich nicht widerlegen lassen, und jedem, der überschwengliches Vertrauen besitzt, steht es frei, an diese Lehren zu glauben; aber niemand wird behaupten wollen, daß all diese Theorien, audh wenn sich ihre Irrigkeit nicht klar erweisen läßt, Glauben verdienen. Falls aber einige wirklich Glauben verdienen, wer, außer der Vernunft, ist befugt, zu entscheiden, welche? Falls die Antwort aber „Autorität" lautet, stehen wir der Schwierigkeit gegenüber, daß zahlreiche von autoritativer Seite verkündete Glaubenssätze sich schließlich als Irrtum erwiesen haben und ganz allgemein fallen gelassen wurden. Dennoch tun manche Leute so, als wären wir nicht berechtigt, eine theologische Doktrin zurückzuweisen, sofern wir ihre Falschheit nicht zu beweisen vermögen. Die Last des Beweises liegt aber nicht dem die Theorie Ablehnenden ob. Ich erinnere mich einer Unterhaltung, in deren Verlauf eine spöttische Bemerkung über die Hölle fiel, worauf ein loyaler Freund dieser Institution triumphierend erklärte: „So lächerlich 15
Ihnen die Hölle auch erscheinen mag, ihr Nichtvorhandensein können Sie nicht beweisen." Falls jemand die Behauptung aufstellte, daß ein um den Sirius kreisender Planet von einer Affenrasse bewohnt würde, die Englisch spräche und ihre Zeit mit der Erörterung eugenischer Probleme verbringe, könnten wir diese Hypothese auch nicht widerlegen, aber besäße sie deswegen Anspruch, geglaubt zu werden? Manche Gemüter wären sicherlich dank der gewaltigen Kraft der Suggestion geneigt, eine solche Behauptung gläubig hinzunehmen, falls sie nur häufig genug wiederholt würde. Diese hauptsächlich durch emphatische Wiederholung wirkende Kraft (die, wie die Erfahrung lehrt, die Grundlage jeder wirksamen Reklame bildet), hat eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung auto-, ritativer Anschauungen, sowie bei der Propagierung religiöser Glaubenssätze gespielt. Glücklicherweise vermag auch Vernunft sich dieses Hilfsmittels zu bedienen. Die nachfolgende Skizze beschränkt sich auf die westliche Zivilisation. Sie beginnt mit Griechenland und versucht die wichtigsten Phasen aufzuzeichnen. Sie stellt eine äußerst knappe Einführung in ein umfangreiches und verwickeltes Thema dar, daß, angemessen behandelt, nicht nur die Geschichte der Religionen, der Kirchen, der Ketzerei, der Inquisition, sondern gleichzeitig auch die Geschichte der Philosophie, der Naturwissenschaften und der politischen Theorien umfassen müßte. Von dem 16. Jahrhundert bis zu der französischen Revolution kreisten nahezu alle wichtigen historischen Ereignisse in gewisser Hinsicht um den Kampf für Gedankenfreiheit. Es würde ein Menschenleben und zahlreiche Bücher erfordern, sämtliche Richtungen und Wechselwirkungen der intellektuellen und sozialen Kräfte gegeneinander abzuwägen und zu beschreiben, die seit dem Niedergang der alten Kultur die Emanzipation der Vernunft beeinträchtigt oder gefördert haben. Alles was man zu tun vermag, alles was jemand in einem wesentlich umfangreicheren Werke als dieses tun könnte, besteht darin, die allgemeinen Richtlinien dieses Kampfes anzudeuten und nur bei einigen speziellen Ausblicken, die der Verfasser vielleicht genauer studiert hat, etwas länger zu verweilen.
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Zweites
Kapitel
DIE BEFREIUNG DER VERNUNFT Griechenland und Rom W e n n jemand uns auffordert, im einzelnen aufzuzählen, was die Zivilisation den Griechen schuldet, so denken wir in erster Linie an die erhabenen Leistungen auf dem Gebiete der Literatur und der bildenden Kunst. Aber mit noch größerer Berechtigung könnte man behaupten, unsere tiefste Dankbarkeit gebühre ihnen als Schöpfer der Freiheit des Denkens und des Redens. Diese Freiheit des Geistes war nicht nur die Vorbedingung für ihre philosophischen Spekulationen, ihre epodialen Fortschritte auf wissenschaftlichem Gebiete sowie für ihre politischen Einrichtungen; sie war auch die Grundbedingung für ihre literarischen und künstlerischen Leistungen. Ihre Literatur könnte niemals das erreicht haben, was sie erreicht hat, wäre ihnen eine freimütige Kritik des Lebens versagt geblieben. Aber abgesehen von allem, was sie tatsächlich geleistet haben, ja wenn sie uns auch nicht die herrlichen Dinge auf den meisten Gebieten menschlicher Betätigung beschert hätten, so würde allein die Festigung des Grundsatzes der Freiheit die Griechen in die erste Reihe unter allen Wohltätern des Menschengeschlechts stellen. Diese Freiheit bedeutet eine der wichtigsten Etappen menschlichen Fortschrittes. Unser Wissen von der ältesten Geschichte der Griechen reicht nicht zur Erklärung aus, welche Umstände es den Griechen ermöglichten, diesen freien Ausblick auf die Welt zu gewinnen und den Willen und Mut aufzubringen, ihrer Kritik und ihrer Wißbegier keine Fesseln anlegen zu lassen. Wir müssen diese Tatsache als Faktum hinnehmen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die Griechen aus einer großen Anzahl verschiedener Völker bestanden, die in Temperament, Sitten und Überlieferungen trotz weitgehender Übereinstimmung in allen wesentlichen Charakterzügen sehr verschieden waren. Einige waren, verglichen mit anderen, konservativ oder 2
Bury,
Gedankenfreiheit.
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rückschrittlich oder ungeistig. In diesem Kapitel bedeutet „Griechen" nicht alle Griechen, sondern lediglich jene, die in der Geschichte der Zivilisation die erste Rolle spielten, also speziell die Jonier u n d Athener. Jonien in Kleinasien war die W i e g e freier Spekulation. D i e Geschichte der europäischen Wissenschaft u n d der europäischen Philosophie beginnt in Jonien. D o r t (im 6. und 5. J a h r h u n d e r t a. C . ) versuchten die frühzeitigen Philosophen durch A n w e n d u n g ihrer V e r n u n f t den U r s p r u n g und den A u f b a u des W e l t a l l s zu erforschen. Selbstverständlich vermochten auch sie nicht, ihren V e r s t a n d gänzlich von überkommenen Ideen zu befreien, aber sie zeigten wenigstens d a s Bestreben, orthodoxe A n s c h a u u n g e n und religiöse G l a u b e n s s ä t z e zu zerstören. U n t e r diesen Pionieren des D e n k e n s sei (obwohl er nicht d e r Xenophanes Wichtigste oder Fähigste w a r ) an erster Stelle erwähnt, weil die D u l d u n g seiner Lehren a m klarsten die Freiheit der A t m o s p h ä r e illustriert, in der diese M ä n n e r lebten. X e n o p h a n e s wanderte von Stadt zu Stadt u n d zog a u s moralischen G r ü n d e n den volkstümlichen G l a u b e n an die G ö t t e r und Göttinnen in Zweifel u n d machte die anthropomorphen Vorstellungen, die sich die Griechen von ihren Gottheiten gebildet hatten, lächerlich. „Falls Ochsen H ä n d e und die geistige Fähigkeit von Menschen besäßen, so würden sie ihre Götter in der G e s t a l t von Ochsen darstellen." Dieser A n g r i f f auf die allgemein gültige Theologie bedeutet gleichzeitig einen Angriff auf die G l a u b w ü r d i g k e i t der alten Poeten, besonders auf H o m e r , der als höchste Autorität auf mythologischem Gebiete gepriesen wurde. X e n o p h a n e s kritisierte ihn scharf, weil er den Göttern T a t e n zuschrieb, die — von Menschen beg a n g e n — als im höchsten M a ß e entehrend betrachtet werden müßten. W i r haben keine K u n d e , d a ß auch nur der Versuch unternommen wurde, diesen Philosophen d a v o n abzuhalten, traditionelle G l a u b e n s s ä t z e anzugreifen u n d H o m e r als unmoralisch zu b r a n d m a r k e n . Freilich dürfen wir nicht vergessen, daß die Homerischen Dichtungen nie als W o r t e Gottes betrachtet wurden. Z w a r heißt es, H o m e r wäre die Bibel der Griechen gewesen, aber diese B e h a u p t u n g geht an der W a h r h e i t vorbei. Z u m Glück besaßen die Griechen keine ßibel, und diese Tatsache ist gleichzeitig ein A u s d r u d e und eine wichtige Vorbeding u n g ihrer Freiheit. H o m e r s Dichtungen sind weltlich, nicht religiös, und es sei betont, d a ß sie sich von U n m o r a l und B a r barei freier hielten, als manche heiligen Bücher, die m a n n a m -
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h a f t machen könnte. Ihre A u t o r i t ä t w a r gewaltig, aber sie war nicht streng verbindlich gleich der A u t o r i t ä t eines geheiligten Buches, und infolgedessen war eine Kritik an ihnen niemals so behindert, wie eine Kritik an der Bibel. In diesem Z u s a m m e n h a n g sei noch eine andere G r u n d b e d i n g u n g der Freiheit, das Fehlen einer Priesterschaft, erwähnt. Die Priester der Tempel bildeten zu keiner Zeit eine wirklich mächtige Kaste, die tyrannisch den Staat in eigenem Interesse beherrschte und in der Lage gewesen wäre, Stimmen, die sich gegen religiöse U b e r z e u g u n g erhoben, z u m Schweigen zu bringen. Die bürgerlichen A u t o r i t ä t e n hielten die allgemeine Kontrolle des öffentlichen Gottesdienstes fest in eigener H a n d , u n d wenn auch verschiedene priesterliche Familien sich beträchtlichen Einflusses erfreuten, so blieben die Priester in der Regel dennoch Diener des Staates, deren Stimmen, außer in bezug auf die technischen Einzelheiten des Rituals, nie den Ausschlag gaben. W e n d e n wir uns wieder den ältesten Philosophen zu, die in ihrer Mehrzahl Materialisten waren u n d deren Spekulationen ein interessantes Kapitel in der Geschichte des Rationalismus bilden. Zwei große N a m e n seien hier genannt, Heraklit u n d Demokrit, weil diese beiden D e n k e r vielleicht in höherem M a ß e als irgend einer ihrer Zeitgenossen durch reines scharfes Nachdenken dazu beitrugen, die V e r n u n f t zu schulen, auf neue W e i s e das Universum zu betrachten und den vernunftwidrigen Vorstellungen des sogenannten gesunden Menschenverstandes Einhalt zu gebieten. Es wirkte verblüffend, als Heraklit als Erster verkündete, d a ß die Erscheinung der Beständigkeit und Dauer, welche die materiellen Dinge unseren Sinnen vortäuschen, falsch sei, u n d d a ß die W e l t u n d alles in ihr sich ständig wandele. Demokrit vollbrachte die erstaunliche Tat, eine Atomtheorie des Universums auszuarbeiten, die im siebzehnten J a h r h u n d e r t ihre A u f e r s t e h u n g erlebte und in der Geschichte der Spekulation mit den modernsten physikalischen und chemischen Theorien aufs engste v e r k n ü p f t ist. Keine phantasievollen Schöpfungsgeschichten, von priesterlicher A u t o rität auferlegt, behinderten diese Geistesheroen. Ihre philosophischen Theorien bereiteten den W e g f ü r die großen, unter den N a m e n S o p h i s t e n bekanntgewordenen Gelehrten, deren A u f t r e t e n in die Mitte des 5. J a h r h u n d e r t s a. C. fällt. Sie wirkten hier und dort in ganz Griechenland, von O r t zu Ort w a n d e r n d , die jungen Menschen f ü r das öffentliche Leben 2'
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schulend und sie lehrend, ihre Vernunft zu gebraudien. Als Erzieher hatten sie praktische Ziele im Auge. Von den Problemen des physikalischen Universums wandten sie sich den Problemen des menschlichen Lebens — der Moral und Politik — zu. Hier sahen sie sich der Schwierigkeit gegenüber, zwischen Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden, und die Fähigsten von ihnen untersuchten die Natur unseres Wissens, die Methode der Vernunft, „die Logik", und das Instrument der Vernunft, „die Sprache". W i e auch immer ihre besonderen Theorien beschaffen sein mochten, der Grundgedanke war: freie Forschung und freie Diskussion. Sie bemühten sich, alles mittels der Vernunft zu prüfen. Man könnte daher die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts a. C. als das Zeitalter der Aufklärung bezeichnen. Die Kenntnis fremder Länder, welche die Griechen bereisten, trug wesentlich dazu bei, sie gegenüber Autorität skeptisch zu machen. W e n n jemand nur die Sitten seines eigenen Landes kennt, so erscheinen ihm diese als so selbstverständlich, daß er sie der Natur zuschreibt, aber wenn er das Ausland bereist und dort völlig andere Sitten und Maßstäbe für das Verhalten vorherrschend findet, dämmert ihm das Verständnis für die Macht der Gewohnheit, und er erkennt, daß Moral und Religion weitgehend von dem Breitengrade bestimmt werden. Diese Erkenntnis trägt dazu bei, den Autoritätsglauben zu schwächen und revolutionäre Überlegungen wach zu rufen, wie etwa jemand, der als Christ aufgewachsen ist, allmählich zu der Einsicht gelangt, daß, wäre er am Ganges oder Euphrat geboren, er vermutlich fest an völlig andere Dogmen glauben würde. Natürlich beschränkten sich solche Regungen geistiger Freiheit, wie in allen Zeitaltern, auf eine Minorität. W i e überall war die große Masse außerordentlich abergläubisch. Das Volk hegte die Überzeugung, daß die Sicherheit seiner Städte von dem Wohlwollen seiner Gottheit abhinge. Sobald dieser abergläubische Geist beunruhigt wurde, bestand stets die Gefahr einer Verfolgung philosophischer Spekulationen. Und das ereignete sich auch in Athen. Gegen Mitte des 5. Jahrhunderts war Athen nicht nur der mächtigste Staat in Griechenland, es nahm auch den höchsten Rang in Literatur und Kunst ein. Athen war eine ausgesprochene Demokratie. Politische Erörterungen waren restlos frei. Zu jener Zeit stand es unter der Führung des Staatsmannes P e r i k l e s , der persönlich ein Freidenker war
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oder sich wenigstens mit allen umstürzlerischen Theorien vertraut gemacht hatte. Besonders intim verkehrte er mit dem Philosophen Anaxagoras, der aus Jonien zugereist war, um in Athen zu lehren. Im Hinblick auf die populären Gottheiten •war Anaxagoras ein absolut Ungläubiger. Die politischen Feinde des Perikles versuchten, den Staatsmann zu Fall zu bringen, indem sie seinen Freund angriffen. Sie brachten ein Gotteslästerungsgesetz ein und setzen es auch durch mit dem Ziel, daß Ungläubige und alle, welche irrige Theorien über die göttliche Welt verbreiteten, zur Verantwortung gezogen werden könnten. Es war leicht zu beweisen, daß Anaxagoras mit seiner Lehre, die Götter wären nur Abstraktionen, und die Sonne, zu der der Durchschnittsathener morgens und abends seine Gebete emporsandte, sei eine Ansammlung glühender Materie, ein Gottesleugner wäre. Lediglich der Einfluß des Perikles bewahrte Anaxagoras vorm Tode. Aber ihm wurde eine hohe Geldbuße auferlegt, und er floh aus Athen nach Lampsakos, wo er mit Rücksicht und Ehren aufgenommen wurde. Auch noch andere Fälle sind bekanntgeworden, die zeigen, daß antireligiösen Gedanken Verfolgung drohte. Protagoras, einer der bedeutendsten unter den Sophisten, veröffentlichte ein Buch: „Ober die Götter", dessen Absicht es war, zu beweisen, daß man von den Göttern aus Vernunftgründen nichts wissen könne. Die Einführungsworte lauteten: „Bezüglich der Götter vermag ich weder zu behaupten, daß sie existieren, noch daß sie nicht existieren. Es gibt mehr als einen Vernunftgrund, weshalb wir darüber nichts aussagen können: Erstens die Unverständlichkeit des Gegenstandes, und zweitens die Kürze des menschlichen Lebens." Eine Anklage wegen Blasphemie wurde gegen ihn erhoben, und er sah sich gezwungen, aus Athen zu fliehen. Aber es bestand keine systematische Politik zur Unterdrückung freien Denkens. Kopien des Werkes von Protagoras wurden gesammelt und verbrannt. Hingegen konnte man das Buch des Anaxagoras, in dem er seine Anschauungen, derentwegen er verurteilt worden war, weiter ausführte, in den athenischen Buchläden zu einem wohlfeilen Preise kaufen. Ja man wagte es sogar, rationalistische Ideen auf der Bühne zu verkünden, obgleich die dramatischen Aufführungen bei den Festen des Gottes Dionysos als religiöse Feierlichkeiten betrachtet wurden. Der Dichter Euripides stand stark unter dem Einflüsse moderner Theorien, und obwohl man über die Tendenz verschiedener seiner Tragödien 21
geteilter Meinung sein kann, legt er häufig seinen Charakteren im höchsten Maße unorthodoxe Äußerungen in den M u n d . Er wurde auch von einem volkstümlichen Politiker der Gottlosigkeit bezichtigt. Man gewinnt den Eindruck, daß sich besonders während der letzten dreißig Jahre des 5. Jahrhunderts dem orthodoxen Glauben widersprechende Gedanken mehr und mehr auszubreiten begannen. Es gab eine genügend große Anzahl einflußreicher Rationalisten, um jede organisierte Unterdrückung der Freiheit unmöglich zu machen, aber das Hauptübel des Gotteslästerungsgesetzes bestand darin, daß es zu persönlichen oder parteipolitischen Zwecken mißbraucht wurde. Verschiedene der Verfolgungen, von denen wir Kenntnis besitzen, müssen bestimmt derartigen Motiven zugeschrieben werden. Andere wurden vielleicht aus ehrlicher Frömmigkeit in die Wege geleitet sowie aus Furcht, diese skeptischen Gedanken könnten auch außerhalb des Kreises der gebildeten u n d wohlhabenden Klasse Boden gewinnen. Es war bei den Griechen und später auch bei den Römern ein allgemein anerkanntes Prinzip, daß Religion für das gewöhnliche Volk gut, ja notwendig wäre. Männer, die nicht an die Wahrheit der Religion glaubten, glaubten an deren Nützlichkeit als politischer Institution. Daher verzichteten die Philosophen in der Regel darauf, revolutionäre „Wahrheit" unter der Masse des Volkes zu propagieren. In höherem Maße als heutzutage war es damals Sitte, daß auch jene, denen religiöse Gebräuche nichts bedeuteten, sie trotzdem äußerlich befolgten. Allgemeine höhere Bildung war kein Programmpunkt griechischer Staatsmänner oder Denker. Vielleicht könnte man zur Entschuldigung anführen, daß bei den Lebensbedingungen der antiken Welt eine solche Aufgabe auch kaum praktisch durchführbar gewesen wäre. Es gab jedoch einen berühmten Athener, der anders dachte — der Philosoph Sokrates. Sokrates war der Bedeutendste unter den großen Erziehern, aber im Gegensatz zu seinen Kollegen erteilte er, der Arme, seine Stunden kostenlos. Sein Unterricht bestand in Rede und Gegenrede. Häufig führte die Diskussion zu keinem positiven Ergebnis, aber sie hatte wenigstens den Erfolg zu zeigen, daß irgendeine überkommene Ansicht unhaltbar sei, und wie schwierig es wäre, die Wahrheit zu beweisen. Sokrates vertrat bestimmte endgültige Anschauungen über Wissen und Tugend, die in der Geschichte der Philosophie einen Ehrenplatz einnehmen, aber für unseren 22
Zweck beruht seine Bedeutung auf seiner Begeisterung für Diskussion und Kritik. Er lehrte allen, mit denen er Umgang pflog — und er verkehrte unterschiedslos mit jedem, der seinen W o r t e n lauschen wollte —, sämtliche volkstümliche Glaubenssätze dem Richterstuhle der Vernunft zu unterwerfen, unvoreingenommen an jede Frage heranzutreten und sich nicht durch die Ansicht der Majorität oder von dem Diktat einer Autorität beeinflussen zu lassen; mit anderen W o r t e n : stets nach einwandfreien Beweisen für die W a h r h e i t einer Behauptung zu suchen, und sich nicht damit zu begnügen, daß diese Anschauung von der Mehrheit des Volkes gläubig hingenommen würde. Unter seinen jugendlichen Schülern finden wir sämtliche führenden Philosophen der folgenden Generation, von denen manche später in der Geschichte Athens eine hervorragende Rolle zu spielen berufen waren. Hätte es in Athen bereits eine Tagespresse gegeben, so wäre Sokrates bestimmt von konservativen Journalisten als gefährlicher Aufwiegler angeprangert worden. Die Aufgabe der Presse erfüllte dort in gewisser Hinsicht die Komödie, die ständig bemüht war, Philosophen und Sophisten sowie deren trügerische Lehren lächerlich zu machen. Aristophanes hat uns ein Theaterstück „Die W o l k e n " hinterlassen, in dem Sokrates als typischer Vertreter gottloser und zersetzender Theorien verspottet wird. Trotz mancher Belästigungen erreichte Sokrates ein hohes Alter und verfolgte unbehindert seine Aufgabe, seine Mitbürger zu erziehen. Erst im Alter von 70 Jahren wurde er als Atheist und Verführer der Jugend angeklagt und zum Tode verurteilt (399 a. C . ) . Es wäre merkwürdig, daß die Athener, falls sie Sokrates wirklich für einen Sdiädling gehalten hätten, sein Treiben so lange duldeten. Meiner Ansidit nach besteht daher kaum ein Zweifel, daß die Anklage aus politischen Beweggründen erfolgte. *) W i e Sokrates die Dinge zu betrachten pflegte, konnte er weder mit einer unbegrenzten Demokratie sympathisieren, no'ch den Grundsatz billigen, daß der Wille der unwissenden Majorität ein guter Führer sei. Vermutlich nahm man an, daß er mit jenen Kreisen sympathisierte, die das Wahlrecht einzuschränken wünschten. Als nach einem Kampfe, in dessen Verlauf die Staatsverfassung mehr als einmal umgestürzt worden war, *) Das wird sehr überzeugend von Professor Jackson in seinem Artikel „Sokrates" in der neuesten Ausgabe der „Encyclopaedia Britannica" nachgewiesen.
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die D e m o k r a t i e siegreich a u s diesem Ringen hervorging (403 a. C . ) , herrschte g e g e n alle, die sich nicht als echte F r e u n d e der D e m o k r a t i e b e k a n n t hatten, tiefe Erbitterung, und m a n erwählte als O p f e r S o k r a t e s a u s d e r Schar dieser pflichtvergessenen Persönlichkeiten. E s wäre f ü r S o k r a t e s ein Leichtes gewesen zu flüchten. J a , wenn er sich n u r verpflichtet hätte, k ü n f t i g nicht mehr zu lehren, so wäre er mit größter W a h r scheinlichkeit freigesprochen worden. A u c h so stimmte eine sehr bedeutende Minorität der f ü n f z i g erwählten A t h e n e r , die über ihn zu Gericht saßen, f ü r Freispruch. Bestimmt w ü r d e kein Todesurteil gefällt worden sein, bätte sich Sokrates eines weniger aufreizenden T o n e s befleißigt. A b e r S o k r a t e s zeigte sidi der großen Gelegenheit würdig und verteidigte die Freiheit der D i s k u s s i o n in einer herrlichen, j e d e m H e r k o m m e n widersprechenden Rede. D i e von S o k r a t e s berühmtestem Schüler, dem Philosophen Plato, verfaßte „ V e r t e i d i g u n g des S o k r a t e s " gibt den allgemeinen Tenor dieser unsterblichen R e d e wieder. Selbstverständlich vermochte S o k r a t e s nicht den V o r w u r f zu entkräften, d a ß er den offiziell von der S t a d t angebeteten Göttern keine G e l t u n g zuerkenne. Seine A u s f ü h r u n g e n z u diesem Punkte sind der schwächste Teil seiner Rede. A b e r seine A n t w o r t auf die A n s c h u l d i g u n g , er korrumpiere d a s D e n k e n der J u g e n d , wurde zu einem Hohenlied auf die Freiheit der D i s k u s s i o n . D i e s e W o r t e bilden den wertvollsten Teil von Piatos „ A p o l o g i e " . Sie wirken heute noch g e n a u so eindrucksvoll wie einst. D i e beiden wesentlichsten Gesichtspunkte, welche S o k r a t e s ins Treffen führte, sind f o l g e n d e : 1. Er vertrat den S t a n d p u n k t , jeder einzelne m ü s s e es unter allen U m s t ä n d e n ablehnen, sich von irgendeiner von Menschen eingesetzten A u t o r i t ä t oder Tribunal zu einer H a n d l u n g zwingen zu lassen, die sein eigenes D e n k e n als ein Unrecht verwirft. Mit anderen W o r t e n : Sokrates verficht d i e S u p r e m a t i e des individuellen Gew i s s e n s , wie wir u n s heute ausdrücken würden, gegenüber den von Menschen geschaffenen G e s e t z e n . Sein eigenes Lebenswerk schildert S o k r a t e s als eine A r t religiösen Forschens, und er drückt die Ü b e r z e u g u n g a u s , daß er den Befehl eines göttlichen F ü h r e r s erfülle, wenn er seine K r a f t philosophischen D i s k u s s i o n e n w i d m e ; er will lieber den T o d erleiden, als seiner persönlichen Ü b e r z e u g u n g untreu werden. „Falls Ihr Euch erbietet, mich unter der B e d i n g u n g freizusprechen", erklärte er seinen Richtern, „ d a ß ich mein Suchen nach W a h r -
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heit aufgebe, so erwidere ich: ich danke Euch, oh Athener, aber ich will Gott gehorchen, der, wie ich glaube, mir diese Aufgabe zugewiesen hat, und nicht Euch, und solange ich atme und Kraft besitze, werde ich nie aufhören, mich mit Philosophie zu beschäftigen. Ich werde auch in Zukunft jeden, den ich treffe, ansprechen und ihm sagen: .Schämst D u Dich nicht, Dein Herz an Reichtum und Ehren zu hängen, anstatt Dich um Weisheit und Wahrheit zu bemühen und Deine Seele zu bessern? Ich weiß nicht, was T o d ist — vielleicht ist er etwas Gutes, und ich habe keine Angst vor ihm. A b e r ich weiß, daß es etwas Schlechtes ist, seinen Posteh zu verlassen, und ich ziehe das, was vielleicht gut ist, dem vor, was ich als schlecht erkannt habe." 2. Sokrates beharrte darauf, daß freie Meinungsäußerung dem allgemeinen W o h l e diene. „In mir besitzt Ihr einen anspornenden Kritiker, der Euch ständig mit Überredung und Tadel antreibt, ständig Eure Anschauungen prüft und sich bemüht, Euch zu zeigen, daß Ihr von dem, was Ihr zu wissen vermeint, in Wahrheit nichts wißt. Tägliche Diskussionen der Fragen, über die Ihr mich reden hört, sind für den Menschen das höchste Gut. Leben, das nicht durch solche Erörterungen geprüft wird, ist des Lebens nicht wert." Diese Rede, die wir als die älteste Rechtfertigung der Gedankenfreiheit bezeichnen können, enthält zwei bedeutsame Forderungen: das unantastbare Recht der Gewissensfreiheit des einzelnen — eine Forderung, um die sich später die Kämpfe für die Freiheit drehten; und die soziale Bedeutung freier Meinungsäußerung und Kritik. Die erste Forderung gründet sich nicht auf einen Beweis, sondern auf Intuition; sie beruht auf der Annahme irgendeines übernatürlichen moralischen Grundprinzips, und für jene, die nicht die nämliche persönliche Erfahrung wie Sokrates besitzen und diese Voraussetzungen verneinen, hat seine Forderung kein Gewicht, Dagegen vermag man die zweite Forderung, nach der Erfahrung von mehr als 2000 Jahren heute mit stichhaltigeren Gründen, von denen Sokrates sich noch nichts träumen lassen konnte, weit nachdrücklicher zu stützen. Der Verlauf der Gerichtssitzung über Sokrates illustriert sowohl die Duldsamkeit wie die Unduldsamkeit, welche in Athen herrschten. D a ß er solange unangetastet blieb, die Tatsache, daß er schließlich aus politischen, vielleicht auch aus persönlichen Beweggründen angeklagt wurde, die bedeutende 25
Minorität der Geschworenen, die zu seinen Gunsten stimmte, zeigen deutlich, daß Gedanken im allgemeinen frei waren, und daß die im Falle Sokrates zutage tretende Intoleranz künstlich erregt wurde, vermutlich um persönlichen Zwecken zu dienen. Ich möchte hier an den Fall des Philosophen Aristoteles erinnern, der etwa 70 Jahre später Athen verließ, weil ihm eine Anklage wegen Gotteslästerung drohte, eine Beschuldigung, die nur als Vorwand diente, um jemand anzugreifen, der einer bestimmten politischen Partei angehörte. In keinem Falle handelte es sich um eine organisierte Verfolgung freier Meinungsäußerungen. Es erscheint vielleicht seltsam, daß wir uns den Philosophen zuwenden müssen, um bei den Griechen diesen Verfolgungswahn aufzuspüren. Piaton, Sokrates berühmtester Schüler, entwarf in seinen älteren Jahren das Bild eines idealen Staatswesens. In diesem Staate führte er eine Religion ein, die sich wesentlich von der landläufigen Religion unterschied, und schlug vor, sämtliche Bürger bei Todesstrafe oder Einkerkerung zu zwingen, an seine Götter zu glauben. Jede Freiheit der Meinungsäußerung war unter dem eisernen System, das dem Philosophen vorschwebte, ausgeschlossen. Das interessanteste an Piatons Haltung war, daß er sich nicht den Kopf darüber zerbrach, ob eine Religion wahr sei, sondern nur, ob sie geeignet wäre, durch erdichtete Fabeln die Moral zu fördern. Er verurteilte die volkstümliche Mythologie nicht etwa, weil sie falsch sei, sondern weil sie nicht der Gerechtigkeit diene. Das Resultat der in Athen herrschenden weitgehenden Freiheit war eine ganze Reihe philosophischer Systeme, die in den Gesprächen des Sokrates ihre gemeinsame Quelle besitzen. Piaton, Aristoteles, die S t o i k e r , die E p i k u r ä e r , die S k e p t i k e r : die von diesen Namen repräsentierte Gedankenarbeit übte auf den Fortschritt der Menschen einen tieferen Einfluß aus, als irgendeine andere geistige Strömung, zum mindesten bis zum Aufstieg moderner Wissenschaft in einer neuen Epoche der Freiheit. Die Lehren der Epikuräer, Stoiker und Skeptiker hatten alle das Ziel, den Frieden zu sichern und der Seele des Individuums als Richtschnur zu dienen. Diese Doktrinen wurden seit dem dritten Jahrhundert a. C. in der ganzen griechischen Welt eifrig propagiert, und man kann behaupten, daß von dieser Zeit an die meisten gebildeten Griechen in höherem oder geringerem Grade Rationalisten waren. Die Lehre E p i k u r s besaß eine aus26
gesprochen antireligiöse Tendenz. Furcht war nach Epikurs Meinung das Grundmotiv der Religion, und den menschlichen Geist von dieser Furcht zu befreien, war eines der wichtigsten Ziele seiner Lehre. Er war Materialist und versuchte, die Welt mit Hilfe der Atomtheorie des Demokrit zu erklären und jede göttliche Beherrschung des Universums abzuleugnen*)- In Wahrheit glaubte er an die Existenz von Göttern, aber so weit der Mensch in Frage kam, waren seine Götter — lebend in irgendeinem fernen Winkel der Welt und sich einer „heiligen und ewigen Ruhe" erfreuend — so beschaffen, als wären sie überhaupt nicht vorhanden. Sie dienten nur als Beispiel der Verwirklichung des Ideals eines epikuräischen Lebens. Etwas in Epikurs Philosophie besaß die Kraft, einen Dichter von einzigartigem Genie dazu zu begeistern, sie in Verse zu fassen. Der Römer L u k r e z (1. Jahrhundert a. C.) betrachtete Epikur als den größten Befreier des Menschengeschlechts und entschloß sich die frohe Botschaft von Epikurs Philosophie in einem Lehrgedicht „ D e r e r u m n a t u r a " der W e l t zu verkünden. Mit der ganzen Inbrunst eines religiösen Fanatikers klagt er die Religion an, jeder Vers sprühend von Trotz, Fluch und Verachtung, und brandmarkt in flammenden Worten die Verbrechen, zu denen die Religion die Menschen angespornt hat. Als Anführer eines Heeres von Atheisten stürmt er gegen die Mauern des Himmels. Er erklärt die wissenschaftlichen Gründe, als handele es sich um strahlende Offenbarungen einer neuen Welt, und sein übersteigerter Enthusiasmus wirkt als Begleitung einer Lehre, deren Ziel vollkommene Ruhe ist, ein wenig seltsam. Obwohl die griechischen Denker die gesamte Arbeit geleistet hatten, und das lateinische Gedicht nur eine Triumphhymne über eine bereits geschlagene Gottheit war, wird es dank der Aufrichtigkeit seines kühnen trotzigen Geistes in der Literatur über Gedankenfreiheit stets einen hervorragenden Platz einnehmen. Für die Geschichte des Rationalismus wäre die Bedeutung dieser Dichtung größer ge* ) Die theologische Schwierigkeit, den U r s p r u n g des B ö s e n zu erklären, faßte er in folgende Sätze z u s a m m e n : entweder wünscht G o t t das B ö s e auszutilgen und v e r m a g es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er k a n n es weder noch will er es, oder er kann u n d will es. Die drei ersten A n n a h m e n sind unvorstellbar, falls er ein Gott, würdig dieses N a m e n s ist; daher muß die letzte Alternative zutreffen. A b e r weshalb gibt es denn B ö s e s ? Die Schlußfolgerung lautet, es gibt keinen Gott im Sinne eines Beherrschers der Welt.
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wesen, wenn es mitten in einer orthodoxen Gesellschaft explodiert wäre. Aber die gebildeten Römer zur Zeit des Lukrez waren in bezug auf religiöse Fragen an sich skeptisch, manche von ihnen waren Epikuräer, und wir dürfen annehmen, daß nicht viele, die das Gedicht lasen, über die Kühnheit dieses Vorkämpfers der Irreligiosität empört waren oder von ihr besonders beeindruckt wurden. Die Philosophie der S t o i k e r hat der Sache der Freiheit gleichfalls bemerkenswerte Dienste geleistet und hätte in einer Atmosphäre, in der die Meinungsäußerung nicht frei gewesen wäre, schwerlich zu solcher Blüte gelangen können. Die Stoiker verfochten die Rechte des Einzelmenschen gegenüber staatlicher Autorität. Sokrates hatte erkannt, daß Gesetze ungerecht sein und Völker in die Irre gehen können, aber er vermochte kein Prinzip zur vernünftigen Leitung eines Staates vorzuschlagen. Die Stoiker entdeckten dieses Prinzip in dem Gesetz der Natur, das älter und allen Sitten und Gesetzen übergeordnet sei. Diese sich weit über den Kreis der Stoiker ausbreitende Lehre schlug in der römischen Welt Wurzel und beeinflußte auch die römische Gesetzgebung. Diese philosophischen Lehren haben unsvon Griechenland nadi Rom geführt. In der späteren römischen Republik und im ersten Kaiserreich gab es keinen Meinungszwang, und die Philosophien, die dem Individuum die erste Rolle einräumten, fanden weite Verbreitung. Die Mehrzahl der führenden Persönlichkeiten glaubten nicht an die offizielle Staatsreligion, aber sie betrachteten sie als ein wertvolles Instrument, um die ungebildete Bevölkerung in Schranken zu halten. Ein griechischer Historiker spricht der römischen Politik, die den Aberglauben zum Wohle der breiten Masse des Volkes unter ihren Schutz nahm, seinen höchsten Beifall aus. Die gleiche Haltung nahm auch C i c e r o ein. Überhaupt war die Ansicht, daß eine falsche Religion als soziales Instrument unentbehrlich sei, unter den Gottesleugnern des Altertums ganz allgemein im Schwange. In der einen oder anderen Form ist diese Anschauung auch heute noch verbreitet; wenigstens werden Religionen in der Regel, nicht weil sie wahr, sondern weil sie nützlich sind, gefördert. Diese Art der Verteidigung gehörte auch zu der Staatskunst M a c h i a v e l l i s , der nachdrücklich betont, Religion sei für eine Regierung notwendig, und Pflichtbewußtsein könne einen Fürsten zwingen, eine Religion zu fördern, die er persönlich für irrig halte. 28
Ein paar Worte müssen über L u k i a n (2. Jahrhundert p. C.) eingeschaltet werden, diesen letzten griechischen Schriftsteller, dessen Schriften sich an jedermann wandten. Lukian griff die volkstümliche Mythologie mit beißendem Spotte an. Es läßt sich nicht entscheiden, ob seine Satiren zu der damaligen Zeit noch eine andere W i r k u n g hatten, außer die aufgeklärten Gebildeten, die sie lasen, zu ergötzen. Zeus in einer tragischen Rolle ist eine seiner wirkungsvollsten Satiren. Die von ihm erdachte Situation fände eine Parallele, falls ein moderner Dichter so gottlos wäre, die Gestalten der Dreieinigkeit in Gesellschaft von ein paar erhabenen Engeln und Heiligen in einem himmlischen Rauchsalon auf die Bühne zu bringen und sie über die beunruhigende Zunahme des Unglaubens mit einander diskutieren und anschließend mittels eines Lautsprechers einen Disput zwischen einem Freidenker und einem Pastor auf einer öffentlichen Rednertribüne in London anhören zu lassen. Die Lächerlichkeit des Anthropomorphismus ist niemals Gegenstand einer witzigeren Verhöhnung gewesen als in Lukians Satiren. Die Duldsamkeit gegenüber allen Religionen und Anschauungen war im gesamten Kaiserreiche die Richtschnur römischer Politik. Gotteslästerung wurde nicht bestraft. Diesen Grundsatz verkündete ein Edikt des Kaisers Tiberius mit folgenden Worten: „Falls die Götter beleidigt werden, mögen sie sich selber wehren." Eine Ausnahme von diesem Prinzip der Toleranz wurde nur in bezug auf die christliche Sekte gemacht, und das Verhalten gegen diese orientalische Religion gab vielleicht den ersten Anstoß zu religiösen Verfolgungen in Europa. Es ist interessant, sich darüber klar zu werden, weshalb kluge, humane und in keiner Hinsicht fanatische Herrscher sich diese so außergewöhnliche Politik zu eigen machten. Lange Zeit waren die Christen nur jenen Römern bekannt, die zufällig von ihnen als einer jüdischen Sekte sprechen gehört hatten. Die jüdische Religion war die einzige, die wegen ihrer Exklusivität und Unduldsamkeit von den toleranten Heiden mit Mißgunst und Argwohn betrachtet wurde. Aber obwohl es bisweilen zwischen Juden und römischen Behörden zu Zusammenstößen kam und mehrere übelberatene Angriffe gegen letztere unternommen wurden, verfolgten die Kaiser trotzdem ständig die Politik, die religiösen Gebräuche der Juden nicht anzutasten, ja die Juden sogar gegen den durch ihren Fanatismus im Volke erregten H a ß in Sdhutz zu nehmen. Aber 29
während die jüdische Religion unangetastet blieb, solange si^ sich auf jene beschränkte, die in diesem Glauben aufwuchsen, änderte sich die Lage, als die Juden versuchten, Proselyten zu machen. Mußten nicht im Geiste eines Herrschers ernste Besorgnisse entstehen, wenn ein Glaube sich auszubreiten be gann, der allen anderen Glaubensbekenntnissen der W e l t , die bis dahin in Eintracht nebeneinander lebten, feindlich begegnete — ein Glaube, der seinen Anhängern den Ruf eingetragen hatte, Feinde der Menschheit zu sein? Konnte nicht eine Ausbreitung dieses Glaubens über den Kreis der Israeliten hinaus schließlich das Reich gefährden? Eine solche Geistesrichtung war mit den Überlieferungen und den Grundsätzen römischer Gesellschaftsordnung unvereinbar. Das war augenscheinlich auch die Ansicht des Kaisers D o m i t i a n , die diesen Monarchen veranlaßte, strenge Maßnahmen zu ergreifen, um das Werben von Proselyten unter römischen Bürgern zu verhindern. Manche, welche die Strafe ereilte, mögen Christen gewesen sein, aber an dem Standpunkte Domitians würde diese Tatsadie kaum etwas geändert haben. Christentum und Judentum, aus welchem ersteres entsprang, glichen sich völlig in ihrer Unduldsamkeit und Feindseligkeit gegenüber der römischen Gesellschaft, der einzige Unterschied bestand darin, daß das Christentum viele, das Judentum nur wenig Proselyten machte. Unter der Herrschaft Trajans wurde der Grundsatz aufgestellt, daß Christ zu sein ein mit Todesstrafe zu ahndendes Verbrechen wäre. V o n dieser Zeit an war das Christentum eine verfehmte Religion. Aber in der Praxis wurde das Gesetz weder streng noch logisch gehandhabt. Die Kaiser hofften, das Christentum auch ohne Blutvergießen ausrotten zu können. T r a j a n verfügte, daß den Christen nicht nachgespürt, daß keine anonyme Anklage beachtet werden dürfte, und daß ein Denunziant, der seine Beschuldigung nicht zu beweisen vermöchte, auf Grund des Gesetzes wegen Verleumdung bestraft werden sollte. Die Christen selbst erkannten bald, daß dieses gegen sie erlassene Edikt in Wahrheit einen Schutz für sie bedeutete. Zwar fanden im zweiten Jahrhundert eine Anzahl Hinrichtungen statt — nicht sehr viele, von denen wir zuverlässige Kunde haben —, und die Christen ernteten das Leid, aber auch den Ruhm des Märtyrertums. Es liegen genügend Beweise vor, daß ihnen nach der Verhaftung von den Behörden häufig Gelegenheit zur Flucht geboten wurde. Im allgemeinen wurden Christenverfolgungen öfter von der Bevölkerung provoziert, als
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es der Regierung wünschenswert erschien. D a s Volk empfand vor dieser geheimnisvollen orientalischen Sekte, die so unverhohlen alle Götter haßte und die Vernichtung der Welt erflehte, Grauen. Wenn Überschwemmungen, Hungersnöte und vor allem Feuersbrünste ausbrachen, schrieb man sie der schwarzen Magie der Christen zu. W u r d e jemand beschuldigt, der christlichen Sekte anzugehören, dann forderte der Richter den Angeklagten auf, zum Zeichen seiner Unschuld den Göttern oder den Statuen 'der zu Göttern erhobenen Kaiser Weihrauch zu opfern. Stimmte er zu, so war damit seine Unschuld erwiesen. Die Weigerung der Christen — sie und die Juden waren die einzigen, die sich weigerten die Kaiser anzubeten — galt in den A u g e n der Römer als offenkundigstes Zeichen für die Staatsgefährlichkeit der christlichen Religion. Diese allgemeine Anbetung war das Symbol für die Einheit und Festigkeit eines Reiches, das so zahlreiche Völker verschiedener Glaubensbekenntnisse und verschiedenster Gottheiten umfaßte. In politischer Hinsicht hoffte man, durch diese gemeinsamen Opfer Einigkeit und Loyalität zu fördern. Es kann daher nicht überraschen, daß Leute, die diese Forderung ablehnten, sich eines aufrührerischen Geistes verdächtig machten. Wir müssen aber betonen, daß für keinen Bürger ein Zwang bestand, an diesem Kulte teilzunehmen. Von keinem Einwohner des Reiches, der nidit als Soldat oder Beamter im Staatsdienst stand, verlangte man Konformität der Anschauungen. Infolgedessen waren also Christen vom Militärdienst und von der Beamtenlaufbahn ausgeschlossen. Die zu jener Zeit (2. Jahrhundert) erscheinenden Verteidigungsschriften zu Gunsten der Christen hätten die Kaiser (an welche einige dieser Schriften gerichtet waren) eher in der Überzeugung bestärken können, das Christentum für eine politische Gefahr zu halten. Es wäre für die Cäsaren ein Leichtes gewesen, falls sie sich der Mühe unterzogen hätten, sich mit diesen Ausführungen zu beschäftigen, zwischen den Zeilen zu lesen, daß, wenn die Christen je die Oberhand gewönnen, sie den staatlichen Gottesdienst nicht schonen würden. D a s zeitgenössische Werk T a t i a n s „Eine Rede an die Griechen" enthüllt, was die Apologeten mehr oder weniger zu verschleiern suchten, den unauslöschlichen H a ß der Christen gegen die Kultur, in deren Mitte sie lebten. Jeder Leser der christlichen Literatur jener Zeit mußte erkennen, daß in einem Staate, in dem 31
die ausübende Macht in die H ä n d e der Christen geriete, es keine Schonung anderer religiöser Gebräuche geben würde. Wenn die Kaiser im Falle der Christenheit eine A u s n a h m e von ihrer Politik der Duldsamkeit machten, so geschah das zum Schutze der Toleranz. Im dritten Jahrhundert wurde die christliche Religion, obwohl immer noch verboten, ganz öffentlich geduldet. Die Kirche schuf sich unbedenklich ihre Organisationen; kirchliche Konzile faliden ohne Zwischenfälle statt. Es gab wohl verschiedene örtlich begrenzte Versuche einer Unterdrückung, aber zuverlässige Berichte liegen nur von einer einzigen ernsthaften Verfolgung vor (begonnen von D e c i u s 250 p. C. und fortgesetzt von V a 1 e r i a n). Tatsächlich war aber die Zahl der Opfer auch in diesem Jahrhundert sehr gering, obwohl die Christen später eine 'umfangreiche Mythologie des Märtyrertums erdichteten. Zahlreiche Greultaten wurden Herrschern in die Schuhe geschoben, von denen wir wissen, daß sich unter ihnen die Kirche absoluten Friedens erfreute. Eine lange Periode bürgerlicher Unruhen, unter denen das Reich zusammenzubrechen drohte, wurde von dem Kaiser D i o k l e t i a n beendet, der durch radikale Verwaltungsreformen wesentlich dazu beitrug, die römische Machtstellung in ihrer vollen Stärke ein weiteres Jahrhundert aufrecht zu erhalten. U m das Werk einer politischen Konsolidierung durch Wiederbelebung römischen Geistes zu krönen, bemühte er sich, der Staatsreligion neues Leben einzuhauchen. Z u diesem Zwecke beschloß er, um den wachsenden Einfluß der Christen, die, obwohl immer noch eine Minorität, doch an Zahl bedeutend zugenommen hatten, zu ersticken, eine systematische Verfolgung zu organisieren. Diese Aktion war lang, grausam und blutig. Diese Tat stellte den nachdrücklichsten allgemein durchgeführten zielbewußten Versuch dar, diesen verfehmten Glauben auszutilgen. Er endete jedoch mit einem Fehlschlage, da die Christen bereits zu zahlreich geworden waren, um sie restlos vernichten zu können. Nach Diokletians Abdankung konnten die Kaiser, die in den verschiedenen Teilen des Reiches herrschten, sich nicht über die Zweckmäßigkeit der Diokletianischen Politik einigen, und die Verfolgung wurde durch Erlaß von Toleranzedikten (311 und 313 p. C.) beendet. Diese Dokumente besitzen für die Geschichte der religiösen Freiheit große Bedeutung. 32
Das erste in den östlichen Provinzen erlassene Edikt lautete: „In erster Linie war unser Bestreben, die verleiteten Christen, welche die von ihren Vorfahren eingeführte Religion und die Zeremonien verleugneten, und, vermessen die Sitten des Altertums verachtend und nur ihrer Phantasie folgend, törichte Gesetze und Anschauungen ersonnen und eine buntzusammengewürfelte Schar von Anhängern aus den verschiedenen Provinzen unseres Reiches um sich gesammelt haben, auf den W e g der Vernunft und der Natur zurückzuführen. Die Edikte, die wir veröffentlicht haben, um die Anbetung der Götter zu erzwingen, haben über viele der Christen Gefahr und Unheil heraufbeschworen, viele haben den T o d erlitten und noch weit zahlreichere, die immer noch auf ihrer gottlosen Torheit beharren, sind jeder öffentlichen Ausübung ihres Glaubens beraubt worden; daher sind wir geneigt, auch über diesen unglücklichen Menschen unsere gewohnte Gnade walten zu lassen. W i r gestatten ihnen daher, offen ihre privaten Anschauungen zu bekennen und sich ohne Furcht vor Belästigungen in ihren Konventikeln zu versammeln, immer vorausgesetzt, daß sie den staatlichen Gesetzen und der Regierung die gebührende Achtung bezeigen"*). Das zweite Edikt, bekannt als das Edikt von Mailand, dessen Autor Constantin war, verfolgte einen ähnlichen Zweck und basierte auf Duldsamkeit, entsprechend des Kaisers Wunsch, dem Frieden und dem Glücke seiner Untertanen zu dienen und die Gottheit, deren Sitz im Himmel ist, zu besänftigen. Die Beziehungen zwischen der römischen Regierung und den Christen hatten zum Mittelpunkt der Diskussion die Frage der Verfolgung und der Freiheit des Gewissens. Ein Staat mit einer Staatsreligion, aber im höchsten M a ß e duldsam allen Bekenntnissen und Kulten gegenüber, entdeckt, daß sich in seiner Mitte eine Gemeinde zusammengeschlossen hat, die allen Glaubensbekenntnissen außer den eigenen Doktrinen unversöhnlich feindlich gegenüber steht und die, falls sie die Macht besäße, alle Religionen außer ihrer eigenen unterdrücken würde. Zur Selbstverteidigung beschloß die Regierung daher der Ausbreitung dieser umstürzlerischen Ideen Einhalt zu gebieten, das Bekenntnis zum christlichen Glauben zu einem Verbrechen zu stempeln, nicht wegen dieser Lehre an sich, sondern wegen der sozialen Folgen, die diese Grundsätze nach sich zö*) Nach der Übersetzung von Gibbon wiedergegeben. 3
B u r y ,
Gedankenfreiheit.
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gen. Die Mitglieder dieser Gesellschaft konnten nicht ohne ihrem Gewissen Zwang anzutun und ewige Verdammung auf sich herabzubeschwören, ihre exklusiven Lehren preisgeben. Der Grundsatz der Gewissensfreiheit galt ihnen als sämtlichen anderen Verpflichtungen des Staates übergeordnet, daher konnte der Staat, als er sich diesem neuem Anspruch gegenübergestellt sah, eine solche Lehre unmöglich weiter dulden, und das Resultat war Verfolgung. Selbst vom Standpunkt eines orthodoxen und loyalen Heiden läßt sich die Verfolgung der Christen nicht verteidigen, da Blut nutzlos vergossen wurde. Mit anderen Worten, diese Verfolgung war ein schwerer Fehler, weil sie erfolglos blieb. Verfolgung bedeutet die Wahl zwischen zwei Übeln. D a s Entweder-Oder lautet Gewalt (und kein verständiger Verteidiger einer Verfolgung vermöchte zu leugnen, daß Gewalt an sich ein Übel ist) oder weitere Ausbreitung einer staatsfeindlichen Lehre. Die erste Alternative wurde lediglich gewählt, um die zweite zu vermeiden, weil diese zweite als das größere Übel empfunden wurde. Aber wenn eine Verfolgung nicht so geplant und durchgeführt wird, daß sie auch ihr Ziel erreicht, dann hat man es mit zwei Übeln anstatt mit einem zu tun, ein Ergebnis, das nicht gerechtfertigt werden kann. Von ihrem Standpunkt aus hatten die Kaiser triftige Gründe, das Christentum als gefährlich und antisozial zu betrachten, aber sie hätten es entweder unangetastet lassen oder systematische Maßregeln zu seiner Vernichtung ergreifen müssen. Hätten sie zu einem früheren Zeitpunkt eine drastische organisierte Inquisition eingeführt, dann wäre es vielleicht noch möglich gewesen, den christlichen Glauben auszutilgen. D a s wäre wenigstens eine staatsmännische Handlung gewesen. Aber extreme Maßnahmen kamen den Römern nicht in den Sinn, und — da keine Erfahrung ihnen als Richtschnur diente — daher vermochten sie nicht, diese neu vor ihnen aufgetauchten Probleme zu meistern. Ihre Hoffnung, durch Einschüchterung Erfolge zu erzielen, erwies sich als trügerisch. Ihre Versuche zur Unterdrückung waren wankelmütig, launenhaft und lächerlich unwirksam. Die späteren Verfolgungen (in den Jahren 250 und 303 p. C.) hatten überhaupt keine Aussicht auf Erfolg. Besonders auffällig ist es, daß keine "Maßregeln zur Unterdrückung der christlichen Literatur getroffen wurden. Das höhere Problem, ob Verfolgung selbst unter Annahme, daß sie das beabsichtigte Resultat erziele, sich rechtfertigen ließe, wurde über34
haupt nicht erwogen. Der Angelpunkt des Streites beruhte auf dem Antagonismus zwischen dem Gewissen des Einzelnen einerseits und der Autorität sowie den vermeintlichen Interessen des Staates andererseits. Es war die gleiche Frage, die bereits Sokrates aufgeworfen hatte, nur wurde sie - jetzt auf einer breiteren Plattform und in schrecklicherer Gestalt ausgefochten. Diese Frage lautete: W a s ist zu tun, wenn Gehorsam gegen das Gesetz in Widerspruch tritt mit dem Gehorsam gegen einen unsichtbaren Herrn und M e i s t e r ? Ist es unter allen Umständen die Pflicht des Staates, das Gewissen des Individuums zu respektieren, oder wo liegen die G r e n z e n ? Die Christen bemühten sich nicht einmal um eine Lösung; dieses Hauptproblem interessierte sie nicht. Sie forderten von einer nicht christlichen Regierung ausschließlich für sich und nur für sich das Recht auf Freiheit; und man macht sich kaum einer Übertreibung schuldig, wenn man behauptet, sie hätten der Regierung Beifall gespendet, falls diese die Sekte der Gnostiker, die von den Christen gehaßt und verleumdet wurde, unterdrückt haben würde. Eins steht jedenfalls fest: wäre es den Christen gelungen, einen christlichen Staat zu errichten, so hätten sie das Prinzip, auf das sie sich immer beriefen, sofort vergessen. Die Märtyrer starben für ihr Gewissen, nicht für die Freiheit. Heute fordert die größte aller Kirchen in den modernen Staaten, die nicht von ihr beherrscht werden, Gewissensfreiheit, aber sie verweigert diese Gewissensfreiheit überall dort, wo sie die Macht besitzt, während es ihre Pflicht wäre, diese Freiheit auch anderen zuzubilligen. W e n n wir die Geschichte des klassischen Altertums in ihrer Gesamtheit überblicken, können wir fast behaupten, die Gedankenfreiheit gleiche der Luft, die der Mensch atmet. Sie galt damals als eine Selbstverständlichkeit, und niemand grübelte über dieses Problem nach. W e n n wirklich sieben oder acht Denker in Athen wegen Irrglaubens bestraft wurden, so diente in einigen, vielleicht sogar in den meisten dieser Fälle der Vorwurf des Irrglaubens lediglich als Vorwand. Diese Vorkommnisse beeinträchtigen nicht die grundlegende Tatsache, daß der Fortschritt des Wissens weder durch Vorurteil behindert, noch die Wissenschaft durch Eingriffe unwissenschaftlicher Autorität gehemmt wurde. Die gebildeten Griechen benahmen sich tolerant, weil sie Freunde der Vernunft waren, und erließen daher auch keine Gesetze, um Vernunft niederzuhalten. Meinungen wurden nicht aufgezwungen, höchstens 3*
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durch Argumente; man erwartete von niemand gleich einem kleinen Kind irgend ein „Königreich des Himmels" freudig entgegenzunehmen, oder seinen Verstand einer Autorität zu unterwerfen, weil diese den Anspruch erhob, unfehlbar zu sein. Diese Freiheit war aber nicht das Resultat einer bewußten Politik oder wohlerwogener Überzeugung; sie beruhte einzig und allein auf dem guten Willen. Die Probleme der Gedankenfreiheit, der religiösen Freiheit, der Duldsamkeit waren der Gesellschaft weder aufgezwungen, noch waren sie ernstlich untersucht worden. Als sich die römische Regierung dem Christentum gegenüber sah, erkannte niemand, daß mit der Behandlung einer kleinen unbedeutenden, den heidnischen Denkern gleichgültigen oder widrigen Sekte ein Prinzip von höchster sozialer Bedeutung verstrickt war. Erst lange Erfahrung in Theorie und Praxis der Verfolgung vermochte das Prinzip der Gedankenfreiheit auf eine gesicherte Grundlage zu stellen. Die düstere Politik des Zwanges, welche die christliche Kirche sich zu eigen machte, und die daraus entspringenden Folgen veranlaßten endlich die Vernunft, energisch mit diesem Problem zu ringen, um eine logische Rechtfertigung der geistigen Freiheit aufzufinden. Der in den Werken der Griechen und Römern fortlebende Geist sollte, nach einer langen Periode der Finsternis, von neuem die Welt erleuchten und mithelfen, das Reich der Vernunft, dessen jene sich sorglos und ohne sich über die Festigkeit der Fundamente Gedanken zu machen, erfreut hatten, neu zu errichten.
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Drittes
Kapitel
VERNUNFT IN FESSELN! Das Mittelalter Etwa zehn Jahre nach Erlaß des Ediktes der Duldsamkeit t r a t K o n s t a n t i n d e r G r o ß e zum Christentum über. Diese folgenschwere Entscheidung eröffnete ein Jahrtausend, in dessen Verlaufe die Vernunft in Fesseln geschlagen, die Gedanken versklavt wurden und die Wissenschaft keine nennenswerten Fortschritte zu erzielen vermochte. Während der zwei Jahrhunderte, in denen die Christen eine verfehmte Sekte gewesen waren, hatten sie Toleranz mit der Begründung gefordert, religiöse Überzeugung sei etwas Freiwilliges und könne keinem Menschen aufgezwungen werden. Kaum aber war ihre Religion zum herrschenden Glauben erhoben worden, hinter dem die Macht des Staates stand, so änderten sie sofort ihren Standpunkt. Mit guter Aussicht auf Erfolg machten sie sich ans Werk, die menschlichen Anschauungen in bezug auf die Mysterien des Universums zu uniformieren und das Denken durch mehr oder weniger strenge Maßnahmen zu vergewaltigen. Hauptsächlich aus politischen Erwägungen wurde diese Politik von den Kaisern und Regierungen nachdrücklich unterstützt, da die staatlichen Autoritäten in religiösen, mit solcher Erbitterung geführten Zwistigkeiten, eine Gefährdung der Einheit des Staates erblickten. Der eigentliche Anlaß für diesen Zwist entsprang der Lehre, das einzig und allein die christliche Kirche der Menschheit das wahre Heil zu bringen vermöchte. Die aufrichtige Überzeugung, das alle Menschen, die nicht an die christliche Lehre glaubten, der ewigen Verdammung anheim fielen, und daß Gott theologischen Irrtum ahnde, als wäre er das Verruchteste aller Verbrechen, führte zwangsläufig zu Verfolgungen. Daher gebot einfaches Pflichtgefühl den Christen, ihren Mitmenschen diese einzig wahre Lehre aufzuzwingen und eine Ausbreitung von Irrlehren zu verhindern, stand doch nach ihrer Ansicht das ewige 37
Seelenheil jedes Einzigen auf dem Spiele. Ketzer waren verdammenswerter als gewöhnliche Verbredher und im Vergleich zu den Qualen, die sie in der Hölle erwarteten, waren die Torturen, denen sie unterworfen wurden, ein Nichts. Die Erde von Menschen zu säubern, die — mochten sie auch noch so tugendhaft leben — infolge ihrer religiösen Irrlehren Feinde des Allmächtigen waren, galt als unabweisbare Pflicht. Tugend bot für Ketzerei keine Entschuldigung. Wir dürfen nicht vergessen, daß nach der liebreichen Lehre der Christen heidnische, das heißt rein menschliche Tugenden, als Untugenden gewertet wurden, und daß Kinder, die vor der Taufe starben, den Rest der Zeit in den Tiefen der Hölle schmorten. Die solchen Anschauungen entsprießende Unduldsamkeit übertraf in Art und Stärke alles, was die Welt bis dahin erlebt hatte. Abgesehen von der in dieser Lehre selbst liegenden Logik muß auch der Charakter der Heiligen Schrift für die Intoleranz der christlichen Kirche verantwortlich gemacht werden. Es war ein Unglück für die Menschheit, daß die ersten Christen der Bibel zum Teil jüdische Texte einverleibt hatten, welche Gedankengänge einer niederen Zivilisationsstufe wiederspiegeln und von Grausamkeiten strotzen. Der Schaden, den diese Lehren und diese Beispiele von Unmenschlichkeit, Gewalttätigkeit und Frömmelei, die zu billigen der ehrfurchtsvolle Leser, der schlicht an den göttlichen Ursprung des alten Testamentes glaubt, verpflichtet ist, in moralischer Hinsicht angerichtet haben, läßt sich kaum ermessen. Diese Beispiele bilden eine wahre Rüstkammer für die Theorie der Verfolgung. Ganz allgemein bedeuten „Heilige Bücher" eine Behinderung des moralischen und geistigen Fortschrittes, da sie den Ideen einer bestimmten Epoche einen Heiligenschein verleihen und die damals gültigen Sitten unjd Gebräuche als von Gott eingesetzt hinstellen. Indem das Christentum sich Bücher eines längst vergangenen Zeitalters zu eigen machte, errichtete es auf dem Pfade menschlicher Entwicklung eine fast unübersteigbare Schranke. Mancher wird sich vielleicht fragen, welchen anderen Verlauf die Geschichte genommen haben würde — und sie hätte bestimmt einen anderen Verlauf genommen —, wenn die Christen Jehovah aus ihrem Programm ausgeschaltet und — zufrieden mit dem Neuen Testament — die Eingebung des Alten verworfen hätten. Unter der Regierung K o n s t a n t i n d e s G r o ß e n sowie dessen Nachfolger gipfelten alle Edikte in Kampfansagen gegen eine Anbetung der alten heidnischen Gottheiten und gegen ketze38
rische christliche Sekten. Julian Apostata, der während seiner kurzen Regierung (361—363 p. C.) die alte Ordnung der Dinge wieder herstellen wollte, proklamierte allgemeine Toleranz. D a er aber den Christen verbot, in den Schulen zu lehren, verschlechterte er ihre Lage. Dieser Rückschlag währte aber nur kurze Zeit. Die strengen von Theodosius dem I. (Ende des vierten Jahrhunderts) erlassenen Gesetze vernichteten das Heidentum endgültig. N u r hier und dort — besonders in Rom und Athen — vermochte es noch länger als ein Jahrhundert sein Dasein zu fristen, besaß aber nur geringen Einfluß. Die Christen waren eifriger bestrebt, gegeneinander zu Felde zu ziehen, als dem im Sterben liegenden Geist des Altertums den Todesstoß zu versetzen. Die Hinrichtung des Ketzers P r i s c i 11 i a n in Spanien (385 p. C.) bedeutete die Einführung der Todesstrafe für Ketzerei. Es ist interessant, daß ein Nicht-Christ dieses Zeitalters die christlichen Sekten ermahnte, gegeneinander nachsichtiger zu sein. In einer Eingabe an den K a i s e r F l a v i u s V a 1 e n s beschwor T h em i s t i u s ihn,seine gegen die Christen gerichteten Edikte zu widerrufen, und entwickelte gleichzeitig eine Theorie der Toleranz. „Die religiösen Überzeugungen der Einzelnen sind ein Gebiet, auf dem die Autorität einer Regierung keinen Einfluß beanspruchen kann; Willfährigkeit kann hier nur zu Lippenbekenntnissen führen. Jeder Glaube müßte gestattet sein; die zivile Regierung sollte in bezug auf den gemeinsamen Gott orthodoxe und heterodoxe Meinungen gelten lassen. Gott selber zeigt deutlich, daß er verschiedene Formen der Anbetung wünschte; es gibt zahlreiche Wege, auf denen man zu ihm gelangen kann." Keiner der Kirchenväter ist höher geachtet worden oder hat sich einer stärkeren Autorität erfreut als S t. A u g u s t i n (gest. 480 p. C.). Er formulierte den Grundsatz der Verfolgung als Leitfaden künftiger Generationen, indem er ihn auf den festen Unterbau der Heiligen Schrift — auf die von Jesus Christus in einem seiner Gleichnisse gebrauchten Worte gründete: „Zwingt sie, zu mir zu kommen." Bis zum Ablauf des zwölften Jahrhunderts bemühte sich die Kirche unablässig, Irrlehren zu unterdrücken. Unzählige Verfolgungen fanden statt, aber sie wurden nie systematisch durchgeführt. Es gibt Gründe genug für die Annahme, daß sich die Kirche bei der Verfolgung der Ketzerei in der Hauptsache von momentanen Interessen leiten ließ, und nur dann zu strengen Maßnahmen griff, wenn die Ausbreitung falscher Lehren ihre Einkünfte zu schmälern oder 39
die Gesellschaft zu gefährden drohte. Gegen Ende des zwölften Jahrhunderts bestieg I n n o c e n z d e r D r i t t e den päpstlichen Thron und unter seiner Führung erklomm die Kirche Westeuropas den Gipfelpunkt ihrer Macht. Er und seine unmittelbaren Nachfolger sind f ü r den Plan und den Beginn einer organisierten Bewegung zur Säuberung der Christenheit von Ketzern verantwortlich. Die Provinz Languedoc in Südwestfrankreich wurde hauptsächlich von Ketzern, den sogenannten A 1 b i g e n s e r n , bewohnt, deren Lehren der Kirche ganz besonders gefährlich erschienen. Die Albigenser waren Untertanen des Grafen von Toulouse—ein fleißiges und achtbares Volk. Aber die Kirche erhielt von dieser antiklerikalen Bevölkerung zu wenig Geld, daher befahl Innocenz dem Grafen, die Ketzerei in seinem Lande auszurotten. Als dieser sich weigerte zu gehorchen, verkündete der Papst einen Kreuzzug gegen die Albigenser und verhieß allen, die bereit waren bei diesem Kreuzzug mitzuwirken, die üblichen, Kreuzfahrern gewährten Belohnungen, einschließlich Absolution all' ihrer Sünden. Die Folge war eine Reihe blutiger Kriege, an denen der Engländer S i m o n d e M o n t f o r t teilnahm. Männer, Frauen und Kinder wurden unterschiedslos verbrannt und aufgehängt. Der Widerstand des Volkes wurde zwar gebrochen, die Ketzerei aber trotzdem nicht ausgerottet. Der Kampf endete 1229 mit der völligen Unterwerfung des Grafen von Toulouse. Das wichtigste an dieser Episode ist folgendes: Die Kirche führte in das Gesetzbuch Europas den neuen Grundsatz ein, daß ein Souverän seine Krone nur unter der Bedingung trüge, daß er sieb bemühe, Ketzerei auszutilgen. Falls er zögere, auf Befehl des Papstes die Verfolgung aufzunehmen, müßte er dazu gezwungen werden; seine Ländereien würden f ü r vogelfrei erklärt, und jeder, der auf Veranlassung der Kirche den unbotsmäßigen Herrscher angreife, könne sich dessen Reiches bemächtigen. Auf diese Weise errichteten die Päpste ein theokratisches System, durch das sämtliche anderen Interessen der erhabenen Pflicht, die Reinheit des Glaubens zu wahren, untergeordnet wurden. Aber um Ketzerei restlos auszurotten, war es notwendig, sie auch in ihren verborgensten Schlupfwinkeln aufzuspüren. Die Albigenser waren zwar zerschmettert, aber das Gift ihrer Lehre war dadurch nicht unschädlich gemacht worden. Die Organisation zur Aufspürung von Ketzern, bekannt als I n q u i s i t i o n , wurde vom Papst G r e g o r d e m N e u n t e n etwa um das Jahr 1233 p. C. geschaffen und durch eine Bulle I n n o c e n z d e s 40
V i e r t e n (1252 p. C.) vollkommen ausgebaut und „als integrierender Teil des sozialen Gebäudes in jeder Stadt und jedem Staate" eine wirkungsvolle Maschinerie zur Verfolgung in G a n g gesetzt. Dieser gewaltige Apparat zur Unterdrückung der Freiheit der religiösen Anschauungen hat in der Geschichte nichts seines Gleichen. Die Bischöfe waren der neuen, seitens der Kirche in Angriff genommenen A u f g a b e nicht alle im gleichen Maße gewachsen. Daher wurden in jedem Ordensgebiet geeignete Mönche auserwählt und diesen die Autorität des Papstes zur J a g d auf Ketzer übertragen. Diese Inquisitoren besaßen uneingeschränkte Vollmacht; sie waren keiner Oberaufsicht unterworfen und niemandem verantwortlich. Es wäre nicht leicht gewesen, ein solches System aufzubauen, hätten nicht zeitgenössische weltliche Herrscher bereits unabhängig davon gnadenlose Gesetze gegen Ketzerei geschaffei). Kaiser Friedrich der Zweite, der persönlich zweifellos ein Freidenker war, erließ für seine weitausgedehnten Gebiete in Italien und Deutschland (im Verlauf der Jahre zwischen 1220 und 1235) Gesetze, welche alle Ketzer als vogelfrei erklärten und bestimmten, daß alle, die sich weigerten, ihrer Irrlehre abzuschwören, verbrannt würden, während jene, die ihren falschen Glauben widerriefen, eingekerkert und im Falle der Rückfälligkeit hingerichtet werden sollten, und daß ferner ihr Eigentum beschlagnahmt, ihre Häuser zerstört und ihre Kinder bis in die zweite Generation für unwürdig erklärt würden, ein Amt zu bekleiden, es sei denn, sie hätten ihre Väter oder andere Ketzer verraten. Friedrichs Gesetzgebung bestimmte den Scheiterhaufen als geeignete Strafe für Ketzerei. Diese grausame Form der Hinrichtung für ein solches Verbrechen scheint zum erstenmal von einem französischen König (1017) über Ketzer verhängt worden zu sein. Wir müssen uns erinnern, daß im Mittelalter und auch noch später Verbrechen aller Art mit äußerster Grausamkeit geahndet wurden. Unter der Regierung H e i n r i c h d e s A c h t e n ist aus England ein Fall bekannt, daß ein Giftmörder in kochendem W a s s e r gesiedet wurde. Ketzerei galt als das schändlichste aller Verbrechen; und Ketzerei niederzuringen bedeutete einen Sieg über die Legionen der Hölle. Diese grausamen Maßnahmen gegen Ketzer wurden von der öffentlichen Meinung der breiten Massen nachdrücklich unterstützt. Als die Inquisition auf ihrem Höhepunkt stand, überzog sie das gesamte westliche christliche Gebiet mit einem Netz, dessen 41
Maschen zu entschlüpfen für einen Ketzer äußerst schwierig war. Die Inquisitoren in den verschiedenen Königreichen arbeiteten H a n d in H a n d und standen miteinander in engster Verbindung. „Eine Kette von Inquisitionsgerichtshöfen durchzog das gesamte continentale Europa." England stand zwar außerhalb dieses Systems, aber seit der Regierung H e i n r i c h d e s V i e r t e n und H e i n r i c h d e s F ü n f t e n bestand ein Sondergesetz (1400 erlassen, 1533 aufgehoben, unter Maria wieder in Kraft gesetzt und 1676 endgültig verabschiedet), das Ketzerei durch Verurteilung zum Scheiterhaufen niederzuhalten versuchte. Mit ihren Bemühungen Glaubenseinheit zu erzwingen, erzielte die Inquisition ihre größten Erfolge in Spanien. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde hier eine selbständige Organisation geschaffen, die jede Einmischung von Seiten Roms mit scheelen Augen betrachtete. Eine der „Heldentaten" der spanischen Inquisition (die sich bis in das 19. Jahrhundert erhielt) war die Vertreibung der Mauren bzw. der bekehrten Mauren, die trotz der T a u f e zahlreiche ihrer alten mohammedanischen Anschauungen und Sitten in Ehren hielten. Es wird gleichfalls behauptet, der Inquisition sei es gelungen, den Judaismus auszutilgen und das Land vor den Bekehrungsversuchen protestantischer Missionare zu bewahren. Aber die Behauptung, die Inquisition habe Spanien vor dem Protestantismus bewahrt, läßt sich nicht beweisen, denn es ist durchaus möglich, daß, falls die Protestanten überhaupt Gelegenheit gehabt hätten, ihre Glaubenssaat auszustreuen, diese Saat in jedem Falle auf unfruchtbaren Boden gefallen wäre. Die Gedankenfreiheit wurde jedenfalls restlos unterdrückt. Eines der wirksamsten Mittel die Ketzerei tot zu hetzen, bildete das „Glaubensedikt", das die ganze Bevölkerung in den Dienst der Inquisition einreihte und jeden Bürger zwang, Spionagedienst zu leisten. Von Zeit zu Zeit wurde ein bestimmter Bezirk visitiert und ein Befehl veröffentlicht, daß alle, die zufällig Kenntnis von irgendeiner ketzerischen Handlung erlangt hätten, unter Androhung furchtbarer irdischer und himmlischer Strafen sich melden und Anzeige erstatten müßten. Infolgedessen blieb niemand vor dem Argwohn seiner Nachbarn, ja sogar seiner Familienmitglieder verschont. „Nie ist ein heimtückischerer Plan ersonnen worden, um ein ganzes Volk zu zwingen, seinen Verstand auszuschalten und blind zu ge42
horchen. Dieser Plan erhob Denunziation zu einer hohen religiösen Pflicht." Das in Spanien bei den Gerichtssitzungen gegen die der Ketzerei Angeklagten angewandte Verfahren verzichtete auf alle vernunftgemäßen Methoden, um sich von der W a h r h e i t zu überzeugen. D e r Gefangene wurde von vornherein als schuldig betrachtet, und die Last des Beweises für seine Unschuld ruhte einzig und allein auf seinen Schultern; seine Richter waren in Wahrheit seine Verfolger. Alle Zeugen, die gegen ihn aussagten, mochten sie einen noch so schlechten Ruf besitzen, wurden gehört. Die Bestimmungen gegen Denunzianten wurden sehr lax gehandhabt, während Entlastungszeugen mit strengstem Maßstabe gemessen wurden. Juden, Mauren und Dienstboten durften wohl gegen den Gefangenen, aber nicht zu seinen Gunsten aussagen. U n d das Gleiche galt auch für Verwandte bis ins vierte Glied. D e r Grundsatz, nach dem die Inquisition handelte, war, es sei besser, wenn hundert Unschuldige litten, als wenn ein Schuldiger der Strafe entkäme. Schonung wurde jedem zugesichert, der Holz zu dem Scheiterhaufen beisteuerte. A b e r das Inquisitionstribunal selber verurteilte niemand zum Scheiterhaufen, da die Kirche sich keines Blutvergießens schuldig machen durfte. Der geistliche Richter verkündete lediglich, der Gefangene sei ein Ketzer, auf dessen Bekehrung keine Hoffnung bestünde, und händigte ihn („überließ ihn" lautete der offizielle Terminus) der weltlichen Behörde aus mit der Bitte und der Ermahnung, die Richter möchten ihn „wohlwollend und gnädig behandeln". Aber die weltliche Behörde durfte diesem formellen Gesuche um Gnade nicht entsprechen; ihr blieb keine andere W a h l , als die Todesstrafe zu verhängen; falls sie anders handelte, machte sie sich der Begünstigung der Ketzerei schuldig. Alle Fürsten und Beamten waren auf Grund der Kirchengesetze bei Strafe der Exkommunikation gezwungen, die ihnen von der Inquisition überantworteten Ketzer angemessen und rasch zu bestrafen. Es sei betont, daß die Z a h l der Verurteilungen zum Scheiterhaufen von der Phantasie des Volkes stark übertrieben worden ist, aber die Summe des durch diese Methode verursachten Leids und die Strafen, die fast an Todesstrafen grenzten, können gar nicht überschätzt werden. Das von der Kirche bei diesen Verfolgungen angewandte Gerichtsverfahren übte einen korrumpierenden Einfluß auf die Kriminaljustiz des Kontinents aus. Der Historiker der Inqui43
sition L e a schreibt: „Von allem Elend,das die Inquisition im Gefolge hatte, war vielleicht das größte, daß bis in die letzten Jahre des 18. Jahrhunderts in dem überwiegendem Teile von ganz Europa die zur Vernichtung der Ketzerei geführten Inquisitionsprozesse zur üblichen Methode gegen alle wurden, die unter irgendeiner Anklage standen." Die Inquisitoren, die, wie G i b b o n sich ausdrückt, „Unsinn durch Grausamkeit verteidigten", werden häufig als Ungeheuer hingestellt. Man kann jedoch von ihnen und von den Königen, die ihnen zu Willen waren, behaupten, daß sie um kein Jota schlimmer waren als die Priester und Herrscher primitiver Zeitalter, die Menschen ihren Gottheiten zum Opfer darbrachten. Der griechische König Agamennon, der seine Tochter Iphigenia opferte, um von den Göttern günstige W i n d e zu erflehen, war vielleicht ein sehr liebevoller Vater, und der Seher, der ihn zu dieser Tat veranlaßte, mag ein absolut untadeliger Mensch gewesen sein. Sie handelten ihrem Glauben entsprechend. Genau so unbarmherzig benahmen sich im Mittelalter und auch noch später Männer von gutmütiger Gemütsart und von brepnendem Eifer für Moral beseelt, sowie der Verdacht der Ketzerei bestand. Der H a ß gegen Irrlehren glich einer durch die Lehre von dem ausschließlichen Heil erzeugten Infektionskrankheit. Auch jedes Gefühl für Wahrhaftigkeit wurde durch dieses Dogma ausgetilgt. Sobald das Seelenheil eines Menschen auf dem Spiele stand, erschien es vollkommen gerecht, ja unumgänglich, jedes Mittel, selbst Lüge und Betrug, anzuwenden, um den wahren Glauben zu erzwingen. Über die Erfindung von Wundern und erbaulichen Fiktionen machte man sich keine Skrupeln. Erst im 17. Jahrhundert begann eine objektive Wertschätzung der Wahrheit vorherrschend zu werden. Während dieses Prinzip und die mit ihm verquickten Lehren von Sünde, Hölle und Jüngstem Gericht zu solchen Konseguenzen führten, gab es in der christlichen Welt auch noch andere Lehren und Folgerungen, welche gegen den Fortschritt des Wissens einen festen Wall errichteten und im Mittelalter die Pfade der Wissenschaft blockierten, ja, noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deren Fortschritt behinderten. Auf jedem Gebiet wissenschaftlicher Forschung waren Grund und Boden mit falschen Anschauungen übersät, die von der Kirche auf Grund der unfehlbaren Autorität der Bibel für wahr erklärt wurden. Die jüdische Schöpfungsgeschichte und 44
der Sündenfall, unlöslich mit der christlichen Theorie der Erlösung verknüpft, verhinderten jegliche freie Forschung auf geologischem, zoologischem und anthropologischem Gebiete. D i e buchstäbliche Auslegung der Bibel verkündete, daß sich die Sonne um die Erde drehe. Die Kirche verwarf die Theorie der Antipoden. Eine der Anklagen gegen S e r v e t us (der im 16. Jahrhundert verbrannt wurde, vgl. S. 54) fußte darauf, daß er, der Behauptung eines griechischen Geographen Glauben schenkend, die Ansicht vertrat, Judea sei ein armes unfruchtbares Land, trotzdem es in der Bibel als ein Land geschildert wird, in dem Milch und Honig flöße. Der griechische Arzt H i p p o k r a t e s hatte das Studium der Medizin und der Krankheiten auf Erfahrung und methodische Untersuchungen aufgebaut. Im Mittelalter griffen die Menschen wieder auf die Anschauung eines barbarischen Zeitalters zurück. Körperliche Leiden wurden okkulten Kräften — der Bosheit Satans oder dem Zorne Gottes — zugeschrieben. S a n k t A u g u s t i n behauptete, die Erkrankungen der Christen würden von Dämonen verursacht, selbst L u t h e r hielt die Krankheiten für W e r k e des Teufels. Es war nur logisch, daß man nach übernatürlichen Heilmitteln suchte, um die Auswirkung übernatürlicher Kräfte zu bekämpfen. Mit wundertätigen Reliquien wurde ein schwunghafter Handel getrieben, der der Kirche bedeutende Revenuen eintrug. Ärzte waren häufig dem Verdacht schwarzer Kunst und des U n glaubens ausgesetzt. Sektionen waren, vielleicht durch die Lehre von der Wiederauferstehung des Leibes bedingt, untersagt. Der Widerstand der Geistlichkeit gegen Impfung im achtzehnten Jahrhundert war ein Überbleibsel der mittelalterlichen Anschauungen über Krankheiten. Chemie (Alchimie) wurde als teufliche Kunst angesehen und 1317 vom Papste mit dem Bann belegt. Die langjährige Einkerkerung R o g e r B a c o n's (im dreizehnten Jahrhundert), der, trotzdem er sich nachdrücklich zum orthodoxen Glauben bekannte, einen unerwünschten Eifer für wissenschaftliche Forschung verriet, illustriert am deutlichsten das im Mittelalter herrschende Mißtrauen gegenüber der Wissenschaft. M a n kann annehmen, daß die Kenntnis der Natur in jedem Falle nur geringe Fortschritte erzielt haben würde, auch wenn dieses Mißtrauen gegen die Wissenschaft aus theologischen Erwägungen nicht so hemmend gewirkt hätte, war doch der Vormarsch der griechischen Wissenschaft bereits fünfhundert Jahre bevor das Christentum zur Macht gelangte, zum Stillstande ge45
langt. Seit Beginn des zweiten Jahrhunderts vor Christi Geburt waren keine wichtigen Entdeckungen mehr gemacht worden. Die Gründe für diesen Verfall sind nicht leicht zu durchschauen, aber vermutlich beruhten sie auf den sozialen Verhältnissen der griechischen und römischen Welt. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß sich auch die soziale Struktur des Mittelalters für den wissenschaftlichen Geist — für das unvoreingenommene Forschen nach Tatsachen — als ungünstig erwiesen haben würde, auch wenn der alles beherrschende Glaube diesem Streben nicht feindlich gesinnt gewesen wäre. Voraussichtlich hätte sich daher die Wiedergeburt der Wissenschaft unter allen Umständen solange hinausgezögert, bis die neuen sozialen Bedingungen, die im dreizehnten Jahrhundert (vgl. nächstes Kapitel) sich bemerkbar zu machen begannen, eine gewisse Reife erreicht hatten. Freilich steht es außer Frage, daß daneben auch theologische Vorurteile nach dem Mittelalter die wissenschaftliche Erkenntnis hemmten. Mit anderen Worten ausgedrückt: die von den christlichen Lehren angerichteten Schäden beruhen in geringerem Maße auf der Kulturfeindlichkeit der dunklen Zwischenzeit zwischen alter und moderner Zivilisation, in erster Linie aber auf dem Widerstand dieser Kreise, als die Wissenschaft bereits zu neuem Leben erwacht war und sich fürder nicht mehr unterdrücken ließ. Den festen Glauben an Hexerei, Magie und Dämonen hatte das Mittelalter vom Altertum ererbt, aber jetzt wirkte er sich weit furchtbarer aus und verfinsterte die Welt. Die Menschen fühlten sich von bösen Feinden umringt, die nur auf eine Gelegenheit lauerten, ihnen Leid anzutun; sie waren fest überzeugt, Seuchen, Stürme, Sonnenfinsternisse und Hungersnöte wären Werke des Teufels; aber genau so sicher vertrauten sie darauf, daß geistliche Riten diese Feinde zu bannen vermöchten. Einige der ersten christlichen Kaiser erließen Gesetze gegen Magie, aber bis zum 14. Jahrhundert wurde kein systematischer Versuch unternommen, Hexenkunst auszutilgen. Die schreckliche, als der schwarze Tod bekannte Epidemie, weldhe in diesem Jahrhundert Europa verwüstete, steigerte noch die Todesangst vor jener unsichtbaren Welt der Dämonen. Prozesse wegen Hexerei vervielfachten sich, und dreihundert Jahre lang bildete das Aufspüren von Hexen und die Hinrichtung aller, die der Ausübung der Schwarzen Kunst beschuldigt wurden — in den meisten Fällen handelte es sich um Frauen — einen hervorstechenden Z u g europäischer Zivilisation. In der Heiligen 46
Schrift fand sowohl dieser Glaube, wie die aus ihm entspringende Verfolgung, eine starke Stütze. „Du sollst nicht dulden, daß eine Hexe lebt" lautete das klare Gebot der höchsten Autorität. Papst I n n o c e n z d e r A c h t e erließ 1484 eine Bulle, in der er bestätigte, daß Seuchen und Stürme das Werk von Hexen seien, und die klügsten Menschen glaubten an die Wirklichkeit von deren teuflischen Künsten. Nichts ist quälender zu le&en als die Geschichte der Hexenverfolgungen, und nirgends wurde sie grausamer durchgeführt als in England und Schottland. Ich betone das, weil diese Grausamkeiten das unmittelbare Resultat theologischer Lehren waren, und weil, wie wir sehen werden, erst der Rationalismus dieses lange Kapitel des Schreckens beendete. In der damaligen Epoche, in der die Kirche ihren größten Einfluß ausübte, lag die Vernunft zwischen Kerkermauern angekettet, die vom Christentum um den menschlichen Geist errichtet worden waren. Sie blieb nicht tatenlos, aber ihre Betätigung nahm die Form der Ketzerei an; oder, um das Gleichnis fortzusetzen, die Menschen, welche ihre Ketten sprengten, waren in den meisten Fällen unfähig auch die Mauern des Gefängnisses zu übersteigen; ihre Freiheit gestattete ihnen nur Glaubenslehren anzunehmen, die gleich der orthodoxen Lehre auf christlicher Mythologie beruhten. Freilich gab es einige Ausnahmen von dieser Regel. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts machte sich ein Stimulus aus einer anderen Welt bemerkbar. Unter den Gelehrten des westlichen Christentums begann die Philosophie des A r i s t o t e l e s wieder aufzuleben; die Lehrer waren Juden und Mohammedaner. Bei den Mohammedanern herrschte, dank ihrer Vertrautheit mit den alten griechischen Theorien, bis zu einem gewissen Grade Gedankenfreiheit. Die Werke des Freidenkers A v e r r o e s (1126—1198), die auf aristotelischer Philosophie basierten, erzeugten auch in christlichen Ländern eine kleine rationalistische Welle. Averroes behauptete die Ewigkeit der Materie und leugnete die Unsterblichkeit der Seele. Seine Lehre kann als Pantheismus bezeichnet werden. Um Zusammenstöße mit den strenggläubigen Autoritäten des Islam zu vermeiden, stellte er die Theorie von der doppelten Wahrheit auf, daß heißt die Lehre von zwei nebeneinander bestehenden, unabhängigen, ja sich widersprechenden Wahrheiten, der philosophischen und der religiösen Wahrheit. Das nützte ihm freilich nichts, er wurde trotzdem vom Hofe des spanischen Kalifen verbannt. Averroes Lehre schuf an der 47
Pariser Universität eine Schule von Freidenkern, welche erklärten, die Schöpfungsgeschichte, die Auferstehung des Leibes und andere wesentliche Dogmen könnten zwar, vom religiösen Standpunkt aus betrachtet, wahr sein, aber vom Standpunkte der Vernunft gesehen, wären sie irrig. Für den gesunden Menschenverstand war das etwa das Gleiche, als wenn jemand erklären würde, die Lehre von der Unsterblichkeit sei zwar an Sonntagen gültig, an Werktagen aber falsch, oder das apostolische Glaubensbekenntnis wäre im Wohnzimmer falsch, in der Küche jedoch wahr. Diese gefährliche Bewegung wurde unterdrückt, und das vermittelnde Prinzip zwiefacher Wahrheit vom Papst J o h a n n d e m E i n u n d z w a n z i g s t e n mit dem Bannfluch belegt. Die Ausbreitung averroistisdier und ähnlicher Spekulationen beeinflußten die Gotteslehre des T h o m a s v o n A q u i n o (1225—1274) in Süditalien, eines scharfsinnigen Denkers, der eine ausgesprochene Neigung zum Skeptizismus besaß. Er versuchte die Lehren des A r i s t o t e l e s , der bis dahin als Führer der Ungläubigen galt, mit den Lehren der orthodoxen Kirche in Einklang zu bringen und ersann eine geistvolle christliche Philosophie, die noch heute für die römisch katholische Kirche Gültigkeit besitzt. Aber Aristoteles und Vernunft sind für den Glauben gefährliche Verbündete, und die Abhandlung von Thomas ist vielleicht mehr darauf berechnet, einen gläubigen Geist durch die Zweifel, die sie kräftig betont, schwankend zu machen, als die Skrupeln eines Zweiflers durch ihre Lösungen zu beschwichtigen. Unter der Oberfläche hat wohl immer hier und dort eine geheime Untergrundbewegung des Unglaubens bestanden, die aber keine irgendwie ernsthaften Folgen nach sich zog. Die blasphemische Behauptung, die Welt sei durch drei Betrüger, Moses, Jesus und Mohamed getäuscht worden, war im dreizehnten Jahrhundert im Schwange. Man schrieb sie dem freidenkerischen Kaiser F r i e d r i c h d e m Z w e i t e n (1194 bis 1250) zu, der als „der erste moderne Mensch" geschildert wird. Der gleiche Gedanke, nur in milderer Form, findet sich in der Geschichte von den „Drei Ringen", die mindestens ebenso alt ist. Ein mohamedanischer Herrscher, der von einem reichen Juden Geld erpressen wollte, lud ihn vor seinen Thron und stellte ihm eine Falle. „Mein Freund", sagte er, „ich habe von vielen Seiten gehört, D u seiest ein -sehr weiser Mann. Sage mir, welche der drei Religionen, die der Juden, die der Mohamedaner oder die der Christen nadi deiner Überzeugung die Wahr48
ste ist." Der Jude, der den ihm gezogenen Fallstrick erkannte, antwortete: „Mein Fürst, es lebte einmal ein reicher Mann, der unter seinen Schätzen einen Ring von großem W e r t e besaß. D a er den Wunsch hegte, ihn als ewiges Erbe seinen Nachkommen zu hinterlassen, bestimmte er in seinem Testament, daß derjenige seiner Söhne, der nach seinem Tode den Ring besäße, als sein Erbe betrachtet werden sollte. Der Sohn, dem er den Ring schenkte, handelte genau wie sein Vater, und auf diese W e i s e wanderte der Ring von Hand zu Hand. Endlich gelangte er in den Besitz eines Mannes, der drei Söhne hatte, die er gleichmäßig liebte. Unfähig sich zu entscheiden, welchem seiner Söhne er den Ring hinterlassen sollte, versprach er ihn im Geheimen jedem von ihnen, und um alle drei zufrieden zu stellen, beauftragte er einen Goldschmied, zwei neue, dem echten Schmuckstücke so ähnliche Ringe anzufertigen, daß selbst er nicht im Stande wäre, die drei Ringe zu unterscheiden. A u f seinem Totenbette gab er jedem der drei Söhne einen Ring, und jeder von ihnen erhob Anspruch auf das Erbe, aber keiner konnte sein Recht beweisen, weil die Ringe nicht zu unterscheiden waren. Der Prozeß um die Rechtmäßigkeit des Erbes dauert bis zum heutigen Tage. Genau das gleiche, mein Fürst, gilt für die drei, von Gott den drei Völkern geschenkten Religionen. Jedes V o l k ist überzeugt, es besitze die wahre Religion, aber welches von ihnen sie wirklich besitzt, ist eine noch immer unentschiedene Frage, genau wie bei den Ringen." Diese Geschichte gelangte im 18. Jahrhundert zur Berühmtheit, als der deutsche Dichter L e s s i n g sie zur Grundidee seines Schauspieles „Nathan der W e i s e " machte, das die Unvernunft der Unduldsamkeit geißeln sollte.
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Bury,
Gedankenfreiheit
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Viertes
Kapitel
AUSSICHT AUF BEFREIUNG Renaissance und Reformation Die geistigen und sozialen Strömungen, welche berufen waren, die Finsternis des Mittelalters zu zerstreuen und den W e g für jene vorzubereiten, denen es schließlich gelang, die Vernunft aus ihrem Kerker zu befreien, setzten im dreizehnten Jahrhundert in Italien ein. Der dunstige, aus Gläubigkeit und kindischer Naivität gewobene Schleier, welcher der Menschen Seele umhüllte und sie verhinderte, sich selber und ihre Beziehungen zu der Welt zu begreifen, begann sich allmählich zu lüften. Das Individuum fing an, sich seiner Individualität und seines eigenen Wertes als Persönlichkeit unabhängig von seiner Rasse oder seinem Lande (wie in den späteren Epochen der griechischen und römischen Geschichte) bewußt zu werden, und langsam tauchte die es umgebende Welt aus dem Nebel mittelalterlicher Träume zum Licht empor. Diesen Wandel verdanken wir den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen der kleinen italienischen Staatsgebilde, die zum Teil Republiken waren, zum Teil von Tyrannen beherrscht wurden. In dieser sich allmählich entschleiernden Welt bedurfte der Mensch, der versuchte, sie seinen Zwecken dienstbar zu machen, eines Leitfadens, u n d diesen Leitfaden entdeckten die Menschen in der alten Literatur Griechenlands und Roms. Daher bezeichnet man diese grundlegende Umwälzung, die sich bald von Italien aus über Nord-Europa ausdehnte, als R e n a i s sance oder W i e d e r g e b u r t des klassischen A l t e r t u m s . Aber das neu erwachte Interesse an der klassischen Literatur, das dem Charakter und dem Anwachsen dieser Bewegung Farbe und Kraft verlieh und sie mit neuen Idealen und neuen Gesichtspunkten erfüllte, war nur die äußere Form, in der sich die Wandlung des Geistes während des vierzehnten Jahrhunderts zu äußern begann. Dieser Wandel hätte sehr 50
wohl auch andere Gestalt annehmen können. Sein richtiger Name lautet H u m a n i s m u s . In der damaligen Zeit erkannten die Menschen schwerlich, daß sie im Begriff standen, in ein neues Zeitalter der Zivilisation einzutreten, und daß die Kultur der Renaissance unmittelbar einen offenkundigen, allgemeinen geistigen Aufruhr gegen den orthodoxen Glauben erzeugen würde. Die W e l t nahm nach und nach eine ausgesprochen gegnerische Haltung gegenüber den Lehren mittelalterlicher Orthodoxie ein, ohne daß es zu feindlichen Handlungen größeren Stils gekommen wäre. Erst im 17. Jahrhundert brach der Krieg zwischen Religion und Autorität aus. Die Humanisten selbst waren der geistlichen Obrigkeit und den Forderungen religiöser Dogmen nicht feindlich gesinnt, wohl aber war bei ihnen eine rein menschliche Neugier in bezug auf diese Welt erwacht, die ihr ganzes Interesse in Anspruch nahm. Sie vergötterten heidnische mit Giftkeimen geschwängerte Literatur; die weltliche Seite der Erziehung erhielt den Vorrang, während Religion und Theologie gewissermaßen in ein abgesondertes Kämmerchen verbannt wurden. Einige spekulative Köpfe, welche diesen Widerspruch empfanden, versuchten zwar, die alte Religion mit den neuen Ideen in Einklang zu bringen; aber im allgemeinen bestand im Zeitalter der Renaissance bei den Denkern die Neigung, die beiden Welten getrennt zu halten, äußerlich dem Glauben zu huldigen, ohne sich ihm in geistiger Hinsicht zu unterwerfen. Ich möchte diese Zwiespältigkeit der Renaissance an dem Beispiel M o n t a i g n e ' s (1533—1592) illustrieren. Seine „Essays" vertreten einen rationalistischen Standpunkt, enthalten aber häufig vollkommen ehrliche Bekenntnisse zum orthodoxen Katholizismus. Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, die beiden Gesichtspunkte zu versöhnen; seiner skeptischen Anschauung zufolge gibt es zwischen Vernunft und Religion keine Brücke. Der menschliche Intellekt ist in dem Reiche der Theologie unzuständig, und die Religion muß in luftigen Regionen außerhalb der Reichweite und einer Einmischungsmöglichkeit der Vernunft Zuflucht suchen, um demütig hingenommen zu werden. Aber während der Intellekt die Religion aus Gründen demütig hinnahm, die ihn auch veranlaßt haben würden, die mohamedanische Religion demütig hinzunehmen, falls er in Kairo zur Welt gekommen wäre, weilte seine Seele nicht im religiösen Bereiche. Es waren die Philosophen und Weisen des Alter4*
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tums, Cicero und Seneca und Plutarch, die Montaigne's Denken formten und von ihm Besitz ergriffen. Auf diese Männer und nicht auf die Tröstungen des Christentums beruft er sich, wenn er das Problem des Todes erörtert. Die Religionskriege in Frankreich, deren Zeuge er war, sowie die Bartholomäusnacht (24. August 1572) trugen dazu bei, ihn in seinem Skeptizismus noch zu bestärken. Seine Einstellung den Verfolgungen gegenüber, faßte er in der Bemerkung zusammen: „ M a n muß den Meinungsäußerungen von Menschen wahrhaftig hohen Wert beimessen, wenn man sie derentwegen röstet." Die logischen Folgerungen des Montaigne'schen Skeptizismus wurden von seinem Freunde C h a r r o n publik gemacht, der 1601- ein Buch „ Ü b e r die Weisheit" veröffentlichte. Die Quintessenz seiner Lehre läuft darauf hinaus, daß wahre Sittlichkeit sich nicht auf Religion zu berufen vermag. Dann entwirft der Autor eine Skizze von der Geschichte des Christentums und deckt schonungslos die Sünden auf, deren es sich schuldig gemacht hat. Von der Unsterblichkeit erklärt er, sie sei die am freudigsten begrüßte, die nützlichste, aber auch die von der menschlichen Vernunft am unzulänglichsten begiündete Lehre. Freilidh sah sich Charron veranlaßt, diese und andere Behauptungen in einer zweiten A u f l a g e abzuschwächen. Ein zeitgenössischer Jesuit reiht Charron in die Liste der gefährlichsten und verworfensten Atheisten ein. In Wahrheit war Charron ein Deist. Aber in jenen T a g e n und auch noch viel später scheute sich niemand einen nicht christlichen Deisten als Atheisten zu verunglimpfen. Ohne die Unterstützung König H e i n r i c h d e s V i e r t e n wäre Charron's Buch zweifellos unterdrückt und der Autor selbst schwer bestraft worden. D a s W e r k ist von besonderem Interesse, weil es uns unmittelbar aus der Atmosphäre der Renaissance, deren Geist Montaigne vertritt, in das neue Zeitalter eines mehr oder weniger revolutionären Rationalismus hinüberleitet. Der Humanismus war es, der im vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, zunächst in Italien und dann in anderen Ländern, eine geistige Atmosphäre schuf, in der die Vernunft sich allmählich zu emanzipieren vermochte, und die wissenschaftlichen Erkenntnisse raschere Fortschritte zu machen begannen. In diese Zeit fällt die Erfindung der Buchdruckerkunst und die Entdeckung neuer Erdteile, die beide in Zukunft wesentlich dazu beitrugen, den Autoritätsglauben niederzuzwingen. 52
Aber der Triumph der Freiheit hatte auch noch andere U r sachen und wurde nicht allein durch den Verstand erzielt. Die wichtigsten politischen Ereignisse jener Periode waren der Niedergang der Macht des Papsttums in Europa, der Verfall des heiligen römischen Reiches und das Aufblühen starker Monarchien, in denen weltliche Interessen die kirchliche Politik bestimmten und diktierten, und aus denen sich der moderne Staat allmählich herauskristallisierte. Diese veränderten V e r hältnisse ermöglichten erst den Erfolg der Reformation. Ihren Sieg in Norddeutschland verdankte sie den weltlichen Interessen der Fürsten, die aus der Konfiskation kirchlicher Ländereien reichen Nutzen zogen. In England fehlte eine entsprechende Volksbewegung; der W a n d e l wurde von der Regierung aus eigennützigen Absichten herbeigeführt. Den eigentlichen A n l a ß der Reformation bildete die allgemeine Korruption der Kirche und die von der Kirche ausgeübte offenkundige Unterdrückung. Lange Zeit erstrebte das Papsttum kein höheres Ziel, als eine weltliche Macht zu werden und die geistliche Autorität zur Verwirklichung weltlicher Interessen, von denen sich das Papsttum ausschließlich leiten ließ, zu mißbrauchen. Auf diese Voraussetzung stützte sich die Diplomatie sämtlicher europäischer Staaten. Seit dem 14. Jahrhundert erkannte jeder die Notwendigkeit einer Reform der Kirche an, und diese Reform war versprochen worden, aber die Verhältnisse wurden, statt sich zu bessern, immer schlechter. Schließlich gab es keinen anderen Ausweg, als offene Empörung. Die von L u t h e r geführte Rebellion war nicht das Ergebnis einer Auflehnung der Vernunft gegen Dogmen, sondern einer weit verbreiteten antiklerikalen Strömung, hervorgerufen durch die kirchlichen Methoden Geld zu erpressen, besonders durch den Ablaßhandel, diesen schimpflichsten Brauch jener Zeit. Dieser päpstliche Ablaßhandel gab den A n s t o ß zu Luthers theologischer Ketzerei. Es ist ein Grundirrtum, aber einer, der auch heute noch von vielen geteilt wird, welche sich nur oberflächlich mit Geschichte beschäftigt haben, anzunehmen, die Reformation bezweckte religiöse Freiheit und das Recht auf eigenes Urteil. In Wirklichkeit schuf sie nur eine Reihe neuer politischer und gesellschaftlicher Bedingungen, die unbeabsichtigt religiöse Freiheit herbeiführten und D a n k der ihnen anhaftenden Inkonsequenz Resultate ergaben, vor denen die Führer dieser Bewegung zurückgeschaudert wären. Nichts lag den Absichten der führenden 53
Reformatoren ferner, als die Duldung von Lehren, die von ihren eigenen abwichen. Sie ersetzten lediglich eine Autorität durch eine andere. Sie errichteten die Autorität der Bibel an Stelle jener der Kirche; aber es handelte sich um eine Bibel nach Luthers Auslegung, beziehungsweise um eine Bibel nach der Auslegung C a l v i n s . Der Geist der Unduldsamkeit der neuen Kirchen war der nämliche wie bei den alten. Die Religionskriege wurden nicht für die Sache der Freiheit, vielmehr für eine Reihe spezieller Doktrinen geführt; hätten die Protestanten in Frankreich gesiegt, so hätten sie bestimmt den Katholiken keine größeren Freiheiten eingeräumt, als die Katholiken ihnen gewährten. L u t h e r war ein erklärter Gegner der Gewissensfreiheit sowie der Freiheit des Gottesdienstes, die ihm mit der Heiligen Schrift, wie er sie deutete, unvereinbar erschienen. Er wetterte gegen Zwang und verurteilte das Verbrennen von Ketzern, solange er befürchten mußte, er und seine Anhänger könnten die Opfer sein; sobald er sich aber seiner Sache sicher und mächtig genug fühlte, verkündete er als seine wirkliche Ansicht, es wäre die Aufgabe des Staates, die wahre Lehre zu erzwingen und das Schandmal der Ketzerei auszutilgen. Die Untertanen seien ihrem Fürsten in religiösen wie in allen anderen Dingen zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet, und oberstes Gesetz des Staates sei es, den Glauben mit allen Mitteln zu schützen. Wiedertäufer sollten mit dem Schwerte hingerichtet werden. Das Dogma von der allein seligmachenden Kirche verführte also die Protestanten zu den gleichen Grausamkeiten wie die Katholiken. Den düstersten Ruf für Unduldsamkeit genoß C a l v i n . Im Gegensatz zu Luther billigte er dem weltlichen Herrscher keine absolute Madit zu, verfocht vielmehr das Recht der Kirche den Staat zu lenken — eine Regierungsform, die gemeinhin als Theokratie bezeichnet wird. Eine solche Priesterherrschaft führte Calvin in Genf ein, und es gelang ihm, in seinem Bereiche jede freiheitliche Regung zu unterdrücken. Irrlehren wurden mit Einkerkerung, Verbannung und Tod geahndet. Die Bestrafung des S e r v e t u s gehört zu den berüchtigten Heldentaten von Calvins Kreuzzug gegen das Ketzertum. Der Spanier Servetus, der eine Schrift gegen das Dogma der Dreieinigkeit verfaßt hatte, wurde (zum Teil durch die Machenschaften Calvins) in Lion ins Gefängnis geworfen und als er sich nach seiner Flucht unvorsichti'ger54
weise nadi G e n f wagte, hier wegen Ketzerei vor Gericht gestellt und (1553) zum Flammentode verurteilt, obgleich er nicht der Genfer Gerichtsbarkeit unterstand. M e l a n c h t h o n , der die Grundlinien der Verfolgungen aufstellte, pries diese T a t als ein denkwürdiges Beispiel für die Nachwelt, aber die Nachwelt fühlte sich eines Tages wegen dieses Beispieles beschämt. 1903 sahen sich die Calvinisten Genfs bewogen, in G e n f ein Sühnemal zu errichten, auf dem Calvin „unser großer Reformator" eines Irrtums wegen, „der der Irrtum seines Jahrhunderts war", entschuldigt wird. Den Reformatoren war die Sache der Freiheit genau so gleichgültig wie der Kirche, von der sie sich getrennt hatten. Ihre einzige Sorge galt der „Wahrheit". W a r es das mittelalterliche Ideal gewesen, die W e l t von Ketzern zu säubern, so war es das Ziel der Protestanten, alle Dissidenten aus ihrem Lande auszustoßen. Das Volk als Ganzes wurde in eine Schafherde verwandelt und gezwungen, auf Befehl seines Herrschers dessen Glauben anzunehmen. Dieser Grundsatz wurde beim Abschluß des Augsburger Religionsfriedens (1555) aufgestellt, der den Streit zwischen dem katholischen Kaiser und den protestantischen deutschen Fürsten beendete. Diesem Grundsatze getreu handelte K a t h a r i n a v o n Medici, als sie die französischen Protestanten niedermetzeln ließ. Katharina empfahl auch der Königin E l i s a b e t h dringend, mit den englischen Katholiken in gleicher W e i s e zu verfahren. D e r protestantische Glaube brachte dem Volke keine Erleuchtung. Die Reformation auf dem Kontinent war der A u f klärung und der Freiheit gleich feindlich gesinnt. Wissenschaft, die der Bibel zu widersprechen schien, wurde von Luther nicht weniger heftig bekämpft als vom Papste. D i e Bibel war, mochte sie von den Protestanten oder von der römischen Kirche ausgelegt werden, für Hexen verhängnisvoll. In Deutschland erlitt die Entwicklung der wissenschaftlichen Lehrtätigkeit einen schweren Rückschlag. Dennoch half die Reformation unfreiwillig der Sache der Freiheit. Dieses Resultat entsprach nicht den Absichten ihrer Führer, es ergab sich erst indirekt und nach langer Verzögerung. Der Zwiespalt, der die westliche Christenheit trennte, hatte zur Folge, daß an Stelle der einen religiösen Autorität mehrere Autoritäten — wir können auch sagen mehrere Götter an Stelle des einen G o t t e s — traten, und diese Spaltung bewirkte eine Schwächung der geistlichen Autorität im allgemeinen.
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Die religiöse Überlieferung war durchbrochen. In den protestantischen Staaten lag die höchste geistliche Macht in den Händen des Souveräns; ein Herrscher mußte aber außer den Interessen der Kirche auch noch andere Interessen berücksichtigen. Politische Beweggründe zwangen ihn früher oder später, das Ausmaß priesterlicher Unduldsamkeit zu mildern. Aus ähnlichen Gründen sahen sich katholische Staaten veranlaßt, die Pflicht, Ketzer unter keinen Umständen zu dulden, in vielen Fällen zu vernachlässigen. Die Religionskriege in Frankreich endeten mit einer begrenzten Duldung der Protestanten. Die Politik des Kardinals Richelieu, der die Sache der Protestanten in Deutschland unterstützte, illustriert am besten, in wie hohem M a ß e weltliche Interessen der Sache des Glaubens Abbruch taten. Die intellektuelle Rechtfertigung der protestantischen A u f lehnung gegen die Kirche wurde von den Protestanten mit dem Recht auf eigenes Urteil begründet, also mit dem Recht auf religiöse Gedankenfreiheit. Aber die Reformatoren nahmen dieses Recht nur für sich in Anspruch. M i t der Aufstellung ihrer eigenen Glaubensartikel handelten sie in der Praxis gegen ihren eigenen Grundsatz. Das war die schwächste Stelle in der protestantischen Position. Diesem einmal von ihnen vernachlässigten Anspruch vermochten sie nicht wieder auf die Dauer Geltung zu verschaffen. Die protestantischen Lehren ruhten auf ungesicherten Fundamenten, die sich logisch nicht verteidigen ließen, und führten die Protestanten unvermeidlich von einer unhaltbaren Stellung zur nächsten. W e n n wir überhaupt gezwungen werden, einer Autorität zu vertrauen, weshalb sollen wir dann den plötzlich aufgekeimten Vorschriften des Augsburger lutheranischen Glaubensbekenntnisses, oder den Neununddreißig Artikeln der anglikanischen Kirche den Vorzug vor der altehrwürdigen Autorität der Kirche von Rom einräumen? Falls wir uns gegen Rom entscheiden, so tun wir das aus logischen Beweggründen; sobald wir aber die Vernunft in dieser Frage sprechen lassen, dann zwingt uns nichts, dort Halt zu machen, wo Luther oder Calvin oder irgendeiner der anderen Aufrührer Halt gemacht haben, es sei denn, wir nehmen an, einer von ihnen sei inspiriert worden. W e n n wir, die abergläubischen Vorstellungen zurückweisen, die jene ablehnen, so könnte uns doch nur die Autorität dieser Männer verhindern, nicht auch all die anderen oder wenigstens einige der abergläubischen Annahmen zu verwerfen, an denen jene
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festhielten. Ihr Bibelkult führte zwangsläufig zu Ergebnissen, die diese Männer nicht vorausgesehen hatten. * ) Die angeblich inspirierten Urkunden, auf denen die Glaubensbekenntnisse beruhten, wurden zu einem aufgeschlagenen Buche. In höherem Maße als je vorher richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf dieses Dokument, obwohl man nicht behaupten kann, daß die Bibel vor dem 19. Jahrhundert zum Allgemeingut geworden wäre. Immerhin führte dieses Studium zur Kritik; das Dogma der Inspiration wurde hin und her erwogen, und schließlich die Bibel selbst einer unvoreingenommenen Prüfung unterzogen, die zu guter Letzt deren autoritativen Gehalt in den Augen der logisch denkenden Gläubigen wesentlich schmälerte. Die Bibelkritik fand in der Hauptsache in einer protestantischen Atmosphäre einen günstigen Nährboden, wofür man zum Teil die Reformation verantwortlich machen muß. Auf diese Weise wurde der Protestantismus zu einem Sprungbrett des Rationalismus und diente ungewollt der Sache der Freiheit. Eine mächtige direkte Unterstützung erhielt diese Bewegung durch eine Sekte von Reformatoren, die in den Augen aller anderen als Gotteslästerer galten, und an welche die meisten Menschen nicht denken, wenn sie von der Reformation sprechen; ich meine die S o c i n i a n e r . Von ihrem weitreichenden Einfluß wird noch in den folgenden Kapiteln zu sprechen sein. Noch ein anderes Resultat der Reformation verdient erwähnt zu werden, nämlich deren heilsamer Einfluß auf die römische Kirche, die jetzt um ihre Existenz ringen mußte. A n der Spitze einer Reihe von Päpsten, die sich ernsthaft um die Religion bemühten, steht P a u l d e r D r i t t e (1534), der das Papsttum und dessen Hilfsquellen für einen Jahrhunderte währenden Kampf zu reorganisieren begann**). Die Stiftung des J e s u i t e n o r d e n s , die Einführung der I n q u i s i t i o n in Rom, das T r i d e n t i n e r K o n z i l (1545—1563), die Z e n s u r d e r P r e s s e (Index verbotener Bücher) waren der Ausdruck dieses neuen Geistes und die Mittel, der so geschaffenen Lage gerecht zu werden. D a s reformierte Papsttum war ein Glück für die gläubigen Schäflein der Kirche, aber — * ) In Deutschland wurde diese G e f a h r erkannt, u n d daher im 17. Jahrhundert das Studium der Heiligen Schrift an den deutschen Universitäten in keiner Weise gefördert. * * ) Vergl. B a r r y : „Papsttum und moderne Zeiten".
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und das ist hier f ü r uns das Wichtigste — eines seiner Hauptziele bestand in einer wirkungsvolleren Unterdrückung der Freiheit. S a v o n a r o l a trat in Florenz in seinen Predigten für eine strenge sittliche Lebensführung ein und wurde dafür (1498) unter Papst A l e x a n d e r d e m S e c h s t e n , einem notorischen Bösewicht, hingerichtet. Hätte Savonarola in dieser neuen Ära gelebt, so wäre er wahrscheinlich heilig gesprochen worden. Auch G i o r d a n o B r u n o starb den Flammentod. G i o r d a n o B r u n o hatte eine religiöse Philosophie entwickelt, die teilweise auf E p i k u r zurüdcgriff, von dem er die Theorie von der Unendlichkeit des Universums übernahm. Aber durch die Lehre, daß Gott die Seele der Materie sei, verwandelte er epikureischen Materialismus in einen pantheistischen Mystizismus. Bruno macht sich auch die neue von Katholiken und Protestanten gleich heftig bekämpfte Entdeckung des K o p e r n i k u s zu eigen, daß sich die Erde um die Sonne drehe, ja er ging sogar einen Schritt weiter und erklärte die Fixsterne f ü r Sonnensysteme mit unsichtbaren Satelliten. Andererseits bemühte er sich, seine Anschauungen mit der Bibel auszusöhnen, die, nach seiner Ansicht für die breite Masse bestimmt, deren Vorurteilen angepaßt werden müßte. Da man ihn der Ketzerei verdächtigte, kehrte er Italien den Rücken und lebte nacheinander in der Schweiz, in Frankreich, England und Deutschland, kehrte aber, dem Rate eines falschen Freundes vertrauend, 1592 nach Venedig zurück, wo er auf Befehl der Inquisition verhaftet wurde. Endlich in Rom zum Tode verurteilt, wurde er im Jahre 1600 auf dem Campo de Fiari verbrannt, wo heute ein, zum größten Ärger der römischen Kirche, zu seinen E h r i n errichtetes Denkmal steht. Das Schicksal Brunos, einer der berühmten Persönlichkeiten der Welt, erregte überall größtes Aufsehen. In der Tat hat kein anderes Land so begründeten Anlaß, einem so erlauchten Opfer jener Ära nachzutrauern wie Italien, obwohl auch in anderen Ländern genau so unschuldiges Blut wegen heterodoxer Ansichten vergossen worden ist. In Frankreich herrschte damals unter der verhältnismäßig duldsamen Regierung H e i n r i c h d e s V i e r t e n und der Kardinäle R i c h e l i e u und M a z a r i n bis 1660 größere Freiheit als sonst wo auf Erden. Aber in Toulouse wurde 1619 L u c i l i o V a n i n i , ein gelehrter Italiener, der gleich Bruno ganz Europa bereiste, als Atheist und Got58
teslästerer verurteilt. Nachdem der Henker ihm die Zunge herausgerissen hatte, endete er auf dem Scheiterhaufen. D a s protestantische England unter E l i s a b e t h und J a m e s d e m E r s t e n stand an Grausamkeit der römischen Inquisition in nichts nach, aber wegen der Unbedeutenheit der Opfer ist der Glaubenseifer dieser Monarchen unberechtigterweise in Vergessenheit geraten. N u r einem Zufall ist es zuzuschreiben, daß E l i s a b e t h sich nicht auch den traurigen Ruhm erworben hat, einen kaum weniger berühmten Ketzer als Giordano Bruno hinrichten zu lassen. Der Dichter M a r 1 o w e war wegen Atheismus angeklagt worden, aber während ihn die Häscher schon überall suchten, wurde er bei einem schmutzigen Streit 1593 in einer Kneipe ermordet. Ein anderer Dramatiker, K y d , der in die Anklage mit verwickelt war, wurde gefoltert. Z u der nämlichen Zeit wurde Sir W a l t e r R a l e i g h wegen Unglaubens angeklagt, aber freigesprochen. Andere waren nicht so glücklich. Drei oder vier Personen wurden unter der Regierung Elisabeths in Norwich wegen unchristlicher Lehren verbrannt, unter ihnen Franzit K e t t , ein Mitglied des Corpus Christi College in Cambridge. Unter J a m e s d e m E r s t e n , der sich persönlich für solche Fragen interessierte, wurde B a r t h o l o m e w L e g a t e der Verbreitung verschiedener verderblicher Lehren beschuldigt. Der König befahl ihn vor sich und fragte ihn, ob er täglich zu Jesus Christus bete? Legate erwiderte, er hätte in den T a g e n seiner Unwissenheit zu Christus gebetet, aber seit der verflossenen sieben Jahre nicht mehr. „Fort, elender Bursche", schrie James, ihm einen Fußtritt versetzend, „nie soll es heißen, daß ein Mensch in meinem Palaste verweilte, der sieben Jahre nie zu unserem Erlöser gebetet hat." Nach längerer Kerkerhaft in Newgate erklärte man Legate für einen unverbesserlichen Ketzer und schickte ihn nach Smithfield (1611) auf den Scheiterhaufen. Genau einen Monat später wurde ein gewisser W i g h t m a n in Lithfield auf Betreiben des Bischofs von Coventry wegen Irrlehren zum Flammentode verurteilt. Offenbar war das Volk über diese beiden Brandopfer empört, jedenfalls war es das letzte Mal, daß in England ein Todesurteil wegen Unglaubens vollzogen wurde. Aber puritanische Unduldsamkeit bewirkte 1648, den Erlaß eines Gesetzes, demzufolge alle, welche die Dreieinigkeit, die Göttlichkeit Christi, die göttlichen Offenbarungen der Heiligen Schrift oder ein künftiges Leben leugneten, zum Tode, und Personen, die sich anderer Ketzereien schuldig 59
maditen, zu Kerkerstrafen verurteilt werden sollten. Zu Hinrichtungen kam es jedoch nicht. Im Zeitalter der Renaissance begannen sich die ersten A n zeichen moderner Forschung hervorzuwagen, aber die mittelalterlichen Vorurteile gegen jede Erforschung der Natur wurden erst im siebzehnten Jahrhundert zum Schweigen gebracht und machten sich in Italien sogar noch sehr viel später geltend. Die Geschichte der modernen Astronomie beginnt 1543 mit der Veröffentlichung von K o p e r n i k u s ' W e r k , das in überzeugender Weise die Wahrheit über die Bewegung der Erde enthüllte. Das Erscheinen dieses Buches bedeutet in der Geschichte der Freiheit des Denkens einen Wendepunkt; es stellt gewissermaßen die Schlußverhandlung in dem Streit zwischen Wissenschaft und Heiliger Schrift dar. O s i a n d e r , der das Buch herausgab (Kopernikus lag im Sterben), erklärte in Voraussicht der Empörung, die das Erscheinen dieser Arbeit erregen würde, der Wahrheit zuwider im Vorwort, daß die Bewegung der Erde lediglich als eine Hypothese vorgetragen würde. Diese Theorie wurde von Katholiken und Reformierten gleich heftig angegriffen und vermochte kaum jemand, der von theologischen Vorurteilen beeinflußt war, zu überzeugen ( B a c o n bildete eine Ausnahme). Erst die Beobachtungen des italienischen Astronomen G a l i l e i erhoben die kopernikanische Theorie über jeden Zweifel. Mit Hilfe seines Fernrohrs entdeckte Galilei die Monde des Jupiters, und seine Beobachtung der Sonnenflecke bestätigten, daß die Erde sich drehe. Von den Kanzeln in Florenz, wo Galilei unter dem Schutze des Großherzogs lebte, wurden seine aufsehenerregenden Entdeckungen heftig angegriffen. „Männer von Galiläa, weshalb steht Ihr und starrt zum Himmel empor?" Bald danach wurde er bei dem Heiligen A m t der Inquisition von zwei Dominikanermönchen denunziert. Als Galilei erfuhr, daß seine Forschungen in Rom nachgeprüft werden sollten, eilte er dorthin im Vertrauen, es müsse ihm gelingen, die geistlichen Behörden von der offenkundigen Wahrheit der kopernikanischen Lehren zu überzeugen. Er ahnte nicht, wessen die Kirche fähig wäre. Im Februar 1616 erklärte das Heilige Amt, das kopernikanische System sei an sich lächerlich und im Hinblick auf die Heilige Schrift ketzerisch. Auf Befehl des Papstes beschied Kardinal B e 11 a r m i n Galilei zu sich und ermahnte ihn offiziell, seine Ansichten aufzugeben und sie ferner nicht mehr zu verkünden, andernfalls würde die Inquisition gegen
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ihn einschreiten. Galilei versprach zu gehorchen. Kopernikus Buch kam auf den Index. D a s Heilige A m t stellte fest, daß Galilei in seiner Schrift über „Sonnenflecke" die Bibel nicht erwähnt habe; somit war das von der Inquisition in ihrem Dekret über dieses Buch gefällte Urteil ein Urteil über eine wissenschaftliche, nicht aber über eine theologische Frage. Eine Zeitlang gelang es, Galilei mundtot zu machen, aber auf die Dauer war es ihm unmöglich, zu schweigen. Unter dem neuen Papst U r b a n d e m A c h t e n hoffte er auf größere Freiheit. In dem päpstlichen Kreise gab es viele, die ihm wohlgesinnt waren. Er glaubte, er könne die Schwierigkeiten dadurch vermeiden, daß er das Beweismaterial für die alten und die neuen Theorien einander gegenüberstellte und sich anscheinend eines eigenen Urteils enthielte. So verfaßte er eine Abhandlung in Dialogform über die beiden Systeme (das Ptolemäische und das Kopernikanische) und erklärte im Vorwort, es sei seine Absicht, das Für und Wider beider Anschauungen klarzustellen. Aber der Geist des Werkes ist kopernikanisch. Tatsächlich erhielt er von Pater R i c e a r d i , dem Haushofmeister des Heiligen Stuhles, die, wie er irrtümlich annahm, endgültige Erlaubnis, die Abhandlung drudcen zu lassen. Sie erschien 1632. D a der Papst jedoch die Schrift mißbilligte, wurde sie von einer Kommission nachgeprüft, und Galilei vor die Inquisition beordert. Er war alt und krank. Die Demütigungen, denen man ihn aussetzte, bilden ein trauriges Kapitel. Vermutlich hätte man ihn noch weit rücksichtsloser behandelt, wäre nicht ein Mitglied des Tribunals (der Dominikaner M a c o 1 a n o) ein wissenschaftlich gebildeter Mann gewesen, der Galileis scharfen Verstand zu schätzen wußte. Bei der Vernehmung leugnete Galilei, in den Dialogen die Theorie von der Bewegung der Erde aufrechterhalten zu haben, ja er versicherte sogar, er habe die Begründung von Kopernikus als nicht schlüssig dargestellt. Diese Verteidigung stimmte zwar mit der Erklärung in seinem Vorwort überein, widersprach aber seiner innersten Überzeugung. Im Kampfe mit einem solchen Tribunal war eine derartige Ausrede der einzige Ausweg, den ein Mann, der kein Held war, wählen konnte. Bei einer späteren Sitzung rang Galilei sich sogar unrühmlicherweise das Bekenntnis ab, daß einige der Argumente zugunsten von Kopernikus zu nachdrücklich betont worden wären, und erklärte sich bereit, die kopernikanische Theorie zu widerlegen. Bei der letzten Vernehmung bedrohte 61
man Galilei mit der Folter. Darauf erklärte er, daß er vor Erlaß des Dekretes von 1616 zwar geglaubt habe, die Wahrheit des kopernikanisdien Systems wäre einer Nachprüfung wert, aber seit jener Zeit hätte er sich von der Richtigkeit des ptolemäischen Systems überzeugt. Am folgenden Tage schwor er öffentlich die wissenschaftliche Wahrheit dessen ab, was er selber bewiesen hatte. Nach diesem Zugeständnis wurde ihm gestattet, sich aufs Land zurückzuziehen, nachdem er sich verpflichtet hatte, keine Zusammenkünfte abzuhalten. In den letzten Monaten seines Lebens schrieb er einem Freunde: „Die Falschheit des kopernikanisdien Systems darf nicht angezweifelt werden, besonders nicht von uns Katholiken. Es wird durch die unbestreitbare Autorität der Heiligen Sdirift widerlegt. Den Schlußfolgerungen des Kopernikus und seiner Schüler steht das eine unumstößliche Argument entgegen: Gottes Allmacht kann sich auf unendlich verschiedenen Wegen auswirken. Selbst wenn sich etwas nach unseren Beobachtungen auf eine besondere Weise abgespielt hat, dürfen wir Gott nicht in den, Arm fallen und eine Behauptung aufrechterhalten, in bezug auf die wir vielleicht einer Täuschung unterlegen sind". Die Ironie ist offensichtlich. Rom erlaubte bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht, daß die Wahrheit über das Sonnensystem gelehrt würde, und Galileis Bücher blieben bis 1835 auf dem Index. Dieses Verbot behinderte in Italien in verhängnisvoller Weise das Studium der Naturwissenschaften. Der römische Index gemahnt uns an die Bedeutung der Erfindung der Buchdruckerkunst im Kampfe um die Freiheit des Denkens, ermöglichte sie doch, neue Ideen rasch und weit zu verbreiten. Sehr bald erkannte die Kirche diese Gefahr und ergriff Maßnahmen, um der neuen Erfindung, die ein so mächtiger Verbündeter der Vernunft zu werden versprach, einen Zaum anzulegen. Papst A l e x a n d e r d e r S e c h s t e führte durch seine Bulle gegen unerlaubtes Drucken die Zensur der Presse ein (1501). In Frankreich bedrohte König H e i n r i c h d e r Z w e i t e das Drucken ohne behördliche Genehmigung mit Todesstrafe. In Deutschland wurde die Zensur 1529 eingeführt. Unter der Herrschaft E l i s a b e t h s durften audi in England Bücher nicht ohne besondere Lizenz erscheinen, und die Errichtung von Druckereien war nur in London, Oxford und Cambridge gestattet. Die Presse stand unter der Ober62
aufsieht der Sternkammer. Bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war die Presse in keinem Lande wirklich frei. Während die Reformation und die neu organisierte römische Kirche eine Reaktion gegen die Renaissance darstellen, waren die tiefgreifenden Wandlungen, welche die Renaissance kennzeichneten — Individualismus, eine neue geistige Einstellung der Welt gegenüber, die Pflege weltlichen Wissens — etwas Dauerndes und vom Schidksal dazu ausersehen, inmitten der miteinander im Widerstreit liegenden Unduldsamkeit katholischer und protestantischer Mächte, die Menschheit dem Ziele der Freiheit entgegenzuführen. Wir werden bald erkennen, wie Vernunft und Fortschritt des Wissens die Fundamente geistlicher Autorität untergruben. Bei jedem Schritt in diesem Auflösungsprozeß, an dem philosophische Spekulation, historische Kritik und Naturwissenschaften beteiligt waren, vertiefte sich ständig der Gegensatz zwischen Vernunft und Glaube; Zweifel — klar oder unbestimmt — wurde laut; Freidenkertum, von den Humanisten überliefert und stetig Skeptizismus erzeugend, verdrängten, geheim oder bewußt, das Interesse an einer künftigen Welt zugunsten des Interesses am Glück des Menschengeschlechts auf dieser Erde. Und Schritt für Schritt mit diesem geistigen Vormarsch gewann Duldsamkeit mehr und mehr an Boden und die Freiheit neue Vorkämpfer. Die Macht der politischen Verhältnisse zwang die Regierungen, ihre einseitige Bevorzugung eines religiösen Glaubensbekenntnisses abzuschwächen, auch anderen christlichen Sekten Erleichterungen zu gewähren und aus Gründen weltlicher Zweckmäßigkeit den Grundsatz der Exklusivität aufzugeben. Religionsfreiheit aber bedeutet eine wichtige Etappe auf dem Wege zu absoluter Meinungsfreiheit.
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Fünftes
RELIGIÖSE
Kapitel
DULDSAMKEIT
Als im 3. Jahrhundert a. C. unter der Regierung des indischen Königs A s o k a , eines duldsamen, aber von religiösem Eifer entflammten Mannes, Streit zwischen zwei feindlichen Religionen (Brahmanismus und Buddhismus) ausgebrochen war, entschied er, daß künftig in seinem Reiche beide Glaubensbekenntnisse gleich geehrt und mit gleichen Rechten ausgestattet werden sollten. Seine in dieser Sache erlassenen Gesetze werden als die ältesten existierenden Toleranzedikte immer denkwürdig bleiben. In Europa wurde der Grundsatz der Toleranz zum erstenmal eindeutig in dem kaiserlich-römischen Edikt verkündet, das die Christenverfolgung beendete. Der religiöse Hader im sechzehnten Jahrhundert stellte diese Frage in moderner Gestalt von neuem zur Diskussion, und von nun an bildete sie während vieler Generationen das wichtigste Problem für die Staatsmänner und das Thema zahlloser Streitschriften. Duldsamkeit bedeutet begrenzte religiöse Freiheit, und es gibt in dieser Hinsicht mancherlei Schattierungen. Freiheit kann bestimmten christlichen Sekten zugestanden oder auch allen christlichen Sekten — aber nur diesen — gewährt werden. Man kann die Freiheit auf sämtliche Religionen ausdehnen, die Freidenker jedoch ausschließen; Toleranz kann den Deisten zugestanden, den Atheisten verweigert werden. Freiheit kann die Einräumung gewisser, aber nicht aller bürgerlicher Rechte bedeuten, so daß die nur Geduldeten von öffentlichen Ämtern oder von gewissen Berufen ausgeschlossen bleiben. Die weitgehende religiöse Freiheit, deren sich heute die westliche Welt erfreut, wurde erst in harten Kämpfen und über die verschiedensten Etappen der Toleranz errungen. Den modernen Grundsatz der Duldsamkeit verdanken wir jenen italienischen Reformatoren, welche die Lehre von der Dreieinigkeit verwarfen, und die zu den Begründern der unitarischen Weltanschauung gezählt werden müssen. Schon 64
frühzeitig hatte die Reformation nach Italien übergegriffen, aber es gelang Rom, diese Bewegung niederzuhalten, und zahlreiche Ketzer sahen sich gezwungen, in der Schweiz Schutz zu suchen. Aber die Unduldsamkeit C a l v i n s gönnte ihnen keinen Frieden. Schon bald mußten die A n t i t r i n i t a r i e r weiter nach Siebenbürgen und Polen flüchten, um ihre Lehren verkünden zu können. F a u s t o S o z z i n i , allgemein bekannt unter dem Namen S o z i n u s , gestaltete das unitarische Glaubensbekenntnis um, und in dem Katechismus seiner Sekte wurde jede Art von Verfolgung verurteilt (1574). Die Ablehnung der Anwendung von Gewalt in religiösem Interesse ergab sich logisch aus der sozinianischen Lehre. Im Gegensatz zu Luther und Calvin räumten die Sozinianer dem persönlichen Urteil bei der Auslegung der Heiligen Schrift einen so breiten Spielraum ein, daß ein Zwang zum Sozinianismus mit dessen Grundsätzen unvereinbar gewesen wäre. Mit anderen W o r t e n : dieser Glaube enthielt ein starkes rationalistisches Element, das den trinitarischen Glaubensbekenntnissen mangelte. Unter dem Einfluß sozinianischen Geistes ließ C a s t e l l i o n v o n S a v o y e n in einer Streitschrift laut den Mahnruf zur Toleranz erschallen und verdammte nachdrücklich die Verurteilung des Servetus zum Scheiterhaufen. Diese T a t zog Castellion den brennenden H a ß Calvins zu. Der Schweizer Theologe trat in seiner Schrift für Straflosigkeit des Irrtums ein und machte sich über die Kirchen lustig, die so ungeklärten Fragen wie der Prädestination und der Dreieinigkeit eine derartige Bedeutung beimaßen. „Über den Unterschied zwischen dem Gesetz und dem Evangelium, über unverdiente V e r gebung der Sünden sowie über deren Rechtfertigung durdi Christi Gnade zu diskutieren, ist ungefähr das gleiche, als wenn sich jemand darüber ereiferte, ob ein Fürst zu Pferde oder in einer Karosse, in weißem oder in rotem Gewände zu erscheinen habe"*). Religion wird zum Fluche, wenn Verfolgung einen unumgänglichen Teil ihres W e s e n s bildet. Lange Zeit waren die Sozinianer und dei'en Anhänger, als sie auch aus Polen vertrieben nach Deutschland auswanderten, die einzige Sekte, welche einschränkungslos für Duldsamkeit eintrat. Später machten sich auch die W i e d e r t ä u f e r sowie die Anhänger der a r m i n i a n i s c h e n S e k t e der reformierten Kirche Hollands diesen Standpunkt zu eigen. U n d in *) Nach Leckys Ubersetzung. 5
B u r y ,
Gedankenfreiheit
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Holland verkündete der Stifter der Englischen Kongregationisten, die unter dem Namen I n d e p e n d e n t e n eine so bedeutsame Rolle in der Geschichte des Bürgerkrieges und des Commonwealth spielten, den Grundsatz der Gewissensfreiheit. Sozinus glaubte dieses Prinzip auch ohne Abschaffung einer Staatskirche verwirklichen zu können. Ihm schwebte eine enge Vereinigung zwischen dem Staate und der vorherrschenden Kirche bei absoluter Duldsamkeit anderen Sekten gegenüber vor. Unter diesem System (das man als jurisdiktionales System bezeichnete) wurde schließlich auch religiöse Freiheit in den europäischen Ländern zur Wirklichkeit. Aber es gibt eine andere und einfachere Methode, dieses Ziel zu erreichen, nämlich Kirche und Staat zu trennen und sämtlichen Religionen gleiches Recht einzuräumen. Diese Lösung erstrebten die W i e d e r t ä u f e r . Sie verabscheuten den Staat; aber auch der Grundsatz religiöser Freiheit war ihnen nicht kostbar. Ihr Ideal wäre eine anabaptistische Theokratie gewesen; Trennung von Kirche und Staat galt ihnen als zweitbeste Lösung. Für eine allgemein durchzuführende Trennung war aber die öffentliche Meinung in Europa noch nicht reif, da nach Ansicht der mächtigsten religiösen Körperschaften Duldsamkeit in dieser Beziehung Gleichgültigkeit bedeutet hätte und daher als gottlos betrachtet wurde. Aber in einem kleinen Gebiet der neuen Welt jenseits des Atlantik wurde die Trennung von Kirche und Staat bereits im 17. Jahrhundert durchgeführt. Die P u r i t a n e r , die vor der Unduldsamkeit der englischen Kirche und des Staates fliehen mußten und in Neuengland Kolonien gründeten, benahmen sich nicht nur den Anglikanern und Katholiken, sondern auch den Baptisten und Quäkern gegenüber nicht weniger unduldsam. Sie setzten theokratisdie Regierungen ein, von denen alle, die sich nicht als Puritaner bekannten, ausgeschlossen blieben. R o g e r W i l l i a m s hatte von den holländischen Arminianern den Gedanken der Trennung von Kirche und Staat übernommen. Wegen dieser Ketzerei aus Massachusetts verbannt, gründete er als Zufluchtsstätte für alle, die von den puritanischen Kolonisten angefeindet wurden, die Stadt P r o v i d e n c e und verlieh ihr eine demokratische Verfassung. Den weltlichen Behörden wurden nur in zivilrechtlichen Fragen Machtbefugnisse zugestanden, während ihnen jede Einmischung in religiöse Angelegenheiten versagt blieb. Bald entstanden auf Rhode Island noch andere Städte. Eine von C h a r l e s d e m D r i t t e n 1663 erlassene Charte bestä66
tigte die Verfassung, die sämtlichen sich zum christlichen Glauben bekennenden Bürgern — gleichgültig in welcher Form — uneingeschränkte politische Rechte zusprach. Nichtchristen wurden zwar auch geduldet, erhielten aber nicht die gleichen politischen Rechte wie die Christen. Abgesehen von dieser Einschränkung herrschte in dem neuen Staate vollkommene Freiheit. Schon die Tatsache, daß bald auch den Juden volle Bürgerrechte eingeräumt wurden, beweist, wie frei die Atmosphäre war. Daher gebührt Roger Williams der Ruhm, den ersten wirklichen freien modernen Staat geschaffen zu haben, in dem die Kontrolle aller religiösen Angelegenheiten restlos dem Machtbereich der weltlichen Behörden entzogen war. A u d i in der römisch-katholischen Kolonie M a r y l a n d wurde — zwar auf anderem W e g e — der Grundsatz der Duldsamkeit durdigeführt. Dank des Einflußes Lord B a 11 i m o r e's wurde 1649 ein Toleranzgesetz veröffentlicht, das insofern bemerkenswert ist, als es das erste von einem rechtmäßigen Parlament verabschiedete Gesetz war, welches a l l e n Christen vollständige Freiheit gewährte. Niemand, der sich zum christlichen Glauben bekannte, durfte wegen seiner religiösen Überzeugung behelligt werden. U m so schwerer ruhte der A r m des Gesetzes auf allen außerhalb des Christentums Stehenden. W e r G o t t lästerte, oder die Dreieinigkeit, oder ein Glied der Dreieinigkeit angriff, wurde mit Todesstrafe bedroht. Die in Maryland geübte Duldsamkeit lockte so zahlreiche protestantische Ansiedler aus Virginien in diesen Staat, daß die Protestanten in kurzer Frist die Majorität bildeten. Kaum aber hatten sie die politisdie Vorherrschaft errungen, so führten sie 1654 ein Gesetz ein, welches Baptisten sowie Anhänger des Prälatentums von den W o h l t a t e n des Toleranzgesetzes ausschloß. Nach dem Jahre 1660 wurde jedoch die Baltimore V e r fassung wieder in Kraft gesetzt, und die frühere. Religionsfreiheit von neuem verkündet. A b e r mit der Thronbesteigung W i l h e l m s d e s D r i t t e n gelangten die Protestanten zum zweiten Male zur Macht, und damit endete auch wieder die von den Katholiken in Maryland verfügte Duldsamkeit. Es läßt sich nicht leugnen, daß es sich in diesen beiden Fällen nur um begrenzte Freiheit handelte; in Rhode Island dagegen, wo die Regierung schließlich die Doktrin des Sozinus*) *) Emschränkungslose Toleranz wurde von P e n n in der Quäkerkolonie Pennsylvania durchgeführt.
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abstreifte, ruhte die Freiheit auf einer breiteren und gefestigteren Grundlage. Nachdem die Kolonie sich von England unabhängig gemacht hatte, war die dort geschaffene föderale Verfassung rein weltlicher Natur, und es stand jedem einzelnen Mitgliedstaate der Union frei, sich für die Trennung von Kirche und Staat zu entscheiden oder sie abzulehnen (178$). Daß Separation in den amerikanischen Staaten zur Regel wurde, ist vermutlich in erster Linie der Erkenntnis zuzuschreiben, daß eine Trennung von Kirche und Staat die unumgängliche Voraussetzung für Duldsamkeit der verschiedenen Sekten untereinander sei. Aber auch dieses System verhinderte nicht, daß zum Beispiel in Maryland sowie in verschiedenen Südstaaten Atheisten auch weiterhin politischen Unbilden ausgesetzt blieben. Hätte man den I n d e p e n d e n t e n in England ihren Willen gelassen, so würden sie wahrscheinlich schon unter dem Commonwealth das Experiment einer Trennung erprobt haben. Aber dieses Vorhaben wurde von C r o m w e l l verhindert. Die neue Staatskirche umfaßte Presbyterianer, Independenten und Baptisten; freie Ausübung des Gottesdienstes wurde allen christlichen Sekten mit Ausnahme der römischen Katholiken und der Anglikaner zugebilligt. Hätte das Parlament etwas zu sagen gehabt, so wäre die verkündete Duldsamkeit ein toter Buchstabe geblieben, betrachteten doch die Presbyterianer Toleranz als ein W e r k des Satans, und wenn es nadh ihrem Willen gegangen wäre, dann wären die Independenten rücksichtslos verfolgt worden. Aber unter Cromwell's autokratischem Regime lebten sogar die Anglikaner in Frieden, ja seine Nachsicht erstredete sidi selbst auf Juden. In jenen Tagen wurden bereits von verschiedenen Seiten Stimmen laut, die aus allgemeinen Erwägungen Duldsamkeit befürworteten*). Der berühmteste Vorkämpfer dieser Richtung war der Dichter M i 1 t o n , der sich energisch für die Trennung von Kirche und Staat einsetzte. In Milton's „Areopagitica: eine Rede zu Gunsten der Pressefreiheit" (1644), wurde die Pressefreiheit beredt mit Argumenten verteidigt, die auch für die Freiheit des Denkens im allgemeinen Gültigkeit besaßen. Milton führte aus, eine Zensur trüge nur dazu bei, „jeden wissenschaftlichen Fortschritt zu entmutigen und die Wahrheit zu behindern, indem *) Erwähnung verdienen: Chillingworths „Religion of Protestants" (1637) und Jeremy Taylors Liberty of Prophesying" (1646).
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sie nicht nur unsere geistigen Fähigkeiten in bezug auf das, was wir bereits wissen, zur Untätigkeit verurteilt und abstumpft, sondern auch neue Entdeckungen verhindert, die sonst vielleicht, sowohl in religiösem wie auch im weltlichen Wissen, in Zukunft gemacht werden könnten". Denn Wissenschaft wird durch Äußerung neuer Ansichten gefördert, und Wahrheiten werden durch freimütige Aussprache klar gestellt. Falls die Wässer des Wissens „nicht in einem ständigen Strom dahinfließen, verwandeln sie sich in einen schlammigen Sumpf a u s Gleichförmigkeit und Tradition". Bücher, die erst von Zensoren genehmigt werden, reden, wie B a c o n sich ausdrückt, gemeinhin „nur die Sprache der jeweiligen Zeit" und trügen nichts zum Fortschritte bei. Die Beispiele jener Länder, in denen die Zensur streng gehandhabt wird, sprechen wahrlich nicht dafür, daß Zensur die Moral fördere: „Blickt auf Italien und auf Spanien, ob diese Länder auch nur um einen Deut besser, ehrenhafter, weiser, keuscher geworden sind, seitdem die Inquisition ihre ganze Fieberhitze auf Bücher verschwendet hat." Spanien könnte vielleicht erwidern: „Wir sind — und das ist das Wichtigste — orthodoxer geworden." Interessant ist auch die Feststellung, daß Milton Gedankenfreiheit über bürgerliche Freiheit stellte. „Gewährt mir vor allen anderen Freiheiten die Freiheit zu lehren, zu reden und, frei meinem Gewissen folgend, jede Frage zu diskutieren." Mit Wiedereinsetzung der Monarchie und der anglikanischen Kirche wurde die religiöse Freiheit sofort durch eine Reihe gegen Dissidenten gerichteter Gesetze ausgetilgt. Der Revolution verdanken wir jenen Toleranzakt (1689), von dem sich die gegenwärtig in England herrschende religiöse Freiheit herleitet. Dieses Gesetz sichert Freiheit des Gottesdienstes den Presbyterianern, Kongregationisten (Independenten), Baptisten und Q u ä k e r n zu, freilich nur diesen Sekten; Katholiken und Unitarier wurden ausdrücklich von dieser Maßnahme ausgeschlossen. Die von K a r l d e m Z w ö l f t e n legalisierten Unterdrückungsvorschriften blieben auch weiter in Kraft. D a s war eine echt englische Maßnahme, logisch widerspruchsvoll und lächerlich, eine Mischung aus Toleranz und Intoleranz, aber den Zeitverhältnissen und dem Stande des öffentlichen Denkens jener Periode angepaßt. Im gleichen Jahre erschien in lateinischer Sprache J o h n L o c k e's berühmter (erster) „Brief über Duldsamkeit". Drei spätere Briefe entwickelten und illustrierten die von ihm auf-
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gestellte These. Locke's Hauptargument basierte auf dem Grundsatze, daß die Aufgaben der bürgerlichen Regierungen streng von jenen der Religion zu scheiden wären, daß der Staat lediglich eine gesellschaftliche Vereinigung darstelle, um die weltlichen Interessen seiner Mitglieder zu schützen und zu fördern. Unter weltlichen Interessen verstand Locke: Leben, Freiheit, Gesundheit und Besitz von Eigentum. Für die Seelsorge seien die Mitglieder der Regierung in keinem höheren M a ß e verantwortlich als jeder andere Bürger. Eine Regierung vermag nur äußere Gewalt anzuwenden, echte Religion bedeute jedoch innerliche Überzeugung des Geistes, und der Geist sei so gestaltet, daß Gewalt ihn nicht zu zwingen vermöge, etwas zu glauben. Daher sei es lächerlich, wenn ein Staat Gesetze zur Durchsetzung einer bestimmten Religion erließe, denn G e setze ohne Strafandrohung blieben wirkungslos, und Strafen seien ungebührlich, da sie keine Überzeugungskraft besäßen. Selbst angenommen, Strafen besäßen die Kraft, die religiöse Überzeugung von Menschen zu wandeln, so vermöchten sie doch nichts zur Errettung ihrer Seelen beizutragen. W ü r d e n mehr Menschen ihr Seelenheil bewahren, falls sie sich blindlings dem Willen ihrer Herrscher unterwürfen und die Religion des Staates annähmen? Die Fürsten der W e l t sind gleich ihren Ländern in verschiedene Religionen geschieden, und jedes Land wähnt sich im Besitze der einzig wahren Religion, daher wäre die gesamte übrige W e l t gezwungen ihren Herrschern in den Untergang zu folgen, „und was noch die Absurdität unterstreicht und mit dem Begriffe eines Gottes unvereinbar ist: die Menschen würden ihr ewiges Glück oder ihre ewige Verdammnis der zufälligen Stätte ihrer Geburt verdank e n " . Dieser Grundgedanke wird von Locke wieder uhd wieder betont. W e n n ein Staat berechtigt wäre, seinen Untertanen einen Glauben aufzuzwingen, so würde daraus folgen, daß in allen anderen Ländern außer diesem einen oder den wenigen, in denen der wahre Glaube herrscht, es staatsbürgerliche Pflicht sei, eine falsche Religion anzuerkennen. W i e in England der Protestantismus Förderung genießt, so wird mit der gleichen Begründung in Frankreich das Papsttum bevorzugt. A b e r ,.was wahr und gut in England ist, muß auch in Rom, in China oder in G e n f wahr und gut sein." Daher ist Duldsamkeit jenes Prinzip, das dem wahren Glauben die größte Chance obzusiegen bietet. Locke wollte sogar den Götzendienern — unter dieser Be-
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Zeichnung verstand er die Indianer Nordamerikas — volle Freiheit einräumen und machte einige beißende Bemerkungen über den geistlichen Eifer, der diese „unschuldigen Heiden" zwänge, ihren uralten Religionen abtrünnig zu werden. Aber obwohl Lockes Duldsamkeit über die Grenzen der christlichen Kirche hinausreichte, war sie dennoch nicht allumfassend. A n erster Stelle machte er hinsichtlich der Anhänger des römischkatholischen Glaubens eine Ausnahme, nicht wegen der theologischen Dogmen der Katholiken, sondern weil sie „lehren, daß man Ketzern keine Treue zu halten brauche", und daß „exkommunizierte Könige ihrer Kronen und ihrer Königreiche verlustig gingen", vor allem aber weil die Katholiken sich dem Schutze und dem Dienste eines ausländischen Fürsten — des Papstes — verschrieben hätten. Mit anderen Worten, die Katholiken bildeten nach Loke's Ansicht eine politische Gefahr. Die zweite Ausnahme bezog sich auf Atheisten. „Nicht geduldet werden können jene, welche die Existenz Gottes leugnen. Versprechen, Verträge und Eide, diese Grundvoraussetzungen für die menschliche Gesellschaftsordnung, besitzen für einen Atheisten keine bindende Kraft. D i e Leugnung Gottes, wenn auch nur in Gedanken, löst alle Bande. Außerdem können Menschen, die infolge ihres Atheismus jede Religion unterminieren und zerstören, keinen religiösen Anspruch auf das Privileg der Toleranz erheben". Selbst ein Mann wie Locke vermag sich also nicht völlig von den Vorurteilen seiner Epoche zu befreien, obwohl die von ihm zugelassenen Ausnahmen zu seinem Grundsatz: „es sei lächerlich, jemanden durch Gesetz etwas aufzwingen zu wollen, was zu vollziehen nicht in der Macht des Menschen liegt", in krassem Widerspruch stehen. U n d weiter schreibt er: „ Z u glauben, daß Dies oder Jenes wahr sei, hängt nicht von unserem Willen ab". Diese A u f f a s s u n g bezieht sich in gleicher Weise auf römische Katholiken wie auf Protestanten, auf Atheisten wie auf Deisten. Offenbar ging Lodke von der Ansicht aus, die theoretisthen Anschauungen des Atheismus, der zu seiner Zeit eine Ausnahme darstellte, seien von dem Willen abhängig. Folgerichtig hätte Locke denn auch seinen großen Zeitgenossen S p i n o z a aus einem von ihm beherrschten Staate verbannen müssen. Aber trotz dieser Einschränkungen ist Lockes Toleranzlehre ein W e r k von höchstem Werte, und seine Beweisführung bringt uns weiter als der Verfasser vorauszusehen vermochte. Locke 71
verfocht einschränkungslos das weltliche Prinzip, und dessen logische Folgerung heißt Trennung. Eine Kirche ist lediglich „eine freie und freiwillige Institution". Hier sei mir die Bemerkung gestattet, daß, wenn Ungläubige schon zwangsweise bekehrt werden sollen, es für Gott leichter wäre, diese Bekehrung „mit Hilfe seiner himmlischen Heerscharen zu erzielen, als für irgendeinen Sohn der Kirche, er mag noch so mächtig sein, mit allen seinen Drachen". Dies ist eine höfliche Umschreibung des gleichen Gedankens, dem bereits Kaiser T i b e r i u s (vergl. S. 29) Ausdruck verliehen hatte, als er erklärte: Falls ein irriger Glaube eine Beleidigung Gottes bedeute, so wäre e,s doch in erster Linie Gottes persönliche Angelegenheit dagegen einzuschreiten. Die Duldung von N o n k o n f o r m i s t e n wurde von extremen Anglikanern mit scheelenBlidcen betrachtet, und derEinfluß dieser Partei zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts bedrohte die Freiheit der Dissidenten. Diese Sachlage veranlaßte D e f o e , einen der eifrigsten Nonkonformisten, zu seiner Streitschrift: „Das kürzeste Verfahren mit Dissidenten" (1702), einem ironischen Angriff auf das Prinzip der Toleranz. Anscheinend bemüht sich der Dichter, den Nachweis zu führen, daß die Dissidenten in der Tiefe ihres Herzens unverbesserliche Rebellen seien, denen gegenüber eine Politik der Sanftmut keine Erfolge zu erzielen vermöchte. Er schlägt daher vor, sämtliche Priester im Tempel aufzuhängen und alle Personen, die solchen Zusammenkünften beiwohnen, aus dem Lande zu verbannen. Diese äußerst amüsante, aber im Grunde bitter ernste Karikatur der Gefühle der anglikanischen Hochkirche täuschte und beunruhigte Anfangs die Kreise der Dissidenten; bald jedoch stimmte die Geistlichkeit der Hochkirche ein wüstes Geschrei an. Defoe wurde zu einer Geldbuße verurteilt, drei Mal an den Schandpfahl gestellt und in Newgate eingekerkert. Aber die Reaktion der Tories flaute bald ab. Bei den christlichen Sekten machte sich im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts wieder ein Geist der Toleranz bemerkbar. Neue Sekten entstanden. Die Staatskirche benahm sich weniger fanatisch; zahlreiche anglikanische Geistliche unterlagen dem Einfluß rationalistischen Denkens. Lediglich dem Widerstande König G e o r g d e s D r i t t e n ist es zuzuschreiben, daß die Katholiken nicht bereits vor Ablauf dieses Jahrhunderts aus ihrer unwürdigen Lage befreit wurden. Diese von B u r k e lebhaft befürwortete, und auch von P i t t herbeigesehnte Maßnahme, 72
erhielt erst 1829, und audi dann nur unter dem Drucke der drohenden irischen Revolution, Gesetzeskraft. Die Unitarier wurden 1813 toleriert, erlangten aber erst in den vierziger Jahren volle Gleichberechtigung. Juden wurden sogar erst 1858 mit allen Bürgerrechten ausgestattet. Die Verkündigung voller religiöser Freiheit in England im neunzehnten Jahrhundert war in erster Linie das Verdienst der Liberalen. Die liberale Partei kämpfte zielbewußt für restlose Säkularisierung und Trennung von Kirche und Staat — eine logische Folgerung aus Locke's Theorie einer bürgerlichen Regierung. Die Lostrennung der Kirche in Irland im Jahre 1869 verwirklichte dieses Ideal wenigstens teilweise. M e h r als vierzig Jahre später bemühte sich die liberale Partei, diesen Grundsatz auch in Wales durchzusetzen. Es ist für englische Politik und für englische Psychologie charakteristisch, daß diese Umwandlung nur Schritt für Schritt erfolgte. In den übrigen Ländern des britischen Empire hatte das Prinzip der Trennung bereits ganz allgemein den Sieg errungen; es gab keine Verbindung zwischen dem Staate und irgendeiner Sekte; keine Kirche war in irgendeiner Beziehung etwas anderes als eine freiwillige Gemeinschaft. A b e r die Säkularisierung erzielte gerade unter dem System der Staatskirche Fortschritte. Es genügt ah den „Education A c t " von 1870 sowie an die Abschaffung religiöser Prüfungen an den Universitäten im Jahre 1871 zu erinnern. A u f andere freiheitliche Errungenschaften werde ich in einem späteren Kapitel bei Würdigung der Fortschritte des Rationalismus noch näher eingehen. W e n n wir die religiöse Lage im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts mit jener im achtzehnten Jahrhundert vergleichen, so scheint sie in scharfem Gegensatz zu der Entwicklung in England zu stehen. W ä h r e n d in England die religiöse Freiheit sich in immer stärkerem M a ß e durchsetzte, war in Frankreich ein offensichtlicher Rückschritt zu verzeichnen. Bis 1676 genossen die französischen Protestanten (Hugenotten) allgemeine Duldung; in den folgenden hundert Jahren galten sie als vogelfrei. Die Toleranz, welche der königliche Gnadenbrief (das 1598 erlassene Edikt von Nantes) ihnen zusicherte, besaß nur einen sehr bedingten W e r t . So waren die Hugenotten z. B . vom Dienste im Heere ausgeschlossen und besaßen in Paris und in verschiedenen anderen Städten und Bezirken kein Wohnrecht, und die Freiheiten, deren sie sich immer noch erfreuten, waren nur ihnen, aber keiner anderen Sekte einge-
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räumt. Von den beiden großen Kardinälen, R i c h e l i e u und M a z a r i n , die unter L u d w i g d e m D r e i z e h n t e n und L u d w i g d e m V i e r z e h n t e n Frankreich regierten, wurde die Charte getreu eingehalten; als aber Ludwig der Vierzehnte 1641 die Regierungsgewalt übernahm, erließ er sofort eine ganze Reihe gegen die Protestanten gerichteter Gesetze, die im Wiederruf der Charte (1676) und dem Beginn einer Protestantenverfolgung gipfelten. Der französische Klerus versuchte diese Politik unter Berufung auf den H e i l i g e n A u g u s t i n u s und die berüchtigten Worte: „zwingt sie, zu uns zu kommen", zu rechtfertigen. Gegen diese Beweisführung wandte sich B a y 1 e , ein französischer Protestant, der in Holland Zuflucht gesucht hatte. Seine Schrift, in der er für Duldsamkeit eintrat, trug den Titel: „Philosophischer Kommentar über den Text: Zwinge sie, zu uns zu kommen" (1686), und steht an Bedeutung hinter Locke's Werk, daß etwa zur gleichen Zeit entstand, nicht zurück. Zahlreiche der von den beiden Verfassern vorgetragenen Argumente sind identisch. Beide stimmen aus gleichen Beweggründen in der Befürwortung eines Ausschlusses der römischkatholischen Christen überein. Der charakteristische Zug in Bayles Abhandlung ist, daß selbst unter der Annahme, das Prinzip, Irrtümer mit Gewalt auszurotten, wäre gerechtfertigt, keine Erkenntnis gewiß genug sei, um uns das Recht zu verleihen, diese Theorie in der Praxis anzuwenden. W i r werden im folgenden Kapitel den Beitrag, den dieser bedeutende Gelehrte der Sache des Rationalismus geleistet hat, noch eingehender zu würdigen haben. Obwohl die Protestanten in großen Scharen Frankreich verließen, erwies sich Ludwigs Plan, die Ketzerei gänzlich aus seinem Reiche zu verbannen, dennoch als ein Fehlschlag. Im sechszehnten Jahrhundert wurde unter dem Regime L u d w i g s d e s F ü n f z e h n t e n die Anwesenheit von Protestanten stillschweigend geduldet, aber man betrachtete sie als Ausgestoßene. Ihre Ehen wurden nicht als rechtsgültig anerkannt, und sie mußten jeden Augenblick mit einer Verfolgung rechnen. Etwa gegen die Mitte dieses Jahrhunderts setzte ein hauptsächlich von Rationalisten geführter, aber schließlich auch von aufgeklärten Katholiken unterstützter literarischer Feldzug zur Milderung des Elends dieser unterdrückten Sekte ein. Diese Bestrebungen führten endlich zu einem Toleranzedikt (1787), das die Lage der Protestanten erträglicher gestaltete, obgleich 74
sie auch dann noch von bestimmten Laufbahnen ausgeschlossen blieben. Der energischste und einflußreichste Führer in diesem Kampfe gegen Unduldsamkeit, war V o l t a i r e (vergl. nächstes Kapitel). Seine Anprangerung verschiedener besonders offenkundiger Fälle ungerechter Verfolgungen übten eine nachdrücklichere W i r k u n g aus, als alle ins Treffen geführten theoretischen Gründe. Der schändlichste Fall war jener von J e a n C a 1 a s , einem protestantischen Kaufmann aus Toulouse, dessen Sohn Selbstmord begangen hatte. Von gewissen Kreisen wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, der junge Mann hätte die Absicht gehabt, zur katholischen Kirche überzutreten, woraufhin seine von protestantischer Bigotterie beseelten Angehörigen, Vater, Mutter und Bruder, ihn unter Beihilfe eines Freundes ermordet hätten. Alle Beschuldigten wurden in Eisen gelegt, vor Gericht gestellt und verurteilt, obwohl für ihre Schuld kein anderer Beweis angeführt werden konnte, als der Verdacht der Bigotterie. Jean Calas wurde auf das Rad geflochten, Sohn und Tochter in Klöstern untergebracht und Jeans Frau dem Hungertode überantwortet. Dank Voltaires tatkräftigem Eingreifen — der Dichter-Philosoph lebte damals in der N ä h e von Genf — begab sich die Witwe des Selbstmörders nach Paris, wo sie freundliche A u f n a h m e und die Unterstützung berühmter Anwälte fand. Eine neue gerichtliche Untersuchung fand statt, das Toulouser Urteil wurde kassiert, und der König setzte den Betroffenen Pensionen aus. Ein solcher Skandal hätte sich — Voltaires Behauptung zur Folge — nur in der Provinz ereignen können: „in Paris", so erklärte er, „würde Fanatismus, so mächtig er auch sein möge, doch stets durch Vernunft gezügelt." Der Fall S i r v e n lag ähnlich, obwohl er nicht so tragisch endete. Wieder trug der Toulouser Magistrat f ü r das Fehlurteil die Verantwortung. Sirven war beschuldigt worden, seine Tochter in einem Brunnen ertränkt zu haben, um sie zu verhindern katholisch zu werden. Das vom Gericht gefällte Urteil lautete für ihn und seine Ehefrau auf Todesstrafe. Zum Glück gelang es Sirven mit seiner Familie in die Schweiz zu entkommen und Voltaire von ihrer Unschuld zu überzeugen. Die Aufhebung des Urteils durchzusetzen erforderte die Arbeit von neun Jahren. Diesmal hob das Toulouser Gericht selbst das Urteil auf. Als Voltaire 1788 Pari? besuchte, wurde er von der Menge als „Verteidiger von Calas und Sirven" stürmisch 75
begrüßt. Voltaires uneigennütziges, tatkräftiges Auftreten gegen solche Verfolgungen war weit wirkungsvoller als seine Abhandlung über Toleranz, die er aus A n l a ß der Calas-Episode verfaßt hatte. Verglichen mit Locke's und Bayle's Schriften ist diese Arbeit ein unbedeutendes W e r k . D i e Duldsamkeit, für die Voltaire eintrat, ist von recht begrenztem Ausmaße; so wollte er z. B . nur Angehörigen der Staatsreligion Zutritt zu öffentlichen Ämtern und Würden gewähren. Aber trotz aller Einschränkungen der von Voltaire vertretenen Theorie der Duldsamkeit war er im Vergleich mit seinem Zeitgenossen Rousseau in religiöser Hinsicht, bedeutend weitherziger. Obwohl Sdiweizer von Geburt, gehört Rousseau der Literatur und der Geschichte Frankreichs an, aber es blieb nicht ohne Folgen, daß Rousseau in den Traditionen des calvinistischen G e n f aufgewachsen war. Sein Ideal-Staat wäre in seiner Art kaum etwas Fortschrittlicheres als irgendeine andere Theokratie geworden. Die von ihm befürwortete „vernünftige Religion" ist gewissermaßen ein undogmatisches Christentum. Freilich betrachtete er gewisse Dogmen als wesentlich und diese sollten bei Strafe der Verbannung für sämtliche Bürger obligatorisch sein. Z u diesen Dogmen rechnete Rousseau die Existenz Gottes, die künftige Segnung des Guten und die Bestrafung des Bösen, sowie die Pflicht zur Toleranz gegenüber allen, welche die grundlegenden Artikel des Glaubens anerkannten. Ein auf dieser Grundlage errichteter Staat wäre insofern einigermaßen großzügig gewesen, als in ihm sämtliche christlichen Sekten und viele Deisten ungestört hätten leben können. Aber die erzwungene Anerkennung bestimmter „unentbehrlicher" Glaubenssätze bedeutete eine Verletzung des Prinzips der Toleranz. Die Wichtigkeit der Rousseau'schen Idee beruht auf der Tatsache, daß sie auf religiösem Gebiet eines jener Experimente inspirierte, die im Verlaufe der französischen Revolution durchgeführt wurden. In Frankreich schuf die Revolution religiöse Freiheit. Die Mehrzahl der Führer war nicht orthodox. Ihr Rationalismus trug selbstverständlich den Stempel des achtzehnten Jahrhunderts, und in der Präambel zur Verkündung der Menschenrechte (1789) wurde der Deismus durch die W o r t e bestätigt: „in Gegenwart und unter dem Beistande des Höchsten W e sens". Gegen diese Fassung wurde nur eine einzige Stimme des Protestes laut. Die Deklaration selbst bestimmte: niemand dürfe wegen seiner religiösen Überzeugung benachteiligt wer-
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den, vorausgesetzt, daß durch sein Verhalten die öffentliche Ordnung nicht gestört würde. Als „herrschende Religion" galt auch weiter der Katholizismus. Protestanten, nicht jedoch Juden, hatten Zutritt zu öffentlichen Ämtern. M i r a b e a u , der größte Staatsmann jener Zeit, protestierte energisch gegen Verwendung von W o r t e n wie „Toleranz" und „herrschend". „Die absolute uneingeschränkte Freiheit der Religion ist", so sagte er, „in meinen Augen ein geheiligtes Recht; dieses Recht durch das W o r t Toleranz einzuschränken, erscheint mir bereits als eine A r t Tyrannei, da die Autorität, welche toleriert, auch nicht tolerieren könnte". Der gleiche Einwand wurde von T h o m a s P a i n e in seiner 1791 erschienen Schrift: „Menschenrechte" erhoben. „Toleranz ist nicht das Gegenteil von Intoleranz, sondern ihr Gegenstück, beide bedeuten Willkürherrschaft. D i e eine maßt sich das Recht der Verhinderung der Gewissensfreiheit und die andere deren Gewährung an." Paine war ein glühender Deist und fügte hinzu: „Würde in einem Parlament ein Gesetzentwurf eingebracht mit dem Titel: 'Gesetz zur Duldung oder zur Gewährung von Freiheit für den Allmächtigen die Anbetung eines Juden oder eines Türken anzunehmen', oder 'dem Allmächtigen zu verbieten, sie zu empfangen', so würden alle Menschen erschrecken und ein solches Gesetz als Blasphemie bezeichnen. Ein A u f r u h r würde entstehen. Unmaskiert stände die Vermessenheit der Toleranz in religiösen Fragen vor aller Augen. " Die Revolution begann verheißungsreich, aber Mirabeaus Geist schwebte nicht während des gesamten Verlaufes über ihr. Besonderes Interesse beansprucht die Wandelbarkeit in der religiösen Politik in der Zeit von 1789—1801, weil sie deutlich zeigt, daß der Grundsatz der Gewissensfreiheit keineswegs vom Geiste jener Männer Besitz ergriffen hatte, welche stolz darauf waren, die Unduldsamkeit der von ihnen gestürzten Regierung abgeschafft zu haben. Die Staatskirche wurde durch eine zivilrechtliche Konstitution des Klerus (1790) reorganisiert, die es französischen Bürgern verbot, die päpstliche Autorität anzuerkennen. Die Ernennung von Bischöfen wurde den Wählern der Departements übertragen, wodurch der maßgebende Einfluß von der Krone auf die Nation üherging. Lehre und Gottesdienst blieben unangetastet. U n t e r der demokratischen Republik (1792—1795), die auf den Sturz der Monarchie folgte, blieb diese Verfassung zwar in Kraft, aber es wurde eine Bewegung zur Entchristlichung Frankreichs gefördert, und
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die Pariser Kommune ordnete die Schließung der Kirchen sämtlicher Religionen an. A n deren Stelle trat die Anbetung der Vernunft nach Riten der katholischen Kirche sowohl in Paris wie in der Provinz. Die aufs schärfste antikatholisch eingestellte Regierung scheute sich nicht, durch alle möglichen Mittel gegen den vorherrschenden katholischen Glauben vorzugehen; unverhüllte Verfolgung hätte die nationalen Verteidigungskräfte geschwächt und in Europa einen Entrüstungssturm entfesselt. Naiverweise hoffte man den Aberglauben Schritt um Schritt eindämmen zu können. Robespierre erklärte sich gegen die Politik einer Entchristlichung Frankreichs, und sobald er zur Macht gelangt war (April 1795) verkündete er als Staatsreligion die Anbetung des Höchsten W e sens: „Das französisdie V o l k anerkennt die Existenz des höchsten Wesens und die Unsterblichkeit der Seele"; die Freiheit anderer Kulte blieb bestehn. In dieser Form wurde Rousseaus Idee für ein paar Monate mehr oder weniger verwirklicht. D a s bedeutete aber Intoleranz, denn Atheismus galt als ein Laster und „alle, die nicht wie Robespierre dachten, waren Atheisten". Die demokratische Republik wurde von der Republik des Mittelstandes (1795—1799) abgelöst und diese Regierung bemühte sich, die Vorherrschaft irgendeiner religiösen Gruppe zu verhindern, ein Gleichgewicht zwischen sämtlichen Glaubensbekenntnissen zu erzielen, freilich mit einer gewissen Parteinahme gegen die stärkste, also die katholische Kirche, von der man befürchtete, sie könnte zu einer Gefahr für die anderen Sekten, unter Umständen sogar zu einer Gefahr für die Republik selbst werden. Daher waren die Republikaner mit allen Mitteln bestrebt, die neuen rationalistischen Kulte zu fördern *und durch Einführung eines weltlichen Erziehungssystems die offenbarte Religion zu untergraben. Die Verfassung von 1795 verfügte die Trennung von Kirche und Staat, entzog dem katholischen Klerus die bis dahin vom Staate bezahlten Gehälter und bekräftigte die Freiheit aller Bekenntnisse. Die Volksschulen wurden in weltliche Schulen umgewandelt. A n Stelle des Religionsunterrichtes wurden in der Schule die Verkündung der Menschenrechte, die Paragraphen der Verfassung und republikanische Moral gelehrt. Ein Enthusiast erklärte: „Die Religion von Sokrates, Marc Aurel und Cicero wird bald die Religion der W e l t sein." Unter dem Namen Theophilanthropie wurde eine neue rationalistische Religion eingeführt. Es war die „natürliche Re-
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ligion" der Philosophen und Dichter des Jahrhunderts, Voltaires und der englischen Deisten — nicht das gereinigte Christentum Rousseaus, sondern älter und dem Christentum überlegen. Kurz formuliert lauteten die Lehren: Gott, Unsterblichkeit, Brüderlichkeit, Menschlichkeit; keine Angriffe gegen andere Religionen, sondern Achtung und Ehrerbietung allen gegenüber; Versammlungen im Familienkreise oder in einem Tempel, um einander zu einer moralischen Lebensführung zu ermutigen. Unter dem Schutze der Regierung, teils geheim, teils öffentlich, erzielte diese Lehre in den gebildeten Klassen einen gewissen Erfolg. Die Idee des Laienstaates wurde unter dieser Ordensregel populär gemacht und gegen Ende des Jahrhunderts herrschte in Frankreich echter Religionsfriede. Auch unter dem Konsulat (von 1799) bestand dieses System noch fort, obwohl N a poleon dem Theophilanthropismus keinen Schutz mehr gewährte. Trotzdem das Volk anscheinend mit der bestehenden Ordnung im großen und ganzen einverstanden war, entschloß sich Napoleon sie abzuändern und den Papst von neuem auf der Bühne erscheinen zu lassen. Wieder wurde die katholische Religion, als Religion der Majorität, der besonderen Obhut des Staates unterstellt, die Gehälter des Klerus wieder von der Nation bezahlt, und die Autorität des Papstes über die Kirche in scharf definierten Grenzen anerkannt, aber auch den anderen Religionen wurde volle Toleranz zugesagt. Dies war das Resultat des Konkordats zwischen der französischen Republik und dem Papste. Dem Urteil einer autoritativen Stelle zufolge hätte die Nation, falls sie zu Rate gezogen worden wäre, sich gegen diese Veränderung ausgesprochen. Ob das zutrifft, erscheint zweifelhaft. Vermutlich ließ sich Napoleon bei der von ihm eingeschlagenen Politik durch die Überlegung leiten, daß er, wenn er den Papst als Werkzeug benutzte, in der Lage wäre, das Gewissen der Menschen zu beeinflussen, und auf diese Weise leichter seinen Plan, ein Kaiserreich zu errichten, zu verwirklichen. Abgesehen von ihrer kirchlichen Politik und ihren Experimenten mit neuen, nach den Grundsätzen rationalistischer Denker geformten Glaubenslehren, erheischt die französische Revolution an sich im Zusammenhang mit unserem Thema unser Interesse als Beispiel der Einschränkung der Vernunft durch einen unduldsamen Glauben. Ihre Führer waren der Ansicht, daß sie durch Anwendung 79
bestimmter Grundsätze Frankreich zu erneuern und der W e l t zu zeigen vermöchten, auf welche W e i s e das dauernde Glück der Menschheit gewährleistet werden könnte. Sie handelten zwar im Namen der Vernunft, aber ihre Grundsätze waren Glaubensartikel, die genau so blind angenommen werden mußten und genau so irrational waren wie die Dogmen irgendeines übernatürlichen Bekenntnisses. Zu diesen Dogmen gehörte auch die irrige Lehre Rousseau's, daß der Mensch von Natur gut sei und Gerechtigkeit und Ordnung liebe. Ein anderer Irrtum bestand in der Illusion, daß alle Menschen von Natur aus gleich seien. Damals herrschte die kindliche Überzeugung, Gesetzgebung vermöchte die Vergangenheit restlos auszutilgen und den Charakter einer Gesellschaft grundlegend umzugestalten. „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" sind genau so Glaubenssache wie der Glaube der Apostel. Die Köpfe der Menschen wurden durch diese W o r t e wie durch eine himmlische Erscheinung hypnotisiert und Vernunft hatte an ihrer Verbreitung einen ebenso geringen Anteil wie bei der Ausbreitung des Christentums katholischer oder protestantischer Prägung. Dieser Glaube bedeutete alles andere nur nicht Gleichheit, Brüderlichkeit oder Freiheit, besonders nicht Freiheit, als die fanatischen Apostel der „Vernunft", die den Tatsachen der menschlichen Natur gegenüber blind und den Tatsachen der Wirtschaft unzugänglich waren, ihn in die T a t umzusetzen versuchten. Terror, das übliche Instrument bei der Propagierung von Religionen, kam niemals unbarmherziger zur Anwendung. Jeder, der diese Lehren anzweifelte, galt als Ketzer und verdiente eines Ketzers Schicksal. U n d wte bei den meisten religiösen Bewegungen trugen die Fanatiker über die milderen und vernünftigeren Geister den Sieg davon. Niemals ist der Name Vernunft schändlicher mißbraucht worden als von jenen, die sich einbildeten, dazu berufen zu sein, das Reich der Vernunft zu errichten. Neben manchen anderen guten Dingen, welche die Revolution uns bescherte, wurde sie zuerst durch Trennung von Kirche und Staat und dann durch das Konkordat zur W e g bereiterin religiöser Freiheit. D a s Konkordat blieb länger als ein Jahrhundert unter Monarchien und Republiken in Kraft, bis es im Dezember 1905 abgeschafft und eine Trennung von Kirdie und Staat von neuem durchgeführt wurde. In den deutschen Staaten nahm die Geschichte der religiösen Freiheit in vielfacher Hinsicht einen anderen Verlauf, aber sie
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ähnelt der Entwicklung in Frankreich insofern, als auch hier religiöse Duldsamkeit, wenn auch in begrenzter Form, durch einen Krieg herbeigeführt wurde. Der dreißigjährige Krieg, der Deutschland in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts spaltete, und bei dem — wie bei dem englischen Bürgerkriege — Religion und Politik mit im Spiele waren, wurde 1648 durch den Westfälischen Frieden beendet. Im Friedensvertrage wurden drei Religionen, die Katholische, die Lutheranische und die Reformierte') von dem Heiligen römischen Reiche gesetzlich anerkannt und auf gleichen Fuß gestellt; alle anderen Religionen blieben ausgeschlossen. Es stand aber jedem der deutschen Staaten, die das Reich bildeten, frei, nach eigenem Ermessen eine dieser Religionen zu tolerieren oder zu verbieten. Mit anderen Worten, jeder Fürst konnte seinen Untertanen vorschreiben, welcher der drei Religionen er sich anzuschließen habe, und die Betätigung der anderen Bekenntnisse in seinem Reiche zu untersagen. Aber es stand ihm auch frei, die beiden anderen Religionen oder eine von ihnen zuzulassen, sowie Anhängern anderer Sekten innerhalb seines Gebietes Wohnrecht und Ausübung ihrer Religion im Schutze ihrer Häuser zuzubilligen. Daher variierte das A u s m a ß der Toleranz von Staat zu Staat entsprechend der von dem betreffenden Herrscher befolgten Politik. Wie in den übrigen Ländern der Welt trugen auch in Deutschland und besonders in Preußen politische Erwägungen zu einer Stärkung der toleranten Strömung bei, und wie anderswo gewannen auch hier theoretische Vorkämpfer einen ständig wachsenden Einfluß auf die öffentliche Meinung. Die deutschen Verteidiger der Toleranz beriefen sich hauptsächlich auf rechtliche, statt wie in England und in Frankreich auf sittliche und intellektuelle Gründe. Sie betrachteten Toleranz als eine Trage des Rechtes und diskutierten diese Frage vom Standpunkte der rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Bereits wesentlich früher hatte sich ein origineller italienischer Denker, M a r s i l i u s v o n P a d u a (im dreizehnten Jahrhundert), diesen Standpunkt zu eigen gemacht und betont, daß die Kirche nicht die Macht besäße physischen Zwang anzuwenden, und wenn die weltlichen Behörden Ketzer bestraften, so erfolge die Bestrafung nicht wegen Verletzung göttlicher Satzungen, sondern wegen Übertretung staatlicher Gesetze, * ) Die reformierte Kirche umfaßt die Anhänger Calvins und Zwingiis. 6
B u r y ,
Gedankenfreiheit
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welche Ketzern das Wohnrecht innerhalb der staatlichen Grenzen versagten. A l s den Exponenten der Theorie, daß religiöse Freiheit sich logisch aus einer richtigen Konzeption des Gesetzes ableitet, kann man C h r i s t i a n T h o m a s i u s betrachten. In einer Serie von Streitschriften (1693—1697) trat Thomasius dafür ein, daß der Herrscher, der allein befugt sei, Zwang anzuwenden, nicht das Recht besäße, sich in geistliche Angelegenheiten einzumischen, und daß die Geistlichkeit ihren Machtbereich überschritte, wenn sie in weltlichen Fragen mitzusprechen versuche, oder wenn sie ihren Glauben durch andere Mittel als durch Aufklärung verteidige. Die weltliche Macht habe daher kein legales Recht, Ketzern Gewalt anzutun, es sei denn, daß Ketzerei an sich ein Verbrechen wäre. Aber Häresie ist kein Verbrechen, sondern ein Irrtum; denn Ketzerei hängt nicht vom Willen ab. Thomasius vertritt sogar die Anschauung, daß eine Uniformität des Glaubens nicht dem allgemeinen Wohle diene, und daß es gleichgültig sei, zu welchem Glauben sich ein Mensch bekenne, solange er sich dem Staate gegenüber loyal verhielte. Aber auch Thomasius Duldsamkeit hat Grenzen. Stark unter dem Einfluß der Schriften seines Zeitgenossen Locke stehend, schließt er die gleichen Klassen wie Locke von den Wohltaten der Toleranz aus. Abgesehen von dem von Rechtsgelehrten ausgehenden Einfluß trug auch die pietistische Bewegung — eine Reaktion des religiösen Enthusiasmus gegen die formale Theologie der lutheranischen Geistlichkeit — dazu bei, einen der Toleranz günstigen Geist zu schaffen. Dieser Geist wurde in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts durch die führenden Schriftsteller, in erster Linie durch L e s s i n g, wesentlich gefördert. A m meisten trug jedoch zur raschen Verwirklichung religiöser Freiheit in Deutschland bei, daß in der Person F r i e d r i c h d e s G r o ß e n ein Rationalist reinsten Wassers den preußischen Königsthron bestieg. Wenige Monde nach der Thronbesteigung (1740) schrieb Friedrich an den Rand einer staatlichen Urkunde, in der eine Frage religiöser Politik behandelt wurde: es müßte jedem gestattet werden, nach seiner Façon in d a s Himmelreich zu gelangen. Friedrich war überzeugt, daß Sittlichkeit nicht von dem Glaubensbekenntnis abhinge und daher mit allen Religionen vereinbar sei. Ein Mann könne ein guter Bürger sein, gleichgültig zu welcher Religion er sich bekenne, und das
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sei die einzige Forderung, die zu stellen, der Staat berechtigt wäre. Als logische Konsequenz dieser Überzeugung beschloß der König die Verkündung vollständiger religiöser Freiheit. Katholiken und Protestanten wurden die gleichen Rechte eingeräumt. Ja, unter Verletzung des Westfälischen Friedensvertrages billigte der König auch allen bis dahin verbotenen Sekten absolute Toleranz zu. Friedrich trug sich sogar mit dem Gedanken, mohamedanische Kolonisten in verschiedenen Gebieten seines Reiches anzusiedeln. Es verdient betont zu werden, d a ß zum ersten Male unter einem freigeistigem Herrscher, dem Freunde des großen .Gotteslästerers' Voltaire, in einem Staate des modernen Europas volle religiöse Freiheit Wirklichkeit wurde. Friedrichs Politik und Grundsätze sind in dem preußischen Territorial-Code von 1794 niedergelegt, der allen Staatsbürgern uneingeschränkte Gewissensfreiheit zusichert und die drei Hauptreligionen, die lutheranische, die reformierte und die katholische auf gleichen Fuß stellt und mit den gleichen Privilegien ausrüstet. Das System ist „jurisdictional". Drei Kirchen nehmen hier die Stellung ein, die in England allein der anglikanischen Kirche eingeräumt wurde. In scharfem Gegensatz zu diesem freiheitlichen Geiste stand England« unter G e o r g d e m D r i t t e n , Frankreich unter L u d w i g d e m F ü n f z e h n t e n und Italien unter dem Schatten der Päpste. Auch das übrige Deutschland begann sich allmählich in der von Preußen vorgezeichneten Richtung zu entwickeln, nachdem durch einen der letzten Staatsakte des Heiligen Römischen Reidies der Westfälische Friedensvertrag eine Abänderung erfahren hatte. Vor der Gründung des neuen Kaiserreiches im Jahre 1871 herrschte aber bereits in ganz Deutschland religiöse Freiheit. In Österreich erließ Kaiser J o s e p h d ^ r Z w e i t e bereits 1781 ein Toleranzedikt; für einen katholischen Staat in jener Zeit eine bemerkenswert großherzige Maßnahme. Josef selbst war überzeugter Katholik, aber er verschloß seine Augen nicht den freiheitlichen Gedanken seines Zeitalters. Er war ein Bewunderer König Friedrichs, und das Edikt ist von aufrichtig tolerantem Geiste durchweht, einem Geiste, den man in dem englischen Gesetze von 1689 schmerzlich vermißt. Es erstreckte sich lediglich auf die Lutheraner, die reformierten Sekten, sowie die Angehörigen der griechisch-katholischen Kirche, die mit Rom eine Union eingegangen waren, und gewährte Freiheiten nur in 6*
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sehr bescheidenen Grenzen. Erst 1867 wurde auch in England vorbehaltlose religiöse Freiheit verkündet. Das von J o s e p h erlasseneToleranzedikt galt auch für die österreichischen Staaten in Italien und trug viel dazu bei, den Boden dieses Landes für die Idee der religiösen Freiheit vorzubereiten. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß im Italien des achtzehnten Jahrhunderts als Vorkämpfer für Toleranz nicht ein Mann aus den Reihen der Rationalisten oder der Philosophen, sondern der katholische Geistliche T a m b u r i n i auftrat, der 1783 unter dem Namen seines Freundes T r a u t m a n s d o r f ein Werk mit dem Titel: „Über Geistliche und Bürgerliche Toleranz" veröffentlichte. Tamburini zieht einen scharfen Trennungsstrich zwischen der Sphäre der Kirche und des Staates. Verfolgungen und Inquisition werden verurteilt; Gewissenszwang wird als mit christlichem Geist unvereinbar erklärt und der Grundsatz aufgestellt, daß ein Souverän nur dort Zwangsmaßnahmen anwenden dürfe, wo Interessen öffentlicher Sicherheit auf dem Spiele stünden. In Übereinstimmung mit Locke hält der Autor einen solchen Zwang dem Atheismus gegenüber für rechtlich begründet. Die von N a p o l e o n in Italien neugeschaffenen Staaten übten Toleranz in den verschiedensten Abstufungen, aber echte Freiheit wurde zuerst 1848 von C a v o u r in Piemont eingeführt, und damit der W e g zur völligen Freiheit erschlossen, die Italien dann auch Anno 1870 als eine der ersten Früchte der Gründung des italienischen Königreichs beschert wurde. Die Einigung Italiens mit allen ihren Folgen ist das sichtbarste Zeichen und der dramatischste Akt im Siegeszuge der Ideen des modernen Staates über die traditionellen Grundsätze der christlichen Kirche. Rom, das diese Prinzipien am treuesten hütete, setzte den liberalen Gedankengängen, die Europa im neunzehnten Jahrhundert überfluteten, den standhaftesten, ja man könnte sagen, einen heroischen Widerstand entgegen. Die führenden römischen Politiker erkannten klar die Gefahr, welche liberales Denken für eine Institution bedeutete, die, in ferner Vergangenheit begründet, den Anspruch erhob unwandelbar und stets modern zu sein. G r e g o r d e r S e c h z e h n t e erhob 1832 in einer Encyklika, die gegen eine Anzahl französischer Katholiken ( L a m e n n a i s und seine Freunde) gerichtet war, welche den vielversprechenden Gedanken vertraten, die Kirche dem liberalen Geiste der Zeit entsprechend umzuwandeln, feierlichen Protest und verteidigte hartnäckig die kirch-
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liehe Autorität gegen die Freiheit, das mittelalterliche gegen das moderne Ideal. Der Papst rügte „die lächerliche und irrige Maxime, oder richtiger den Wahnsinn, daß Gewissensfreiheit jedem einzelnen zugebilligt und garantiert werden sollte. D e r Pfad zu diesem verhängnisvollen Irrtum ist durch jene volle und uneingeschränkte Freiheit des Denkens vorbereitet, die zum Unheil von Kirche und, Staat im Auslande sich ausgebreitet hat, und der gewisse Persönlichkeiten mit ungebührlicher Frechheit den Vorrang vor der Religion einzuräumen wagen. Dieser Q u e l l e entstammt die Verderbtheit der Jugend, die Verachtung der Religion sowie der ehrwürdigsten Gesetze und ein allgemeiner geistiger Umschwung in der Welt — mit anderen Worten, die furchtbarste Geißel der menschlichen Gesellschaft; die geschichtliche Erfahrung hat erwiesen, daß die Staaten, die durch ihren Reichtum, ihre Macht und ihren Ruhm einst glänzten, gerade durch dieses Übel — unbillige Meinungsfreiheit, Freiheit der Rede und Vorliebe für alles N e u e — zu Grunde gegangen sind. Im engen Zusammenhange steht damit die Freiheit der Veröffentlichung von Schriften aller Art. D a s ist eine tötliche, eine fluchwürdige Freiheit, vor der wir nicht genug Schauder empfinden können, o'bwohl manche Menschen die Keckheit besitzen, sie laut und enthusiastisch zu preisen." Eine Generation später setzte P i u s d e r N e u n t e durch ein ähnliches Manifest — seinen Syllabus moderner Irrtümer (1864) — die Welt in Staunen. Jedoch trotz des fundamentalen Gegensatzes zwischen den Grundsätzen der Kirche und den Triebkräften moderner Zivilisation lebte das Papsttum mächtig und geachtet in einer Welt weiter, in der die Ideen, die das Papsttum verdammte, zu Gemeinplätzen des Lebens geworden waren., Der Fortschritt der westlichen Nationen von dem System der Uniformität.das im fünfzehnten Jahrhundertvorherrschte,zu dem System der Freiheit, das im neunzehnten Jahrhundert zur Regel wurde, vollzog sich langsam und qualvoll, unlogisch und schwankend, im allgemeinen durch politische Notwendigkeiten diktiert, selten von wohlerwogener Uberzeugung inspiriert. W i r haben gesehen, wie religiöse Freiheit, so weit das Gesetz in Frage kam, unter zwei verschiedenen Systemen: „Jurisdiktion" und „Separation" verwirklicht wurde. Aber gesetzliche Toleranz kann mit starker Unduldsamkeit verbunden sein, und Freiheit vor dem Gesetze ist mit ernsthaften Unzuträglichkeiten verträglich, von denen dasrGesetz keine Notiz zu nehmen vermag.
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S o kann zum Beispiel die Äußerung unorthodoxer Ansichten einen Mann von der Erlangung einer bürgerlichen Stellung ausschließen oder seine Beförderung verhindern. M a n hat die Frage aufgeworfen, welches der beiden Systeme der Schaffung einer duldsamen sozialen Atmosphäre günstiger sei. R u f f i n i (von dessen ausgezeichnetem W e r k e über „Religiöse Freiheit" ich in diesem Kapitel weitgehend Gebrauch gemacht habe) entscheidet sich zu Gunsten der Jurisdiktion. Er weist daraufhin, daß S o c i n u s , dieser echte Freund der Gedankenfreiheit, diesem System den Vorzug gab, während die Anabaptisten, deren geistige Einstellung intolerant war, für Separation eintraten. Noch wichtiger ist die Festsellung, daß in Deutschland, England und Italien, also in Ländern, in denen die mächtigste Kirche oder Kirchen der Kontrolle des Staates unterstanden, größere Freiheit, größere Duldsamkeit der persönlichen Überzeugung herrschten, als vielen amerikanischen Staaten, in denen die Trennung von Kirche und Staat durchgeführt worden war. Ein Jahrhundert früher benahmen sidi die Amerikaner T h o m a s P a i n e gegenüber erstaunlich undankbar, obwohl Paine ihnen während des Unabhängigkeitskrieges außerordentlich große Dienste geleistet hatte, lediglich weil er ein ausgesprochen unorthodoxes Buch veröffentlichte. Ja, es läßt sich nicht leugnen, daß selbst heute freies Denken für einen Amerikaner, selbst an den meisten Universitäten, ein ernstes Hindernis und einen Hemmschuh bedeutet. Das beweißt, daß Separation allein kein unfehlbares Heilmittel zur Förderung von Duldsamkeit ist. Aber ich sehe keinen Grund anzunehmen, daß die öffentliche Meinung in Amerika sich anders entwickelt haben würde, wenn die föderalistische Republik oder die einzelnen Staaten sich für Jurisdiktion entschieden hätten. Vorausgesetzt, es herrschte unter einem dieser Systeme wirklich legale Freiheit, so möchte ich doch behaupten, daß die Toleranz der öffentlichen Meinung von sozialen Bedingungen und besonders von dem Grade der Kultur der gebildeten Klassen abhängig sei. Nach dieser Skizze könnte es scheinen, als sei Toleranz das Resultat neuer politischer Verhältnisse und Notwendigkeiten, hervorgerufen von der durch die Reformation bewirkten Spaltung der Kirche. Gemeint aber ist, daß jene Staaten, welche einer genügend einflußreichen Gruppe der regierenden Klasse Meinungsfreiheit zubilligten, reif für den W a n d e l waren, und daß diese neue geistige Haltung in weitgehendem M a ß e dem
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Skeptizismus und dem Rationalismus zugeschrieben werden muß, die sich dank der Renaissance ausbreiteten und heimlich und unbewußt auch das Denken zahlreicher Menschen beeinflußten, die aufrichtig dem starren orthodoxen Glauben anhingen; so wirksam erweist sich die Kraft der Suggestion. In den beiden anschließenden Kapiteln werden wir den Vormarsch der Vernunft auf Kosten des Glaubens im Verlauf des siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts verfolgen.
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Sechstes
Kapitel
DAS ANWACHSEN DES
RATIONALISMUS
Siebzehntes und achtzehntes Jahrhundert Während der letzten dreihundert Jahre hat Vernunft langsam aber stetig die christliche Mythologie zurückgedrängt und die prätentiösen Forderungen übernatürlicher Offenbarungen bloßgestellt. Der rationalistische Fortschritt läßt sich zwanglos irt zwei Perioden gliedern: 1. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert wurden die Denker, welche die christliche Theologie und das Buch, auf das sich diese Lehre stützte, ablehnten, hauptsächlich von den Ungereimtheiten, Widersprüchen und Lächerlichkeiten, auf die sie bei der Lektüre stießen, stutzig gemacht und zu ihrer ablehnenden Haltung veranlaßt. Auch in moralischer Hinsicht ersdiienen ihnen manche Stellen der Bibel bedenklich.. Im Laufe der Zeit waren verschiedene wissenschaftliche Tatsachen bekannt geworden, die sich mit den Aussagen der Offenbarung nicht in Einklang bringen ließen. Aber diese auf wissenschaftlicher Erkenntnis beruhenden Gegenargumente spielten doch nur eine mehr nebensächliche Rolle. 2. Erst im neunzehnten Jahrhundert häuften sich auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft Entdeckungen und brachen in die Mauer dieses, in einem naiven und unwissenden Zeitalter errichtetem kirchlichen Gebäudes eine Bresche. Historische Kritik untergrub methodisch die Autorität jener geheiligten Dokumente, die bis dahin nur der zwar scharfen, aber unmethodischen Kritik des sogenannten gesunden Menschenverstandes ausgesetzt gewesen waren. Eine objektive Liebe für Tatsachen, ohne Rücksicht auf den Einfluß, den diese Tatsachen vielleicht auf der Menschen Hoffnungen, Befürchtungen, ja auf deren Schicksal gewinnen könnten, war zu allen Zeiten eine seltene Eigenschaft, und seit den alten Tagen der Griechen und Römer war diese Eigenschaft, nämlidh wissenschaftlicher Geist, fast nirgends mehr zu finden. Erst im siebzehnten Jahrhundert — das dürfen wir behaupten, 88
ohne einigen vereinzelten Vorläufern damit ein Unrecht zuzufügen — setzte das moderne Studium der Naturwissenschaften ein. Aus dieser Epoche könnten wir eine ganze Anzahl berühmter Denker namhaft machen, die sich ausschließlich von objektiver Wahrheitsliebe leiten ließen. Bereits damals gelangten einige der scharfsinnigsten Köpfe zu der Erkenntnis, daß das christliche Weltensystem vernunftwidrig wäre. Ihrem Temperamente entsprechend lehnten die einen das christliche Weltbild strikte ab, während andere, z. B. der große französische Philosoph P a s c a l , auf einen der Erkenntnis durch die Vern u n f t entzogenen Glauben zurückgriffen. B a c o n, der sich zum orthodoxen Glauben bekannte, war im innersten Herzen offenbar Deist. Aber der gesamte Geist seiner Schriften zielt darauf ab, Autorität aus dem Bereiche wissenschaftlicher Forschung, zu deren Förderung er so viel beigetragen hat, auszuschließen. Desc a r t e s — nicht nur als Begründer moderner Metaphysik berühmt, sondern im gleichen Maße durch seine eigenen grundlegenden wissenschaftlichen Beiträge — bemühte sich, seinem ängstlichen Naturell entsprechend, die geistlichen Autoritäten zu beschwichtigen; aber seine philosophische Methode verlieh dem rationalistischen Denken einen mächtigen Auftrieb. Es war überhaupt die allgemeine Tendenz überlegener Geister, Vernunft auf Kosten der Autorität zu stärken. In England war dieses Prinzip von L o c k e so fest verankert worden, d a ß während des ganzen theologischen Streites im Verlaufe des achtzehnten Jahrhunderts beide Parteien sich auf Vernunftgründe zu berufen versuchten. Es gab keinen Geistlichen von Ruf, der dem Glauben eine der Vernunft überlegene Beweiskraft zuzumessen wagte. Ein schlagendes Beispiel f ü r die allmählich wachsende Wertschätzung der Vernunft bietet der Wandel, der sich fast unmerklich im Hinblick auf das Thema der Hexenkunst innerhalb der breiten Masse vollzog. Die berüchtigten Bestrebungen J a m e s d e s E r s t e n , den biblischen Befehl: „Du sollst nicht dulden, daß eine Hexe lebt", in die Tat umzusetzen, wurden von dem Eifer der Puritaner unter dem Commonwealth die lasterhaften alten Weiber, die mit dem Satan in Verbindung stünden, auszurotten, noch in den Schatten gestellt. Nach der Restauration flaute der Glaube an schwarze Magie unter den gebildeten Schichten immer stärker ab, und es fanden nur wenige Hinrichtungen statt, obwohl einige angesehene Schriftsteller auch damals noch diesen Aberglauben verfochten. Der
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letzte Hexenprozeß wurde siebzehnhundertzwölf auf Grund einer Anklage geführt, die mehrere Geistliche in Hertfordshire gegen eine gewisse Jane W e n h a n erhoben. Die Geschworenen erklärten die Frau auch für schuldig, aber dem Richter, der zu ihren Gunsten eintrat, gelang es, das Urteil umzustoßen. 1735 wurden die Gesetze gegen Hexerei aufgehoben. Aus ehrlicher Überzeugung erklärte J o h n W e s l e y : A n Hexenkunst zweifeln, sei gleichbedeutend mit einem Zweifel an der Bibel. Z u r gleichen Zeit schwanden in Frankreich und ebenfalls in Holland der Glaube und damit auch das Interesse an dieser besonderen Form der Betätigung des Satans. In Schottland, wo sich die Geistlichkeit großer Macht erfreute, wurde noch im. Jahre 1722 eine Frau verbrannt. Es kann unmöglich bloßer Zufall sein, daß eine allgemeine Abnahme dieses Aberglaubens in dem gleichen Zeitalter festzustellen ist, in dem der Aufstieg moderner Wissenschaft und moderner Philosophie einsetzte. H o b b e s , der vielleicht größte Philosoph Englands im siebzehnten Jahrhundert, war Freidenker und Materialist. Er stand stark unter dem Einflüsse seines Freundes, des französischen Philosophen G a s s e n d i , der den Materialismus in epikuräischem Gewände neu belebt hatte. Trotzdem betätigte sich Hobbes nidhit als Vorkämpfer für Gewissensfreiheit, sondern trat für Zwang in unverhülltester Form ein. Seiner im „ L e v i a t h a n " entwickelten politischen Theorie zufolge besitzt der Souverän im Bereich der Doktrin — genau wie in allen anderen Dingen — autokratische Macht, und es ist Pflicht der Untertanen, sich der Religion, die der Herrscher verkörpert,, anzuschließen. Hobbes verteidigt damit religiöse Verfolgung, schreibt aber der Kirche keine unabhängigen Machtbefugnisse zu. Die Grundsätze, auf denken Hobbes seine Theorien aufbaute, waren jedoch rationalistischer Natur. Er zog einen Trennungsstrich zwischen Moral und Religion und identifizierte „die wahre Moralphilosophie" mit der „wahren Doktrin der Gesetze der N a t u r " . W i e er wirklich über Religion dachte, kann man seiner Bemerkung entnehmen, daß die phantastische (auf U n wissenheit beruhende) Furcht vor dein Unsichtbaren das natürliche Saatgut jenes Empfindens ist, das der Mensch, soweit seine Person in Frage kommt, als Religion bezeichnet, bei jenen jedoch, welche die unsichtbare Macht in anderer W e i s e fürchten oder anbeten, als Aberglauben brandmarkt. U n t e r der Regierung K a r l s d e s Z w e i t e n wurde Hobbes
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zum Schweigen verdammt und seine Bücher dem Scheiterhaufen überliefert. S p i n o z a , der jüdische Philosoph Hollands, schuldet D e s c a r t e s und (soweit seine politischen Spekulationen in Frage kommen) auchHobbes sehr viel, aber seine Philosophie bedeutete einen wesentlich einschneidenderen und offenkundigeren Bruch mit der orthodoxen Anschauung, als ihn seine beiden Lehrmeister zu unternehmen gewagt hätten. Er schuf den Begriff letzter Realität, die er Gott nannte, und verstand darunter ein absolut vollkommenes, unpersönliches Wesen, eine Substanz, deren N a t u r sich uns in zwei Attributen — Denken und Ausdehnung — offenbart. Wenn Spinoza von der Liebe zu Gott spricht, auf der nach seiner Ansicht die Glückseligkeit beruht, so versteht er darunter Erkenntnis und Beobachtung der Ordnung der N a t u r einschließlich der menschlichen Natur, die festen, unveränderlichen Gesetzen unterworfen ist. Er verwirft den freien Willen und, wie er sich ausdrückt, den „Aberglauben" letzter Ursachen in der Natur. Falls wir seiner Philosophie einen Namen geben wollten, so könnten wir sie als eine Art Pantheismus bezeichnen. Vielfach wurde Spinozas Philosophie als Atheismus angeprangert. Sofern Atheismus, wie das der allgemein gebräuchlichen A u f f a s s u n g entspricht, die Leugnung eines persönlichen Gottes bedeutet, so war Spinoza ein Atheist. Man darf aber nicht vergessen, daß im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Bezeichnung Atheist in willkürlichster Weise auf Freidenker angewandt wurde. U n d wenn wir, außer bei wenigen einsichtigen Schriftstellern, auf den Ausdruck Atheist stoßen, können wir im allgemeinen annehmen, daß die so gekennzeichneten Persönlichkeiten in Wirklichkeit Deisten waren, d. h. sie glaubten an einen persönlichen Gott, aber nicht an Offenbarung. Spinozas kühne Philosophie wich weitgehend von der allgemeinen Strömung der Theorien jener Zeit ab und vermochte daher erst in einer wesentlich späteren Periode ihren tiefgreifenden Einfluß auf das Denken auszuüben. Der Philosoph, dessen Sdiriften am stärksten die Menschen seiner Zeit ansprachen und die größte und glücklichste Wirkung erzielten, war J o h n L o c k e , der sich mehr oder minder unverhüllt zur Lehre der anglikanischen Kirche bekannte. Der wichtigste Beitrag, den Locke der Philosophie leistete, bestand vor allem in seiner wirkungsvollen Verteidigung der Vernunft gegen die 91
Anmaßung der Autorität. Das Ziel seines: „ E s s a y s ü b e r d e n m e n s c h l i c h e n V e r s t a n d " (1690) ist der Nachweis, daß alles Wissen der Erfahrung entstammt. Locke ordnete den Glauben vollständig der Vernunft unter. Obwohl er die christliche Offenbarung gelten ließ, betonte er, daß, falls Offenbarung dem höheren Tribunal der Vernunft zuwiderliefe, sie abgelehnt werden müsse, und daß Offenbarung uns kein so gesichertes Wissen zu geben vermöge wie jenes Wissen, das uns die Vernunft erschließt. „Wer die Vernunft beiseite schiebt, um f ü r Offenbarung Platz zu schaffen, erstickt das Licht beider; sein Beginnen entspricht etwa dem Verhalten eines Menschen, der einen anderen überreden möchte, sich die Augen auszustechen, um das ferne Licht eines unsichtbaren Sternes schärfer durch ein Fernglas erkennen zu können." Ein von L o c k e verfaßtes Buch zum Nachweis, daß die christliche Offenbarung nicht im Gegensatz zur Vernunft stehe, erschien unter dem Titel: ,,D i e V e r n ü n f t i g k e i t d e s C h r i s t e n t u m s " und schlägt einen Ton an, auf den während der folgenden hundert Jahre alle religiösen Kontroversen in England abgestimmt waren. Orthodoxe sowohl wie deren Gegner zollten Lockes These, daß Vern u n f t der einzige Prüfstein für die Richtigkeit offenbarter Religion sei, lauten Beifall. Unter dem unmittelbaren Einfluß Lockes schrieb der zum römischen Katholizismus übergetretene Ire T o i a n d sein sensationelles W e r k : „ C h r i s t e n t u m n i c h t m y s t e r i ö s " (1696). Von der Voraussetzung der Wahrheit des Christentums ausgehend, erklärt der Verfasser der christliche Glaube könne keine Mysterien enthalten, weil Mysterien, d.h. vernunftwidrige Dogmen, von der Vernunft abgelehnt werden müßten. Falls ein vernunftbegabter Gott den Menschen Offenbarungen geschenkt hätte, so könnte er damit nur den Zweck verfolgt haben, uns zu erleuchten, nicht aber Verwirrung zu stiften. Die Behauptung von der Wahrheit des Christentums diente Toland, wie jeder intelligente Leser sofort erkennen muß, lediglich als Vorwand. Die Wichtigkeit dieses Werkes, das rasch weite Verbreitung erlangte, beruhte auf den logischen Folgerungen, die er aus der Locke'schen Philosophie zog. Als Lady M a r y W o r t l e y M o n t a g u in Belgrad die Bekanntschaft eines türkischen Effendi machte, erkundigte sich dieser bei der Dame sofort nach Mister Toland. Für dieses Stadium des Streites zwischen Vernunft und Autorität ist es charakteristisch, daß (mit Ausnahme der führen92
den französischen Denker des achtzehnten Jahrhunderts) die rationalistischen Widersacher der Theologie ganz allgemein die Wahrheit der von ihnen angegriffenen Ideen anzuerkennen vorgaben. Heuchlerisch taten sie so, als beeinträchtigten ihre Spekulationen in keiner Weise die Religion; sorgfältig zogen sie eine Grenzlinie zwischen dem Bereiche der Vernunft und dem Bereiche des Glaubens; sie hüteten sich, die Offenbarungen anzuzweifeln, bewiesen aber deren Überflüssigkeit; sie zollten der Orthodoxie die gebührende Ehrerbietung, vertraten aber gleichzeitig Anschauungen, die mit den orthodoxen Lehren unvereinbar waren. Die Irrtümer, die sie in der Sphäre der Vernunft bloßstellten, wurden in der Sphäre der Theologie ironisch als Wahrheiten zugelassen. D a s mittelalterliche Prinzip doppelter Wahrheit sowie andere Kniffe wurden aus Notwehr gegen die Tyrannei der Orthodoxie ins Treffen geführt — obgleich sie mit diesen Kunstgriffen nicht immer den gewünschten Erfolg erzielten. Wenn man die rationalistische Literatur studiert, muß man daher zwischen den Zeilen zu lesen verstehen. D a f ü r bietet B a y 1 e ein interessantes Beispiel. Lockes Philosophie hat der Sache des Rationalismus gewaltige Dienste geleistet, indem sie der Autorität zwar ihre Stellung beließ, aber unser gesamtes Wissen aus Erfahrung herleitete, und sein Zeitgenosse Bayle wirkte auf dem Gebiete der Geschichtsforschung im nämlichen Sinne. Nach seiner Vertreibung aus Frankreich (vergl. S. 74) lebte er in Amsterdam, wo er auch sein „ P h i l o s o p h i s c h e s W ö r t e r b u c h " herausgab. Bayle war ein überzeugter Freidenker, ließ aber nie die Maske der Orthodoxie fallen, was seinem Werke ganz besondere Pikanterie verleiht. Ein unverhohlenes Vergnügen bereitete es ihm, sämtliche Einwendungen, die von ketzerischer Seite gegen die wichtigsten christlichen Dogmen erhoben wurden, zu sammeln. Ohne G n a d e enthüllte er die Verbrechen und Brutalitäten Davids und zeigte, daß dieser Günstling des Allmächtigen ein Mensch gewesen sein müsse, dem niemand die H a n d gereicht hätte. Diese unerbauliche Aufrichtigkeit erregte ein wildes Geschrei. Bei der Abweisung dieser Angriffe nahm Bayle die gleiche Haltung wie M o n t a i g n e und P a s c a l ein und stellte den Glauben in Gegensatz zur Vernunft. Die theologische T u g e n d des Glaubens, erklärte er, bestehe darin, daß man die offenbarten Wahrheiten einzig und allein auf G r u n d der Autorität Gottes anerkenne. W e n n man an 93
die Unsterblichkeit der Seele aus philosophischen Gründen glaubt, ist man zwar orthodox, aber man hat keinen Anteil am Glauben. D a s Verdienst des Glaubens nimmt in dem Verhältnis zu, in welchem die offenbarten Wahrheiten die Kräfte unseres Verstandes übersteigen; je unbegreiflicher die Wahrheit, je widerspruchsvoller sie für die Vernunft ist, desto größer ist das Opfer, das wir durch ihre Annahme bringen, desto tiefer unsere Demütigung vor Gott. Daher trägt eine unbarmherzige Aufzählung aller Einwände, welche Vernunft gegen fundamentale Glaubenssätze vorzubringen hat, nur zur Erhöhung der Verdienste des Glaubens bei. D a s „ D i k t i o n ä r" wurde auch wegen der Gerechtigkeit kritisiert, die der Verfasser den sittlichen Verdiensten jener Persönlichkeiten angedeihen ließ, welche die Existenz Gottes leugneten. Bayle erwiderte, daß, falls es ihm gelungen wäre, einen atheistischen Denker aufzuspüren, der ein unmoralisches Leben geführt hätte, er begeistert gewesen wäre, dessen Fehler anzuprangern, aber er hätte keinen entdecken können. W a s die Verbrecher anbetrifft, die einem in der Geschichte begegnen, und deren fluchwürdige Taten Schauder erregen, so beweisen grade deren Sünden und Blasphemien, daß sie an eine Gottheit glaubten. Dies sei eine natürliche Folgerung aus der theologischen Lehre, daß der Satan, der des Atheismus unfähig sei, der Anstifter aller menschlichen Sünden ist. D e s Menschen Lasterhaftigkeit ist zwangsläufig ein Spiegelbild der Bosheit des Teufels und muß daher mit dem Glauben an Gottes Existenz verknüpft sein, da der Satan kein Atheist ist. Ist es nicht sogar ein Beweis für die unendliche Weisheit Gottes, daß die ärgsten Verbrecher keine Atheisten sind, ja, daß die Mehrzahl der Atheisten, deren N a m e n uns überliefert worden sind, ehrenhafte Männer waren? Gerade durch diese Einriditung setzt die Vorsehung der menschlichen Verderbtheit Schranken; wäre nämlich Atheismus und sittliche Verkommenheit in den gleichen Persönlichkeiten vereint, so wären ihe irdischen Gesellschaften einer verhängnisvollen Sintflut von Sünden ausgeliefert. Es gab noch zahlreiche andere Argumente gleicher Sinnesrichtung, die unter dem durchsichtigen Vorwand, dem Glauben zu dienen, nachzuweisen versuchten, daß die christlichen Dogmen im wesentlichen vernunftwidrig wären. Bayles durch Scharfsinn und Gelehrsamkeit ausgezeichnetes Werk erlangte sowohl in England als auch in Frankreidi einen 94
bedeutenden Einfluß. In beiden Ländern lieferte es den Gegnern des Christentums Waffen. Zuerst wurde der Angriff mit größtem Mut und Geschick von englischen D eisten durchgeführt, die, obwohl ihre Schriften heute kaum noch gelesen werden, durch ihre Polemik gegen die Autorität der offenbarten Religion bemerkenswerte Erfolge erzielten. Der Streit zwischen den Deisten und ihren orthodoxen Opponenten drehte sich um die Frage, ob die Gottheit einer natürlichen Religion — der Gott, dessen Existenz, wie man glaubte, durch Vernunftgründe bewiesen werden könnte — sich mit dem Stifter der christlichen Offenbarung identifizieren ließe. Die Deisten hielten das für unmöglich. Die Natur der angeblichen Offenbarung erschien ihnen mit dem Charakter jenes Gottes, auf den die Vernunft hindeutete, unvereinbar. Die Verteidiger der Offenbarung, wenigstens die berufensten Vertreter, stimmten mit den Deisten darin überein, daß sie der Vernunft den Vorrang einräumten, aber ihr Vertrauen auf die Vernunft bewirkte, daß einige von ihnen der Ketzerei anheimfielen. C 1 a r k e z. B., einer der fähigsten Köpfe, stand dem Dogma von der Dreieinigkeit äußerst skeptisch gegenüber. Ebenso verdient hervorgehoben zu werden, daß bei beiden Parteien das Interesse für Moral die stärkste Triebfeder bildete. Die Orthodoxen behaupteten, die offenbarte Lehre künftiger Belohnungen und Strafen sei aus moralischen Gründen notwendig; die Deisten erklärten, Moral hinge einzig und allein von Vernunft ab, und die Offenbarungen enthielten vieles, was dem sittlichen Ideal entgegenstünde. Während des ganzen achtzehnten Jahrhunderts war Moral das Leitmotiv der anglikanischen Geistlichkeit, und da das religiöse Gefühl in der Kirche keine Befriedigung fand, suchten viele Geistliche in dem Methodismus W e s 1 e y s und W h i t e f i e l d s ihr Heil. S p i n o z a hatte als Grundsatz aufgestellt, die Heilige Schrift müsse gleich jedem anderen Buche ausgelegt werden (1670), und auch die Deisten erkannten dieses Prinzip als grundlegend an. Um Verfolgungen zu entgehen, umgaben sie fast allgemein ihre Schlußfolgerungen mit einem schützenden Schleier. Bis zu dieser Zeit hatte das 1662 erlassene Pressegesetz mit bestem Erfolge die Veröffentlichung heterodoxer Werke verhindert, daher stammt unser Wissen über die Ausbreitung des Rationalismus aus orthodoxen Schriften, in denen ungläubige Anschauungen angeprangert wurden. Als 1695 das Pressegesetz aufgehoben wurde, begann sofort deistische 95
Literatur zu erscheinen. Aber es bestand für die Verfasser immer noch die Gefahr, auf Grund der Gesetze gegen Gotteslästerung verfolgt zu werden. Zur Bestrafung aller, die das Christentum angriffen, gab es drei gesetzliche W a f f e n : 1. Die geistlichen Gerichtshöfe besaßen auch damals noch die Madit, wegen Äußerung atheistischer, blasphemischer, ketzerischer und anderer verwerflicher Anschauungen eine Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten zu verhängen. 2. Das Gemeine Recht, wenigstens wie es 1676 Lord Oberrichter H a i e auslegte, als ein gewisser T a y l o r beschuldigt wurde, erklärt zu haben, die Religion wäre ein Betrug und eine Lästerung der Person Christi. Der Angeklagte wurde von dem Richter zu einer Geldbuße und dem Schandpfahl verurteilt, nachdem zunächst der Gerichtshof von Kings Bench für die Aburteilung dieses Falles als zuständig erklärt worden war, da blasphemische Äußerungen solcher Art eine Beleidigung der Gesetze und des Staates wären, und daß Angriffe gegen das Christentum gleichzeitig Angriffe gegen das Gesetz bedeuteten, da das Christentum ein „Teil der Gesetze Englands" wäre. 3. D a s Statut vori 1698 bestimmte: ein in der christlichen Religion Auf erzogener, der durch Schrift, Druck, Lehre oder Rede leugnet, daß eine der Personen der Heiligen Dreieinigkeit Gott sei, oder behauptet und verficht, es gäbe mehr Götter als einen, oder der die W a h r h e i t der christlichen Religion anzweifelt, oder die göttliche Autorität der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments ablehnt und dieser Vergehen schuldig befunden wird, soll wegen der ersten Beleidigung für unfähig erklärt werden, irgendein öffentliches A m t oder eine öffentliche Stellung zu bekleiden und seine bürgerlichen Rechte einbüßen und für die Zeit von drei Jahren eingekerkert werden. Dieses Statut bezeichnet als seinen Beweggrund ausdrücklich die Tatsache, daß in letzter Zeit „zahlreiche Personen öffentlich blasphemische und gottlose, im Gegensatz zu den Doktrinen und Grundsätzen der christlichen Religion stehende Anschauungen geäußert und publiziert haben." W i e sich nachweisen läßt, fielen die meisten im Verlauf der letzten zweihundert Jahre erlassenen Urteilssprüche wegen Blasphemie unter den zweiten Paragraphen. Das Statut von 1698 wirkte einschüchternd; es ist daher unschwer zu begreifen, daß heterodoxe Schriftsteller ihre Ansichten unter zweideutigen Redewendungen zu verbergen versuchten. Eines dieser doppelsinnigen Hilfsmittel bestand in einer allegorischen Aus-
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legung der Heiligen Schrift. Die Verfasser zeigten, daß eine wörtliche Interpretation zu Lächerlichkeiten und unvereinbarem Widerspruch mit der Weisheit und Gerechtigkeit Gottes führten und zogen daraus die Folgerung, daß an Stelle der wörtlichen Auslegung eine bildliche treten müßte. Stillschweigend setzten sie dabei voraus, der Leser würde ihre vorgeschützte Lösung dieser Schwierigkeit verwerfen und selbst eine der Offenbarung abträgliche Schlußfolgerung ziehen. U n t e r den zugunsten der Wahrheit der Offenbarung benutzten Argumenten spielten die Verwirklichungen von Prophezeiungen und die W u n d e r des Neuen Testaments eine hervorragende Rolle. A n t h o n y Co l l i n s , ein Landedelmann und Schüler Lockes,veröffentlichte 1773 seine „ A b h a n dlung über G r u n d l a g e n und S i n n der christl i c h e n R e l i g i o n", in der er drastisch auf die Schwäche des Beweises einer Erfüllung von Prophezeiungen hinwies, die auf erkünstelten und unnatürlichen symbolischen Auslegungen beruhten. Zwanzig Jahre früher hatte er eine „ A b h a n d l u n g ü b e r F r e i d e n k e r t u m " verfaßt (die deutlich den Einfluß Bayles erkennen läßt), in der er für freie Diskussion und für eine Unterordnung aller religiöser Fragen unter die Vernunft eintritt. Er beklagt die allgemein vorherrschende U n duldsamkeit; aber die gleichen Tatsachen, welche die Unduldsamkeit erkennen lassen, sind auch ein Beweis für die Ausbreitung des Unglaubens. C o 11 i n s kam mit verhältnismäßig geringer Strafe davon, während T h o m a s W o o l s t o n , Professor am Sidney Sussex College in Cambridge, der sechs aggressive „ A b h a n d l u n g e n ü b e r d i e W u n d e r u n s e r e s E r l ö s e r s " (1727 bis 1730) verfaßte, die Strafe für seine Kühnheit bezahlen mußte. Er wurde seines Amtes enthoben, als Verfasser von Schmähschriften gebrandmarkt und zu einer Geldbuße von hundert Pfund Sterling sowie zu einem Jahr Kerker verurteilt. Außerstande diese Summe aufzutreiben, starb er im Gefängnis. W o o l stone behauptete nicht etwa, daß W u n d e r unglaubwürdig oder gar unmöglich wären, er beschränkte sich vielmehr darauf, die wichtigsten, in den Evangelien berichteten Wundertaten nachzuprüfen und mit großem Geschick und scharfem Verstände nachzuweisen, daß solche W u n d e r lächerlich oder des Wundertäters unwürdig seien. In ähnlicher W e i s e wie H u x 1 e y es ein Jahrhundert später in einem Streit mit G l a d s t o n e tat, wies Collins darauf hin, daß das wunderbare Hineintreiben von Teufeln in 7
B u r y .
Gedankenfreiheit
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eine Schweineherde eine ungesetzliche Schädigung des Eigentums eines anderen wäre. Z u der Geschichte des Feigenbaums, den Gott verdorren läßt, bemerkte er: „ W a s würde wohl geschehen, wenn ein Kenter Freisasse zu Ostern (die angenommene Zeit, zu der Jesus sich auf die Suche nach Feigen begab) in seinen Obstgarten ginge, um Äpfel zu pflücken und aus Enttäuschung seine Obstbäume fällte? W a s würden seine Nachbarn von ihm denken? Sie würden ihn zur Zielscheibe ihres Spottes machen; und wenn eine unserer Zeitungen diese Anekdote aufgriffe, würde der Mann zum Gespött der Menschen werden. Sein Kommentar über das Wunder des Teiches von Bethesta, dessen Wasser ein Engel zu trüben pflegte, und wo der Mann, der als erster in diesem Teiche badete, von seinen Gebrechen geheilt wurde, lautete: „Fürwahr, eine seltsame und ergötzliche Methode, göttliche G n a d e auszuüben. Man könnte annehmen, daß die Engel Gottes dieses eher zu ihrer eigenen Zerstreuung, als um der Menschheit Gutes zu erweisen, getan hätten. Es wäre genau so, als wenn jemand einen Knochen in einen Hundezwinger würfe, nur um des Vergnügens willen, zuschauen zu können, wie sich die Köter um ihn balgten, oder wenn ein anderer ein Geldstück mitten in eine Schar Gassenjungen schleuderte, um sich an der Prügelei der Buben zu belustigen. Auch bei den Engeln handelt es sich offenbar ebenfalls nur um einen bloßen Zeitvertreib". Bei Besprechung der Heilung eines Weibes, das an Blutfluß litt, fragt Woolstone: „ W a s würden wohl die Protestanten dazu sagen, wenn wir ihnen erzählten, der Papst habe vor unseren Augen auf diese Weise eine Blutung gestillt? Nichts anderes, als daß ein törichtes,gläubiges und abergläubisches Frauenzimmer sich selbst suggeriert habe, von einem leichten Unwohlsein kuriert worden zu sein, der verschlagene, nach dem Beifall der Menge lüsterne Papst aber und seine Gefolgschaft hätten diese vorgetäuschte Heilung zu einem Wunder aufgebauscht. Die Nutzanwendung aus einer solchen vom Papst erdichteten Wundermär zu ziehen ist leicht; und wenn ungläubige Juden oder Mohammedaner, die von Jesus keine höhere Meinung haben als wir vom Papste, die gleiche Schlußfolgerung ziehen, so wäre nichts dagegen einzuwenden. W o o l s t o n e äußerte keinen Zweifel an der göttlichen Eingebung der Heiligen Schrift. Selbstverständlich käme es nicht in Frage, die Wunder in wörtlichem Sinne als wahr hinzu98
nehmen. Er berief sich auf die phantastische Theorie, daß die W u n d e r allegorisch gemeint seien, gewissermaßen als Illustrationen der W u n d e r t a t e n C h r i s t i in der Seele des M e n schen. D i e s e allegorische M e t h o d e hatte sich O r i g e n , ein christlicher, freilich nicht streng orthodoxer Pater, zu eigen gemacht, und W o o l s t o n e gibt ihn zu seiner Entlastung als Q u e l l e f ü r seine A u f f a s s u n g an. W o o l s t o n e s leidenschaftliche Kritiken sind ihrem W e r t e nach verschieden, aber viele seiner E i n w ä n d e treffen den N a g e l auf den K o p f , und die M o d e einiger moderner Kritiker über W o o l s t o n e ' s Schriften als unwichtig hinwegzugehen, weil sie „ g e m e i n " oder „ r o h " seien, ist a b s o l u t ungerecht. Die Streitschriften f a n d e n einen riesigen A b s a t z und W o o l s t o n e ' s Volkstümlichkeit wird am besten durch die A n e k d o t e von der „lustigen j u n g e n F r a u " illustriert, die ihm auf einem S p a z i e r g a n g begegnete und ihm zurief: „ D u alter Schurke, bist D u noch immer nicht a u f g e h ä n g t w o r d e n ? " M i s t e r W o o l s t o n e erwiderte: „ G u t e F r a u , ich kenne Sie nicht; bitte s a g e n Sie mir, wodurch ich Sie beleidigt h a b e ? " „ D u hast meinen Erlöser beschimpft", erklärte sie, „was soll aus meiner armen s ü n d i g e n Seele ohne meinen geliebten H e i land w e r d e n ? " Etwa zu der gleichen Zeit griff M a t t h e w T i n d a l (ein Mitglied von Allerseelen) die Lehre der O f f e n b a r u n g von einem allgemeineren Gesichtspunkt aus an. In seiner Schrift: „ C h r i s t e n t u m i s t s o a l t w i e d i e S c h ö p f u n g " (1730) versuchte er nachzuweisen, daß die Bibel als eine Q u e l l e der O f f e n b a r u n g überflüssig sei, da sie nichts zu der natürlichen Religion beitrüge, welche G o t t den Menschen vom ersten A u g e n blick an durch das alleinige Licht der V e r n u n f t enthüllt h a b e . Er behauptete, daß jene, welche die offenbarte Religion w e g e n ihrer Ü b e r e i n s t i m m u n g mit der natürlichen Religion verteidigen, dadurch eine zwiefache Herrschaft von V e r n u n f t und A u t o r i t ä t aufrichten und sich zwischen zwei Stühle setzen. „ E s ist eine selts a m e U n l o g i k " , bemerkt er, „die W a h r h e i t eines Buches durch die W a h r h e i t der in ihm enthaltenen Doktrinen beweisen zu wollen, und gleichzeitig zu folgern, diese Lehren seien wahr, weil sie in jenem Buche s t ü n d e n " . D a n n unterzieht er sich der A u f g a b e , die Bibel in ihren Einzelheiten zu kritisieren. U m ihre U n f e h l barkeit aufrecht zu erhalten, ohne der V e r n u n f t Gewalt anzutun, ist man gezwungen, so oft man auf unvernünftige Beh a u p t u n g e n stößt, sie hin und her zu wenden und sie ihres buchstäblichen Sinnes zu entkleiden. K ö n n t e man sich vor7*
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stellen, daß sich ein Mohammedaner von dem Koran leiten ließe, falls dieser auf Schritt und Tritt von dem wörtlichen Sinne abwiche? „Nein, man würde erklären, daß sein angeblich inspiriertes Buch an Glaubwürdigkeit erheblich hinter Ciceros nicht inspirierten Schriften zurückstünde, die einem keine Veranlassung böten vom Buchstaben abzuweichen." In bezug auf die chronologischen und wissenschaftlichen Irrtümer, welche die Unfehlbarkeiten der Heiligen Schrift zu gefährden drohen, erklärt ein Bischof durchaus vernünftig, daß Gott in der Bibel dem Auffassungsvermögen jener entsprechend redet, an die er sich wendet, und daß es nicht die A u f g a b e der Offenbarung sei, deren Ansichten in diesen Fragen zu berichtigen. T i n d a 1 erwidert darauf folgendes: „Besteht nicht ein Unterschied dazwischen, ob Gott in diesen Fragen die Meinungen der Menschen nicht berichtigt, oder ob er selbst solche Ansichten, die der Berichtigung bedürfen, verwendet; oder dazwischen, ob Gott die menschliche Logik und Rethorik, sofern sie fehlerhaft ist, unkorrigiert läßt, und sich selber solcher der Korrekturen bedürftigen Gedanken bedient, oder ob Gott den volkstümlichen Vorstellungen nicht nur nicht widerspricht, sondern sie sogar bestätigt, indem er selbst ihnen entsprechend redet. Kann unendliche Weisheit daran verzweifeln, die Liebe des Volkes zu gewinnen und sich zu bewahren, ohne zu solchem minderwertigem Verhalten seine Zuflucht nehmen zu m ü s s e n ? " Mit besonderem Nachdruck betont T i n d a 1 die Ungeheuerlichkeit der Lehre vom ausschließlichen Heil. Müssen wir nicht die Frage stellen, so fragt er, ob man von jemand behaupten kann, er sei als Erlöser der Menschheit ausgesandt worden, der bei seinem Kommen vor jenen die Pforten des Himmels verschließt, denen sie, bevor er kam, weit offen standen, sofern sie der Vorschrift ihrer Vernunft folgten? Er übt ferner Kritik an der Unvereinbarkeit der unparteiischen und weltumfassenden Güte Gottes, die uns durch das Licht der N a t u r vertraut ist, im Gegensatz zu den von Jehovah oder seinen Propheten verübten Taten. Man denke nur an jene Fälle, bei denen die Ordnung der Natur verletzt wird, um Menschen für Verbrechen zu bestrafen, an denen sie keine Schuld trugen, wie das Beispiel von Elias zeigt, der drei und ein halbes Jahr keinen Regen fallen ließ. Falls Gott die gewohnten Satzungen göttlicher Vorsehung zu brechen vermag, um den Unschuldigen mit dem Schuldigen zu bestrafen, so haben wir keine Gewähr, daß, wenn er in 100
diesem Leben in solcher Art mit uns verfährt, er nicht in gleicher Weise im künftigen Leben handeln wird. Falls die ewigen G e setze der Gerechtigkeit einmal verletzt wurden, vermögen wir uns nicht vorzustellen, wie dem Einhalt geboten werden könnte." Die Ideale der Heiligkeit und Gerechtigkeit im Alten Testament sind in der Tat sonderbar. Je heiliger Menschen uns geschildert werden, desto grausamer und fluchwürdiger scheinen sie in Wirklichkeit zu sein. Welche Überraschung, wenn man den Propheten Elias dabei ertappt, wie er im N a m e n des Herrn kleine Kinder verflucht, weil diese ihm Kahlkopf nachrufen! Aber noch erstaunlicher wirkt es, daß unmittelbar darauf zweiundvierzig kleine Kinder von zwei weiblichen Bären verschlungen werden. Ich habe erwähnt, daß die Theologen zu dieser Zeit ganz allgemein den Versuch machten, das Christentum auf Vernunft statt auf Glauben zu stützen. 1741 erschien aus der Feder H e n r y D o d w e l l ' s (jr.) ein interessantes kleines Buch „ C h r i s t e n t u m nicht auf A r g u m e n t e gestützt", das in Form eines an einen jungen Gentleman in O x f o r d gerichteten Briefes auf die Gefahren eines allzufesten Vertrauens auf die Vernunft hinwies. Es stellt eine ironische Weiterentwicklung der Grundsätze Bayle's dar und verficht die These, daß das Christentum im wesentlichen vernunftwidrig sei, und daß, wenn man glauben wolle, Vernunftanwendung verhängnisvoll wäre. D i e Pflegevon Glaube und Urteilskraft führen zu sich widersprechenden Resultaten; der Philosoph wird als unmittelbare Folge seines Fortschrittes in weltlicher Weisheit für göttlichen Einfluß unempfänglich; das Evangelium muß mit der ganzen willfährigen Unterwürfigkeit eines Kindes hingenommen werden, das keinen anderen Wunsch hegt, als seine Lektion zu lernen. Christus hatte nicht die Absicht, seine Lehren einer Nachprüfung unterziehen zu lassen; er unterbreitete die Beweise für seine Mission seinen Jüngern nicht zu diesem Zweck, gewährte ihnen auch weder die Zeit, um in Ruhe über deren Beweiskraft nachzudenken, noch die Freiheit sich zu entscheiden, wie ihre Vernunft es ihnen gebieten würde; die Apostel besaßen für eine solche A u f g a b e auch gar nicht die Befähigung, waren sie doch die schlichtesten und unwissendsten damals lebenden Menschen. D o d w e l l rügt auch die Lächerlichkeit der protestantischen Einstellung. Allen Menschen die Freiheit einzuräumen, sich selber ein Urteil zu bilden, und gleichzeitig von ihnen zu erwarten, daß sie des Predigers Ansicht teilen würden, ist eine 101
solche Q u e l l e für Uneinmütigkeit und erscheint derart naiv, daß man nicht begreife, wie jemand so geistesschwach sein könne, so etwas aus theoretischen Erwägungen zu ersinnen; aber noch viel weniger wäre es zu verstehen, wenn sich jemand fände, der die Dreistigkeit besäße, einen solchen Plan in die Praxis umzusetzen. Die Männer von Rom „sollen sich zum Urteilsspruch gegen diese Generation (alle in Betracht kommenden Personen) erheben und sollen sie verdammen; denn sie erfanden nur die e i n e Sinnwidrigkeit der Unfehlbarkeit, und siehe da, eine größere Sinnlosigkeit als Unfehlbarkeit liegt hier vor." Ich muß noch ein paar Worte über den (Dritten) E a r 1 o f S h a f t e s b u r y einfügen, dessen eleganter Stil seine Schriften vor gänzlicher Vernachlässigung bewahrt hat. Sein vornehmstes Interesse galt der Ethik. Während die wertvolle Arbeit der Mehrzahl der heterodoxen Schriftsteller dieser Periode auf eine vernichtende Kritik der übernatürlichen Religion abzielte, klammerten sie sich, wie wir bereits gehört haben, umso fester an das, was sie als natürliche Religion bezeichneten — nämlich den Glauben an einen liebevollen, weisen, persönlichen Gott, der die Welt erschaffen hat, sie mittels der Naturgesetze lenkt, und unser Glück erstrebt. Dieser Gedanke stammt von den alten Philosophen und wurde von Lord H e r b e r t von C h e r b u r y in einer lateinischen Abhandlung „Über Wahrheit" (unter der Regierung J a m e s d e s E r s t e n ) neu belebt. Die Deisten behaupteten, diese böte ein genügend gesichertes Fundament für die Moral und die christlichen Lockspeisen für gutes Betragen seien überflüssig. Shaftesbury stellt in seiner „Untersuchung über T u g e n d " (1699) diese Frage zur Debatte und erklärt, daß die Vorstellung eines Himmels und einer Hölle mit allen selbstsüchtigen Hoffnungen und Befürchtungen, die sie auslösen, die Moral verdürbe, und daß die einzige würdige Triebfeder für unser Verhalten die Schönheit der Tugend an sich sei. Er läßt nicht einmal Deismus als notwendige Voraussetzung für ein Sittengesetz gelten, gibt aber zu, daß die Anschauungen der Atheisten die Moral untergraben. Freilich ist nach seiner Ansicht der Glaube an einen gütigen Beherrscher des Weltalls, eine mächtige Stütze für die praktische A u s ü b u n g der Tugend. Shaftesbury ist durch und durch Optimist und gibt sich vollkommen mit der bewundernswerten Auffassung, der Zweck heilige das Mittel, zufrieden, wobei es die A u f g a b e des einen Tieres ist, das Futter für ein anderes Tier 102
zu bilden. Er macht nicht einmal den Versuch, die blutigen Klauen und Zähne der N a t u r mit der Wohltätigkeit ihres allmächtigen Künstlers zu versöhnen. „Im großen und ganzen sind alle Dinge gut und wohlgeordnet." Der Atheist könnte vielleicht einwenden, er würde es vorziehen, der G n a d e blinden Zufalls ausgesetzt zu sein, als sich in den Händen eines Autokraten zu befinden, der, falls er Lord Shaftesbury's Sinn für Ordnung entsprechen wollte, Fliegen geschaffen hätte, um von Spinnen verzehrt zu werden. Aber dies war eine Weltanschauung, welche den Denkern des achtzehnten Jahrhunderts kein erhebliches Kopfzerbrechen bereitete. Andererseits erregten die Charakterzüge des Gottes des Alten Testaments Shaftesbury's Abscheu. Zwar greift er die Heilige Schrift nicht offen, sondern nur durch Anspielungen oder ironische Bemerkungen an. So deutet er an, daß, falls es einen Gott gäbe, dieser geringeres Mißfallen über Atheisten empfinden würde, als über Menschen, die ihn in der Maske Jehovas anerkennen. P l u t a r c h bemerkt einmal: „Es wäre mir lieber, die Menschen würden von mir behaupten, daß es weder einen Mann wie Plutarch gäbe, noch je gegeben habe, als daß sie erklärten, es gab einmal einen Plutarch, einen wankelmütigen, unbeständigen, leicht reizbaren und rachsüchtigen M a n n " . Shaftebury's Bedeutung beruht darauf, daß er eine positive Theorie der Moral aufstellte und, obwohl dieser Theorie philosophische Tiefe mangelte, war ihr Einfluß auf die französischen und deutschen Denker des achtzehnten Jahrhunderts erstaunlich groß. Der fähigste Kopf unter den Deisten und bestimmt der Gelehrteste, war in gewisser Hinsicht vielleicht Reverend C o n y e r s M i d d l e t o n , der der Kirche treu blieb. Er unterstützte das Christentum aus Nützlichkeitsgründen. Selbst angenommen, es sei ein Betrug, sagte er, so wäre es dennoch falsch, es zu vernichten. Es ist durch das Gesetz eingesetzt und blickt auf eine lange Tradition zurück. Irgendeine traditionelle Religion ist notwendig, und es wäre hoffnungsloses Bemühen, Christentum durch Vernunft ersetzen zu wollen. Aber Middleton's Schriften enthalten wirkungsvolle Argumente, welche die Wahrheit der Offenbarung erschüttern. Seine wichtigste Schrift war die Abhandlung „ F r e i m ü t i g e U n t e r s u c h u n g d e r c h r i s t l i c h e n W u n d e r " (1748), die eine alte Frage in neue und gefährliche Beleuchtung rückte: zu welchem Zeitpunkt erlosch die Kraft der Kirche, Wunder zu vollbringen? W i r werden 103
gleich hören, in welcher Weise G i b b o n sich Middleton's Methode zunutze machte. Die führenden Widersacher der Deisten beriefen sich gleich jenen auf die Vernunft, und die A n r u f u n g der Vernunft trug viel dazu bei den Autoritätsglauben zu unterminieren. Die geschickteste Verteidigung des Glaubens, Bischoff B u 11 e r ' s „ A n a 1 o g y " (1736) wird verdächtigt, mehr Zweifel erregt als zerstreut zu haben. Diese Erfahrung erlebte W i l l i a m P i t t der Jüngere, und die Analogy machte auch aus dem Utilitarier J a m e s M i 11 einen Ungläubigen. Die Deisten führten ins Treffen, daß der ungerechte und grausame Gott der Offenbarung unmöglich der Gott der N a t u r sein könne. B u t l e r wies auf die N a t u r hin und erklärte: Dort findet ihr Grausamkeit und Ungerechtigkeit. Dieses Argument war eine glänzende Antwort auf den Optimismus Shaftesbury's, aber es führte zwangsläufig — im Gegensatz zu dem, was Butler zu erreichen wünschte — zu der Schlußfolgerung, daß ein gerechter und gütiger Gott nicht existiere. Butler sah sich genötigt auf das skeptische Argument zurückzugreifen, daß wir vollkommen unwissend wären; daß alle Dinge möglich seien, selbst ewiges Höllenfeuer, und daß es daher der sichere und kluge Kurs sei, die christliche Lehre anzuerkennen. Es sei mir hier die Bemerkung gestattet, daß diese gleiche Beweisführung mit geringfügigen Modifikationen zugunsten anderer Religionen etwa in Mecca oder in Timbuktu angewandt werden könnte. Butler hat im wesentlichen die von P a s c a l benutzte Beweisführung wieder aufgegriffen, daß, wenn unter einer sehr großen Zahl von Möglichkeiten auch nur eine Möglichkeit besteht, daß das Christentum wahr sei, es in der Menschen Interesse liege, Christen zu werden; sollte es sich als unwahr erweisen, so wird es ihm keinen Schaden bringen, an das Christentum geglaubt zu haben; ist es aber wahr, so bedeutet diese Tatsache für ihn einen unschätzbaren Gewinn. In der Tat bemüht sich Butler nachzuweisen, daß die Aussichten zugunsten des Christentums fast zu einer Wahrscheinlichkeit werden, aber seine Beweisführung ist im wesentlichen von dem gleichen geistigen und moralischen Wert wie die Pascal's. Es ist darauf hingewiesen worden, daß diese Argumentation durch einen geringfügigen logischen Seitensprung von der anglikanischen zu der römischen Kirche führt. Katholiken und Protestanten stimmen (wie König H e i n r i c h d e r V i e r t e von Frankreich bekundete), darin überein, daß ein Katholik erlöst werden könne; die Katholiken betonen, 104
daß ein Protestant der Verdammung anheim fiele; daher ist das sicherste Verfahren, sich dem Katholizismus anzuschließen. Ich habe bei den englischen Deisten so ausführlich verweilt, da sie nicht nur in der Geschichte des Rationalismus in England einen maßgebenden Platz einnehmen, sondern weil sie gemeinsam mit B a y l e einen großen Teil jener Gedanken beigesteuert haben, die, von hervorragenden Schriftstellern jenseits des Kanals weiterentwickelt, die gebildeten Klassen in Frankreich in ihren Bann schlugen. Wir befinden uns jetzt im Zeitalter V o l t a i r e ' s : Voltaire war überzeugter Deist. Sein Gedankengang war etwa folgender: Die N a t u r des Universums beweist, daß es von einem kundigen Architekten geschaffen worden ist; er betont, Gott wäre im Interesse der Leitung erforderlich, und er bekämpfte glühend den Atheismus. Sein größtes Verdienst war sein wirkungsvolles Eintreten für die Sadie der Toleranz und sein systematisch geführter Feldzug gegen den Aberglauben. Englische Denker, in ersterLinie L o c k e und B o l i n g b r o k e , haben einen tiefgreifenden Einfluß auf ihn ausgeübt. Dieser Staatsmann hatte während seiner Lebenszeit seinen Unglauben vor der Welt, mit Ausnahme seiner intimsten Freunde, verborgen; lange Zeit lebte er in Frankreich im Exil; und seine rationalistischen Essays wurden erst (1755) nach seinem Tode veröffentlicht. Voltaire, dessen schriftstellerisches Genie das Werk der englischen Denker zu einer Weltmacht ausgestaltete, begann seinen Feldzug gegen das Christentum erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als abergläubische Gebräuche und religiöse Verfolgungen in seinem Vaterlande sich zu einem Skandal auswuchsen. Er griff die katholische Kirche auf allen Gebieten mit Spott und Satire an. Ein kleines Werk mit dem Titel „ D a s Grabmal des Fanatismus" (geschrieben 1736, veröffentlicht 1767) beginnt mit der Bemerkung, daß ein Mensch, der (wie das bei den meisten der Fall ist) ohne Nachprüfung eine Religion annimmt, einem Ochsen gleiche, der sich widerstandslos fesseln läßt; dann fährt Voltaire fort, die Widersprüche in der Bibel, die Entstehung des Christentums und den Verlauf der Kirchengeschichte einer kritischen Prüfung zu unterziehen, die ihn zu dem Schluße führt, daß jeder feinfühlige Mensch vor der christlichen Sekte Schauder empfinden müsse. „Die Mensdhen sind blind, einen lächerlichen und blutrünstigen, von Henkern unterstützten und von brennenden Scheiterhaufen umgebenen Glauben, einen Glauben, der nur von jenen gepriesen werden kann, denen 105
er Macht und Reichtum verleiht, einem Glaubensbekenntnis, das nur in einem begrenzten Teile der Welt anerkannt wird, — den Vorzug vor einer schlichten und weltweiten Religion zu geben". A u s der „Rede der Fünfzig" und den „Fragen Zapatas" können wir ersehen, was Voltaire Bayle und anderen englischen Kritikern schuldet, nur ist seine Schreibweise flüssiger und seine' Ironie treffender. Sein Kommentar zu den geographischen Irrtümern im Alten Testament lautet: „Augenscheinlich war Gott in Geographie nicht gut beschlagen". Nachdem Voltaire die Aufmerksamkeit auf das „abstoßende Verbrechen" an Lot's Weib, das sich umschaute und dafür in eine Salzsäule verwandelt wurde, gelenkt hat, drückt er die Hoffnung aus, daß die Märchen der Heiligen Schrift uns bessern möchten, wenn sie uns schon keine Erleuchtung brächten. Eine seiner beliebtesten Methoden besteht darin, sich mit den christlichen Doktrinen wie ein Mensch zu beschäftigen, der zum erstenmal in seinem Leben überhaupt etwas von der Existenz von Christen oder Juden vernimmt. Sein Drama „ S a u l " (1763), das die Polizei zu unterdrücken versuchte, beschäftigte sich mit dem Lebenslaufe David's, dieses Mannes nach Gottes Herzen, mit all seinen zur Schau gestellten Scheußlichkeiten. Die Szene, in der Samuel Saul Vorwürfe macht, weil dieser A g a g nicht erschlagen hat, dürfte einen anschaulichen Eindruck von dem Geiste dieses Stückes vermitteln. SAMUEL: Gott befiehlt mir, Dir zu sagen, er bereue es, Dich zum Könige gekrönt zu haben. S A U L : Gott bereut! N u r wer Fehler begeht, kann bereuen. Seine ewige Weisheit kann nicht unweise sein. Gott kann keine Fehler begehen. S A M U E L : Er vermag zu bereuen, jemand auf den Thron erhoben zu haben, der so handelt. S A U L : N u n , wer täte das nicht? Sag' mir, worin besteht meine Schuld? S A M U E L : D u hast einem Könige Verzeihung gewährt. A G A G : W i e ? Gilt die schönste aller Tugenden in Judea als Verbrechen? S A M U E L (zu A g a g ) : Schweig! Lästere nicht ( Z u Saul) Saul, einstmals König der Juden, befahl Dir nicht Gott durch meinen Mund, alle Amalekiter zu vernichten, und auch Weiber und Jungfrauen und Säuglinge an der Brust nicht zu schonen? A G A G : Dein Gott — gab Dir einen solchen Befehl! D u irrst Dich, D u wolltest sagen Dein Teufel. 106
S A M U E L : Saul, hast Du Gott gehorcht? S A U L : Ich nahm nicht an, daß dieser Befehl ernst gemeint sei. Ich dachte, Güte wäre das erste Attribut des Höchsten Wesens, und daß ein mitfühlendes Herz ihm nicht mißfallen könnte. S A M U E L : Du bist im Irrtum, Ungläubiger. Gott verwirft Dich, Dein Szepter wird in andere Hände übergehen. Kein anderer Schriftsteller dürfte in der christlichen Welt einen ähnlichen Sturm der Entrüstung ausgelöst haben wie Voltaire. Man betrachtete ihn als eine Art Antichrist. Das war begreiflich wegen der ungeheueren Wirkung, die seine Angriffe erzielten. Von verschiedenen Seiten bezichtigte man ihn, er risse lediglich nieder, unternähme aber nie den Versuch, dort, wo er etwas zerstört hätte, etwas Neues wieder aufzubauen. Das ist eine engstirnige Anschuldigung. Man könnte darauf erwidern, daß, wenn durch eine Kloake sich in einer Stadt Seuchen ausbreiten, man mit deren Bekämpfung nicht warten könne, bis neue Abzugskanäle gebaut worden sind, und man kann mit gutem Recht behaupten, daß Religion, wie sie im damaligen Frankreich ausgeübt wurde, einer verderblichen Infektionskrankheit glich. Aber die richtige Antwort wäre, daß Wissen und mit dem Wissen auch Kultur durch Kritik und Verneinung ebenso wie durch positive und konstruktive Entdeckungen gefördert würde. W e n n ein Mann das Talent besitzt, wirkungsvoll Falschheit, Vorurteil und Betrug zu bekämpfen, so ist es seine Pflicht, sofern es überhaupt soziale Pflichten gibt, diese Begabung auszunutzen. W a s konstruktives Denken anbetrifft, müssen wir uns dem anderen großen Führer der französischen Denker, R o u s s e a u , zuwenden, der der Freiheit auf ganz andere Weise diente. Rousseau war ein Deist, aber im Gegensatz zu Voltaire war sein Gottesglaube religiös und gefühlsbetont. Er betrachtete das Christentum mit einer Art ehrfurchtsvollem Skeptizismus. Aber sein Denken war revolutionär und der Orthodoxie feindlich gesinnt; er bekämpfte Autorität in jedweder Sphäre und erlangte einen gewaltigen Einfluß. Die Geistlichkeit fürchtete vermutlich seine Theorien mehr als den H o h n und die negative Haltung Voltaire's. Jahrelang war er ein Flüchtling auf dem Antlitz der Erde. „Emile", dieser vorzügliche Beitrag zur Theorie der Erziehung, erschien 1762. Das W e r k enthält einige bemerkenswerte Seiten über Religion, „Das Glaubensbekenntnis eines savoyisdien Vikars", in dem der deistische Glaube des 107
Verfassers nachdrücklich unterstrichen und Offenbarung und Theologie verworfen werden. D a s Buch wurde in Paris öffentlich verbrannt und ein Haftbefehl gegen Rousseau erlassen. Von seinen Freunden zur Flucht gezwungen, war ihm die Rückkehr nach Genf verwehrt, da die Regierung dieses Kantons dem Beispiel von Paris folgte. Daher suchte er Zuflucht im Kanton Bern, erhielt aber den Befehl, auch dieses Gebiet zu verlassen. Darauf floh er in das Fürstentum Neuenburg, das zu Preußen gehörte. Friedrich der Große, der einzige wirklich tolerante Herrscher dieses Zeitalters, gewährte ihm Schutz, aber er wurde von der ortsansässigen Geistlichkeit, Friedrich zum Trotz, verfolgt und verleumdet und begab sich 1766 für einige Monate nach England, um von dort nach Frankreich zurückzukehren, wo er bis zu seinem Tode unbelästigt lebte. Religiöse Ansichten spielen in Rousseau's ketzerischen Spekulationen nur eine geringe Rolle. Seine kühnen sozialen und politischen Theorien waren es, welche die Welt in Brand setzten. Sein „Gesellschaftsvertrag", in dem er diese Theorie erläuterte, wurde in Genf verbrannt. Obwohl die von Rousseau aufgestellten Grundsätze der Kritik auch nicht einen Moment standhalten, und obwohl seine Lehre durch ihre außerordentliche Kraft, Menschen in Fanatiker zu verwandeln, Unheil stiftete, trug sie doch zum Fortschritt bei, indem sie mithalf Privilegien in Mißkritik zu bringen und die Ansicht zu festigen, daß es das Ziel eines Staates sei, das Wohlergehen a l l e r seiner Mitglieder zu sichern. Deismus — ob in der halbchristlichen Form Rousseaus oder in der antichristlichen Form Voltaires — glich einem auf Sand gebauten Hause, und in Frankreich, England und Deutschland erhoben sich Denker, um dessen Grundfesten zu zertrümmern. In Frankreich erwies sich der Deismus als ein Rastplatz auf halbem W e g e zum Atheismus. 1770 wurden französische Leser durch das Erscheinen von Baron D ' H o l b a c h s „ S y s t e m d e r N a t u r " aufgeschreckt, in welchem die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele geleugnet wurden, und die Welt als ein aus eigener Kraft sich bewegender Urstoff erklärt wurde. H o 1 b a c h war ein Freund D i d e r o t ' s , der gleichfalls den Gottesglauben verwarf. Alle führenden, gegen die Kirche sich auflehnenden Ideen fanden in Diderot's großem W e r k der „ E n z y k l o p ä d i a", die er mit einer Anzahl führender Denker gemeinsam herausgab, ihren Platz. Die Enzyklopädia war kein übliches wissenschaftliches Nachschlagewerk; sie repräsen108
tierte die gesamte Bewegung der Glaubensfeinde. Sie verfolgte die Absicht, die Menschen vom Christentum mit seiner Erbsünde zu einer neuen A u f f a s s u n g der Welt als einer Stätte zu führen, die schön gestaltet werden kann, und in der das wirklich Böse nicht der menschlichen N a t u r innewohnenden Fehlern entspringt, sondern verderbten Institutionen und falscher Erziehung. D a s Interesse von den Dogmen der Religion auf die Vervollkommnung der Gesellschaft hinzulenken, die Welt zu überzeugen, daß das Glück des Menschen nicht von Offenbarung, sondern von einer gesellschaftlichen Umwandlung abhängt — war das Ziel, das Diderot und Rousseau auf verschiedenen Wegen mit gutem Erfolg zu erreichen versuchten. U n d ihr W e r k beeinflußte auch jene, welche die Orthodoxie nicht preisgaben; ja es gewann selbst Einfluß auf den Geist der Kirche. M a n vergleiche die katholische Kirche in Frankreich im achtzehnten Jahrhundert mit der im neunzehnten Jahrhundert. W ä r e die Kirche wohl ohne das Werk Voltaire's, Rousseau's, Diderot's und ihrer Mitkämpfer reformiert worden? „Die christlichen Kirchen" (ich zitiere Lord M o r 1 e y), „stehen im Begriff, so rasch ihre Glaubensbekenntnisse es gestatten, das neue Licht und die großzügigeren moralischen Ideen und die höhere Geistigkeit der Lehrer, die allen Kirchen den Rücken gekehrt haben, und die systematisch als Feinde der menschlichen Seele verschrien wurden, sich zu eigen zu machen." In England führte der vorherrschende deistische Gedanke nicht zu den gleichen intellektuellen Folgerungen wie in Frankreich; H u m e , der größte englische Philosoph des Jahrhunderts, zeigte, daß die gemeinhin als Beweis für einen persönlichen Gott angeführten Argumente unhaltbar wären. Zuerst möchte ich über seine Ausführungen über die Wundertaten (in seinem „ E s s a y ü b e r W u n d e r " ) , sowie über seine philosophische „ U n t e r s u c h u n g ü b e r d e n m e n s c h l i c h e n V e r s t a n d " , (erschienen 1748), sprechen. Bis zu dieser Zeit war die Glaubwürdigkeit der Wunder noch nie einer allgemeinen, von theologischen Voraussetzungen unabhängigen Nachprüfung unterzogen worden. Hume betonte, dieerste Voraussetzung wäre, daß jeder wunderbare Vorgang im Gegensatz zu der allgemein gültigen Erfahrung stünde (sonst würde das betreffende Ereignis nicht den Namen Wunder verdienen), und daß die Feststellung eines Wunders zuverlässigere Zeugnisse erfordere, als die Feststellung eines anderen Ereignisses, das nicht der Erfahrung widerspräche. „ A l s allgemeiner Grundsatz muß die Forderung gelten, 109
daß kein Zeugnis genügt, ein Wunder als wahr anzuerkennen, sofern das Zeugnis nicht von solcher Art ist, daß dessen Falschheit wunderbarer wäre als die Tatsache, welche das Zeugnis zu bekunden sich bemüht." Tatsächlich gibt es aber kein Zeugnis, dessen Falschheit als Wunder bezeichnet werden könnte. Wir vermögen in der Geschichte kein Wunder aufzufinden, das von einer genügend großen Anzahl von Menschen von so unbestreitbar scharfem Verstände, Erziehung und Bildung bezeugt worden ist, um jede Selbsttäuschung auszuschließen, von so unbezweifelbarer Integrität, daß sie über jeden Argwohn der absichtlichen Täuschung anderer erhaben wären; von solcher Glaubwürdigkeit in den Augen der Menschen, daß es ihnen schwersten Schaden zufügen würde, falls ihnen irgendein Betrug nachgewiesen werden könnte; gleichzeitig gibt es aber auch keine bezeugten Tatsachen, die sich so vor aller Öffentlichkeit abgespielt hätten, um eine Entdeckung unvermeidlich zu machen, und nur all diese Umstände gemeinsam vermöchten uns die volle Gewißheit der Zuverlässigkeit des Zeugnisses jener Leute zu geben. In dem „ D i a l o g ü b e r n a t ü r l i c h e R e l i g i o n", der erst nach Humes Tode (1776) erschien, griff er das „Argument vom Plan" an, auf Grund dessen Deisten sowohl wie Christen die Existenz eines Gottes zu beweisen versuchen. D a s Argument lautet, daß die Welt in klarer Weise das Vorliegen eines bewußten Planes, „endlose Anwendungen von Mitteln zu bestimmten Zwecken aufzeigt, die nur durch die Annahme eines vorbedachten Planes einer allmächtigen Intelligenz erklärt werden können". Hume bestreitet diese Folgerung mit der Begründung, daß ein lediglich intelligentes Wesen keine genügende Ursache sei, die Wirkung zu erklären. Als triftiges Argument wäre erforderlich, daß das materielle Weltsystem als Ursache ein ihm entsprechendes System von miteinander engverknüpften Ideen voraussetzt; aber ein solches geistiges System würde eine Erklärung seiner Existenz genau so dringend benötigen wie die materielle Welt; daher sehen wir uns einer unendlichen Reihe von Ursachen ausgeliefert. Aber in jedem Falle, selbst wenn das Argument stichhielte, würde es lediglich die Existenz einer Gottheit beweisen, deren Macht, obwohl der des Menschen überlegen, doch recht begrenzt und deren Kunstfertigkeit äußerst unvollkommen sein könnte. Denn diese Welt ist vielleicht, verglichen mit einem höheren Standard, mit zahllosen Mängeln behaftet. Sie könnte den ersten kunstlosen Ver110
such „einer kindlichen Gottheit darstellen, die später beschämt von der stümperhaften D u r c h f ü h r u n g diesen Versuch a u f g a b " ; oder das W e r k irgendeiner tieferstehenden Gottheit sein, über das ihr Vorgesetzter spotten w ü r d e ; oder die Arbeit irgendeines alten ausgedienten Gottes, die seit dessen T o d e von dem ersten Antrieb, den er ihr gab, eine abenteuerliche L a u f b a h n zurückgelegt h a t . Ein A r g u m e n t , das solche Götter beim W e t t k a m p f miteinander zuläßt, ist schlimmer als nutzlos sowohl f ü r die Zwecke des Deismus als auch des Christentums. H u m e s skeptische Philosophie übte auf die Allgemeinheit einen geringeren E i n f l u ß aus als G i b b o n s „ N i e d e r g a n g u n d F a l l d e s r ö m i s c h e n R e i c h e s " . V o n den zahlreichen freidenkerischen W e r k e n , die in England im achtzehnten Jahrh u n d e r t erschienen, ist dies das einzige auch heute noch viel gelesene klassische W e r k . In zwei von einer Freundin D o k t o r J o h n s o n ' s als „anstößig" bezeichneten Kapiteln (15 u. 16) werden die Ursachen des Aufstieges und Erfolges des C h r i s t e n t u m s zum ersten Mal kritisch, gleich gewöhnlichen historischen Erscheinungen, untersucht. W i e die meisten Freidenker jener Zeit hielt es auch Gibbon f ü r geraten, sich u n d sein W e r k gegen die Möglichkeit einer V e r f o l g u n g dadurch zu schützen, d a ß er dem orthodoxen Glauben ironische Lippenehrfurcht erwies. A b e r selbst wenn keine solche G e f a h r gedroht hätte, so hätte sich Gibbon keiner schneid e n d e r e n W a f f e bei seiner unbarmherzigen Kritik orthodoxer A n s c h a u u n g e n bedienen können, als der Ironie, die er mit überlegener Leichtigkeit h a n d h a b t e . Nachdem er auf den Sieg des Christentums hingewiesen hatte, der durch das offenkundige u n d überzeugende Beweismaterial der Lehre u n d durch die überlegene Voraussicht ihres großen A u t o r s genügend erklärt wird, fährt er „mit geziemender U n t e r w ü r f i g k e i t " fort, die zweitrangigen Ursachen einer N a c h p r ü f u n g zu unterziehen. Er verfolgt die Geschichte des G l a u b e n s bis zu der Zeit Konstantins in so geschickter Weise, daß es jedem einleuchten muß, d a ß die Hypothese einer göttlichen Einwirkung überflüssig sei, u n d daß wir es mit einer rein menschlichen Entwicklung zu tun haben. U n t e r ironischer A b l e h n u n g läßt er die offensichtlichen Einwendungen gegen den angeblichen Beweis einer übernatürlichen herrschenden Macht aufmarschieren. Er hütet sich, an Moses und den Propheten selbst Kritik zu üben, aber er druckt die ablehnenden Urteile ab, die gegen deren A u t o rität seitens „der gehaltlosen Philosophie der G n o s t i k e r " ge-
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fällt worden sind. Er betont, daß die Lehre von der Unsterblichkeit in den Gesetzen Moses fehle, was zweifellos auf eine mysteriöse Fügung der Vorsehung zurückgeführt werden müsse. Es ist nicht angängig, „den Vorwurf der Unwissenheit und der dunklen Herkunft, der so anmaßend gegen die ersten Jünger des Christentums" erhoben wurde, einfach zurückzuweisen, aber wir sehen uns gezwungen, den „Anlaß zu diesem Ärgernis in einen Gegenstand der Erbauung umzudeuten", und eingedenk zu bleiben, daß „je kärglicher wir uns die damaligen Verhältnisse der ersten Christen vorstellen, wir umso berechtigteren Grund haben, ihre Verdienste und ihren Erfolg zu bewundern". Gibbons Untersuchung der W u n d e r von rein historischen Gesichtspunkten (er schuldete, vergl. S. 103, sehr viel Middleton) wirkte außerordentlich beunruhigend. In der Frühzeit des Christentums wurden die Naturgesetze häufig zum Wohle der Kirche außer Kraft gesetzt, aber die Weisen Griechenlands und Roms wandten sich von diesem scheußlichen Schauspiel ab und gingen ihren gewohnten Arbeiten und Forschungen nach, anscheinend unbekümmert um die Wechselfälle bei der sittlichen und physischen Lenkung der Welt. Unter der Regierung von Tiberius wurde die gesamte Erde oder wenigstens ein gewaltiger Teil des römischen Reichs, drei Stunden lang von einer übernatürlichen Dunkelheit umhüllt. Selbst dieses wunderbare Ereignis, das die Verwunderung, die Neugier und die Ehrfurcht der Menschen hätte erwecken müssen, ging in einem Zeitalter der Wissenschaft und der Geschichte fast unbeachtet vorüber. Diese Finsternis ereignete sich während der Lebenszeit Seneca's und Plinius des Älteren, welche die unmittelbaren Wirkungen dieses W u n d e r s selbst erlebt oder die erste Kunde von diesem Warnungszeichen erhalten haben müssen. Jeder von diesen Philosophen hat in mühsamer Arbeit sämtliche großen Naturphänomene, Erdbeben, Meteore, Kometen und Sonnenfinsternisse, die ihre unermüdliche Wißbegier zu sammeln vermochte, aufgezeichnet. Aber der eine wie der andere haben es versäumt, dieses größte Phänomen, dessen das sterbliche Auge seit der Erschaffung der Erde Zeuge geworden war, zu erwähnen. „Wie sollen wir die fahrlässige Unachtsamkeit der heidnischen und philosophischen Welt diesem Beweise gegenüber, der uns durch die H a n d des Allmächtigen dargeboten wurde, entschuldigen, doch nicht unter Berufung auf ihre Vernunft, sondern höchstens auf ihre Sinne?" 112
U n d weiter heißt es: W e n n jeder Gläubige von der W i r k lichkeit der W u n d e r überzeugt ist, so ist jeder vernünftige Mensch von ihrem Nichtvorhandensein überzeugt. Doch jegliches Zeitalter legt Zeugnis für W u n d e r ab und das Zeugnis erscheint nicht weniger beweiskräftig, als das der vorangehenden Generation. W a n n hörten die W u n d e r a u f ? W i e kommt es, daß die Generation, welche die letzten wirklichen W u n d e r sich vollziehen sah, diese nicht von den Betrügereien, welche nachfolgten, zu unterscheiden vermochte? Hatten die Menschen so rasch „die Schrift des göttlichen Künstlers" vergessen? Die Schlußfolgerung lautet, daß wirkliche und vorgetäuschte W u n der sich nicht unterscheiden lassen. Aber die Leichtgläubigkeit oder „die Sanftheit des Gemüts" der ersten Gläubigen wirkte wohltätig auf die Sache der Wahrheit und der Religion. „In modernen Zeiten haftet ein geheimer, ja sogar ungewollter Skeptizismus selbst den frömmsten Naturen an. Ihr Glaube an übernatürliche Wahrheiten äußert sich selten in Form aktiver Zustimmung, sondern in der .Regel in kühlem und passivem Sichfügen. Unser Verstand oder wenigstens unsere Phantasie seit so langer Zeit gewohnt, die unabänderliche Ordnung der Natur zu beobachten und zu respektieren, ist nicht genügend vorbereitet, die sichtbare T a t der Gottheit zu begreifen." Gibbon's W e r k besitzt nicht die Vorzüge peinlich genauer kritischer Untersuchungen, welche in dem folgenden Jahrhundert auf die Nachprüfung seiner Quellen verwendet wurden, aber seine meisterliche Darstellung der Geschichte der Kirche in ihrer Frühzeit kann in vielen ihrer wichtigsten Teile auch heute noch auf volle Gültigkeit Anspruch erhehen. Ich vermute, daß sein Artilleriefeuer auf die klugen Köpfe der folgenden Generationen stärkere W i r k u n g ausgeübt hat, als Voltaires Bogenschützenkunst. Sein Buch ist als umfassende Geschichte des Mittelalters unersetzlich; die meisten Orthodoxen können ohne dieses W e r k nicht auskommen, und das G i f t hat offenbar häufig seine W i r k u n g getan. W i r haben gesehen, wie in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts der theologische Streit um die Frage kreiste, ob die offenbarte Religion mit der natürlichen Religion vereinbar und verträglich wäre. Die Deisten hatten auf diesem Gebiet ihre Munition gegen Mitte des Jahrhunderts nahezu verschossen, und die Orthodoxen glaubten, daß sie ihnen die gebührende Antwort nicht schuldig geblieben wären. Aber es genügte nicht, zu zeigen, daß die Offenbarung vernünftig sei; 8
B u r y ,
Gedankenfreiheit.
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es war notwendig, zu beweisen, daß sie wirklich ist und auf solider historischer Grundlage beruht. Dies war die in schärfster Form durch H u m e s und M i d d l e t o n s (1748) Kritik an den Wundern aufgeworfene Frage. Die klügste Antwort erteilte P a 1 e y in seiner Abhandlung „ B e w e i s e f ü r d a s c h r i s t l i c h r e l i g i ö s e S y s t e m " (1794), die einzige Streitschrift jener Zeit, die heute noch gelesen wird, obwohl sie keinen wirklichen Wert mehr besitzt. Paley's Theologie zeigt, wie orthodoxe Anschauungen unbewußt durch den Geist der Zeit verfärbt werden. Er bewies (in „Natürliche Theologie") die Existenz Gottes durch das Argument von der Planung — ohne von der an diesem Beweismittel von Hume geübten Kritik irgendwelche Notiz zu nehmen. Genau wie man von einer Uhr auf den Uhrmacher schließen kann, genau so kann man von dem Mechanismus der N a t u r auf einen göttlichen Arbeiter schließen. Paley wählt als Beispiel solcher Planungen hauptsächlich die Organe und den Bau des menschlichen Leibes. Nach seiner Vorstellung ist Gott ein genialer Erfinder, der sich mit ziemlich widerspenstigem Material abplagt. Paley's „ G o t t " ist, (wie Mr. L e s l i e S t e p h e n bemerkt), „gleich dem Menschen allmählich zivilisiert geworden. Er wurde gelehrt und erfindungsreich; er ist W a t t oder Priestley in der Planung mechanischer und chemischer Erfindungen überlegen, und daher wird er in der Gestalt jener Generation dargestellt, deren hervorragendste Leuchten W a t t und Priestley waren." W e n n man sich Gott so vorstellt, dann gibt es bezüglich der Wunder keine Schwierigkeiten, und auf Wunder stützt Paley die Sache des Christentums — alle anderen Beweise sind von untergeordneter Bedeutung. U n d sein Beweis für die Wunder des Neuen Testaments beruht darauf, daß die Apostel als Augenzeugen an diese Wunder glaubten, sonst hätten sie sich nicht für die Sache ihrer neuen Religion eingesetzt und für sie gelitten. Paley's Verteidigungsschrift gleicht der Rede eines klugen Rechtsanwaltes des Allmächtigen. Die Liste der englischen deistischen Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts schließt mit dem N a m e n eines Mannes, der bekannter geworden ist, als irgendeiner seiner Vorläufer: T h o m a s P a i n e . In N o r f o l k gebürtig, wanderte er nach Amerika aus und spielte in der Revolution eine führende Rolle. 1791 nach England zurückgekehrt, veröffentlichte er seine „Menschenrechte". Ich habe bisher fast ausschließlich die Freiheit des Denkens 114
auf religiösem Gebiet behandelt, weil sie gewissermaßen der Barometer für die Gedankenfreiheit im allgemeinen ist. Z u dieser Zeit war es genau so gefährlich, revolutionäre politische Ansichten wie theologische zu veröffentlichen. Paine war ein begeisterter Bewunderer der amerikanischen Verfassung und ein Bannerträger der französischen Revolution (bei der er gleichfalls eine Rolle spielte). Seine „Menschenrechte" sind eine Anklage gegen die monarchische Demokratie. Die Schrift fand reißenden Absatz, eine Volksausgabe wurde herausgegeben, worauf die Regierung in der Erkenntnis, daß diese Ausgabe auch den ärmeren Volksschichten zugänglich wäre, einen Haftbefehl erließ. Paine floh nach Frankreich, wurde in Calais begeistert empfangen und als Deputierter des Nationalkonvents nach Paris geleitet. Sein Verhör wegen Hochverrats fand Ende 1792 statt. Unter den Stellen seines Buches, auf denen die Anklage aufgebaut war, befindet sich folgende: „Jede erbli&e Regierung ist ihrer Natur nach Tyrannei. Die Zeit ist nicht mehr sehr fern, da England über sich selbst lachen wird, daß es aus Holland, Hannover, Zell oder Braunschweig Männer herbeiholte" (gemeint sind König W i l h e l m d e r D r i t t e und K ö n i g G e o r g d e r E r s t e ) mit einem Kostenaufwand von einer Million im Jahr, die weder Englands Gesetze, seine Sprache noch seine Interessen kannten, und deren geistige Fähigkeiten sie kaum für das Amt eines Kirchspielkonstablers geeignet erscheinen ließen. Falls die Regierung solchen Händen anvertraut werden kann, muß Regieren in der Tat eine sehr leichte und einfache Sache sein, und für diese Zwecke geeignetes Material hätte man in jeder Stadt und in jedem Dorfe Englands finden können. Paines Anwalt E r s k i n e hielt zur Verteidigung der Redefreiheit eine glänzende Ansprache: „Z\vang", sagte er, „ist der natürliche Vater des Widerstandes und ein eindeutiger Beweis, daß Vernunft nicht auf der Seite jener zu finden ist, die ihn anwenden. Bitte, meine Herren, denken Sie an L u c i a n s amüsante Erzählung: Jupiter und ein Bauer gingen spazieren und unterhielten sich mit großer Freimütigkeit und Vertraulichkeit über das Thema Himmel und Erde. Der Landmann hörte aufmerksam und bedächtig zu, während Jupiter sich bemühte, ihn zu überzeugen; aber als der Bauer einen Zweifel äußerte, wandte sich Jupiter empört um und bedrohte ihn mit seinem Donner. ,Ahä!' rief der Bauer, Jetzt, Jupiter, weiß ich, daß Du Unrecht hast; Du hast immer Unrecht, wenn Du Dich auf Deinen Donner be8*
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Tufst.' In der gleichen Lage befinde ich mich. Ich kann mit dem englischen Volke vernünftig reden, aber gegen den Donner der Autorität vermag ich nicht anzukämpfen." Paine wurde schuldig befunden und geächtet. Aber kurze Zeit später eröffnete er eine neue Offensive durch Veröffentlichung eines antichristlichen Werkes: „ D a s Z e i t a l t e r d e r V e r n u n f t " (1794 u. 1796), mit dessen Niederschrift er bereits in dem Pariser Gefängnis begonnen hatte, in das er von Robespierre geworfen worden war. Dieses Buch ist bemerkenswert als die erste gewichtige Publikation, in der der christliche Erlösungsglaube und die Bibel in freimütiger Sprache ohne jede Verschleierung oder Zurückhaltung angegriffen werden. Die Darstellung ist so gehalten, daß sie auch für die breite Masse verständlich war. Paines Kritik an der Bibel folgt den gleichen Richtlinien wie jene der älteren Deisten. Paine war aber der Erste, der mit Nachdruck auf die Unvereinbarkeit der christlichen Weltanschauung mit dem von der wissenschaftlichen Astronomie begründeten Weltbilde hinweist. „Obwohl die Annahme, daß die von uns bewohnte Welt der einzige bewohnte Himmelskörper sei, nicht einen unverbrüchlichen Artikel des christlichen Systems bildet, ist diese Anschauung doch so eng mit der mosaischen Schöpfungsgesdiichte, der Erzählung von Eva und dem Apfel und deren Gegenstück, dem Tode des Sohnes Gottes, verbunden, daß etwas anderes zu glauben (etwa zu glauben, daß Gott eine Vielheit von Welten, mindestens so zahlreich wie die Sterne, geschaffen habe), das christliche Glaubenssystem kleinlich und lächerlich erscheinen und es im Geiste wie Federn in der Luft zerflattern ließe. Die beidenGlauben finden in dem gleichen Haupte keinen Platz; und wer meint, er glaube beides, hat weder über die eine noch über die andere Theorie wirklich nachgedacht." Als überzeugter Deist, der die Natur als Offenbarung Gottes betrachtet, betonte Paine dieses Argument mit besonderem Nachdruck. Bezugnehmend auf einige Erzählungen des Alten Testaments, heißt es bei ihm: „Wenn wir die Unermeßlichkeit jenes Wesens in Betracht ziehen, welches das unbegreifliche Ganze leitet und regiert, von dem auch die angespannteste Fassungskraft menschlicher Einsicht nur einen Teil zu entdecken vermag, sollten wir uns schämen, solche armseligen Geschichten als Wort Gottes zu bezeichnen." D a s Buch veranlaßte Bischof W a t s o n , einen jener vortrefflichen Gottesgelehften des achtzehnten Jahrhunderts, zu einer 116
Erwiderung, in der er das Recht auf eigenes Urteil und eigene Gedanken zugestand und betonte, daß ein Argument nur durch ein Gegenargument und nicht durch Gewalt beantwortet werden sollte. Seine Gegenschrift hatte den bezeichnenden Titel: „ A p o l o g i e d e r B i b e 1". G e o r g d e r D r i t t e erklärte, er könne nicht einsehen, daß jenes Buch irgendeine Rechtfertigung überhaupt erfordere. Es ist eine schwächliche Verteidigungsschrift, aber bemerkenswert wegen der Konzession, die es den verschiedenen kritischen Auslassungen Paines in bezug auf die Heilige Schrift einräumte — Zugeständnisse, die darauf abzielten, die biblische Lehre von der Unfehlbarkeit abzuschwächen. Zweifellos war es der enormen Verbreitung, die das „ Z e i t a l t e r d e r V e r n u n f t " fand, zuzuschreiben, daß eine „G e sellschaft zur U n t e r d r ü c k u n g literarischer A u s w ü c h s e " beschloß, gegen den Verfasser einzuschreiten. Bei der herrschenden Klasse war Unglauben allgemein verbreitet, aber man hielt strikte an der Anschauung fest, daß Religion für das Volk nötig sei, und jeder Versuch, Unglauben unter den niedrigen Volksschichten zu verbreiten, unterdrückt werden müsse. Man betrachtete Religion als ein wertvolles Instrument, um die Armen und Elenden in Schranken zu halten. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß von den älteren Rationalisten (abgesehen vom Falle W o o l s t o n e ) lediglich einer, und zwar der Lehrer P e t e r A n n e t , wegen seines Versuches, Freidenkertum volkstümlich zu machen, bestraft wurde. Das Urteil zum Pranger und zur Zwangsarbeit wurde wegen Verbreitung „teuflischer Anschauungen" (1763) erlassen. Paine vertrat die Ansicht, das Volk besäße ganz allgemein das Recht, Zugang zu allen neuen Ideen zu erhalten, und seine Schriften waren für die breite Masse bestimmt. Daher mußte sein Buch unterdrückt werden. Bei der 1797 statthabenden Gerichtsverhandlung warf der Richter der Verteidigung ständig Knüppel zwischen die Beine, und der Verleger wurde zu einem Jahre Gefängnis verurteilt. Aber damit hatte die Verfolgung Paine's noch nicht ihr Ende erreicht. Im Jahre 1811 erschien der dritte Band des „ Z e i t a l t e r d e r V e r n u n f t " und der Verlagsbuchhändler E a t o n wurde zu achtzehn Monaten Kerker verurteilt und mußte einmal im Monat am Schandpfahle stehen. Der Richter, Lord E l l e n b o r o u g h , erklärte in seiner Anklagerede: „DieWahrheiten des Buches, welches das Fundament unseres Glaubens bildet, zu leugnen, ist noch nie erlaubt gewesen". Der Dichter S h e l l e y 117
richtete an Lord Ellenborough ein beißendes Schreiben: „Glauben Sie, Mister Eaton, jemand zu Ihrer Religion bekehren zu können, indem Sie ihm sein Leben verbittern? Sie können ihn vielleicht durch Torturen zwingen, ihre Lehrsätze mit den Lippen zu bekennen, aber zum Glauben können Sie ihn nicht bewegen, es sei denn, Sie machten ihm die Lehren glaubwürdig, was vermutlich Ihre Macht übersteigt. Glauben Sie den Gott, den Sie anbeten, durch diese Zurschaustellung Ihres Eifers zu erfreuen? Falls ja, dann wäre der Dämon, dem manche Völker menschliche Hekatomben opfern, weniger barbarisch als die Gottheit der zivilisierten Gesellschaft!" 1819 wurde R i c h a r d C a r l i s l e wegen Herausgabe des „Zeitalter der Vernunft" angeklagt, zu einer hohen Geldstrafe und drei Jahren Gefängnis verurteilt. Da er unfähig war, die Buße zu bezahlen, wurde er drei Jahre im Gefängnis festgehalten. Seine Frau und seine Schwester, die das Geschäft weiterführten und das Buch verkauften, wurden kurz darauf ebenfalls mit Geldbuße und Gefängnis bestraft, und das gleiche Schicksal erlitten eine ganze Anzahl Angestellter. W e n n Paines Verleger in England zu leiden hatte, so litt der Verfasser selbst in Amerika, wo Bigotterie alles tat, um ihm die letzten Jahre seines Lebens zu verbittern. In Deutschland begann das Zeitalter der Aufklärung in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. In den meisten deutschen Staaten war das Denken wesentlich unfreier als in England: U n t e r der Herrschaft des Vaters F r i e d r i c h d e s G r o ß e n wurde der Philosoph W o 1 f f aus Preußen verbannt, weil er den sittlichen Lehren des chinesischen Weisen Confucius Lob gespendet hatte, ein Lob, das als Reservatrecht des Christentums betrachtet wurde. Wolff kehrte nach der Thronbesteigung Friedrichs zurück, unter dessen toleranter Regierung Preußen zum Asyl für alle Schriftsteller geworden war, die wegen ihrer Anschauungen in den benachbarten Staaten zu leiden hatten. Friedrich vertrat die Ansicht, die wir bei so vielen Rationalisten dieser Zeit finden, und die heute noch weit verbreitet ist, daß Freidenkertum für die Menge nicht erstrebenswert sei, weil die breiteMasse unfähigwäre, philosophisch zu denken. Deutschland stand unter dem Einfluß der englischen Deisten, der französischen Freidenker sowie S p i n o z a s ; aber die deutsche rationalistische Literatur dieser Periode enthält keine neuen oder interessanten Gedanken. Die Namen von E d e l m a n n oder B a h r d t mögen hier Erwägung finden. Die Werke Edelmanns, 118
der sich gegen die göttlichen Eingebungen der Bibel auflehnte, wurden in verschiedenen Städten verbrannt, und der Gelehrte sah sich gezwungen, in Berlin bei Friedrich Schutz zu suchen. Bahrdt war angriffslustiger als irgendein anderer Schriftsteller jener Zeit. Ursprünglich Prediger, kehrte er nach und nach dem orthodoxen Glauben den Rücken. Seine Übersetzung des Neuen Testaments beendete plötzlich seine geistliche Laufbahn. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er als Gastwirt. Seine Schriften, z . B . seine populären „ B r i e f e ü b e r d i e B i b e 1", müssen eine beträchtliche Wirkung ausgeübt haben, wenn man nach dem H a ß urteilt, den sie unter den Theologen erregten. Aber nicht in direkter rationalistischer Propaganda, sondern in Dichtkunst und Philosophie machte sich die deutsche Aufklärung in diesem Jahrhundert bemerkbar. Der berühmteste Dichter G o e t h e (der stark unter Spinozas Einfluß stand) sowie S c h i l l e r hielten sich der Kirche fern, und gleich der gesamten literarischen Strömung dieser Zeit setzten auch sie sich in ihren Schriften für uneingeschränkte Freiheit menschlicher Erfahrung ein. Ein deutscher Denker erschütterte die ganze Welt — der Philosoph K a n t . Seine „Kritik der reinen Vernunft" wies nach, daß jeder Versuch, mittels des Lichtes des Intellekts die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, uns in hoffnungsloe Widersprüche verwickelt. Seine vernichtende Kritik des Arguments einer Planung und der natürlichen Religion, war umfassender als Humes Kritik. So andersartig sein System auch war, so führte ihn seine Philosophie doch zu den gleichen praktischen Folgerungen wie die Theorien Lockes, nämlich, daß unser Wissen sich allein auf Erfahrung gründet. Es trifft zu, daß er später im Interesse der Ethik versuchte, den lieben Gott, den er durch die Vordertür hinauskomplimentiert hatte, durch ein Hintertürchen wieder einzuschmuggeln, aber dieser Versuch erwies sich nicht als erfolgreich. Kants Philosophie — die zu neuen spekulativen Theorien führte, in denen der N a m e Gottes benutzt wurde, um etwas von der deistischen A u f f a s s u n g völlig abweichendes zu bezeichnen — war ein weiterer, bedeutsamer Schritt zur Erlösung der Vernunft aus dem Joche der Autorität.
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Siebentes
Kapitel
DER FORTSCHRITT DES
RATIONALISMUS
Neunzehntes Jahrhundert Der Grundstein moderner Wissenschaft, feierlich angekündigt durch die Forschungen von Kopernikus, wurde im siebzehnten Jahrhundert gelegt, dem wir den Beweis für die kopernikanische Theorie, die Entdeckung der Schwerkraft, die Entdeckung des Blutkreislaufes und die Begründung moderner Chemie und Physik verdanken. Den Astronomen gelang es, die wahre Natur der Kometen zu enträtseln, die von nun an nicht mehr als Zeichen himmlischen Zornes gedeutet werden konnten. Aber es verstrichen noch mehrere Generationen, ehe die Wissenschaft in den protestantischen Ländern ungewollt zum Erzfeind der Gottesgelehrsamkeit wurde. Bis ins neunzehnte Jahrhundert handelte es sich nur um vereinzelte wissenschaftlich erwiesene Tatsachen, wie etwa die Bewegung der Erde, die mit der Heiligen Schrift in Konflikt gerieten, und es war verhältnismäßig leicht, diese Widersprüche durch eine neue Auslegung der geheiligten Texte zu erklären. Doch es häuften sich immer zahlreichere bemerkenswerte Tatsachen, die, obwohl auch die Wissenschaft für sie noch keine Erklärung zu geben vermochte, dennoch die Glaubwürdigkeit der biblischen Geschichte zu bedrohen schienen. Falls die Geschichte von N o a h s Arche und der Sintflut stimmte, wie kam es, daß Tiere, die weder schwimmen noch fliegen konnten, Amerika und die Inseln der Ozeane bewohnten? U n d was hatte es mit den neuen Arten auf sich, die ständig in der Neuen Welt entdeckt wurden und in der alten fehlten? Woher stammten die Kängurus Australiens? Die einzige mit der traditionellen Theologie vereinbare Erklärung schien C u v i e r s Hypothese zahlreicher neuer Schöpfungsakte nach der Sintflut zu bieten. Die naturwissenschaftlichen Forscher des achtzehnten Jahrhunderts hatten am meisten unter den Angriffen von autoritativer Seite zu leiden. L i n n é erlebte das in Schweden, B u f f o n in Frankreich. 120
Buffon sah sich gezwungen, die von ihm in seiner „ N a t u r g e s c h i c h t e " (1749) aufgestellten Hypothesen über die Entstehung der Erde zu widerrufen und zu erklären, daß er unverbrüchlich an die biblische Schöpfungsgeschichte glaube. Z u Beginn des neunzehnten Jahrhunderts arbeitete L a p l a c e auf Grund der Nebularhypothese die Mechanik des Weltalls aus. Seine Ergebnisse machten, wie er Napoleon gegenüber erklärte, die Hypothese eines Gottes überflüssig, eine Behauptung, die natürlich auch auf schärfsten Widerstand stieß. Nach seiner Theorie wäre ein langwährender physikalischer Prozeß erforderlich gewesen, bevor sich die Erde und das Sonnensystem zu bilden vermocht hätten; das war an sich nicht so verhängnisvoll, denn mit ein wenig Scharfsinn ließ sich trotzdem die Glaubwürdigkeit des ersten Kapitels der Genesis aufrechterhalten. A l s ein weit gefährlicherer Feind der biblischen Schöpfungsgeschichte und der Sintflut erwies sich die Geologie. Die Theorie des französischen Naturforschers C u v i e r , derzufolge die Erde wiederholte Katastrophen zu überstehen gehabt hätte, deren jede einen neuen Schöpfungsakt bedingte, half wenigstens vorübergehend den Glauben an eine göttliche Einwirkung zu retten und obwohl L y e l l in seinen „ G r u n d l a g e n d e r G e o l o g i e " (1830) die Annahme von Katastrophen anzweifelte und den Nachweis führte, daß sich die Erdgeschichte durch die gewöhnlichen Vorgänge, die wir ständig in Tätigkeit sehen, erklären ließe, beharrte Cuvier doch auf der Hypothese einander folgender Scböpfungsakte. In seinem letzten 1863 erschienenen Werke ,,G e o l o g i s c h e B e w e i s e f ü r d a s A l t e r d e s M e n s c h e n " erbrachte L y e l l den endgültigen Nachweis, daß das Menschengeschlecht die Erde bereits seit erheblich längerer Zeit bewohnte,als es mit den Berichten der Heiligen Schrift vereinbar wäre. Diese Feststellung konnte man vielleicht, sofern es sich um die Erschaffung der Erde, der Pflanzenwelt und der niederen Tiere handelte, mit den Ergebnissen der Forschung dadurch versöhnen, daß man das W o r t „ T a g " in der jüdischen Schöpfungsgeschichte als Bezeichnung einer beliebig langen Zeitperiode deutete. Aber im Falle der Erschaffung des Menschen war dieser Ausweg unmöglich, da hier die Zeitbestimmung eindeutig ausgesprochen wird. Ein englischer Geistlicher des siebzehnten Jahrhunderts hatte in scharfsinniger Weise berechnet, daß der Mensch von der Dreieinigkeit am 28. Oktober des Jahres 4004 a. C . um 9 U h r morgens erschaffen worden sei, und keine Umrechnung der biblischen 121
Zeitangaben vermochte dieses Ereignis erheblich weiter zurückzudatieren. Andere Beweise bekräftigten die Schlußfolgerungen aus der Geologie, aber die Geologie allein genügte, die historische Wahrheit der jüdischen Schöpfungslegende unwiderruflich ad absurdum zu führen. D a s einzige Mittel zu ihrer Rettung bestand in der Annahme, daß Gott irreführende Beweismittel geschaffen hätte mit der ausdrücklichen Absicht, den Menschen zu täuschen. Geologische Forschung erschütterte zwar die Unfehlbarkeit der Bibel, aber ließ die Erschaffung irgendeines prähistorischen A d a m s und einer Eva immer noch als annehmbare Hypothese gelten. Hier jedoch mischte sich die Zoologie ein und entschied über den Ursprung des Menschen. Es war eine alte Mutmaßung, daß die höheren Lebensformen einschließlich des Menschen sich aus niedrigeren Formen entwickelt hätten, und fortschrittliche Denker waren zu dem Schlüsse gelangt, daß das Universum, wie wir es kennen, das Ergebnis eines kontinuierlichen, durch keine übernatürliche Einmischung unterbrochenen und durch einheitliche Naturgesetze erklärbaren Prozesses sei. Aber während die Herrschaft von Naturgesetzen im Bereiche der anorganischen Materie fest begründet zu sein schien, konnte die Welt des Lebens als ein Gebiet betrachtet werden, auf dem die Hypothese göttlicher Eingriffe vollkommen in Geltung bliebe, solange es der Wissenschaft nicht gelänge, zufriedenstellende Ursachen für die Entstehung der verschiedenen Arten von Tieren und Pflanzen aufzufinden. Die Veröffentlichung von D a r w i n s „Ursprung der Arten" im Jahre 1859 bedeutete daher einen Wendepunkt, nicht nur auf wissenschaftlichem Gebiete, sondern auch in dem Streite zwischen Wissenschaft und Theologie. Beim Erscheinen dieses Buches erklärte Bischof W i l b e r f o r c e mit vollem Recht, „das Prinzip einer natürlichen Auslese sei mit dem Worte Gottes unvereinbar". Die Theologen in Deutschland, Frankreich und England stimmten ein lautes Wehgeschrei über die drohende Entthronung der Gottheit an. D i e Veröffentlichung von Darwins Werk „Die Abstammung des Menschen" im Jahre 1871, die den Beweis der Abstammung des Menschengeschlechts von niederen tierischen Vorfahren mit meisterlichem Nachdruck verficht, verstärkte diese Wehklage. Die Bibel erklärt: Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen, Darwin erklärt: der Mensch stamme von einem Affen ab. Die G e f ü h l e der orthodoxen Welt lassen sich in den Worten Mister G l a d s t o n e s zusammenfassen: „ A u f 122
Grund der sogenannten Evolution wird Gott der Mühe der Schöpfung enthoben und im N a m e n unwandelbarer Gesetze vom Regieren der Welt entlastet". Es handelte sich um eine Amtsenthebung, die, wie S p e n c e r bemerkt, mit Newtons Entdeckung der Schwerkraft ihren A n f a n g genommen hat. Obwohl Darwin, wie heute anerkannt wird, keine eindeutige Erklärung für die Entstehung der Arten zu geben vermochte, erschütterten seine Forschungen doch die übernatürliche Theorie und bestätigten die Ansicht zahlreidier kluger Köpfe, daß die Entwicklung sowohl in der organischen als auch in der anorganischen Welt ein kontinuierlicher V o r g a n g sei. Ein weiterer N a g e l wurde dadurch in den Sarg von Schöpfung, Sündenfall und der Lehre von der Erlösung getrieben, die sich nur noch dadurch retten ließen, daß man sie von der jüdischen Fabel, auf der sie aufgebaut worden waren, unabhängig machte. Von noch größerer Bedeutung war es vielleicht, daß der sogenannte Darwinismus, die Theorie von der Anpassung der Mittel an den Zweck in der N a t u r durch eine außenstehende und mit unendlicher Macht begabte Intelligenz in Mißkredit brachte. Die Hinfälligkeit des Arguments von der Planung als eines Beweises für die Existenz Gottes war bereits durch die Logik Humes und Kants enthüllt worden; aber die Beobachtung der natürlichen Lebensvorgänge zeigte, daß gerade die Analogie von N a t u r und Kunst, auf die sich dieses Argument stützt, der Kritik nicht standhält. Die Untauglichkeit dieser Analogie ist in einleuchtender Weise von einem deutschen Philosophen F r i e d r i c h A l b e r t L a n g e dargelegt worden. „Wenn ein Mensch, um einen Hasen zu schießen", so heißt es bei Lange in seiner „ G e s c h i c h t e d e s M a t e r i a l i s m i i s", Millionen Gewehrläufe auf einer großen Heide nach allen beliebigen Richtungen abfeuerte; wenn er, um in ein verschlossenes Zimmer zu kommen, sich 10 000 beliebige Schlüssel kaufte, und alle der Reihe nach versuchte; wenn er, um ein H a u s zu haben, eine Stadt baute und die überflüssigen Häuser dem Wind und Wetter überließe: so würde wohl dergleichen niemand zweckmäßig nennen, und noch viel weniger würde man irgendeine höhere Weisheit, verborgene Gründe und überlegene Klugheit hinter diesem Verfahren vermuten. Aber dies ist der W e g , den die N a t u r geht. Ihre Verschwendung bei der Erzeugung von Leben ist grenzenlos. Für die Hervorbringung eines Lebens opfert sie unzählige Keime. Der Endzweck wird in einem Falle unter tausend erreicht; die Regel sind Vernichtung 123
und Fehlschlag." Falls Verstand mit dieser Fuscherarbeit etwas zu schaffen hätte, könnte es nur ein unendlich winziger Verstand sein. U n d wenn man das Endprodukt als ein W e r k der Planung betrachtet, so kann der Erfinder nur ein Stümper sein. Betrachten wir das menschliche A u g e . Ein berühmter Forscher, H e l m h o l t z , erklärt: „Falls mir ein Optiker ein solches Instrument brächte, würde ich es ihm mit Vorwürfen wegen der Unzulänglichkeit seiner Arbeit zurückschicken, und mein G e l d wieder verlangen." Darwin zeigte, wie sich dieses Phänomen als ein unbeabsichtigter durch den K a m p f ums D a s e i n verursachter V o r g a n g erklären ließe. D i e Erscheinungen der N a t u r bilden ein System von nebeneinander existierenden Einzeldingen und folgen aufeinander nach unwandelbaren Gesetzen. Diese verhängnisvolle Behauptung wurde zu A n f a n g des neunzehnten Jahrhunderts zu einem wissenschaftichen A x i o n . M i U bezeichnete- es 1843 (in seinem „ S y s t e m d e r L o g i k " ) als das Fundament, auf dem wissenschaftliche Forschung beruhe. Es bedeutet, daß in jedem Augenblick der Z u s t a n d des gesamten Weltalls die W i r k u n g des Z u s t a n d e s in dem vorhergehenden Augenblicke sei; die kausale Aufeinanderfolge zwischen zwei Zuständen wird nie durch einen willkürlichen Eingriff unterbrochen, oder die Beziehung zwischen Ursache und W i r k u n g abgeändert. Verschiedene alte griechische Philosophen waren bereits von diesem G r u n d satz überzeugt; die, von moderner Wissenschaft auf allen Gebieten geleistete Arbeit scheint eine Bestätigung dieser A n nahme zu liefern. A b e r man braucht es nicht in einer so absoluten Form zu behaupten. J ü n g s t zeigt sich bei Wissenschaftlern die N e i g u n g , dieses A x i o m mit größerer Zurückhaltung und weniger dogmatisch anzuwenden. Sie erkennen an, daß es einfach ein Postulat sei, ohne das ein wissenschaftliches Verständnis des Weltalls unmöglich wäre, sind aber geneigt, es nicht als ein Gesetz der Kausalität herauszustellen — denn die Idee der Kausalität führt ins Gebiet der Metaphysik — sondern als eine allgemeine Erfahrungstatsache. A b e r sie sind g e n a u so wenig; geneigt, A u s n a h m e n von dieser Übereinstimmung der Erfahrung zuzugestehen, wie ihre V o r g ä n g e r geneigt waren, A u s nahmen von dem G e s e t z der Kausalität anzuerkennen. D e r Entwicklungsgedanke ist nicht nur auf die N a t u r , sondern auch auf das menschliche D e n k e n und die Geschichte der Zivilisation einschließlich D e n k e n und Religion angewandt worden. Der erste, der den Versuch unternahm, diese Methode auf das 124
gesamte Universum auszudehnen, war kein Vertreter der Naturwissenschaft, vielmehr der Metaphysiker H e g e l . Seine außerordentlich schwierige Philosophie hat einen so weit verbreiteten Einfluß auf das Denken erzielt, daß ein paar W o r t e über deren Tendenz gesagt werden müssen. Hegel faßte die gesamte Existenz als, wie er sich ausdrückte, die „absolute Idee" auf, die weder an Raum noch an Zeit gebunden, durch das Gesetz ihres Seins gezwungen ist, sich selbst im Prozeß der Welt, zuerst im Aus-sich-heraustreten in der Natur zu manifestieren, und sich dann ihrer selbst im denkenden Subjekt als Geist bewußt zu werden. Man bezeichnet daher das Hegeische System als „Absoluten Idealismus". Die Anziehungskraft, welche diese Philosophie ausübte, war wahrscheinlich im hohen Maße durch die Tatsache bedingt, daß sie mit dem Denken des neunzehnten Jahrhunderts insofern in Harmonie stand, als sie den Prozeß der Welt, sowohl in Natur wie in Geist, als eine notwendige Entwicklung vom Niederen zum Höheren auffaßte. In dieser Hinsicht war Hegels Vision in der Tat begrenzt. Er behandelt diesen Prozeß, als wäre er praktisch bereits abgeschlossen, und zieht die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Entwicklung in der Zukunft, dem Denker seiner eigenen Zeit ihre Aufmerksamkeit zugewandt hatten, überhaupt nicht in Betracht. Aber hier interessiert uns die Tatsache, daß, obwohl Hegels System „idealistisch" ist und die Erklärung des Universums im Denken und nicht in der Materie findet, es so mächtig wie irgendein materialistisches System danach strebt, orthodoxen Glauben überflüssig zu machen. Freilich haben einige diese Philosophie als eine Stütze des Christentums in Anspruch genommen. Eine gewisse Berechtigung für diese Auffassung erscheint dadurch gegeben, daß nach Hegels Ansicht der christliche Glaube, als die höchste Religion, gewisse Lehrsätze enthält, die, freilich unvollkommen, einige der Gedanken der höchsten Philosophie — seiner eigenen nämlich — zum Ausdruck bringen; dazu kommt noch die Tatsache, daß Hegel bisweilen von der „absoluten Idee" spricht, als wäre sie eine Person, obwohl Persönlichkeit eine mit seiner Konzeption unverträgliche Einschränkung bedeuten würde. Doch es genügt die Bemerkung, daß, welchen Wert er auch dem Christentum beimaß, er es von dem übergeordneten Standpunkt einer rein intellektuellen Philosophie, nicht als eine besondere Offenbarung der Wahrheit, sondern als eine gewisse Annäherung an die Wahrheit betrachtete, welche Philosophie einzig und allein zu erreichen vermag. Man kann auch 125
mit einiger Zuversicht behaupten, daß jeder, der unter Hegels Zauberbann gerät, empfindet, daß er im Besitz einer Theorie des Universums ist, die ihn von der Notwendigkeit oder dem Streben nach einer offenbarten Religion entbindet. Hegels Einfluß in Deutschland, Rußland und anderswo hat jedenfalls unorthodoxes Denken in höchstem Maße gefördert. Hegel war nicht aggressiv, er war überlegen. Sein französischer Zeitgenosse C o m t e , der gleichfalls ein umfassendes System schuf, verwarf dieTheologie als eine überalterte Methode zur Erklärung des Universums auf das Nachdrücklichste. Er verwarf aber ebenso energisch auch die Metaphysik sowie alles andere, wofür Hegel sonst noch eintrat, als gleich nutzlos mit der Begründung, daß die Metaphysiker nichts erklären, sondern lediglich Phänomene in abstrakten Ausdrücken beschreiben, und daß alle Fragen über den Ursprung der Welt und weshalb sie existiere, jenseits der Reichweite der Vernunft lägen. Theologie sowohl wie Metaphysik sind durch die Wissenschaft — durch die Erforschung von Ursachen und Wirkungen — überflüssig gemacht worden. Der künftige Fortschritt der Gesellschaft wird von der wissenschaftlichen Erfassung der Welt, die sich auf die positiven Daten deT Erfahrung beschränkt, geleitet werden. Comte war überzeugt, daß Religion eine soziale Notwendigkeit sei, und um den Platz der theologischen Religionen, die nach seiner Ansicht dem Untergange geweiht wären, auszufüllen, erfand er eine neue Religion — die R e l i g i o n d e r H u m a n i t ä t . Sie unterscheidet sich von den großen Religionen der Welt dadurch, daß sie keine übernatürlichen oder irrationalen Glaubensartikel enthält.. D a s war der Grund, weshalb seine Lehre nur wenige Anhänger fand. Trotzdem hat die „ P o s i t i v e P h i l o s o p h i e " Comtes nicht an letzter Stelle in England großen Einfluß ausgeübt, wo Comtes Lehre besonders von Mr. F r e d e r i c H a r r i s o n propagiert wurde, der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als einer der unermüdlichsten Vorkämpfer für die Sache der Vernunft gegen den Autoritätsglauben hervortrat. Ein anderes umfassendes System wurde von dem Engländer H e r b e r t S p e n c e r entworfen. Gleich Comte's Lehre basiert dieses System auf der Wissenschaft und versucht, beginnend mit einem von Nebel erfüllten Weltall, die gesamte erkennbare Welt, sowohl die psychische und soziale als aüch die physische, daraus abzuleiten. Sein „ S y s t e m d e r s y n t h e t i 126
s c h e n P h i 1 O s o p h i e" (10 Bände, 1862—18%) trug vielleicht mehr als irgendein anderes Werk dazu bei, den Entwicklungsgedanken in England populär zu machen. Noch eine andere moderne Erklärung der Welt muß ich erwähnen, nämlich die des Jenenser Zoologen Ernst H a e c k e 1, den man als den Propheten der Entwicklungstheorie bezeichnen kann. Seine „ N a t ü r 1 i ch e S c h ö pf u n g sg e s c h i c h t e " (1868)), die dasselbe Thema wie Darwins Abstammungslehre behandelt, erlangte eine enorme Verbreitung und wurde, wie ich glaube, in 14 Sprachen übersetzt. Seine „ W e 11 r ä t s e 1" (1899) erfreuten sich der gleichen Volkstümlichkeit. In Übereinstimmung mit Spencer lehrte Haeckel, daß der Grundsatz der Entwicklung nicht nur für die Naturgeschichte, sondern in gleichem Maße auch für die menschliche Zivilisation und für das menschliche Denken Geltung besäße. Er unterscheidet sich von Spencer und Comte dadurch, daß er keine unerkennbare Wirklichkeit hinter den Naturerscheinungen zuläßt. Haeckels Widersacher haben seine Theorie als Materialismus abgestempelt, aber das ist ein Irrtum. Gleich Spinoza betrachtet er Materie und Geist, Leib und Denken, als zwei untrennbare Teile letzter Realität, die er Gott nennt; de facto identifiziert er seine Philosophie mit der Spinoza's. U n d in logischer Fortentwicklung faßt er die materiellen Atome als denkend auf. Seine Vorstellung von der physikalischen Welt beruht auf der alten mechanistischen A u f f a s s u n g der Materie, die in jüngster Zeit inMißkredit geraten istAber Haeckel's M o n i s m u s,") wie er seine Lehre bezeichnete, ist später umgestaltet worden, und verspricht in ihrer neuen Form auf nachdenkliche Menschen in Deutschland starken Einfluß auszuüben. Ich werde noch an anderer Stelle auf diese monistische Bewegung zurückkommen. Es war ein fundamentaler Grundsatz Comte's, daß menschliches Handeln und menschliche Geschichte genau so strikt wie die Natur dem Kausalitätsgesetz unterworfen seien. 1855 erschienen in England zwei psychologische Werke ( B a i n ' s „ S i n n e u n d I n t e l l e k t " und S p e n c e r ' s „ P r i n z i p i e n d e r P s y c h o l o g i e"), welche die Meinung vertraten, daß unsere Willenshandlungen restlos vorherbestimmt seien, als unvermeidliche Folge einer Kette von Ursachen und NS^irkungen. Aber einen weit tieferen Eindruck rief zwei Jahre später der erste Band von * ) V o m Griechischen m o n o s = alle n, einzig.
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B u c k l e ' s „ G e s c h i c h t e d e r Z i v i l i s a t i o n in E n g l a n d " (ein Werk von wesentlich geringerem dauernden Werte) hervor, in dem Buckle versucht, dieses Prinzip auf die Geschichte anzuwenden. Die Menschen handeln auf Grund von Motiven; ihre Motive sind das Resultat vorangehender Tatsachen; so daß, „falls wir mit der Gesamtheit alles Vorhergehenden und mit sämtlichen Gesetzen ihrer Beweisgründe vertraut wären, wir mit unbeirrbarer Gewißheit die Gesamtheit der unmittelbaren Resultate vorauszusagen vermöchten." Die Geschichte ist also eine ununterbrochene Kette von Ursachen und Wirkungen. Zufall ist ausgeschlossen; Zufall ist lediglich ein Eingeständnis der Unzulänglichkeit unseres Wissens. Mysteriöse und von der Vorsehung bewirkte Eingriffe sind auszuschließen. Buckle bejaht zwar Gottes Existenz, schaltet ihn aber aus der Geschichte aus; sein Buch führt gegen die Theorie, daß die menschlichen Handlungen nicht dem Gesetze der allgemeinen Kausalität unterworfen seien, einen drohenden Schlag. Die Wissenschaft der Anthropologie hat in den letzten Jahren allgemeines Interesse erregt. Nachforschungen über die Lebensbedingungen des Urmenschen zeigen (unabhängig vom Darwinismus) deutlich, daß nichts für die Ansicht spricht, daß der Mensch von einer höheren auf eine tiefere Entwicklungsstufe herabgesunken sei; der Augenschein spricht für eine allmähliche Entwicklung aus dem bloßen Tierzustande. Auch der Ursprung der Religionen wurde mit einem für Orthodoxie höchst beunruhigenden Ergebnis untersucht. Die Forschungen von Vertretern der Anthropologie und vergleichenden Religionsgeschichte — Männer wie T y l o r , R o b e r t s o n , S m i t h und F r a z e r — deuten darauf hin, daß sich für mysteriöseldeen, Dogmen und Riten, die für eine Besonderheit der christlichen Offenbarung gehalten wurden, Analogien in den rohen Ideenkreisen primitiver Religionen nachweisen lassen. So könnte man das Mysterium des Abendmahls mit dem heidnischen Ritus der Verspeisung eines toten Götzen vergleichen. Der Tod und die Wiederauferstehung eines Gottes in menschlicher Gestalt, die den Angelpunkt des Christentums bilden, sowie die wunderbare Geburt eines Heilands sind Züge, die das Christentum mit heidnischen Religionen gemeinsam hat — solche Schlußfolgerungen sind im höchsten G r a d e unerbaulich. Sie sind freilich, das sei betont, an sich noch kein Beweis gegen die Behauptungen der landläufigen Theologie. Man könnte z. B. einwenden, daß solche Vorstellungen als Teil der christlichen Offenbarung 128
eine neue Bedeutung erlangten, und daß Gott sidi weise vertrauter Glaubenssätze bediente, die er selbst, obwohl falsch und zu grausamen Gebräuchen führend, unleugbar gestattet hat — um einen Plan der Erlösung auszuarbeiten, der den Vorurteilen des Menschen gerecht wird. Vielleicht befriedigt eine solche Erklärung gewisse Leute, aber man möchte annehmen, daß die Mehrzahl der wenigen Menschen, die sich mit den modernen Untersuchungen über den Ursprung religiöser Glaubenssätze beschäftigen, die Grenzen entdecken werden, welche das Christentum von jedem anderen Bekenntnisse scheiden. Das allgemeine Ergebnis des Fortschrittes der Wissenschaften einschließlich der Anthropologie war die Schaffung eines einheitlichen Weltbildes, in welchem das auf den Anschauungen eines unwissenschaftlichen Zeitalters und auf der anmaßenden Annahme, das Universum sei eigens für den Menschen geschaffen worden, beruhende christliche Gebäude keinen passenden oder vernünftigen Platz findet. W e n n P a i n e das bereits vor hundert Jahren dunkel empfand, so tritt diese Tatsache heute weit klarer in Erscheinung. Aber nicht alle Köpfe werden von diesem Widersinn im gleichen Maße beeindruckt. Viele geben zwar zu, •daß sich die von der Wissenschaft gelieferten Beweise für die biblischen Überlieferungen über den Menschen der Vorzeit als falsch erwiesen haben, aber dieser Widerspruch zwischen dem wissenschaftlichen und dem theologischen Weltbild berührt sie nicht weiter. Nach der Ansicht dieser Leute hat die Wissenschaft lediglich einige vorgeschobene Posten erstürmt, die ohne besonderen Nachteil preisgegeben werden können. Sie hat auch die alte orthodoxe Auffassung von derUnfehlbarkeit der Bibel unhaltbar gemacht und die Lehre von der Schöpfung und dem Sündenfall zerstört. Trotzdem könnte das Christentum seinen Anspruch auf Übernatürlichkeit aufrecht erhalten, falls die naturwissenschaftlichen Beweise die einzigen Tatsachen wären, mit denen er kollidierte; man müßte lediglich die Theorien von der Autorität der Bibel entsprechend abändern, sowie die Theorie von der Erlösung einer Revision unterziehen. Man könnte auch einwenden, das Gesetz universaler Kausalität sei eine aus der Erfahrung geschöpfte Hypothese, die Erfahrung umfasse aber auch die Zeugnisse der Geschichte und müsse daher die klaren Beweise für die wunderbaren Geschehnisse im Neuen Testament in Betracht ziehen (Beweise die ihre Gültigkeit behielten, selbst wenn die Heilige Schrift nicht inspiriert wäre). Ein solcher 9
B u i y , Gedankenfreiheit.
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Standpunkt ließe sich auf dem gefestigten Boden historischer Tatsachen gegenüber Verallgemeinerungen der Wissenschaften verteidigen. Dieses solide Fundament ist jedoch — von historischer Kritik unterminiert — zusammengestürzt, und das bedeutet einen weit tötlicheren Schlag, als die auf gesundem Menschenverstand beruhende Kritik des achtzehnten Jahrhunderts. Die methodische Nachprüfung der in der Bibel enthaltenen Berichte, bei der diese Berichte genau so scharf unter die Lupe genommen werden wie jedes rein menschliche Dokument, ist das Werk des neunzehnten Jahrhunderts. Gewisse Vorarbeiten waren bereits geleistet worden. In erster Linie hatten sidi S p i n o z a (vgl. S. 95 ff) und ein französischer Forscher S i m o n , dessen Bücher verbrannt wurden, als Pioniere hervorgetan. D i e moderne Kritik des Alten Testaments wurde von A s t r u c (Professor der Medizin in Paris) eingeleitet, der ein wichtiges Hilfsmittel entdeckte, um die vom Verfasser der Genesis benutzten verschiedenen Dokumente voneinander zu unterscheiden (1753). Sein deutscher Zeitgenosse R e i m a r u s , der sich um die Forschung des Neuen Testaments verdient machte, kam bereits zu der modernen Schlußfolgerung, daß Jesus gar nicht die Absicht hegte, eine neue Religion zu begründen; er erkannte auch als erster, daß das Johannes-Evangelium ein ganz anderes Bild von Jesus entwirft wie die übrigen Evangelisten. Die von deutschen Gelehrten auf Homer und auf die Berichte der alten römischen Gesdiichte angewandten kritischen Methoden wurden im neunzehnten Jahrhundert auch auf die Untersuchung der Bibel ausgedehnt. Diese Arbeit ist in der Hauptsache in Deutschland dürchgeführt worden. Die alte Überlieferung, derzufolge der P e n t a t e u c h von M o s e s verfaßt worden sei,ist völlig in Mißkredit geraten. Alle, die sich mit dieser Frage beschäftigten, sind ausnahmslos zu der Überzeugung gelangt, daß die fünf Bücher Moses aus einer Anzahl verschiedener, aus ganz verschiedenen Zeiten stammender Dokumente zusammengesetzt worden sind, dessen ältestes in das neunte Jahrhundert und dessen jüngstes in das fünfte Jahrhundert a. C . zurückdatiert werden müssen, mit verschiedenen kleinen Zusätzen aus noch jüngerer Zeit. Einen wichtigen, wenn auch unbeabsichtigten Beitrag zu dieser Enthüllung hat ein Engländer C o 1 e n s o , Bischof von Natal, beigesteuert. Man war zu der Annahme gelangt, daß das älteste der Dokumente, wie man festzustellen vermochte, eine in der Genesis Kapitel 1 beginnende Erzählung wäre; aber es ergab sich die Schwierigkeit, 130
daß diese Erzählung in engster Beziehung zu der Gesetzgebung im dritten Buche Moses stünde, die nachweislich dem fünften Jahrhundert entstammte. 1862 veröffentlichte C o 1 e n s o den erstenTeil seiner Arbeit „ D e r P e n t a t e u c h u n d d a s B u c h J o s u a k r i t i s c h b e t r a c h t e t " . Seine Zweifel an der W a h r heit der Geschichte des Alten Testaments waren von einem getauften Zulu erweckt worden, der die gescheite Frage stellte, ob er, Colenso, wirklich an die Geschichte von der Sintflut und die Behauptung glaube: „daß alle Säugetiere und Vögel sowie das kriechende Gewürm der Erde, groß und klein, aus heißen und kalten Ländern, Paar für Paar in der Arche Noah's Platz gefunden hätten? U n d ob Noah für sie alle, sowohl für die Raubtiere und Raubvögel als auch für die übrigen Geschöpfte Nahrung zusammengetragen habe?" Der Bischof machte sich daraufhin an die Arbeit, die Zuverlässigkeit der offenbarten Büdier nachzuprüfen, indem er die zahlenmäßigen Angaben, die sie enthielten, nachrechnete. Die Ergebnisse waren für diese Angaben als historische Berichte verhängnisvoll. Ganz abgesehen von allen Wundern (deren Möglichkeit Colenso nicht in Zweifel zog) zeigte er, daß die gesamte Geschichte über das Leben der Israeliten in Ägypten und in der Wüste von Abgesdimacktheiten und Unmöglichkeiten strotzte. Colenso's W e r k löste in England einen Entrüstungssturm aus — man bezeichnete ihn als den „gottlosen Bischof"; aber ganz anders wurde Colenso's Arbeit auf dem Kontinent gewürdigt. Die Teile des Pentateuchs und des Buches Josua, von denen Colenso den Nachweis erbrachte, daß sie unhistorisch seien, paßten genau zu der Erzählung, die solche Verwirrung angestiftet hatte; die Kritiker wurden von des Bischofs Forschungsergebnissen zu dem Schlüsse gedrängt, daß diese Büdier gleich den levitischen Gesetzen, mit denen sie in engster Beziehung stehen, dem fünften Jahrhundert entstammten. Eines der überraschendsten Resultate der Untersuchungen des Alten Testaments war, daß die Juden mit ihren Überlieferungen sehr willkürlich verfuhren. Jedes der aufeinanderfolgenden Dokumente, die später zu einer Einheit verwoben wurden, war von Menschen geschrieben worden, die eine vollkommen selbständige Stellung in Bezug auf die älteren Überlieferungen einnahmen, und da sie nicht auf den Gedanken kamen, daß die Dokumente göttlichen Ursprungs wären, beugten sie sich auch nicht vor deren Autorität. Erst den Christen blieb es vorbehalten, unterschiedslos die gesamte Masse dieser jüdischen 9'
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Dokumente, die nicht nur ihrer Tendenz nach widerspruchsvoll sind (da sie ja den Geist verschiedener Zeitalter widerspiegeln), sondern sich auch inhaltlich in manchen Punkten widersprechen, mit dem Heiligensdiein der Unfehlbarkeit auszustatten. Die Untersuchung der meisten Bücher des Alten Testaments führte ebenfalls zu Anschauungen, die den orthodoxen Schlußfolgerungen über deren Ursprung und Charakter aufs schärfste zuwiderliefen. In manchen Beziehungen verdanken wir der babylonischen Literatur, die im Verlauf der zweiten Hälfte des Jahrhunderts aufgefunden wurde, ganz neue Erkenntnisse. Eine der ersten (1872) und sensationellsten Entdeckungen war, daß die Juden ihre Geschichte von der Sintflut der babylonischen Mythologie entnommen haben. Die moderne Kritik des Neuen Testaments setzte mit den aufreizenden Arbeiten B a u r ' s und S t r a u ß ' ein, dessen „ L e b e n J e s u " (1835) einen ungeheuren Erfolg erzielte und eine hitzige Diskussion erregte. Strauß lehnt in diesem Buche alles Übernatürliche völlig ab. Diese beiden rationalistischen Denker standen stark unter Hegel's Einfluß. Z u gleicher Zeit legte der klassische Philologe L a d i m a n n den Grundstein für die Kritik des griechischen Textes des Neuen Testaments durch Veröffentlichung der ersten wissenschaftlichen Ausgabe. Seit damals haben 80 Jahre intensiver Forsdiung zu verschiedenen eindeutigen Ergebnissen geführt, die heute Allgemeingut geworden sind. Kein gescheiter Mensch, der sich mit dieser modernen Kritik beschäftigt, kann heute noch auf der überholten Ansicht beharren, daß jede der vier Biographien Jesu eine unabhängige Arbeit und ein unabhängiges Zeugnis für die darin berichteten Tatsachen sei. Heute wird allgemein anerkannt, daß jene Teile, die mehr als einer dieser Biographien gemeinsam und in gleicher Sprache geschrieben sind, auch den gleichen Ursprung haben und nur e i n Zeugnis darstellen. Zweitens wird zugegeben, daß das erste Evangelium weder das älteste, noch daß der Apostel M a t t h ä u s dessen Verfasser sei. Es herrscht auch ziemlich allgemeine Übereinstimmung darüber, daß das Evangelium des M a r k u s als d a s älteste betrachtet werden müsse. Die Autorschaft des vierten Evangeliums, von dem man, ebenso wie von dem ersten, früher annahm, es sei von einem Augenzeugen verfaßt worden, wird immer noch umstritten. Aber selbst die Anhänger der Tradition geben zu, daß die in ihm auf132
gestellte Theorie über Jesus in wesentlichen Punkten von den drei anderen Biographien abweicht. D a s Gesamtergebnis ist, daß sich die Behauptung, es gäbe für das Leben von Jesus Aussagen von einwandfreien Ohrenzeugen, nicht aufrechterhalten läßt. D a s älteste Evangelium ( M a r k u s ) wurde frühestens einige dreißig Jahre nach der Kreuzigung zusammengestellt. Falls ein solcher Beweis als ausreichend betrachtet wird, die übernatürlichen, in jenem Dokumente geschilderten Vorgänge als gesichert anzusehen, dann gibt es wenige übernatürliche Ereignisse, die wir nicht gleichfalls zu glauben berechtigt wären. In der T a t macht ein Interval von dreißig Jahren nur einen geringfügigen Unterschied, wissen wir doch, wie kurze Zeit Legenden benötigen, um sich einzuwurzeln. Im Osten hörte man von Wundern, die sich vorgestern ereignet haben sollen. Die Geburt einer Religion wird stets von einem Legendenkranz umwoben und wie M . S a l o m o n R e i c h n a c h betont, wäre es ein W u n d e r , wenn die Berichte über die Geburt des Christentums unverfälschte Geschichte wären. Ein anderes störendes Resultat unvoreingenommener Nachprüfung der drei ersten Evangelien ist die Tatsache, daß unter der Voraussetzung, die überlieferten W o r t e Jesu seien wahr, er nie an die Stiftung einer neuen Religion gedacht hat. Christus war fest überzeugt, das Weltende stünde unmittelbar bevor. Heute scheint es das Hauptproblem fortschrittlicher Kritik zu sein festzustellen, ob nicht seine ganze Lehre von dieser irrigen Überzeugung bestimmt wurde. Man kann einwenden, daß der Fortschritt der Wissenschaft auf einen der wichtigsten Glaubenssätze, den wir auf Grund autoritärer Behauptung als wahr annehmen sollen, nämlich die Lehre von der Unsterblichkeit, keinerlei Licht geworfen hat. Physiologie und Psychologie haben auf die Schwierigkeit hingewiesen, sich einen denkenden Geist ohne Nervensystem vorzustellen. Manche freilich sind so sanguinisch, anzunehmen, daß möglicherweise nur eine wissenschaftliche Untersuchung psychischer Phänomene Kunde bringen könnte, ob die „Geister" Verstorbener existieren. W ü r d e die Existenz einer solchen Geisterwelt tatsächlich festgestellt, so wäre das vielleicht der schwerste Schlag, den das Christentum je erhalten hätte. Die große Anziehungskraft dieser und verschiedener anderer Religionen beruht ja gerade auf der Verheißung eines künftigen Lebens, von dem wir sonst keinerlei Kenntnis besäßen. W ü r d e daher das Fortleben nacht dem Tode bewiesen und gleich dem
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Gesetz von der Schwerkraft zu einer wissenschaftlichen Tatsache erhoben werden, dann könnte eine offenbarte Religion dadurch ihre Macht einbüßen. D a s Schwergewicht einer offenbarten Religion beruht gerade darauf, daß sie sich nicht auf wissenschaftliche Tatsachen stützt. Soweit ich es zu beurteilen vermag, verlieren Leute, die auf Grund spiritistischer Experimente zu der Überzeugung gelangt sind, daß sie tatsächlich mit den Geistern Verstorbener Verkehr gepflogen haben, und für die diese Unterhaltungen, wie trügerisch die Beweise auch sein mögen, eine durch Erfahrung erwiesene Tatsache sind, jedes Interesse an Religion. Ihr Wissen genügt ihnen, und sie können auf Glauben verzichten. Die Verheerungen, welche Wissenschaft und historische Kritik unter den orthodoxen Glaubensregeln während der letzten hundert Jahre angerichtet haben, wurden nicht etwa demütig hingenommen, und die bei der Abwehr benutzten Waffen bestanden durchaus nicht nur in Rede und Gegenrede. S t r a u ß wurde seiner Professur in Tübingen enthoben und seine Laufbahn zerstört. R e n a n , dessen aufsehenerregendes Buch „ D a s L e b e n J e s u " gleichfalls das Übernatürliche verwarf, verlor seinen Sitz im Collège de France; B ü c h n e r wurde wegen seines Buches „ K r a f t u n d S t o f f " (1855), das sich an ein breites Publikum wandte und die Uberflüssigkeit übernatürlicher Erklärungen des Weltalls nachzuweisen versuchte, aus Tübingen fortgejagt. Ja, es wurde sogar der Versuch unternommen, H a e c k e l aus Jena zu vertreiben. In neuerer Zeit hat ein französischer Katholik, A b b è L o i s y , bemerkenswerte Beiträge zum Studium des Neuen Testaments geliefert und wurde zum D a n k dafür 1907 durch Verhängung des großen Bannes belohnt. L o i s y ist die prominenteste Gestalt einer als M o d e r n i s m u s bezeichneten, rasch anwachsenden Bewegung innerhalb der katholischen Kirche — einer Bewegung, die von manchen für die schwerste Krise in der Geschichte der Kirche seit dem dreizehnten Jahrhundert gehalten wird. Die Modernisten bilden keine organisierte Partei; sie besitzen kein Programm, sie sind der Kirche, deren Überlieferungen und Ideen treu ergeben, aber sie betrachten das Christentum als eine Religion, die sich entwickelt hat, und deren Lebenskraft davon abhängt, daß sie sich weiter entwickelt. Sie bemühen sich die Dogmen im Scheinwerferlicht moderner Wissenschaft und Kritik neu zu interpretieren. D e r Entwicklungsgedanke wurde bereits von C a r d i 134
n a l N e w m a n auf die katholische Theologie angewandt. Newman lehrte, daß eine solche Anwendung eine natürliche und daher berechtigte Entwicklung des primitiven Glaubens sei. Aber er zog nicht die Schlußfolgerungen, welche die Modernisten ziehen, daß der Katholizismus seine Wachstumskraft verlöre und zu Grunde ginge, falls er sich nicht verschiedene Ergebnisse modernen Denkens assimilierte. D a f ü r kämpften sie. Papst P i u s d e r Z e h n t e hat sich die größte Mühe gegeben, die Modernisten zu unterdrücken. Im Juli 1907 erließ er ein Dekret und brandmarkte verschiedene Ergebnisse moderner Bibelkritik, die Loisy in seinen Werken verteidigte. Die beiden grundlegenden Behauptungen, daß die „organische Konstitution der Kirche nicht unveränderlich ist, sondern daß die christliche Gesellschaft gleich jeder menschlichen Gesellschaft einer ständigen Evolution unterworfen ist", und daß „die Dogmen, welche die Kirche als Offenbarungen betrachtet, nicht vom Himmel heruntergeschneit, sondern eine Auslegung religiöserTatsachen sind, zu der der menschliche Verstand in mühsamer Arbeit gelangte" — beide Annahmen, die sich aus Newman's Schriften ableiten lassen, wurden verdammt. Drei Monate später erließ der Papst eine ausführliche Enzyklika mit einem sorgfältigen Studium der modernistischen Anschauungen und befahl verschiedene Maßnahmen zur Ausrottung des Übels. Kein Modernist würde zugeben, daß dieses Dokument seinen Anschauungen gerecht wird. Doch einige der Bemerkungen scheinen ins Schwarze zu treffen. M a n nehme irgendeines ihrer Bücher: „eine Seite könnte von jedem Katholiken unterschrieben werden, aber blättere weiter und du glaubst, du läsest das Werk eines Rationalisten. Bei geschichtlichen Ausführungen erwähnen sie nicht Christi Göttlichkeit; von der Kanzel proklamieren sie diese laut". Ein Mann aus dem Volke wird vielleicht durch diese Versuche den Buchstaben der alten, ihrer ursprünglichen Bedeutung entkleideten Dogmen beizubehalten, in Verwirrung geraten und es für ganz selbstverständlich erachten, daß das Oberhaupt der katholischen Kirche eine klare und eindeutige Stellung gegen die neue Lehre einnimmt, welche für die grundlegenden Doktrinen so verhängnisvoll erscheint. Viele Jahre später haben liberale Geistliche der protestantischen Kirchen genau dasselbe unternommen, was die Modernisten taten. Die Phrase „Göttlichkeit Christi" wird zwar weiter verwendet, aber so ausgelegt, daß sie kein Wunder der Geburt in sich begreift. Die Auf135
erstehung wird wohl gepredigt, aber so ausgelegt, daß man auf eine wunderbare körperliche Wiederauferstehung verzichten kann. Die Bibel wird auch weiter als ein offenbartes Buch hingestellt, aber Offenbarung wird in einem so verschwommenen Sinne benutzt, als wenn jemand erklärte, Plato wäre inspiriert worden; ja die Verschwommenheit dieser neuen Idee der Inspiration wird als ein Verdienst hingestellt. Zwischen den extremen Anschauungen, welche die W u n d e r insgesamt verwerfen, und der alten Orthodoxie gibt es zahlreiche Abstufungen des Glaubens. Heutzutage ließe sich schwer entscheiden, welches Minimum an Glauben die anglikanische Kirche von ihren Anhängern oder von der Geistlichkeit verlangt. Wahrscheinlich würde jeder führende Geistliche eine anderslautende Antwort erteilen. Die Zunahme rationalistischen Denkens innerhalb der englischen Kirche ist interessant und illustriert am deutlichsten die Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Die als Evangelikanismus bezeichnete pietistische Bewegung, zu deren Popularität W i l b e r f o r c e ' s „Praktisches C h r i s t e n t u m " (1797) wesentlich beigetragen hat, führte methodistische Denkweise in die anglikanische Kirche ein und bereitete dem köstlichen Typ des Geistlichen des achtzehnten Jahrhunderts ein Ende, der, wie G i b b o n sich ausdrückt, die Glaubensartikel „mit einem Seufzer oder mit einem Lächeln" unterschrieb. Das strenge T a b u des Sabbath wurde neu belebt, die Theater wurden angegriffen, die Verderbnis der menschlichen Natur bildete das allgemeine Gesprächsthema und die Bibel wurde mehr denn je zu einem Fetisch. D e r Erfolg dieser sogenannten religiösen „Reaktion" wurde, wenn auch nicht hervorgerufen, so doch durch die allgemeine Überzeugung unterstützt, daß die französische Revolution hauptsächlich auf Ungläubigkeit zurückzuführen wäre; die Revolution wurde als Paradebeispiel erwählt, das den W e r t der Religion als Erziehungsmittel nachweisen sollte, um das V o l k in Zucht und Ordnung zu halten. A u d i in Frankreich machte sich eine religiöse „Reaktion" geltend. A b e r in beiden Fällen bedeutete das nicht etwa, daß sich Freidenkertum weniger keck hervorgewagt hätte, sondern daß der Glaube der Majorität aggressiver wurde und einflußreichere Wortführer besaß, während die Form des Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts außer Mode kam. A n ihre Stelle trat eine neue Form des Rationalismus, bestrebt die Orthodoxie in liberaler W e i s e zu interpretieren, um sie mit der Philo136
Sophie auszusöhnen. Ihr Repräsentant war C o l e r i d g e , der stark unter dem Einflüsse deutscher Philosophen stand. Coleridge war ein Anhänger der Kirche und arbeitete eifrig an der Schaffung einer Schule für liberale Theologie, deren W i r k u n g sich in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts geltend zu machen begann. N e w m a n , der prominenteste Vertreter der Hochkirche, erklärte, Coleridge schwelge in einer solchen Freiheit der Spekulation, wie sie kein Christ zu dulden vermöchte. Die Hochkirchen-Bewegung, die dem zweiten Viertel des Jahrhunderts ihren Stempel aufdrückte, war der Freiheit religiösen Denkens genau so feindlich gesinnt, wie der Evangelikaiismus. Ein Umschwung setzte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein, als sich die Wirkungen der Philosophie H e g e l s und C o m t e ' s , sowie die ausländische Bibelkritik innerhalb der englischen Kirche fühlbar machten. Um diese Zeit erschienen zwei bemerkenswerte freidenkerische Bücher, die in weiten Kreisen gelesen wurden: F. W . N e w m a n ' s „ P h a s e n d e s Glaubens" und W . R. G r e g ' s „Christlicher G l a u b e " (beide 1850), Newinan (der Bruder Kardinal Newmans) brach völlig mit dem Christentum und schildert in seinem Werke den geistigen Prozeß, der ihn dazu führte, den einst von ihm vertretenen Glauben aufzugeben. Vielleicht der interessantesteTeil seiner Ausführungen ist der Hinweis auf die Unzulänglichkeit des Neuen Testaments als eines moralischen Systems. G r e g war Unitarier; er verwarf Dogma und Offenbarung, hielt sich selbst aber für einen Christen. Sir J. F. S t e p h e n beschreibt Greg's Einstellung etwas spöttisch folgendermaßen: er war ein Jünger, „der zwar die Bergpredigt mit angehört hatte, dessen Aufmerksamkeit aber nicht auf die Wunder gelenkt wurde und der vor der Wiederauferstehung starb." Es gab nur wenige englische Geistliche (hauptsächlich Oxford-Leute), die sich für die deutsche Kritik interessierten und liberalen Anschauungen zugänglich waren, welche sich nach Ansicht der Puritaner und der Hochkirche nicht von Ungläubigkeit unterschieden. W i r wollen diese Richtung Liberale Kirche nennen, obgleich diese Bezeichnung erst wesentlich später geprägt wurde. 1855 veröffentlichte J o w e 11 (später Master of Balliol) eine Ausgabe verschiedener Briefe des Paulus und wies nachdrücklich auf den zutagegetretenen Pferdefuß hin. Diese Schrift enthielt eine vernichtende Kritik der Lehre vom Sühneopfer, eine ausführlich begründete Ablehnung der Erbsünde und eine rationalistische Erörterung über die Frage der Existenz Gottes. 137
Aber sowohl diese Arbeit als auch verschiedene andere nicht orthodoxe Schriften liberaler Theologen blieben in der Öffentlichkeit fast unbeachtet, obwohl deren Verfasser scharfen Verfolgungen ausgesetzt waren. Fünf Jahre später beschlossen Jowett und mehrere Mitglieder dieser kleinen liberalen Gruppe, das „verabscheuungswürdige System des Terrorismus" zu bekämpfen, „das die Feststellung selbst der klarsten Tatsachen verhindert". Z u diesem Zweck gaben sie einen Sammelband von „ E s s a y s u n d A b h a n d l u n g e n " (1860) heraus. Sechs von den sieben Mitarbeitern waren Geistliche. Die in diesen Essays vertretenen Ansichten würden heute als sehr gemäßigt erscheinen und zum größten Teil von den meisten gebildeten Geistlichen bewillkommnet werden, aber in der damaligen Zeit erregte d a s Erscheinen dieses Bandes einen sehr peinlichen Eindruck. Man bezeichnete die Verfasser als die „Sieben Antichristen". Nach Ansicht dieser Männer müßte die Bibel nach den gleichen Regeln wie jedes andere Buch interpretiert werden. „Einem jungen Studenten bringt es wenig Nutzen, wenn ihm gelehrt wird, auf die Heilige Schrift Grundsätze anzuwenden, die für andere Bücher zu verwenden er sich schämen würde, oder zur Erklärung von Widersprüchen rein formale Entschuldigungsgründe vorzubringen, die er als Entschuldigung von Widersprüchen in der Weltgeschichte bestimmt nicht gelten lassen würde; oder schlichten Worten einen Doppelsinn unterzuschieben; oder Phantasiegebilde und Vermutungen von Kirchenvätern und Kommentatoren als bare Münze in Kauf zu nehmen." Ferner betonen die Verfasser, daß die hebräischen Prophezeiungen nirgendwo als Weissagungen ausgegeben werden. Sich widersprechende Berichte oder Berichte, die lediglich auf Vermutungen beruhen, können doch wahrlich nicht von Gott diktiert worden sein. Die bezüglich des Stammbaumes von Jesus im Matthäus- und im Lukas-Evangelium nachzuweisenden Abweichungen oder die Unstimmigkeiten in den Erzählungen von der Auferstehung, lassen sich „weder auf einen Mangel unserer Auffassungsfähigkeit noch auf irgendeine einleuchtende Hypothese eines uns nicht bekannten weisen Planes, noch auf die geistige Unzulänglichkeit der Erzähler" zurückführen. Die orthodoxen Argumente, welche vor allem auf Aussagen von Zeugen den stärksten Nachdruck für die Wahrheit zahlreicher wunderbarer Vorgänge legen, müssen ebenfalls abgelehnt werden, da ein solches Zeugnis ein blinder Führer ist und nidit gegen Vernunft und einwandfreie Gründe, auf die sich unsere 138
Überzeugung von einer ewig waltenden Weltordnung stützt, in die Wagschale geworfen werden kann. Es wird betont, daß es den „Neununddreißig Artikeln" zufolge statthaft sei, „Geschichten wie jene eines mit menschlicher Stimme redenden Esels oder von zu soliden Mauern eingestauten Gewässern, oder von Hexen und zahlreichen anderen Geisteserscheinungen, als „Gleichnisse, Dichtung oder Legende" zu betrachten und Fragen wie die Frage nach der Persönlichkeit Satans oder der ursprünglichen Einsetzung des Sabbath nach eigenem Ermessen zu beurteilen. Der geistige Gehalt dieses Bandes geht vielleicht am klarsten aus der Bemerkung hervor, daß, wenn jemand spürt, „in wie hohem Maße der Ursprung des Christentums selbst auf .wahrscheinlichen' Beweisen beruht, diese Erkenntnis ihn von vielen Schwierigkeiten, die sonst sehr störend wirken könnten, erlöst. Denn Berichte, die als Fragen der Geschichte betrachtet, vielleicht auf etwas baufälligem Fundamente beruhen und als Geschichte beurteilt weder bewiesen noch beurkundet werden dürfen, könnten trotzdem die gleiche suggestive Überzeugungskraft wie absolut gesicherte Tatsachen gewinnen." Mit anderen Worten, sie können eine geistige Bedeutung besitzen, obwohl sie historisch falsch sind. Der mutigste Essay war Reverend B a d e n Powell's „ U n t e r s u c h u n g der Beweise für das Christent u m". Baden Powell als Anhänger der Entwicklungstheorie, erkannte den Darwinismus an und hielt W u n d e r für unmöglich. Die Schrift wurde von den Bischöfen bekämpft und zwei der Mitarbeiter, beamtete Geistliche und daher von rechtswegen einem Angriff ausgesetzt, wurden angeklagt und 1862 von dem geistlichen Gerichtshof abgeurteilt. In gewissen Punkten für schuldig befunden, in anderen entlastet, lautete das Urteil auf Amtsenthebung für die Dauer eines Jahres. Sie legten gegen dieses Urteil beim Geheimen Staatsrat Berufung ein. Der Lordkanzler W e s t b u r y verkündete das Urteil des Rechtsausschusses des Rates, welcher die Entscheidung des geistlichen Gerichts aufhob. Der Ausschuß erklärte unter verschiedenen anderen Dingen, daß es für einen Geistlichen nicht notwendig wäre, an ewige Strafen zu glauben. Diese Entscheidung trug Lord Westbury folgende Grabschrift ein: „Gegen Ende seiner irdischen Laufbahn verwarf er kostenpflichtig die Hölle und beraubte die orthodoxen Anhänger der Kirche Englands ihrer letzten Hoffnung auf ewige Verdammnis." Dies bedeutete für die liberale Kirchenpartei einen großen 139
Triumph, und ist ein interessantes Ereignis in der Geschichte der englischen Staatskirche. Ein Laiengericht entschied (entgegen der Ansicht der Erzbischöfe von Canterbury und Y o r k ) darüber, inwieweit theologische Lehren bindend oder nicht bindend seien, und gewährte innerhalb der Kirdie eine Freiheit der Meinung, die von der Majorität der Repräsentanten der Kirche als verderblich betrachtet wurde. Diese Freiheit wurde 1865 durch einen Parlamentsakt formell bestätigt, welcher die Form, in der die Geistlichen verpflichtet waren, die „Neununddreißig Artikel" zu unterschreiben, entsprechend abänderte. Die Episode der „Essays und Abhandlungen" bedeutet in der Geschichte des religiösen Denkens in England einen Markstein. Die freiheitlichen Anschauungen der liberalen Geistlichen und ihre Haltung der Bibel gegenüber, begann allmählich selbst auf jene, die am schärfsten von diesen Ansichten abwichen, eine gewisse Wirkung auszuüben; und heutzutage gibt es vermutlich niemand mehr, der nicht wenigstens zugestehen würde, daß Abschnitte wie die Genesis, Kapitel X I X , auch ohne unmittelbare Inspiration von Seiten der Gottheit geschrieben worden sein könnten. Während der nächstfolgenden Jahre erlitt der allgemeine öffentliche orthodoxe Glaube durch das Erscheinen verschiedener wichtiger Bücher, welche die Autorität kritisierten, stillschweigend übergingen oder sogar bekämpften — z. B. L y e 11' s „G e o l o g i s c h e B e w e i s e f ü r d a s A l t e r d e s M e n s c h e n g e s c h l e c h t s " , S e e l e y ' s : „Ecce H o m o " (von welchem W e r k e der fromme Lord S h a f t e s b u r y erklärte, es wäre „aus dem Rachen der Hölle ausgespien"); L e c k y ' s „ G e s c h i c h t e d e s R a t i o n a l i s m u s " einen schweren Choc. Auch ein neuer Dichter der Freiheit, der sich nicht scheute die schärfsten Worte des Trotzes gegen alles, was Autorität für geheiligt hielt, zu verkünden, betrat die Bühne. Alle großen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts waren mehr oder minder der Orthodoxie feindlich gesinnt. In den Jahren höchster Begeisterung bekannte sich W o r d s w o r t h zum Pantheismus. Der größte von allen, S h e l l e y , war erklärter Atheist. In furchtloser Meinungsäußerung und in nie schwankendem Eifer gegen die Tyrannei Gottes und der Regierungen stand S w i n b u r n e Shelley nicht nach. Sein Drama „ A t a l a n t a i n C a l y d o n " (1865) kündet, obwohl ein Dichter nicht für das, was die Personen in seinem Schauspiel sagen, strikt verantwortlich ist, durch seine Anklage: „das größte 140
Übel (sei) Gott", das Kommen eines neuen Kämpfers an, der die Festung der Autorität anzugreifen gewillt war. Und seine im folgenden Jahr veröffentlichten „G e d i c h t e u n d B a l l a d e n " verraten den Geist eines Heiden, der über alle Vorurteile und Heiligtümer der christlichen Welt seinen Spott ergießt. Aber die hitzigste und aufregendste Periode des literarischen Feldzuges gegen Orthodoxie, setzte in England 1869 ein und dauerte etwa ein Dutzend Jahre. Z u keiner anderen Zeit des Jahrhunderts wurde der Kampf gegen Dogmen aller Richtungen so rücksichtslos und erbittert geführt. Wie Lord M o r 1 e y mit Recht betont: „hängt die Wirkung theoretischer Schriften stets von dem richtigen Zeitpunkt ab", eine Bemerkung, die durch die rationalistische Literatur des siebzehnten Jahrhunderts ihre Bestätigung findet. Es war eine Zeit der Hoffnung und der Furcht, des Fortschrittes und der Gefahr; Freidenker und Rationalisten wurden durch die Entstaatlichung der Kirche in Irland (1869), durch das Gesetz, das Atheisten gestattete vor einem Gerichtshof Zeugnis abzulegen (1869), durch die Abschaffung religiöser Prüfungen an sämtlichen Universitäten (eine schon häufig, aber immer vergeblich, geforderte Maßnahme) im Jahre 1871, ermutigt. Andererseits enttäuschte der Erziehungserlaß von 1870, so fortschrittlich er war, die Advokaten einer weltlichen Erziehung als unerwünschtes Zeichen der Stärke geistlichen Einflusses. Ferner erregte in Europa in allen Kreisen außerhalb der römischen Kirche, aber auch bei manchen Katholiken, das Dekret von der Unfehlbarkeit des Papstes (Vatikanisches Konzil 1869—70) größte Beunruhigung. Der aktivste Befürworter dieses Gesetzes war ein Engländer, Cardinal M a n n i n g. Vielleicht hätte dieses Gesetz weniger Aufregung verursacht, wäre nicht die päpstliche Verurteilung moderner Irrtümer noch in frischer Erinnerung gewesen. Gegen Ende des Jahres 1864 überraschte der Papst die Welt durch Herausgabe eines Syllabus, mit einem Verzeichnis: „der hauptsädilichsten Irrtümer unserer Zeit". Unter diesen Irrtümern waren aufgezählt: die Lehre, daß es jedem Menschen freistünde, eine Religion zu erwählen und sich zu ihr zu bekennen, die er gemäß der Einsicht seiner Vernunft für wahr hielte; daß die Kirche nicht das Recht besäße, Gewalt anzuwenden; daß Metaphysik ohne Bezugnahme auf göttliche und geistliche Autorität gelehrt werden könnte und sollte; daß katholische Staaten das Recht hätten, ausländischen Einwanderern die öffentliche Aus141
Übung ihrer Religion zu gestatten; daß der Papst sich mit Fortschritt, Liberalismus und moderner Zivilisation abzufinden habe. Dieses Dokument wurde als eine Kriegserklärung gegen Aufklärung und das vatikanische Konzil als der erste strategische Schachzug der Heerschaaren der Finsternis betrachtet. Man gewann den Eindruck, als erhöben die Mächte der Finsternis von neuem drohend ihre Häupter. Instinktiv fühlten alle, daß man die gesamte Macht der Vernunft ins Felde führen müßte. Die Geschichte der letzten fünfzig Jahre lehrte jedoch, daß die Theorie von der Unfehlbarkeit, zu einem Dogma erhoben, nicht schädlicher wirkt, als früher. Aber die Anstrengungen der katholischen Kirche in den auf das Konzil folgenden Jahren, die französische Republik zu stürzen und das neu geschaffene Kaiserreich zu spalten, wirkten beunruhigend genug. Als Erfolge konnte man dagegen den Ruin der weltlichen Macht der Päpste und die Befreiung Italiens buchen. Dieses Ereignis war der Sonnenaufgang in S w i n b u r n ' s „ G e s ä n g e n Vor S o n n e n a u f g a n g " , die 1871 erschienen, einer Pflanzschule von Atheismus und Revolution, gedüngt mit unversöhnlichem H a ß gegen Glauben und Tyrannen. Das schönste Gedicht in diesem Bande, „ H y m n u s d e s M e n s c h e n " , wurde während der Tagung des vatikanischen Konzils geschrieben. Es ist ein Triumphgesang über den Gott der Priester angesichts des Niederganges der weltlichen Macht des Papstes. Die Schlußverse zeigen den Geist dieses Gesanges: Bei dem Namen, den Höllenglut kündet, Verdorrt auf der Spitze des Schwerts, Bist gerichtet, Du Gott, bist gerichtet, Der Tod, Herr, schwebt über Dir. Der Lobsang der Welt, als Du starbest, Im Brausen der Winde erschallt — Ehre dem Mensch in der Höhe! Denn der Mensch ist Herr jetzt der Welt. Die Tatsache, daß ein solches Werk ungestraft in England erscheinen konnte, führt einem klar vor Augen, daß die englische Politik zur Durchsetzung der Gesetze gegen Gotteslästerung sich nur gegen Publikationen richtete, die sich an breite Volksschichten wandten. 142
Derartige politische Verhältnisse reizten und ermutigten die Rationalisten, sich kühn vorzuwagen; wozu auch der Einfluß der liberalen Kirche und des Darwinismus nicht unerheblich beitrug. Die „ A b s t a m m u n g d e s M e n s c h e n " war grade im Jahre 1871 erschienen. Von den Kanzeln wurde ein neues dogmenfreies Christentum . verkündet. Wie Mr. L e s 1 i e S t e p h e n (1873) bemerkt: „kann man ohne starke Übertreibung behaupten, daß es nicht nur keinen einzigen Glaubensartikel gibt, dem man nicht ungestraft widersprechen könnte, sondern daß es auch keinen gab, dem nicht in einer Kanzelpredigt mit der Absicht widersprochen wurde, sidi den Ruf eines unorthodoxen Mannes zu sichern, um als geeigneter Anwärter für eine Diözese anerkannt zu werden. Ein typisches Beispiel für die Denkungsart jener Zeit bietet die bekannte Anekdote von dem vorsichtigen Kirchenvorsteher, der zwar die allgemeine Tendenz der Predigt seines Geistlichen rühmte, sich aber doch zu dem Wagnis veranlaßt fühlte, gegen einen Punkt in der Rede Protest einzulegen: .Sehen Sie, Sir, erklärte er entschuldigend, ,ich glaube, es gibt einen Gott'. Er hielt es für eine Geschmacksverirrung, vielleicht auch für ein Fehlurteil, in bezug auf den ersten Glaubensartikel Zweifel zu äußern. Ein anderes Zeichen der Zeit war der auf die gebildeten Klassen von der ästhetischen Strömung (z. B. R u s k i n , M o r r i s , die Präraphaelitischen Malern, sowie Pater's: „ V o r l e s u n g ü b e r d i e R e n a i s s a n c e " (1873) ausgeübte Einfluß. Die Haltung dieser Kritiker, Künstler und Poeten war im Grunde eine heidnische. Die erlösenden Wahrheiten der Theologie schienen für diese Männer nicht zu existieren. Sie suchten das Ideal der Glückseligkeit in einer Religion, die den Himmel ignorierte. Die damalige Zeit erschien für eine freimütige Aussprache günstig. Von den antiorthodoxen Büchern und Essays, welche die jungen Menschen beeinflußten und die Gläubigen in diesen aufgeregten Jahren beunruhigten, stammten die meisten von Männern, die man am treffendsten unter dem Sammelbegriff „Agnostiker" zusammenfassen kann — eine Bezeichnung, die erst in neuerer Zeit von H u x 1 e y eingeführt worden war. Die A g n o s t i k e r vertreten die Ansicht, daß der menschlidien Vernunft Grenzen gezogen seien, und daß die Gottesgelehrsamkeit, außerhalb dieser Grenzen läge. Innerhalb dieser 143
Grenzen liegt die W e l t , mit der es die Wissenschaft (einschließlich der Psychologie) zu tun hat. Wissenschaft beschäftigt sich ausschließlich mit Phänomenen und vermag nichts über die N a t u r der letzten Realität auszusagen, die sich vielleicht hinter jenen Phänomenen verbirgt. Dieser letzten Realität gegenüber sind vier Einstellungen denkbar. Erstens die Haltung der Metaphysiker und Theologen, die nicht nur überzeugt sind, daß diese letzte Wirklichkeit existiert, sondern daß sie auch — wenigstens teilweise — erkannt zu werden vermag. Zweitens die Haltung jener, die deren Existenz einfach ableugnen; aber dazu m u ß man gleichfalls Metaphysiker sein, denn die Existenz einer letzten Wirklichkeit kann nur unter Zuhilfenahme metaphysischer Argumente abgeleugnet werden. A n dritter Stelle kommen Leute, die eine letzte Wirklichkeit bejahen, aber leugnen, daß man irgend etwas über sie auszusagen vermöge. U n d endlich folgen jene, die erklären, wir könnten nicht wissen, ob eine letzte Wirklichkeit existiert, oder ob sie nicht existiert. Diese letzten sind „Agnostiker" im eigentlichen Sinne des Wortes, das heißt Menschen, die eingestehen, nichts zu wissen. Die dritte Klasse geht insofern über das Phänomen hinaus, als sie das Vorhandensein einer letzten, freilich unerkennbaren Realität hinter den Phänomenen behauptet. Gewöhnlich wird jedoch der Ausdruck agnostisch in einem umfassenderen Sinne verstanden, und umfaßt sowohl die dritte als auch die vierte Klasse — also gleichzeitig die einen, welche eine unerforschliche Realität anerkennen und die anderen, die eingestehen, daß sie nicht wissen, ob es eine unerforschliche Realität gibt oder ob es sie nicht gibt. C o m t e und S p e n c e r zum Beispiel, die an ein Unerkennbares glaubten, rechnet man zu den Agnostikern. Der Unterschied zwischen einem Agnostiker und einem Atheisten besteht darin, daß der Atheist positiv die Existenz eines persönlichen Gottes leugnet, der Agnostiker nicht an dessen Existenz glaubt. Der Schriftsteller dieser Periode, der den Agnostizismus in reinster Form verkörpert und das scharfe Scheinwerferlicht der Vernunft mit unbarmherziger Logik auf theologische Anschauungen richtete, war Mr. L e s l i e S t e p h e n . Sein bekanntester Essay: „ E i n e s A g n o s t i k e r s A p o l o g i e " (Fortnightly Review, 1876) wirft die Frage auf, ob die Dogmen der orthodoxen Theologen überhaupt einen Sinn besäßen? Bieten sie, denn das ist es, was wir brauchen, eine vernünftige Erklärung für die 144
Disharmonien im Universum? Stephen weist im einzelnen nach, daß die verschiedenen theologischen Erklärungen für das Verhalten Gottes den Menschen gegenüber, scharf logisch untersucht, in einem Eingeständnis unserer Unwissenheit ausklingen. U n d was ist das anderes als Agnostizismus? Man kann seinen Zweifel ein Mysterium nennen, aber Mysterium ist nur der theologische Ausdruck für Agnostizismus. „Weshalb verkünden ehrliche Menschen von der Kanzel, uneingeschränkte Gewißheit sei die Pflicht der Törichtsten und Unwissendsten, obwohl kein ehrlicher Mensch im Privatleben leugnen wird, daß jedes letzte Problem vom tiefsten Mysterium umhüllt s e i ? Wir sind eine Schar unwissender Geschöpfe, die nur undeutlich genügend Licht für unsere täglichen N ö t e wahrzunehmen vermögen, die hoffnungslos einander widersprechen, so oft wir versuchen, den letzten Ursprung oder das letzte Ziel unseres Pfades zu beschreiben; und dennoch erleben wir, daß, falls einer von uns das W a g n i s unternimmt zu erklären, daß wir weder die Himmelskarte des Universums noch die Landkarte unseres unendlich kleinen Bereiches kennen, der Betreffende verspottet, geschmäht, ja ihm sogar gedroht wird, er werde wegen seiner Glaubenslosigkeit der ewigen Verdammung anheimfallen." D a s Charakteristische von L. Stephen's Essays besteht darin, daß er weniger darauf abzielt, nachzuweisen, daß die orthodoxe Theologie falsch sei, als vielmehr, daß sie keine Realität besitzt, und daß alle Erklärungsversuche von Schwierigkeiten nur Scheinlösungen sind. „Falls die orthodoxe Theologie auch nur einen Punkt der Mysterien löste, würden wir sie willkommen heißen, aber das tut sie nicht, sie fügt nur neue Schwierigkeiten den alten hinzu". Sie ist „ein bloßes Wolkenkuckucksheim". Der Verfasser unternimmt nicht einmal den Versuch logisdi nachzuweisen, daß letzte Realität außerhalb der Grenzen menschlicher Vernunft liegt. Er basiert seine Schlußfolgerungen auf der Tatsache, daß alle Philosophen einander hoffnungslos widersprechen; falls das Hauptthema der Philosophie, gleich der Physik, innerhalb des Fassungsbereiches des Verstandes läge, hätte wenigstens eine gewisse Übereinstimmung erzielt werden müssen. Die Bestrebung der liberalen Kirche, alle Versuche, das Christentum freisinniger zu gestalten, alten W e i n in neue Schläuche zu füllen, es von Sektierertum und Dogmatik zu befreien, Kompromisse zwischen Theologie und Wissenschaft zu schließen, finden vor Leslie Stephen's Augen keine Gnade, 10
B u r y .
Gedankenfreiheit.
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und er kritisiert all diese Bestrebungen mit einer gewissen Verächtlichkeit. M a n stritt sich über die Wirksamkeit von Gebeten. Ist es zum Beispiel vernünftig, um Regen zu beten? Hier streiten sidi Wissenschaft und Theologie um eine praktische Frage, die in den Bereich der Wissenschaft gehört. Verschiedene Theologen stimmten dem Kompromiß zu, daß es zwar töricht wäre, gegen eine Sonnenfinsternis zu beten, daß aber um Regen zu beten, verständlich sei. „Ein Phänomen", schreibt Stephen, „ist genau so das Resultat bestimmter U r sachen, wie jedes andere; aber es ist für die Phantasie einfacher, sich das Eingreifen eines göttlichen Beauftragten in der Ferne inmitten des unendlich komplizierten Spieles von Kräften, die unseren Berechnungen meteorologischer Erscheinungen entschlüpfen, vorzustellen, als an einen solchen Eingriff zu glauben, wenn die Kräfte offen genug zu Tage.liegen, um eine Voraussage zu gestatten. Diese Unterscheidung ist im wissenschaftlichen Sinne selbstverständlich lächerlich. Allmächtige Macht vermag genau so leicht in Ereignisse einzugreifen, die in dem nautischen Almanach vermerkt stehen, wie in solche, die dort nicht verzeichnet sind. Man kann unmöglich annehmen, Gott ziehe sich zurück, sobald die Wissenschaft vorrückt, und hätte in Donner und Blitz gesprochen, bis die Gesetze dieser Erscheinungen von Franklin enthüllt wurden." Als ein neuer Streit über die Hölle die Aufmerksamkeit des Publikums erregte, und verschiedene in den übrigen Fragen orthodoxe Theologen zu der Einsicht gelangten, daß eine ewige Strafe eine entsetzliche Doktrin sei, und bald auch feststellten, daß der Beweis für ewige Verdammnis nicht ganz schlüssig wäre, ja sogar die Kühnheit hatten, diese Ansicht auszusprechen, griff wieder L e s l i e S t e p h e n ein und schrieb: falls dem so ist, dann verdiene das historische Christentum in dieser Hinsicht alles, was seine ärgsten Feinde gegen es vorgebracht hätten. Wenn der christliche Glaube wirklich das menschliche Gewissen beherrschte, dürfte niemand ein Wort gegen die Wahrheit des Dogmas von der Hölle äußern. Falls dieses D o g m a in keiner intimen organischen Verbindung mit dem Glauben stünde, falls es lediglich ein unwichtiges Beiwerk gewesen wäre, so hätte es nicht eine derart starke und dauernde Wirkung überall dort ausüben können, wo das Christentum die festeste Position besaß. Der Versuch dieses D o g m a zu eliminieren oder abzumildern, sei ein Zeichen des Niederganges. „Jetzt endlich beginnt der Verfall Euers Glaubens. Die Menschen haben erkannt, daß 146
ihr nichts darüber wißt; daß Himmel und Hölle Luftschlösser sind; daß der unverschämte junge Pfarrer, der mir erklärt, ich werde ewig in der Hölle schmoren, weil ich seinen Aberglauben nicht teile, genau so unwissend ist wie ich selbst, und daß ich genau so viel weiß wie mein Köter. U n d dann erklärt ihr wieder ganz harmlos, ,es ist alles ein Irrtum. Glaube nur an irgend etwas — und wir werden dir alles so leicht machen, wie nur irgendmöglich. Die Hölle soll nur eine wohltemperierte Wärme besitzen, die der Konstitution bekömmlich ist; und niemand soll in ihr schmoren, mit Ausnahme von J u d a s Ischariot und ein oder zwei anderen; und selbst dem armen Satan soll eine Chance geboten werden, falls er sich zu bessern entschließt!'" A u d i Mr. M a t t h e w A r n o l d kann man vermutlich in die Zahl der Agnostiker einreihen, obwohl er eine ganz andere Richtung vertritt. Arnold führte eine neue Art der Bibelkritik ein — die literarische Kritik. Tiefbesorgt um Moral und Religion und ein Vertreter der Staatskirche, nahm er die Bibel unter seinen besonderen Schutz und bemühte sich in drei Werken: „ P a u l u s u n d d e r P r o t e s t a n t i s m u s " , 1870, „ L i t e r a t u r u n d D o g m a", 1873, und „ G o t t u n d d i e B i b e 1", 1875, die Heilige Schrift vor orthodoxen Exponenten zu erretten, die er als die Verderber des Christentums betrachtete. Es wäre nur gerecht, sagte er, „aber vielleicht kaum christlich", das W o r t „ungläubig" auf die orthodoxen Theologen zurückzuschleudern, wegen ihrer mangelhaften literarischen und wissenschaftlichen Kritik der Bibel, und von „dem Strom von Ungläubigkeit zu sprechen, der sich jeden Sonntag von unseren Kanzeln ergießtl" Die Verderbnis des Christentums fällt der Theologie zur Last „mit ihren unsinnigen, zügellosen Behauptungen über Gott, ihren unsinnigen zügellosen Behauptungen über Unsterblichkeit"; der Hypothese von „einem verherrlichten und nicht natürlichen Manne an der Spitze derMenschheit undder Affärender Welt", sowie „durch Aneinanderfügen und wörtliche Auslegung verstreuter Bibelstellen" zu einem Phantasiegebilde Gottes. Mit überlegenem Spott verhöhnt er das Wissen, dessen sich die Orthodoxen inbezug auf die Absichten und Pläne ihres Gottes rühmen. „ Z u glauben, sie wüßten, was im Rate der Dreieinigkeit sich abspiele, fällt ihnen nicht schwer; mit der gleichen Unbeschwertheit könnten sie behaupten zu wissen, wie die Wandbekleidung des Beratungszimmers der Dreieinigkeit beschaffen sei." Doch schon der Ausdruck ,die Dreieinigkeit' steht mit dem ganzen Gedankeninhalt und Charakter biblischer 10*
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Religion in schärfstem Widerspruche, aber, damit sich die Sozinianer beim Lesen dieser Worte nicht ungebührlich aufplustern, möchte ich rasch noch hinzufügen, daß das Nämliche in gleichem Maße auf den Ausdruck: eine große personifizierte erste Ursache zutrifft". Arnold verwendet die Bezeichnung Gott als die am wenigsten unangemessene Bezeichnung für jene universelle Ordnung, welche der Verstand als ein Gesetz und das Herz als eine Wohltat empfindet, und definiert ihn als die „Stromrichtung, durch die alle Dinge streben, das Gesetz ihres Seins zu erfüllen". Er definiert ihn ferner als eine „ K r a f t " , die nach Gerechtigkeit ringt, und überschreitet damit bereits beträchtlich die Grenze agnostischer Einstellung. Die kleinliche Kritik, welche die biblischen Dokumente analysiert und Widersprüche und Absurditäten entdeckt, erregt seinen Unwillen. Auch die Bedeutung vergleichender Religionswissenschaft erkennt er nicht an. Aber wenn wir von einem Würdenträger hören, der jüngst bei einem Kirchenkongreß mit der Behauptung hervortrat, die Erzählungen in den Büchern von Jonas und Daniel müßte man gelten lassen, weil Jesus sie zitiert, könnte man wünschen, daß Arnold zur Stelle wäre, um die Orthodoxen wegen „Mangels an geistigem Ernst" auszuschelten. In diese Jahre fiel auch die Veröffentlichung von Mr. J o h n M o r 1 e y s einfühlenden Untersuchungen über die französischen Freidenker des achtzehnten Jahrhunderts; „Voltaire" (1872), „Rousseau" (1873) und „Diderot" (1878). Morley war der Herausgeber der „Fortnightly Review" und viele Jahre hindurch zeichnete sich dieses Blatt durch glänzende Kritiken der volkstümlichen Religion von begabten Schriftstellern unter den verschiedensten Gesichtswinkeln aus. Ein Teil des Werkes, das Morley später unter dem Titel „ K o m p r o r a i ß " veröffentlichte, erschien zuerst 1874 im „Fortnightly". Im „Kompromiß" wird „das gesamte System konkreter Behauptungen, die den volkstümlichen Glauben des Tages ausmachen", als schädlich verurteilt und gleichzeitig gefordert, daß jene, die nicht glauben, dies offen bekennen sollten. Offene Aussprache ist eine geistige Pflicht. Engländer besitzen ein starkes Gefühl für politische Verantwortlichkeit, dem ein schwächliches Empfinden für geistige Verantwortlichkeit parallel läuft. Selbst überdurchschnittliche Köpfe lassen sich zu ihrem Nachteil von politischen Erwägungen beeinflussen, welches „die starke Kraft ist, die die Liebe zur Wahrheit und zu scharfem Denken auf den zweiten Platz verweist". U n d die in der Politik siegreichen 148
Grundsätze sind von der Theologie für ihre Zwecke usurpiert worden. In dem einen Falle heißt es: erst Paßlichkeit, dann Wahrheit; in dem andern Falle heißt es: erst Gemütsruhe, dann Wahrheit. Wenn die Unmoral im Falle der Religion weniger hervorstechend ist, so tritt bei ihr „der Schandfleck geistiger Unredlichkeit schärfer hervor". U n d das ist ein Verbrechen an der Gesellschaft, denn, „wer sich — gleichgültig aus welchen Motiven — gegen die Wahrhaftigkeit versündigt, versündigt sich an der lebendigen Kraft menschlichen Fortschrittes". Die geistige Unaufrichtigkeit, die hier gerügt wird, macht sich auch heute noch in gleichem Maße geltend. Die Engländer haben ihren Charakter nicht geändert, das „politische" Denken ist immer noch am Werk, und wir lassen uns von der Ansicht leiten, daß, weil Kompromisse eine politische Notwendigkeit sind, sie auch im Bereich des Geistigen wertvolle Dienste leisten. Unter Mr. Morleys Leitung war die „Fortnightly Review" ein wirkungsvolles Sprachrohr der Aufklärung. Mir fehlt hier der Raum, um auf die Werke anderer Vertreter der Literatur und der Wissenschaft während dieser Kampfepoche näher einzugehen, aber es sei betont, daß, obwohl von den Kanzeln modernes Denken verfehmt wurde, Freidenkertum in weiten Kreisen besonders von Mr. B r a d l a u g h durch öffentliche Vorträge und in seiner Zeitschrift „ D e r N a t i o n a l r e f o r m e r" Verbreitung fanden, wobei es wiederholt zu Zusammenstößen mit den zivilen Behörden kam. Wenn wir die Fälle untersuchen, bei denen die Behörden Englands während der letzten zwei Jahrhunderte eingriffen, um eine Verbreitung freisinniger Anschauungen zu verhindern, so war das Ziel stets, der Ausbreitung von Freidenkertum unter der Masse einen Riegel vorzuschieben. Die Opfer waren entweder arme ungebildete Leute oder Männer, die freies Denken in populärer Form propagierten. Ich wies schon darauf bei der Besprechung P a i n e ' s hin, und die Verfolgungen im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert rechtfertigen das dort gesagte. Die nichteingestandene Triebfeder war hier wie dort Angst vor dem Volke. M a n betrachtete Theologie als ein nützliches Instrument, um die Armen und Elenden in Schranken zu halten, und Unglauben als Ursache oder wenigstens als Begleiterscheinung bedrohlicher politischer Ausschreitungen. Die Auffassung, daß freies Denken sich besonders für die Armen nicht schicke, ja daß es außerordentlich wünschenswert sei, 149
ihnen ihren Aberglauben zu erhalten, damit sie genügsam blieben und für alle zu ihrem Besten geschaffenen religiösen und sozialen Einrichtungen gebührend dankbar wären, ist audi heute noch lebendig. Es sei mir hier gestattet eine Anekdote aus einem Essay von Mr. F r e d e r i c H a r r i s o n zu zitieren, die aufs treffendste die geziemende Haltung der Armen gegenüber den kirchlichen Einrichtungen schildert. „Der Vorsteher eines Armenhauses in Essex wurde einmal als Beichtiger zu einem Sterbenden gerufen. Die arme Seele äußerte unter Seufzern ihre Hoffnung auf den Himmel. Aber der Vorsteher schnitt dem Sterbenden barsch die Rede ab und riet ihm, seine letzten Gedanken der Hölle zuzuwenden mit der Bemerkung: ,Du solltest dankbar sein, daß D u in die Hölle kommst'." Die erfolgreichsten englischen Freidenker, die sich an die breite Masse des Volkes wandten, waren H o l y o a k e , der Apostel „des Freidenkertums"*), und B r a d l a u g h . Der größte Erfolg Bradlaugh's, dessen wir uns dankbar erinnern, war, Ungläubigen das Recht auf einen Platz im Parlament ohne Eidesleistung zu sichern (1888). Die Hauptleistung H o 1 y o a k e ' s , der in seinen jungen Jahren wegen Gotteslästerung eine Gefängnisstrafe erhielt, bestand in der Abschaffung der der Presse auferlegten Steuern, welche die allgemeine Verbreitung von Kenntnissen ernstlich behinderten. Die Pressezensur war in England schon seit langer Zeit (vergl. S. 95) aufgehoben worden; in den meisten anderen europäischen Ländern wurde die Zensur im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts abgeschafft**). In den fortschrittlichen Ländern Europas ließ sich während der verflossenen dreißig Jahre ein deutlich erkennbares Anwachsen der Duldsamkeit (ich meine damit nicht legale Tole*) Es sei erwähnt, daß Holyoake gegen Ende seines Lebens sidi bei der Gründung des rationalistischen Pressevereins beteiligte, dessen Vorsitzender viele Jahre Mr. Edward Clodd war. Diese Vereinigung war die wichtigste Gesellschaft in England für die Propagierung des Freidenkertums und ihre Hauptarbeit bestand darin, die Werke der hervorragendsten Freidenker in billigen Ausgaben auf den Markt zu werfen. Meines Wissens sind über zwei Millionen Exemplare solcher wohlfeilen Ausgaben verkauft worden. **) In Österreich-Ungarn besaß die Polizei das Recht, Druckschriften vorübergehend zu untersagen. In Rußland erklärte 1905 ein kaiserliches Dekret die Presse für frei, aber dieses Dekret blieb ein toter Buchstabe. Die Zeitungen unterstanden ausnahmslos der Kontrolle der Polizei.
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ranz, sondern die Duldsamkeit der öffentlichen Meinung) feststellen. Vor einer Generation schrieb Lord M o r 1 e y: „Das vorbereitende Stadium ist noch kaum erreicht worden — das Stadium, in dem die öffentliche Meinung jedem einzelnen das uneingeschränkte Recht zugesteht,, seinen eigenen Glauben unabhängig von den Überzeugungen der ihn umgebenden Bevölkerung selbst zu gestalten". Nach meiner Überzeugung liegt dieses vorbereitende Stadium bereits hinter uns. Man denke an England. W i r sind heute weit über die Tage hinaus, da Doktor A r n o l d den älteren M i 11 wegen seiner irreligiösen Anschauung nach Botany Bay verschickt hätte. Aber auch die Tage, da Darwins Abstammungslehre einen A u f r u h r erzeugte, sind längst überwunden. Heute können Bücher erscheinen, welche die historische Existenz Jesu leugnen, ohne Staub aufzuwirbeln. Man kann mit Recht bezweifeln, ob das, was Lord A c t o n 1877 schrieb, auch heute noch zuträfe: „Es gibt gegenwärtig viele gebildete Leute, welche Verfolgungen für richtig erachten." 1895 wurde L e c k y als Kandidat zur Vertretung der Dubliner Universität aufgestellt. Zwar wurde seine rationalistische Denkungsart gegen seine Kandidatur ins Treffen geführt, aber er ging als Sieger hervor, obwohl die Mehrzahl der Wähler orthodox dachten. In den siebziger Jahren wäre seine Kandidatur noch aussichtslos gewesen. Den alten Gemeinplatz, ein Freidenker sei bestimmt ein unmoralischer Mensch, hört man heute nirgends mehr. W i r können behaupten,, ein Stadium erreicht zu haben, wo jeder, der in Betracht kommt (den Vatikan ausgenommen), zugesteht, daß es im Himmel und auf Erden nichts gibt, was man nicht von Rechts wegen ohne irgendeine Einschränkung, wie sie uns in früheren Zeiten von autoritativer Seite aufgezwungen wurde, frei erörtern könnte. In diesem kurzen Überblick über den Siegeszug der Vern u n f t im neunzehnten Jahrhundert, haben wir die Entdeckungen der Wissenschaft und den Kritizismus erörtert, welche die überalterte Orthodoxie als logisch unhaltbar erwiesen haben. Aber der Fortschritt hinsichtlich der Freiheit des Denkens, der scharf hervortretende Unterschied in der allgemeinen Haltung der Menschen aller Länder der theologischen Autorität gegenüber, verglichen mit der Haltung vor hundert Jahren, läßt sich nicht lediglich durch die Kraft der Logik erklären. Nicht so sehr die Kritik überlebter Anschauungen, als vielmehr das Erwachen neuer Ideen und neuer Interessen vermag die 151
Ansichten der Menschen im Großen umzuwandeln. Nicht logische Beweise, sondern neue soziale Erkenntnisse bringen eine allgemeine Umstellung im Hinblick auf die letzten Probleme zuwege. In erster Linie dürfte nach meiner Ansicht die Idee vom Fortschritt der menschlichen Rasse für diese veränderte Einstellung verantwortlich sein. Dieser Gedanke hat bestimmt in stärkstem Maße zur Zerrüttung theologischer Glaubenslehren beigetragen. Ich habe von der Lehre D i d e r o t ' s und seiner Freunde gesprochen, daß der Mensch seine ganze Kraft dafür einsetzen sollte, die Erde erfreulich zu gestalten. Ein neues Ideal wurde an Stelle des alten, auf theologischen Theorien aufgebauten Ideals errichtet. Dieses Ideal begeisterte die englischen utilitarischen Philosophen ( B e n t h a m , J a m e s M i 11, J, S, M i 11, G r o t e ) , die das größte Glück für die größte Anzahl als das höchste Ziel unseres Handelns und als Fundament der Moral verkündeten. Eine kraftvolle Stütze erhielt dieses Ideal durch die Lehre vom historischen Fortschritt, die in Frankreich mit T u r g o t (1750) einsetzte, der den Fortschritt für das organische Prinzip der Geschichte erklärte. Es wurde von C o n d o r c e t (1793) weiter entwickelt und von P r i e s t l e y in England verfochten. Die französischen sozialistischen Philosophen S a i n t - S i m o n und F o u r i e r griffen diesen Gedanken auf. Fouriers Optimismus ging soweit, die Zeit vorauszuahnen, in der menschlicher Erfindungsgeist das Wasser des Meeres in Limonade verwandeln würde, in der es siebenunddreißig Millionen Dichter so groß wie Homer, siebenunddreißig Millionen Schriftsteller so groß wie Molière und siebenunddreißig Millionen Newton ebenbürtige Männer der Wissenschaft geben würde. C o m t e blieb es vorbehalten, dieser Lehre Gewicht und Macht zu verleihen. Seine Sozialphilosophie und seine Religion der Humanität fußen auf ihr. Die Triumphe der Wissenschaft bestätigen sie. Sie wurde zu der wissenschaftlichen Theorie der Evolution in Beziehung gebracht, obwohl sie diese Theorie nicht notwendig in sich begreift, und es ist nicht zuviel behauptet, wenn man sie als die führende geistige Kraft des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnet. Ihr verdanken wir das neue ethische Prinzip der Pflicht der Nachwelt gegenüber. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich sage, daß das neuerwachte Interesse an der Zukunft und am Fortschritte des Menschengeschlechts unbewußt viel dazu beigetragen hat, die Gedanken von einem Leben jenseits des Grabes abzulenken; auch die verderbliche Lehre von der 152
tiefgründigen Verderbtheit des Menschen ist durch sie zusammengebrochen. Nirgends in der Welt ist diese Theorie des Fortschrittes begeisterter aufgenommen worden als von der monistischen Bewegung, die in Deutschland lebhaftestes Interesse erregte (1910—1912). Die monistischen Bestrebungen folgen den Gedankengängen H a e c k e 1 s , der als der führende Kopf angesehen wurde, bis O s t w a 1 d die Leitung des Bundes übernahm, unter dessen Einfluß die Haeckelschen Ideen eine wesentliche Umgestaltung erfuhren. Haeckel war Biologe, während Ostwalds bedeutendste Leistungen auf dem Gebiet der Chemie und der Physik lagen. Der n e u e M o n i s m u s unterscheidet sich von dem alten in erster Linie dadurch, daß er erheblich weniger dogmatisch ist. Er vertritt den Standpunkt, daß alle Erfahrungstatsachen Gegenstände einer entsprechenden Wissenschaft sind. Monismus ist weit mehr eine Methode, als ein System, denn sein einziges Ziel besteht darin, die gesamte menschliche Erfahrung zu einem einheitlichen Wissensgebiet zusammenzufassen. Zweitens betrachtet er zwar in Übereinstimmung mit Haeckel den Entwicklungsgedanken als leitendes Prinzip in der Geschichte des Lebens, verwirft aber Haeckels Pantheismus sowie seine Theorie der denkenden Atome. Die alte mechanische Theorie der physikalischen Welt wurde allmählich durch die Energietheorie verdrängt, und Ostwald, der eifrigste Vorkämpfer der energetischen Theorie, machte diese zum Leitgedanken des Monismus. W a s wir als Materie zu bezeichnen pflegten, ist, soweit unsere heutigen Kenntnisse reichen, einfach ein Komplex von Energien, und Ostwald versuchte das energetische Prinzip von den physikalischen oder chemischen Phänomenen auch auf biologische, psychische und soziale Erscheinungen auszudehnen. Aber es muß betont werden, daß die Energietheorie nicht als etwas Endgültiges aufgefaßt wird, sie ist lediglich eine dem heutigen Stande unseres Wissens angepaßte Hypothese, die bei weiterem Fortschritt unseres Wissens vielleicht wieder aufgegeben werden muß. Die monistische Weltanschauung erinnert insofern an die positive Philosophie Comtes, als sie ausschließlich eine wissenschaftliche Erkenntnis gelten läßt und Theologie, Mystik und Metaphysik ablehnt. Wenn wir uns Mr. M a c T a g g a r t ' s Definition der Religion als „einer, auf der Überzeugung einer zwischen uns und dem gesamten Weltall bestehenden Ge153
fühlsregung" zu eigen machen, kann Monismus als Religion bezeichnet werden. Aber es erscheint uns angebracht, nicht das W o r t Religion in Verbindung mit dem Monismus anzuwenden, denn die Monisten haben nie daran gedacht, eine monistische Kirche nach dem Muster einer Comteschen positivistischen Kirche zu gründen. Sie betonen den scharfen Gegensatz zwischen der Anschauung der Wissenschaft und der Anschauung der Religion und erblicken das Kennzeichen geistigen Fortschritts in der Tatsache, daß Religion allmählich immer mehr an Bedeutung verliert. J e weiter wir auf die Vergangenheit zurückgreifen, desto wertvoller erweist sich Religion als ein Element der Zivilisation; mit jedem Fortschritt tritt sie mehr und mehr in den Hintergrund und wird von der Wissenschaft ersetzt. Religionen waren, sofern es sich um die gegenwärtige W e l t handelt, grundsätzlich pessimistisch; Monismus ist im Prinzip optimistisch, denn er erkennt an, daß der Prozeß der Entwicklung im wachsenden M a ß e das sündige Element im Menschen überwindet und es auch weiterhin mehr und mehr überwinden wird. Monismus proklamiert Entwicklung und Fortschritt als die tatsächlichen Grundlagen menschlichen Verhaltens, während die Kirchen, besonders die katholische Kirche, stets am Bestehenden hafteten, und, obwohl sie sich als unfähig erwiesen haben, dem Fortschritt Halt zu gebieten, haben sie sich immer bemüht, dessen Symptome zu unterdrücken — gewissermaßen den Dampf auf Flaschen zu ziehen*). D e r 1911 in Hamburg abgehaltene monistische Kongreß erzielte einen Erfolg, der seine Einberufer überraschte. Diese Bewegung kann sich rühmen, einen starken Einfluß auf die Verbreitung rationalistischen Denkens ausgeübt zu haben.**) W e n n wir die drei großen Staaten Europas betrachten, in denen die Mehrheit der Christen Katholiken sind, so erkennen wir, wie das Ideal des Fortschritts und der Freiheit des Denkens H a n d in Hand mit einem Verfall der geistlichen Macht gehen. In Spanien, in einem Lande, in dem die Kirche enorme Macht und Reichtum besitzt und noch immer dem Gericht und den *) Ich habe zur Illustrierung der monistischen Haltung den Kirchen gegenüber Ostwalds monistische Sonntagspredigten ( 1 9 1 1 - 1912) benutzt. **) Da es sich bei diesem Buche nicht um eine Geschichte des Denkens handelt, nehme ich hier keinen Bezug auf die philosophischen Theorien in Amerika, England und Frankreich, von denen bisweilen behauptet wird, sie zielten darauf ab, Theologie zu verteidigen. In Wahrheit sind sie ausgesprochen antiorthodox.
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Politikern ihren Willen aufzuzwingen vermag, hat die in Frankreich und Italien so lebenskräftige Idee des Fortschrittes bisher noch keinen sichtbaren Erfolg erzielt. Liberale Anschauungen sind zwar in der kleinen Klasse der Gebildeten sehr verbreitet, aber die überwiegende Majorität der Bevölkerung besteht aus Analphabeten, und es liegt im Interesse der Kirche, sie in dieser Unbildung zu erhalten. Eine bessere Erziehung des Volkes liegt, wie alle aufgeklärten Spanier zugeben, im dringendsten Interesse des Landes. W i e stark die Widerstände sind, die erst niedergerungen werden müssen, bevor moderne Erziehung sich auszubreiten vermag, zeigte vor einigen Jahren klar die Tragödie F r a n c i s c o F e r r e r ' s , die jeden daran erinnerte, daß in einem Winkel Westeuropas der Geist des Mittelalters immer noch lebendig ist. Ferrer hatte sich die A u f g a b e gestellt (seit 1901) in der Provinz Catalonien moderne Schulen zu gründen. Er war Rationalist, und seine Schulen, die einen bemerkenswerten Erfolg erzielten, waren rein weltlich. Die geistlichen Autoritäten erklärten ihn in Verruf, und im Sommer 1909 verlieh ihnen ein Zufall das Mittel, Ferrer zu vernichten. Ein Arbeiterstreik in Barcelona entwickelte sich zu einer bedrohlichen Revolution, und zufällig hielt sich Ferrer beim Ausbruch dieses Aufstandes, mit dem er in keinerlei Verbindung stand, für einige T a g e in Barcelona auf. Seine Feinde benutzten diese Gelegenheit, ihm die Schuld an diesem Aufruhr in die Schuhe zu schieben. Falsche Zeugenaussagen (einschließlich gefälschter Dokumente) wurden dem Gericht vorgelegt. Zeugenaussagen zu seinen Gunsten wurden unterdrückt. Die katholischen Zeitungen agitierten gegen ihn, und die führenden Geistlichen Barcelonas bestürmten die Regierung, diesen Menschen, der die modernen Schulen, die Wurzel allen Übels, geschaffen hätte, nicht zu schonen. Ferrer wurde von einem Militärgerichtshof verurteilt und am 13. Oktober erschossen. Er starb für die Sache der Vernunft und der Gedankenfreiheit, und obwohl es keine Inquisition mehr gab, gelang es seinen Feinden doch, ihn unter der falschen Anklage der Anarchie und des Hochverrats zu ermorden. Vielleicht wird die Empörung, die in ganz Europa herrschte und in Frankreich ihren lautesten Widerhall fand, eine Wiederholung solcher schändlichen Maßnahmen verhindern, aber in einem Lande, in dem die Kirche so mächtig und so bigott und die Politiker so korrupt sind, ist alles möglich.
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Achtes
Kapitel
DIE RECHTFERTIGUNG DER GEDANKENFREIHEIT Die meisten Menschen, die in der freien Luft eines modernen Staates aufgewachsen sind, stehen selbstverständlich bei dem langen Kampfe zwischen Freiheit und Autorität mit ihrer Sympathie auf der Seite der Freiheit und halten es wahrscheinlich für schwierig, auch nur ein Wort zugunsten der tyrannischen und nach ihrer Ansicht verwerflichen Politik anzuführen, mit deren Hilfe Behörden und Regierungen sich bemühten, neue Ideen zu ersticken und freies Denken niederzuhalten. Der auf diesen Blättern aufgezeichnete Konflikt erscheint wie ein Krieg zwischen Licht und Finsternis. Wir beklagen laut die von Thron und Altar gebildete finstere Verschwörung gegen den Fortschritt der Humanität. Voll Schauder erinnern wir uns der Leiden, die so zahlreiche Vorkämpfer der Vernunft von Seiten blinder, wenn nicht gar böswilliger Träger der Autorität zu erdulden hatten. Aber es läßt sich auch eine mehr oder weniger stichhaltige Erklärung zur Entschuldigung für die Anwendung von Zwangsmitteln anführen. Betrachten wir die engstirnigste A u f f a s s u n g der rechtmäßigen Machthaber der Gesellschaft im Hinblick auf ihre einzelnen Untertanen. Wir wollen in Übereinstimmung mit M i 11 annehmen, daß „der einzige Zweck, der die Menschheit, Individuum und Allgemeinheit berechtigt, in die Handlungsfreiheit irgendeines ihrer Mitglieder einzugreifen, Selbstschutz ist", und daß Zwang nur zur Verhinderung eines Unrechts gegen andere gerechtfertigt erscheint. Dies ist die geringste Forderung, die der Staat erheben kann, und man muß zugeben, daß es nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht des Staates ist, seine Mitglieder vor Schaden zu bewahren. D a z u ist der Staat da. Bis heute ließ sich kein abstrakter oder objektiver Grundsatz aufstellen, weshalb die Freiheit der Rede eine bevorrechtete Form der Freiheit des Handelns sei, oder weshalb die Gesellschaft ihre Verteidigungswaffen niederlegen 156
und tatenlos die Hände falten sollte, wenn sie überzeugt ist, daß durch die Rede eines ihrer Mitglieder Leid heraufbeschworen wird. Die Regierung muß die Gefahr beurteilen, und ihr Urteil mag falsch sein. W e n n sie aber überzeugt ist, daß Unheil droht, ist es dann nicht ihre klare Pflicht, eingreifen? Dieses Argument liefert die Entschuldigung für die Unterdrückung freier Meinungsäußerung seitens der Regierung in alten und modernen Zeiten. Es kann für Inquisition, für Pressezensur, für Gotteslästerungsgesetze und für alle ähnlichen Zwangsmaßnahmen ins Treffen geführt werden, mögen sie auch noch so übertrieben oder schlecht beraten gewesen sein, sofern die Absicht bestand, die Gesellschaft gegen das zu schützen, was die Gesetzgeber aufrichtig für ein schweres Unrecht hielten, so daß sie also lediglich ihre Pflicht erfüllten. (Selbstverständlich erstreckt sich diese Entschuldigung nicht auf Handlungen für das vermeintliche W o h l der Opfer selbst, um deren künftige Erlösung zu gewährleisten.) Heutzutage verdammen wir alle solche Maßnahmen und gestehen dem Staate nicht das Recht zu, die freie Meinungsäußerung zu behindern. Die Lehre von der Freiheit hat in unserm Denken so feste Wurzeln geschlagen, daß es uns schwer fällt, für die Zwangsmaßnahmen unserer irregeleiteten Vorfahren Entschuldigungsgründe zu finden. Aber ist diese Auffassungberechtigt? Sie beruht auf keiner abstrakten Grundlage, auf keinem von der Gesellschaft selber unabhängigem Prinzip, sondern ausschließlich auf Nützlichkeitsgründen. W i r hörten, mit welchen Worten S o k r a t e s den sozialen W e r t der freien Diskussion verteidigte. W i r erfuhren, daß M i 11 o n diese Freiheit für eine notwendige Voraussetzung des Fortschrittes unseres Wissens hielt. Aber während jener Periode, in der die Sache der Toleranz durchgekämpft und tatsächlich zum Siege geführt wurde, benutzte man das viel allgemeinere Argument: es wäre eine Ungerechtigkeit, einen Mann für Ansichten zu bestrafen, von deren Warheit er ehrlich überzeugt wäre, und für die man ihm keine Schuld beimessen könnte, da Überzeugung keine Sache des Willens ist; mit anderen Worten, daß Irrtum kein Verbrechen, und es daher ungerecht sei, Irrtum zu bestrafen. Dieses Argument liefert jedoch keinen Beweis zugunsten der Freiheit der Diskussion. Der Verfechter des Zwanges könnte einwenden: W i r geben zu, daß es ein Unrecht wäre, einen Mann wegen privater, irriger 157
religiöser Überzeugungen zu strafen, aber es ist kein Unrecht, die Propagierung solcher Glaubenssätze zu verbieten, wenn wir überzeugt sind, daß sie schädlich wirken; es ist kein U n recht, ihn zu bestrafen, nicht etwa weil er dieser Überzeugung ist, wohl aber weil er sie verbreitet. Der Kernpunkt dieses Streites ist, daß bei Prüfung dieser Grundsätze das Wort „gerecht" irreführend gebraucht wird. Sämtliche Tugenden basieren auf physiologischen oder sozialen Erfahrungen, und „Gerechtigkeit" bildet davon keine Ausnahme. D a s Wort „gerecht" bezeichnet eine Klasse von Regeln oder Grundsätzen, und Erfahrung hat uns gelehrt, die soziale Nützlichkeit als so überragend wichtig zu betrachten, daß alle Erwägungen momentaner Zweckmäßigkeit dahinter zurücktreten müssen. U n d soziale Nützlichkeit ist dafür der einzige Prüfstein. Daher ist es sinnlos, einer, Regierung vorzuhalten, sie handle ungerecht, wenn sie Meinungen unterdrücke, solange man nicht zu beweisen vermag, daß Freiheit der Meinung ein Grundsatz von so überwältigender Nützlichkeit ist, daß man alle anderen Erwägungen zu ihren Gunsten vernachlässigen könne. Sokrates besaß den richtigen Instinkt, als er zu seiner Verteidigung anführte, Freiheit sei für die Gesellschaft das kostbarste Gut. Die vernunftgemäße Rechtfertigung der Freiheit des Denkens verdanken wir J o h n S t u a r t M i l l und seinem 1859 veröffentlichten Werke „ Ü b e r F r e i h e i t". Dieses Buchbehandelt Freiheit im allgemeinen und versucht die Grenzen abzustekken, innerhalb deren individuelle Freiheit als absolut und unverletzlich betrachtet werden sollte. D a s zweite Kapitel behandelt Freiheit des Denkens und der Rede, und wenn auch viele vielleicht glauben, daß Mill die Aufgaben der Gesellschaft ungebührlich verkleinere und ihre Ansprüche dem einzelnen gegenüber zu niedrig einschätze, so werden doch nur wenige die Berechtigung der Hauptargumente leugnen oder die allgemeine Vernünftigkeit seiner Schlußfolgerungen in Zweifel ziehen. Mill führt ferner aus, daß es keinen anerkannten festen Maßstab gäbe, um die Berechtigung einer Einmischung seitens des Staates in die individuelle Freiheit seiner Mitglieder nachzuprüfen, und stellt fest, daß der einzige Prüfstein Selbstschutz ist, das heißt, die Abwehr eines Leides von anderen. Er gründet dieses Prinzip nicht auf abstraktes Recht, sondern auf „Nützlichkeit im weitesten Sinne im Hinblick auf die dauernden Interessen des Menschen als eines fortschrittlichen Wesens". 158
U m zu zeigen, daß Unterdrückung der Meinungs- und Redefreiheit stets diesen dauernden Interessen zuwiderläuft, erhebt Mill den folgenden Einwand: W e r eine Meinung unterdrückt (vorausgesetzt, er handelt aus ehrlicher Überzeugung), leugnet zugleich deren Wahrheit, aber niemand ist unfehlbar. Er kann sich irren, er kann aber auch Recht haben, oder zum Teil sich irren und zum Teil Recht haben. 1. Falls er sich irrt, und die Ansicht, die er zum Schweigen zu bringen versucht, ist wahr, so hat er die Menschheit einer Wahrheit beraubt, oder wenigstens sein äußerstes getan, um sie dieser Wahrheit zu berauben. Dagegen könnte er einwenden: wir waren dazu berechtigt, denn wir urteilten nach bestem Wissen und Gewissen. N i e m a n d kann von uns verlangen, unsere Urteilskraft auszuschalten, weil wir uns irren können. Wir untersagten die Propagierung einer Meinung, von deren Unrichtigkeit und Gefährlichkeit wir überzeugt waren; das setzt keinen größeren Anspruch auf Unfehlbarkeit voraus, als irgendeine andere, von einer öffentlichen Behörde durchgeführte Handlung. Sofern wir überhaupt handeln sollen, müssen wir die Berechtigung unserer eigenen Anschauung voraussetzen. Darauf erteilt Mill die scharfe Antwort: „Es besteht der größte Unterschied zwischen der Annahme, eine Meinung sei wahr, weil sie durch noch so häufig erhobenen Widerspruch nicht widerlegt werden konnte, und einem Verbot ihrer Widerlegung, weil ihre Wahrheit nur vorausgesetzt wird. Vollständige Freiheit des Widerspruches und der Mißbilligung unserer Ansicht ist die einzige Bedingung, welche uns rechtfertigt, ihre Wahrheit zum Zwecke des Handelns vorauszusetzen; unter keinen anderen Bedingungen kann ein mit menschlichen Fähigkeiten ausgestattetes Wesen vernünftigerweise zu der Überzeugung gelangen, im Rechte zu sein." 2. Falls die allgemein angenommene Meinung, die man gegen ein Einschleichen von Irrtümern zu schützen versucht, zutrifft, so widerspricht die Unterdrückung der Diskussionsfreiheit dennoch der allgemeinen Nützlichkeit. Eine anerkannte Ansicht kann wahr sein (selten ist sie im vollen Umfange wahr); aber daß eine vernunftgemäße Gewißheit wahr ist, kann nur durch die Tatsache bestätigt werden, daß sie völlig unbehindert geprüft und trotzdem nicht erschüttert worden ist. Häufiger und wichtiger ist 3. der Fall, daß die widerstreitenden Doktrinen die Wahrheit zwischen sich teilen. Hier bereitet es Mill nur geringe Mühe, die Nützlichkeit einseitiger volkstümlicher Wahrheiten durch andere Wahrheiten, welche 159
die Volksmeinung in Erwägung zu ziehen versäumt, zu ergänzen. U n d er bemerkt, daß, wenn eine der Ansichten, welche die Wahrheit teilen, Anspruch darauf besitzt, nicht nur geduldet, sondern ermutigt zu werden, es jene ist, welche von der Minorität vertreten wird, da diese es ist, die zu der betreffenden Zeit die vernachlässigten Interessen repräsentiert. Als Beispiel wählt er die Lehren Rousseau's, die verständlicherweise als gefährlich hätten unterdrückt werden können. Auf das selbstgefällige achtzehnte Jahrhundert wirkten diese Lehren wie „ein heilsamer Schock, der die kompackte Masse einseitiger Anschauungen in Verwirrung brachte". Die landläufigen Ansichten kamen in der Tat der Wahrheit näher und enthielten weniger Irrtümer als die Lehren Rousseau's; dennoch umfaßte und verkündete Rousseau's Doktrin in erheblichem U m f a n g e genau jene Wahrheiten, die der populären Anschauung mangelten; und diese bildeten das Positive, das erhalten blieb, nachdem die Flut sich verlaufen hatte. D a s ist etwa der Sinn von Mill's Hauptargument. Der Verfasser dieses Buches würde es vorziehen, obwohl in Übereinstimmung mit Mill's Gedankengängen, dennoch die Rechtfertigung der Freiheit der Meinung etwas abweichend zu formulieren. Der Fortschritt der Zivilisation wird zwar teilweise durch Verhältnisse bestimmt, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen, hängt aber in höherem und immer wachsendem Maße von Dingen ab, die im Machtbereich des Menschen liegen. Vorherrschend sind dabei der Fortschritt unseres Wissens und die wohlerwogene Anpassung unserer Gewohnheiten und Einrichtungen an neue Verhältnisse. Z u m Fortschritt der Wissenschaft und zur Berichtigung von Irrtümern ist aber uneingeschränkte Freiheit der Diskussion erforderlich. Die Geschichte zeigt, daß in Griechenland der Wissensschatz sich mehrte, solange die Forschung vollkommen unbehindert war, und daß auch in modernen Zeiten, nachdem die der Forschung angelegten Fesseln restlos gesprengt worden waren, die Wissenschaften sich mit einer Schnelligkeit weiterentwickelten, die den Sklaven der mittelalterlichen Kirche als Werk des Teufels erschienen sein würden. Ferner ist es offensichtlich, daß zur Anpassung sozialer Gewohnheiten, Einrichtungen und Methoden an neue Bedürfnisse und Bedingungen uneingeschränkte Freiheit der Nachprüfung und Kritisierung dieser Verhältnisse herrschen, und jedem das Recht zugebilligt werden muß, selbst die unpopulärsten Ansichten zu äußern, gleichgültig, wie krän160
kend sie für das vorherrschende Empfinden auch sein mögen. Sofern die Geschichte der Zivilisation uns überhaupt etwas zu lehren vermag, so ist es folgendes: es gibt eine unerläßliche Bedingung für geistigen und moralischen Fortschritt, die zu gewährleisten restlos in der Macht des Menschen selber liegt; die vollkommene Freiheit des Denkens und der Rede. Die Sicher u n g dieser Freiheit kann mit Recht als die wertvollste Errungenschaft moderner Zivilisation und als die fundamentalste Bedingung sozialen Fortschrittes betrachtet werden. Erwägungen ständiger Nützlichkeit, auf denen diese Freiheiten beruhen, müssen jede Erwägung momentaner Vorteile, die von Zeit zu Zeit als Begründung zur Verletzung dieses Rechtes angeführt werden, verstummen lassen. Diese ganze Beweisführung f u ß t auf der Annahme, daß der Fortschritt des Menschengeschlechts und dessen geistige und moralische Höherentwicklung eine Wirklichkeit undwertvoll sei. Für jemand, der dem Kardinal N e w m a n beipflichtet, daß „der Fortschritt und die Vervollkommnung unserer Rasse ein Traum ist, weil die Offenbarung dem widerspricht", ist das vorgetragene Argument bedeutungslos, und er kann folgerichtig auch der Überzeugung des gleichen Autors zustimmen, daß „es ein Gewinn für dieses Land sein würde, wenn es erheblich abergläubischer, bigotter, trübsinniger und von seiner religiösen Überzeugung besessener wäre, als es gegenwärtig zu sein scheint". Während Mill seinen glänzenden Essay schrieb, den jeder lesen sollte, begann die damalige englische Regierung (1858) mit ihren Verfolgungen wegen Verbreitung einer Lehre, die den Tyrannehmord als berechtigt verfocht, da eine solche Lehre unmoralisch sei. Zum Glück wurden diese Verfolgungen nicht durchgeführt. Mill nimmt bezug auf diese Angelegenheit und erklärt, eine Doktrin, die den Tyrannenmord billigt (und ich möchte noch hinzufügen: Anarchie) bildet keine Ausnahme von der Regel: es müßte vollste Freiheit herrschen, jede Lehre, sie möge einem noch so unmoralisch erscheinen, als Sache ethischer Überzeugung zu bekennen und zu erörtern. Ausnahmen, Fälle, in denen das Eingreifen der Autoritäten gerechtfertigt ist, können nur dann anerkannt werden, wenn diese Fälle einwandfrei unter ein anderes Gesetz fallen. Zum Beispiel, wenn eine unmittelbare Anstiftung zu bestimmten Gewaltakten vorliegt, wäre unter Umständen ein Einschreiten der Behörden gesetzlich zu rechtfertigen. Aber die Anstiftung muß 11
Bury,
Gedankenfreiheit
161
überlegt und direkt erfolgen. Wenn ich ein Buch schreibe, in dem ich die bestehenden Gesellschaftsordnungen verdamme und eine Theorie der Anarchie verteidigte, und ein Mensch, der das Buch liest, kurz darauf ein Verbrechen begeht, läßt sich vielleicht klar nachweisen, daß mein Buch den Mann zum Anarchisten gemacht und ihn veranlaßt hat, das Verbrechen zu begehen. Aber es wäre ungesetzlich, mich deswegen zu bestrafen oder das Buch zu verbieten, es sei denn, daß es eine direkte Aufforderung zu dem spezifischen Verbrechen enthielte, das der Täter beging. M a n kann sich bestimmte Fälle vorstellen, die eine Regierung stark in Versuchung führen, und bei denen sich auch die Volksstimmung dafür einsetzt, den Grundsatz der Freiheit aufzugeben. Zur Illustrierung will ich einen zwar höchst unwahrscheinlichen Fall annehmen, der aber den Streitpunkt einwandfrei klarstellen dürfte. Man stelle sich vor, daß ein Mann von außerordentlich suggestiver Erscheinung und mit der wunderbaren Macht begabt, anderen seine eigenen unvernünftigen Ideen aufzuzwingen, mit einem Wort ein typischer religiöser Führer, davon überzeugt ist, daß der Weltuntergang im Verlaufe weniger Monate bevorstehe. Predigend und Flugblätter verteilend durchwandert er das ganze Land; seine Worte besitzen eine elektrische Wirkung: die große Masse der Ungebildeten und Halbgebildeten läßt sich überzeugen, daß ihnen in der Tat nur noch wenige Wochen beschieden sind, um sich auf den T a g des Gerichtes vorzubereiten. In Massen verlassen die Leute ihre Stellungen, legen die Arbeit nieder, um die kurze ihnen verbleibende Zeit zum Beten und zum Lauschen auf die Beschwörungen des Propheten zu verwenden. D a s Land wird durch den gigantischen Streik lahmgelegt; Handel und Wandel gelangen ins Stocken. Die Menschen besitzen eindeutig das legale Recht, ihre Arbeit aufzugeben, und der Prophet hat eindeutig das legale Recht, seine Überzeugung, daß das Ende der Welt gekommen sei, zu verkündfen — eine Ansicht, die Jesus Christus und seine Jünger zu ihrer Zeit genau so irrtümlich vertraten. Viele würden sich vielleicht auf den Standpunkt stellen, daß verzweifelte Krankheiten, verzweifelte Heilmittel erfordern, und die Versuchung wäre groß, den Fanatiker mundtot zu machen. Aber einen Mann ins Gefängnis zu werfen, der weder das Gesetz gebrochen, noch irgend jemand anderen dazu verführt hat, das Gesetz zu verletzen oder den Frieden zu gefährden, wäre ein offenkundig tyrannischer Akt. Andere wür162
den behaupten, die Sünde, die U h r der Freiheit, zurückzustellen, wäre verhängnisvoller, als ein durch Propagierung eines Irrtums hervorgerufener momentaner Schaden, gleichgültig wie groß die Einbuße auch sein möge. Es wäre lächerlich, leugnen zu wollen, daß die Freiheit der Rede bisweilen großen Schaden stiften kann. Jede gute Sache erweist sich bisweilen als schädlich. Zum Beispiel eine Regierung, die schicksalsschwere Irrtümer begeht; Gesetze, die sich in Einzelfällen häufig übertrieben hart auswirken. Können etwa die Christen irgend einen anderen Entschuldigungsgrund für ihre Religion vorbringen, wenn man sie unliebenswürdiger Weise daran erinnert, daß diese Religion durch den Grundsatz von der allein seligmachenden Kirche unvorstellbares Leid verursacht habe? Seitdem der Grundsatz der Freiheit des Denkens als oberstes Prinzip sozialen Fortschrittes anerkannt ist, ist dieser Grundsatz aus der Sphäre eines bloßen Nützlichkeitsprinzips in die Sphäre höherer Zweckmäßigkeit, die wir Gerechtigkeit nennen, aufgerückt. Mit anderen Worten, Redefreiheit ist zu einem Rechtsgrundsatz geworden, auf den sich jeder Einzelne berufen kann. Die Tatsache, daß sich dieses Recht letzten Endes vom Gesichtspunkt der Nützlichkeit ableitet, berechtigt keine Regierung, es aus Zweckmäßigkeitsgründen in bestimmten Fällen außer Kraft zu setzen. Die in jüngster Zeit in England verhängten, ziemlich beunruhigenden Strafen wegen Gotteslästerung illustrieren diesen Gesichtspunkt. Nach allgemeiner Ansicht war das Gotteslästerungsgesetz (vgl. S. 96) zwar nicht aufgehoben, aber zu einem toten Buchstaben geworden. Seit Dezember 1911 wurden trotzdem ein halbes Dutzend Mensdien auf Grund dieses Gesetzes eingekerkert. In all diesen Fällen waren die christlichen Lehren von armen, mehr oder weniger ungebildeten Leuten mit Ausdrücken angegriffen worden, die man als roh und verletzend bezeichnen kann. Mehrere der Richter schienen der Ansicht zu huldigen, daß es keine Blasphemie sei, die fundamentalen Lehren anzugreifen, vorausgesetzt, daß die Angriffe in „dezenter Sprache" erfolgen, während „indezente" Anpöbelungen eine Gotteslästerung darstellen. Diese Auffassung bedeutet eine neuartige Definition des Begriffes Blasphemie und widerspricht strikt der Absicht des Gesetzgebers. Sir J. F. S t e p h e n wies darauf hin, daß die Entscheidungen der Richter aus der Zeit Lord H a l e ' s (im siebzehnten Jahrhundert) bis zu der Aburteilung Foote's im Jahre 1883 die gleichen Grundsätze unter ii'
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Berufung auf das gleiche Prinzip vertreten hätten, nämlich die Doktrin, daß es sowohl ein Verbrechen sei, die Wahrheit der fundamentalen Lehren der christlichen Religion zu leugnen, als auch sie verächtlich oder lächerlich zu machen, da das Christentum einen Teil der Gesetzgebung des Landes bilde. Der zur Entschuldigung solcher Verfolgungen vorgebrachte Einwand lautet, das Ziel dieser Maßnahmen sei, das religiöse Empfinden vor Beleidigungen und Verächtlichmachung zu bewahren. Hierzu bemerkt Sir J. F. Stephen: „wenn das Gesetz in Wahrheit unparteiisch wäre und Blasphemie nur bestrafte, weil die Empfindungen der Gläubigen verletzt würden, so müßte es auch Predigten bestrafen, da durch diese die Gefühle Ungläubiger gekränkt werden. Sämtliche wirklich ernsthafte und begeisterte religiöse Uberzeugungen sind allen, die den betreffenden Glauben nicht teilen, aufs schärfste feindlich gesinnt". Da das Gesetz in keiner Weise die Wahrheit der christlichen Lehre bestätigt, müßte es audi der Heilsarmee den gleichen Schutz angedeihen lassen. In der T a t läßt sich das Gesetz „nur durch das erklären und rechtfertigen, was ich als sein eigentliches Prinzip betrachte — das Prinzip der Verfolgung". Gegner des Christentums könnten mit voller Berechtigung einwenden: falls das Christentum falsch ist, weshalb darf man es dann nur in höflichen Ausdrücken anfeinden? Seine Stärke beruht auf seiner Wahrheit, wenn man seine Falschheit zugibt, kann man nicht dafür eintreten, daß es eines besonderen Schutzes würdig sei. V o n den Christen fordert das Gesetz keine Zurückhaltung, mögen die christlichen Predigten für Andersgläubige auch noch so verletzend sein. Das Gesetz ist also nicht von dem unparteiischen Wunsche diktiert, den Gebrauch von Ausdrücken zu verhindern, die verletzend wirken könnten, sondern geht von der Hypothese der Wahrheit des Christentums aus und vertritt daher den Grundsatz der Verfolgung. Die heutige Durchführung des Strafgesetzes gegen Blasphemie gefährdet nicht die Freiheit jener gebildeten Ungläubigen, welche die Fähigkeit besitzen, den Fortschritt zu fördern, aber es widerspricht dem obersten Prinzip der Meinungs- und Redefreiheit. Es verhindert ungebildete Menschen ihre Gedanken in der einzigen Form zu äußern, in der sie dieselben auszudrücken vermögen, was alle, die eine bessere Erziehung genossen haben, ungestraft weit wirkungsvoller und heimtückischer tun können. Manche Menschen, die im Verlaufe der letzten zwei Jahre zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, haben 164
ihre Ansichten lediglich in einer beklagenswert geschmacklosen Weise geäußert, Ansichten, die man in mehr oder weniger höflicher Form in Büchern lesen kann, die in der Bibliothek von Bischöfen stehen, sofern diese Bischöfe nicht besonders rückständige Personen sind. Falls das Gesetz überhaupt einen Wert besäße, hätte es unbedingt auch gegen die Verfasser dieser Bücher angewandt werden müssen. So, wie das Gesetz heute gehandhabt wird, bestraft es lediglich schlechten Geschmack, und das bedeutet ungebildeten Freidenkern gegenüber eine Diskriminierung. Würden deren Worte das Publikum so schwer verletzen, daß ein Aufruhr entstünde, dann sollte man diese Leute wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, aber nicht wegen ihrer gotteslästerlichen Reden anklagen. Ich kann einen Menschen, der eine Kirche oder ein bischöfliches Palais beraubt oder beschädigt, nicht wegen Tempelschändung, sondern höchstens wegen Diebstahl, Sachbeschädigung oder wegen irgendeiner ähnlichen Straftat verurteilen.*) Ein Antrag zur Abschaffung des Blasphemiegesetzes wurde 1889 von B r a d l a u g h im Unterhause eingebracht, aber abgelehnt. Tune Reform wäre dringend erforderlich. Sie würde „die Wiederholung solcher j n unregelmäßigen Zwischenräumen vorkommenden empörenden Verfolgungen verhindern, die noch niemals einem Menschen und am allerwenigsten der Sache, der sie dienen sollten, Nutzen gebracht haben, und die häufig nur einen Vorwand zur Befriedigung persönlichen Rachegefühls unter dem Schutzmantel der Religon darstellen"**). Der Kampf der Vernunft gegen Autorität hat mit einem entscheidendem und anscheinend dauerndem Siege der Freiheit geendet. In den meisten zivilisierten und fortgeschrittenen Ländern wird die Freiheit der Diskussion als fundamentales Prinzip anerkannt. Sie gilt als ein Prüfstein der Aufklärung, und selbst der Mann auf der Straße erkennt an, daß Länder wie Rußland und Spanien, in denen die freie Meinungsäußerung mehr oder weniger beschränkt ist, deswegen als weniger kultiviert im Vergleich mit den Nachbarstaaten angesehen werden. Alle geistigen Menschen, die in Betracht kommen, halten es für selbstverständlich, daß es keinen Gegenstand im Him* ) A u c h in Deutschland gilt Gotteslästerung als Vergehen, aber es muß bewiesen werden, d a ß tatsächlich ein Ärgernis erregt wurde, und die S t r a f e beträgt höchstens drei T a g e H a f t . * * ) D a s Zitat habe ich Sir J . F . Stephens Aufsatz-' „Blasphemie u n d blasphemische Schriften" in Fortnightly Review, M ä r z 1884, entnommen.
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mel und auf Erden gibt, der nicht ohne Rücksicht auf theologische Theorien erforscht werden darf. Kein Mann der Wissenschaft trägt Bedenken, seine Forschungsergebnisse zu veröffentlichen, unbekümmert um die Folgen, die sie vielleicht für die herrschende religiöse Überzeugung haben. Kritik an religiösen Lehren oder an politischen und sozialen Einrichtungen ist frei. Optimisten vertrauen fest darauf, daß dieser Sieg von Dauer sein wird, daß geistige Freiheit für hnmer ein gesicherter Besitz der Menschheit ist, daß die Z u k u n f t den völligen Zusammenbruch jener Kräfte bringen und diese in die entlegensten Winkel der Erde zurückdrängen wird, die sich auch heute noch gegen unbeschränkte Freiheit auflehnen. Die Geschichte erweckt jedoch Zweifel, ob diese H o f f n u n g berechtigt ist, ob nicht vielleicht doch noch einmal ein starker Rückschlag droht? Freiheit der Rede und des Denkens waren in der griechischen und römischen Welt bereits einmal strahlende Wirklichkeit geworden; aber dann trat — in Gestalt des Christentums — eine ungeahnte Kraft in Erscheinung, schlug den menschlichen Geist in Ketten, unterdrückte die Freiheit und zwang der Menschheit einen langwierigen Kampf auf, um die verlorengegangene Freiheit zurückzuerobern. Ist es nicht denkbar, daß sich etwas ähnliches wieder ereignen könnte? D a ß irgendeine aus dem Unbekannteh auftauchende Madit die Welt von neuem überraschen und einen ähnlichen Rückschritt verursachen könnte? Die Möglichkeit läßt sich nicht abstreiten, aber es gibt Erwägungen, welche diese Annahme (es sei denn eine die europäische Kultur vernichtende Katastrophe) unwahrscheinlich erscheinen läßt. Zwischen der intellektuellen Lage von heute und im Altertume bestehen radikale Unterschiede. Die den Griechen bekannten Tatsachen über die physikalische Natur des Universums waren recht spärlich. Vieles, was gelehrt wurde, blieb unbewiesen. Man bedenke nur, was sie und was wir von Astronomie und Geographie — um die beiden Gebiete zu nennen, auf denen die Alten (abgesehen von Mathematik) die größten Fortschritte verbuchen konnten — wissen und wußten. Da es nur wenige bewiesene Tatsachen zur weiteren Forschung gab, blieb Spekulationen der breiteste Spielraum eingeräumt. N u n ist es aber eine ganz andere Sache, eine Anzahl miteinander rivalisierender Theorien zu Gunsten einer zu unterdrücken, als ein abgerundetes System wohlbegründeter Tatsachen zu zerstören. Falls eine Schule von Astronomen die Behauptung vertreten würde, daß die Erde sich um die Sonne 166
drehe, eine andere, daß sich die Sonne um die Erde drehe, aber keine der beiden Schulen die Möglichkeit besäße, ihre Theorie zu beweisen, dann wäre es f ü r eine mit unbeschränkten Machtbefugnissen ausgestattete Autorität leicht, eine dieser Hypothesen auszuschalten. Haben sich aber sämtliche Astronomen darüber geeinigt, daß die Erde um die Sonne kreist, dann dürfte es für jene Autorität ein aussichtsloses Unterfangen sein, den Menschen eine falsche Anschauung aufzuzwingen. Mit einem Wort, da die Vernunft heute über eine ungeheure Anzahl wissenschaftlich gesicherter Tatsachen in bezug auf die N a t u r des Universums verfügt, ist ihre Stellung wesentlich gefestigter als zu den Zeiten, in denen christliche Theologie sie in ihren Bann geschlagen hatte. Jede dieser Tatsachen ist gewissermaßen ein Bollwerk der Vernunft. M a n kann sich daher kaum vorstellen, was den kontinuierlichen Fortschritt des Wissens in der Zukunft zu hemmen vermöchte. In alten Zeiten hing der Fortschritt von wenigen Staaten ab; heutzutage nehmen fast alle Nationen an dieser Arbeit teil. Heute überwiegt allgemein die Uberzeugung von der Wichtigkeit der Wissenschaft, was in Griechenland nicht der Fall war. U n d der Umstand, daß der materielle Fortschritt der Zivilisation von dem Fortschreiten der Wissenschaft abhängt, bietet die praktische Gewähr, daß wissensdiaftliche Forschung nicht abrupt zum Stillstande gelangen wird. Wissenschaft ist heute in gleichem Maße wie Religion eine gesellschaftliche Institution. Aber trotzdem die Wissenschaft verhältnismäßig gesichert erscheint, wäre es immerhin möglich, daß auch in Ländern, in denen der wissenschaftliche Geist in Ehren gehalten wird, gewissen Theorien, die soziale, politische und religiöse Fragen berühren, dennoch ernsthafte Hindernisse in den W e g gelegt werden. Rußland besitzt Männer der Wissenschaft, die niemandem nachstehen. Aber Rußland hat auch eine berüchtigte Zensur. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß in Ländern, in denen heute Meinungsfreiheit herrscht, doch wieder Zwangsmaßregeln eingeführt werden. Falls irgendwo eine soziale Revolution unter Führung von Glaubensfanatikern (ähnlich den Führern der französischen Revolution) zum Siege gelangte und sich entschlösse, ihrem Glauben Geltung zu verschaffen, so würde, wie Erfahrung uns lehrt, fast unvermeidlich auch wieder Gewissenszwang eingeführt werden. Obwohl es töricht wäre, anzunehmen, daß in der Zukunft nie wieder Versuche unternommen werden, die Uhr zurückzustellen, so befindet sich heute 167
die Freiheit doch in einer wesentlich günstigeren Position als im römischen Kaiserreiche. Damals wurde die soziale Bedeutung der Meinungsfreiheit noch nicht ihrem vollen Werte nach gewürdigt, während heute nach dem langen Streite, der ausgefochten werden mußte, diese Freiheit wiederherzustellen, die Menschen den Wert der Freiheit bewußt zu schätzen wissen. Hoffentlich erweist sich diese Überzeugung als stark genug, um allen Verschwörungen gegen die Freiheit standzuhalten. Es sollte aber nichts versäumt werden, um bereits der Jugend die Überzeugung einzuimpfen, daß Freiheit des Denkens ein Axiom menschlichen Fortschrittes ist. Auf einen vollen Erfolg dieser Bestrebungen können wir leider in absehbarer Zeit noch nicht redinen. Unsere Methoden der Jugenderziehung basieren auf Autorität. Es sind immer noch Ausnahmefälle, daß schon die Kinder zu selbständigem Denken angehalten werden; und die Eltern oder Lehrer, die nach diesem ausgezeichneten Rezept handeln, sind voller Zuversicht, daß die Ergebnisse des selbständigen Denkens dieser Kinder mit den Anschauungen übereinstimmen werden, welche die Eltern oder die Lehrer für wünschenswert erachten. Sie setzen nämlich voraus, daß sich das Kind bei seinem Denken von den Grundsätzen leiten lassen wird, die ihm vorher bereits von autoritativer Seite eingeimpft worden sind. Führt aber das selbständige Denken des Kindes dazu, diese Grundsätze, seien sie moralischer oder religiöser Natur, anzuzweifeln, so fühlen sich Eltern und Lehrer, sofern sie nicht ungewöhnliche Ausnahme-Erscheinungen sind, tief enttäuscht und entmutigen das Kind durch ihren Tadel. Selbstverständlich geht die Denkfreiheit nur bei besonders begabten Kindern soweit. In diesen Fällen könnte man dem Kinde sagen: „Mißtraue deinem Vater und deiner Mutter", das ist das erste Gebot. Ja, es sollte zum Erziehungsprogramm gehören, Kindern, sobald sie alt genug sind, um das begreifen zu können, zu erklären, in welchen Fällen es vernünftig und in welchen es unvernünftig ist, das was ihnen gelehrt wird, auf Treu und Glauben hinzunehmen.
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R E G I S T E R Acton 151 Agamemnon 44 Agag 106 Albigenser 40 Alexander d. VI. 58. 62 Amalekiter 106 Anaxagoras 21 f Annet 117 Antipoden 45 Antitrinitarier 64 f Apologeten 31 f Apologie d. Sokrates 24 f Apologie d. Bibel 117 Apostata J u l i a n 39 Aquino, Thoma9 v. 48 Areopagitica, Milton's 68 Arminianer 65 f Aristophanes 23 Aristoteles 26. 47 ff Arnold 151 Arnold, Matthew 147 Asoka 64 Astruc 130 Augustinus, St. 39. 45. 74 Autorität 10 ff Averroes 47 f Bacon, Roger 45. 60. 69. 89 Bahrdt 118 f Bain 127 Baltimore, Lord 67 Baptisten 26 Bartholomäusnacht 52 Baur 132 Bayle 74. 76. 93 ff. 97. 101. 105 f. Bentham 152 Bibel, Apologie d. 117 Bolingbroke 105 Bradlaugh 149 f. 165 Brahmanismus 64 Bruno, Giordano 58 ff Buckle 128
Büchner 134 Buddhismus 64 Buffon 120. 121 Burke 72 Butler 104 Carlisle, Richard 118 Calas, Jean 75 f Calvin 54 ff. 65 Cäsar, Julius 12 Castellion 65 Cavour 84 Charron 52 f Cherbury 102 Cicero 28. 52. 78 Clarke 95 Colenao 130 f Coleridge 137 Collins 97 Comte 126 f. 137. 144. 153 Condorcet 152 Constantin 33 Cromwell 68 f Cuvicr 120 f Darwin 122 ff. 127. 151 Decius 32 Defoe 72 Demokrit 19 f. 27 Descartes 89. 91 Diderot 108 f. 148. 152 Diktionär 93. 94 Diokletian 32 Dionysos 21 Dissidenten 55. 69 Dodwell 101 Domitian 30 Eaton 117 f Edelmann 118 f Education Act 73 Elias 100 f
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Elisabeth v. England 55. 59. 62 Ellenborough 117 f Enzyklopädia 108 Epikur 26. f 58 Epikuräer 26 £E Erskine 115 Euripides 21 Ferrer 155 Flavius 39 Fourier 152 Frazer 128 Friedrich II, Kaiser 41. 48 Friedrich der Große 82. 83. 118 f Galilei 60 ff Gassendi 90 GeorglII. 72. 83. 117 Georg I. 115 Gibbon 44. 104. 111 ff. 136 Gladstone 97. 122 Glaubensedikt 42 ff Gnostiker 111. 35 Goethe 119 Greg, W. R. 137 Gregor IX. 40 Gregor XVI. 84 Grote 152
Inquisition 40 ff. 57. 61 Intoleranz 38 Iphigenia 44 Islam 47 James I. 59. 89. 102 Johann XXI. 48 Johnson Dr. 111 Josef II. 83. 84 Judaismus 42 Jurisdiktion 85. 86 Jowett 137. 138 Kant 119. 123 Karl II. 90 Karl XII. 69 Katharina v. Medici 55 Kett 59 Klerus 74. 77. 78 Konfiskation 53 Kongregationisten 69 Konstantin, Kaiser 37 f. Kopernikus 58. 60. 61. 62. 120 Koran 100 Kyd 59
Haeckèl, Ernst 127. 134. 153 Haie 96. 163. 164 Harrison 126. 150 Hegel 125. 126. 132. 137. 152 Helmholtz 124 Heinrich II. 64 Heinrich IV. 42. 52. 58. 104, Heinrich V. 42 Heinrich VIII. 41 Heraklid 19 Hippokrates 45 Hobbes 90. 91 D'Holbach 108 Holyoake 150 Homer 18. 130 Humanismus 51 Hume 109 ff. 114. 119. 123 Huxley 97. 143
Lachmann 132 Lamennais 84 Lange, Friedrich Albert 123 Laplace 21 Lea 44 Lecky 140. 151 Legate 59 Lessing 49. 82 Leviathan 90 Linné 120 Locke, John 69 ff. 73 f. 76. 84. 89. 91. ff 97. 105. 119 Loisy, Abbé 134. 135 Lucian 115 Ludwig XIII. 74 Ludwig XIV. 74 Ludwig XV. 74. 83 Lukian 29 Lukrez 27. 28 Luther 45. 53. 54. 56. 65 Lyell 121. 140
Independenten 66. 68 Innocenz III. 40 Innocenz IV. 40 Innocenz VIII. 47
Machiavelli 28 Macolano 61 Manning 141 Marc Aurel 78
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Maria Stuart 42 Marlowe 59 Marsilius v. Padua 81 Mazarin 58. 74 Medici, Katharina v. 55 Melanchthon 55 Middleton 103. 104. 114 Mill 104. 124. 151. 152. 156. 158 ff Milton 68. 69. 157 Mirabeau 77 Montaigne 51. 52. 93 Montaga, Mary Wortley 92 Monfort de Simon 40 Morley 109. 141. 148. 149. 151 Morris 143 Napoleon I. 12. 14. 79. 84. 121 Newman 135. 137. 161 Nonkonformisten 72 Newton 123. 152 Osiander 60 Origen 99 Oswald, Wilhelm 153 Paine, Thomas 77. 86. 114 ff. 149 Paley 114 Pascal 89. 93. 104 Pater 143 Paul III. 57 Perikles 20 £ Pitt 72. 104 Pius IX. 85 Pius X. 135 Piaton 24. 26 Plinius der Ältere 112 Plutarch 52. 103 Polemik 95 Powell Baden 139 Prädestination 65 Prälatentum 67 Presbyterioner 68 f Priscillian 39 Priestley 114. 152 Proselyten 30 Protagoras 21 Providence 66 Ptolemäisches System 61. 62 Puritaner 66 Quäker 66. 69 Raleigh, Walter 59 Rationalismus 47
Reichnach 133 Reimarus 130 Renaissance 50. ff 62 Renan 134 Riceardi Pater 61 Richelieu 56. 58. 74 Robertson 128 Robespierre 78. 116 Roger William 66 f Ruffini 86 Ruskin 143 Saint-Simon 152 Savanorola 58 Schiller 119 Seeley 140 Seneca 52. 112 Separation 85. 86 Servetus 45. 54. 65 Shaftesbury 102 ff. 140 Shelley 117. 140 Simon 130 Skeptiker 26 Smith 128 Socinianer 57. 65 Sokrates 7. 22 ff. 28. 35. 78. 157 Sophisten 19 f. 23 Sozinus 66. 67. 86 Sozini Fausto 65 Spencer 123. 126. 127. 144 Spinoza 71. 91. 95. 118. 119. 127. 130 Stephen J. F. 137. 163 Stephen, Leslie 114. 143, ff. Stoiker 26 f. 28 Strauß 132. 134 Stuart, Maria 42 Swinburne 140. 142 Taggart, Mac 153 Tamburini 84 Tatian 31 Taylor 96 Themistius 39 Theodosius 39 Theokratie 54 Theokratie anabaptistische 66 Theophilanthropie 78. 79 Territorial — Code 83 Thomas 48 Thomasiuä, Christian 82 Tiberius 29. 112 Tindal, Matthew 99, 100
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Toleranz 29. 64 f. 67. 72 Toland 92 Toulouse, Graf v. 40 Trajan 30 Trautmannsdorf 84 Tridentiner Konzil 57 Trinitarier 65 Turgot 152 Tylor 128 Unitarianer 69. 73 Urban VIII 61 Valenz 39 Valerian 32 Vanini Lucilio 58 Voltaire 75 f. 79. 83. 105 f. 108 f. 113. 148
Watson 116 Watt 114 Wenhan, Jane 90 Wesley, J o h n 90. 95 Westbury 139 Whithefield 95 Wiedertäufer 65. 66 Wightman 59 Wilberforce 122. 136 Wilhelm III. 67. 115 Wolff 118 Woolston 97 ff. 117 Wordsworth 140 Xenophanes 18 „Zapatas Fragen" 106