Geschichte der französischen Nation [Reprint 2019 ed.] 9783486766042, 9783486766035


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German Pages 346 [356] Year 1947

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Table of contents :
Einführung
Erster Abschnitt. Das Land und die Bevölkerung
Zweiter Abschnitt. Das Römische Reich
Dritter Abschnitt. Niederlassung der Barbaren und Ausbreitung des Christentums
Vierter Abschnitt. Die Erneuerung des Reichs und der Verfall der Zentralgewalt
Fünfter Abschnitt. Entstehen des Lehenswesens
Sechster Abschnitt. Entstehung der französischen Gesellschaft und des französischen Staates
Siebenter Abschnitt. Das gemeine Volk
Achter Abschnitt. Die Vornehmen
Neunter Abschnitt. Das Burgertum
Zehnter Abschnitt. Die Geistlichkeit
Elfter Abschnitt. Der Ausgang des Mittelalters
Zwölfter Abschnitt. An der Schwelle der neuen Zelt
Dreizehnter Abschnitt. Politische und religiöse Spannung Im 16. Jahrhundert
Vierzehnter Abschnitt. Entstehung der absoluten unpersönlichen Monarchie
Fünfzehnter Abschnitt. Die persönliche Herrschaft Ludwig XIV
Sechzehnter Abschnitt. Die Schicksalswende des 18. Jahrhunderts
Siebzehnter Abschnitt. Die Revolution
Achtzehnter Abschnitt. Versuch mit der liberalen Monarchie
Neunzehnter Abschnitt. Einführung des allgemeinen Wahlrechts
Zwanzigster Abschnitt. Die demokratisch-parlamentarische Republik
Schlußbetrachtung
INHALTSVERZEICHNIS
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Geschichte der französischen Nation [Reprint 2019 ed.]
 9783486766042, 9783486766035

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G E S C H I C H T E DER FRANZÖSISCHEN

NATION

CHARLES S E I G N O B O S

GESCHICHTE DER

F R A N Z Ö S I S C H E N NATION

VERLAGSBUCHHANDLUNG BAD K R E U Z N A C H

J.KOHL

Titel der französischen Originalausgabe: Histoire sincère de la Nation française Paris: Les Edltions Rieder Die Einbandzeichnung stellt den Mont-Saint-Mlchel bei Avranches dar. Einbandgestaltung: Leo Stelgerwald

Lizenzausgabe 1947 aus dem Verlage R. Oldenbourg (jetzt Leibniz:Verlag), München Druck: Druckhaus Schmidt & Co., Mainz

Einführung Ich will mich nicht vermessen, in einem Band geringen Umfangs die gesamte Geschichte des französischen Volkes zu schildern. Es ist nur meine Absicht vorzuführen, durch welche Wandlungen die französische Nation hindurchgegangen ist, ehe sie ihre gegenwärtige Form gefunden hat. Ich habe daher zu zeigen versucht, zu welcher Zeit, an welchem Orte und aus welchem Anlaß jene Gebräuche, Einrichtungen und Lebensbedingungen entstanden sind, die mir als Grundlagen des französischen Daseins erscheinen. Ich habe darauf hingewiesen, was französischen Ursprungs ist, was aus einer Nachahmung des Auslands hervorgegangen ist, um heimische Überlieferung von Eingeführtem zu sondern. Lediglich eine Obersicht der geschichtlichen Entwicklung des französischen Volkes ist mein Vorhaben. Ich will unverblümt aussprechen, wie ich die Vergangenheit begreife, ohne Umschweife, ohne irgendeine Rücksicht auf überkommene Meinungen, ohne Bedachtnahme auf Nützlichkeitserwägungen, ohne Scheu vor berühmten Persönlichkeiten und den herrschenden Kreisen. Die französische Geschichte, wie sie in den Schulen gelehrt wird und der Öffentlichkeit bekannt ist, ist vor allem das Werk von Geschieh tschreibern, die in den beiden ersten Dritteln des 19. Jahrhunderts in Ansehen standen. Sie arbeiteten unter Voraussetzungen, die es ihnen immöglich machten, sich selbst ein zutreffendes Bild der Vergangenheit zu formen und erst recht, sie in vollständiger Aufrichtigkeit darzustellen. Die Dokumente, deren sie sich bedienten, wichtig wegen ihrer Folgen, rührten von Männern der bevorrechteten Stände, von Klerikern her. Doch keine Regel gestattet es, die Bedeutung einer Tatsache mit Sicherheit einzuschätzen, noch zu beurteilen, welcher Wert ihr als Beispiel zukommt. Gegen die Auswahl läßt sich daher der Vorwurf der Willkür erheben. Da es in meinem Plan liegt, die gesamte Entwicklung des französischen Volkes seit den ersten Anfängen nachzuzeichnen, schien es mir erforderlich, alle Zeiträume seiner Geschichte und alle Lebenserscheinungen zu behandeln. In der Bestimmung des Umfangs Jeder Periode und jeder Art von Geschehnissen habe ich mich einzig: der Führung meines eigenen Urteils anvertraut. Die Entscheidung, die ich in jedem einzelnen Fall traf, läßt notwendig Einwände zu. S

Man könnte urteilen, daß ich der Politik zu weiten Raum gewährt habe. Ich bin jedoch überzeugt, daß von der jeweiligen Regierung, wie von den äußeren Erscheinungen der Politik, von Einfällen, Kriegen, Aufständen, Herrscherwechsel zu allen Zeiten ein entscheidender Einfluß auf die Entwicklung des französischen Volkes ausgegangen ist. Wenn ich auch den politischen Vorgängen einen Umfang eingeräumt habe, der ihrer Bedeutung angemessen ist, habe ich mich doch nicht an die Überlieferung hinsichtlich der sogenannten historischen Geschehnisse gehalten. Auch die bekanntesten Ereignisse fanden nur kurz Erwähnung oder wurden mit Stillschweigen übergangen, wenn; sie meines Erachtens keine dauernde Wirkung übten. Ich fürchte nicht den Vorwurf, daß ich der Religion einen zu beträchtlichen Einfluß zuerkannt habe. Sie hat das Denken beherrscht und die Lebensführung während fünfzehnhundert Jahren bestimmt; sie hat der Kirche eine Macht verliehen, die in hohem Maße zur Ausbildung der französischen Gesellschaft beitrug. Ich halte es für richtig, daß ich Literatur, Kunst und Wissenschaft in den Hintergrund wies. Es ist sicher, daß ihre Wirkung auf die Masse des Volkes, die von ihnen Kenntnis nahm, nicht beträchtlich gewesen sein kann. Ich fürchte eher, daß ich ihnen unter dem Einfluß des Herkommens noch zuviel Raum gewährt habe. Brauch und Gewohnheit in Landwirtschaft, Industrie und Handel sind wiederholt sehr eingehend beschrieben. Dennoch werden Leser, die gewohnt sind, die gewaltige Wirkung der wirtschaftlichen Erscheinungen auf die gegenwärtige Gesellschaft zu beobachten, vielleicht der Ansicht sein, daß ich das ökonomische nicht genügend berücksichtigt habe. Ich könnte auf das Lückenhafte der Quellen zum Wirtschaftsleben hinweisen; sie sind so unvollständig, daß selten ein Überblick über ein bestimmtes Gebiet oder eine Zeit zu gewinnen ist. Der Einfluß der wirtschaftlichen Kräfte war jedoch, meiner Ansicht nach, zu jener Zeit, da es weder Kapital und Kredit, noch große Unternehmungen gab, weit geringer; das Wirtschaftsgeschehen vollzog sich in der Hauptsache durch die Arbeit des einzelnen, die fast das ganze Leben der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung ausfüllte. Leider konnte ich die Erscheinungen des täglichen Lebens, Ernährung, Kleidung, Wohnverhältnisse, Pamilienbräuche, Privatrecht, Vergnügungen, gesellige Beziehungen, die stets das überragende Lebensinteresse der ungeheuren Mehrheit ausmachten, nur recht unvollständig behandeln. Es ist der schwächste Teil der Arbeit; allerdings ist es besonders schwierig, diese Fragen in einer kurzen Darstellung zu erörtern. Es ging mir nicht darum, neue Tatsachen vorzuführen. Durch Zusammenfügung schon bekannter Einsichten, die jedoch bisher ohne 6

Verbindung nebeneinander standen, ist es mir vielleicht gelungen, neue Erklärungen für den Entwicklungsgang des französischen Volkes zu bieten. Meine Arbeit war nicht vergeblich, wenn es mir gelungen ist, die Aufmerksamkeit auf einige Züge im Leben des französischen Volkes zu lenken, die Forschern zwar vertraut, doch selbst dem gebildeten Leser fremd sind. Ich erwähne unter andrem: für die alte Zeit die außerordentliche Verschiedenheit der Völker und die Mengung von Rassen, aus der die Bevölkerung Prankreichs hervorgegangen ist; das hohe Alter einer seßhaften ackerbautreibenden Bewohnerschaft, die eina gewisse elementare Zivilisation besaß; Orient als Heimat der praktischen Fertigkeiten, die hellenische Herkunft von Literatur und Wissenschaft, den fremden Ursprung und den zwiefachen Charakter des Christentums, die unbedingte Machtfülle der Geistlichkeit; — dann fürs Mittelalter die Umformung des Lebens durch die Ansiedlung barbarischer Völker, den Einfluß der Wiedererweckung des Altertums zur karolingischen Zeit, die Hervorbringung einer bodenständigen französischen Kultur im Pariser Becken, den französischen Ursprung des Lehenswesens, des Rittertums, der Galanterie, des Bürgertums und der Universitäten; den italienischen Unterbau im Kreditwesen, die Ausbildung einer politischen Einheit durch Heer, Steuern und Rechtsprechung des Königs; — endlich für die neue Zeit das Ringen zwischen französischer Überlieferung und Renaissance, die fremde' Herkunft von Diplomatie und Kriegskunst, die Neugestaltung des öffentlichen Lebens durch die Käuflichkeit der Stellen, die wachsende Bedeutung von Bürgertum und Beamtenadel, die praktische Ohnmacht der königlichen Gewalt, das Übergreifen des religiösen Freidenkertums und der Auffassung politischer Freiheit aus England, den Einfluß der Naturreligion auf das Leben des 18. Jahrhunderts, die Vorherrschaft des Bürgertums seit der Revolution, die sehr junge Zentralisierung, die Anpassung des englischen Parlamentarismus an die französische Demokratie. Man könnte als einen Frankreich eigenen Zug noch den Einfluß erwähnen, den Frauen wiederholt, vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, auf das Leben der Nation übten. Da ich immer dem Leitsatz folgte, meine Betrachtungsweise des Vergangenen unverhohlen auszusprechen, mußte ich notwendig in Widerspruch zu den üblichen Lehrmeinungen und selbst zu der vom Unterricht übernommenen Darstellung der französischen Geschichte geraten. Bei der Behandlung einer so ungeheuren Fülle von Material konnten zahlreiche Fehler in den Einzelheiten nicht ausbleiben. Ich muß mich daher auf die Anschuldigung der Überheblichkeit und Nachlässigkeit gefaßt machen. Wenn ich aber einen Vorwurf nicht verdiene, so ist es der, mit Absicht nach dem Paradoxen gesucht zu haben. 7

Erster Abschnitt

Das Land und die Bevölkerung

Die Entwicklung eines Volkes ist durch die materiellen Verhältnisse bedingt, unter denen es gelebt hat. Um die Abfolge der Zustände zu begreifen, durch die das französische Volk hindurchgeschritten ist, wird zunächst ein Oberblick über das Land erforderlich, in dem es geworden ist und über die Volksteile, aus denen es hervorgewachsen, ist. Eine Arbeit über das Werden eines Volkes, — die ursprünglichste Aufgabe der Geschichtschreibung — setzt mithin zumindest einige Kenntnis von Tatsachen voraus, die andern Bereichen der Wissenschaft zugehören; der Erdkunde, soweit es sich um das Land handelt, der Anthropologie und der Ethnographie, soweit es die Bevölkerung angeht. Das

Land

Das Land hat auf das französische Volk in zwiefacher Art gewirkt, einmal durch seine Beschaffenheit, welche die Lebensweise der Bewohner bestimmte, zum andernmal durch seine Lage, die über die Beziehungen der französischen Nation zu den übrigen Völkern der Erde entschied. Durch Bodenbeschaffenheit, Höhenstufung und Klima vereinigt das französische Gebiet die günstigsten Voraussetzungen für das Aufkommen einer zahlreichen, wohlhabenden und mannigfaltigen Bevölkerung. Die Höhengliederung mit ihren großen Unterschieden zwischen den mächtigen Gebirgszügen im Südosten (Alpen), im Südwesten (Pyrenäen), dem dichten Zentralmassiv, dem Hügelland und den ausgedehnten Ebenen im Westen, Norden und Nordosten führt zu starken Verschiedenheiten in Anbau und Wohnweise. Ein großer Teil des Flachlandes und der Hochebenen besteht aus Kalkablagerungen, die dem Anbau der geschätztesten Getreidefrucht, des Weizens, zustatten kommen. Der Boden liefert Silber, Blei und in reichlicher Menge Eisen, das notwendigste Metall für die Herstellung von Geräten und Waffen. Das maritime Klima, ungewöhnlich gleichmäßig und mild, kennt mit seiner stetigen Wärmelage — mit Ausnahme des Nordostens — weder die Härten des Winters, noch die Dürre des Sommers. Dank 8

diesen Witterungsverhältnissen bringt Frankreich eine edle Rebe, hochwertige Gemüse und Früchte hervor. Regelmäßige Regenfälle und eine frische kräftige Luft begünstigen die Anlage natürlicher Weideplätze, die vor den noch jungen künstlichen Futtermitteln die Aufzucht eines prächtigen Viehschlags (von Ochsen und Kühen) und damit die Erzeugung von Milch, Butter und Käse zuließen. Die Flüsse, von regelmäßigem Wasserstand, sind zum erheblichen Teil schiffbar und bilden natürliche Straßen bis tief ins Innere. Von der Küste aus betrachtet erweckt es den Eindruck, daß sie rings um das Zentralmassiv fließen, um sich in einem bestimmten Punkte zu nähern; von der letzten schiffbaren Stelle aus ist auf kurzem Landweg über eine natürliche Niederung ein andrer Flußlauf zu erreichen. Damit wird es möglich, das ganze Land von Meer zu Meer zu durchqueren. Diese günstigen Verbindungswege sind bereits dem griechischen Geographen Strabo aufgefallen, der darin eine absichtsvolle glückliche Fügung einer gütigen Vorsehung erblickte. Die verschiedenen Gegenden sind von der Natur recht ungleich bedacht. Das Zentralmassiv mit seinem Granitboden und seinen Schutthalden und der Nordosten mit kargem Boden und rauhem Klima sind benachteiligt. Nur in harter Arbeit vermögen hier die Bewohner der Erde ihren Unterhalt abzuringen. Für Ackerbau und Handel sind die Striche nahe dem Meer und die fruchtbaren Täler an den Ufern der Flüsse begünstigt. Hier entstanden die wichtigen Ansammlungen von Menschen und die Mittelpunkte des Handels und des politischen Lebens: Marseille, Lyon, Paris, Rouen, Bordeaux Toulouse, Nantes und Lille. Die Lage des Landes hat in hohem Maß auch auf Bildung und Schicksale des französischen Volkes eingewirkt. Frankreich, zwischen dem Kanal, dem Ozean und dem Mittelmeer gelegen, an der Kreuzung der natürlichen Verkehrswege durch Westeuropa, hat zu unmittelbaren Nachbarn vier Länder sehr verschiedener Art: Im Südosten Italien, im Südwesten Spanien, im Nordwesten Großbritannien, im Nordosten Deutschland, jedes mit einer Bevölkerung verschiedenen Ursprungs und anderer- Zivilisation. In diesen Ländern haben sich die wichtigsten Völker Europas herausgebildet; sie alle hat Frankreich zu Anrainern gehabt. Diese Situation konnte nicht ohne gewichtige Folgen bleiben. Seit vorgeschichtlicher Zeit hat Frankreich aus mehreren und entgegengesetzten Richtungen Völker verschiedenen Ursprungs aufgenommen, abweichend untereinander durch Rasse, Wesensart und Brauch. Nachdem diese Völker während Tausenden von Jahren ein Sonderdasein geführt hatten, wuchsen sie schließlich zu einer einzigen Nation zusammen. Es verblieben jedoch tiefgreifende Unterschiede der Körperbeschaffenheit, Geistesart, der praktischen Fähigkeiten und selbst in 9

der Sprechweise zwischen den Gebieten mit Bevölkerung verschiedener Herkunft — zwischen dem Südwesten, dem Südosten, dem Westen, dem Nordwesten und dem Nordosten. Daraus ergab sich eine reiche Mannigfaltigkeit des französischen Menschenschlags. Die. Vielgestalt ist noch erheblicher in den großen Städten, wo die Bevölkerung aus wechselnder Mengung von Zuwanderern aus den verschiedenen Strichen des Landes hervorging. Am stärksten sind die Unterschiede in Paris, wo der Fremde überrascht wird von der außerordentlichen Verschiedenheit der Typen. Die französische Nation ist in ihrer Zusammensetzung weit bunter als irgendein Volk Europas; sie ist in Wahrheit ein internationales Gemenge von Völkern. Daraus erklärt sich auch der Hang des Franzosen zum Internationalismus und das universale Wesen der französischen Literatur. In dieser Vielfalt von Völkern, die miteinander nichts gemein haben, konnte sich eine nationale Verschmelzung durch natürliche Bindungen, etwa die des Ursprungs, der Sitte oder der Sprache nicht durchsetzen. Es hat nie ein Recht oder eine Sprache gegeben, die der gesamten Bevölkerung eigen gewesen wären. Nur vollständige Unkenntnis in anthropologischen Fragen kann von einer französischen Rasse sprechen. Frankreich h a t nie volkliche oder sprachliche Scheidelinien gekannt. Seine Grenzen waren stets nur geographischer oder politischer Art; sie haben sich nur sehr langsam und unter mancherlei Wechselfällen heraus entwickelt. Selbst dort, wo Frankreich von den Anrainern durch natürliche Grenzen getrennt erscheint wie Italien gegenüber durch die Alpen, Spanien gegenüber durch die Pyrenäen, England gegenüber durch den Kanal, auch dort h a t das Nachbarvolk die natürlich gesteckten Grenzen durchbrochen, die Spanier in Navarra und im Roussillon, das italienische Piemont bis zur Rhone, die Bretonen aus England in Armorique (Bretagne). Im Nordosten, wo keine natürliche Abgrenzung vorgezeichnet ist, h a t Frankreich immer nur eine künstliche und veränderliche Grenze besessen; auf beiden Seiten waren die Regierungen unablässig darauf aus, sie zu verlagern. Die Grenzbildung ist Ergebnis von Friedenverträgen und Verhandlungen, die sich durch ein Jahrtausend hinzogen; sie war im Laufe dieser Zsit immer wieder Änderungen unterworfen. Die Theorie der natürlichen Grenzen, Alpen—Pyrenäen—Rhein, die sich auf den Begriff aufbaut, den Cäsar von Gallien geprägt hatte, wurde erst im 17. Jahrhundert geltend gemacht, um eine Politik der Machterweiterung zu rechtfertigen. Die Lage Frankreichs, in Fühlung mit den mächtigsten Völkern des westlichen Europa, mußte seinen Regierungen eine Außenpolitik voller Lasten und Gefahren aufnötigen. Frankreich w a r bestimmt, mit allen Nachbarn im Ringen um die Vormacht oder im Streit um den Besitz der Grenzstriche zu leben. Zu einer Zeit, da jeder Zwist durch Krieg ausgetragen wurde, mußte daraus ein beständiger Kriegszustand erwachsen. Das französische 10

Volk hatte gleichzeitig oder abwechselnd an den vier Grenzen gegen Italien, Spanien, Großbritannien, Deutschland und die Niederlande zu fechten. Von allen Staaten Europas maß es sich mit den mannigfaltigsten Gegnern und bestand die meisten Kriege. Kriege haben nicht nur die Außenpolitik beherrscht, sie waren auch entscheidend für das Schicksal der Bevölkerung und die Ausgestaltung des Staatswesens. Einfälle und Eroberungen, die Herrschaft des Kriegerstandes, die militärische Macht der Heere waren für den Aufbau der Gesellschaft und die Regierungsform bestimmend. Seit den gallischen Kriegen waren immer Heerführer, Cäsar, Chlodwig, Karl der Große bis Napoleon, die Gebieter von Frankreich; sie haben seinen gesellschaftlichen und politischen Aufbau gezimmert. Die B e v ö l k e r u n g der U r z e i t Der Boden Frankreichs w a r seit den fernst zurückliegenden Zeiten bewohnt; bezeugt ist dies durch die Ausgrabungen menschlicher Knochen und von Geräten aus behauenem Stein, die in großer Zahl in tiefern Bodenschichten oder in Höhlen unter dichten Kalkablagerungen gefunden wurden. Die ältesten Spuren reichen in eine der Perioden zurück, die als Eiszeit bezeichnet werden, da ein Teil des Landes noch von Gletschern bedeckt war, und unter einem kältern und feuchtern Klima als heute eine Reihe von Tieren auf französischem Boden lebte, die längst ausgestorben sind, wie der Höhlenbär, das Renntier, das sich jetzt auf die unwirtlichen Gebiete des äußersten Nordens zurückgezogen hat, der amerikanische Bison, das Mammut und eine erloschene Elefantenart mit wolliger Haut und stark einwärts gekrümmten Hörnern. Die Menschen jener Zeit haben diese Tiere sicher gekannt; man h a t in Höhlen bearbeitete Renntierknochen und Zeichnungen entdeckt, die mit erstaunlicher Ähnlichkeit Renntier, Mammut und Bison darstellen. Doch können wir uns über diese ältesten Zeiten, die als prähistorisch bezeichnet werden, weil sie der Geschichte vorausliegen, nicht aus der Geschichte unterrichten; nur aus andren Wissenszweigen, aus der Anthropologie, aus der Völkerkunde und der Sprachenkunde vermögen wir über sie Kenntnisse zu schöpfen. Die Anthropologie beschäftigt sich mit dem menschlichen Körper, um den Menschen auf Grund physischer Merkmale, Gestalt, Ausmaße, Körperbau, Farbe und Aussehen von Haut und Haaren zu Rassen zusammenzufassen. Sie geht von den gegenwärtigen Rassen aus und nimmt Messungen an den jetzt Lebenden vor. Auf die Menschen der urgeschichtlichen Zeit angewendet wird diese Wissenschaft zur prähistorischen Anthropologie; sie arbeitet mit den Skeletten und Schädeln, die im Boden und in Gräbern gefunden wurden. II

Die Völkerkunde erforscht die Bräuche der menschlichen Gesellschaft. Als Studium des vorgeschichtlichen Menschen wird sie zur prähistorischen Archäologie. Sie prüft die Gegenstände, die von den Menschen der Urzeit erzeugt und verwendet wurden, Bauten, Geräte, Waffen, Schmuck, Speisereste und Spuren der Siedlungen. Sie scheidet die Bewohner, die aufeinander folgten, und gruppiert sie je nach dem Werkstoff, dessen sie sich zur Herstellung ihrer Gerätschaften bedienten. In der ältesten Zeit, der paläolithischen (alte Stein-) Periode wurde der Stein, meist Kiesel, behauen, später im neolithischen (neues Stein-) Zeitalter geschliffen. In der Folge wurden Metalle verarbeitet, zunächst Kupfer, dann Kupfer mit einem Zusatz von Zinn, (Bronzezeit), später das Eisen (Eisenzeit). Doch war der Wechsel von einem Material zum andren nicht plötzlich, eine Reihe von Übergangsstufen bereitet ihn vor. Zu jeder Zeit findet verschiedenes Material Verarbeitung. Gegenstände aus geschliffenem Stein sind auch in der Bronzezeit vertreten, Bronze noch in der Eisenzeit. Die Sprachenkunde erforscht die Sprachen, vergleicht Worte und Formen, um die gemeinsame Ursprache zu ergründen. Kein Schriftdenkmal hat uns die Sprache der vorgeschichtlichen Zeiten bewahrt. Lediglich einige sehr alte Namen sind auf uns gekommen, die örtlichkeiten, Flüsse oder Berge bezeichnen. Diese Überreste lassen bisweilen die Sprache der Urzeit des Landes erkennen. Die Kenntnisse, die diese drei Wissenschaften, besonders die prähistorische Archäologie vermitteln, lassen Lebensweise und allgemeine Entwicklung der Zivilisation auf französischem Boden vor Beginn der Geschichte erraten. Die ältesten Bewohner verwendeten für ihre Gerätschaften nur behauenen Stein, Knochen und Horn. Sie hausten in Höhlen, wo sich Überreste erhielten, und nährten sich von Jagd und Fischfang. Die Überbleibsel ihrer Mahlzeiten bestehen aus Fischgräten und den Knochen großer Tiere, die sie zerlegten, um ihnen das Mark zu entziehen. Sie kleideten sich in Tierfelle, die mit Spangen aus Knochen zusammengehalten waren. Muscheln, Tatzen oder Zähne von Tieren dienten zum Schmuck. Es waren Wilde, die nach Art der Jägervölker in kleinen Gruppen zusammenwohnten. Wir können nicht errechnen, wie lange diese Lebensweise auf französischem Boden gewährt hat. Immerhin wissen wir, daß die Zeit des behauenen Steines sehr lange währte, daß sie nach Zehntausenden von Jahren zählen muß; einzelne Archäologen haben sie sogar auf zehn- bis hunderttausend Jahre veranschlagt. Wir schließen dies aus der Verbesserung der Geräte und der Verzierungen, die wir von den ältesten bis zu den jüngsten Fundstätten verfolgen können. Für jene Zeit, da jeglicher Fortschritt sich ungemein langsam'vollzog, sind die Unterschiede doch so erheblich, daß wir das Zeitalter des behauenen 12

Steines mindest in ein halbdutzend Abschnitte unterteilen können; jeder von ihnen wird nach dem Namen einer vorgeschichtlichen französischen Fundstelle benannt: Saint-Acheul, Chelle, Aurignac, Solutrö, La Madeleine und Le Mas-d'Azil. Die jüngsten Perioden, die mindest 15—20 000 Jahre zurückliegen, sind beachtenswert wegen ihrer Schnitzarbeiten, Zeichnungen und Malereien von Tieren, die eine überraschende Ähnlichkeit aufweisen. Bisher fand man keine Übergänge zwischen dem Gerät aus behauenem und jenem aus geschliffenem Stein. Jedes entspricht einer gänzlich verschiedenen Lebensführung. Dies läßt auf zwei verschiedene Besiedelungen des französischen Bodens schließen. Die v o r g e s c h i c h t l i c h e

Zivilisation

Das Zeitalter des geschliffenen Steins ist uns in der Hauptsache durch Funde bekannt, die teils aus den über ganz Frankreich verstreuten Gräbern, teils an den Ufern einiger schweizerischer Seen zur Zeit niedrigsten Wasserstandes zugänglich wurden. Der neolithische Mensch ist von dem paläolithischen nicht allein durch den Werkstoff seines Geräts geschieden, mehr noch durch die wesenhaften Lebensbedingungen. Er baute Getreide, Roggen, Gerste, Hirse, Weizen, auf deren Vermahlung er sich verstand; es sind uns Mörsen erhalten, mit denen das Korn zerrieben wurde. Sehr wahrscheinlich nährte er sich von Suppe und einer Art Brot ohne Hefe. Er hatte bereits alle Haustiere, die bis heute noch als wesentlich für das Leben der zivilisierten Völker Europas gelten: Schaf, Rind, Ziege, Schwein, Pferd und Hund. Diese Pflanzen und Tiere fehlten vor der neolithischen Zeit auf französischem Boden. Da sie aus dem westlichen Asien stammen, erscheint gesichert, daß sie von asiatischen Völkern nach Frankreich gebracht wurden. Diese Völker verstanden sich auf das Verspinnen von Wolle und Flachs zu Geweben, aus denen sie ihre Kleider zurecht machten. Mit der Anfertigung von Stricken und Netzen waren sie vertraut. Sie erzeugten Tongefäße in grober Handarbeit und brannten sie auf Öfen. Ihre Behausungen sind bis auf die Steinunterbauten einiger runder sehr kleiner Hütten verschwunden; doch haben sich an den Ufern von schweizerischen Seen Tausende von Pfählen erhalten, zugespitzte Baumstämme, die in dem Seeboden eingerammt waren. Sie trugen ,die hölzerne Fläche, auf der sich die Hütten erhoben. Der neolithische Mensch verwendete Beile aus geschliffenem hartem Stein zum Holzfällen und für den Kampf; allmählich wich er von dem Gebrauch des geschliffenen Steins ab, um ihn, doch ohne plötzliches Überwechseln, durch Metalle zu ersetzen. In den ältesten Fundstellen stößt man zu13

erst auf Metalle, die der Gewinnung und Verarbeitung die geringsten Schwierigkeiten entgegensetzten; zunächst auf das Gold, das sich in reinem Zustand im Sand der Flüsse fand und der Herstellung von Schmuck diente, dann auf Kupfer, das zu Gerätschaften verarbeitet wurde. Das Kupfer wurde später mit einem geringfügigen Zusatz von Zinn zu Bronze legiert, die in der Bronzezeit den Werkstoff für fast alle Gegenstände abgab. Aus Bronze sind die Äxte, Speere, Messer, Schwerter, Arm- und Fingerringe, Halsketten und Kleiderspangen. Sie wurden zu Hunderttausenden in den Grabstätten gefunden oder in den Verstecken, in denen sie die Besitzer, in Ermangelung von Einrichtungsstücken für eine gesicherte Aufbewahrung, verbargen. Die sichtbarsten Überreste jener Zeit sind die gewaltigen Baumäler aus unbehauenem Stein; sie tragen bretonische Namen, weil in der Bretagne die bekanntesten erhalten blieben. Häufig begegnet man dem Steinblock aus einem einzigen Stück, der mit der Spitze aufgestellt ist, dem Menhir. Manche sind vereinzelt, andre wieder in einer oder in mehreren Reihen angeordnet. Das größte dieser Steinfelder zeigt die Ebene von Carnac am Ufer des Atlantischen Ozeans. Man zählte früher mehrere Tausende solcher Blöcke von verschiedener Größe. Die wichtigsten Denkmäler, die Dolmen, sind Grabstätten. Der Dolmen besteht aus einem geraden Gang, der von zwei parallel laufenden Steinlagern gebildet wird; er ist mit flachen Steinplatten überdacht und mündet in einen Raum, der als Beertdigungsstätte dient. Ähnliche Gräber findet man in allen Küstenländern von Syrien über Nordafrika bis nach Spanien, Frankreich und England. Der Dolmen ist ein Denkmal gleicher Art wie die ägyptischen Pyramiden, in denen die Könige zur letzten Ruhe bestattet wurden. Es handelt sich mithin um einen gemeinsamen Brauch aller Völker im Süden und Westen des Mittelmeers. Die Toten wurden wie in den ägyptischen Grabmälern mit ihren Waffen und ihrem Schmuck, mit Gefäßen und Geräten beerdigt; die Ruhestätte war so angelegt, daß Zehrung hineingereicht werden konnte. Eifer und Sorge, die diese Völker darauf wandten, die Leichname in dauerhaften Behausungen zu beerdigen und mit allem zu versehen, was fürs Leben unentbehrlich ist, bezeugten, daß sie es für notwendig, erachteten, sich mit den Toten zu beschäftigen und sie denselben Bedürfnissen unterworfen glaubten, wie zu Lebzeiten, gleich als ob die Verstorbenen ihr Dasein im Grab weiterführten. Man hat in den Gräbern Amulette in großer Zahl gefunden, kleine symbolische Gegenstände zur Abwehr üblen Geschicks. Diese Völker fürchteten wie die des Orients, die Macht böser Geister und hofften sich gegen sie durch solche Mittel zu schützen. Die ängstliche Scheu vor den Toten und die Furcht vor einem üblen Schicksal treten uns ajs die ältesten und ursprünglichsten Ansätze eines Glaubens entgegen. Bis 14

heute h a t sich dies in der großen Masse der französischen Bevölkerung behauptet. Über das Gemeinschaftsleben der VöJker vor der Eisenzeit haben wir keine unmittelbaren Zeugnisse. Doch gewähren uns die Spuren ihrer Tätigkeit mindest einen gewissen Hinweis. Um Tausende von Baumstämmen mit Steinäxten zu fällen und sie tief in den Seegrund einzurammen, um die gewaltigen Steinblöcke der Menhire und Dolmen heranzuschleppen und aufzurichten, bedurfte es einer beträchtlichen Zahl von Männern, die im Einvernehmen und unter einem kraftvollen einheitlichen Befehl arbeiteten. Diese Völker waren mithin bereits in Stämme zusammengefaßt, die in strenger Zucht mächtigen Führern gehorchten. Diese Häuptlinge findet man in den Grabstätten mit ihren Waffen und ihrem Schmuck. Keine Methode ermöglichte es bisher in zuverlässiger Weise die Dauer der Zeiträume vor Verwendung des Eisens abzuschätzen. Bestimmte Zeitpunkte konnten nur mit Zuhilfenahme von Gegenständen angesetzt werden, die Namen ägyptischer Könige tragen. In Frankreich wurden ähnliche Objekte nicht gefunden. Im Orient scheint der Gebrauch der Bronze auf 3500—30Q0 Jahre vor unserer Zeitrechnung zurückzureichen; er mag in Frankreich um 3000 v. Chr. begonnen und 2000 Jahre gedauert haben. Für die neolithische Zeit, die länger gew ä h r t haben muß, besitzen wir keinerlei Anhaltspunkte. Man vermutet 3—5000 Jahre, auch mehr: Frankreich ist mithin mindest seit 7000 Jahren von einer ackerbautreibenden seßhaften Bevölkerung bewohnt, die, fest mit dem Boden verknüpft, großangelegte Arbeiten zu vollführen vermochte und unter Bedingungen ähnlich jenen der Landbevölkerung des Mittelalters lebte. Von dieser bereits halbzivilisierten Bevölkerung kennen wir nur materielle Zeugnisse; wir wissen nichts über ihre Sprache, wir können ihr auch nicht einmal einen Namen zuteilen. Die Verwendung des Eisens, bereits weit schwieriger zu verarbeiten, hebt in Ägypten gegen 1500 v. Chr. an. Als seltenes Metall dient es zunächst der Anfertigung von Schmuck und Zieraten, später von Waffen. In Frankreich erscheint es ums 10. Jahrhundert. Es dürfte aus dem Osten, den Donauländern stammen, da man in Hallstatt in Österreich über tausend Grabstätten mit Eisenwaffen antraf. Das Eisen verdrängte in der Eisenzeit — 10.—2. Jahrhundert v. Chr. — allmählich die Bronze. Für die damalige Zeit weisen die Gräber, aus Steinen errichtet und mit einer Erdschicht bedeckt, die Form eines rundlichen Erdhügels auf; man bezeichnet sie als Tumulus. Sie gleichen häufig, besonders im Nordosten Frankreichs, jenen, denen man in Osteuropa, in ganz Deutschland und in Südrußland begegnet. Hier förderte man Schwerter, Leib- und Halsketten, bisweilen einen Streitwagen aus Eisen ans Tageslicht. Die Kenntnisse über die Eisenzeit, 15

die wir aus Funden in vorgeschichtlichen Grabstätten schöpfen, werden durch die Geschichte ergänzt. Wir wissen, daß die Eisenwaffen dem kriegerischen — bereits geschichtlichen — Volke zugehören, dem die Römer den Namen Gallier gaben. Die B e v ö l k e r u n g zur Zeit der G a l l i e r Die frühesten geschichtlichen Nachrichten über die Bevölkerung Frankreichs zur Zeit der Gallier sind uns von den* Griechen überliefert und greifen nur bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. zurück. Die älteste uns bekannte Stadt ist Marseille (griechisch Massalia), von asiatischen Griechen um 600 v. Chr. begründet. Andre griechische Kolonien wurden später längs dem Gestade des Mittelmeers vom Fuß der Pyrenäen bis zu den Alpen angelegt. Frankreich war damals von mehreren Volksstämmen bewohnt, die, mit verschiedenen Namen bezeichnet, sich wesentlich durch Herkunft, Brauch und Sprache unterschieden. Im Südwesten, im Bereich der Pyrenäen waren die Iberer ansässig, die auch Spanien bevölkerten. Nach ihrer Sprache, von der wir nur wenige Worte kennen, zu urteilen, und die sich wesentlich von allen übrigen europäischen Sprachen scheidet, sind sie nicht aus Europa ins Land gedrungen. Im Südosten, im Gebiet der Alpen, saßen die Ligurer, die auch auf dem italienischen Abhang der Alpen bis zum Meer siedelten. Nach griechischen Quellen hatten sie früher auch das Land jenseits der Rhone im Besitz. Wir wissen fast nichts von ihrer Sprache; es ist uns nicht einmal bekannt, ob sie der europäischen Sprachfamilie zugehörten. Eine Endung der ligurischen Sprache uscus (weiblich usca) hat sich in einer ansehnlichen Reihe von Ortsnamen im Gebiet von Genua und in Piemont erhalten. Sie tritt uns in französischer Abwandlung in einigen Namen der Provence (wie Manosque) und selbst im Jura (Mantoche) entgegen. Gewisse französische Forscher behaupteten unter Berufung auf eine griechische Überlieferung, daß die Ligurer ehedem das ganze Land bis zum Kanal bevölkerten und wollten in ihnen das Volk der Bronzezeit erkennen. Sie dachten sogar an ein ligurisches Reich, welches das gesamte Gebiet Frankreichs umfaßt hätte, und in dem das Ligurische die gemeinsame Sprache bildete. Die Namen der Flüsse, überaus alt und ihrem Ursprung nach nicht aufgeklärt, wären in diesem Fall ligurischer Herkunft. Hier handelt es sich um bloße Mutmaßungen. Sicher ist, daß in geschichtlicher Zeit der größte Teil des französischen Bodens von Völkern beherrscht war, die bei den Griechen Kelten, bei den Römern Gallier hießen. Ihre Sprache ist erstorben; einige hundert Worte sind jedoch erhalten geblieben; sie bezeugen eine Ver16

wandtschaft mit Mundarten Großbritanniens und Irlands (waliserisch und gaelisch). Sie gehörte als Glied der sogenannten keltischen Sprachengruppe der großen indoeuropäischen Sprachengemeinschaft an, die fast in ganz Europa der Verständigung dient und sich von einer gemeinsamen Ursprache herleitet, von der auch die alten Sprachen Persiens und Indiens ihren Ausgang nahmen. Die Sprachforscher verlegen die Spaltung ungefähr ins 16. Jahrhundert v. Chr. Wenn die Gallier auch ein geschichtliches Volk sind, so sind wir doch recht unzulänglich über sie unterrichtet. Mit Ausnahme einiger Inschriften, in keltischer Sprache mit griechischen Buchstaben niedergeschrieben und völlig bedeutungslos, besitzen wir von ihnen selbst keine schriftlichen Zeugnisse. Alles, was wir über sie wissen, ist von Fremden auf uns gekommen, von Griechen oder Römern; fast jede Kunde rührt erst aus der letzten Zeit ihrer völkischen Selbständigkeit. Unsere Quellen bestehen aus einigen Erzählungen über Kämpfe halb legendärer Art, die in die Geschichtsklitterungen schlechter Geschichtschreiber eingefügt sind, aus ein paar Angaben griechischer Geographen und des Naturforschers Plinius des Älteren, aus mehreren Bruchstücken der Arbeit eines griechischen Reisenden Posidonios, der die Bräuche der kriegerischen Völker in der Gegend von Marseille gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. dargestellt hat, in der Hauptsache aber aus dem Bericht Cäsars über die Eroberung Galliens. Kurz, wir sind über die Gallier vor allem durch den Feldherrn aufgeklärt, der sie bekämpft hat. Dia Bevölkerungszahl ist uns unbekannt. Für das Gebiet zwischen Alpen, Pyrenäen und Rhein, das Cäsar unter dem gemeinsamen Namen Gallien zusammenfaßt, schwanken die Schätzungen zwischen 4 und 16 Millionen 1 ). Verbürgt ist zumindest, daß Gallien eine seßhafte ackerbautreibende Bevölkerung besaß, weit dichter als die in Germanien jenseit des Rheins, und daß es genügend Getreide aufbrachte, um dem Heer Cäsars die Möglichkeit zu dauernder Versorgung im Lande selbst zu bieten. Die Bewohner waren nicht zu einer Nation geeinigt. Cäsar unterscheidet in dem Gebiet, das er als Gallien bezeichnet, drei Arten von Völkern: die Aquitanier zwischen Pyrenäen und Garonne, die Gallier zwischen Garonne und dem Land nördlich der Seine, die Belger von der Seine bis zum Rhein. Die Aquitanier, in winzige Gebirgsstämme zersplittert, waren anscheinend Iberer ohne Beziehung mit den Galliern. Die Belger, ums 3. Jahrhundert v. Chr. aus dem Osten zugewandert, scheinen von den Galliern durch Brauch und Sprache nicht verschieden; nur waren sie weit kriegerischer. !) Die Angaben Cäsars über die Zahl der Krieger liefert keine zuverlässige Grundlage für die Errechnung der Bevölkerung. Die römischen Feldherren huldigten der Gepflogenheit, die Stärke der feindlichen Heere maßlos zu Ubertreiben. 2 Seignobos, Geschichte

17

Die Gallier, die zur Zeit Cäsars noch den größten Teil des Landes innehatten, zählten zu den streitbarsten Völkern der alten Welt; ihre Herrschaft hatten sie über einen namhaften Teil Mitteleuropas vorgeschoben. Kriegerscharen, die, nach der Überlieferung, ums 5. Jahrhundert v. Chr. aus dem Gebiet der Bituriger aufgebrochen waren (in deren Händen sich die großen Eisenbergwerke in der Umgebung von Bourges befanden), eroberten ganz Norditalien — das die Römer iri der Folge Gallia Cisalpina nannten — und alles Land in Süddeutschland bis gegen Ungarn und Serbien. Ortsnamen ihrer Zunge sind dort erhalten geblieben. Andere Banden überschwemmten im 3. Jahrhundert die Balkanhalbinsel bis nach Griechenland und gründeten in Kleinasien das Reich der Galater. Die Bretonen, die ums 5. Jahrhundert England besetzten und ihren Namen auf das Land (Britannia) übertrugen, waren nahe Verwandte der Gallier nach Sitte und Mundart und blieben in Verbindung mit ihnen.

Politische

und s o z i a l e E i n r i c h t u n g e n Galliens

der

Völker

Weder Gallier noch Belger haben je eine Nation gebildet. Ihr Gebiet war unter eine Anzahl kleiner Völker von verschiedenen Namen aufgeteilt, jedes mit seinem eigenen Häuptling. Sie waren unabhängig voneinander — soweit, daß sie sich gegenseitig bekriegten. Cäsar bezeichnet sie mit einem in Italien üblichen Ausdruck für einen kleinen selbständigen Staat, als populus (Volk) oder civitas (Völkerschaft). Jedes Volk hatte in seinem Bereich einen Platz, meist auf steiler Anhöhe, der von einer befestigten Einfassung umschlossen war und in kriegerischen Zeiten den Bewohnern als Zufluchtstätte diente. Die Mauern des Gürtels bestanden aus einem Gefüge von Steinblöcken und mächtigen Pfählen. Umfang und Menschenzahl dieser kleinen selbständigen Gemeinwesen wichen stark voneinander ab. Sieht man auch von den Stämmen winziger Ausdehnung in den Pyrenäen und in den Alpen ab, so hatten doch die meisten kaum die Reichweite eines gegenwärtigen Departements. Dies gilt für die Völker an den Ufern der Loire, in den Landstrichen am Kanal und für die Belger im Nordosten; die mächtigsten wohnten im Süden und im Herzen des Landes. Doch traten an Stelle der Völker im Süden (der Völker im Languedoc, der Salier der Provence und der Allobroger in der Dauphin^), die im 2. Jahrhundert v. Chr. Rom erlegen waren, römische Pflanzstädte. Die mächtigsten Stämme dehnten sich zur Zeit Cäsars über ganz Gallien vom Osten bis zum Ozean aus, ein jeder mit Boden Im Umfang zweier bis dreier Departements. 18

Hier findet sich die älteste Grundlage für den inneren .Aufbau des französischen Volkes. Durch die Verteilung des Bodens unter die gallischen Völker schieden sich die Landschaften voneinander, die später zu bleibenden Einheiten wurden. Sie behaupteten sich durch zwei Jahrtausende, zunächst als Kirchendiözesen, dann als Lehensprovinzen, schließlich in der Gestalt der französischen Departements, die 1789 geschaffen wurden. Ausdehnung und Umrißlinien blieben fast unverändert, ebenso der Standort der Stadt, die zur Hauptstadt emporstieg. Die größten Gebiete (wie Poitou und Limousin) wurden in drei Departements zerstückt, kleine zu einem einzigen zusammengezogen (in den Alpen, in den Pyrenäen und in der Normandie). Die Hälfte dieser Territorien bildet heute noch je ein Departement. Volk und Stadt trugen verschiedene Namen, so war Lutetia der Hauptort des Stammes der Pariser, Avaricum der Mittelpunkt der Biturig) Der Ausdruck „18. Jahrhundert" wird im französischen Sprachgebrauch für den Zeitraum zwischen dem Ende der Regierung Ludwigs XIV. (1715) und der Revolution von 1789 verwendet.

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wieder fallen gelassen. Bis zur Revolution wurde das Land von einigen Ministern regiert und von den etwa dreißig Intendanten verwaltet, unter die das Gebiet aufgeteilt war. Sie entstammten fast ausnahmslos den reichen Bürgergeschlechtern, die in den Amtsadel aufgestiegen waren. Die Versuche nach ausländischem Beispiel des Schotten Law mit einer Staatsbank als Notenbank und mit einer Aktiengesellschaft, halfen zunächst zur Tilgung der Schulden aus der Regierung Ludwigs XIV.; dann aber brach das Ganze mit gewaltigem Krach zusammen. Die Erinnerung an dieses Abenteuer hinterließ in Frankreich ein dauerndes Mißtrauen gegen Papiergeld und gegen die Spekulation mit beweglichen Werten. Nach seiner Mündigkeit überließ Ludwig XV. die Regierung seinem früheren Hofmeister Fleury, der zum Kardinal ernannt worden war. Fleury blieb Erster Minister bis zu seinem Tode. Das Regierungssystem Ludwigs XIV. erforderte einen König, der in regelmäßiger Weise mit seinen Ministern zusammenarbeitete und die täglichen Erfordernisse des Zeremoniells erfüllte. Ludwig XIV. fand Freude an dem, was er als „Handwerk des Königs" bezeichnete, und gefiel sich darin, Hof zu halten. Ludwig XV. war weit weniger steif als Ludwig XIV.; von Kindheit an mit Genüssen überfüttert, gewann er der Regierungstätigkeit keinen Reiz ab und verabscheute die Etikette. Er kümmerte sich nicht um die Wirksamkeit seiner Minister und ließ gewähren, wenn jeder für sich arbeitete, und selbst, wenn die verschiedenen Ämter einander entgegenwirkten. Die Regierung unterstand nun nicht mehr einem einzigen Willen. Um der Förmlichkeit des Hoflebens zu entgehen, gab Ludwig XV. intimen Wohngelegenheiten, möglichst fern von Versailles, den Vorzug. Der Hof hörte auf, Mittelpunkt der Gesellschaft zu sein. Indes blieben die Formen bestehen. Immer noch herrschten am Hofe Etikette und frommes Wesen. Die Königin, der Thronfolger und die ganze königliche Familie waren tief religiös und ließen sich von jesuitischen Beichtvätern beraten. Auch die meisten Bischöfe standen unter dem Einfluß der Gesellschaft Jesu. Ludwig XV. war zwar nicht gläubig, doch von Furcht vor der Hölle geplagt; bisweilen kam eine Welle von Religiosität über ihn, die ihn geistlichen Einwirkungen gefügig machte. Der religiöse Zwang war nicht aufgehoben; nach wie vor wurden Jansenisten und Protestanten hart bedrückt. Die Geistlichen verweigerten das Begräbnis von Jansenisten, die nicht vor ihrem Tod die Absolution ihres Pfarrers erlangt hatten. Bis zum Ende der Regierung dauerten die Verfolgungen der Kalvinisten. Die „Versammlungen in der Wüste", die heimlich zur Verrichtung der Andacht abgehalten wurden, wurden oft mit Kolbenschlägen auseinandergetrieben. Die „Pastoren der Wüste", die den Gottesdienst leiteten, setzten sich der Todesstrafe aus. Der Katholizismus blieb Staats224

religion. Worte und Schriften, die als Religionslästerung gedeutet wurden, unterlagen schwerer Bestrafung. Die Regierung blieb willkürlich und geheim. Auf ein einfaches versiegeltes Schreiben eines Ministers oder eines gewöhnlichen Funktionärs hin konnte jedermann festgenommen und auf beliebige Zeit im Gefängnis der Bastille eingekerkert werden. Voltaire w a r dort gefangen, weil er einen Zank mit einem großen Herrn hatte. Alles Gedruckte unterstand der Überprüfung, die meisten politischen Schriften der Zeit wurden verboten oder sogar durch den Scharfrichter verbrannt. Doch kam die Staatsgewalt, der es an Leitung gebrach, nur in zusammenhangloser und unzulässiger Weise zur Geltung. Unterdrückungsmaßnahmen, militärische Operationen, Entscheidungen über Krieg und Frieden, Gesetze, selbst die Wahl der Minister, alles hing von irgendwelchen Zufällen ab. Sehr groß war der Einfluß von Frauen. Ihr natürlicher praktischer Sinn und ihre Kenntnis der männlichen Schwächen, Eitelkeit und Ehrgeiz — Kenntnis aus Erfahrung und aus Instinkt — bot ihnen die Möglichkeit, auf die Träger der Macht, auf Minister, hohe Beamte und besonders auf den König einzuwirken. Ludwig XV. stand immer unter weiblichem Einfluß, zuerst unter dem von vier adeligen Damen, später unter dem bürgerlicher Frauen, die er in den Adelstand erhob, der Marquise von Pompadour und der Gräfin du Barry. Häufig waren sie bestimmend für die Wahl von Ministern oder für politische Entscheidungen. Ludwig XV., der anfangs den Beinamen „le bien aimé" (der Vielgeliebte) erhielt, machte sich sehr bald verhaßt. Nach einer Erhebung, die sich gegen die Mißbräuche der Polizei richtete, ließ er 1750. eine Straße rund um Paris anlegen, um den Weg durch die Stadt zu vermeiden. Diese Straße wurde als „Weg der Revolution" bezeichnet. Ein Adeliger, d'Argenson, merkte in seinem Tagebuch an: „Aus England weht ein Wind von Philosophie der Revolution zu uns herüber."

Die

Außenpolitik

Die Außenpolitik, die Zufällen und augenblicklichen Einflüssen überlassen war, schwankte zwischen den verschiedensten Zielen. Zuerst brachte ein Bündnis mit England Europa fünfundzwanzig Friedensjahre. Später schlitterte Frankreich in zwei lange Kriege hinein, in den österreichischen Erbf olgekrieg an der Seite Preußens gegen Österreich und England, sodann in den Siebenjährigen Krieg im Bündnis mit Österreich gegen Preußen und England. Der erste endete ohne sichtbares Ergebnis; der zweite brachte Frankreich nicht — wie die Geschichtsbücher behaupten — um sein Kolonialreich, weil ein sol15 Seignobos, Geschichte

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ches noch gar nicht vorhanden war 1 ), wohl aber um die Möglichkeit der Eroberung Indiens und der Kolonisierung Nordamerikas. Vorteile zog Prankreich nur aus zwei Unternehmungen von geringer Bedeutung, einem kurzen Krieg mit Österreich, der das Herzogtum Lothringen einbrachte, und einem raschen Peldzug, durch den Korsika gewonnen wurde. Die Bevölkerung der Insel, die einen italienischen Dialekt spricht, lebte noch unter einem primitiven Stammest recht nach Gesetzen der Pamiliengemeinschaft, wie sie in der Vendetta zum Ausdruck kommen. Die Finanzlage, die während der Friedens jähre ausgeglichen worden war, wurde durch die Kriegsjahre wieder erschüttert. Die Regierung behalf sich mit Auskunftsmitteln; sie versuchte es mit Ausschreibung neuer Steuern und griff schließlich auf die Depotkassen, die Eigen-1 tum der Bevölkerung waren. Zwistigkeiten

mit

den

Parlamenten

Die königliche Gewalt wurde so schwächlich ausgeübt, daß sie den Untertanen keinen Gehorsam mehr abzunötigen vermochte. Über ein halbes Jahrhundert lang lag das Pariser Parlament unges t r a f t mit den königlichen Ministern in beständigem Streit, wobei es seit 1715 den alten Brauch dar „remontrances" (Vorstellungen) wieder aufnahm. Die Erlasse, die damals die Stelle von Gesetzen einnahmen, wurden dem Parlament zur Eintragung in die Register vorgelegt. Es war der einzige Weg zur öffentlichen Verlautbarung. Vor der Registrierung konnte das Parlament seine Bemerkungen vorbringen, die sogenannten „Vorstellungen". Der König trug diesen Rechnung, soweit es ihm behagte. Wenn er auf Durchführung des Erlasses bestehen wollte, begab er sich persönlich ins Parlament, um die Eintragung anzuordnen. Spitzte sich der Streit zu, dann stellte das Parlament die Rechtsprechung ein, um dia Parteien gegen die Minister aufzubringen. Mitunter boten die Mitglieder des Parlaments in Massen ihren Rücktritt an. Die Regierung ging nicht darauf ein, um die Rückzahlung, der für dieses Amt geleisteten Beträge zu vermeiden. Doch verlegte sie das Parlament in irgendeine Kleinstadt, um den Mitgliedern durchl Langeweile Verdruß zu bereiten, bis schließlich beide Teile, müde dieses Hin und Her, Zugeständnisse einräumten. Die „Vorstellungen" waren zwar geheim, aber in der Parlamentskanzlei wurden Abschriften angefertigt, die handschriftlich oder sogar gedruckt in Umlauf kamen. Zu einer Zeit, da die Öffentlichkeit i) Französisch-Kanada war insgesamt von 60 000 Einwohnern, armen Bauern besiedelt, die sich längs der Flußläufe niedergelassen hatten, oder Pelzjägern, die über die Wüsteneien zerstreut lebten. Die Ostindische Kompagnie besaß außer den Kontoren, die Frankreich noch heute unterhält, in Indien lediglich ein wertloses Qebiet an der Ostküste des Dekans. 226

sonst von Staatsgeschäften keine Kenntnis erhielt, boten die „remontrances" eine Möglichkeit, um die Handlungsweise der Minister bekanntzumachen und der Kritik auszusetzen. Wenn in der Pariser Bevölkerung Unzufriedenheit gärte, konnte damit die öffentliche Meinung in wirksamer Weise gegen die Regierung aufgereizt werden. Das Parlament berief sich zunächst darauf, daß es als „Hüter der Grundgesetze des Landes" Erlasse verhindern müsse, die gegen diese, Gesetze verstießen, die freilich nicht näher gekennzeichnet wurden. Nachdem Ludwig XV. (nach 1750) die Gunst des Volkes verloren hatte, wurde das Parlament immer begehrlicher und bezog sich dabei auf gewisse neue Anschauungen, die dem englischen Beispiel folgten. 1753 erklärte es, der König sei seinen Untertanen durch „eine Art Vertrag" verbunden. Es wurde hinzugefügt, daß „der Herrscher in seinem Schloß eingesperrt, die wahre Lage nicht zu erkennen vermöge" und daß es Aufgabe des Parlaments sei, ihm die Augen zu öffnen. Schließlich wurde geltend gemacht, daß das Parlament die Vertretung der Nation darstelle; es sollte die Erlasse über neue Steuern „in unabhängiger Weise prüfen", womit das Recht der Ablehnung verbunden war. Das Parlament, das ursprünglich ins Leben gerufen wurde, die Gesetze zur Anwendung zu bringen, nahm jetzt das Recht in Anspruch, selbst Gesetze zu erlassen. Die anderen Parlamente Frankreichs, aufgereizt durch das Beispiel der Hauptstadt, erklärten sich solidarisch und forderten, daß alle Parlamente des Landes eine einzige Körperschaft bildeten. Dann kam es zu Auseinandersetzungen mit den Intendanten und den Gouverneuren der Provinzen und zu Versuchen, die Einhebung neuer Steuern zu vereiteln. Das Pariser Parlament verlangte aus Anlaß eines Prozesses gegen einen Jesuiten die Vorlage der Satzungen der Gesellschaft Jesu und erklärte sie als Verletzung der Grundgesetze des Staates; es zwang die Regierung zur Ausweisung der Jesuiten und zur Schließung ihrer Schulen, in denen die Söhne der Reichen erzogen wurden. Das bedeutete einen gewaltigen Erfolg über die Hofpartei, die der Gesellschaft Jesu treu geblieben war. Damit wai einer neuen Zeit der Boden bereitet, die sich dem Einfluß der Jesuiten versagte und gallikanlschen Gedankengängen zuneigte. Der Streit zwischen Parlament und Regierung nahm immer heftigere Formen an, bis ein entschlossener und hemmungsloser Minister, Maupeou, die Weigerung, eine Sitzung abzuhalten, zum Vorwand nahm, um alle Widersacher festnehmen zu lassen und als abgesetzt zu erklären. An Stelle des Pariser Parlaments traten mehrere Gerichtshöfe, die mit ergebenen Richtern besetzt wurden. Unter diese wurde nun der — offensichtlich zuweit gezogene — Aufgabenkreis des Parlaments aufgeteilt. 16*

227

Die G e s e l l s c h a f t Die b e v o r r e c h t e t e n K l a s s e n Der Aufbau der französischen Gesellschaft war in seinen wesentlichen Zügen bereits Ende des 16. Jahrhunderts abgeschlossen; später hat sich höchstens noch das Zahlenverhältnis unter den verschiedenen Schichten etwas verschoben. Die Lage des Volkes, Bauern und Handwerker, erfuhr unter Ludwig XIV. allem Anschein nach keine Veränderung; nur die Lasten wurden durch neue Steuern und die Einrichtung der Miliz noch drückender. Damals herrschte der Eindruck, daß die Bevölkerungszahl abgenommen habe. Das in Handel und Industrie tätige Bürgertum war durch die Kriege und die Abwanderung zahlreicher kalvinistischer Unternehmer verarmt. Die persönliche Regierung Ludwigs XIV. war hauptsächlich für den Adel fühlbar, weil die hochgestellten Persönlichkeiten selbst am Hof erscheinen mußten. Die meisten Herren nahmen die Gewohnheit an, einen Teil des Jahres in Versailles zu verbringen. So bildete sich' ein Hofadel heraus, dem die Mehrzahl der alten Adelsfamilien angehörten; sie trugen die früheren Titel (Herzog, Graf, Marquis) und waren Eigentümer ausgedehnter Ländereien. Doch auch Familien des Amtsadels genossen Zutritt. Sie hatten große Domänen gekauft, mit denen die gleichen Titel verbunden waren. Diese Edelleute, die dem Bürgertum entstammten, traten nach und nach an Stelle des alten Kriegsadels, der ausstarb oder wirtschaftlich vernichtet wurde. Die Stellung der Edelleute richtete sich nun nicht mehr nach der Herkunft, sondern nach Vermögen und den Beziehungen zum Hof. Der Hofadel bildete einen bevorrechteten Kreis, dem die Inhaber der hohen Stellen in der Regierung, im Heer und im Finanzwesen, Minister, Intendanten, Generäle, Richter und Generalpächter entnommen wurden. Diese auserlesene und zahlenmäßig beschränkte Gesellschaft gab sich Ausschweifungen und der Genußsucht hin, was ungerechterweiss Anlaß bot, das Frankreich des 18. Jahrhunderts als lasterhaft zu bezeichnen. Die Auflösung der Sitten, die schon unter Ludwig XIV. eingesetzt hatte, kam in dem großen Erfolg der frivolen Literatur und Malerei zum Ausdruck, in dem zynischen Ton der Unterhaltung und der Vergnügungen, denen Herren und Damen sich hingaben. Man belustigte sich über die Ehe, Mann und Frau spielten mit der Vorstellung, als wären sie beständig auf Abenteuer aus. Liebe wurde, im Gegensatz zur Überlieferung des Adels, als Zeitvertreib behandelt. Der Provinzadel lebte weiter auf seinen Gütern; meist waren es einfache Edelleute ohne Titel, besonders in den entlegenen und wenig ergiebigen Gegenden des Westens, in der Bretagne, im Poitou und in der Gascogne, wo noch heute der Adel am stärksten vertreten ist. 228

Dem Landedelmann stand n u r eine einzige Laufbahn offen, die militärische. Doch bot die Einberufung zum Offizier, die auf Kriegsdauer beschränkt war, keine regelmäßige Einnahme. Die Adelsfamilien, besonders die kinderreichen, lebten in dürftigen Verhältnissen, die bisweilen h a r t an Armut grenzten. Das beamtete Bürgertum, das im 17. Jahrhundert durch den Ankauf neu ausgeschriebener Stellen stark angewachsen war, erhielt sich nun auf dem gleichen Stand, nachdem die Errichtung neuer Ämter fast aufgehört hatte. Es waren zahlenmäßig weite Kreise, die auf Grund ihrer Amtsstellung den Anspruch höherer Geltung erhoben. Die B e v ö l k e r u n g in I n d u s t r i e

und

Landwirtschaft

Aus dem Bürgertum, das dem Handel und industrieller Betätigung nachging, stieg langsam eine noch wenig zahlreiche Oberschicht empor, die der kapitalistischen Unternehmer. Sie betrieben Kohlen- un