Geschichte der estnischen Literatur: Von den Anfängen bis zur Gegenwart 9783110201673, 9783110180251

This is the first modern account of the whole of Estonian literature from the beginnings to the present day. With its in

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German Pages 888 [889] Year 2006

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel I. Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung
Kapitel II. Schriftliche Fixierung: Das frühe estnische Schrifttum (1525/35–1800)
Kapitel III. Neue Genres: Von der Erbauung zur Zerstreuung (1800–1870)
Kapitel IV. Professionalisierung (1870–1900)
Kapitel V. Diversifizierung (1900–1918)
Kapitel VI. Literatur im eigenen Staat (1918–1940)
Kapitel VII.Schreiben in literaturfeindlicher Zeit: Sowjetisierung, Krieg, Besetzung und Exil (1940–1953)
Kapitel VIII. Neue Vorzeichen: Literarische Aufbäumung und Selbstbehauptung (1953–1991)
Kapitel IX. Kontinuität und Erneuerung: Literatur in der Unabhängigkeit (1991 bis heute)
Backmatter
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Geschichte der estnischen Literatur: Von den Anfängen bis zur Gegenwart
 9783110201673, 9783110180251

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Cornelius Hasselblatt Geschichte der estnischen Literatur



Cornelius Hasselblatt

Geschichte der estnischen Literatur Von den Anfängen bis zur Gegenwart

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-018025-1 ISBN-10: 3-11-018025-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin.

V

Für Fritz, Liisa und Sofie

VI

Vorwort

VII

Kleine Völker haben schon deswegen einen weiteren Horizont, weil sie an der Existenz der anderen nicht vorbeikönnen Uku Masing

Vorwort Eine über zwanzigjährige Beschäftigung mit der estnischen Literatur ist kein Garant für das Gelingen einer Gesamtdarstellung eben dieser Literatur. Im Gegenteil, den Verfasser beschlich nicht selten der Gedanke, dass zwanzig weitere Jahre ihm geholfen hätten, die estnische Literatur vernünftig zu ergründen. Andererseits hätte auch das noch keine Sicherheit gegeben – also entschloss ich mich, das Werk gleich in Angriff zu nehmen. Mir schwebte dabei eine Konzeption vor, bei der sich Lesbarkeit, Detailreichtum und Faktensicherheit die Waage halten sollten, d. h. dass das eine nicht unter dem anderen zu leiden hätte. Das hängt mit der Zielgruppe zusammen, zu der ich neben interessierten Laien auch Fachleute aus den Nachbardisziplinen sowie Studierende des Faches gleichermaßen zählen möchte. Obwohl das Buch prinzipiell für Außenstehende geschrieben ist, sollte es auch für Kennerinnen und Kenner der estnischen Literatur nicht völlig uninteressant sein. Ob der Spagat gelungen ist, möge die Leserschaft entscheiden. Zahllose Menschen haben mir bei der Abfassung des Werkes geholfen: In erster Linie denke ich hier selbstverständlich an die Autorinnen und Autoren, die ich wiederholt mit Fragen belästigt habe und die immer bereitwillig geantwortet haben; sie können nicht alle namentlich genannt werden. Von den vielen anderen Personen, die mir bei der Lösung von Detailfragen oder der Behandlung größerer Fragenkomplexe geholfen haben, möchte ich – im Bewusstsein, mindestens ebenso viele zu vergessen – wenigstens die folgenden erwähnen: Krista Aru, Hans-Hermann Bartens, Beate Biehl, Karsten Brüggemann, Anna Katharina Dömling, Otto-Heinrich Elias, Maima Grı¯nberga, Irja Grönholm, Riho Grünthal, Tiit Hennoste, Janika Kronberg, Marin Laak, Margus Laidre, Ilvi Liive, Sirje Olesk, Karl Pajusalu, Aare Pilv, Raimo Raag, Anneli Saro, Ülo Valk, Ergo-Hart Västrik, Piret Viires und Marianne Vogel. Im Falle der Letztgenannten ging die Unterstützung über die Diskussion von

VIII

Vorwort

Fachfragen weit hinaus und erstreckte sich auch auf den persönlichen Bereich. Ein besonderer Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abteilung für Finnougrische Sprachen und Kulturen der Rijksuniversiteit Groningen, die mir ein Jahr lang den Rücken freigehalten und die Geschicke des Instituts ohne Murren weitgehend selbst gelenkt haben. Für die Möglichkeit hierzu gilt der Niederländischen Organisation für wissenschaftliche Forschung (NWO), die mich mit einem Vertretungsstipendium für ein Jahr von der Lehrverpflichtung entbunden hat, mein aufrichtiger Dank. Schließlich danke ich dem Verlag Walter de Gruyter für die Bereitschaft, das Buch in sein Programm zu nehmen und ihm seine überaus kompetente verlegerische Betreuung angedeihen zu lassen. Mein allergrößter Dank gilt aber dem Tallinner Freund und Kollegen Jaan Undusk, der sich im März 2006 nicht gescheut hat, die Reise nach Groningen anzutreten und das ganze Manuskript durchzulesen sowie im Anschluss daran in einer Klausurtagung – aufgelockert durch mehrere Partien Tischtennis und das ein oder andere Glas spanischen Rotweins – mit mir zu besprechen. Er bewahrte mich vor zahlreichen Ungereimtheiten und hat entscheidenden Anteil am Gelingen des Buches gehabt. Was an Fehlern geblieben ist, ist einzig und allein dem Verfasser anzulasten. Zuidhorn, 31. März 2006

Cornelius Hasselblatt

Inhaltsverzeichnis

IX

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Technische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Einleitung § 1 Abgrenzung des Gegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standortbestimmung – Estnisch – Literatur

1

§ 2 Historischer Hintergrund, historisches Umfeld . . . . . . . . Terminologisches – Vor- und Frühgeschichte (bis 1227) – Ordenszeit (Dänische/Deutsche Zeit; 1227–1561) – Schwedische Zeit (1561–1710) – Russische Zeit (1710–1918) – Eigenstaatlichkeit (1918–1940) – Sowjetzeit (1940–1991) – Wiedererlangte Unabhängigkeit (ab 1991)

8

§ 3 Periodisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

§ 4 Vorarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtdarstellungen in Estland bis zum Zweiten Weltkrieg – Estnische Darstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg – Nachschlagewerke und Zeitschriften – Untersuchungen zu Einzelfragen, Personen, Epochen oder Genres – Zur Buchgeschichte – Forschung im Ausland (außer Deutschland, s. u.) – Forschungen im deutschsprachigen Raum

33

Kapitel I Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung § 5 Charakteristika der (estnischen) Volksdichtung . . . . . . . . Volksdichtung vs. materielle Kultur – Wesensmerkmale der estnischen Volksdichtung – Trägerinnen der Volksdichtung

51

§ 6 Die einzelnen Formen der estnischen Volksdichtung . . . . . . Klassifizierung und Quantifizierung – Zur estnischen Mythologie – Volkslieder – Märchen – Sagen – Schwänke, Humoresken, Anekdoten und Vergleichbares – Die »kleinen Genres«

57

§ 7 Die Folklore von Setumaa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Setumaa – Kulturelle Besonderheiten – Hintergrund und Entstehung des Setu-Epos »Peko« – Inhaltsaufriss des Setu-Epos – Wirkung und Wertung des Setu-Epos – Andere Dichtung von Anne Vabarna

73

X

Inhaltsverzeichnis

§ 8 Zum Alter und zur Forschungs- und Überlieferungsgeschichte der estnischen Volksdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Form des älteren Volkslieds – Erste Zufallsaufzeichnungen – Erste umfangreichere und wissenschaftliche Sammlungen – Systematisches Sammeln – Wissenschaftliche Bearbeitung und Erforschung – Publikations- und Editionsgeschichte

89

Kapitel II Schriftliche Fixierung: Das frühe estnische Schrifttum (1525/35– 1800) § 9 Die ersten estnischen Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Handschriftliches – Das erste teilweise erhaltene Buch mit estnischem Text – Weitere Drucke des 16. Jahrhunderts – Handbücher aus dem frühen 17. Jahrhundert § 10 Gelegenheitsdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Die Academia – Reiner Brockmann – Weitere Dichtungen des 17. Jahrhunderts – Käsu Hans – An der Schwelle zur Aufklärung § 11 Frühe Grammatiken und Abc-Bücher . . . . . . . . . . . . . 125 Die Estnischkenntnisse der Oberschicht – Die Grammatiken des 17. Jahrhunderts – Schulwesen und Abc-Bücher – Vertiefung im 18. Jahrhundert § 12 Religiöse Literatur und Bibeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Vorarbeiten und Manuskripte – Katechismen und Handbücher – Das estnische Gesangbuch – Das Neue Testament – Das Alte Testament und die ganze Bibel – Die Herrnhuter § 13 Aufklärerisches Schrifttum, Kalenderliteratur und Presse . . 150 Erbauungsschrifttum – Aufklärung – Kalender – Die erste estnische Zeitung Kapitel III Neue Genres: Von der Erbauung zur Zerstreuung (1800–1870) § 14 Estnisch als Kultursprache und frühe Prosa . . . . . . . . . . 162 Otto Wilhelm Masing – Die ersten Prosaisten – Rosenplänters Beiträge – Übersetzungen, Nacherzählungen, Sentimentalismus – Johann Woldemar Jannsen § 15 Die Geburt der estnischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . 177 Ein holpriger Beginn – »Marahwa Näddala=Leht« – »Das Inland« – »Perno Postimees« und »Eesti Postimees« – Die weitere Entwicklung des Pressewesens

Inhaltsverzeichnis

XI

§ 16 Kristian Jaak Peterson und die frühe estnische Dichtung . . 190 Die Situation um die Jahrhundertwende – Das junge Genie? – Petersons estnische Gedichte – Petersons deutsche Gedichte – Andere Arbeiten von Peterson – Dichtung nach Peterson § 17 Estophilie und Gelehrte Gesellschaften . . . . . . . . . . . . 205 Anfänge des Theaters – Früchte der Aufklärung – Friedrich Robert Faehlmann – Faehlmanns Mythen – Die Gelehrte Estnische Gesellschaft – Halbdeutsch § 18 Das estnische Epos Kalevipoeg und sein Schöpfer Friedrich Reinhold Kreutzwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Friedrich Reinhold Kreutzwalds Leben – Kreutzwalds frühe Publikationen – Vorgeschichte und Entstehung des »Kalevipoeg« – Inhalt des »Kalevipoeg« – Bedeutung und Interpretation des »Kalevipoeg« – Nachwirkung des »Kalevipoeg« – Märchen und Sagen von Kreutzwald – Kreutzwalds übrige Werke und seine Gesamtbedeutung für die estnische Literatur § 19 Lydia Koidula und ihre Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Lydia Emilie Florentine Jannsen – Von der Journalistin zur Vaterlandsdichterin – Koidula und der Beginn des estnischen Theaters – Das erste Allgemeine Liederfest – Carl Robert Jakobson und Jakob Hurt – Buchhandel – Dichtung vor und neben Koidula Kapitel IV Professionalisierung (1870–1900) § 20 An der Schwelle zur kulturellen Emanzipation . . . . . . . . 270 Neue Organisationsformen – Die Verbreiterung des Pressespektrums – Die Petersburger Fraktion – Russifizierung – Die Estnische literärische Gesellschaft (Eesti Kirjameeste Selts) § 21 Entwicklung der erzählenden Literatur . . . . . . . . . . . . 283 Die Feuilletons – Lilli Suburg – Der Boom der historischen Prosa – Triviale Blüte und Literaturverbreitung § 22 Lyrik und Bühnenliteratur nach Koidula . . . . . . . . . . . 299 Die Schule Koidulas – Koidulas Nachfolge? – Anna Haava und Karl Eduard Sööt – Von der Liebhaberbühne zum professionellen Theater – Juhan Kunder und der Weg in die Professionalität § 23 Früher Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 »Eigener Herd ist Goldes wert« – Elisabeth Aspe und Maximilian Põdder – Der ungekrönte König – »Eine schwarze Decke hat unsere Stube« – Gesellschaftskritik

XII

Inhaltsverzeichnis

§ 24 Eduard Vilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Ein unstetes Leben – Die frühe Prosa – Die historische Trilogie – Der Dramatiker Vilde – Das spätere Werk – Nachwirkung Kapitel V Diversifizierung (1900–1918) § 25 Jung-Estland und literarischer Aufbruch . . . . . . . . . . . 347 Gesellschaftliche Umwälzungen – Junges Estland – Jung-Estland – Die Spracherneuerung § 26 Symbolismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Modernisierung der Dichtung – Vom revolutionären Schüler zum Literaturpapst – Meister der Novelle – Andere Prosa vom Beginn des 20. Jahrhunderts § 27 Die Geburt der »Klassiker« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Kanonformung – August Kitzberg – Zwei Dauerbrenner auf der estnischen Bühne – Der Best- und Longseller der estnischen Literatur – Das weitere Werk von Oskar Luts § 28 Avantgardistische Strömungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Modernismus – Futurismus – Sozialismus – Expressionismus – Jaan Oks § 29 Marie Under . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 Das Wunder von der Insel – Die frühe Dichtung – Siuru – Spätere Dichtung – Übersetzungen Kapitel VI Literatur im eigenen Staat (1918–1940) § 30 Institutionalisierung des Literaturbetriebs . . . . . . . . . . 424 Neue Vorzeichen – Der Estnische Schriftstellerverband – Zeitschriften und Buchwesen – Literaturwissenschaft § 31 Europäische Verflechtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Reisefreiheit – Tarapita – Zeitdichtung – Henrik Visnapuu § 32 Anton Hansen Tammsaare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Ein Bauernsohn – Kurzprosa – Zwei Schauspiele – Wahrheit und Recht – Die späten Romane – Rezeption § 33 Prosa und Drama der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . 469 Die fetten Jahre – Der Schelm der estnischen Literatur – Stadt, Land und Meer – Der historische Roman – Die moderne Gesellschaft – Kurzprosa – Bühnenliteratur § 34 Dichtung, Geist und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Die Rückkehr der Zensur – Poesie im Schatten der Prosa – Aufbäumung gegen den Untergang

Inhaltsverzeichnis

XIII

Kapitel VII Schreiben in literaturfeindlicher Zeit: Sowjetisierung, Krieg, Besetzung und Exil (1940–1953) § 35 Der Zusammenbruch des literarischen Lebens . . . . . . . . 515 Zˇdanovs Mission – Die Axt in der Bibliothek – Gleichschaltung – Schlusspunkt § 36 Kampfdichtung aus dem Hinterland . . . . . . . . . . . . . 526 Evakuierung – Organisierung des literarischen Lebens – Linke Wiedervereinigung? – Das Wort als Waffe § 37 Exodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 Literatur unter deutscher Besetzung – Karl Ristikivis erste Romantrilogie – Brauner Terror – Flucht § 38 Gehversuche auf neuem Terrain . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Schreiben im Dienste der Partei – Junger Wein in alten Schläuchen – Junger Wein in neuen Schläuchen – Klassenkampf auf der Bühne – Panegyrische Dichtung § 39 Die Konsolidierung der Exilgemeinschaft . . . . . . . . . . . 562 Aufbau neuer Strukturen – Die ältere Generation des Exils – Bernard Kangro, Karl Ristikivi, Valev Uibopuu – Neue Strömungen in der Dichtung – Entwicklung in der Prosa – Die jüngere(n) Generation(en) Kapitel VIII Neue Vorzeichen: Literarische Aufbäumung und Selbstbehauptung (1953–1991) § 40 Tauwetter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 5.3.53 – Dichterisches Aufatmen – Die Dreigroschenoper – Rückkehr und Umkehr der Älteren § 41 Realismus – sozialistisch oder nicht . . . . . . . . . . . . . . 597 Literatur nach Schablone? – Drei alte Meister – In neuem Fahrwasser – Außerhalb des Fahrwassers § 42 Öffnung und Stillstand in den 1960er-Jahren . . . . . . . . . 612 Finnland – Kontakt mit dem Exil – Die 1968er – Evergreen Zensur § 43 Die Lyrikexplosion der Kassettengeneration und ihre Nachbeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 Die Kassettengeneration – Paul-Eerik Rummo – Jaan Kaplinski – Viivi Luik – Zwei Männer im Hintergrund – Das Genie der 1970er-Jahre – An der Wende zu den 1980ern

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Inhaltsverzeichnis

§ 44 Theater – absurdes und klassisches . . . . . . . . . . . . . . 648 Befreiung vom Agitproptheater – Absurde Vorstöße – Aschenputtel anders – Ausbruchversuche – Vorboten einer neuen Zeit § 45 Erneuerung in der Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661 »Ich war kein Wunderkind« – Groteske Satire und negative Helden – Der Chronist des estnischen kollektiven Gedächtnisses – Sibirien und Saaremaa – Zurück im Alltag § 46 Jaan Kross . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 Der Tallinner Junge – Das Leben des Balthasar Rüssow – Die Themen von Kross – Kleinere historische Prosa – »Der Verrückte des Zaren« – Die anderen historischen Romane – GULAG-Erfahrungen – Der »dritte Weg« und der Sprung in die Gegenwart – Wirkung und Rezeption § 47 Schwanengesang des Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . 696 Stagnationszeit – Viivi Luiks zwei Romane – Die singende Revolution – Belebung der Presselandschaft – Veränderungen in der Verlagslandschaft – Vergangenheitsbewältigung auf der Bühne – Die Ankunft der Postmoderne Kapitel IX Kontinuität und Erneuerung: Literatur in der Unabhängigkeit (1991 bis heute) § 48 Konkurrenz statt intellektuelle Nomenklatura . . . . . . . . 712 Parlamentarische Nomenklatura – Kreativität im Kapitalismus I – Kreativität im Kapitalismus II – Weiterdichten § 49 Neue Möglichkeiten und neue Themen . . . . . . . . . . . . 726 Öffnung der Schubladen – Trauma- und Trauerarbeit – Neue Sexualität – Vulgarität – Krimis, Porno, Punk und Sciencefiction § 50 Neoexperimentalismus und Ethnofuturismus . . . . . . . . . 741 Dichtung und Folklore – Kunst und Kommerz – Renaissance des Südestnischen – Extremismus § 51 Flucht aus der Enge oder Rückzug auf die Insel? . . . . . . . 750 Postmoderne Fortsetzungen – Weg aus Estland! – Die Realität daheim – Die Dekonstruktion des nationalen Mythos – Das moderne Schauspiel § 52 Literatur im elektronischen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . 767 Periodisierungsversuche – Tigersprung – Der Kivisildnik-Skandal – Das Netz als Literaturgenerator – Die Rückkehr zur Folklore § 53 Das literarische Leben im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . 777 Die Herrschaft der Medien – Die literarischen Rahmenbedingungen – Prosa – Theater – Dichten, dichten, dichten

Inhaltsverzeichnis

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der deutschen Übersetzungen (Monographien und Anthologien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XV . . 794 . . 797 . . 845 . . 853

XVI

Inhaltsverzeichnis

Technische Hinweise

XVII

Technische Hinweise In Interesse der Lesbarkeit werden im Text keine Fußnoten verwendet. Im Bedarfsfall erfolgt in Klammern der Verweis auf weiterführende Literatur bzw. eine Quelle, der vollständige Titel findet sich im Literaturverzeichnis (S. 797ff.). Das Estnische hat als junge Schriftsprache eine relativ phonetische Orthographie. Der im Deutschen unbekannte Buchstabe õ bezeichnet einen mittleren, ungerundeten Vokal, der sich vom ö und ü durch die fehlende Lippenrundung unterscheidet; die zahlreichen Diphthonge werden ausgesprochen, indem die sie bildenden Vokale hintereinander artikuliert werden, das ist insbesondere bei ei zu beachten, das nicht wie im Deutschen (= ai) ausgesprochen wird; das s ist immer stimmlos (»scharf«); das h ähnelt vor Konsonanten dem deutschen ch; das v wird wie ein deutsches w ausgesprochen. Bei diesem Buchstaben ist zu beachten, dass im Estnischen bis in die Zwischenkriegszeit hinein das w für das heutige v verwendet wurde und bei einigen Namen die Schreibweise schwankend ist. Deswegen, und weil der Lautwert derselbe ist, werden in estnischen enzyklopädischen Werken w und v als ein Buchstabe angesehen, so dass man die folgende alphabetische Reihenfolge erhält: Weber – Veetamm – Weitzenberg – Veske. Ebenso ist beim Gebrauch estnischer Handbücher zu beachten, dass die Vokale õ, ä, ö und ü am Ende des Alphabets stehen, also etwa: Pukits – Põldmäe – Pärt – Pöögelmann – Püvi. Doppelt geschriebene Buchstaben deuten einen langen Laut an, was für Vokale und Konsonanten zutrifft. Der Name Jaan Kross wird also nicht nur mit einem langen a im Vornamen, sondern auch mit einem langen s im Nachnamen ausgesprochen. Die Betonung liegt grundsätzlich auf der ersten Silbe. Als finnougrische Sprache kennt das Estnische kein grammatisches Genus, weswegen die meisten Personenbezeichnungen (nomina agentis) zweifach übersetzt werden können: Estnisch kirjanik bedeutet sowohl ›Schriftstellerin‹ als auch ›Schriftsteller‹. Bei der Übersetzung von Zitaten kann dies im Deutschen zu umständlichen Formulierungen führen, die im Interesse der Korrektheit aber unvermeidlich sind. Wie üblich bei einem Gebiet mit anderssprachigen Minderheiten haben auch im Falle Estlands viele Toponyme zwei oder mehrere Formen, die parallel verwendet wurden und werden. So ist die estnische Hauptstadt Tallinn im

XVIII

Technische Hinweise

Deutschen und Schwedischen als Reval bekannt, die Universitätsstadt Tartu als Dorpat etc. Im Interesse der Lesbarkeit wird hier einheitlich der estnische Name verwendet, wofür drei triftige Gründe sprechen: 1) In den weitaus meisten Fällen ist die estnische die ältere Form; es hat auch niemals eine offizielle Umbenennung oder einen Übergang von der deutschen zur estnischen Form gegeben, wie manche Darstellungen glauben machen wollen. 2) In der Regel ist die estnische Form die von der Mehrheit der ansässigen Bevölkerung verwendete Form. 3) Die estnische Form ist die einzige heute auf Landkarten gebräuchliche und damit die einzige lokalisierbare Form. Ich erspare mir und meiner Leserschaft daher umständliche Doppelnamen. Estnische Buchtitel sind mit einer eingeklammerten deutschen Übersetzung versehen, gefolgt vom Erscheinungsjahr (falls dies nicht bereits im Text genannt war). Wenn eine deutsche Übersetzung in Buchform vorliegt, folgt dieser Titel kursiv dem Erscheinungsjahr des estnischen Originals, gefolgt vom Erscheinungsjahr der Übersetzung. Alle deutschen Übersetzungen von estnischen Zitaten, Textpassagen etc. stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser. Das betrifft auch die interlinearen Übersetzungen der Gedichte. Datumsangaben werden vereinheitlicht nach dem neuen gregorianischen Kalender wiedergegeben. In Estland galt bis zum Januar 1918 der julianische Kalender (»alter Stil«), die Umstellung erfolgte, indem auf den 31. Januar 1918 der 14. Februar 1918 folgte. Infolge der unterschiedlichen Behandlung der vollen Jahrhunderte, die im julianischen Kalender jeweils ein Schaltjahr sind, im gregorianischen hingegen nur, wenn sie durch 400 teilbar sind, variiert der Unterschied zudem: Bis zum 28. Februar 1700 alten Stils muss man zur Umrechnung in den gregorianischen Kalender zehn Tage hinzuzählen, danach elf Tage, ab dem 1. März 1800 zwölf Tage, und im 20. Jahrhundert hinkte der julianische Kalender 13 Tage hinterher. Bei Personen mit Geburtsoder Sterbedaten im letzten Drittel des Dezembers (alten Stils) kann es daher zu Schwankungen bei den Jahreszahlen kommen, vgl. Alexander Heinrich Neus, der am 26. XII. 1795 bzw. 6. I.1796 geboren ist, oder Jakob Hurt, der am 31. XII. 1906 bzw. am 13. I. 1907 starb. Ihre Lebensdaten sind einheitlich im neuen Stil wiedergegeben als 1796–1876 und 1839–1907. Leider basieren die biographischen Hilfsmittel auf verschiedenen Prinzipien (die auch nicht immer deutlich mitgeteilt werden), so dass in diesem Bereich manchmal Fehler weitergereicht oder sogar potenziert werden: Bei der berühmten Setu-Sängerin Anne Vabarna finden sich als Geburtsdaten der 21. und der 22. Dezember 1877. In jedem Fall handelt es sich hier um den alten Stil, da sie am 4. Januar 1928 ihren 50. Geburtstag feierte (Voolaine 1928, 6), aber in jüngeren Veröffentlichungen kann man auch auf die Formulierung »21. De-

Technische Hinweise

XIX

zember, nach altem Stil 9. Dezember« stoßen (Hagu 2002, 437). Und so werden ihre Lebensdaten häufig mit »1877–1964« angegeben, während nach dem hier vorgestellten und auch von den meisten modernen Handbüchern praktizierten Prinzip »1878–1964« korrekt ist. Um den Text nicht mit Klammerzusätzen zu überfrachten, sind die Lebensdaten standardmäßig im Register (S. 853ff.) aufgeführt und nur in Ausnahmen im Text selbst. Umfangsangaben von belletristischen Texten werden nach Möglichkeit nicht mit Hilfe der je nach Satzspiegel erheblich variierenden und dadurch inkompatiblen Seitenanzahlen mitgeteilt, sondern durch die Wortzahl, wie es vernünftigerweise auch Rolf Vollmann (1997) in seinem Roman-Verführer tut. Zur Orientierung einige Angaben von Vollmann: Charlotte Brontës Jane Eyre enthält 185000 Wörter, Thomas Manns Zauberberg 298 000, Tolstojs Krieg und Frieden 660 000. Diese Zahl ist relativ einfach zu überschlagen. Freilich ist zu beachten, dass das artikellose und kasusreiche Estnische eine kompaktere Sprache als das Deutsche ist. So hat Jaan Kross’ Roman Keisri hull 115 000 Wörter, seine deutsche Übersetzung Der Verrückte des Zaren jedoch 127000. Das Buch, das Sie in der Hand halten, enthält im Textteil ca. 300 000 Wörter. Russische Namen sind nach der wissenschaftlichen Transliteration des Kyrillischen wiedergegeben, auch wenn sich im deutschen Sprachraum eine andere Schreibweise etabliert hat, also Puˇskin statt Puschkin, Gorbaˇcev statt Gorbatschow. Im Anhang findet sich eine Zeittafel, die die schnelle Orientierung anhand einiger wichtiger Ereignisse und Erscheinungsjahre erleichtern soll. Das ausführliche Literaturverzeichnis listet zum einen die verwendeten Quellen auf und soll zum anderen den Weg zu weiterführender und vertiefender Literatur weisen. Dem folgt ein separates Verzeichnis aller auf Deutsch in selbstständigen Ausgaben erschienenen Übersetzungen estnischer Literatur. Damit soll denjenigen, die sich anhand der Primärliteratur ein unmittelbareres Bild von der estnischen Literatur verschaffen wollen, aber kein Estnisch können, der Zugang erleichtert werden. Das Register schließlich führt neben allen Namen auch einige Sachbegriffe und Institutionen auf.

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Inhaltsverzeichnis

§ 1 Abgrenzung des Gegenstands

1

Einleitung § 1 Abgrenzung des Gegenstands Standortbestimmung Der Versuch der Gesamtdarstellung einer Nationalliteratur macht gewisse Vorüberlegungen bzw. Positionsbestimmungen hinsichtlich Methode und Abgrenzung des Gegenstandes erforderlich. Der hier verfolgte Ansatz der Betrachtung einer Literatur ist im weitesten Sinne literatursoziologisch zu nennen. Leitfaden war nicht eine bestimmte Theorie, sondern vor allem die Erkenntnis, dass der künstlerische Wert eines Textes keine absolute oder gar messbare Größe darstellt; vielmehr wird der Wert eines Textes von anderen Faktoren und Größen bestimmt, die allenfalls mit (literatur)soziologischen Methoden erfassbar sind. Wenn auch diese Erkenntnis – nämlich dass Literatur das ist, was Literatur genannt wird – innerhalb der modernen Literaturwissenschaft weitgehend anerkannt ist, so muss doch festgestellt werden, dass auch in modernen Literaturbetrachtungen immer wieder stillschweigend von vermeintlich objektiven (Qualitäts-)Kriterien ausgegangen wird, mit denen eine gewisse Messbarkeit suggeriert wird. Da diese Messbarkeit aber eine Illusion bleibt, sollte man ehrlicherweise auch zugeben, dass Literaturgeschichtsschreibung ein höchst subjektives und von einem individuellen Geschmack abhängiges Unterfangen ist. Gleichfalls muss man sich eingestehen, dass die Meinung über eine Literatur unweigerlich beeinflusst ist von all den früheren Meinungen, die man sich in Gestalt der Sekundärliteratur angelesen hat und die ohne Zweifel in der einen oder anderen Form auch in den neuen Text mit einfließen. Ob es sich hierbei um die Übernahme eines alten Kanons oder Gegenkonzepte dazu handelt, steht schon auf einem anderen Blatt. Wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein, dass man sich nicht völlig unvoreingenommen, neutral und unbeeinflusst mit einer Reihe von Texten befasst und diese zu einer Literaturgeschichte formt. Sobald man sich dessen bewusst ist und diesen vermeintlichen Mangel sich und seiner Leserschaft eingestanden hat, kann man sich unbeschwert an die Arbeit machen. Meine Vorgehensweise wird im Folgenden im Allgemeinen textorientiert und deskriptiv sein, gleichzeitig werden die gesellschaftlichen

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Einleitung

Rahmenbedingungen jeweils beleuchtet. Leitgedanke der Beschreibung war, dass wir es bei der Befassung mit einer Literatur mit Texten zu tun haben, denen im Mächtespiel von verschiedenen Beteiligten auf dem so genannten literarischen Feld (Pierre Bourdieu) eine bestimmte Position zugewiesen wird, die niemals unveränderlich oder unangreifbar ist, sondern von Generation zu Generation aufs Neue bestimmt wird. Dabei spielen gewiss auch Werturteile eine Rolle, die in der folgenden Darstellung dementsprechend keineswegs vermieden werden sollen, aber sie sind in erster Linie zu lesen als persönliche Geschmacksbekundungen. Die weitere Darstellungsweise kann als klassisch und konventionell bezeichnet werden. Die Beschreibung erfolgt meist anhand der Textproduktion der einzelnen Autorinnen und Autoren, wobei je nach Gewichtung der betreffenden Person ebenfalls auf die jeweiligen Biographien eingegangen werden kann, obwohl diese nach der hier vertretenen Auffassung eine untergeordnete Rolle spielen. Häufig werden Inhaltsangaben von literarischen Werken gegeben, da als erste Zielgruppe des vorliegenden Buches ein Personenkreis gedacht ist, der nicht unbedingt über Vorkenntnisse im Bereich der estnischen Literatur verfügt. Estnisch Als nächstes wäre zu klären, was genau unter dem Terminus »Estnische Literatur« zu verstehen ist. Es kann hier nämlich verschiedene Konzeptionen geben, weswegen eine exakte Definition angebracht erscheint. Im vorliegenden Buch wird als estnische Literatur ausschließlich auf Estnisch abgefasstes Schrifttum bezeichnet. Dies ist streng zu unterscheiden von dem – ebenfalls denkbaren, hier aber nicht zur Anwendung kommenden – Konzept einer Literatur Estlands. In Estland waren zeitweilig Niederdeutsch, Dänisch, Schwedisch, Russisch und Deutsch lebendige Sprachen (und sind es teilweise heute noch), in denen in bescheidenem Umfang auch auf estnischem Gebiet Texte verfasst und verlegt worden sind. Selbst das Lateinische ist nicht völlig zu vernachlässigen (vgl. § 10 und K. Viiding 2002). Während beispielsweise im Falle der finnischen Literatur die Zugehörigkeit der finnlandschwedischen (also auf Schwedisch abgefassten) Literatur zu einer Finnischen Literaturgeschichte niemals infrage gestellt wird, sondern diese immer als ein integraler Bestandteil der finnischen Literatur angesehen wird, wird die in Estland in einer anderen Sprache abgefasste Literatur nicht vorbehaltlos als Bestandteil der geistigen Kultur des estnischen Volkes angesehen. Es gibt hierzu auch Gegenkonzepte, weil die besondere Geschichte der Esten (vgl. § 2) dazu geführt hat, dass die estnische Sprache erst relativ spät

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die höheren Weihen einer Bildungs- und Literatursprache erhielt. Jahrhundertelang ist in anderen Weltsprachen, vornehmlich auf Deutsch, über das Land und seine Bevölkerung publiziert worden, zu einem erheblichen Teil auch von Esten selbst. Hieraus ist bisweilen in Anlehnung an den Begriff Landesgeschichte, der durch die Überwindung enger national(istisch)er Perspektiven das gemeinsame Schicksal verschiedener Völker und Sprachen im Baltischen Raum bezeichnen möchte, die Vorstellung einer Landeskultur oder Baltischen Kultur abgeleitet worden. Diese Kultur ist zwangsläufig mehrsprachig, das Estnische macht nur einen Teil davon aus. Aufgrund der relativen Chronologie – die deutschsprachigen Texte sind unumstritten die älteren – ist in der Folge die estnische Literatur provokant als der estnischsprachige Zweig einer deutschbaltischen Literatur definiert worden (Undusk 1999, 251; Kaalep 2003, 123). Dieses Konzept erscheint mir jedoch als eine überflüssige Verklärung: Alle Literaturen haben sich im Kontakt mit anderen Sprachen, Literaturen und Kulturen herausgebildet, und die Tatsache, dass seit dem 14. Jahrhundert die niederdeutsche Dichtung in Estland blühte und bald danach auch eine örtliche hochdeutsche Literatur entstand, ist kein hinreichendes Argument für die Ansetzung einer spezifischen »Mischkultur«. Eine umfassendere Betrachtung, die auch den anderssprachigen Kontext mit einbezieht, ist in Ansätzen von Otto-Alexander Webermann (1960, 1965, 1978) versucht worden. Sie wurde bereits von Gustav Suits (1929) postuliert und wird derzeit in Estland am überzeugendsten in den Arbeiten von Jaan Undusk und Liina Lukas (2000a, 2005) vertreten. Dieses Konzept der »Literatur Estlands« trägt zwar der Tatsache Rechnung, dass auch die im Lande auf Deutsch verfassten Texte einen Einfluss auf die Kultur des Landes hatten, aber es wird nicht der Erkenntnis gerecht, dass ebenso außerhalb des Landes auf Deutsch entstandene Texte und überhaupt irgendwo in anderen Sprachen abgefasste Texte der estnischen Gegenwartskultur ihren Stempel aufgedrückt haben. Der deutschsprachigen Literatur in Estland kommt dabei nur ein quantitativer Vorsprung, aber keine grundsätzlich andere Qualität zugute. Deswegen und weil die Abgrenzung der deutschsprachigen Literatur in Estland vom Rest der deutschsprachigen Literatur nahezu unmöglich ist, erfolgt hier die Abgrenzung nach dem Sprachkriterium. Es bleibt weiterer Forschung vorbehalten, in einer angedachten »Geschichte des Lesens in Estland« den Kreis größer zu ziehen und anderssprachige, dann aber z.B. auch ins Estnische übersetzte, Literatur in die Betrachtung zu integrieren. Aus vergleichbaren Erwägungen heraus wird im Folgenden nicht gesondert auf Dialektliteratur eingegangen. Wie jede natürliche Sprache zeichnet sich auch das Estnische durch eine Vielfalt von Dialekten aus, die im Falle Estlands in eine nördliche und eine südliche Hauptgruppe unterschieden

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werden. Aufgrund der zeitweise verschiedenen Verwaltungsgrenzen und der sprachlichen Unterschiede führte dies in früheren Jahrhunderten kurzzeitig zu zwei parallelen Schriftsprachen, von denen im Laufe des 18. Jahrhunderts sich die nordestnische Variante als einzige Standardsprache herausbildete. Das Südestnische, das von etwa einem Viertel bis einem Drittel der Esten gesprochen wird, wurde wie alle anderen Dialekte in die private Sphäre zurückgedrängt. Gelegentlich tauchen in der Prosa in wörtlicher Rede oder auch in Gedichten dialektale Ausdrücke auf, verstärkt wieder seit dem Ende des 20. Jahrhunderts. Derlei wird an gegebenem Ort erwähnt, im Weiteren aber nicht ausführlicher als eigenständiges Phänomen behandelt. Auch die – ohnehin akademische und vielfach rein politische – Frage, ob es sich beim Südestnischen um einen Dialekt oder eine Sprache handele, soll hier nicht erörtert werden. Selbstverständlich gibt es Grenz- und Zweifelsfälle, Übergangsbereiche und exotische Ausnahmen, die sich einer exakten Definition und Zuordnung entziehen. Da aber die Sprache nahezu immer ein eindeutiges Kriterium ist – ausgenommen hiervon ist allenfalls die makkaronische Dichtung des 19. Jahrhunderts (vgl. § 17) –, wurde hier die Grenzlinie gezogen. Eine estnische Literatur ohne estnische Sprache gibt es nach der hier vertretenen Auffassung nicht (anders dagegen A. Roos 1985). Auf Niederdeutsch, Deutsch oder Russisch (Finnisch, Lateinisch etc.) in Estland verfasstes und mitunter verlegtes Schrifttum ist für die vorliegende Darstellung weitgehend irrelevant, obwohl nicht ausgeschlossen wird, dass derlei Texte hier und da am Rande Erwähnung finden. Dies muss insbesondere bei einer Auseinandersetzung mit früheren Darstellungen geschehen, die für die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise einen russischsprachigen Schriftsteller (Hans Leberecht) der estnischen Literatur zuschlugen oder die finnischen Texte von Aino Kallas und Hella Wuolijoki, die eine eindeutig estnische Thematik hatten, ebenfalls zur estnischen Literatur zählten. Insbesondere die beiden Letztgenannten sind problematisch, da sie einige Texte tatsächlich im Original auf Estnisch verfasst haben. Diese Texte gehören innerhalb der vorliegenden Konzeption zur estnischen Literaturgeschichte und verdienen Berücksichtigung. Aus diesem Verfahren ergibt sich konsequenterweise, dass nichtestnische Texte von Esten oder Estinnen – oder Personen estnischer Abstammung, mit estnischen Vorfahren – ebenfalls in der Regel ausgesondert wurden. Gerade die Parenthese macht deutlich, wie sehr andernfalls der Willkür Tür und Tor geöffnet würden: Abstammung kann kein Zuordnungskriterium sein. Denn auch die nationale Zugehörigkeit ist eine subjektive und nicht messbare Größe: Kann ein estnischer Großvater (25 %) oder eine estnische Urgroß-

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mutter (12,5 %) ein hinreichendes Kriterium für »Estnisch-Sein« sein? Derlei Überlegungen würden Aleksandr Puˇskin der äthiopischen Literatur zuschlagen und Joseph Conrad der polnischen. Die Texte einer Hella Wuolijoki, einer Estin, die später nach Finnland übersiedelte und dort (und eben auf Finnisch) literarisch tätig wurde, oder eines Peeter Puide, eines Esten, der 1944 ins schwedische Exil ging und dort auf Schwedisch zu schreiben begann, gehören im oben definierten Sinne nicht zur estnischen Literatur. Hierin unterscheidet sich die vorliegende Darstellung von vielen älteren, aber auch zeitgenössischen Abhandlungen, in denen implizit oder sogar explizit immer von einem – nicht näher definierten und daher etwas diffusen – Abstammungsprinzip ausgegangen wird. Zum so genannten Kern der estnischen Literatur wird dann nur gezählt, was auch von Esten abgefasst worden ist. Warum aber die Abstammung ausschlaggebend sein soll und vermeintliche »Fremdlinge«, die in Estland etwas Estnisches schrieben, ausgesondert werden sollen, bleibt dabei im Dunkeln. Stillschweigend wird hier offenbar vom Blut oder von den Genen als relevantem Faktor für Literatur ausgegangen, wobei übersehen wird, dass es sich hierbei um untaugliche Parameter handelt. Sie halten keiner modernen Erkenntnis über den Zusammenhang zwischen Kultur und Natur stand. Bei der Wahl der Sprache als Auswahlkriterium erübrigt sich jedenfalls die oftmals mühselige und nirgendwo plausibel als notwendig begründete Ermittlung der exakten Herkunft einer Person. Literatur wird mit Tinte geschrieben, nicht mit Blut. Eine Betonung der Irrelevanz der Abstammung will keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass Herkunft eine Rolle spielt. Gewiss weisen die Texte von Wuolijoki oder Puide häufig Bezüge zu Estland auf, nur kann dies allein niemals ein ausschlaggebendes Kriterium für eine Zuordnung sein, weil auch hier die Grenzziehung unmöglich ist. Denn dann könnte man Michel Tourniers Roman Le roi des aulnes (1970) zur deutschen Literatur zählen, weil er nahezu ausschließlich während des Zweiten Weltkriegs in Ostpreußen spielt. Auch würde dies dazu führen, dass man eine Person, von der man zufällig weiß, dass ihre Eltern aus Estland stammen, die aber ansonsten einen schwedischen Namen trägt, in Schweden geboren und zur Schule gegangen ist und auf Schwedisch schreibt, ohne mit der Wimper zu zucken für die estnische Literatur vereinnahmt (ohne sie freilich der schwedischen zu entreißen, wo sie ebenfalls ihren Platz erhält), während man dies bei einer anderen Person, auf die dieselben Kriterien zutreffen, von der man bloß leider nicht weiß, dass ihre Eltern aus Estland stammen – oder bei der es nur die Großeltern waren, oder nur ein Elternteil? – nicht tut. Wo wäre hier die Grenze? Das Beispiel möge die Unbrauchbarkeit des Abstammungskriteriums verdeutlichen und noch einmal den Rückzug auf das sprachliche Kriterium begründen.

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Hieraus wiederum folgt, dass Autorinnen und Autoren, die außerhalb Estlands estnischsprachige Texte abfassten, sehr wohl zur estnischen Literatur gezählt werden. Ihre Texte wurden zudem immer – wenn auch manchmal mit Verzögerung – in Estland rezipiert und bilden daher unbestreitbar einen Bestandteil der estnischen Literatur. Da es infolge der politischen Entwicklung in Estland unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine zahlenmäßig sehr starke Exilgemeinschaft gab, ist diese Literatur zum Teil sogar in einem eigenen Paragraphen zu behandeln (§ 39), aber auch an anderer Stelle wird gelegentlich auf die außerhalb Estlands entstandene estnische Literatur Bezug genommen. Freilich muss auch nach dieser rein sprachlichen Definition und Abgrenzung deutlich sein, dass Literatur nicht nur innerhalb eines engen nationalen oder nationalstaatlichen Rahmens zu begreifen ist. Wie bei allen Kulturphänomenen haben wir es hier mit einem dynamischen und grenzüberschreitenden Prozess zu tun, der sich in den seltensten Fällen in den engen Rahmen einer Nation pressen lässt. Gleichwohl erfolgte bei den Esten im 19. Jahrhundert die Definition der eigenen Nation, des national Besonderen, vor allem über die Sprache, da andere Kriterien – zu denken wäre hier an Religion, Rasse, Sitten oder Brauchtum – kaum für die notwendige und gewünschte Abgrenzung von den anderen Nationen (Deutsche, Russen, Letten) gesorgt hätten. Schließlich entspricht eine Konzentration auf die Sprache auch der Herangehensweise des Verfassers: In dem Moment, in dem man sich auf die Texte konzentriert und von ihnen ausgeht, um ein Gesamtbild der Literatur herauszudestillieren, muss man bei der äußeren Gestalt der Texte beginnen, weil man ohne deren Beherrschung keinen Zugang zum Inhalt erhält. Dieser sprachorientierte Ansatz ergibt sich aus der Überzeugung, dass Literatur etwas mit Sprache zu tun hat und dass eine Literaturbetrachtung über die Sprache möglich, sinnvoll und fruchtbar ist. Literatur Schließlich muss die Frage gestellt werden, was Literatur denn eigentlich ist. Die oben genannte Definition – »Literatur ist, was Literatur genannt wird« – mag in ihrer methodischen Konsequenz als Lehre aus den misslungenen Definitionsversuchen vergangener Epochen zwar stringent, bestechend und unanfechtbar sein, aber befriedigend und in der Praxis verwendungsfähig ist sie deswegen noch lange nicht. Denn sie ist ja nur eine Tautologie, die jemanden, der sich anschickt, eine Literaturgeschichte zu schreiben, wobei er beschließen muss, was darin aufgenommen werden soll und was nicht, im Regen stehen lässt.

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Ein Rückzug auf das, »was bislang als Literatur bezeichnet worden ist«, wäre außerdem eine zu einfache Lösung und würde nur tradierte Kanonvorstellungen zementieren. Gerade die Randerscheinungen, die bislang offenbar ausgesondert worden sind, sind das verlockende Terrain. Gleichzeitig ist die gesamte Textproduktion im Estnischen längst zu groß, als dass man sie in ihrer Gesamtheit zur Grundlage seiner Betrachtungen machen könnte, daher müssen im Interesse der Überschaubarkeit des zu behandelnden Gegenstands noch einige andere Kriterien herangezogen werden. Zugegebenermaßen schweren Herzens wurden also einige Bereiche ausgeklammert, was jedoch nicht bedeutet, dass sie vollkommen unberücksichtigt bleiben. Ein solcher Bereich ist die Kinder- und Jugendliteratur. Diese Literatur wird traditionell – wenn überhaupt – separat behandelt, obwohl auch hier die Grenzen fließend sind und obwohl vermutlich die überwältigende Mehrheit der sich heutzutage mit literarischen Texten befassenden Menschen den Zugang zur Literatur gerade über Texte bekommen haben wird, die man im Allgemeinen als »Kinderliteratur« kategorisiert. Aus diesem Grunde wird auch niemand die Bedeutung dieser Literatur in Abrede zu stellen versuchen. Wenn sie in der folgenden Darstellung des ungeachtet nur gelegentlich am Rande erwähnt wird, so hat das seine Ursache darin, dass hierzu – auch methodisch fundierte – Vorarbeiten noch fehlen und eine Monographie wie die vorliegende eine solche Arbeit nicht leisten kann. Selbstredend wird aber bei Autorinnen und Autoren, die auch Kinder- und Jugendliteratur verfasst haben, auf die entsprechenden Werke Bezug genommen. Ebenso finden sich verstreut Hinweise auf allgemeine Entwicklungen in diesem Bereich. Übersetzungen aus anderen Sprachen werden nur bedingt erwähnt, ihre systematische Betrachtung fällt in den oben skizzierten Themenkreis »Lesen in Estland«. Sachtexte – von erbaulichen Pamphleten bis hin zu vielbändigen Enzyklopädien – sind nicht konsequent behandelt worden, ohne ihre Bedeutung für verschiedene Entwicklungen schmälern zu wollen. Sie kommen in den entsprechenden Paragraphen teilweise zur Sprache. Dies betrifft insbesondere die im weitesten Sinne »erbaulichen« Texte, die beim Übergang vom bloßen Schrifttum zur modernen Literatur eine wichtige Rolle einnehmen (vgl. § 14). Wenn sie für das 20. Jahrhundert nicht mehr berücksichtigt werden, dann hat das seine Ursache darin, dass ihre Menge mittlerweile viel zu groß ist und sie innerhalb des Textsystems einen anderen Stellenwert erhalten haben. Drehbüchern und dem Medium Film als Ganzem, das in modernen Darstellungen zur Literatur- und Kulturgeschichte zusehends größeren Platz für sich in Anspruch nimmt und auch in Estland an Terrain gewinnt, wird hier nur eine marginale Position eingeräumt. Ihre Rezeption erfolgt über andere Kanäle, die außerhalb des Horizonts der vorliegenden Monographie liegen.

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Sciencefiction, Kriminal- und so genannte Unterhaltungsliteratur werden nicht prinzipiell separat betrachtet, sondern den entsprechenden »klassischen« Genres, also Lyrik, Epik und Dramatik, zugeordnet. Diese drei Säulen der herkömmlichen Literatureinteilung sind letztendlich auch das Fundament, auf dem die vorliegende Gesamtdarstellung fußt. Sie erwiesen sich als ausreichend, weil mit Hilfe dieser Genres noch immer nahezu alle Texte erfasst werden: einerlei, ob sie sich des mündlichen Vortrags vergangener Jahrtausende, des Tintenfasses und der Schreibfeder, der Druckpresse und der Schreibmaschine oder des Computers und des Internets bedienen.

§ 2 Historischer Hintergrund, historisches Umfeld Terminologisches Die Benennungen des fraglichen geographischen Raums unterliegen gewissen Schwankungen, die bei der Behandlung der historischen und historiographischen Literatur zu berücksichtigen sind. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, die auch ungefähr als das Ende des Mittelalters angesehen wird, wird mehr oder weniger das gesamte Siedlungsgebiet der Esten, Letten und Liven als Livland, später gelegentlich als historisches Livland bezeichnet. Hierbei handelt es sich ungefähr um das Territorium der heutigen Republiken Estland und Lettland. Manchmal findet man hierfür auch die Bezeichnung Baltikum, die damals Litauen noch nicht umfasste. Danach entwickelten sich infolge der verschiedenen Verwaltungsgrenzen die Bezeichnungen Estland, Livland und Kurland, die weitestgehend deckungsgleich mit dem historischen Livland sind. Lediglich im Osten des heutigen Lettlands und im Südosten des heutigen Estlands (Setumaa, in der deutschen Historiographie auch Petschurgebiet genannt, s.u., vgl. § 7) gibt es geringfügige Abweichungen, da diese Gebiete zeitweise verwaltungsmäßig einem russischen Gouvernement angehörten. In dieser Einteilung bezeichnet Livland nur noch den mittleren Teil des historischen Livlands, nämlich das Gebiet des heutigen Lettlands nördlich der Düna und einen Teil des estnischsprachigen Gebiets im Norden davon. Südlich der Düna spricht man von Kurland, während die nördlichste Provinz mit Estland bezeichnet wurde. Die Entwicklung dieser drei so genannten Ostseeprovinzen vom späten 16. bis zum frühen 20. Jahrhunderts war teilweise unterschiedlich, ehe im Zuge der russischen Revolutionen eine neue Gebietseinteilung auf Basis der Sprachen stattfand: Der Name Estland erstreckt sich seitdem auf das gesamte estnische Sprachgebiet, während für den lettischsprachigen südlichen Teil

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Livlands und Kurland die Bezeichnung Lettland gewählt wurde. Der Begriff Baltikum bezog sich nun meistens auf Estland und Lettland, während bald nach dem Ersten Weltkrieg auch die Bezeichnung Baltische Staaten Verbreitung fand, die dann auch Litauen, das historisch eine völlig andere Entwicklung genommen hatte, mit einbezog. Bald vermischten sich Baltikum und Baltische Staaten sowie Baltische Republiken und bezeichneten alle drei Staaten und Völker zwischen Polen, Finnland, Russland und Weißrussland. Diese Bezeichnung war durch die gesamte sowjetische Periode hindurch gängig und ist auch heute verbreitet. Nicht gerade vereinfacht wird diese terminologische Vielfalt durch die sprachwissenschaftliche Zuordnung: Baltische (und damit indoeuropäische) Sprachen sind nur Lettisch und Litauisch, während das Estnische zum Kreise der uralischen Sprachen gehört. Diese nichtindoeuropäische Sprachfamilie geht auf eine gemeinsame Ursprache zurück, die schätzungsweise vor 5000 bis 6000 Jahren gesprochen wurde. Hieraus sind im Laufe der historischen Entwicklung die finnougrischen und die samojedischen Sprachen (Nenzisch, Enzisch, Nganasanisch, Selkupisch) entstanden. Die finnougrischen Sprachen zerfallen in den ugrischen (Ungarisch, Chantisch, Mansisch) und finno-permischen Zweig, dieser wiederum in den permischen (Komi, Komipermjakisch, Udmurtisch), wolgafinnischen (Mari, Mordwinisch) und Saamisch-ostseefinnischen Zweig. Das Saamische gliedert sich in eine Reihe von Sprachen, die in Schweden, Norwegen, Finnland und Russland gesprochen werden und von denen nur das Nordsaamische mit ca. 25000 Sprechern über einen einigermaßen gesicherten Status verfügt. Die ostseefinnische Sprachgruppe geht auf eine vor ca. 3000 Jahren gesprochene gemeinsame Sprachform zurück und ähnelt in ihrer internen Verwandtschaft den germanischen Sprachen, nur hat die Aufspaltung in die Einzelsprachen wesentlich früher stattgefunden. Auch wenn über den exakten Verlauf der verschiedenen Aufspaltungs- und Verschmelzungsprozesse in Ermangelung schriftlicher Quellen noch keine Einigkeit herrscht, kann man davon ausgehen, dass man seit dem Beginn unserer Zeitrechnung von Estnisch und Finnisch als zwei verschiedenen Sprachen (bzw. Hauptdialekten eines Sprachkontinuums) sprechen kann. Die heutigen ostseefinnischen Sprachen umfassen neben dem Estnischen (ca. 1 Million Sprecher) und Finnischen (ca. 5 Millionen) das Karelische (ca. 65000), das Wepsische (ca. 4000), das Ingrische (ca. 300), das Wotische (ca. 30) und das Livische (ca. 10). Bis auf das Livische, das in Lettland, an der Nordspitze Kurlands gesprochen wird, werden alle anderen kleineren finnougrischen Sprachen heute in Russland gesprochen (mit der erwähnten Ausnahme des Saamischen). Abgesehen von den drei Amts-, Staats- und EU-Sprachen Ungarisch, Finnisch und Estnisch,

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die über eine lebendige Literatur und eine bis in alle Feinheiten herausgebildete Terminologie einschließlich eigensprachlicher Hochschulbildung in allen Fachgebieten verfügen, sind alle anderen finnougrischen Sprachen vom Aussterben bedroht, auch wenn die mittelgroßen Sprachen Mari, Komi, Udmurtisch und Mordwinisch (Erza) mit ca. jeweils einer halben Million Sprecher über andere Perspektiven verfügen als Livisch oder Wotisch, die dem Untergang anheim gestellt scheinen. Diese Grundlagen mögen für eine Betrachtung der estnischen Literatur zwar sekundär erscheinen, entbehren jedoch nicht einer gewissen Bedeutung, da das Bewusstsein, nicht zur Gruppe der indoeuropäischen Sprachen und der mitunter damit verbundenen oder auch nur assoziierten Kultur zu gehören, manchmal eine Rolle bei der Herausbildung und Inhaltsgebung eines estnischen Selbstbewusstseins gespielt hat und spielt. Vor- und Frühgeschichte (bis 1227) Die Esten siedeln seit etlichen tausend Jahren in ihrem heutigen Wohngebiet, eine exakte Datierung ihres ersten Erscheinens am Ufer der Ostsee ist beim derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht möglich. Nach gängiger, von der historischen Sprachwissenschaft gestützter Annahme gelangten sie vor ca. 5000 Jahren in ihre heutigen Gebiete, wenngleich menschliche Siedlung bereits vor etwa 9000 Jahren, unmittelbar nach dem Ende der letzten Eiszeit, nachgewiesen werden kann. Welche Sprache diese Menschen gesprochen haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Klar sollte aber sein, dass, wenn im Folgenden von »Esten« gesprochen wird, immer eine diese Sprache sprechende Bevölkerung gemeint ist, niemals wird auf Rasse oder genetische Zuordnung Bezug genommen. Über die Siedlungsweise der Esten in vorgeschichtlicher Zeit ist naturgemäß wenig bekannt. Fest steht, dass sie bereits seit dem Ende des dritten oder dem Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends Landwirtschaft betrieben, anfangs nach dem Prinzip der Brandrodung, später mit dem Pflug. Nach Einführung des Winterroggens in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung setzte sich zu Beginn des zweiten Jahrtausends die Dreifelderwirtschaft durch. Viehzucht ist bei den Esten etwa seit dem Wechsel vom zweiten zum ersten vorchristlichen Jahrtausend bekannt. Hinsichtlich der Herrschaftsstruktur kann davon ausgegangen werden, dass es zwar eine dünne Oberschicht mit entsprechendem Machtinstrumentarium gegeben haben dürfte (Älteste, seniores, meliores in den späteren lateinischen Quellen), doch unterschied diese sich in ihrer Lebens- und Wirtschaftsweise kaum vom Rest der Bevölkerung. In den nördlichen Gebieten lebte man

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vorwiegend in Dörfern, befestigte Orte waren die Ausnahme. Im Süden – wie auch im angrenzenden lettischsprachigen Gebiet – herrschte eine stärkere Tendenz zur Streusiedlung, hier kamen Einzelhöfe häufiger vor. Als erste Stadtgründung wird 1030 Tartu erwähnt, das der russische Fürst Jaroslav der Weise im Zuge eines Eroberungsfeldzugs gegründet habe. Genau genommen handelte es sich hier lediglich um die Anlage einer Burg zum Zwecke der Steuereintreibung an der Stelle einer Jahrhunderte alten estnischen Befestigung. Nur 30 Jahre später fand jedoch die Rückeroberung durch die Esten statt, so dass die russische Herrschaft hier Episode blieb. Die vermutete Ersterwähnung Tallinns als Koluvan oder einer ähnlichen, schwierig genauer zu benennenden Form auf der Karte des arabischen Reisenden Idrisi aus dem Jahre 1154 muss nach neuestem Kenntnisstand (Tarvel 2004) wohl in das Reich der Fabelwelt verwiesen werden, wenngleich eine Siedlung an der Stelle der heutigen Hauptstadt Estlands schon sehr lange bestanden haben mag. Ordenszeit (Dänische/Deutsche Zeit; 1227–1561) »Vorgeschichtlich« wurde die vorangegangene Periode genannt, weil sie vor der beurkundeten Geschichte liegt, die in unserem derzeitigen Kultursystem häufig als die »eigentliche« Geschichte bezeichnet wird. Der Eintritt der Esten in diese historische Zeit erfolgte – sieht man von der Erwähnung einer gens aestiorum bei Tacitus ab, die zwar den Esten ihren heutigen Namen beschert hat, ansonsten aber nur vage mit den Esten in Verbindung gebracht werden kann – im ausgehenden 12. bzw. frühen 13. Jahrhundert. Zu jener Zeit begannen sich deutsche Kaufleute und Missionare bzw. Kreuzritter für diesen Teil Europas zu interessieren. Im Jahre 1184 landete der Segeberger Augustinerchorherr Meinhard im Gefolge von Lübecker Kaufleuten an der Mündung der Düna, um sein Missionswerk zu beginnen. Kurz darauf errichtete er 28 Kilometer oberhalb des heutigen Riga an der Düna die erste Kirche im neuen Missionsgebiet und nannte den Ort Uexküll, was von estnisch Üksküla bzw. einer ähnlich lautenden livischen Form abgeleitet ist und ›ein Dorf‹ bedeutet. 1186 wurde Meinhard zum ersten Bischof von Uexküll geweiht. Heute trägt der Ort den lettischen Namen Ikˇsk¸ ile. Entscheidende Impulse bekam das Missionswerk mit der 1199 erfolgten Ernennung Alberts von Buxhoeveden zum Bischof von Livland. Im Jahre 1201 gründete dieser Riga, die heutige Hauptstadt Lettlands, und die Mission am Nordostzipfel der Ostsee konnte beginnen. Im gleichen Jahr weihte der Bischof nicht nur den Dom zu Riga, sondern auch das historische Livland der Jungfrau Maria. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Papst Innozenz III. zum

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Schutz der livländischen Kirche die Livlandfahrt einer Wallfahrt nach Rom gleichgestellt. Somit erfolgte die eigentliche Missionierung – und dies ist für die weitere Kulturgeschichte ein wichtiges Detail – durch die Westkirche, auch wenn die Esten (wie die Finnen) die ersten Berührungen mit dem Christentum vermutlich vom Osten her gehabt hatten. In Finnland waren es nun vorwiegend schwedische, im estnischen bzw. gesamtbaltischen Gebiet deutsche Missionare, die ihren Kreuzzug führten. Im Baltikum stand den Kirchenmännern zudem eine schlagkräftige Truppe, der 1202 gegründete Schwertbrüderorden, zur Verfügung. Missionierung war gleich bedeutend mit Unterwerfung, und in der estnischen Geschichtsschreibung wird die Zeit von 1208 bis 1227 folgerichtig als »historischer Freiheitskampf« bezeichnet. Dieser Krieg verlief für die deutschen Eroberer alles andere als reibungslos, so dass man auch die Dänen, die gleichfalls Interesse am Ostseeraum zeigten, zu Hilfe rufen musste. Nach der endgültigen Niederlage der Inselbevölkerung von Saaremaa im Jahre 1227 wurde nahezu das gesamte estnische Gebiet unter den Deutschen und Dänen aufgeteilt. Lediglich im Südosten blieb ein kleines Gebiet bis ins 20. Jahrhundert hinein innerhalb der russischen Einflusssphäre (estn. Setumaa, Petserimaa, vgl. § 7). Wichtig für die estnische Landbevölkerung war, dass nun eine deutsche (und bis zum Verkauf Nordestlands an den Deutschen Orden 1346 auch dänische) oberste Macht bzw. Oberschicht im Land war, die alle wichtigen Fäden in den Händen hielt. Die Selbstbestimmung der Esten war damit erheblich eingeschränkt, ihre Aufgabe bestand in der Bearbeitung des Landes und der Rohstofflieferung an die Machthabenden. Diese Rolle änderte sich die folgenden beinahe 700 Jahre nur unwesentlich und war entscheidend für die Entwicklung der Esten. Im Hochmittelalter waren die estnischen Gebiete wie ein Flickenteppich aufgeteilt in Ordens- und Bischofsland, zusätzlich entstanden in der Hansezeit auch die Städte als eigener Machtfaktor. Allen voran sind hier Riga im einst livischen, nunmehr lettischen Gebiet, sowie Tallinn, Pärnu und Tartu im estnischen Gebiet zu nennen. Eine Bauernkolonisation hat nicht stattgefunden, durch die fehlende Landverbindung – denn das nicht eroberte und vorerst noch heidnische Polen-Litauen lag dazwischen – ist das Baltikum außerhalb des Kontextes der deutschen Ostsiedlung zu sehen. Die Anwesenheit der Deutschen beschränkte sich auf die Städte und über das Land verteilte Güter; sie machten nie mehr als maximal gut 5 % der Bevölkerung Estlands aus. Auch nach der deutsch-dänischen Eroberung rührte sich bei den »Undeutschen«, wie die Esten und Letten von den Deutschen bezeichnenderweise genannt werden (zum Begriff s. Lenz 2004), gelegentlich Widerstand,

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am heftigsten im so genannten St.-Georgsnacht-Aufstand in den Jahren 1343–1345. Nach dessen blutiger Niederschlagung kehrte jedoch weitgehend Ruhe ein. Im Hochmittelalter erlangte Livland große wirtschaftliche Bedeutung und war zeitweise eine Kornkammer für Westeuropa. Exportiert wurden außer Getreide (vornehmlich Roggen) auch Wachs, Honig, Flachs, Holz, Teer, Asche und halbfertige Produkte wie behauene Grabsteine oder Kabelgarn. Ein Teil der Exportgüter stammte aus Russland und war Transitgut, das Getreide aber kam ausschließlich aus Livland selbst. Kehrseite der sehr effizienten Gutswirtschaften war die sich zu einer Leibeigenschaft entwickelnde wirtschaftliche Abhängigkeit der Landbevölkerung. Diese Tendenz lässt sich seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts feststellen, und sie sollte, mit graduellen Schwankungen, bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein andauern. Schwedische Zeit (1561–1710) Den Erschütterungen der von Martin Luther 1517 in Deutschland ausgelösten Reformation und deren Nachwehen war das Land mit seiner vergleichsweise fragilen Struktur nicht gewachsen. Der Protestantismus (mit Sendbriefen von Luther selbst an die Tallinner Bevölkerung) setzte sich relativ schnell durch und entzog dem auf der Kirchenmacht fußenden Ordensstaat die Existenzgrundlage. Im Livländischen Krieg (1558–1582, auch Erster Nordischer Krieg genannt) erwiesen sich die expansionslüsternen Nachbarstaaten Polen, Schweden und Russland als militärisch besser organisiert, so dass das »alte Livland« unterging. An seine Stelle traten verschiedene Mächte, die jedoch die innere Sozialstruktur des Landes kaum antasteten: Lokale und herrschende Oberschicht blieben weiterhin die Deutschen, die sich mit den jeweiligen Landesherren auf die eine oder andere Weise zu arrangieren wussten. Dieses Sich-Arrangieren bestand darin, dass sich die unterlegene Partei von den neuen Machthabern ihre Privilegien bestätigen ließ. Das waren die Augsburger Konfession, die deutsche Sprache, deutsches Recht und die deutsche ständische Ordnung. Sowohl die nördliche Provinz Estland beanspruchte dies, als sie sich nach dem 1558 erfolgten Einfall der Russen 1561 unter den Schutz des schwedischen Königs begab, als auch die mittlere Provinz Livland, nachdem sie von Polen erobert worden war. Nach dem polnischen König erhielten diese Privilegien den Namen »Privilegium Sigismundi Augusti« (1561). Diese formalrechtlichen Regelungen waren für die folgenden Jahrhunderte von entscheidender Bedeutung, aber sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Umbruchszeit für die Bevölkerung alles andere als rosig

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war. Die zahlreichen Kriegshandlungen verwüsteten und entvölkerten das Land, die Pest tat ein Übriges, und zwischen den 1550er-Jahren und dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts dezimierte sich die Bevölkerung des estnischen Gebiets von einer guten Viertelmillion auf ca. 70000–100000. Überdies beschränkten sich die Kampfhandlungen nicht auf den oben genannten Livländischen Krieg, sondern dauerten mit Unterbrechungen noch Jahrzehnte an, während derer die Oberherrschaft häufig wechselte und kaum von einer kontinuierlichen oder homogenen Entwicklung gesprochen werden kann. Illustriert wird dies durch die unterschiedliche völkerrechtliche Zugehörigkeit der estnischsprachigen Gebiete: 1561 unterwarf sich das nordestnische Gebiet freiwillig Erik dem XIV., so dass hier in diesem Jahr die »schwedische Zeit« begann. Im gleichen Jahr gelangte Livland mit dem südestnischen Gebiet unter die polnische Krone, die für eine vitale Gegenreformation sorgte und nach wie vor im Krieg mit Schweden stand. 1629 verlor Polen endgültig alle livländischen Besitzungen, aber erst 1645, als Schweden auch mit Dänemark Frieden schloss und Saaremaa erhielt, war das gesamte estnische Gebiet unter der schwedischen Krone wiedervereinigt (nach wie vor mit Ausnahme von Setumaa). Schweden war jetzt auf der Höhe seiner Macht, die aber nach weiteren Kriegshandlungen endgültig erst in den Friedensschlüssen von 1658 (mit Dänemark), 1660 (mit Polen, Beendigung des schwedisch-polnischen oder auch Zweiten Nordischen Kriegs) und 1661 (mit Russland) konsolidiert wurde. Die in einer späteren Mystifikation vielfach heraufbeschworene »gute alte schwedische Zeit« war also am Beginn sehr kriegerisch und allenfalls in den letzten 40 Jahren eine Periode friedlicher Entfaltungsmöglichkeiten. Wenn die schwedische Zeit im heutigen Bewusstsein der Esten dennoch einen besonderen Stellenwert erlangt hat, so liegt das an drei Dingen: Erstens erfolgte ein Aufschwung hinsichtlich der Volksbildung, woran die streng protestantische Politik der schwedischen Zentralmacht durchaus ihren Anteil hatte, wenngleich nicht übersehen werden darf, dass die von Polen unterstützten jesuitischen Bestrebungen hier einen Grundstein gelegt hatten. Bereits 1583 wurde unter polnischer Hoheit mit dem Aufbau einer jesuitischen Bildungsstätte in Tartu begonnen, die seit 1585 als Jesuitenkolleg bestand. Wenn am selben Ort 1630, nunmehr schon unter schwedischer Herrschaft, erneut ein Gymnasium errichtet wurde, das entsprechend den Gepflogenheiten der damaligen Zeit 1632 mit einer Urkunde, die Gustav II. Adolf kurz vor seinem Tod in Nürnberg unterzeichnet hatte, zur Universität erhoben wurde, so kann der jesuitische Anteil an dieser Unternehmung kaum bestritten werden. Die feierliche Eröffnung der Universität fand folgerichtig in den Räumen des ehemaligen Jesuitenkollegs statt. In der gleichen Zeit wurde

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auch in Tallinn (1631) ein Gymnasium gegründet, bald darauf Druckereien in Tartu (1631) und Tallinn (1633). Die Tartuer Universität fungierte als lateinisch-schwedische protestantische Hochschule infolge der erwähnten Kriegshandlungen nur in den Jahren 1632–1656 und 1690–1710 (ab 1699 in Pärnu), eine Kontinuität in der Lehrtätigkeit besteht erst seit 1802. Dennoch ist die symbolische Bedeutung für die künftige kulturelle Entwicklung des Gebiets ungeheuer wichtig, denn nun gab es im Lande selbst eine höhere Lehranstalt. In deren Kielsog konstituierten sich auch andere Bildungseinrichtungen wie zum Beispiel Schulen und ein Lehrerseminar. In diesem Sinne war die schwedische Zeit für die Volksbildung allgemein sehr wichtig. Zum zweiten erwies sich die starke schwedische Zentralmacht für die Esten als ein wichtiges Gegengewicht gegen den örtlichen deutschen Adel, der zwar nach wie vor alle Macht in den Händen hatte, aber nicht ganz so willkürlich schalten und walten konnte, wie er es vorher und später zu tun gewohnt war. Insbesondere die Güterreduktion am Ende des 17. Jahrhunderts, als die Krone zahlreiche Güter einzog, um ihre maroden Staatsfinanzen zu sanieren, vergiftete das Verhältnis zwischen der deutschen Oberschicht und dem schwedischen König. Sie sorgte im Gegenzug zu einer Annäherung zwischen der bäuerlichen Unterschicht und der schwedischen Krone. Denn drittens kannte der schwedische Staat keine Leibeigenschaft. Dies führte zwar keineswegs zur sofortigen Freilassung der Bauern – schließlich waren der deutschen Oberschicht ihre Privilegien garantiert worden –, aber es linderte den Druck nicht unwesentlich und schuf gewisse Nischen. In den 1680er-Jahren bemühte sich Karl XI. direkt um die Aufhebung der Leibeigenschaft zumindest auf den Krongütern, konnte sich aber letztendlich nicht flächendeckend gegen den Widerstand des Adels durchsetzen. Aber immerhin wurde den Bauern formal mit den Beschlüssen von 1681 und 1687 ihre persönliche Freiheit garantiert, und diese wurde mit diversen Instruktionen und Reglements in den 1690er-Jahren noch konkretisiert. Auch ist die Existenz von estnischen Einheiten während des Nordischen Kriegs ein Beweis für eine gewisse Freiheit, denn in den Militärdienst konnten nur freie Menschen, nicht Sklaven, treten. Insgesamt betrachtet war jedoch nicht mehr genug Zeit vorhanden, so dass in erster Linie die psychologische Wirkung wichtig war. Denn der bald darauf einsetzende Krieg und der Wechsel der Herrschaft verhinderten eine volle Durchsetzung und Entfaltung dieser Freiheiten. In der russischen Zeit nahmen Unterdrückung und Belastung dann nie gekannte Ausmaße an, und aus dieser Zeit stammt ja auch die verklärende Bezeichnung für die schwedische Zeit. (Vgl. Loit 1996) Gegen Ende der schwedischen Zeit war die Bevölkerungszahl auf knapp 400 000 (1696) angestiegen und hatte damit für mehrere nachfolgende Ge-

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nerationen ihren Höhepunkt erreicht. Zwei Missernten in den Jahren 1695 und 1696 führten im darauf folgenden Winter 1696/97 zu einer dramatischen Hungersnot, die in Verbindung mit dem danach folgenden über 20 Jahre andauernden verheerenden Krieg die Bevölkerung wieder empfindlich dezimierte: 1712 lebten noch ca. 160000 Menschen in Estland. Russische Zeit (1710–1918) Der Nordische Krieg (1700–1721, auch Großer oder Dritter Nordischer Krieg genannt) führte zu einschneidenden Veränderungen nicht nur im estnischen Gebiet, sondern in der gesamten Region und war für ganz Europa von großer Bedeutung, markierte er doch den Aufstieg Russlands zur europäischen Großmacht. Estland stand mehr oder weniger im Zentrum des Krieges und nahm innerhalb der Expansions- und Modernisierungspläne Peters I. eine prominente Rolle ein. Das brachte für das Land ein weiteres Kapitel in der Geschichte seiner Verwüstungen mit sich. Nachdem der schwedische König Karl XII. die Angriffe seiner drei Gegner Dänemark (in Schonen), Polen (in Riga) und Russland (in Narva) bravourös abgewehrt hatte, was ihm europaweite Bewunderung eintrug, wandte er sich nach Polen und ließ das Baltikum ohne Schutz zurück. In einem systematischen Vernichtungsfeldzug eroberten und verwüsteten die Truppen Peters I. daraufhin das gesamte zu Schweden gehörende Territorium des Baltikums, in dem nur die befestigten Küstenstädte Riga, Pärnu und Tallinn uneingenommen blieben. Tartu war 1708 dem Erdboden gleichgemacht worden, nachdem zuvor die deutsche Stadtbevölkerung nach Russland deportiert worden war. Karls Niederlage bei Poltava (1709) besiegelte Schwedens Schicksal, auch wenn sich der Krieg noch über ein Jahrzehnt in die Länge zog. 1710 unterwarfen sich die drei verschonten Städte nach kurzer Belagerung dem russischen Zaren, der ihnen aufs Neue ihre Privilegien garantierte. Von diesem Zugeständnis erhoffte sich Peter I. die Loyalität einer Bevölkerungsgruppe, die er für sein Modernisierungskonzept dringend benötigte. Neben der Einverleibung in das russische Zarenreich hatte der Nordische Krieg für Estland (und Finnland) insofern noch weit reichende, bis heute spürbare Spätfolgen, als die Gründung von St. Petersburg (1703) untrennbar mit diesem Krieg verbunden ist. Diese Stadtgründung erfolgte nicht nur inmitten gerade eroberten schwedischen Gebietes als symbolischer Akt, sondern vor allem auch inmitten eines seit Jahrtausenden von ostseefinnischen Völkern bewohnten Gebietes, das niemals vorher von Russen besiedelt war. Durch die Erhebung zur Hauptstadt (1712) und den schnellen systematischen Ausbau zählte St. Petersburg bereits Ende des 18. Jahrhunderts über

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200 000 Einwohner, was etwa der Hälfte der damaligen estnischen Bevölkerung entsprach. Ein weiteres Jahrhundert später (1897) lebten in der russischen Hauptstadt mehr Menschen (ca. 1,27 Mio.) als im gesamten estnischsprachigen Gebiet (ca. 0,95 Mio.). Durch die geographische Nähe und rein quantitativ war St. Petersburg fortan ein wichtiger Faktor für die historische Entwicklung Estlands. Positiv wirkte sich die Integration ins Russische Reich dahingehend aus, dass die folgenden zwei Jahrhunderte im Zeichen der friedlichen Regenerierung und des Wiederaufbaus standen. Bis zu den revolutionären Ereignissen am Beginn des 20. Jahrhunderts und dem bald folgenden Ersten Weltkrieg gab es keine größeren kriegerischen Auseinandersetzungen auf estnischem Gebiet. Russlands Türkenkriege, Napoleons Feldzug oder der Krimkrieg tangierten das Land nur peripher. Allerdings war der Neubeginn nach dem Nordischen Krieg infolge der Verwüstungen, mit denen noch eine heftige Pestepidemie (1710–1712) einherging, sehr mühselig. Da die russische Zentralmacht die von den Schweden durchgeführten Güterreduktionen wieder rückgängig machte, wuchs außerdem die Macht des Adels. Eine Folge davon war, dass die estnische Bauernbevölkerung im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich auf die unterste Stufe der Erbuntertänigkeit sank und in völliger wirtschaftlicher Abhängigkeit lebte. Bauern konnten verkauft, vermietet und verprügelt werden, wie es der Herrschaft beliebte. Trotzdem war die Verbindung zu anderen Teilen Europas nicht völlig abgerissen oder unterbunden worden. Im Gegenteil, das Zarenreich wollte den vergleichsweise höheren technischen und intellektuellen Standard seiner neuen Besitzungen, die nun als die russischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland bezeichnet wurden, ganz bewusst zur Behebung seiner eigenen Rückständigkeit einsetzen. Aufklärerische Ideen sickerten auch in diesen Winkel Europas und fielen hier und da auf fruchtbaren Boden. Das in schwedischer Zeit begonnene Werk der Bibelübersetzung und der Gründung von Schulen wurde fortgesetzt, großen Einfluss hatte die Herrnhuter Bewegung, deren erste Prediger aus Deutschland bereits 1726 signalisiert wurden. Die Brüdergemeine erlangte schnell Popularität und bestand auch nach dem 1743 von Zarin Elisabeth verhängten Verbot weiter. Denn dies vergrößerte ihre Beliebtheit im Volk eher noch, und die Tätigkeit wurde im Verborgenen fortgeführt. Für die spätere nationale Bewusstseinswerdung ist die pietistische Bewegung nicht ohne Bedeutung geblieben. Veränderungen am Beginn des 19. Jahrhunderts schufen die Grundlage für die sich im letzten Drittel desselben Jahrhunderts vollziehende Wandlung der Esten von einer mehr oder weniger diffusen bäuerlichen Landbevölkerung zu einer Nation. 1802 wurde in Tartu endlich die Universität wiederer-

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öffnet bzw. neu gegründet, denn von einer echten Kontinuität kann angesichts der fast hundertjährigen Unterbrechung schwerlich gesprochen werden. 1809 musste Schweden Finnland an Russland abtreten, und damit war »der große Bruder« im gleichen Staat wie die Esten. Zwar war die finnische kulturgeschichtliche Entwicklung infolge der viel längeren schwedischen Vorherrschaft anders als die estnische verlaufen, und der staatsrechtliche Status des Großfürstentums Finnland innerhalb des Zarenreiches war ein völlig anderer, trotzdem brachte der Wegfall der Staatsgrenze für die Esten die Möglichkeit, sich stärker an Finnland, von dem man nur durch einen nicht einmal 80 Kilometer breiten Meerbusen getrennt war, zu orientieren. 1816, im südestnischen Gebiet (Livland) 1819, erfolgte formal die Aufhebung der Leibeigenschaft, während dies in Russland selbst erst 1861 geschah. In wirtschaftlicher Hinsicht hatte diese Befreiung erst einmal negative Auswirkungen, da den Bauern der Landkauf verwehrt blieb und sie als einziges Kapital ihre Arbeitskraft hatten. Statt der ersehnten Freiheit entstand nun Landproletariat, zu dessen Verarmung die wirtschaftliche Krise in den 1840er-Jahren noch beitrug. Vor diesem Hintergrund ist die massive Konversionsbewegung in Livland zu sehen: Zwischen 1845 und 1848 sind ca. 65 000 Esten zum orthodoxen Glauben übergetreten, weil sie sich eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage erhofften, da ihnen allerlei Versprechungen gemacht wurden, die später mitnichten eingehalten wurden. Eine Rückkehr zum lutherischen Glauben war in Russland aber gesetzlich verboten. Erst nach erneuten Reformen Ende der 1840er-Jahre, die zum Beispiel das Recht auf Landerwerb beinhalteten, verbesserte sich die Lage der Landbevölkerung entscheidend. Gleichzeitig schritt die Urbanisierung stetig fort, und Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Esten auch in den Städten, die bis dahin von den Deutschen dominiert worden waren, in der Mehrheit. Immer noch lebten aber über 90 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande, so dass das estnische Gebiet nach wie vor agrarisch geprägt war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen im Zuge einer zögerlichen Industrialisierung, einer veränderten Einstellung der russischen Zentralmacht und eines gewandelten Bewusstseins der Esten die Spannungen zu. Die Wurzeln für dieses veränderte Bewusstsein sind in der Aufklärung und nachfolgenden Romantik zu suchen, als man sich im Geiste Herders für alles Urtümliche und Volkstümliche zu interessieren begann. Hierzu gehörte auch eine Anerkennung der estnischen Sprache, die infolge der jahrhundertelangen Symbiose das einzige echte Unterscheidungsmerkmal zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen Estlands war. Und da die Sprachgrenze deckungsgleich mit der sozialen Grenze verlief, lag es auf der Hand, eben diesen Sprachunterschied auch als Definitionskriterium zu handhaben, sobald es darum

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ging, eine gemeinsame Identität zu schaffen. Diese gemeinsame Identität war nötig, wenn man die soziale Lage der niedrigeren Schichten verbessern wollte. Auch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts war sozialer Aufstieg möglich, aber er war immer mit dem Sprachwechsel vom Estnischen zum Deutschen verbunden. Es erscheint als Verdienst einer relativ dünnen intellektuellen Oberschicht, worunter im Übrigen zu einem Gutteil auch Deutsche waren, dass die Esten genau diesen Sprachwechsel nicht mehr vollziehen, sondern sich als eigene Nation definieren und manifestieren wollten. Das beginnt mit der Namensgebung: In diese Zeit fällt der Wechsel in der Eigenbezeichnung der Esten, die sich bislang nur als »Landvolk« oder »Volk vom Lande« (estn. maarahvas) bezeichnet hatten. Sie mussten einen richtigen Namen haben und nannten sich fortan »Esten« (estn. eestlased), wie es die Deutschen – neben der nach wie vor noch gebräuchlichen Bezeichnung »Undeutsche« – schon länger taten. Somit ist die heutige Eigenbezeichnung der Esten ein deutsches Lehnwort, ein interessantes Detail, das die Intensität der Beziehungen nur allzu gut illustriert. Diese Emanzipationsbewegung, die später als Zeit des nationalen Erwachens bezeichnet worden ist (vgl. § 19), ist auch vor dem Hintergrund der Russifizierungsbemühungen zu sehen, die Ende der 1860er-Jahre einsetzten und eine Stärkung der russischen Zentralmacht in den »deutschen« Randprovinzen bewirken sollten. 1867 wurde das Russische als Geschäftssprache im Umgang mit der Zentralregierung eingeführt, 1870 wurde Russisch für die örtlichen Behörden vorgeschrieben. Diese St. Petersburger Politik war gegen die Deutschen gerichtet, so dass sie von den Esten, die mittlerweile über Zeitungen und einen sehr hohen Alphabetisierungsgrad verfügten, prinzipiell begrüßt wurde. Denn während der Regierungszeit des vergleichsweise liberalen Alexander II., der wie jeder seiner Vorgänger und Vorgängerinnen bei seinem Thronantritt (1855) den Deutschen ihre Privilegien zugesichert hatte, war es in Teilen der entstehenden estnischen Nationalbewegung zu einer Annäherung an Russland gekommen; als Hauptfeind galt nicht der Zar, sondern die örtliche Selbstverwaltung, die deutsche Oberschicht und die lutherische Kirche. Die politische Liberalisierung erhielt 1881 mit der Thronbesteigung von Alexander III. einen deutlichen Dämpfer. Fatal für die deutsche Oberschicht war, dass dieser Zar erstmalig die überkommenen Privilegien nicht bestätigte: Was jahrhundertelang gegolten hatte, war nun plötzlich eine Art Verhandlungsmasse, derer sich die Führer der estnischen Nationalbewegung nur allzu gerne bemächtigten. Noch im selben Jahr reiste eine Delegation nach St. Petersburg und präsentierte dem neuen Zaren eine Liste mit den Wünschen des

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estnischen Volkes. Verlangt wurde unter anderem der Zwangsverkauf von Bauernland zu Staatspreisen, eine generelle Umverteilung der Steuerlasten, die Loslösung der Schulen und Gerichte aus dem Kompetenzbereich der deutschen Gutsherren und Pastoren, die Aufhebung des Patronatsrechts, d.h. des Rechts der Gutsbesitzer, die Pfarrer einzusetzen, die Einführung der Volkssprache für die Gerichte und eine Neueinteilung der drei Ostseeprovinzen nach den Nationalitäten, d.h. den Esten und Letten, in zwei Gouvernements. Dies war das erste Mal, dass von einem einheitlichen estnischen Gebiet gesprochen wurde, auch wenn von dem Wunsch nach einem eigenen Staat noch nicht die Rede war. Jener Teil der Punkte, der sich mit dem Wunsch der russischen Zentralregierung nach einer Schwächung der deutschen Herrschaft im Baltikum deckte, wurde in den folgenden Jahren erfüllt. In anderen Bereichen straffte die russische Zentralmacht die Zügel und bemühte sich um eine Russifizierung der »Randprovinzen« des Reiches. Im Allgemeinen jedoch konnten die Esten von den diversen Zentralmaßnahmen profitieren; seit 1901 erlangten sie auf kommunaler Ebene Mehrheiten in verschiedenen Verwaltungsgremien, 1904 wurde die Macht der Deutschen im Stadtrat von Tallinn gebrochen. Inzwischen war die Verstädterung weiter vorangeschritten, fast ein Fünftel der Bevölkerung lebte Ende des 19. Jahrhunderts in den Städten, deren Industrialisierung ebenfalls fortschritt. Im Verlauf der Revolution von 1905 kam es zu ähnlichen militärischen Exzessen der Staatsmacht wie beim St. Petersburger Blutsonntag: Im Oktober 1905 eröffnete in Tallinn das Militär das Feuer auf Demonstranten, wobei 94 Personen starben und hunderte verletzt wurden. Die Nachwehen dieser Revolution waren im Baltikum besonders heftig und führten zu einer Verschärfung der sozialen und nun auch nationalen Gegensätze. Innerhalb einer Woche im Dezember wurden ungefähr 120 Güter geplündert und niedergebrannt; als Gegenreaktion wurde der Kriegszustand ausgerufen und hunderte von Aufständischen wurden standrechtlich erschossen. Nun kam mehr und mehr die Forderung nach stärkerer Autonomie auf, aber von einem eigenen Staat war immer noch nicht die Rede, wohl auch weil sozialdemokratisches Gedankengut, das in der Hauptsache für die wachsende Unzufriedenheit verantwortlich war, schwer in Einklang zu bringen war mit nationalstaatlichem Eigenbrötlertum. Dennoch ließ sich die Existenz einer Nation nicht mehr leugnen, zumal die Vertreter der 1905 vom Zaren eingerichteten Duma auf genau dieser nationalen Basis gewählt wurden (nach der Änderung des Wahlrechts von 1907 entsandten auch die Deutschen einen eigenen Vertreter in die Duma). Wichtig für diese nationale Identitätsfindung war das entstehende estnische Bür-

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gertum, das zum Beispiel in Tallinn 1912 über zwei Drittel der Immobilienbesitzer stellte, nachdem es 1871 erst 18,3 Prozent gewesen waren. Ebenso war der Anteil der estnischen Studenten an der Tartuer Universität gestiegen, und einen weiteren Indikator für den höheren Bildungsgrad der Landbevölkerung kann man in der Tatsache sehen, dass bis 1910 79 estnische Landwirtschaftsgesellschaften ins Leben gerufen waren. Dies alles waren wohl notwendige, aber noch keine hinreichenden Bedingungen für die Forderung nach dem eigenen Staat. Hierzu bedurfte es noch eines Weltkriegs und einer weiteren russischen Revolution. Eigenstaatlichkeit (1918–1940) Der Ausbruch und die ersten Jahre des Ersten Weltkriegs berührten Estland zunächst nur marginal (im Gegensatz zu Kurland etwa, das unmittelbarer Kriegsschauplatz war), da der deutsche Vormarsch Ende 1915 an der Düna zum Stillstand kam. Die Esten waren zarentreu und hofften, sich der Deutschen mit Hilfe dieses Weltkrieges entledigen zu können. Erst die russische Februarrevolution von 1917, in deren Folge Zar Nikolai II. abdankte und Russland eine provisorische Regierung erhielt, eröffnete den Esten völlig neue Perspektiven. Unterstützt durch eine eiligst veranstaltete Großdemonstration in St. Petersburg, wo eine zahlenmäßig bedeutende estnische Kolonie bestand, trugen sie im März 1917 ihre Forderungen an die Provisorische Regierung heran: weitgehende Autonomie, Änderung der Gouvernementsgrenzen, Wahl eines Landtags, Auflösung der deutschbaltischen Organe der Ritterschaften. Als die Provisorische Regierung diesen Forderungen zustimmte und mit dem Tallinner Oberbürgermeister Jaan Poska ein Este zum Kommissar dieses neu geschaffenen estnischen Gouvernements ernannt wurde, waren plötzlich die meisten Voraussetzungen für eine Eigenstaatlichkeit erfüllt, ohne dass diese beim Namen genannt wurde. Während Russland und Deutschland weiterhin miteinander um den Sieg im Weltkrieg rangen, führten die Esten im Mai und Juni 1917 Wahlen zum ersten estnischen Landtag durch und verfügten nun über ein 62-köpfiges Gremium, das in zwar indirekten, aber allgemeinen, geheimen und gleichen Wahlen gewählt worden war. Erwartungsgemäß lösten die Bolschewiken dieses Gremium sofort nach ihrem später als Oktoberrevolution verklärten Putsch auf, aber es gelang dem Landtag noch, am 15./28. November 1917 ein Manifest zu verabschieden, in dem er die Ausübung der höchsten Gewalt in Estland für sich in Anspruch nahm. Hierauf gestützt konnte ein von diesem Landtag bevollmächtigtes dreiköpfiges Rettungskomitee am 23. (in Pärnu) und 24. (in Tallinn) Februar 1918 die estnische Unabhängigkeit ausrufen –

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nach Abzug der russischen bzw. bolschewistischen Truppen und vor Ankunft der Deutschen, die nach dem Abbruch der Friedensverhandlungen in BrestLitowsk durch die Sowjets rasch vorrückten. Grundlage für die Ausrufung der Unabhängigkeit waren sowohl die Erklärung der Sowjets vom 2./15. November 1917, die den Nationen des untergegangenen Zarenreichs ein Sezessionsrecht zugestand, als auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 in seinen berühmten Vierzehn Punkten gefordert hatte. Nach Deutschlands Niederlage und dem Abzug der deutschen Truppen bemühten sich die Bolschewiki um eine Rückeroberung Estlands, aber es gelang den Esten, sich in einem einige Monate währenden Freiheitskrieg (1918/19) zu behaupten. Am 2. Februar 1920 erfolgte in Tartu durch den Friedensschluss zwischen Estland und Sowjetrussland die erste internationale und völkerrechtlich wirksame de-jure-Anerkennung des neuen Staates, der im Jahr darauf bereits in den Völkerbund aufgenommen wurde. Die Grenzziehung in diesem für Estland günstigen Frieden vereinte zum ersten Mal in der estnischen Geschichte auch das seit dem Mittelalter unter russischem Einfluss stehende, weitgehend orthodoxe und eine starke russische Minderheit aufweisende südostestnische Gebiet Setumaa mit dem übrigen estnischen Staatsgebiet. Ebenso kam ein Streifen östlich der Stadt Narva in Nordostestland, jenseits des gleichnamigen Flusses, zum estnischen Staatsgebiet. Neben den Bemühungen um die unentbehrliche internationale Anerkennung lag die erste Aufgabe des neuen Staates in der Neuregelung der Eigentumsverhältnisse und dem Aufbau eines Rechtsstaats. Noch vor der Verabschiedung einer liberalen, geradezu antiautoritären Verfassung – z. B. gab es nicht das Amt eines Staatspräsidenten, der Regierungschef war gleichzeitig Staatsoberhaupt – wurden 1919 96,6 % des Großgrundbesitzes enteignet und unter der Bevölkerung neu verteilt. Vor dem Hintergrund der vergangenen Jahrhunderte ist diese radikale Landreform mehr als verständlich. Ihr Ziel war die Entmachtung der herrschenden deutschen Oberschicht, die ansonsten aber unbehelligt blieb und nach einem weltweit als vorbildlich angesehenen Minderheitengesetz von 1925 in den Genuss einer weit reichenden Kulturautonomie kam. Dennoch kehrten viele Deutsche verbittert dem Land den Rücken, und zum Ende der Zwischenkriegszeit war der Anteil der Deutschen auf knapp 1,5 Prozent (ca. 16000 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von gut 1,1 Mio.) gefallen. Die Republik Estland orientierte sich an den westlichen parlamentarischen Demokratien und grenzte sich schroff vom bolschewistischen Russland ab, wo der private Landbesitz abgeschafft worden war. Folglich hatte ein am 1. Dezember 1924 stümperhaft durchgeführter kommunistischer Putschver-

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such, der von Moskau gesteuert war, keinen Erfolg. Die 1920er-Jahre standen im Zeichen des Aufbaus, sie waren hart und arm, aber von einer gewissen nationalen Euphorie getragen. Diese zeigte sich in einem aufblühenden Kulturleben, das auch von dem allmählich anwachsenden Wohlstand in den 1930er-Jahren profitieren konnte. Die Umstrukturierung von einer vorwiegend agrarisch orientierten Gesellschaft in einen modernen Industriestaat vollzog sich allerdings langsam; vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren, wie beispielsweise in Finnland auch, noch ca. zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Das Virus des Totalitarismus, das die meisten europäischen Staaten in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg heimsuchte, verschonte auch Estland nicht, obwohl es in einer weit milderen Form als etwa in Deutschland oder Russland auftrat. Nach der Weltwirtschaftskrise und aufkommenden rechtsradikalen Bewegungen in Gestalt der so genannten Freiheitskämpferbewegung (estn. vapsid als Kurzform von Vabadussõjalaste Liit, d. h. einer Vereinigung von Veteranen des Freiheitskriegs) rief der amtierende Staatsälteste Konstantin Päts 1934 den Ausnahmezustand aus und regierte bis 1940 autoritär. Das Parlament wurde aufgelöst, Parteien verboten, eine Zensur fand statt – aber es gab keinen Terror, und von einer gewissen Rechtsstaatlichkeit konnte durchaus noch die Rede sein. In der estnischen Geschichtsschreibung ist für die autoritäre Regierungszeit von Päts die Bezeichnung »Schweigende Periode« (vaikiv ajastu) üblich. Es ist nach wie vor eine offene Frage, ob eine funktionierende parlamentarische Demokratie, wie sie im Falle Finnlands gegeben war, den Untergang des Staates nicht doch hätte abwenden können (vgl. zuletzt Ilmjärv 2004). Dieser Untergang erfolgte in einem Zusammenspiel von Hitler und Stalin, die sich nicht mit der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Ordnung zufrieden geben wollten und die deutschen und sowjetischen Interessensphären in einem geheimen Zusatzprotokoll ihres 1939 geschlossenen Nichtangriffspaktes festlegten. Estland fiel hierbei gemeinsam mit Finnland, Lettland und später ebenfalls Litauen in den sowjetischen Bereich, wofür Hitler in Polen freie Hand bekam. Die in den 1930er-Jahren fehlgeschlagenen Versuche, ein schlagkräftiges Bündnis zwischen den neu entstandenen Staaten zu schaffen, rächten sich nun auf grausame Art und Weise. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 war das Interesse der Weltöffentlichkeit naturgemäß auf das Deutsche Reich und dessen militärische Erfolge gerichtet. In dieser Situation versuchte Stalin, sich der ihm zugedachten Beute zu bemächtigen. Zu diesem Zweck setzte er im September 1939 die Regierungen der baltischen Staaten unter Druck und erzwang das Zugeständnis, Militärstützpunkte einrichten zu dürfen. Gleichzei-

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tig rief Hitler die Deutschen in Estland und Lettland »heim ins Reich«, und im Oktober und November 1939 folgten etwa zwei Drittel der Deutschen aus Estland tatsächlich diesem Ruf. Wir haben es hier insofern mit einen einmaligen Vorgang zu tun, als es in einer Zeit, da die Mehrheit der Menschheit froh war, nicht in Deutschland zu leben, eine Gruppe gab, die sich freiwillig auf den Weg in Hitlers Staat begab. Denn es muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es sich hier nicht um eine Vertreibung handelte. Im Gegenteil, viele Esten betrachteten den Fortgang der Deutschen mit äußerst gemischten Gefühlen, da er offenkundig nichts Gutes für ihre eigene Zukunft verhieß. Manche Esten entdeckten plötzlich ihre »deutschen Wurzeln« und schlossen sich den Aussiedlern an. Diese wurden im frisch eroberten Polen angesiedelt und harrten dort einer unsicheren Zukunft. Das letzte Drittel der Deutschen blieb während der sowjetischen Annexion unbehelligt und verließ das Land erst im Zuge einer Nachumsiedlung kurz vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion. Stalin griff drei Monate nach Hitlers Überfall auf Polen am 30. November 1939 Finnland an. Zum allgemeinen Erstaunen der Weltöffentlichkeit wehrte sich das allein gelassene Finnland jedoch erfolgreich: Es verlor zwar diese als Winterkrieg in die Geschichte eingegangene Auseinandersetzung und damit zehn Prozent seines Territoriums, aber es bewahrte in einem im März 1940 geschlossenen Frieden seine Unabhängigkeit und durchkreuzte damit Stalins Pläne empfindlich. Dieser wandte sich daraufhin nach Süden und nahm sich die drei baltischen Staaten vor, die er sich nach dem üblichen Szenario – Ultimaten, Truppeneinmarsch (80000 Sowjetsoldaten kamen nach Estland), Marionettenregierungen – relativ mühelos einverleibte, während Hitlers Einnahme von Paris (14. VI. 1940) die Blicke der Weltöffentlichkeit gefesselt hielt. Dabei wurden die sowjetfreundlichen Marionettenregierungen fatalerweise noch von den amtierenden Staatsoberhäuptern ernannt, was die spätere völkerrechtliche Beurteilung verkomplizierte. Sowjetzeit (1940–1991) Während die sowjetische Historiographie diese Ereignisse als »sozialistische Revolution« oder gar »Wiederherstellung der Sowjetmacht« – denn nach deren Verständnis hatte es bereits 1917/18 eine legitime Sowjetmacht in dieser ehemaligen Ostseeprovinz des Zarenreichs gegeben – bezeichnete, hat sich im estnischen Sprachgebrauch die Bezeichnung »Juni-Umschwung« eingebürgert. Es gab innerhalb der estnischen Bevölkerung eine – quantitativ schwer zu erfassende – Schicht, die diesem Umschwung aufgeschlossen gegenüberstand. Bei einigen Linksintellektuellen, die ein Ende der »Schweigenden Pe-

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riode« herbeisehnten, bestand sogar die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit in einer neuen Regierung eines vorerst noch unabhängigen Estlands. Von ihnen waren die wenigsten aktive und überzeugte Kommunisten, die meisten neuen Funktionäre waren so genannte Russlandesten und kamen als Import aus dem sowjetischen Hinterland. Die einander überschlagende Ereignisse, allen voran die bereits am 6. August 1940 erfolgte Aufnahme in die Sowjetunion und die Verhaftung und Deportation fast aller ehemaligen Führungskräfte, ließen allerdings kaum Zweifel an den wahren Intentionen Stalins, und eine Desillusionierung griff schnell in weiten Kreisen Raum. Die Abkürzung für die neue Estnische Sozialistische Sowjetrepublik lautete auf Estnisch ENSV (Eesti Nõukogude Sotsialistilik Vabariik) und erhielt im Volksmund bald eine neue Auflösung: Enne nälg, siis viletsus (Erst Hunger, dann Elend). Sie wurde bereits im November 1940 in einem Lagebericht dokumentiert (Mertelsmann 2005, 597). Andererseits verhinderte die unsichere politische Großwetterlage eine sofortige und reibungslose Eingliederung in die Sowjetunion. Zwar wurde die Umstrukturierung der Gesellschaft nach sowjetischem Muster sofort in Angriff genommen, aber eine Ausweitung des Krieges auf die Sowjetunion war im Bewusstsein aller Beteiligten nur eine Frage der Zeit. Kurz vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion führten die sowjetischen Machthaber ihre ersten großen Deportationen in allen drei baltischen Staaten durch: In den frühen Morgenstunden des 14. Juni 1941 wurden ca. 10000 Esten abgeholt. 3000 Männer wurden in sowjetische Straflager verfrachtet, in denen die Mehrheit von ihnen umkam, während ihre 7000 Familienangehörigen nach Sibirien verbannt wurden, wo ebenfalls viele ums Leben kamen. Als Hitlers Truppen am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angriffen und zwei Wochen später in Estland einmarschierten, wurden diese daher naturgemäß als Befreier begrüßt. Schnell erwies sich dies als Illusion; an eine Wiederherstellung der Eigenstaatlichkeit war nicht zu denken, und der sowjetische Terror wurde vom Naziterror abgelöst. Als sich drei Jahre später ein Ende auch dieses Alptraums abzeichnete, keimte in den Esten erneut ein Hoffnungsfunke auf: Schließlich war es auch 1918 im Wirrwarr zwischen deutschen und russischen Truppen gelungen, seine Haut zu retten und die staatliche Unabhängigkeit zu erlangen. Die Sowjetarmee von 1944 war jedoch nicht mit der schlecht ausgerüsteten Roten Armee von 1918 zu vergleichen, weswegen Estland nicht den Hauch einer Chance erhielt, seine Unabhängigkeit zu behaupten. Die Folge hiervon war, dass ca. 70 000 Esten flohen, die meisten über die Ostsee nach Finnland und Schweden, ein geringerer Teil gemeinsam mit den deutschen Truppen. Wer nicht fliehen konnte (oder wollte), von der

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Sowjetmacht aber Böses zu befürchten hatte bzw. sie aktiv bekämpfen wollte, zog sich als Partisan in die Wälder zurück. Hier dauerte der bewaffnete Widerstand der so genannten »Waldbrüder« gegen die Sowjetmacht bis weit in die 1950er-Jahre hinein an, genährt von der Hoffnung, dass die Westmächte, von denen die meisten die Einverleibung Estlands in die Sowjetunion de jure nicht anerkannt hatten, eines Tages den Vorkriegszustand wiederherstellen würden. Hiervon unbeeindruckt machten sich die sowjetischen Machthaber an den Aufbau der neuen Sowjetgesellschaft Stalin’scher Prägung. Dies ging keineswegs reibungslos, so verlief die Bildung von Kolchosen außerordentlich schleppend, weswegen vom 25.–27. März 1949 noch einmal gut 20 000 Esten (als angebliche Kulaken, d. h. in sowjetischer Terminologie habgierige Großbauern) nach Sibirien deportiert wurden. So hat Estland in dem als »Schwarzes Jahrzehnt« zu bezeichnenden Zeitraum zwischen 1939 und 1949 fast ein Viertel seiner Bevölkerung durch Kriegsverluste, Flucht und Deportationen verloren. Hinzurechnen muss man hier noch die zahlreichen politischen Gefangenen, die den Stalin’schen Repressalien zum Opfer fielen. Der Wiederaufbau nach dem Krieg erfolgte im Zeichen der Zentralisierung und Industrialisierung sowjetischer Prägung. Die Zahl der Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen verdoppelte sich beinahe im Zeitraum zwischen 1955 und 1975, und der Bedarf an Arbeitskräften für die neu angesiedelte Industrie konnte nur durch Einwanderung bzw. Ansiedlung von Russen und anderen Nationalitäten aus der Sowjetunion gedeckt werden. Diese Siedlungspolitik führte zu starken demographischen Verschiebungen und ließ den Prozentsatz der Esten an der Einwohnerzahl ihrer Republik auf 61,5 absinken (1989, bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 1,56 Mio.). In einigen Städten – allen voran im stark industrialisierten Nordosten des Landes, aber auch in der Hauptstadt – waren die Esten sogar in die Minderheit geraten. Stalins Tod (1953) änderte prinzipiell wenig, auch wenn eine leichte Lockerung in der 1956 von Chruˇscˇ ev eingeläuteten Tauwetterperiode in allen Lebensbereichen spürbar war. Vor allem die sibirischen Straflager öffneten sich, und viele Esten konnten in ihre Heimat zurückkehren. Die Grundprinzipien der sowjetischen Politik änderten sich aber nicht, Estland hatte seine Eigenständigkeit weitgehend verloren und war im sowjetischen Machtbereich verschwunden. Dennoch gab es Unterschiede: Innerhalb der Sowjetunion wies Estland den höchsten Lebensstandard auf, und das Land exportierte – wie im Mittelalter – viele Agrarprodukte, nun allerdings nach Moskau und Leningrad und ohne wirtschaftlichen Gewinn. Dies führte in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren zeitweise zu Lebensmittelknappheit in Estland selbst.

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Ein weiteres Spezifikum war die Nähe zu Finnland, das einerseits eine völlig normale kapitalistische Gesellschaft westlicher Prägung war, andererseits durch sein besonderes Verhältnis zur Sowjetunion in der Terminologie des Kalten Krieges nicht zum feindlichen Lager gerechnet wurde. Beziehungen zu diesem Land waren also möglich. 1964 besuchte der finnische Präsident Urho Kekkonen Estland, seit 1965 bestand eine direkte Schiffsverbindung zwischen Helsinki und Tallinn, die für stetigen Kontakt mit finnischen Touristen sorgte, und ab dieser Zeit konnte das gesamte nordestnische Gebiet auch finnisches Fernsehen empfangen. Eine Unterbindung gelang den sowjetischen Behörden nicht, da die hierzu aufgestellten Störsender den Flugverkehr von Helsinki beeinträchtigten und infolgedessen wieder abgebaut werden mussten. So wurde die estnische Bevölkerung zum am besten informierten Teil der gesamten Sowjetunion. Dies führte dazu, dass der Beginn der Perestrojka- und Glasnost-Politik unter Michail Gorbaˇcev im Jahre 1985 in Estland anfangs als wenig spektakulär empfunden wurde. Bald aber zeigte sich, dass im Rahmen der neuen Zentralpolitik weit mehr Dinge möglich waren, als man zu hoffen gewagt hatte. Gorbaˇcev selbst hat den Geist, den er aus der Flasche gelassen hatte, unterschätzt und konnte ein Auseinderbrechen der Sowjetunion nicht mehr verhindern. Die später als »Singende Revolution« bezeichnete Wende in Estland begann im Frühjahr 1987, als eine breite Protestbewegung gegen den geplanten intensiven Phosphoritabbau in Nordostestland, der ökologisch unverantwortlich war und überdies mit weiteren demographischen Verschiebungen einhergegangen wäre, entstand. Treibende Kräfte waren die Intellektuellen, die als »Gewissen der Nation« allerorten Missstände anprangerten und die politische Führung unter Druck setzten. Seit Mitte 1988 war nach einigen personellen Wechseln die politische Spitze in Estland auf der Seite der Intellektuellen, und man zog nun gemeinsam an einem Strang gegen die Moskauer Zentralmacht. Deren Reaktionen und vage Zugeständnisse befriedigten die Esten nicht, die ein weiteres Jahr später, im Sommer 1989, die Forderung nach vollständiger Unabhängigkeit und Wiederherstellung der völkerrechtlich immer noch existierenden Republik von 1918 vorbrachten. Relativ unbeeindruckt von den sowjetischen Reaktionen begann man jetzt mit dem konkreten Aufbau neuer staatlicher Strukturen und diplomatischer Beziehungen zu Westeuropa. Die sowjetischen Reaktionen waren unkoordiniert und hilflos, wie die Blutsonntage in Vilnius (13. I. 1991, 14 Tote) und Riga (20. I. 1991, 4 Tote) zeigten. In Estland ist während des Streits um die Wiedererlangung der Unabhängigkeit kein einziger Tropfen Blut geflossen.

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Wiedererlangte Unabhängigkeit (ab 1991) So wie die Möglichkeiten zur Reemanzipation erst von der Moskauer Zentralmacht in Gestalt der Gorbaˇcev’schen Reformpolitik geschaffen worden waren, so war der konkrete Auslöser für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit ebenfalls ein Ereignis in Moskau: der klägliche Putschversuch vom 19. August 1991. Nun ergriffen die Esten die Flucht nach vorne und erklärten am 20. August ihre vollständige und sofortige Unabhängigkeit. Als erster Staat erkannte Island am 22. August Estland an; bereits am 24. August erfolgte die Anerkennung durch die Russische Föderation, wenig später durch die Staaten der Europäischen Union, am 2. September durch die USA und, besonders wichtig, am 6. September durch die Sowjetunion. Am 17. September erfolgte die Aufnahme in die UNO. Die ersten Jahre der wiedererstandenen Republik standen im Zeichen des wirtschaftlichen und staatsrechtlichen Wiederaufbaus. Am 20. Juni 1992 wurde die estnische Krone (in fester Anbindung an die DM bzw. mittlerweile an den Euro, dessen Einführung für 2008 vorgesehen ist) eingeführt, eine Woche später wurde per Referendum eine neue Verfassung angenommen, und im Herbst fanden die ersten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Erster frei gewählter Präsident wurde der Filmemacher und Schriftsteller Lennart Meri, der als Außenminister (1990–1992) in der Phase vor der Wiedererlangung der Unabhängigkeit intensiv den Aufbau der diplomatischen Beziehung Estlands mitgestaltet hatte. Ein brennendes innenpolitisches Problem waren die große russische Minderheit, der man aufgrund der völkerrechtlichen Lage nicht ohne weiteres die estnische Staatsangehörigkeit gewähren konnte, und die Anwesenheit des sowjetischen Militärs. Erst am 31. August 1994 verließ der letzte sowjetische Soldat das Land, während pensionierte Offiziere auch heute noch in Estland leben. Aufgrund der sehr liberalen Minderheitenpolitik ist es allerdings zu keinen Spannungen gekommen, und 2001 hatten bereits 80 % der Bevölkerung Estlands die estnische Staatsangehörigkeit. Infolge von Abwanderungen und einer negativen Geburtenrate ist die Bevölkerungszahl zudem auf 1,37 Mio. gesunken, von denen die Russen ein gutes Viertel ausmachen. Der Prozentsatz der Esten war 2001 wieder auf fast 68 % gestiegen. Die drastischen marktwirtschaftlichen Reformen der ersten frei gewählten Regierung unter Mart Laar führten zu einem rasanten Wirtschaftswachstum, dessen Kehrseite ein schnelles Auseinanderklaffen der sozialen Schere war. Hier unterscheidet sich Estland kaum von den anderen Transformationsstaaten, jedoch könnten die engen Beziehungen zu Schweden und Finnland, die geringe Größe und die erwiesene Flexibilität und Innovationsfreudigkeit die

§ 3 Periodisierung

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künftige Entwicklung positiv beeinflussen. Außenpolitisch richtete sich Estland auf die Einbindung in verschiedene internationale Strukturen, von denen die Aufnahme in die NATO (2003) und in die Europäische Union (2004) als die wichtigsten Erfolge anzusehen sind.

§ 3 Periodisierung Eine Reduzierung auf die Sprache als Kriterium mag einem manch lästige Abgrenzungsdiskussion ersparen, entbindet einen trotzdem nicht von der Pflicht, seinen Gegenstand in handhabbare Portionen einzuteilen, d.h. sinnvoll zu periodisieren. Dabei ist von vornherein klar, dass wie auch immer definierte Perioden stets ein im Nachhinein verpasstes Etikett sind und niemals »natürlich«, »logisch« oder eindeutig erklärbar sind. Sie sind in erster Linie willkürlich und nur ein Hilfsmittel, die Aufbereitung des Stoffes ein wenig übersichtlicher zu gestalten. Da nach vorherrschender Meinung – das Buch selbst ist nicht überliefert (s. § 9) – der erste estnische Druck für 1525 anzusetzen ist und die Zeit der schriftlichen Überlieferung estnischer Texte im frühen 16. Jahrhundert einsetzt, bietet sich dieses Datum als eine erste Zäsur an. Davor allerdings hat es etliche Jahrhunderte, vielleicht auch mehrere Jahrtausende schon, eine mündlich tradierte Volksdichtung gegeben, die Grundlage und Ausgangspunkt für die heutige estnische Literatur bildet und daher ebenfalls behandelt werden muss. Dem Kapitel über das frühe estnische Schrifttum (II.) ist deswegen ein Abschnitt über die Volksdichtung vorangestellt worden (I.). Komplizierter ist es dann, ein Kriterium für den Übergang vom »Schrifttum« zur »Literatur« zu finden. Eingedenk der oben dargestellten Literaturauffassung (vgl. § 1) kann es ein solches Kriterium streng genommen gar nicht geben. Kann nicht ein Katechismus von 1535 oder ein erbaulicher Text aus dem 18. Jahrhundert genauso etwas, was man »literarische Merkmale« nennt, haben wie eine Nachdichtung aus dem 19. Jahrhundert? Und warum soll ein Essay aus dem 20. Jahrhundert eher zur »Hochliteratur« gehören als ein lehrreicher Dialog aus dem 17. Jahrhundert? Gewiss lassen sich mit einiger Mühe ansatzweise Definitionen und vage Erklärungen finden, doch erscheint es sinnvoller, die notwendigen Einschnitte anhand der äußeren Gegebenheiten, die die Rahmenbedingungen für die Literatur darstellen, vorzunehmen. Dies kann auch – und dies wäre dann der Übergang vom II. (»Schrifttum«) zum III. (»frühe Literatur«) Kapitel – in einer Veränderung der Funktion, die literarischen Texten zugeschrieben wird, liegen: Wenn neben der rein erbaulichen, und das heißt lehrreichen, belehrenden Funktion

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auch ein Element der Zerstreuung, vielleicht sogar der Belustigung oder Zweckfreiheit hinzukommt, mithin der Gedanke, dass in dieser Sprache auch so etwas wie Wortkunst möglich sein muss. Problematisch bleibt dabei die Einführung des Begriffs »Kunst«, der sich im Rahmen der hier angestrebten Konzeption als untauglich erweist. Gemeint ist damit jedoch lediglich die relative Ferne von streng zweck- und funktionsgebundenen Textsorten. Die Gelegenheitsdichtung (vgl. § 10) kann hier als anschauliches Beispiel für einen solchen Übergang dienen: Sie war in akademischen Kreisen Pflicht und teilweise Lehrfach (also auch lernbar) und erhielt erst allmählich durch die Hinzufügung eines spielerischen Elements eine Art künstlerischen Spielraum, den man »dichterische Freiheit« zu nennen begann. Webermann (1965, 222) hat in diesem Zusammenhang völlig zu Recht auf Huizingas homo ludens verwiesen. Ein weiteres Kriterium für eine neu anzusetzende Periode kann außerdem der Übergang von der reinen Übersetzung von fremdsprachigen Texten ins Estnische zu eigenem, d.h. originärem Schaffen sein. Auch hier sind die Grenzen nicht scharf, aber mit zunehmender Differenzierung wird es immer schwieriger für die verschiedenen Texte und Textsorten konkrete Vorbilder zu ermitteln, mit anderen Worten: Hier wurden mittlerweile Texte verfasst, die ausschließlich auf Estnisch gedacht, formuliert und niedergeschrieben worden sind. Die Ansetzung des Jahres 1800 für diesen Übergang ist nicht mit einem konkreten Ereignis oder Text verbunden, sondern lediglich als Annäherungswert aufzufassen. Es gibt einige Ereignisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die einen Einschnitt ungefähr an dieser Stelle sinnvoll machen, aber selbstverständlich gab es auch im 18. Jahrhundert bereits Texte, die das Prädikat »Belletristik« verdienen, wie es andererseits bis weit in das 19. Jahrhundert hinein keinen »Literaturbetrieb« im eigentlichen Sinne gab, wofür das Schicksal von Kristian Jaak Peterson (vgl. § 16) ein beredtes Beispiel ist. Die nächste äußerliche Veränderung (Kapitel IV.) tritt ein, wenn die ersten professionellen Autorinnen und Autoren auf den Plan treten, d.h. Personen, die – zumindest einen Teil ihres Lebens – ausschließlich von ihrer Feder gelebt haben. Dies beginnt in der Regel im journalistischen Bereich, der auch im Falle der estnischen Literatur für lange Zeit sehr eng mit dem literarischen Bereich verwoben bleibt. Allerdings wird die Geburt der modernen Presse normalerweise auf das Jahr 1857 datiert, als die erste langlebigere Wochenzeitung ihr Erscheinen begann, und so ist das hier gewählte Jahr (1870) nur eine relativ grobe Andeutung. Es befindet sich aber zum Beispiel in der Nähe des ersten estnischen Liederfests (1869) und der Gründung einer wichtigen literarischen Gesellschaft (1872, Eesti Kirjameeste Selts, ›Estnische literärische Gesellschaft‹, vgl. § 20). Fest steht, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhun-

§ 3 Periodisierung

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derts, als die nationale Emanzipationsbewegung ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte und gleichzeitig die allmähliche Industrialisierung des Landes einsetzte, die Textproduktion erheblich stieg. Auf der Suche nach sinnvollen Einschnitten für eine Periodisierung bietet sich gerade das Kriterium der Veränderung, des Unterschieds im Vergleich zu einer früheren Periode, an: In einer folgenden Periode sollte etwas vorhanden sein, was vorher noch nicht da gewesen war, und dieses »etwas« muss keineswegs rein literarisch definiert werden. Im Gegenteil, gerade weil literarische Strömungen und geistesgeschichtliche Entwicklungen allgemeinerer Art einander überlappen, wären außerliterarische Indikatoren sogar vorzuziehen. Die im Zuge einer gesellschaftlichen Modernisierung vollzogene größere Arbeitsteilung, die unter anderem eine moderne Journalistik entstehen ließ, bewirkte eine gewisse Professionalisierung, die ihrerseits nicht ohne Auswirkungen auf die literarische Landschaft bleiben konnte. Gleichzeitig spielen nicht primär literarische, sondern gesellschaftliche Entwicklungen eine entscheidende Rolle hinsichtlich der veränderten Sicht auf das Phänomen »Estnische Literatur«, das als solches in dieser Phase erstmals wahrgenommen wird. Für die Trennung zwischen dem IV. (Ende des 19. Jahrhunderts) und V. Kapitel (Beginn des 20. Jahrhunderts) können nur quantitative Gründe angeführt werden, denn Professionalisierung und Diversifizierung verlaufen Hand in Hand. Da aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Vermehrung der Textproduktion eintrat – in den ersten 17 Jahren des 20. Jahrhunderts war die Gesamtbuchproduktion mit 4000 Titeln beinahe ebenso hoch wie in den dreieinhalb vorangegangenen Jahrhunderten (1525–1900: 4371 Titel) –, ist ein ausschließlich numerisch zu begründender Einschnitt beim Jahrhundertwechsel gemacht worden. Inhaltlich wäre eine Gesamtperiode von etwa der Mitte der 1880er-Jahre bis zum Beginn der Eigenstaatlichkeit ebenso gut begründbar, und die beiden Kapitel sind, auch schon in Gestalt der tonangebenden Personen, eng miteinander verwoben. In dieser Periode war die gesellschaftliche und weltgeschichtliche Entwicklung besonders stürmisch, was auch seine deutlichen Spuren in der estnischen Literatur hinterlassen, in einigen Fällen ihr sogar einen direkten Stempel aufgedrückt hat. Es ist im Folgenden nur eine Konsequenz aus der Erkenntnis des gesellschaftlichen Eingebundenseins von Literatur, dass die weitere Einteilung größtenteils – wenn auch sicherlich nicht ausschließlich – anhand der politischen Veränderungen geschieht. So hat die Tatsache der ersten estnischen Eigenstaatlichkeit (1918–1940, Kapitel VI.) auch direkte Einwirkungen auf die Literatur gehabt, sei es in einem veränderten (d.h. verbesserten) Finanzierungs- und Zuschusssystem, das literarische Produktion stimulierte und bei manchen Personen überhaupt erst ermöglichte, sei es in Gestalt des – zum

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ersten Mal in der Geschichte der Esten, sieht man von einer kurzen Phase im Verlaufe der Revolution 1905 ab – völligen Wegfalls der Zensur. Trotzdem ist die Zäsur von 1918 bei einigen Autorinnen und Autoren relativ bedeutungslos und erscheint willkürlich, weswegen im fünften Kapitel auch einige Personen mit ihrem Werk aus der späteren Zeit behandelt werden. Ebenso führt der Einschnitt bei 1918 zu einer Aufteilung von Themen auf zwei Kapitel, die traditionell immer gemeinsam behandelt worden sind – so die beiden literarischen Gruppierungen Siuru (Kapitel V., § 29) und Tarapita (Kapitel VI., § 31) –, aber solche Probleme bestehen bei jeder Periodisierung und können durch Querverweise gelindert werden. Im Weiteren kann die totale Umkehrung, genauer gesagt Eliminierung der Freiheit(en), die die Zwischenkriegszeit charakterisierten, d.h. die (dreimalige!) Einverleibung in ein totalitäres System mit strenger Zensur und der Verlust der staatlichen Selbstständigkeit, nicht ohne Spuren am literarischen Leben vorbeigegangen sein, weswegen dieser düsteren Periode innerhalb der estnischen Geschichte ein eigener Abschnitt gewidmet wird (Kapitel VII.). Der folgende Einschnitt Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts erwies sich wiederum aufgrund quantitativer Erwägungen als sinnvoll, obwohl die nach dem Tod Stalins (1953) erfolgte Lockerung der Zensur auch inhaltliche Auswirkungen hatte. Sie führte zu einem Anstieg der Buchproduktion, während gleichzeitig die beginnende Überalterung des Exils dort zu einem spürbaren Produktionsrückgang führte. Freilich sind auch hier die Grenzen, wie ebenfalls beim Übergang zum letzten Kapitel, fließend, zumal die die Literatur gestaltenden Personen häufig dieselben waren (Kapitel III.). Die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit (1991) muss an sich keinen literarischen Neuanfang bedeuten; wohl aber sorgte der neuerliche Wegfall der Zensur zwischen dem Herbst 1988 und dem Frühjahr 1989 (vgl. § 47) für eine spürbare Veränderung der Rahmenbedingungen, zudem änderten sich erneut die wirtschaftlichen Bedingungen dermaßen radikal, dass eine neue Periode angesetzt werden kann: Freischaffende Autoren und Autorinnen kamen nämlich während der Sowjetzeit materiell relativ gut über die Runden, sofern sie regelmäßig publizierten, während dies nach 1991 nicht mehr der Fall war und zur Kompensation wieder ein Fördersystem installiert wurde, das dem der Zwischenkriegszeit glich. Gleichzeitig kann als weiteres Kriterium hinzukommen, dass die neuen (elektronischen) Medien Einzug in den literarischen Bereich hielten (Kapitel IX.). Während die Haupteinteilung der Kapitel chronologisch ist, versucht die Feinunterteilung in Paragraphen den bedeutendsten Einzelaspekten einer Periode gerecht zu werden. Hierbei können Personen oder Texte, Strömungen oder Gattungen, politische Begleitumstände oder persönliche Schicksale im

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Vordergrund stehen. Auch wenn der Schwerpunkt der Paragraphen durch die Titelwahl vorgegeben wird, bedeutet das nicht, dass andere relevante Aspekte nicht behandelt werden. Im konkreten Falle der Paragraphen, die einen einzigen Namen als Titel haben, bedeutet dies, dass auch das Umfeld der fraglichen Person und die Zeitumstände zur Sprache kommen können. Innerhalb der Paragraphen schließlich erfolgt eine lose Gruppierung nach Genres, Personen, Einzelwerken oder anderen relevanten Einzelaspekten des literarischen Feldes. Diese sind jeweils durch Zwischenüberschriften voneinander abgehoben. Zahlreiche Querverweise nach anderen Paragraphen sollen helfen, die größeren Zusammenhänge sichtbar zu machen.

§ 4 Vorarbeiten Gesamtdarstellungen in Estland bis zum Zweiten Weltkrieg Erste Überblicksdarstellungen der estnischen Literatur erschienen Mitte des 19. Jahrhunderts, als das Interesse an der bis dahin weitgehend als »Bauernkultur« abqualifizierten estnischen Kultur allmählich erstarkte. Ausdruck hiervon war auch die 1838 gegründete Gelehrte Estnische Gesellschaft (vgl. § 17), in deren Verhandlungen 1843 aus der Feder von Dietrich Heinrich Jürgenson der erste Versuch einer Gesamtdarstellung des bis dahin erschienenen Schrifttums erschien. Diese Arbeit des ehemaligen Estnischlektors der Tartuer Universität war ein mündlicher Vortrag vor der Gesellschaft gewesen und noch nicht für die Publikation bearbeitet worden. Nach seinem Tod entschloss sich die Redaktion der Verhandlungen zum Abdruck in dieser Form, weil sie keinen kompetenten Bearbeiter anweisen konnte und sie als die erste Gesamtdarstellung der estnischen Literatur würdigen wollte. Verständlicherweise geht Jürgenson nur auf die überlieferten frühesten Drucke religiösen Inhalts und das erbauliche Schrifttum des 18. Jahrhunderts ein, da zu seinen Lebzeiten fast nichts anderes vorhanden war. Besonders im zweiten Teil ist seine Darstellung kaum mehr als ein Verzeichnis der ihm bekannten frühen estnischen Drucke. Dennoch ist Jürgensons Artikel als Auftakt einer intensiveren Befassung mit dem estnischen Schrifttum und als erste Dokumentation des estnischen gedruckten Wortes zu würdigen. Überdies dauerte es noch über eine Generation, sieht man von dem finnischsprachigen Artikel von August Ahlqvist (s.u.) ab, ehe sich erneut jemand des Themas annahm. Dies tat Juhan Kunder (s. § 22), der in einem groß angelegten Plan Rundbriefe verschickte, um Erkundigungen für seine geplante Literaturgeschichte einzuholen. Die Zahl der Antworten war aber enttäuschend niedrig,

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und das Projekt geriet ins Stocken. 1885 publizierte der Autor noch einen ersten Teil in einer Zeitschrift, ehe er 35-jährig verstarb. Erst postum ist der erste Teil seiner Literaturgeschichte als Schulbuch herausgekommen (1890), während der geplante zweite Teil gar nicht erschienen ist. Der erste Teil ist eher eine essayistische Sammlung zur national bewegten Dichtung des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts als eine systematische Darstellung der gesamten estnischen Literatur. Da aber auch die Volksdichtung hier zur Sprache kommt, ist ein deutlicher Schritt in Richtung auf eine umfassendere Darstellung hin getan. Die erste monographische Gesamtdarstellung der estnischen Literatur legte Karl August Hermann 1898 vor. Seine Literaturgeschichte bildet mit ihren über fünfhundert Seiten allein schon vom Umfang her einen ersten Meilenstein in der estnischen Literaturforschung. Das Buch ist nach sprachlichen Kriterien, d.h. nach den verschiedenen Stadien in der Entwicklung der estnischen Schriftsprache, periodisiert und beruht zum Großteil auf den Vorlesungen über estnische Literatur, die Hermann als Lektor für Estnisch (1889–1908) an der Tartuer Universität gehalten hatte. Es enthält ausführliche Angaben zu nahezu allem, was es an gedrucktem estnischen Wort zu jenem Zeitpunkt gab, während die Volksdichtung nicht berücksichtigt ist. In späteren Stellungnahmen zu Hermanns Buch wurde häufig bemängelt, dass der Autor seinen Stoff uneinheitlich behandelt und Wesentliches nicht von Unwesentlichem zu scheiden wusste (oder wagte). Auch die zeitgenössische Presse sparte nicht mit Kritik, worauf Hermann seinerzeit pikiert reagierte. Kurz vor seinem Tode wollte er Mihkel Kampmann (ab 1936 Kampmaa, s.u.) brieflich sogar verbieten, sich an eine neue Literaturgeschichte zu machen, da dies eindeutig »sein« Gebiet sei. Im gleichen Brief äußerte er sich auch despektierlich über Tõnu Sanders (s.u.) mittlerweile erschienene Literaturgeschichte. Noch heute findet man jedoch zu exotischen, längst vergessenen Namen in Hermanns Monographie oft aufschlussreiche Informationen. Eine Episode blieb die unvollendete Literaturgeschichte von Tõnu Sander, deren erste zwei Teile postum (1899, 1901 mit späteren Neuauflagen) erschienen sind. Sie war Anfang der 1890er-Jahre begonnen worden und ist damit älter als Hermanns Werk, so dass der Titel des »ersten estnischen Literaturwissenschaftlers« streng genommen Sander zusteht. Dies wird unterstützt durch die Tatsache, dass Sander im Gegensatz zu Hermann auch einen theoretischen Teil hat. Überhaupt besticht Sander gegenüber Hermann durch Systematik und Stringenz, die letztlich für den sich in mehreren Neuauflagen manifestierenden Erfolg verantwortlich gemacht werden können. Der erste Teil behandelt die Volksdichtung, die hier also als ein Teil des literarischen Schaffens der Esten angesehen wird. Da der zweite Teil schon mit

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dem Erscheinen des Neuen Testaments auf Nordestnisch (1715) endete, blieb das Werk in den Ansätzen stecken und wurde in der weiteren Rezeption von Hermanns Monographie überschattet. Mit der vierbändigen Abhandlung von Mihkel Kampmann (I-IV, 1912– 1936), von denen die ersten beiden Teile mehrere Auflagen erlebten, erreichte die estnische Literaturgeschichtsschreibung einen vorläufigen Höhepunkt. Wie seine Vorgänger war auch Kampmann kein geschulter Literaturwissenschaftler, sondern in erster Linie Lehrer. In diesem Beruf empfand er den Mangel an vernünftigem Lehrmaterial und ausreichender Hintergrundinformation als so störend, dass er sich anschickte, hier Abhilfe zu schaffen. Er besorgte Lese- und Schulbücher, die sehr erfolgreich waren und mehrfach aufgelegt wurden. Als er sich später eingehender mit der estnischen Literatur befasste, entstand Anfang des 20. Jahrhunderts der Plan, einen umfassenden und systematischen Überblick zusammenzustellen. Bei diesem ehrgeizigen Projekt sah Kampmann sich als Liebhaber, der »im Dienste der Sache« Material sammelte, nicht unbedingt als Literaturwissenschaftler. Trotzdem wäre es falsch, Kampmann als rührigen Laien abzuqualifizieren, der wahllos Fakten sammelte und zu einem Ganzen verarbeitete. Auch wenn er ein Autodidakt war, so war er doch der erste Chronist der estnischen Literatur, der seine Informationen teilweise direkt von den Autorinnen und Autoren bezog, und er bettete seine Darstellung durchaus in einen theoretischen Rahmen ein. Bereits in seinem ersten Werk, das die ältere estnische Literatur behandelte und für diesen Bereich richtungweisend wurde (Kampmann 1908), findet sich ein Hinweis auf den dänischen Literaturwissenschaftler Georg Brandes, der damals als bedeutendster zeitgenössischer Literaturwissenschaftler angesehen wurde und in Estland großen Einfluss gehabt hat. Auch das Verdienst einer erstmaligen Einbindung der estnischen Literatur in eine gesamteuropäische Geistesgeschichte gebührt Kampmann. Kampmanns Literaturgeschichte ist biographisch-historisch angelegt und verfällt durch ihre Weitschweifigkeit bisweilen in eine Art Plauderton, was dem Autor von der professionellen Literaturwissenschaft später vorgeworfen wurde. In späteren Auflagen sind solche Passagen dann gestrafft worden. Beigetragen zu einer Versachlichung hat auch eine bessere Berücksichtigung neuerer Forschungsergebnisse. Kampmanns Werk mit seinen rund 1250 Seiten Umfang, an dem er über dreißig Jahre gearbeitet hat, blieb für lange Zeit die umfassendste und einflussreichste Darstellung der estnischen Literatur. Zu Recht ist Kampmann von seinen jüngeren Kollegen als Pionier der estnischen Literaturgeschichtsschreibung bezeichnet worden. Bis heute ist seine faktenreiche Darstellung trotz gelegentlicher Ungenauigkeiten ein wichtiges Hilfsmittel beim Studium der estnischen Literatur.

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Bis jetzt hatte die estnische Literaturgeschichtsschreibung notgedrungen in den Händen von Laien gelegen, da es ein Fach »Estnische Literaturgeschichte« bzw. »Estnische Literaturwissenschaft« an keiner Universität der Welt gegeben hatte. Das änderte sich mit der Erlangung der Eigenstaatlichkeit, als 1919 an der Tartuer Universität die entsprechenden Lehrstühle eingerichtet wurden. Aber auch dies führte nicht sofort zu einer professionellen und erschöpfenden Gesamtdarstellung der estnischen Literatur, wie Kampmann im Vorwort zu seinem vierten Teil (1936) richtig bemerkte. Daher habe er sich trotz der teilweise harschen Kritik am dritten Teil zur Fortsetzung seines Werkes entschlossen. Denn die berufsmäßigen Literaturhistoriker hätten sich bislang mit knappen Darstellungen begnügt. Zwar war Kampmanns Bemerkung korrekt – eine vom Umfang her an sein Werk heranreichende Gesamtdarstellung wurde in Estland erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht –, dennoch lässt sich eine spürbare Belebung im Bereich der estnischen Literaturwissenschaft nach der Etablierung des Fachs an der Tartuer Universität feststellen. Erst waren es vorwiegend Personen, die Anfang des Jahrhunderts in Helsinki studiert hatten, später dann eine jüngere nachwachsende Generation von Literaturwissenschaftlern, die sich des Themas annahmen. In der Zwischenkriegszeit erschienen diverse kompakte Darstellungen zur estnischen Literatur, die für den Schulgebrauch und den akademischen Unterricht konzipiert waren. Die veränderte Lage im schulischen und Bildungsbereich bewirkte eine wesentlich größere Nachfrage nach derartigen Werken. Zu nennen sind hier Villem Ridalas dreiteilige Literaturgeschichte für Schulen (1924–1929), die für eine Befassung mit der Volksdichtung und der früheren Literatur wichtig ist, während die Darstellung der späteren Zeit an Genauigkeit und Abstand zu wünschen übrig ließ. Auch eine einbändige Übersicht über die estnische Literatur von Karl Mihkla, die erstmals 1931 erschien und eine Reihe von Neuauflagen erlebte, sowie eine ausführlichere dreiteilige Version (1932–1935) desselben Autors waren für den Gebrauch an Schulen bestimmt. Mihkla war darüber hinaus als Kritiker tätig, legte literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu verschiedenen Spezialfragen vor und stellte gemeinsam mit anderen auch ein mehrbändiges Lesebuch für Schulen zusammen. Dem »Kopf« der estnischen Literaturwissenschaft, Gustav Suits (vgl. § 25), der seit 1921 in verschiedenen Positionen (als ordentlicher Professor erst ab 1931) an der Tartuer Universität für estnische und allgemeine Literatur verantwortlich war, gelang es vor dem Krieg nicht mehr, seine lange geplante und in Arbeit befindliche Literaturgeschichte fertig zu stellen. Er publizierte hauptsächlich zu Einzelfragen und war in der Zwischenkriegszeit in

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erster Linie als Ausbilder einer ganzen Generation von künftigen Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern aktiv. Immerhin hatte er aber bereits vor dem Ersten Weltkrieg im IX. Band von Paul Hinnebergs repräsentativer Serie Die Kultur der Gegenwart (Berlin und Leipzig 1908) einen 20-seitigen Überblicksartikel über die estnische Literatur auf Deutsch veröffentlicht, den er auch noch in den 1930er-Jahren auf den Literaturlisten seiner Veranstaltungen führte. Suits’ Weggefährte und Pendant außerhalb der Universität, Friedebert Tuglas (vgl. §§ 25 und 26), der sich seine Lorbeeren – abgesehen von seiner schriftstellerischen Tätigkeit – als Kritiker und Literaturwissenschaftler verdiente, publizierte dagegen 1934 einen kurzen Überblick über die estnische Literatur. Dies Werk erlebte eine zweite Auflage (1936) und eine aktualisierte finnische Übersetzung (1939), die immer noch lesbar und empfehlenswert ist. Außerdem kommt ihr besondere Bedeutung zu, weil sie die letzte Gesamtdarstellung der estnischen Literatur vor dem Zweiten Weltkrieg und den ihm folgenden ideologischen Zwängen der verschiedensten Art ist. Beinahe alle späteren Literaturgeschichten waren in mehr oder weniger starkem Maße dem Scheuklappendenken des Ost-West-Konflikts unterworfen und haben entsprechende Bewertungen vorgenommen: Sowjetestnische Darstellungen fühlten sich bei Autorinnen und Autoren, die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Estland waren, häufig bemüßigt, diese Tatsache in irgendeiner Weise zu kommentieren, während die im westlichen Exil entstandenen Überblicke ebenfalls eine diesbezügliche Wertung, dann eben mit umgekehrten Vorzeichen, vornahmen. Estnische Darstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg Nach der Sowjetisierung Estlands lag die dortige Literaturwissenschaft am Boden (vgl. §§ 35 und 38). Im westlichen Ausland wurden seitens der Exilgemeinschaft verstärkt Bemühungen unternommen, die Kontinuität zu wahren und die estnische Literatur bzw. die Esten allgemein dem drohenden Vergessen zu entreißen. Dies führte zu einigen monographischen Abhandlungen verschiedener Autoren, die ihre Werke zuweilen auch ins Deutsche, Englische oder Finnische übersetzen ließen. Als Erster legte Henno Jänes eine Überblicksdarstellung (1950) vor, die bald in erweiterter Neuauflage (1957) und 1965 in deutscher Übersetzung erschien. Damit war sie die erste deutschsprachige monographische Gesamtdarstellung der estnischen Literatur. Jänes war Gymnasiallehrer für estnische Sprache und Literatur und hatte bereits vor dem Krieg Schulbücher veröffentlicht. Nach dem Krieg war er unter anderem Gründer und Direktor des estni-

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schen Gymnasiums in Stockholm und gleichzeitig Lektor an der dortigen Universität. Zielgruppe seines Buches war explizit die estnische Exilgemeinschaft, der der »normale« Zugang zum literarischen Erbe der Esten versperrt war, weswegen der Autor den Schwerpunkt auf die neueren Entwicklungen legte und von zahlreichen Werken Inhaltsangaben lieferte. Die deutsche Ausgabe ist leicht gekürzt, geht entsprechend ihrem späteren Erscheinen aber auch auf die neuere Exilliteratur ein, während von einer Betrachtung der in Sowjetestland erschienenen Literatur gänzlich abgesehen worden ist. Kurze Zeit später erschien die bereits in Estland angekündigte Monographie von Gustav Suits (1953), die indes nur den ersten Teil eines offenbar auf mehrere Bände angelegten Werkes bildet und im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts endet. Ein zweiter Teil ist nie erschienen, und in einer Neuedition des Buches (1999) wurde in Ermangelung eines solchen als zweiter Teil eine Sammlung verstreut erschienener Aufsätze von Suits abgedruckt, die zeitlich an den ersten Teil anschlossen. Suits beschränkte sich in seiner Monographie streng auf die geschriebene Literatur und behandelte die Folklore nicht. Im Weiteren legte er den Schwerpunkt auf eine nüchterne Faktendarstellung unter Betonung biographischer Angaben und bewusster Vermeidung wertender Passagen oder ästhetischer Analysen. Von Karl Ristikivi (vgl. §§ 37 und 39) kam 1954 eine knappe estnische Literaturgeschichte heraus, die auf ihren gut 100 Seiten lediglich die Periode von Kristian Jaak Peterson (vgl. § 16) bis zum Verlust der Eigenstaatlichkeit 1940 behandelte. Ähnliches gilt für das Büchlein von Arvo Mägi, der zu den produktivsten Literaten im Exil zählte und aus dessen Feder 1965 eine kompakte Geschichte der estnischen Literatur erschien. Da Mägis Buch auch auf Finnisch (1965) und Englisch (1968) herauskam, erlangte das Werk eine gewisse Verbreitung. Es ist wesentlich knapper als die Bücher von Jänes und Suits und dient daher als eine erste Heranführung an die estnische Literatur; gleichzeitig behandelt es aber auch die Nachkriegsperiode und ist dadurch aktueller als die vorgenannten Überblicke. Gemeinsam mit Bernard Kangro (s. u., vgl. §§ 34 und 39) und Karl Ristikivi verfasste Mägi danach noch eine Monographie ausschließlich über die estnische Exilliteratur (1973). In Estland selbst stand man nach dem Krieg vor einem zweifachen Problem. Erstens war ein nicht unbedeutender Teil der estnischen Literaturwissenschaftler ins Exil gegangen (z.B. Kangro, Oras [s.u.], Suits) bzw. zeitweise kaltgestellt – entlassen, inhaftiert oder verbannt –, zweitens musste die estnische Literaturgeschichte der neuen Ideologie gemäß umgeschrieben werden. Als erstes erschien in den späten 1940er- und in den 1950er-Jahren eine wahre Flut von Lese- und Schulbüchern. Bald danach wurde ein breit angelegtes Projekt gestartet, innerhalb dessen die gesamte estnische Literatur entspre-

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chend den neuen ideologischen Erfordernissen behandelt werden sollte. Das Ergebnis ist die bis heute umfangreichste Darstellung der estnischen Literaturgeschichte, die siebenbändig entsprechend der dem Sowjetsystem eigenen Trägheit über einen Zeitraum von über 25 Jahren (1965–1991) erschien. Dieses Werk ist wegen der Vielzahl der Autorinnen und Autoren und infolge des langen Erscheinungszeitraums recht heterogen, andererseits ist diese Heterogenität Garant für eine detaillierte und fachkundige Behandlung der jeweiligen Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Denn auf diese Weise kamen 40 Fachleute zu Wort, die ihr Gebiet, ihre Periode oder ihre Person besonders gut kannten. Auch nach Vornahme der entsprechenden Abstriche, die man bei einer auf Basis einer ideologischen Zwangsjacke geschriebenen Literaturgeschichte immer machen muss, bleibt dieses Werk mit seinen über 4000 Seiten bis heute die umfangreichste Darstellung und wichtigste Quelle der estnischen Literaturgeschichte (zitiert als EKA). Daneben hat die Monographie von Endel Nirk relativ weite Verbreitung erlangt. Sie wurde erstmals aus Anlass des dritten internationalen Finnougristikkongresses, der 1970 in Tallinn stattfand, auf Englisch publiziert. 1987 folgte eine erweiterte Neuausgabe, die die Literatur bis in die 1980er-Jahre hinein behandelt. Für das heimische Publikum fertigte Nirk 1983 eine estnische Ausgabe an, die als Grundlage für die 1986 in Helsinki angefertigte finnische Version diente. Diese Edition ist besonders hervorzuheben, weil sie über einen völlig neuen und detaillierten Bildteil verfügt, der der Leserschaft viele Fotos präsentiert, die in keiner anderen Darstellung enthalten ist. Als kompaktes Handbuch mit breitem biobibliographischem Apparat bietet das Buch nach wie vor einen guten ersten Zugang zur estnischen Literatur, sofern man über die zeitgebundenen ideologischen Verzerrungen hinweg zu lesen imstande ist. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit (1991) wurde schnell der Ruf nach einer neuen, umfangreichen und vor allem unsowjetischen Literaturgeschichte laut. Ein solches Werk wurde in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre von sechs Tartuer Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern abgefasst (Epp Annus et al. 2001). Das 700-seitige und reichhaltig illustrierte Buch löste eine lebhafte Diskussion aus, was zeigt, dass ein Bedarf nach einem solchen Handbuch bestand. Ebenso zeigen die vielen verschiedenen Meinungen, die es zu diesem Werk gab, dass die estnische Literaturwissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts blüht.

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Nachschlagewerke und Zeitschriften Der fragliche Raum ist biobibliographisch gut erschlossen. Für die ältere Periode liegt mit Recke/Napiersky (1827–1832) ein mehrbändiges Lexikon vor, das auch für eine Beschäftigung mit dem estnischen Schrifttum nützliche Angaben enthält, wenngleich es sich im Wesentlichen nur mit der deutschen Oberschicht befasst. Gleiches gilt für das deutschbaltische biographische Lexikon (Lenz 1970), das ebenfalls relevante Informationen enthält, da die Urheber der estnischen Texte Deutschbalten gewesen sein können. Neben den allgemeinen estnischen Enzyklopädien, deren es im 20. Jahrhundert drei gab, verdient das estnische biographische Lexikon aus der Zwischenkriegszeit (EBL) besondere Erwähnung, da es außerordentlich viel Material enthält und hier und da auch die estnische Literatur berührt. An spezielleren Nachschlagewerken sind vier biographische Literaturlexika zu nennen. Aus sowjetischer Zeit stammen das erste biographische Autorenlexikon (EKBL 1975) sowie ein russischsprachiges Handbuch (Bassel 1984). Eine gründlich revidierte Neuauflage des EKBL erschien 1995 (EKRL), und fünf Jahre später wurde auch dieses Werk wieder völlig neu bearbeitet und erweitert herausgebracht (EKL). Es enthält Einträge zu 1400 Personen und stellt eine zuverlässige Quelle dar. Aktuellere Informationen und Daten über zeitgenössische Autorinnen und Autoren sind mittlerweile am einfachsten über die Homepage des Informationszentrums für die Estnische Literatur zu erhalten (www.estlit.ee). Für aktuelle Informationen und Diskussionen sind, wie in einer etablierten literarischen und Wissenschaftskultur üblich, die Zeitschriften zuständig. Das erste wichtige Organ in diesem Bereich war die 1906 ins Leben gerufene Zeitschrift Eesti Kirjandus (Estnische Literatur), die bis zum August 1940 erschien. Da die Zeitschrift die erste ihrer Art war, beschränkte sie sich nicht auf die Literatur im engeren Sinne, sondern behandelte auch andere Themen wie Sprache, Folklore, Geschichte, Mythologie etc. Besonders hervorzuheben ist der umfangreiche Rezensionsteil, der jeweils einen guten Überblick über die zeitgenössische Literatur bietet. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt die Zeitschrift Konkurrenz von einer neuen literarischen Zeitschrift, die bald das Organ des Schriftstellerverbandes wurde und bis heute erscheint: Looming (Schöpfung, vgl. § 30) begann ihr Erscheinen 1923 und bemühte sich von Anfang an um ein hohes literarisches und ästhetisches Niveau. Das spiegelt sich zum Beispiel in der Anzahl der Rezensionen wider, die kleiner als bei Eesti Kirjandus war. Looming zahlte ein höheres Honorar und war in der Auswahl seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wählerischer. Hauptunterschied zu Eesti Kirjandus war ferner, dass in Looming

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auch Primärtexte aufgenommen wurden. Besonders in sowjetischer Zeit, als ganze Romane häufig vorab in mehreren Lieferungen in Looming erschienen, war dies eine wichtige Einkommensquelle für die Autorinnen und Autoren. Der nichtliterarische Anteil in Eesti Kirjandus sank nach 1922, als mit Eesti Keel (Estnische Sprache) ein eigenes linguistisches Organ gegründet worden war. Beide Zeitschriften wurden im Zuge der Sowjetisierung 1940 sofort eingestellt und konnten auch nach einer in Ansätzen erfolgten Normalisierung nicht wieder eröffnet werden: Schließlich trugen sie in ihrem Titel das Wort »Estnisch« bzw. »Estland«, was nicht in das sowjetische Internationalismuskonzept passen wollte. So wurde 1958 die Zeitschrift Keel ja Kirjandus (Sprache und Literatur) ins Leben gerufen, die in ihrem Titel völlig neutral ist, sich inhaltlich aber, sieht man von ganz wenigen Ausnahmen ab, mit nichts anderem als mit estnischer Sprache und estnischer Literatur beschäftigt. Sie erscheint monatlich und ist bis heute das wichtigste literaturwissenschaftliche und linguistische Organ der estnischen Kultur. Die estnische Exilgemeinschaft produzierte zwei Zeitschriften, die in Schweden bzw. den USA erschienen und für Kontinuität in einer Zeit sorgten, als dies in Estland selbst nicht oder nur in äußerst begrenztem Maße möglich war. Von 1957 bis 1988 (mit einigen Nachzüglern, vgl. § 39) erschien die Zeitschrift Mana (Zauber), anfangs in Schweden, später in den USA, anfangs als Quartalszeitschrift, später mit Einzelnummerierung einmal pro Jahr oder noch seltener. Die Zeitschrift war illustriert, beschäftigte sich auch mit moderner Kunst und Theater und scharte den progressiven Flügel der estnischen Exilgemeinschaft um sich. Die von 1950 bis 1993 im schwedischen Lund verlegte Zeitschrift Tulimuld (Feuererde) – zunächst zweimonatlich, ab 1959 im Quartal – war im Vergleich dazu wesentlich gemäßigter und konservativer. Sie behandelte weniger aktuelle Kunstströmungen, sondern eher historische Fragestellungen, Dinge von nationalem Interesse und literaturhistorische Probleme. In Estland entstanden Ende der 1980er-Jahre noch zwei wichtige Zeitschriften, die beide eine Tradition aus der Zwischenkriegszeit aufnahmen und heute neben den oben erwähnten zu den wichtigsten Organen des estnischen intellektuellen Lebens gehören. 1986 wurde die Monatszeitschrift Vikerkaar (Regenbogen) als offizielles Organ des Komsomol und des Schriftstellerverbandes, gedacht als Zeitschrift für die Jugend, ins Leben gerufen. Sie entwickelte sich in der Phase der »Singenden Revolution« zu einem wichtigen Sprachrohr eben dieser Revolution und ist inzwischen als jüngere Schwester der »älteren Dame« Looming auf dem estnischen Zeitschriftenmarkt fest etabliert. Wie Looming bringt auch Vikerkaar Belletristik, Essay-

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istik und Literaturkritik, so dass die Zeitschriften in gewisser Konkurrenz zueinander stehen. Unterschied zum Looming mag allenfalls sein, dass Vikerkaar den ausländischen Kulturen und aktuellen kulturellen Entwicklungen mehr Aufmerksamkeit schenkt und sich außerdem auch mehr der bildenden Kunst widmet. In Fortsetzung einer gleichnamigen Zeitschrift vom Ende der 1930erJahre erscheint seit dem Herbst 1989 wieder die Zeitschrift Akadeemia, die – ganz wie der Titel verspricht – eine Art Schatztruhe der Weltkultur darstellt. Monat für Monat erscheinen hier mehr als zweihundert Seiten mit Untersuchungen, Essays, Artikeln, Forschungsberichten etc. aus nahezu allen Bereichen der Geistes- und Naturwissenschaften. Zwar geht es hier in erster Linie um die Wiederherstellung des Anschlusses an die westlichen Traditionen, von denen man ein knappes halbes Jahrhundert lang unfreiwillig abgeschlossen war, d. h. es finden sich hier sehr viele Übersetzungen älterer oder auch jüngerer westlicher Fachliteratur, aber auch im Bereich der estnischen Literatur gibt es wichtige Entdeckungen und Artikel. Alle genannten Zeitschriften sind ausschließlich auf Estnisch verfasst, lediglich Akadeemia bringt kurze englische Resümees, seit 1996 auch Keel ja Kirjandus (Englisch oder Deutsch). Für Literaturinteressierte, die des Estnischen nicht mächtig sind, bzw. allgemein zur Propagierung der estnischen Literatur außerhalb Estlands publizierte der Estnische Schriftstellerverband zwischen 1930 und 1939 sieben Nummern einer Zeitschrift L’Estonie Littéraire. Diese Tradition setzt das seit 1995 vom Eesti Instituut, einer Institution zur Verbreitung von Kenntnis über Estland und Förderung der estnischen Kultur, veröffentlichte Estonian Literary Magazine fort (die ersten Nummern im Zeitungsformat, seit Frühjahr 1999 als Halbjahrszeitschrift), das über Auslandsbotschaften und Buchmessen verbreitet wird und inzwischen eine recht angesehene Literaturzeitschrift ist. Schließlich kann für den deutschsprachigen Raum die Zeitschrift estonia genannt werden; sie erschien erst vielsprachig und im Selbstverlag (1985–1990), ehe sie als rein deutschsprachige Zeitschrift für estnische Literatur und Kultur in der deutschen Verlagslandschaft untergebracht werden konnte. Von 1992 bis 2004 erschienen 24 Hefte (1992 und 2004 jeweils nur eins), die sich mit Hilfe von Übersetzungen, Essays, Artikeln und Rezensionen um eine Verbreitung der estnischen Kultur im deutschsprachigen Raum bemühten. Erwähnung verdient noch die seinerzeit in Moskau produzierte Zeitschrift Sowjetliteratur (1946–1991, auch in anderen Sprachen), weil in ihren Spalten häufig Übersetzungen estnischer Belletristik zu finden waren. Und last but not least kann auf die in Norman, Oklahoma, verlegte Zeitschrift Books Abroad (ab 1977 World Literature Today) hingewiesen werden, die sich dank eines estnisch-

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stämmigen Herausgebers (Ivar Ivask, Herausgeber in den Jahren 1967–1991) frühzeitig um die Rezension estnischer Literatur kümmerte und auch einige Sonderhefte zur estnischen Literatur produzierte. Untersuchungen zu Einzelfragen, Personen, Epochen oder Genres Wenn im Vorangehenden der Versuch unternommen worden ist, einen kurzen Überblick über alle Gesamtdarstellungen zur estnischen Literatur zu geben, so kann dies bei der Behandlung der Einzelfragen und Spezialuntersuchungen nicht mehr geleistet werden. Hierzu ist die estnische Literaturwissenschaft längst zu umfangreich und vielfältig. Es können daher im Folgenden nur einige Tendenzen angedeutet und ein Überblick über modernere Entwicklungen gegeben werden. Die Exilliteratur sah sich in den Jahren unmittelbar nach dem Kriege als einzige Wahrerin estnischer Kultur und produzierte dementsprechend viele Selbstdarstellungen. Gleichzeitig konnte sie überzeugend nachweisen, dass die literarische Produktion in Estland selbst beklagenswert niedrig war, wie die verschiedenen bibliographischen Aufstellungen von Kangro (1957, 1965) zeigen. Ein erster kurzer Überblick über die estnische Exilliteratur erschien 1967 aus der Feder des Literaturwissenschaftlers und Übersetzers Ants Oras, 1973 folgte die bereits erwähnte Darstellung von Arvo Mägi, Karl Ristikivi und Bernard Kangro. Letzterer war in vielerlei Hinsicht der (literarische) Motor der Exilgemeinschaft – er stand z.B. auch an der Spitze der Zeitschrift Tulimuld – und sorgte als Chronist für zahlreiche biobibliographische Überblicke (zuletzt 1989). Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems wandte sich die einheimische estnische Literaturwissenschaft schnell der lange Zeit notgedrungen vernachlässigten Exilliteratur zu und erarbeitete eine Reihe von knappen Überblickswerken (Kangur et al. 1991; Kruuspere 1993; Kepp/ Merilai 1994; Kalda et al. 1995; Tonts et al. 1996). Eine ausführliche Darstellung steht derzeit noch aus. Als Pendant zur Exilliteratur, möglicherweise auch als Gegengewicht zur Exilproduktion, wurden in Estland einige kleinere Überblicke publiziert, die man teilweise in Fremdsprachen übersetzen ließ. So verfassten Kalju Kääri und Harald Peep einen kurzen Überblick über die sowjetestnische Literatur (1965), der auch auf Englisch und Russisch erschien. Harald Peep publizierte eine noch knappere Übersicht 1968 auf Deutsch, und Endel Mallene beschränkte sich in seinem als kleines Büchlein auf Englisch publizierten Essay auf die frühen 1970er-Jahre (1978). Sowohl Kääri als auch Mallene sind ferner als Herausgeber von Sammelbänden zur Literaturkritik bzw. zum literarischen Leben allgemein in Erscheinung getreten.

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Speziell zum 20. Jahrhundert hat Tiit Hennoste (1993–1997) eine viel beachtete und zitierte Artikelreihe vorgelegt, die auf einer Anfang der 1990er-Jahre an der Universität Helsinki gehaltenen Vorlesungsreihe beruht. Sie wurde auch als Lehrmittel an der Universität Tartu verwendet, was dazu führte, dass die Artikel aus den Bibliotheksexemplaren der entsprechenden Nummern der Zeitschrift Vikerkaar, worin die Artikelserie auf fünf Jahrgänge verteilt erschien, herausgerissen wurden (!), solange das Buch nicht als Monographie vorlag. Für 2006 hatte sich der Autor die Herausgabe der Artikelserie in monographischer Form vorgenommen. Die Kinderliteratur ist in einigen Büchern monographisch behandelt worden und bibliographisch gut erschlossen (Jaaksoo 1984, 1987; Krusten 1995). Ebenso liegen für das estnische Theater detaillierte Gesamtdarstellungen vor (Tormis 1978, Kask 1987; als ältere deutschsprachige Darstellung siehe auch Adson 1933, einen zeitgenössischen englischen Überblick bringt Rähesoo 1999, 22003). Als Beispiele für andere monographisch behandelte Gebiete wären etwa die Gelegenheitsdichtung (Alttoa/Valmet 1973), die Kalenderliteratur (Endel Annus 2000a), das estnische Volksbuch aus dem 18. und 19. Jahrhundert (Vinkel 1966), der sowjetestnische Roman (Lias 1985), das estnische Sonett (Kangro 1938) oder die estnische Ballade (Merilai 1991) zu nennen. Im Bereich der früheren Literatur ist neben der genannten Arbeit von Kampmann (1908) noch der Exilforscher Herbert Salu hervorzuheben, der eine kurze Einführung in die ältere estnische Literatur verfasste (1953) und in vier umfangreichen Essaysammlungen (1965, 1968, 1970, 1978) seine Forschungsergebnisse publizierte. Ferner liegt von Salu ein knapper englischsprachiger Essay über die estnische Literatur vor (1961). Zu einigen literarischen Institutionen liegen Monographien vor: so etwa zur Estnischen Literaturgesellschaft (A. Palm 1932), zur Estnischen literärischen Gesellschaft (Tuglas 1932), zum Estnischen Schriftstellerverband (Raid 2002, Tuulik 1997) oder zum bedeutendsten estnischen Exilverlag, dem Eesti Kirjanike Kooperatiiv (Genossenschaft estnischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen; Kronberg 2002). Ferner ist die Geschichte der estnischen Journalistik und der Literaturkritik vergleichsweise gut erforscht (Aru 2002, Lauk 2000, Taev/Verev 1984). Ein besonderes Augenmerk ist auf die Zensur gerichtet worden, hierzu liegen Untersuchungen zu verschiedenen Perioden vor (Jürman 1991, Tuglas 1926, Veskimägi 1996, vgl. auch den knappen Überblick von Chroust 2001). Während die meisten kleineren Untersuchungen zur estnischen Literatur und ihrer Geschichte in den oben genannten Zeitschriften erscheinen und gegebenenfalls später in Essaysammlungen der betreffenden Autorinnen und Autoren neu publiziert werden, bietet die Serie des Estnischen Literaturmu-

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seums Paar sammukest eesti kirjanduse uurimise teed (frei übersetzt: ›Bausteine zur Erforschung der estnischen Literatur‹, der Titel der seit 1958 erscheinenden Buchreihe ist leichten Schwankungen unterworfen) auch größeren Abhandlungen Raum. Ausführliche monographische Darstellungen zu einzelnen Personen beschränken sich dagegen auf einige wenige herausragende Autorinnen und Autoren, von denen die berühmtesten sogar mit repräsentativen Bildbänden geehrt worden sind (Koidula, Under, Tammsaare). Neben gründlichen Untersuchungen zu Kreutzwald und Tammsaare liegt im biographischen Bereich nur eine relativ schmale Monographienreihe vor, innerhalb derer zwischen 1959 und 1989 aber immerhin 23 Autorenporträts im Umfang von ca. 100 bis 250 Seiten erschienen sind. Größtenteils noch Desiderat sind kritische Texteditionen. Sie liegen bis jetzt nur von Faehlmann, Koidula, Kreutzwald und Kristian Jaak Peterson vor, hinzurechnen kann man noch einige Gesamtausgaben, wie etwa die von Tammsaare oder Tuglas, die mit Kommentaren ausgestattet sind; insgesamt gesehen können sie aber nicht über den allgemeinen Mangel an textkritischen Gesamtausgaben hinwegtäuschen. Schließlich sei noch auf einige wichtige Randgebiete hingewiesen, die für die Erforschung der estnischen Literatur nicht unbedeutend sind. So ist die Geschichte der estnischen Bibelübersetzung kürzlich ausführlich aufgearbeitet worden (Paul 1999), die Geschichte des estnischen Films ist in zwei monumentalen Bänden dokumentiert worden (Õ. Orav 2003, 2004), und Ilmar Talve legte eine estnische Kulturgeschichte vor (2004). Zur Erforschung der Volksdichtung, die traditionell einen besonderen Stellenwert in Estland einnimmt, vgl. u. § 8. Zur Buchgeschichte Es ist in der historischen Einleitung bereits auf den besonderen Stellenwert der Sprache eingegangen worden. Dementsprechend genießt auch das in dieser Sprache gedruckte (und gebundene) Wort in Estland besonderes Ansehen, was unter anderem dazu führte, dass es in Estland bislang dreimal ein jeweils offiziell von der Regierung ausgerufenes Buchjahr gegeben hat: 1935, 1975 und 2000. Im Zusammenhang mit diesen Jubiläen (vgl. im Einzelnen § 9) sind jeweils ausführliche Dokumentationen, Gesamtdarstellungen und Kataloge veröffentlicht worden, so dass die Geschichte des estnischen Buchs insgesamt als gut erforscht gelten kann. Zu allererst ist hier der statistische Überblick von Richard Antik (1936) zu nennen, der in einer aufwendigen Ausgabe anhand zahlreicher Tabellen die Geschichte des estnischen Buches darstellt. Eine vergleichbare Überblicksdarstellung folgte auch zum nächsten

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Jubiläum (Miller 1978). Ebenfalls anlässlich des ersten Buchjahrs war eine Monographie über die Rolle des Buches in der Entwicklung Estlands erschienen (Palgi 1935). In bewusster Anlehnung an diese Tradition erschien zum jüngsten Buchjahr erneut eine titelgleiche Essaysammlung (Tender 2001). Darüber hinaus gab es Publikationen zu Einzelaspekten der Buchgeschichte wie etwa über die städtische Buchkultur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Reimo 2001) oder über einzelne Buchbestände, Bibliotheken oder die Geschichte der Druckkunst. Hierbei handelte es sich meistens um Ausstellungen und die dazugehörigen Kataloge. Einen wichtigen Beitrag leistete Uno Liivaku mit seiner engagierten und faktenreichen Monographie (1995) zur estnischen Buchgeschichte. Das Buch liefert viele Tabellen, verfügt über vier (! – Englisch, Deutsch, Finnisch, Russisch) Zusammenfassungen und fußt auf reichem, allerdings benutzerunfreundlich angeordnetem Quellenmaterial. Besondere Erwähnung verdient die retrospektive Nationalbibliographie, mit deren Erstellung Anfang der 1990er-Jahre begonnen wurde. Geplant sind fünf Abteilungen: 1. Das estnischsprachige Buch von den Anfängen (1525, vgl. § 9) bis 1940; 2. In Estland erschienene deutsche, lateinische und anderssprachige Bücher 1631–1940; 3. In Estland erschienene russische Bücher 1800–1940; 4. Estnischsprachige Periodika 1766–1940; 5. In Estland erschienene deutsche, russische und fremdsprachige Periodika 1675–1940 (im Literaturverzeichnis unter Endel Annus 1993ff.). Außerhalb der Nummerierung der Serie, jedoch unter demselben Reihentitel, ist ein Band über die vom September 1941 bis September 1944, also während der Zeit der deutschen Besatzung, publizierten estnischen Bücher erschienen (Tomingas 1997). Von den übrigen Bänden sind diejenigen über die Periodika (Teil 4, 2002, und Teil 5, 1993) bereits erschienen, vom 1. Teil ist mit inzwischen fünf Teilbänden der Zeitraum bis 1917 erfasst. Insbesondere der erste Teilband über den Zeitraum 1525–1850 (Endel Annus 2000) besticht durch die ausführliche Beschreibung der Bücher und durch die Hintergrundinformation zu vermuteten, aber nicht erhaltenen Drucken. Damit sowie durch die umfangreichen Recherchen zu den Verfasserinnen und Verfassern ist dieses Werk nicht nur für die Bibliothekswissenschaft von Interesse, sondern dient auch ganz allgemein als Handbuch zur estnischen Buchgeschichte. Forschung im Ausland (außer Deutschland, s.u.) Etwas später als die eingangs erwähnte erste Gesamtdarstellung von Jürgenson erschien eine längere Darstellung des finnischen Wissenschaftlers August Ahlqvist (1856). Diese Abhandlung ist weniger streng bibliographisch ausge-

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richtet als die von Jürgenson und konzentriert sich stärker auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. So werden beispielsweise Friedrich Robert Faehlmann und Friedrich Reinhold Kreutzwald (s. §§ 17, 18) ausführlich behandelt, wodurch der Schwerpunkt nicht mehr auf dem frühen Schrifttum, sondern schon auf den belles lettres im eigentlichen Sinne liegt. Teile seiner Darstellung sind später auf Deutsch, und zwar sowohl in Estland als auch in Deutschland, erschienen (Ahlqvist 1861, 1861a), und die Bedeutung seiner Arbeit darf nicht unterschätzt werden: Bei späteren estnischen Literaturgeschichten konnten mehrfach Anleihen von Ahlqvist nachgewiesen werden (R. Neithal 2005a, 692). Generell betrachtet war die Zahl der Nichtesten, die sich fürderhin mit der estnischen Literatur beschäftigten, sehr begrenzt. Selbst in Finnland kann man nur mit Abstrichen von einer längeren eigenen Tradition sprechen, obwohl man sich aufgrund der sprachlichen Nähe relativ häufig mit der Literatur des südlichen Nachbarn befasste. Auch müssen Studierende der Finnischen an den meisten Universitäten in Finnland standardmäßig eine Einführung ins Estnische belegen, weswegen die Möglichkeiten, sich mit dem Estnischen zu befassen, in Finnland ziemlich gut sind. Andererseits machen die Veranstaltungen zur estnischen Literatur an den finnischen Universitäten nur einen Bruchteil aus, und die gängigen finnischsprachigen Gesamtdarstellungen sind Übersetzungen aus dem Estnischen (vgl. die oben erwähnten Monographien von Tuglas, Mägi oder Nirk). Erst in den 1980er-Jahren trat hier eine Veränderung ein, vor allem durch die Arbeiten Pekka Liljas, dessen Dissertation über den positiven Helden in der sowjetestnischen Literatur als bahnbrechend bezeichnet werden kann (Lilja 1980, vgl. § 38). Auch die weiteren Forschungen von Lilja und die von ihm initiierten Sammelbände sind als wichtige Beiträge zur estnischen Literaturgeschichtsschreibung anzusehen, die in begrenztem Maße auch in Estland selbst rezipiert wurden. So wurden einige Teile der genannten Dissertation später in estnischer Übersetzung publiziert (Lilja 1990). Speziell über die estnisch-finnischen literarischen und kulturellen Beziehungen liegt eine profunde englischsprachige Arbeit von George (Jüri) Kurman (1972) vor, die eine Fortsetzung in dem Werk von Juhani Salokannel (1998) fand, der minutiös die literarischen Beziehungen zwischen Finnland und Estland im Zeitraum 1944–1988 nachzeichnete. Ferner gibt es im allgemein historischen Bereich verschiedene Darstellungen und Behandlungen von Spezialfragen des estnisch-finnischen Verhältnisses, darunter auch mentalitätsgeschichtliche Betrachtungen (z.B. Alenius 1996). In Schweden war durch die Anwesenheit einer größeren estnischen Exilgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ein gewisses Potenzial vorhanden,

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doch beschränkten sich die Publikationsaktivitäten größtenteils auf die Exilgemeinschaft selbst, ohne dass größere schwedischsprachige Darstellungen entstanden. Erst in jüngster Zeit ist mit dem Nachwachsen einer zweiten Exilgeneration, die auf Schwedisch publiziert, hier eine Veränderung eingetreten, jedoch beziehen sich die Forschungen mehr auf den allgemein kulturellen oder rein sprachlichen Bereich, wobei in erster Linie die Arbeiten von Raimo Raag zu nennen wären. In Russland bzw. in der Sowjetunion wurde der estnischen Literatur eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl es sich hier vorwiegend um Übersetzungen und weniger um genuin russische Forschungen handelte. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass während der sowjetischen Besetzung einige Arbeiten zur estnischen Literatur auf Russisch erschienen sind. Alle anderen Sprachen oder Länder sind (mit Ausnahme des Deutschen, s. u.) marginal. Außer einigen Übersetzungen (etwa die erwähnten englischsprachigen Publikationen von Kääri/Peep, Mallene oder Nirk), sind nur kleinere Essays, Überblicksartikel, Vorworte zu gelegentlich erscheinenden Anthologien oder ähnliches verstreutes Material ausfindig zu machen. Eine Ausnahme stellt die kleine Monographie von E. Howard Harris dar, die 1943 (21947) in London erschien. Harris war ein britischer Dichter und Literaturwissenschaftler, der in den 1930er-Jahren wiederholt in Estland war und bereits 1933 in The Manchester Quarterly einen Artikel über die estnische Literatur publiziert hatte. Seine knapp 80 Seiten umfassende Darstellung liefert einen kompakten Überblick mit reichlichen Textbeispielen und ist als Heranführung an die Thematik noch heute gut lesbar. Forschungen im deutschsprachigen Raum Der deutschen Sprache kommt bei der Erforschung der estnischen Literatur aufgrund der spezifischen kulturhistorischen Situation besondere Bedeutung zu. Nicht zufällig war die erste Gesamtdarstellung der estnischen Literatur auf Deutsch abgefasst worden, und in der Folge sind zahlreiche kürzere oder längere Betrachtungen zur estnischen Literatur auf Deutsch erschienen. Hierbei geht es in der Mehrheit der Fälle um in Estland selbst angefertigte Arbeiten, die an dieser Stelle nicht im Einzelnen vorgestellt werden können, sondern gegebenenfalls an dem ihnen zukommenden Ort genannt werden. Das Gleiche betrifft die Frage der estnisch-deutschen bzw. estnisch-deutschbaltischen Literaturbeziehungen, die an anderer Stelle (vornehmlich im II. und III. Kapitel) behandelt werden. Aber auch mit diesen Einschränkungen ist die deutschsprachige Literatur zum Thema vergleichsweise umfangreich. Sie beginnt spätestens mit den Ar-

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beiten von Wilhelm Schott, der sich bereits im Erscheinungsjahr der ersten Lieferung des estnischen Epos Kalevipoeg (1857) dazu äußerte. In der Zwischenkriegszeit widmeten sich manche literarische Zeitschriften verstärkt den Literaturen der »neu entdeckten« Nationen, wozu auch die Esten zählten, so dass es immer wieder kleine Überblicke, »Literaturbriefe« oder Ähnliches gibt (Nachweise im Einzelnen bei Hasselblatt 2004, 13–25). Indes ist man kaum über solche kurzen Vorstellungen hinausgekommen; die umfassenderen Gesamtdarstellungen entstammen estnischer Feder und sind Übersetzungen, etwa der Essay von Gustav Suits (1908) oder die Monographie von Jänes (1965). Erst mit dem 1973 erschienenen Büchlein von Erik Thomson wurde die erste im Original auf Deutsch verfasste monographische Darstellung der estnischen Literatur vorgelegt; leider ist die 130 Seiten umfassende Darstellung ein ziemlich unausgewogener Essay: Auf den ersten 15 Seiten wird die Entwicklung von den Anfängen bis 1940 nachgezeichnet, sodann folgt eine ebenso lange Darstellung der sowjetestnischen Literatur (auf Basis der oben erwähnten deutschen Broschüre von Harald Peep, 1968), ehe danach ausführlich auf die Exilliteratur eingegangen wird. Schließlich wird noch allerlei andere Information gegeben, etwa über die deutschbaltische Literatur mit estnischer Thematik, über Sitzungen des estnischen PEN-Clubs oder über estnische Exlibris. Alles in allem haben wir es hier mit einer Darstellung zu tun, die keinesfalls einen erschöpfenden Überblick bringt und wissenschaftlichen Ansprüchen kaum gerecht werden kann. Einen Meilenstein in der Forschung stellt dagegen die umfangreiche Monographie von Friedrich Scholz dar, die 1990 erschien und neben der estnischen auch die lettische und litauische Literatur behandelt. In bislang nicht gekannter Gründlichkeit wird auf 350 Seiten der Entwicklungsweg der estnischen (und eben auch der lettischen und litauischen) Literatur von ihrer Entstehung bis zur »Reifung« nachgezeichnet. Für die frühe Periode dieser Literaturen ist das Buch ein Standardwerk, und der einzige Vorwurf, den man dem Werk machen kann, ist, dass der Untertitel (»Ihre Entstehung und Entwicklung«) besser der Haupttitel (jetzt »Die Literaturen des Baltikums«) gewesen wäre, denn über die Entwicklungen im 20. Jahrhundert erfährt man relativ wenig. Streng genommen endet die präzise recherchierte Darstellung mit dem 19. Jahrhundert. Das schmälert den Wert der Untersuchung keineswegs, muss aber im Interesse der Vollständigkeit angemerkt werden. Auch ist die regionale Konzeption nicht ganz unproblematisch, da man im Falle der estnischen Literatur manches Mal eher Impulse aus Finnland als von den südlichen Nachbarn vermutet, jedoch gleitet die Darstellung dadurch nie in Einseitigkeit ab. Von Scholz liegen noch weitere Aufsätze zur estnischen Literatur

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vor, die zum Teil auch ins Estnische übersetzt und in den dortigen literaturwissenschaftlichen Diskurs aufgenommen worden sind. Neben (bzw. zeitlich gesprochen: vor) dem Münsteraner Baltisten und Slawisten Friedrich Scholz ist als Einziger Otto-Alexander Webermann als jemand zu nennen, der in Deutschland (institutionalisierte) Forschung zur estnischen Literatur betrieben hat. Webermann stammte aus Estland und war Akademischer Rat am Finnisch-ugrischen Seminar der Göttinger Universität. Neben seiner Dissertation über einen früh verstorbenen und unbekannt gebliebenen Dichter (Webermann 1951) verfasste er Artikel zur frühen estnischen Literatur- und Kulturgeschichte und eine einschlägige Monographie über Friedrich Gustav Arvelius (vgl. § 13), die postum (1978) erschien. Die weitere Ausbeute im akademischen Bereich ist mager, da die estnische Literatur innerhalb des westdeutschen bzw. österreichischen Hochschulsystems bis in die 1990er-Jahre hinein ein Schattendasein führte, weil das Estnische allenfalls im Rahmen der Finnougristik behandelt wurde. Hier wurde das Augenmerk traditionell auf die beiden Hauptsprachen Finnisch und Ungarisch gerichtet, so dass kaum Ressourcen und Freiräume für eine ausführlichere Befassung mit dem Estnischen vorhanden waren. Lediglich in der DDR entstand im Rahmen der Konzeption der multinationalen Sowjetliteratur ein gewisses Interesse an estnischen Themen. Daher liegen einige ungedruckte Diplomarbeiten aus der DDR (Brauer 1988, Seils 1987, Witt 1989) vor, die Einzelaspekte der estnischen Literatur behandeln. Bekannt sind mir ferner zwei Dissertationen, Angela Burmeisters Arbeit über die Rezeption der estnischen Literatur in Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik von Beginn des 20. Jahrhunderts bis Ende der 1980er-Jahre (ungedruckte Diss. phil. Rostock 1990), und Kerttu Wagners (2001) Abhandlung über einen Teilaspekt der Rezeption von Jaan Kross. Da das vorliegende Buch die Rezeption der estnischen Literatur im deutschsprachigen Raum nicht zum Thema hat, sind diese beiden Arbeiten von untergeordneter Relevanz. Eine ausführliche Dokumentation (aber noch keine Analyse) der Rezeption der estnischen Literatur im deutschsprachigen Raum bietet die Bibliographie des Verfassers (Hasselblatt 2004, vgl. auch Hasselblatt/Pirsich 1988). Abgesehen von diesen Examensarbeiten sind in den 1980er- und 1990erJahren vermehrt Artikel zu einzelnen Fragen der aktuellen estnischen Literatur in deutschen Zeitschriften veröffentlicht worden (z.B. Beekman 1977, Beermann 1982 sowie vom Verfasser). Aufs Ganze gesehen erschien dem Verfasser dennoch eine ausführliche Gesamtdarstellung, die die estnische Literatur von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert einem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht, als Desiderat und verlockende Herausforderung.

§ 5 Charakteristika der (estnischen) Volksdichtung

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Kapitel I Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung § 5 Charakteristika der (estnischen) Volksdichtung Volksdichtung vs. materielle Kultur Das Paradoxon im Titel dieses Kapitels hat seine Ursache in der semantischen Wandlung des Wortes »Literatur«: Bezeichnete es ursprünglich getreu seiner lateinischen Herkunft (littera oder litera ›Buchstabe‹) nur das Aufgezeichnete, also Geschriebene, so wird der Begriff heute verwendet, um ganz allgemein das geistige Schaffen eines Volkes zu bezeichnen, sofern es in Buchstabenform fixierbar ist (also unter Ausschluss etwa von Musik oder bildender Kunst). Es spielt dann keine Rolle mehr, ob es zum Zeitpunkt seiner Entstehung oder erst später in diesem Medium festgehalten worden ist. Nahezu jede Literaturgeschichte beginnt heute vernünftigerweise mit solchen vorliterarischen Formen, die unabhängig von der weltanschaulichen Einbettung Grundlage und Voraussetzung für das, was man später Literatur nennt, bilden. Dies geschieht nicht zuletzt deswegen, weil häufig in einer bestimmten Phase der geistesgeschichtlichen Entwicklung eines Volkes ein Rückgriff auf derartige frühere und »reinere« Formen erfolgt. Innerhalb einer chronologisch aufgebauten Literaturgeschichte wie der vorliegenden müsste dieses in Anlehnung an den estnischen Begriff rahvaluule nunmehr als Volksdichtung bezeichnete Schaffen streng genommen zweimal behandelt werden: einmal entsprechend seiner »echten« Chronologie, also am Anfang, ein zweites Mal entsprechend seiner Entdeckungs- und Fixierungsgeschichte, in diesem Fall also im dritten und vierten Kapitel (vgl. § 20). Dies hat umso mehr seine Berechtigung, als im 19. Jahrhundert die Rückbesinnung auf die Volksdichtung direkten Einfluss auf die entstehende Kunstliteratur hatte, wie man am Kalevipoeg sieht, jenem mythischen Helden aus grauer Vorzeit, der die Hauptfigur des gleichnamigen Versepos von Friedrich Reinhold Kreutzwald ist, das heute als das Nationalepos der Esten bezeichnet wird. Da aber bekannt ist, dass dieses Epos zum größten Teil der Phantasie und Kompositionskunst seines Verfassers entstammt, wird der Kalevipoeg konsequenterweise an der entsprechenden Stelle im dritten Kapitel (§ 18) behandelt.

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Kapitel I: Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung

Eine Geistesgeschichte ist in den seltensten Fällen eine stringente, lineare Entwicklung – immer wieder gibt es »vergessene« und »wiederentdeckte« oder »neu bewertete« Werke. Gerade am Beispiel der estnischen Volksdichtung wird dies deutlich, denn so sehr man diese Dichtung auch als Grundlage der heutigen estnischen Literatur ansehen mag – eine direkte Entwicklung von der mündlichen Tradition zur schriftlich fixierten Form hat es in dem Sinne nie gegeben. Vielmehr ist die so genannte Hochliteratur unabhängig davon entstanden, und erst im 19. Jahrhundert wurden die beiden Stränge zu dem einen Gemeinsamen verschmolzen. Es ist lediglich das Privileg der eine Synthese schaffenden Rückschau, den Geschehnissen im Nachhinein zu ihrer korrekten Chronologie zu verhelfen. Nur muss man sich dabei tunlichst davor hüten, Anachronismen zu begehen und Werken eine Wirkung zuschreiben, die sie möglicherweise erst viel später entfaltet haben. Sobald man sich darüber im Klaren ist, kann aber der Versuch einer streng chronologischen Beschreibung unternommen werden. Rückkoppelungen zu früheren Ereignissen werden in den späteren Kapiteln ohnehin unerlässlich sein. Im Falle des Estnischen liegen die Anfänge der Volksdichtung höchstwahrscheinlich weit vor der Zeitenwende und damit auch vor der Herausbildung des Estnischen aus dem Kreis der ostseefinnischen Sprachen (vgl. § 8). Wenn man bedenkt, dass menschliche Sprache an sich etliche zehntausend Jahre alt sein dürfte, ist dies nicht weiter überraschend. Der Begriff Volksdichtung (oder Volkspoesie) selbst ist relativ jung und stammt von Johann Gottfried Herder, innerhalb dessen Auffassung von Kultur und nationaler Eigenart das ursprüngliche bzw. urtümliche Volkslied bekanntlich eine herausragende Stellung einnahm. Der heute international allgemein verwendete Begriff Folklore ist um einiges jünger und wurde 1846 von William John Thoms geprägt, der ihn im Sinne von ›Volkswissen‹ und ›Volksweisheit‹ verwendete. Damit umfasste er mehr als nur die reine Volksdichtung, und später wurde der Begriff – man beachte die stellenweise erfolgte Gleichsetzung von ›folkloristisch‹ und ›volkskundlich‹ – auch auf die materielle Kultur ausgeweitet. Im Allgemeinen beschränkt sich die Disziplin ›Folkloristik‹ jedoch auf Elemente der immateriellen Kultur, während die materielle Kultur Gegenstand einer Disziplin ist, die – je nach Land und entsprechender Tradition unterschiedlich – als Volkskunde, Völkerkunde, Anthropologie, Kulturanthropologie, Ethnologie oder Ethnographie bezeichnet wird. Dass auch hier die Grenzen fließend sind, sieht man daran, dass einige Definitionen der genannten Disziplinenbezeichnungen die geistige und die materielle Kultur eines Volkes beinhalten. In diesem Kapitel wird die materielle Kultur, so sehr sie für das Verständnis der Volksdichtung auch von Interesse sein mag, grundsätzlich nicht behandelt.

§ 5 Charakteristika der (estnischen) Volksdichtung

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Wesensmerkmale der estnischen Volksdichtung Da die Volksdichtung nur einen Teil der immateriellen Kultur ausmacht, bedarf es noch einiger weiterer exakter Kriterien, um sie deutlicher zu bestimmen und von anderen Kulturphänomenen abzugrenzen. Hierzu werden die folgenden fünf Unterscheidungsmerkmale gewählt: – verbal; – anonym; – mündlich tradiert; – variierend; – international. Mit dem Kriterium »verbal« erfolgt die Abgrenzung von solchen nonverbalen Genres wie Tänzen, Melodien, Spielen und allgemeinen Volksbräuchen. Sie alle umfassen in der Regel auch verbale Elemente, doch stehen diese nicht im Vordergrund, sondern sind dem Hauptzweck – Bewegung, Musik o.Ä. – untergeordnet. Bei der Volksdichtung im hier verwendeten Sinne hingegen ist die Formulierung in Worten das herausragende und primäre Kennzeichen. Diese Hierarchisierung ist wichtig, da Synkretismus ein allgemeines Kennzeichen der Folklore ist: Viele Liedtexte sind untrennbar mit Melodien verbunden, Rätsel mit Spielen und Redensarten mit Bewegungen, d.h. Tänzen. Umgekehrt sind auch manche Melodien und Choreographien an bestimmte Texte oder Redensarten geknüpft. Wenn aber das verbale Element eindeutig als im Vordergrund stehend bestimmt werden kann, ist eines der notwendigen Kriterien für Volksdichtung erfüllt. Das zweite Kriterium ist die Anonymität. Obwohl jeder Text prinzipiell einen individuellen Urheber bzw. – und dies häufiger, s.u. – eine individuelle Urheberin hat und nicht kollektiv entstanden ist, bleibt diese Person anonym. Es ist nicht auszuschließen, dass in der ersten Phase, im ersten Lebensabschnitt eines Volkslieds die Urheberin noch bekannt war. Sie war aber offenkundig nicht sonderlich interessiert an der Bewahrung ihrer Urheberschaft und verwendete ihren Namen während des Vortrags nicht. Dadurch und durch die Weitergabe und Bearbeitung des Textes durch andere Personen geriet die Urheberschaft in Vergessenheit. Diese erste Phase kann als die Geburts- und Verwendungsphase bezeichnet werden, während der der Text entstand und aktiv von der Gemeinschaft verwendet wurde. Die Datierung dieser Phase ist für die meisten Texte recht schwierig und nur relativ und annähernd möglich. In einer zweiten Phase, der so genannten Erinnerungsphase, wird der Text nicht mehr verwendet, aber man erinnert sich seiner noch. Auf entsprechendes Befragen können einzelne, logischerweise meist ältere, Personen ihn

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noch aufsagen. Die dritte Phase ist die Periode des Vergessens: Nun finden sich auch keine Personen mehr, die den Text noch in Erinnerung haben, sondern allenfalls fragmentarische Erinnerungssplitter. Das Wissen über einen solchen Text besteht nur aufgrund von früheren, in der zweiten Phase des betreffenden Textes erfolgten, Aufzeichnungen. In Fällen, in denen die erste Phase noch nicht lange zurückliegt, die entsprechenden Texte also relativ jung sind, kann das Prinzip der Anonymität durchbrochen werden. Vereinzelt kennt man dann einen Urheber oder eine Urheberin, aber hierbei handelt es sich um Ausnahmen und Grenzfälle zur »eigentlichen« Literatur. Das dritte Merkmal ist die mündliche Tradierung ohne schriftliche Fixierung. Dies ist nur natürlich, da der überwiegende Teil der Volksdichtung in vorschriftlicher Zeit entstanden und, wenn überhaupt, erst viel später aufgezeichnet worden ist. Da diese schriftliche Festlegung aber erst in einer Zeit erfolgt ist, als die aktive Verwendung schon nicht mehr gegeben war, wird ein aufgezeichneter Folkloretext damit noch nicht aus der mündlich tradierten Literatur ausgesondert. In der Zeit seiner Entstehung wurde er über einen sehr langen Zeitraum hin mündlich von Generation zu Generation weitergegeben, und das ist das entscheidende Kriterium. Eine Folge hiervon ist das vierte Kennzeichen der Volksdichtung, die Variabilität. In dem Moment, in dem eine schriftliche Fixierung nicht vorliegt, kann eine Variation nicht ausbleiben, weil eine Vielzahl von Individuen den Text ihrer Erinnerung nach weitergegeben hat. Dabei sind die Ursachen und Beweggründe für die Veränderungen verschiedener Art. Zu unterscheiden ist zwischen unbeabsichtigten und absichtlichen Veränderungen. Unbeabsichtigt erfolgt eine Veränderung schlicht infolge banalen Vergessens. Textteile werden dann weggelassen oder die Lücken werden, sofern sich die vortragende Person im entscheidenden Moment noch daran erinnert, dass sie etwas vergessen hat, mit anderen Elementen angefüllt. Das Vergessen seinerseits kann unterschieden werden in endgültig oder nur vorübergehend. Im letzteren Falle würden Elemente auch wieder erinnert werden und entsprechend zurückkehren. Die absichtlichen Variationen können folgendermaßen klassifiziert werden (E. Laugaste 1986, 55): Vermeidung von Archaismen, ideologische, pädagogische, künstlerische oder adaptierende Veränderungen, und schließlich ganz einfach Modeerscheinungen. Häufig geht es um eine Kombination von Faktoren. Mit der Ansetzung von Veränderungen aus künstlerischen Erwägungen heraus wird die Nähe zur jüngeren, schriftlichen Literatur verdeutlicht: Nicht selten verstand sich eine Sängerin als Künstlerin, die den einmal gehörten Text anders, besser oder bloß individueller wiedergeben wollte. Bei aller festgestellten Anonymität fehlt also auch hier das individuelle künstlerische Element keineswegs.

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Es wäre allerdings falsch, hieraus die Schlussfolgerung zu ziehen, die Texte der Volksdichtung würden sich im Laufe ihres (langen) Lebens zur Unkenntlichkeit verändern, d.h. man brauche in einem vor hundert oder zweihundert Jahren aufgezeichneten Text gar nicht nach Spuren von älteren Texten zu suchen, da die zahlreichen Personen, die sich in der Zwischenzeit mit dem Text befasst haben, nichts von seiner Ursprünglichkeit bewahrt hätten. Das Besondere der Volksdichtung ist, dass sie eben nicht von einer Person auf eine andere und von dieser wiederum auf eine folgende übertragen wird. Wäre dies der Fall – also A f B f C f D f … X –, so wäre, wie beim beliebten Kinderspiel »Stille Post«, zwischen A und X tatsächlich kaum noch etwas Übereinstimmendes festzustellen. Das Wesen der mündlich tradierten Volksdichtung liegt jedoch darin, dass A (als angenommener Urtext, der von einer Person verfasst worden ist) gleichzeitig an B1, B2, B3 etc. übertragen wird. Und dies nicht nur einmal, sondern mehrmals, d.h. die verschiedenen Bs haben den A-Text wahrscheinlich einige Male gehört, ehe sie ihn ihrerseits mehrfach an eine Vielzahl von Cs weitergeben. Gleichzeitig hören die verschiedenen Cs den Text nicht nur von einem B, sondern zu verschiedenen Zeitpunkten von verschiedenen Bs. Schematisch lässt sich das folgendermaßen veranschaulichen (Großbuchstaben bezeichnen Generationen mit ihren entsprechenden Texten, der doppelte Schrägstrich // einen kleineren Zeitsprung innerhalb einer Generation. Das Schema fußt auf der Stabilitätstheorie von Walter Anderson [1923, 397–403]): A f {B1, B2, B3 … Bn} // A’ (= erneuter Vortrag von A) f {B1, B2, B3 … Bn} // A’’ f {B1, B2, B3 … Bn} … B1 f {C1, C2, C3 … Cn} // B1’ f {C1, C2, C3 … Cn} // B1’’ f {C1, C2, C3 … C n} … B2 f {C1, C2, C3 … Cn} // B2’ f {C1, C2, C3 … Cn} // B2’’ f {C1, C2, C3 … C n} … … Während es sich also bei A noch um ein Individuum und einen individuellen Text handeln mag, haben wir es in den späteren Phasen mit einer Reihe von individuellen Texten zu tun, die so gesehen ein Kollektiv formen und sich damit gegenseitig kontrollieren und korrigieren. Bei einem mehrfach in verschiedenen Versionen gehörten Text können Erinnerungslücken aufgefüllt werden und einzelne Abweichungen erkannt werden. Durch dieses Korrektiv wird eine Stabilität in den Texten erzeugt, die trotz regelmäßiger und regelhafter Variationen nicht zur Verzerrung und völligen Deformierung des Textes führt, sondern im Gegenteil den ursprünglichen Charakter der Texte im Kern bewahrt.

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Als letztes Merkmal kann abschließend die Internationalität angeführt werden. Sieht man von der strengen Form einiger Lieder ab (vgl. § 6), setzen sich die meisten Genres leicht über sprachliche oder kulturelle Grenzen hinweg. Dies betrifft am stärksten die Prosaformen wie Märchen und Sagen, aber auch Sprichwörter, Rätsel und Redensarten und in jüngster Zeit Scherze und Anekdoten. Sie alle weisen im Estnischen Verflechtungen mit den Überlieferungen anderer Sprachen und Völker auf. Hierin allerdings, und das zeigt wiederum die Zusammengehörigkeit von Volksdichtung und Literatur, unterscheidet sie sich kaum von der heutigen, zeitgenössischen, schriftlich fixierten Literatur, die gleichfalls Berührungen mit angrenzenden oder entfernten Kulturen aufweist. Trägerinnen der Volksdichtung Wenn man trotz erwiesener Anonymität dennoch der Frage nachgeht, wer genau für die Entstehung und Weitergabe der Volkslieder verantwortlich war, kommt man zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei in der überwiegenden Mehrheit um Frauen handelte. Diese Schlussfolgerung rührt nicht nur daher, dass die meisten Texte von Frauen aufgezeichnet worden sind; das könnte man noch mit der höheren Lebenserwartung der Frauen erklären, aber schon ein Blick nach Finnland, wo wir vergleichbare Verhältnisse vorfinden (vgl. § 8), wo aber die meisten Sänger Männer waren, zeigt, dass die Lebenserwartung hier nicht ausschlaggebend sein kann. Auch rein inhaltlich finden wir viel mehr Texte mit weiblicher Thematik als mit männlicher, Frauen kommen häufiger zu Wort als Männer, denen eine untergeordnete Rolle zukommt. So fehlen bei den Arbeitsliedern zum Beispiel solche, die sich mit Pflügen, Säen oder Eggen befassen, weil dies ausschließlich männliche Tätigkeiten waren. Bei Hochzeitsliedern geht es fast ausnahmslos um die Frau und die Braut, während der Bräutigam eine völlig sekundäre Rolle spielt. Ganz generell finden wir eine von vielen anderen Völkern bekannte (männliche) Heldenepik im Estnischen nicht, was man im Übrigen auch an der Andersartigkeit des Helden Kalevipoeg im gleichnamigen Epos (s. § 18) ablesen kann. Und wenn schon über den Krieg, der Männersache war, gedichtet oder gesungen worden ist, so stets aus dem Blickwinkel der Frauen, die als Schwester, Mutter oder Ehegattin ihren Bruder, Sohn oder Mann in den Krieg ziehen sahen. Erstaunlicherweise ist die Forschung bisher kaum auf die Frage eingegangen, warum in einem sprachlich ursprünglich sehr homogenen Raum die Arbeitsteilung im kulturellen Bereich, also konkret im Hinblick auf die Abfassung und Verbreitung der mündlich tradierten Dichtung, so verschieden

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ausgefallen ist: Im nordostseefinnischen Bereich, d.h. vorwiegend Finnland und Karelien, sangen die Männer, im südostseefinnischen Bereich, also vorwiegend Estland und Ingermanland, sangen die Frauen. Über die bloße Konstatierung ist man noch nicht hinausgekommen, wobei es freilich auf der Hand liegt, die Ursache in der unterschiedlichen historischen Entwicklung zu suchen. Im südlichen Gebiet hatte sich nach der Eroberung, d. h. nach einer eindeutigen militärischen Niederlage, die Rolle der Männer grundlegend verändert, weswegen die ursprünglich ihnen eigene Dichtung abgestorben sei (vgl. Arukask 2003, 36–39). Unterstützung würde diese Argumentation sehr bedingt aus Lettland erhalten, wo ebenfalls die Frauen wichtige Trägerinnen der Volksdichtung sind und wo dieselben wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen vorherrschten. Diese Erklärung geht jedoch von der patriarchalisch geprägten Prämisse aus, dass das Singen ursprünglich Männersache gewesen sei. Ebenso kann man davon ausgehen, dass Übertragung von Wissen und Erziehung immer Sache der Frauen gewesen sei, die daher die Aufgabe der Bewahrung und Weitergabe der Tradition übernommen hätten. Dann müsste man bloß eine Erklärung dafür suchen, warum sie das in Finnland nicht mehr tun. Eine banalere Erklärung wäre, dass in Estland die Arbeitsbelastung der autochthonen Bevölkerung nach der Unterwerfung ungleich höher war als in Finnland, wo seitens der Schweden eine derartige flächendeckende Eroberung mit gleichzeitiger wirtschaftlicher Ausbeutung nicht erfolgt war. Überspitzt und simplifiziert formuliert: Der estnische Bauer war nach getanem Tagewerk dermaßen erschöpft, dass er nicht einmal mehr singen konnte und dies seiner Frau überließ, während sein finnischer Schicksalsgenosse noch genügend Energie hatte.

§ 6 Die einzelnen Formen der estnischen Volksdichtung Klassifizierung und Quantifizierung Aus den im vorigen Kapitel genannten Charakteristika ergibt sich, welche Textsorten zur estnischen Volksdichtung gerechnet werden. Aufgrund der intensiven und weit verzweigten Sammlertätigkeit, die teilweise bis heute anhält (vgl. § 8), ist eine enorme Materialmenge zusammengetragen worden. Die exakten Zahlenangaben hierzu schwanken, da es sich teilweise um Schätzungen handelt und nicht immer klar ist, welche Einheiten gezählt werden und welche Genres miteinbezogen werden. Hinzukommt, dass das Material nicht zentral aufbewahrt wird, sondern aus vielen Einzelsammlungen be-

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steht, die sich in Tallinn und Tartu befinden. Die weitaus größte Sammlung beherbergt das Estnische Folklore-Archiv (Eesti Rahvaluule Arhiiv), wo zum Stichdatum 1. 1. 2006 über 1,4 Millionen Manuskriptseiten an folkloristischem Material aufbewahrt wurden. Wenn man hier noch die Fotosammlung (knapp 25000), die umfangreiche Tonträgersammlung (über 137000 Einheiten) und aus jüngster Zeit die Video- und DVD-Sammlung (über 700 Einheiten) hinzuzählt, erhält man einen Umfang, der lediglich von den unmittelbaren Nachbarn der Esten, den Finnen und den Letten, erreicht wird. Wie bei gutnachbarschaftlichen Beziehungen üblich, streiten sich die drei Völker gelegentlich darüber, wer die größte folkloristische Sammlung der Welt hat. Da das Zahlenmaterial vermutlich aber nicht einmal kompatibel ist (mal geht es um »Seiten«, mal um »Einheiten« etc.), wird dieser – ohnehin akademische – Streit so schnell nicht gelöst werden. Unabhängig von der exakten Quantifizierung wird innerhalb der estnischen Forschungstradition seit längerem die folgende Einteilung in acht Genres gehandhabt (in Klammern wird der estnische Begriff angeführt, dahinter die ungefähre Anzahl der archivierten Aufzeichnungen, sofern hierüber Angaben verfügbar waren): Volkslied (rahvalaul), ca. 400000; Märchen (muinasjutt oder ennemuistne jutt), ca. 75000; Sage (muistend); Schwank, Witz (naljand, anekdoot); Humoristische Volkserzählung, Memorat (pajatus, memoraat); Sprichwort (vanasõna), ca. 81 500; Redensart (kõnekäänd), ca. 200000; Rätsel (mõistatus), ca. 150000. Von ihnen werden die drei letztgenannten als die kleineren Genres bezeichnet und aufgrund ihrer Kompaktheit häufig unter rein formalen Aspekten innerhalb der Sprachwissenschaft betrachtet, die sich im Rahmen der Teildisziplinen Phraseologie und Semantik damit beschäftigt. Die Volkslieder stellen die mit Abstand größte und am stärksten differenzierte Gruppe dar, sie sind dementsprechend auch am gründlichsten erforscht. Die vier anderen – Märchen, Sage, Schwank, Volkserzählung – bilden die Gruppe der Prosagattungen und markieren den fließenden Übergang zur epischen, erzählenden Literatur. Allen Gattungen ist gemeinsam, dass in mehr oder weniger starkem Ausmaße Bezüge zur estnischen Mythologie bzw. zur alten estnischen Volksreligion vorliegen.

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Zur estnischen Mythologie Obwohl die Esten über keine einheitliche und kompakte Mythologie verfügen, wie sie uns von manchen anderen Völkern überliefert ist – etwas Vergleichbares wurde erst im 19. Jahrhundert entworfen (vgl. §§ 16, 17) –, gibt es einige interessante Besonderheiten im estnischen Weltbild. Eine der auffälligsten betrifft die Entstehung der Welt: Eine mythologische Kosmogonie, der zufolge die Welt aus einem Ei entstanden ist, findet man nur bei wenigen anderen Völkern. Das Motiv ist in der gesamten ostseefinnischen Mythologie bekannt, kaum aber darüber hinaus, weswegen es als eigenständig ostseefinnisch oder evtl. finnougrisch angesehen werden muss. Innerhalb der indoeuropäischen Mythologie findet es sich nur sporadisch im östlichen Mittelmeerraum, ferner kann man es in einigen Gegenden Asiens und Ozeaniens antreffen (Valk 2000). Für ein Verständnis der estnischen Volksdichtung sind einige Grundkenntnisse im Bereich der Mythologie und der älteren religiösen Vorstellungen unentbehrlich (für einen grundsätzlichen und detaillierten Überblick s. Loorits 1949–1957). Gleichzeitig sei darauf hingewiesen, dass umgekehrt ein Teil unserer Kenntnis von der alten estnischen Volksreligion gerade von der Bekanntschaft mit der Volksdichtung herrührt. Die Christianisierung im 13. Jahrhundert erfolgte zwar zu einem Zeitpunkt, als es noch keine Aufzeichnungen über frühere Religionsformen gab, und ließ dementsprechend die Erinnerung an die vorchristlichen Traditionen verblassen, aber es bestehen nach wie vor verschiedene Auffassungen über die Intensität, d.h. den Erfolg dieser Christianisierung. Zumindest in den ersten Jahrhunderten nach der Eroberung, soweit herrscht Einigkeit, muss der von den Eroberern aufoktroyierte Glaube als relativ fremd empfunden worden sein. Ob eine stärkere Verinnerlichung christlicher Werte und ein möglicher Übergang von der (als fremd empfundenen) »Herrenkirche« zur (als eigen empfundenen) »Volkskirche« mit der Reformation oder mit der Erweckungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts oder bislang überhaupt nicht stattgefunden habe, ist nach wie vor Gegenstand der Diskussion. Fest steht, dass es einerseits auch in der estnischen Volksdichtung Spuren einer christlich gefärbten Mythologie gibt und dass beispielsweise bestimmte Tage des christlichen Kalenders eine besondere Bedeutung erhalten, während man andererseits auch in der estnischen Alltagskultur des 21. Jahrhunderts vorchristliche, in christlicher Terminologie als abergläubisch bezeichnete Elemente und Handlungsmuster antreffen kann. Diese finden sich zwar in allen vermeintlich christlichen Kulturen – man denke nur an die Verwendung von Hufeisen oder den Umgang mit der Zahl dreizehn –, jedoch scheint sie in-

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nerhalb der estnischen Kultur noch ein wenig präsenter zu sein: Auch völlig rationale, aufgeklärte Esten werden einem zur Begrüßung die Hand nicht über die Schwelle hinweg reichen, weil das Unglück bringe. Sogar ein Gespräch über die Schwelle hinweg wird, selbst wenn es bloß um eine kurze Verabredung geht, vermieden. Die Schwelle eines Hauses symbolisiert den Übergang zum Totenreich, und wenn man einem Ankömmling über diese Schwelle die Hand reicht, so heißt das, man tritt in Kontakt zum Jenseits, was offenbar vermieden werden soll. Es spielt hierbei keine Rolle, dass die Vorstellung von einem Totenreich selbst nicht der ältesten Schicht der estnischen Mythologie zuzurechnen ist, sondern vermutlich ein jüngerer Import ist (s. u.). Ebenso lassen sich auch Ende des 20. Jahrhunderts noch rituelle Tieropfer nachweisen, wie der estnisch-schwedische Schriftsteller Peeter Puide (vgl. § 39) nicht ohne Verwunderung festgestellt hat (Puide 2003, 84). Und der Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch weltweit anhaltende Boom der Esoterik erstreckt sich im Falle Estlands auch auf den Bereich der alten Volksreligion (vgl. z.B. Heintalu 2001). Eine dominierende Rolle innerhalb der alten estnischen religiösen Vorstellungswelt nehmen Wald und Wasser – sowohl Meer als auch Binnengewässer – ein. Wenn man bedenkt, dass vor ca. drei Jahrtausenden 85–90 % der Oberfläche Estlands mit Wald bedeckt waren und heute immerhin noch 44,5 % bewaldet sind, so ist dies völlig verständlich, zumal die angenommene Herkunft der Esten bzw. ihrer Vorfahren ebenfalls auf die eurasische Waldzone weist. Die Bewaldung Estlands ist im Welt- wie im europäischen Maßstab nach wie vor überdurchschnittlich und wird in Europa nur von Finnland, Schweden, Albanien und Lettland übertroffen, so dass verständlich ist, warum der Wald im Leben der Esten eine vergleichsweise große Rolle spielt. Ebenso ist das Wasser allgegenwärtig: Im Norden und Westen die Ostsee (mit über 1500 zu Estland gehörenden Inseln), im Osten mit dem Peipsi-See der fünftgrößte See Europas (nach Ladoga, Onega, Vänern und Saimaa), und über das ganze Land verteilt etwa 1200 Seen (größer als 1 ha), weswegen das Wasser aus der estnischen Mythologie nicht wegzudenken ist. Der Wald hatte in der voragrarischen Jäger- und Sammlerkultur große wirtschaftliche Bedeutung und war zunächst als ein belebtes Wesen aufgefasst worden, woraus später verschiedene persönlich gedachte Waldgeister abgeleitet worden sind. Diese sind grundsätzlich positiv und wohlwollend, aber es schadet keineswegs, wenn man sie ein wenig umsorgt und verwöhnt, um mehr Erfolg bei der Jagd zu haben oder – dann schon im Zeitalter der Viehzucht – seine Weidetiere nicht zu verlieren. Diese Geister treten in den verschiedensten Formen, in Menschen- und Tiergestalt, aber auch in Bäumen, die darum häufig verehrt wurden, auf. Nicht selten erhalten sie dabei eine

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sexuelle Konnotation: Im Walde werden Frauen beim Beeren- oder Pilzesammeln von einem männlichen Waldgeist verführt oder belästigt, noch häufiger aber werden Männer im Walde von Feen verführt. Neben diesen Schutzgeistern und Feen (estn. metsavaim oder haldjas) existieren auch böse Geister (tont), Dämonen, die für allerlei Ungemach sorgen können. Sie sind möglicherweise jüngeren Ursprungs, da eine rein auf Jagen und Sammeln fußende Kultur sich noch nicht so weit vom Wald entfremdet hat, wie es eine spätere Ackerbau- und Viehzuchtkultur tat. Auch ist nicht auszuschließen, dass wir es hier mit christlichen Einflüssen zu tun haben, da der Dualismus von Gut und Böse, Gott und Teufel, erst mit dem Christentum gekommen ist. So haben die Finnen und Esten dann auch interessanterweise zwar eine gemeinsame Bezeichnung für einen obersten Gott oder eine göttliche Macht (s.u.), aber keinen gemeinsamen Teufel. In jedem Fall sind die dämonischen Wesen des Waldes gefährlicher als die Schutzgeister und Feen. Letztere können zwar auch negative Einflüsse ausüben, sie sind aber dennoch bezwingbar, zum Beispiel mit einer silbernen Kugel (obwohl auch das Unglück bringen konnte). Einen Dämonen kann man aber nicht mal mit einer silbernen Kugel erschießen, hier musste man beispielsweise schon seinen Trauring opfern. Ähnlich verhält es sich mit den Meer- und Wassergeistern. Das Meer wurde ebenfalls als belebtes Wesen aufgefasst und Meeresgott, häufiger noch Meeresmutter genannt. Das Motiv der Urmutter, die Fische gebärt, ist im nördlichen Eurasien und in Nordamerika weit verbreitet. Auch hatten alle Binnenseen ihren eigenen Schutzgeist, der im Winter unter dem Eise schlief und im Frühjahr das Eis zerbrach. Er war für das Fischglück, aber auch für Stürme verantwortlich und musste mit entsprechenden Opfern positiv gestimmt werden. Je nachdem, ob ihm das Opfer gefiel – in manchen Gegenden Estlands konnte dies sogar ein Pferd sein! –, wurden die Opfergeber mit reichem Fang und Errettung vor dem Ertrinken oder eben dem Gegenteil belohnt. In einer nächstniedrigeren Stufe hatten auch alle Fischarten ihren eigenen Schutzgeist, so genannte »Alte«, die mitunter in Menschengestalt auftreten konnten. Jüngeren Datums und eine Entlehnung aus dem Skandinavischen sind die Nixen und – seltener – Nöcken (estn. beide näkk), die ähnlich den Waldgeistern meistens ein verführerisches Element in sich bergen und in ihren Wirkungsbereich geratene Personen bezirzen oder ertrinken lassen. Nicht selten findet sich auch die Vorstellung, dass solch ein Geist aus einem Ertrunkenen hervorgegangen ist. Als zeitlich nächste Stufe nach der Verehrung von Wald und Wasser sind solche mythologischen Elemente anzusehen, die mit Himmel und Erde zu tun haben. Sie sind im Zusammenhang mit der Einführung des Ackerbaus zu

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sehen und daher ebenfalls schon ca. 4000 Jahre alt (vgl. § 2). Das später von der Kirche verwendete Wort für den christlichen Gott, estn. jumal, hat Entsprechungen nicht nur in den anderen ostseefinnischen Sprachen, sondern auch im Marischen (und eventuell im Mordwinischen), und dürfte daher mehrere tausend Jahre alt sein. Über seine Bedeutung lässt sich nur spekulieren, Vergleiche mit den Bedeutungen in anderen Sprachen legen aber die Schlussfolgerung nahe, dass es sich um eine Art oberste Himmelsgottheit gehandelt habe – ein aus den verschiedensten Erdteilen und Kulturen bekanntes Motiv. Sie war verantwortlich für Donner und Blitz oder eine Personifizierung derselben. Ähnliches ist aus der germanischen Mythologie bekannt, und direkte Bezüge zum altnordischen Gott Thor sind auf Basis einer Belegstelle aus der Chronik Heinrichs von Lettland (vgl. § 9) hergestellt worden. Demzufolge hätte es einen estnischen (Kriegs-?)Gott Taara gegeben, den man in der Not um Hilfe anrufen kann. Dieser Gott wurde im 19. Jahrhundert dermaßen stark mythologisiert, dass er in der Zwischenkriegszeit und auch heute den Anhängern einer »wahren«, d. h. vorchristlichen Volksreligion als Namensgeber dient. Dabei ist der Zusammenhang zwischen dem überlieferten Begriff Tarapit(h)a (was erklärt wurde als Taara avita ›Taara hilf‹) und einer möglichen Form Taar, Taara oder Toora ziemlich unsicher und alles andere als erwiesen. Zudem sind in der estnischen Volksüberlieferung weder ein Kriegsgott noch sonstige auf eine monotheistische Weltsicht weisende Spuren auszumachen. Vieles spricht daher dafür, dass die starke Mystifizierung im 19. Jahrhundert bis heute für eine Fehlinterpretation des Belegs aus dem 13. Jahrhundert sorgt und über die dürftige Quellenlage und geringe Verbreitung hinwegtäuscht, dass mithin die Erklärung für Tarapita anderswo zu suchen ist und sowohl die Bezüge zur germanischen Gottheit als auch überhaupt die Ansetzung eines Gottes mit einem solchen Namen in den Bereich der Fabelwelt verwiesen werden müssen. Dem Himmel gegenüber liegt die Erde, unter der sich das Totenreich befindet. Dies ist bei den Esten ursprünglich kein fest umrissenes Gebiet, gar mit einem irgendwie gearteten »Herrscher«, gewesen. Die Verstorbenen lebten unter der Erde in ihrer neuen Heimat einfach weiter, wozu sie zur Erleichterung des neuen Lebens auch entsprechende Grabbeigaben bekamen. Die Grabstätten waren häufig in dann bald als heilig eingestuften Wäldern (estn. hiis) angelegt. Die Toten erhielten eine eigene Bezeichnung, toon(i), aus der erst später mit dem estnischen Lokalitätssuffix -la der Name Toonela für das Totenreich als solches gebildet wurde. Diese Bezeichnung, wie auch andere (Manala, Hiiela), ist höchstwahrscheinlich erst infolge des germanischen Einflusses zustande gekommen, da den Esten wie erwähnt die grundsätzliche Vorstellung von einem Totenreich fehlte. Die Toten bzw. ihre Seelen waren allgegenwärtig

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und kamen in der Zeit zwischen Michaelis und Martini (also von Ende September bis Mitte November, genannt Hingede aeg ›Zeit der Seelen‹), wenn auch die Natur »starb«, zu den Lebenden auf Besuch und wurden dort bewirtet. Hierin zeigt sich ein grundlegender Unterschied zwischen der alten estnischen Volksreligion und dem später importierten Christentum: Dieses fußt auf dem scharfen Gegensatz zwischen Gut und Böse, während bei den Esten ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Natur und ein fließender Übergang zwischen Leben und Nicht-Leben im Vordergrund zu stehen scheint. Der Teufel als Inkarnation des Bösen erscheint erst im christlichen Mittelalter und tritt am häufigsten in Gestalt eines Mannes, nicht selten als Metapher für den bösen Gutsherrn, auf. Aber auch eine Frau, ein Tier oder sogar ein Gegenstand können den Teufel in sich bergen. Hierin unterscheidet sich das estnische Teufelsmotiv kaum von dem anderer Völker, wobei allenfalls auffällig ist, dass der estnische Teufel häufig nicht so sehr böse, sondern dumm ist. Er trägt dann die Bezeichnung Vanapagan (›Alter Heide‹ – hierbei handelt es sich dann aber erst um Belege aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) und ist nicht auf die Seele des Menschen aus, sondern macht ihm in eher harmloser Weise das Leben auf Erden ein wenig schwer. Dabei ist er nicht lebensbedrohend, sondern linkisch und manchmal geradezu tölpelhaft. Volkslieder Bei den Volksliedern wird grundsätzlich zwischen älteren und jüngeren Liedern unterschieden, wobei als Trennungskriterium inhaltliche und formale Aspekte herangezogen werden. Gleichzeitig gibt es hinsichtlich ihrer Entstehung eine zeitliche Grenze, die etwa gegen Ende des 18. Jahrhunderts anzusiedeln ist. Das ältere estnische Volkslied (regivärss, estn. regi ist vermutlich eine Entlehnung aus dem Mittelniederdeutschen, vgl. dt. Reigen) ist formal gekennzeichnet durch die folgenden drei Merkmale: Parallelismus, vierhebiger Trochäus und Alliteration. Mitunter werden der fehlende Endreim und die stattdessen häufig auftretende Assonanz als weitere Kriterien angegeben, doch ist dies nur eine direkte Folge bzw. Korrelation der Alliteration: Stabreim (Alliteration), Endreim und Gleichklang (Assonanz) sind allesamt Reimformen und werden darum hier gemeinsam behandelt. Die Alliteration ist das vielleicht auffälligste Merkmal der estnischen Volksdichtung. Sie hängt direkt mit der Sprache zusammen: Das estnische Phonemsystem ist nicht sonderlich groß und umfasst nur neun Vokale und 16 Konsonanten, wobei von Letzteren nur elf im Wortanlaut stehen können (zum Vergleich: Das Deutsche hat ebenfalls neun Vokale, aber wesentlich

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mehr Konsonanten). Wenn es relativ wenige Laute gibt, mit denen ein Wort beginnen kann, ist logisch, dass sich diese Laute entsprechend häufig wiederholen, was unwillkürlich Alliteration erzeugt bzw. diese erleichtert. Erhebungen haben ergeben, dass rund 85 % aller Volkslieder alliterierend sind, wobei man noch unterscheiden kann zwischen vollkommener oder Teilalliteration, wie aus dem folgenden Beispiel, dem Beginn des bekannten Liedes von der Fischjungfrau (Kalaneitsi) hervorgeht: Magasi mia, magasi, magasi Mari mäele, sinilillede siana, kullerkupude kuhale, valge lillede vahele. Unda näi ma magadenna, tõista üles tõuste’enna. … (Ich schlief und schlief // ich schlief auf Maris Berg // inmitten der Leberblümchen // auf den Trollblumen // zwischen den weißen Blumen // ich hatte einen Traum, während ich schlief // einen zweiten, als ich aufwachte.)

Die ersten vier Zeilen weisen eine reine Alliteration auf, ohne auch nur ein einziges anders anlautendes Wort zu dulden, während bei den drei darauf folgenden Zeilen entweder zwei von drei oder mindestens zwei von vier Wörtern mit dem gleichen Laut beginnen. Alliteration als Stilmerkmal ist auch aus der altgermanischen Dichtung bekannt und heute in allen Sprachen der Welt ein beliebtes Mittel zur Erzeugung bestimmter sprachlicher Effekte, aber im Estnischen ist dies durch die Tradition der Volksdichtung besonders auffällig und auch in der modernen Lyrik vielfach anzutreffen. Eine Konsequenz hieraus ist, dass der Endreim fehlt bzw. in Ermangelung eines gewissen Phonemreichtums häufig »unsauber«, also eine reine Wiederholung, teilweise bedingt durch gleiche Personal- oder Kasusendungen (Homoioptoton), ist. Erst beim jüngeren Volkslied trat der Endreim in Erscheinung, der damit auch als formales Trennungskriterium angesehen werden kann. Die Assonanz schließlich ist entweder lediglich eine (nämlich die vokalische) Unterform der Alliteration oder eine logische Konsequenz des kleinen zur Verfügung stehenden Phoneminventars. Wenn es um den Gleichklang am Wortende geht, ist zudem zu beachten, dass es im Estnischen (in der Sprache der alten Volksdichtung dialektbedingt allerdings nicht hundertprozentig) eine Distributionsbeschränkung hinsichtlich der Vokale gibt und in hinterer Silbe ganze vier (der neun) Vokale auftreten können: a, e, i und u. Hieraus ergibt sich schon rein rechnerisch zwangsläufig eine Neigung zur Assonanz in hinterer Silbe.

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Der Parallelismus ist die inhaltliche Widerspiegelung der Alliteration. Er bedeutet, dass der Inhalt einer Zeile mit anderen Worten wiederholt wird, wie auch aus den oben zitierten sieben Zeilen hervorgeht: Die zweite Zeile ist praktisch eine Wiederholung der ersten Zeile mit minimaler Abwandlung, die dritte bis fünfte Zeile besagen allesamt dasselbe, nur wird die Blumenart variiert, und die letzte Zeile ist wiederum nur eine Paraphrasierung der vorletzten, denn aus dem weiteren Verlauf des Liedes geht eindeutig hervor, dass hier von keinem zweiten Traum die Rede ist, sondern es um ein und denselben Traum geht. Dieser Parallelismus hat, wie die Alliteration, mehrere Funktionen wie die Vergrößerung des Wohlklangs und die Bildung eines dichteren Zusammenhangs zwischen den einzelnen Zeilen. Die wichtigste Funktion wird aber mnemotechnischer Art gewesen sein: In Ermangelung einer schriftlichen Fixierung musste der Text im Gedächtnis behalten werden, und dies gelingt viel leichter, wenn man sich jeweils eine Doppelzeile merken muss, weil die beiden Zeilen sich dann gegenseitig unterstützen. Außerdem ist das – trotzdem ja vorkommende – Vergessen einzelner Elemente auf diese Weise zu verschmerzen, weil die Chance groß ist, dass ein Teil immer noch im Gedächtnis geblieben ist und der reibungslose Fortgang der Handlung somit gesichert ist. Der vierhebige Trochäus ist das vorherrschende und gleichzeitig charakteristischste Metrum der alten estnischen Lieder. Die normale Zeile enthält acht Silben, die Betonung bzw. das Gewicht liegt auf der ersten, dritten, fünften und siebten Silbe. Da im Estnischen die erste Silbe betont wird und die meisten Wörter zweisilbig sind, kommt dieser Versfuß der estnischen Phonound Morphotaxe sehr entgegen. Dennoch gibt es, wie bereits das obige Beispiel zeigt, auch andere Silbenstrukturen, wobei gewisse metrische Regeln immer beachtet werden. Einsilbige Wörter können nicht am Ende einer Zeile stehen und werden, wenn es sich dennoch ergäbe, mit einem Stammvokal zweisilbig gemacht; viersilbige Wörter können die ersten beiden und die letzten beiden Versfüße einer Zeile bilden, nicht aber den zweiten und dritten; wenn die Zeile aus einem zweisilbigen Wort und zwei folgenden dreisilbigen Wörtern gebildet wird, so beginnt das zweite Wort mit einer in metrischer Hinsicht langen (schweren) Silbe, das dritte hingegen mit einer kurzen Silbe, und weiteres mehr. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die auf diese Weise komponierten Volkslieder nicht immer gleichermaßen »rein« waren. Es konnte vorkommen, dass aus inhaltlichen oder anderen Gründen an einer bestimmten Stelle ein Wort verwendet wurde, das metrisch eigentlich nicht passte. Dann wurde es beim Vortrag einfach »falsch« ausgesprochen, damit es sich dennoch in das Metrum fügte. Für die Volkslieder gilt, was für alle formalen Klassifizierungen zutreffend ist: Ausnahmen bestätigen die Regel. Für

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Kapitel I: Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung

die überwältigende Mehrheit der alten Volkslieder gelten die genannten formalen Kriterien. Inhaltlich bzw. thematisch können diese Lieder grob in vier große Gruppen eingeteilt werden, wobei die Trennlinien jedoch nicht eindeutig sind und manche Varianten auch mehreren Gruppen zugeordnet werden könnten: 1) lyrisch-epische Lieder; 2) Lieder über Menschen und ihre Freude am Leben; 3) Lieder über den Menschen innerhalb der Gesellschaft; 4) Lieder über den Menschen in seiner häuslichen Umgebung bzw. im Familienkreise. 1) Die lyrisch-epischen Lieder umfassen mythologische und magische Lieder, Familienballaden und Legenden. Thematisiert werden hier die Entstehung der Welt oder ihrer Teile wie Erde, Himmel, Sonne, Mond und Sterne. Ein solches sehr weit verbreitetes Lied ist Die Sternenbraut (Tähemõrsja), worin die aus einem Hühnerei entstandene Salme Sonne, Mond und Stern als Freier empfängt und sich für Letzteren entscheidet. Dies ist die sicherste Partie, weil ein Stern die Menschen am wenigsten bedroht oder in seinem Alltag behindert. In seinem Epos Kalevipoeg (vgl. § 18) hat Kreutzwald dieses Lied verarbeitet. Andere Lieder handeln von übernatürlich großen Tieren oder Bäumen, von den Jahreszeiten, von Vögeln oder Insekten. Häufig tritt der Mensch auch in ein Zwiegespräch mit Naturelementen; ferner gibt es auch, dann schon in christlicher Tradition, Heiligenlegenden. 2) Bei den Liedern über die Menschen und ihre Freude oder auch Lust am Leben geht es um verschiedene Vergnügungen, mit deren Hilfe ein Kontrast zum Alltag hergestellt wird. Es sind Spiel-, Tanz-, Trink-, Rätsel- und andere Lieder, die bevorzugt bei der Schaukel, auf dem Weg dorthin oder auf dem Heimweg gesungen wurden. Die Dorfschaukel war für die Jugend der zentrale Versammlungsplatz, wo man sich an Sonnabenden und Sonntagen bevorzugt aufhielt und entspannte. Es gibt folgerichtig innerhalb der estnischen Klassifizierung auch die Untergruppe der Schaukellieder, in denen das Geschehen um die Schaukel selbst thematisiert wird. Viele Lieder handeln auch vom Singen selbst, von der Herkunft der Sangesgabe, von der Kraft des Gesanges oder dem Charakter der singenden Person. Auch Lieder zu den verschiedensten Feiertagen (christlicher oder nicht-christlicher Provenienz) gehören in diese Kategorie. 3) Von den Liedern über den Menschen in der Gesellschaft nehmen die Arbeitslieder, mit deren Hilfe man sich die mühsame körperliche Arbeit zu erleichtern hoffte, eine prominente Position ein. Eine Untergruppe hiervon sind die Sklavenlieder, in denen der besondere Gegensatz zwischen demjenigen, der die Arbeit leistet, und demjenigen, der den Nutzen davon hat, hervorgehoben wird. Aber auch der Unterschied zwischen Arm und Reich, Dorf und Gut, Knecht und Herr können besungen werden. Ein weiteres Motiv für

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die Entstehung von Arbeitsliedern war das rhythmische Element, das vielen Tätigkeiten eigen ist, ferner kann es sich auch um Aufforderungen zur Arbeit handeln. Vom Alter her dürften einige der Arbeitslieder zu den ältesten Volksliedern überhaupt gehören, da sie manchmal auch magische Elemente aufweisen und in direktem Zusammenhang mit der Einführung von Werkzeugen stehen. Es gibt allgemeine Arbeitslieder und spezifische Untergruppen zu allen Phasen bzw. Sparten des Landlebens: Hirtenlieder, Pflüge-, Heuund Erntelieder, Dresch- und Waldarbeitslieder, Melk-, Mahl-, Spinn- und Weblieder und vieles mehr. Auch verschiedene Berufe (Schmied, Fischer) können Gegenstand eines Liedes sein. Zum Kreis dieser gesellschaftsbezogenen Lieder gehören auch die Kriegsund Rekrutenlieder als Beschreibungen eines weitgehend fremdbestimmten Ereignisses (im Kontrast zur vierten Gruppe, die sich auf den Familienkreis bezieht, der als weniger fremdbestimmt angesehen wird). Beide sind jedoch eher der jüngeren Volksdichtung zuzurechnen. Die Rekrutenlieder entstanden erst mit der Militärpflicht, die Paul I. 1796 bei seiner Thronbesteigung auf Estland ausgeweitet hatte. Da die Dienstzeit anfangs 25 Jahre, nach 1834 immer noch 20 Jahre und erst ab 1874 »nur noch« fünf bis sieben Jahre betrug, ist es verständlich, dass ein solches Ereignis, wenn es denn jemanden traf – die Entscheidung fiel per Los, pro 500, ab 1832 pro 1000, Einwohner musste jährlich ein Rekrut gestellt werden –, entsprechend besungen werden musste. Schließlich war hier von einem Abschied auf sehr lange Zeit die Rede, meistens sogar auf ewig, denn nur eine kleine Minderheit überlebte den Militärdienst und kehrte nach Hause zurück (wobei die wenigsten in unmittelbaren Kriegshandlungen zu Tode kamen). Auch die Kriegslieder sind meistens mit einem konkreten Krieg aus der jüngeren Geschichte verbunden, wenngleich es Kriege schon immer gegeben hat und dementsprechend häufig auch viel ältere Elemente verarbeitet worden sind. So fußt beispielsweise das 1915 erschienene Kriegslied (Sõja laul) von Hella Wuolijoki (dt. 1984), das durch die Verwendung von Bertolt Brecht in seinem Kaukasischen Kreidekreis in Deutschland eine gewisse Bekanntheit erlangt hat, zu ca. 50 % auf Volksliedern, deren Motive stellenweise bis ins Hochmittelalter zurückreichen und aus dem slawischen Raum nach Estland gelangt sind (Oinas 1969, 111). 4) Die Lieder über den Menschen in seinem häuslichen Bereich und im Familienkreise umspannen den gesamten Bereich von Geburt bis Tod. Das beginnt mit Liedern über die Schönheit des eigenen Heims gegenüber der Hässlichkeit des fremden, gefolgt von Liedern über Liebe, insbesondere Mutterliebe und Kinderglück, und führt über die verschiedenen Phasen der Kindheit in die Phase von Brautwerbung und Hochzeit. Gerade der letztere Bereich sticht durch eine außergewöhnliche Vielfalt hervor, hier gibt es auch

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Kapitel I: Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung

erhebliche landschaftliche Unterschiede. Es folgen dann zahllose Lieder über das Eheleben sowie Wiegen- und Kinderlieder. Mit den Beschwörungsliedern gegen Krankheiten und Unglücke, den Klagen der Waisenkinder und Witwen und allgemeinen Klageliedern über den Tod schließt sich der Kreis. Das jüngere estnische Volkslied entstand vermutlich im Laufe des 18. Jahrhunderts, obwohl es auch vereinzelte Hinweise gibt, die auf ein höheres Alter deuten. Hauptkennzeichen dieser jüngeren Schicht ist das Fehlen von Parallelismus und Alliteration. Wenn Letztere dennoch auftrat, so eher zufällig und nicht als strukturierendes Element, außerdem gab es Mischformen zwischen den beiden Typen. In den Vordergrund trat der Endreim, der seinerseits aber nicht das entscheidende Merkmal war. Wichtiger war der Verzicht auf den Parallelismus, wozu als Vorbild das Erstarken des Kirchenlieds Pate gestanden hatte. Darüber hinaus wurden die Texte häufig kopiert und schriftlich verbreitet, worin ebenfalls ein grundlegender Unterschied liegt. Dadurch sank die Variabilität, und in Einzelfällen verschwand die Anonymität. Thematisch ist der Unterschied zum älteren Volkslied nicht unbedingt prinzipieller Art, auch hier wurden Elemente aus dem Alltagsleben besungen, aber es fand eine stärkere Konzentrierung auf einzelne Bereiche statt. Zu nennen wären hier das Verhältnis zwischen Gutsherr und Bauer, die verschiedenen sozialen Schichten und die Abwanderung vom Dorf in die Stadt, antiklerikale Satiren, Gelegenheitslieder über (konkrete) Ereignisse im dörflichen Leben, Gefangenen- und Arbeiterlieder, Kriegslieder über bestimmte Kriege (am häufigsten über die regelmäßigen russisch-türkischen Auseinandersetzungen, z.B. 1806–1812, 1828–1829, 1877–1878, und den russisch-japanischen Krieg von 1904 bis 1905) sowie Liebeslieder und romantische Balladen. Diese Lieder sind teilweise international und stellen dann nur lokale Varianten dar. Die Tradition der jüngeren Volkslieder reicht bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Märchen Die estnischen Märchen sind von allen Gattungen der Volksdichtung am internationalsten, d.h. die Unterschiede zu den Märchen anderer Völker, Sprachen und Gebiete sind nicht ausgesprochen groß. Wie in allen Literaturen üblich finden sich in diesem Bereich Übereinstimmungen mit den direkten Nachbarn bzw. beeinflussenden Kulturen, im Falle Estlands also mit Skandinavien, Russland und Deutschland. Die Anzahl der ausschließlich in Estland bekannten Märchentypen ist relativ klein (15 laut Masing 1984, 483). Auch in der Grundstruktur gibt es hinsichtlich der Einheit der Handlung, der Linearität, der eindeutigen Abgrenzung von Gut und Böse, dem glücklichen Ausgang

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etc. keine nennenswerten Unterschiede. Die thematische Einteilung erfolgt traditionell nach der Klassifizierung von Antti Aarne (bzw. Aarne/Thompson und jetzt Uther 2004) in Tiermärchen (mit der Untergruppe der Fabeln), Zaubermärchen, legendenartige Märchen und novellenartige Märchen. Bei den Tiermärchen fand erwartungsgemäß eine Anpassung des internationalen Guts an estnische Gegebenheiten statt, sofern sich das als nötig erwies: Löwe und Esel kommen so gut wie gar nicht vor, stattdessen einheimische Tiere wie Bär, Fuchs und Wolf. Von den eigentlichen Märchen bieten die Zaubermärchen den größten Spielraum für die Phantasie und die Improvisation der Vortragenden. Die Legendenmärchen können als Untergruppe der Zaubermärchen aufgefasst werden und befassen sich ausnahmslos mit Gestalten aus der Bibel. Die Novellenmärchen sind zahlenmäßig die kleinste Gruppe. Sie haben einen direkteren Bezug zur Realität, was daran liegt, dass sie, zumindest zum Teil, deutlich jüngeren Datums sind. Bei ihnen ist der Übergang zur Kunstliteratur sichtbar. Großer Beliebtheit erfreuen sich Märchen vom dummen Teufel und dessen Gegenspieler, dem Schlauen Ants, die ebenfalls jüngeren Datums sind. Auffallend ist der große Variantenreichtum, der seine Ursache in der mangelnden Freizügigkeit der vergangenen Jahrhunderte hatte: Die Schollenpflichtigkeit der Bauern beschränkte auch das Verbreitungsgebiet ihrer Erzählungen. Von den rund 1800 verschiedenen Typen liegen ca. 75000 Varianten vor, wobei einige Typen über 100, in einzelnen Fällen sogar über 200 Varianten aufweisen. Sagen Im Gegensatz zu den Märchen sind die Sagen traditionell ortsgebunden, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Thematik als auch was ihre Entstehung betrifft. Sie unterscheiden sich von den phantasiegetragenen Märchen ferner dadurch, dass sie konkrete, mit Namen genannte Personen, Figuren, Gegenstände und Orte behandeln. Sie sind wesentlich kürzer als Märchen, können sich aber auch zu Zyklen zusammenschließen, die von einer bestimmten Figur dominiert werden. Die ähnelt von ihrem mythologischen Hintergrund her bisweilen den Märchengestalten, aber der Bezug zur Realität, d.h. konkreten Umwelt ist dadurch gegeben, dass das in einer Sage Berichtete auch heute noch sichtbare Spuren in der Landschaft hinterlassen hat. Ganz Estland ist von mythologischen Stätten übersät, deren konkrete topographische Ausgestaltung mit bestimmten Sagen erläutert werden kann. Die prominenteste Position nehmen jene Orte ein, in denen der vorzeitliche Recke Kalevipoeg (vgl. § 18) in Form einer von ihm benutzten Ruhestätte oder eines geworfenen Steines seine Spuren hinterlassen hat.

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Insgesamt können fünf verschiedene Themenbereiche unterschieden werden: 1) Entstehungs- und Erklärungssagen, 2) religiöse Sagen, 3) Sagen von Riesen oder übernatürlichen Wesen, 4) Ortssagen und 5) historische Sagen. Die Entstehungs- und Erklärungssagen haben kosmogonischen Charakter und erklären Besonderheiten der Natur oder der Topographie. Stellenweise finden sich hier internationale Motive, die lediglich den örtlichen Gegebenheiten angepasst worden sind. Die religiösen Sagen sind die ergiebigste Quelle für die oben behandelte estnische Mythologie. In ihnen wird von Begegnungen mit den verschiedensten übernatürlichen Wesen berichtet, werden Ratschläge gegeben, wie man mit ihnen umzugehen hat, wie man sie günstig stimmt, was man tun muss, um Schaden abzuwenden etc. Vielfach wird mit Hilfe solcher Sagen auch der Unterschied zwischen Arm und Reich erklärt, indem zum Beispiel erläutert wird, wie man sich eines günstigen Hausgeists bemächtigt, der für Reichtum sorgt. Ebenso wurden Krankheiten (vor allem Pest und Malaria) mit Hilfe von entsprechenden Dämonen erklärt, auch Sagen über Tote und Werwölfe gehören in diese Kategorie. Die Sagen von Riesen oder übernatürlichen Wesen erinnern am ehesten an die Heldensagen anderer Völker. Die Riesen – allen voran Kalevipoeg – haben übernatürliche Körperkräfte, helfen dem Volk bei der Verteidigung des Landes und bei dessen Urbarmachung. Man hat aus der Existenz solcher Sagen den Schluss gezogen, dass es auch in Estland eine Heldenepik gegeben haben könnte, doch basiert dies wohl allein auf dem Wunsche, in diesem Genre anderen Völkern ebenbürtig zu sein. Nach heutigem Kenntnisstand weist nichts darauf hin, dass es sich hier um Reste einer einst größeren Einheit gehandelt hat, vielmehr sind es tatsächlich nur lose Sagen, die zwar durchaus miteinander verbunden sind, aber kein einheitliches Ganzes formen (vgl. § 18). Die Ortssagen sind wiederum ein international bekanntes Phänomen, dessen lokale Ausgestaltung mit den entsprechenden estnischen Attributen versehen ist. Sie weisen Berührungspunkte zur ersten Gruppe auf, bei der es ebenfalls unter anderem um konkrete topographische Erklärungen ging. Gleichzeitig können sie auch eine religiös-mythologische Komponente haben, wie die berühmte Sage Warum Tallinn nie fertig wird illustriert: Dieser Sage zufolge entsteigt dem an Tallinns Südostrand gelegenen Ülemiste-See jedes Jahr in einer dunklen Herbstnacht ein kleines graues Männchen und fragt den Wächter am Stadttor, ob die Stadt fertig sei. Auf höchstrichterlichen Beschluss muss der Wächter dann stets antworten, dass dies noch nicht der Fall sei (selbst wenn wider Erwarten die Bautätigkeit einmal beendet

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sein sollte), woraufhin sich das Männchen, etwas Unverständliches vor sich hin murmelnd, griesgrämig in seinen See zurückbegibt. Sollte der Wächter nämlich einmal zur Antwort geben, dass nun tatsächlich alles fertig sei, so würde der Alte im Handumdrehen das Wasser seines Sees über der Stadt ergießen und das Werk zunichte machen. Die historischen Sagen behandeln wie bei anderen Völkern auch historisch belegte Personen, sind aber in Estland nicht außerordentlich verbreitet. Lediglich zwei Themenkreise verdienen hier besondere Hervorhebung: Sagen über die Pest und deren verschiedene dämonische Verursacher, die beinahe jede Gestalt annehmen können, und Sagen über Plünderer in Kriegszeiten, die für alle erdenklichen Schreckenstaten verantwortlich gemacht werden. Beide Motive haben ihren Ursprung selbstverständlich in der an Pest und Kriegen nicht gerade armen estnischen Geschichte. Schwänke, Humoresken, Anekdoten und Vergleichbares Diese Gruppe unterscheidet sich von den vorangegangenen durch das Fehlen jeglicher Art von mythologischer Ladung. Damit geht Hand in Hand, dass sie praktisch jedweder estnischen Spezifik entbehren und höchst international sind. Dies trifft in erster Linie auf Schwänke, Witze und Anekdoten zu, die allein durch die Verwendung von estnischen Eigennamen und die gelegentliche Anpassung an örtliche Besonderheiten (sowie die Sprache) einen Bezug zu Estland herstellen. Des weiteren wird an diesen Genres deutlich, dass es sich hierbei nicht um Spuren einer untergehenden oder gar untergegangenen Kultur handelt, denn sie leben, wenn auch teilweise in verschriftlichter und nicht mehr anonymer Form, auch in der Volkskultur im 21. Jahrhundert weiter, und dies keineswegs nur in einer abseitigen kulturellen Nische (vgl. § 53). Stärkeren Bezug zum estnischen Alltagsleben nehmen die humoristischen Volkserzählungen (pajatus), die häufig auf einer wahren Begebenheit beruhen und dann zur allgemeinen Erheiterung von Mund zu Mund weitererzählt werden. Dabei geht es nicht um Spott oder Sarkasmus (wie bei Witzen häufig der Fall), sondern auch um Lob und Anerkennung, wobei nicht selten ein satirisches Element zum Tragen kommt. Die »kleinen Genres« Hierunter werden Sprichwörter, Redensarten und Rätsel verstanden, die weniger »literarisch« und »allgemeinsprachlicher« Natur sind. Sie werden daher auch von der Linguistik untersucht und befinden sich in einem Grenzbereich. Sie bilden das Rohmaterial für die vorgenannten Genres, in denen sie alle reichhaltig Verwendung finden. Gleichzeitig sind sie vom Umfang der

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Kapitel I: Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung

aufgezeichneten Belege her den Volksliedern ebenbürtig, denn es dürfte sich hier um über eine halbe Million handeln. Auch von der Form her besteht eine Nähe zu den Volksliedern, Parallelismus und Alliteration finden reichhaltige Verwendung. Sprichwörter sind relativ international, oder anders ausgedrückt: Die sich in ihnen widerspiegelnde gesellschaftliche Erfahrung hat häufig universalen Charakter, so dass die Unterschiede manchmal nur in einer lokalen Färbung liegen: Wenn im Deutschen »der Apfel nicht weit vom Stamm fällt«, so ist es im Estnischen der Tannen- bzw. Kiefernzapfen, der dieses tut, wobei er sich auch noch wunderbar in die estnische alliterierende Tradition einfügt: Käbi ei kuku kännust kaugele. So kann für die überwältigende Mehrheit der estnischen Sprichwörter (ca. 81500 aufgezeichnete authentische Varianten von über 15000 Typen) eine internationale Parallele gefunden werden, und unter den 35 am meisten verbreiteten fanden sich nur zwei, die in keiner anderen Sprache eine direkte Entsprechung haben: Parem suutäis soolast kui maotäis magedat (›Lieber einen Mundvoll Salziges als einen Bauchvoll Salzloses‹) und Kes kannatab, see kaua elab (›Wer sich geduldet, lebt lange‹). Redensarten weisen teilweise Überschneidungen mit den Sprichwörtern auf, wobei ihnen das didaktische Element fehlt und der formale Aufbau ein anderer ist: Der bloße Vergleich Wie Feuer in rohem Holz (nagu tuli toores puus, für eine Sache, die nicht recht gelingen oder in Gang kommen will) ist eine Redensart, während die Formulierung Feuer brennt nicht in rohem Holz (Tuli ei põle toores puus) eine Konstatierung und Lehre enthält und als Sprichwort gilt. Die Grenze zwischen den Redensarten und den idiomatischen Ausdrücken und Phraseologismen ist fließend, weswegen die Zahlenangaben in diesem Bereich auch sehr vage (und hoch!) sind. Die Rätsel schließlich formen ein wichtiges Bindeglied zum Spiel und anderen nicht-verbalen Manifestationen der Volkskultur. Auch sie sind weitgehend international und nur notdürftig den örtlichen Bedingungen angepasst. Von ihrem Charakter her weisen sie vielleicht die größte Affinität zur späteren (Kunst-)Dichtung auf. Rätsel wurden einander nicht nur in der freien Zeit aufgegeben, sondern auch zum Zeitvertreib während der Arbeit gestellt. Wie in anderen Kulturen auch, konnte ein Rätsel als Aufgabe gestellt werden, bei deren korrekter Lösung es die entsprechende Belohnung gab, auch hatte das Rätsel mitunter eine magische Funktion: Wenn man ein (oder mehrere) Rätsel löste, bedeutete das gute Ernte, reichen Nachwuchs beim Vieh o.Ä. Da Rätsel teilweise auch gesungen wurden, findet sich hier wieder eine formale Übereinstimmung mit den Volksliedern, nämlich im Parallelismus und der Alliteration.

§ 7 Die Folklore von Setumaa

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§ 7 Die Folklore von Setumaa Setumaa Die Geschichte des südöstlichen Zipfels von Estland ist so grundlegend anders als die des übrigen Estland verlaufen, dass auch die Kultur in vielerlei Hinsicht besonders ist. Im vorliegenden Buch wird zwar nicht gesondert auf regionale Differenzen, Dialektliteratur oder angrenzende Gebiete eingegangen; ebenso wenig wird die Frage der Stellung des Südestnischen und seiner verschiedenen Subdialekte gesondert behandelt, sondern das estnische Dialektkontinuum als eine Sprache betrachtet. Dennoch muss an dieser Stelle ein kleiner Exkurs über die Setu oder Setukesen eingeflochten werden. Das Gebiet um die Stadt Petseri (daher auch der Name Petserimaa für die Provinz, russ. Peˇcory, dt. Petschur) mit einer Mischbevölkerung von zwei Dritteln Russen und einem Drittel Esten (sowie einem minimalen Anteil Letten) wurde erst im Tartuer Frieden von 1920 dem estnischen Territorium angegliedert und hatte bis dahin jahrhundertelang ununterbrochen unter politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss Russlands gestanden. Die estnische Bevölkerung hat sich jedoch ihre Sprache immer bewahrt, auch wenn diese stärker vom Russischen beeinflusst ist als alle übrigen estnischen Dialekte. Das Bewusstsein, zu den Esten zu gehören, manifestiert sich auch in der heutigen Setuhymne, deren erste Strophe lautet: Einst wurde die Familie getrennt / einst wurde eine Grenze durch den Stamm gezogen / die größere Menge wurde deutsche Sklaven / wir wurden der schlechte russische Rand (Lõuna 2003, 14). Während der zwei Jahrzehnte der Zwischenkriegszeit wurden von estnischer Seite erhebliche und erfolgreiche Bemühungen zur Integration dieses in vielerlei Hinsicht rückständigen neuen Landesteils unternommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet verwaltungsmäßig zum Großteil wieder dem Gebiet von Pskov (estn. Pihkva, dt. Pleskau) und damit der RSFSR angegliedert. Dies führte 1991 dazu, dass Estland de facto nicht exakt in seinen Grenzen von 1940 wiederhergestellt werden konnte, weil sich Russland weigerte, die Grenzen des Friedensvertrags von 1920 anzuerkennen. Das Gleiche betraf im Übrigen das Transnarvagebiet, einen Streifen Land östlich von Narva, der seit 1920 zu Estland gehörte, 1945 aber der RSFSR zugeschlagen wurde. Nach estnischer, auch völkerrechtlich unstrittiger Auffassung hätten diese beiden Gebiete in die Republik von 1991, die lediglich eine Fortsetzung der 1918 gegründeten Republik darstellt, integriert werden müssen. Aufgrund der kategorischen russischen Weigerung und der dort mehrheitlich russischen alteingesessenen Bevölkerung nahm Estland aber von einem Be-

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Kapitel I: Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung

harren auf diesem Rechtsstandpunkt Abstand und anerkannte den Status quo. Russland verzögert den juristischen Abschluss des Vorgangs zwar bis heute (der Grenzvertrag war auch 2006 vom russischen Parlament noch nicht ratifiziert), konnte damit aber die EU-Aufnahme Estlands nicht verhindern und hat sich gleichfalls mit dem Status quo arrangiert. Dieser besagt letztendlich eine Teilung von Setumaa, was für die Bevölkerung entsprechende Komplikationen mit sich bringt. Heute leben ca. 5500 Setu in Estland und schätzungsweise noch einmal so viele auf der russischen Seite. Kulturelle Besonderheiten Obwohl das Gebiet verkehrstechnisch relativ günstig liegt – unweit von Petseri verläuft die Bahnlinie Valga-Pskov bzw. in noch größerem Maßstab RigaSt. Petersburg –, lag es Jahrhunderte lang praktisch jenseits der Grenze des Abendlandes, das man verkürzt mit den drei Schlagwörtern lateinische Schrift, Westkirche, und römisch-germanisches Rechtssystem charakterisieren kann. Bedeutendste Einrichtung und lange Zeit einziges kulturelles Zentrum war das 1473 gegründete orthodoxe Kloster in Petseri. In der frühen Neuzeit fungierte es als ein wichtiger Vorposten der Orthodoxie und damit auch der russischen Expansionsbestrebungen. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts, nachdem das estnische Gebiet mit Russland vereinigt worden war, verloren das Kloster und das gesamte Gebiet an strategischer Bedeutung. Dennoch liegt der deutlichste und sichtbarste Unterschied in der orthodoxen Konfession, die im übrigen Estland neben der lutherischen Kirche eine untergeordnete Rolle spielt, in Setumaa aber das alles bestimmende Element ist. Dadurch ähnelt die Provinz in ihrem Alltagsleben bis in Details hinein eher Russland als Estland, was indes nicht heißt, dass die Bevölkerung vollständig russifiziert wäre. Die russische Liturgie des orthodoxen Gottesdienstes ging an den Setu vorbei, da sie die Sprache nicht verstanden. Die erste (freilich ebenfalls russische) Volksschule wurde erst 1832 gegründet, also rund 150 Jahre später als im übrigen estnischen Sprachgebiet, so dass es nicht Wunder nimmt, dass 1885 weniger als ein Prozent der Bevölkerung lesen konnte (gegenüber ca. 95 % in Estland und immerhin ca. 28,4 % [1897] in Russland). Eine Verspätung zeigt sich ferner darin, dass die dortige Bevölkerung erst nach der Inkorporierung in Estland und damit ca. 100 Jahre später als die Esten in Estland Familiennamen erhielt. Ein eigenes Zeitungswesen ist nie so recht in Gang gekommen, in den Jahren 1909–1910 wurden 19 Nummern eines Petseri Postimees (Bote von Petseri) in Tartu gedruckt, ehe das zweimal pro Monat herausgegebene Blatt sein Erscheinen einstellen musste. Resultat dieser allgemeinen »Verspätung«

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ist, dass die Schriftkultur weniger dominant ist als im übrigen Estland und die orale Kultur besser bewahrt geblieben ist. Folgerichtig sah man in der Zwischenkriegszeit Setumaa als diejenige Region an, in der man noch die echte Volksdichtung finden konnte. So sehr hierbei eine gewisse nationalromantische Verklärung eine Rolle spielen mag, eines ist nicht von der Hand zu weisen: In diesem Südostzipfel Estlands fand man auch im 20. Jahrhundert noch eine große Zahl Analphabeten und Analphabetinnen, unter denen die alten Volkslieder tatsächlich noch lebten. Sie erfüllen durch ihren anderen Stil eine wichtige soziale Funktion, denn anders als im übrigen Estland, wo die Sängerinnen im Einzelgesang die Lieder vortrugen, bilden die Setu stets eine Art Chor aus zwei oder drei Sängerinnen, von denen eine als Vorsängerin fungiert. Nicht zuletzt hierdurch ist der Variantenreichtum der Melodien viel größer als bei den anderen ostseefinnischen Völkern. Die Liedkultur steht der der baltischen Völker und der Russen recht nahe, gleichzeitig gibt es musikalisch wie inhaltlich bei den Volksliedern auch viele Übereinstimmungen mit der (erza)mordwinischen Volksdichtung. Dies führte beispielsweise 1989 auf einem Musikfestival dazu, dass die mordwinischen Sängerinnen spontan einfielen, als Setu-Sängerinnen ein Lied begannen, weil sie Melodie und Rhythmus als »Eigenes« erkannt hatten. Es ging um ein Hochzeitslied, das eine jede in ihrer Sprache sang (Rüütel 1999, 39). Die Zahl der schreibenden Setu ist demgegenüber vergleichsweise gering; als man in der Zwischenkriegszeit das Land für sich »entdeckte«, konnte man daher nur wenig auf einheimische Literatur zurückgreifen. Auch das Memoirenschreiben gehörte nicht zu den bevorzugten Aktivitäten der Setu. Häufig stützte man sich daher auf Reiseberichte Außenstehender. Hintergrund und Entstehung des Setu-Epos Peko Ein uraltes und in seiner Gesamtheit mündlich von Generation zu Generation tradiertes Epos hat es bei den Setu nie gegeben. Wie der Kalevipoeg (vgl. § 18), der gemeinsam mit dem finnischen Kalevala Vorbild und Ansporn für die Setu war, ist auch das Epos Peko eine Kunstdichtung, die erst in den 1920er-Jahren aufgezeichnet und überdies erst 1995 gedruckt wurde (Hagu/ Suhonen 1995). Anders als beim Kalevipoeg haben wir es hier aber mit dem Vortrag einer Person zu tun, die den knapp 8000 Verse umfassenden Text in einem Stück gesungen hat, weswegen es tatsächlich eine Zwitterstellung zwischen authentischer Volksüberlieferung und romantischer Kunstdichtung einnimmt. Trotzdem ist der Text schwerlich als Epos aufzufassen, da der Inhalt ausgesprochen heterogen ist (s.u.). Hervorzuheben ist ferner, dass die Vortragende Analphabetin war, was wiederum für »echte« Volksdichtung

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Kapitel I: Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung

spricht, denn die Autorin konnte ihr Opus nicht in aller Ruhe komponieren, Passagen überdenken und neu schreiben, sondern hatte den gesamten Text im Kopf. So sind auch einige Ungereimtheiten und Wiederholungen in der Mitschrift des Epos völlig erklärlich. Initiator des Epos war der estnische Folklorist Paulopriit Voolaine, der aus Räpina in Südostestland stammte und frühzeitig in Kontakt mit der alten Volkskultur der Setu geriet. Er studierte Anfang der 1920er-Jahre in Tartu Folkloristik und setzte sich für eine Förderung der Setukultur bzw. der südestnischen Dialektkultur allgemein ein. Hierzu verfasste er zwei Lesebücher mit Dialekttexten (1922, 1924) und reiste mehrmals ins Setugebiet. Dort traf er mit der Volkssängerin Anne Vabarna zusammen, der er 1927 in einem Brief seine Vorstellungen von einem zu schaffenden Setu-Epos mitteilte. Gleichzeitig lieferte er einen Inhaltsaufriss mit, und die Sängerin machte sich alsbald an die Arbeit. Anne Vabarna ist 1878 geboren und war 1914 von dem finnischen Volksmusikforscher Armas Otto Väisänen »entdeckt« worden. Zu jenem Zeitpunkt stand sie noch im Schatten anderer, berühmterer Setu-Sängerinnen, die regelmäßig zum Vortrag eingeladen wurden, und durfte Väisänen daher nur ein paar Liedproben auf den Phonographen diktieren. Noch beim ersten Liederfest der Setu (1922) blieb Vabarna weitgehend unbeachtet; da sie aber ehrgeizig war, bemühte sie selbst sich um Anerkennung und sang 1923 Väisänen 8500 Verse am Stück vor. Damit wurde Väisänen, der schon bei der Aufzeichnung der Melodien auf Wachszylinder Pionierarbeit geleistet hatte, der Entdecker der langen Form (d.h. Dichtungen von über 1000 Versen), denn bis dahin waren nur kürzere Passagen südestnischer Volksdichtung bekannt gewesen. Das längste Lied in Hurts Sammlung hat 546 Zeilen, was sich in der Nähe der normalen Obergrenze für die Lieder der ostseefinnischen Volksdichtung befindet. Längere Epen waren in der Regel zusammengesetzt aus zahlreichen kürzeren Liedern oder allenfalls Zyklen. Väisänens Fund war damit in gewisser Hinsicht für die Folkloristik eine Sensation, wobei nicht verschwiegen werden darf, dass Väisänen selbst auch Anreger für Vabarna war (s. u.). In der Folgezeit wurde Vabarna wiederholt von Folkloristen besucht, und mit ihren inzwischen über 142000 aufgezeichneten Versen – damit ist sie die produktivste Sängerin innerhalb der gesamten finnougrischen Welt – erlangte sie nicht nur unter Folkloristen eine gewisse Berühmtheit, sondern auch offizielle Anerkennung staatlicherseits: Seit 1926 erhielt die Sängerin eine staatliche Pension und wurde damit nach eigenem Verständnis erstmalig für ihre Lieder bezahlt. Dies führte dazu, dass sie auch weiterhin Lieder und Zyklen verfasste, ohne dafür direkte Aufträge bekommen zu haben. Bis ins

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Anne Vabarna

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hohe Alter hinein dichtete sie aus eigenem Antrieb und vielfach auch zu konkreten Anlässen; d.h. auch im 20. Jahrhundert lebte, zumindest im südöstlichen Dialektgebiet Estlands, noch die Gelegenheitsdichtung. Neben dem Zwillingsepos von 1923 (Honko 2003, s.u.) ist das Peko-Epos ihr bekanntestes Werk. Nachdem die Sängerin 1927 das Sujet von Voolaine erhalten hatte, sang sie nach kurzer Vorbereitungszeit ihrem 19-jährigen Sohn Ivo (Jaan) das Epos vor, der es für sie niederschrieb. Voolaine war beim Vortrag nicht anwesend und erhielt später das Manuskript per Post. Da Voolaines ursprünglicher Brief an Vabarna nicht mehr erhalten ist, kann man heute nur noch darüber spekulieren, was er der Sängerin konkret vorgeschlagen hat und wie viel, abweichend von diesen Vorschlägen, auf den eigenen Ideen der Sängerin beruht. Auffällig ist in jedem Fall die Omnipräsenz christlicher Elemente, die gewiss auf Voolaines Vorgaben beruhen, da für die strenggläubig orthodoxe Christin Vabarna der Vorschlag als ganzer ansonsten überhaupt nicht annehmbar gewesen wäre. Neben dem orthodoxen Christentum gab es bei Vabarna auch einen gewissen pietistischen Einfluss, der über Bekannte ihrer Mutter, die der mährischen Brüderschaft verbunden waren, gekommen ist. Deren Gesangstradition weicht von der der orthodoxen Kirche erheblich ab und hat bei Anne Vabarna ihre Spuren hinterlassen (Hagu 2002, 437). Die Symbiose von christlichen und vorchristlichen Elementen im Epos ist ein deutlicher Beweis für die begrenzte Authentizität bzw. Ursprünglichkeit des Epos. Neben alten, urostseefinnischen Motiven finden sich im Epos Passagen, die direkten Nacherzählungen des Neuen Testaments ähneln. Auch gibt es inhaltliche Übereinstimmungen mit dem Kalevipoeg, die auf den Vorschlägen Voolaines beruhen, der seinen Entwurf nicht zuletzt auf Basis des estnischen Epos gemacht hat. Hierbei kann man also von direkten Entlehnungen aus der (nord)estnischen Folklore sprechen, während es andere Elemente gibt, die spezifisch Süd(ost)estnisch sind. Allen voran ist hier die Haupt- und Titelfigur des Setu-Epos zu nennen: Der Peko ist ein allgemeiner Fruchtbarkeitsgott in der Mythologie der Setu und als solcher ein vorchristliches Element. Er ist bei den übrigen Esten unbekannt; Vergleichbares finden wir aber bei den Kareliern und Woten, die sogar ähnliche Bezeichnungen haben (karelisch Pellon Pekko ›Feld-Pekko‹), allerdings war er bei den Kareliern, die für jede einzelne Getreideart einen Gott hatten, beschränkt auf die Gerste (und steht damit im Bezug zum Bierbrauen). Parallele Motive sind auch von den weiter entfernten finnougrischen Verwandten wie den Mordwinen, Udmurten oder Mari bekannt, andererseits sind auch skandinavische und slawische Einflüsse nicht ausgeschlossen. Dargestellt wird der Peko als Wachs- oder Holzfigur bzw. möglicherweise als eine Mischung aus beidem: eine mit Wachs (aus den Kerzenresten) über-

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zogene Holzfigur oder sogar ein Kreuz, was wiederum auf eine spätere Vermischung mit christlichen Elementen hinweist. In jedem Fall war der Peko somit auch ein Götze. Er kommt in der Regel zweimal jährlich, während der Aussaat und der Ernte, zum Einsatz und wird nach einem ganz bestimmten Ritus, dem so genannten »Blutlos«, Jahr für Jahr innerhalb ausgewählter Familien weitergegeben. Dabei wurde folgendermaßen vorgegangen: Bei einer Zusammenkunft nach der Ernte im Herbst wurde der Peko gebührend mit Speis und Trank geehrt. Danach begaben sich die Männer nach draußen und tollten ausgelassen im Hof umher, sprangen über Zäune und rauften miteinander. Wer nun als Erster zu bluten anfing – infolge eines Nasenstübers, eines Zaunnagels o.Ä., Hauptsache, man brachte sich die Verletzung nicht absichtlich zu, das hätte Unglück gebracht –, der war der Peko-Halter für das folgende Jahr. Weil der Kultus vor der (kirchlichen) Macht geheim gehalten werden musste, war es auch im 20. Jahrhundert für Folkloristen noch schwierig, hierüber einigermaßen gesicherte Angaben zu bekommen. Inhaltsaufriss des Setu-Epos Das Epos ist in einem Stück vorgetragen und nicht in einzelne Lieder, Unterkapitel oder Zyklen untergliedert. Wenn es doch derlei Strukturierungen gibt, so sind diese erst von späteren Bearbeitern vorgenommen worden (vgl. Hagu/ Suhonen 1995, 41–91, mit Inhaltsangaben des Epos auf Finnisch, Englisch, Französisch und Russisch). Die Unmittelbarkeit des oralen Vortrags wird daran deutlich, dass manche Passagen zu einem überraschenden Zeitpunkt auftauchen: Hier hat es den Anschein, dass die Sängerin sie vorher vergessen hatte und sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einschob. Direkte Wiederholungen treten nicht auf, sie sind möglicherweise schon von Voolaine selbst eliminiert worden. (Bei der folgenden Inhaltsangabe werden am Ende eines Absatzes oder gegebenenfalls direkt hinter der Nennung einer Passage in Klammern jeweils die Zeilen nach der Ausgabe von Hagu/Suhonen 1995 angegeben.) Nach den Eröffnungsworten der Sängerin (1–20) erfolgt eine Beschreibung der Geburt des Helden Peko, die so schwer ist, dass die Mutter Jesus und Maria zu Hilfe ruft (21–134). Die Nennung von Jesus, der in der Setu-Tradition Essu genannt wird, gleich zu Beginn scheint die Marschroute festzulegen, denn neben Peko ist Essu die zweite Hauptperson des Epos, die vielfältig und aktiv in Erscheinung tritt. So erfolgt beispielsweise die Taufe von Peko durch Jesus selbst (135–280), hierbei werden viele traditionelle Lieder gesungen, in denen die Hoffnung ausgedrückt wird, der Sohn möge groß und stark werden. Dies tritt, wie bei Helden üblich, auch ein, der Sohn wächst schnell heran und steigt nach sechs Wochen aus dem Bett (281–342).

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Es dauert nicht lange, und Peko bittet seine Mutter um Erlaubnis, auf die Freite zu gehen. Sie erlaubt ihm das, und auch sein Vater war nicht dagegen (343–414). Die Mutter träumt dann von einer Stadt, in die ihr Sohn sich begeben müsse, um dort seine künftige Frau Nabra zu treffen (415–540). Es folgt die Brautfahrt von Peko. Die Eltern weinen beim Abschied und bitten den Sohn, er möge sich an die Ratschläge von Jesus und Maria halten. Der Held findet alles so vor, wie seine Mutter es geträumt hatte. Nabra hatte schon auf ihn gewartet und willigt in die Ehe ein, sie verspricht einen Vogel mit der Nachricht zu senden, wann Peko sie holen solle. Ferner wird der Freier reich bewirtet und mit Geschenken für seine Eltern bedacht (541–792). Die Vorbereitungen auf die Hochzeit, bei denen unter anderem Bier gebraut wird, und die Hochzeit selbst werden ausführlich beschrieben, wobei die Sängerin aus dem reichen Schatz der Volkslieder schöpfen konnte. Die Hochzeit ist das übliche große Fest mit all seinen verschiedenen Ritualen, und auch Jesus ist bei der Feier anwesend (793–1278). Im Anschluss daran erfolgt eine Beschreibung des Alltagslebens. Die Landwirtschaft geht dem jungen Paar gut von der Hand, und da auch Nabra mit übernatürlichen Gaben ausgestattet ist, sorgt ihr Gesang für ausreichend Regen für die Felder. Darüber hinaus singt Nabra auch für Saaremaa und Russland Regen herbei (1279–1440). Und dem Paar werden zwei Söhne geschenkt, Jorosk und Merosk, die beide gute Sänger werden, Merosk auch ein guter Musikant (1441–1530). Auch dies kann man übrigens als Hinweis auf die Vermengung verschiedener Traditionen lesen: Normalerweise ist das Singen in dieser Region den Frauen vorbehalten, andererseits müssen männliche Helden der patriarchalischen Tradition zufolge Söhne und keine Töchter zeugen. Dass diese Söhne in der Folge dann aber gute Sänger und nicht etwa gute Krieger werden, macht wiederum den Unterschied zu traditionellen Epen anderer Völker aus. Als nächstes findet Peko beim Gang über ein Feld eine Eichenkeule (kiior), auf der Ziffern und Zeichen eingeritzt sind. Die interpretiert er so, dass er die Keule in einer Truhe aufbewahren und nur dann zum Vorschein holen muss, wenn eine Missernte oder ein Krieg droht. Gegen diese beiden Hauptunglücke bietet die kiior Schutz (1531–1614). Bald darauf erkrankt Pekos Vater und stirbt, obwohl der Sohn ihm zehn Ärzte und allerlei andere Hilfsmittel besorgt hatte. Bei seinem Begräbnis weinen die Fichten und Kiefern (1615–1732). Kurz danach erkrankt auch die Mutter. Sie hatte bereits davon geträumt, dass ihr Mann sie zu sich wünschte, und legt sich in die Sauna zum Sterben nieder, wobei sie von ihrer Schwiegertochter gepflegt wird. Sie teilt ihre letzten Wünsche und Vermächtnisse mit und stirbt (1733–2316). Auf-

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fällig ist hier, dass die Beschreibung von Krankheit und Tod der Mutter das Fünffache von der Beschreibung der gleichen Ereignisse beim Vater einnimmt. Dies weist auf die große Bedeutung der Mutter in der Setu-Folklore hin. Wie die Eltern vorausgesagt hatten, muss Peko wenig später in den Krieg ziehen. Anders als im Kalevipoeg sind die Gegner hier nicht über das Meer gekommene »Eisenmänner«, sondern gar nicht spezifiziert. Es scheint nur um den Krieg als offenbar normales Phänomen oder regelmäßig auftretendes Unglück zu gehen, erst am Ende wird der Gegner beim Namen genannt, und dann sind es interessanterweise eindeutig die Russen. Peko nimmt jedenfalls seine Keule aus der Truhe und zieht wohlgemut davon. Zuvor prophezeit er noch, dass er drei Tage im Krieg bleiben und danach vier bis fünf Tage in seinem Blute liegen werde, ehe er die Familie um Hilfe bitten würde. Im Gegenzug prophezeit ihm eine Kerze, dass er nach seiner Rückkehr zum König gekrönt wird. Ferner hatten ihm Jesus und Maria im Traum angekündigt, dass man die Jungen Peeter, Paavel und Ants sowie die Mädchen Anne, Katre und Hedo als Hüter ins Haus holen werde, sobald sich Nabra mit ihren Söhnen auf die Suche nach ihrem Mann begibt. Die Familie begleitet Peko noch ein Stück des Wegs, bis sie an eine Höhle gelangen, wo Peko die Seinen zurückschickt. Diese Höhle verlässt er erst, nachdem ein Sperling ihm die Botschaft übermittelt hat, dass kein Geringerer als Jesus selbst auf seinen Eintritt in den Krieg warte (2317–2732). Im Kampf weist Peko zunächst alle Züge eines übermächtigen Helden auf, der mit seiner Wunderkeule die Feinde tötet wie Fliegen und auch mit dem Schwert tagelang die Mächtigen und die Könige der Feinde tötet (2733– 2934). Erst als er sich nachts schlafen legt, rauben ihm die Feinde das Schwert und umzingeln Peko. Diesem gelingt es aber, mit seinen Gegnern zu verhandeln und ihnen glaubwürdig zu versprechen, ihr Land reich zu machen, woraufhin sie ihr Opfer einstweilen schlafen lassen (2935–3014). Nun begibt sich Nabra mit ihren Söhnen wie abgemacht auf die Suche nach Peko. Merosk bleibt auf halbem Wege in Pekos Höhle, Nabra und Jorosk ziehen weiter an die Front, wo sie Peko bald finden. Jorosk und Peko gelingt die Flucht, doch stolpert Jorosk dabei und wird von den Feinden ermordet. Nabra wird währenddessen gefangen genommen und nur unter der Bedingung am Leben gelassen, dass sie Kriegslieder über die russische Armee singt. So zieht sie dann singend von Haus zu Haus, während Jesus und die Engel sie jeden Tag besuchen und ihr Neuigkeiten von Zuhause berichten (3015–3368). Damit endet der Auftritt von Nabra im ganzen Epos. Nun trauert Peko um seinen gefallenen Sohn. Die Wunderkeule rät ihm, sich in seine Höhle zu begeben, wo ihn sein anderer Sohn erwarte. Diesem

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berichtet Peko von Jorosks Schicksal. Dann tritt Jesus wieder auf den Plan und rät Merosk nach Hause zu gehen, wo er eine der Haushüterinnen zur Frau bekommen könne. Gleichzeitig beruhigt er Peko: Dieser solle sich um Jorosk keine Sorgen machen, den werde er schon in den Himmel bringen. Schließlich krönt Jesus Peko zum Gott der Setu und zum Gott des Feldes (Nurmekuningas) (3369–3662). Merosk befolgt Jesus’ Rat und hält um Annes Hand an. Anne willigt ein, nachdem sie Zustimmung von Jesus persönlich erhalten hat. Um diese Zustimmung einzuholen, hatte sie Jesus aufgesucht und eine Nacht in seinem Haus verbracht. Beim Abschied beschenkt Jesus sie mit Gold, Silber, einer Kuh und Ernteglück. Die Trauung, die Jesus vornimmt, findet in aller Stille statt, da der Bräutigam noch voller Trauer über den Verlust seines Bruders ist (3663–4172) Nach der Hochzeit besucht das junge Paar Peko in dessen Höhle und fordert ihn auf, nach Hause zu kommen. Peko schlägt das Angebot aber dankend aus und sagt, er habe als Herrscher zu viel zu tun und keine Zeit. Wohl aber werde er für Wohlstand und Wachstum sorgen, denn dafür habe er schließlich die Wunderkeule (4173–4255). Nach der Abreise des jungen Paares begibt sich Peko zum berühmtesten Schmied in der Gegend und lässt sich ein neues Schwert machen. Während in der Schmiede gearbeitet wird, begibt sich der Held mit seiner Wunderkeule auf die Jagd und säubert den Wald von wilden Tieren. Die Felle der erlegten Bären und Rentiere bringt er seinem Sohn. Als das Schwert fertig ist, hebt er es auf wie eine Fliege, obwohl alle Schmiede gemeinsam es nicht haben tragen können. Den Schmieden verspricht er, dass ihre Felder in Zukunft nicht mehr von Rentieren und Bären heimgesucht werden, und wie zur Bestätigung dessen setzt er seine Jagd noch fort und verteilt die Beute unter den Armen (4256–4540). Sodann folgt eine Beschreibung von Peko als Feldkönig. Er waltet seines Amtes, indem er im Frühjahr mit seiner Wunderkeule zum Feldrand geht und, wie ihm der Vater befohlen hat, auf das Getreide weist, das daraufhin aufs beste gedeiht. Im Herbst gibt es eine reiche Ernte, allgemeiner Wohlstand stellt sich ein, und ein jeder ist voll des Lobes und des Dankes für Peko (4541–4642). Nun macht sich Peko allmählich Gedanken über sein Grab und bittet vorsorglich die Schmiede an seinen Rippen Maß zu nehmen, denn sie sollen nach seinem Tode eine eiserne Rippe für das (zu bauende) Kloster schmieden. Neben der Klosterkirche solle ein Standbild errichtet werden, an dem die geschmiedete Rippe befestigt werden solle. Die Schmiede machen sich an die Arbeit (4643–4780). Danach hat Peko einen Traum, dessen Inhalt er dem Volk auf einem Berge stehend mitteilt. Hier kommen erneut christliche Parallelen ins Spiel, in diesem Falle die Bergpredigt des Matthäus-Evangeliums,

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wenngleich es da um Fingerzeige und praktische Ratschläge geht, während Peko hier seinem Volk lediglich auf Basis seiner Träume die Zukunft weissagt. Da ist dann die Rede von Eisenbahnen, Telefon und Radio, aber auch von den künftigen Verbannungen der Setu nach Sibirien. Des weiteren trägt Peko seinem Volk auf, ein Kloster mit stolzen Kirchen zu bauen an dem Ort, an dem er begraben werden wird. Dabei sollen seine Haare auf den Sarg gelegt werden, und an seinen Namen möge man sich erinnern, dann wolle er sich noch aus dem Grab heraus um die Menschen kümmern. Zum Schluss steckt er seine Wunderkeule kurz in ein Loch im Boden, woraufhin ihr geschwind kluge Wurzeln wachsen. Diese Wurzeln werden sodann eingepflanzt, und Peko prophezeit, dass wenn die Blätter dieser Eiche grünen, ein Krieg kommen werde, in dem Bruder gegen Bruder kämpfe. Dann müsse man seinen Namen anrufen, und er werde kommen und den Krieg beenden. Gleichzeitig hofft Peko, dass die Eiche solange Bestand habe, wie Leben auf der Erde sei (4781–5086). Nun bereitet der Held sich auf seinen Tod vor. Er hofft, dass diejenigen, die an seine Stelle treten, große Herren und Kaufleute würden, und legt sich zum Sterben hin. Drei Engel kommen und kleiden ihn an. Auch Jesus weint und sagt, bald werde der Moment kommen, an dem auch er nicht mehr auf Erden weile, weil man ihn ans Kreuz schlagen werde. Nach Pekos Tod verschließen Jesus’ Knechte sein Grab mit einem goldenen Schloss und einem silbernen Schlüssel. Jesus schreibt auf das Schloss, dass die Tür für alle Zeiten geschlossen bleiben müsse und man an dieser Stelle eine Kirche bauen solle. Zum Begräbnis kamen die Setu aus sechs verschiedenen Richtungen (5087–5262). In einem abschließenden Lied erfolgt der Bau des Klosters mit einer goldenen Kuppel. Wunschgemäß wird Pekos Sarg in der Mitte der Klosterkirche aufgestellt und am Eingang die geschmiedete eiserne Rippe befestigt (5263–5378). Damit ist die eigentliche Handlung vorbei, und es folgt ein heterogener Schlussteil, den die Zusammensteller im Nachhinein mit »Epilog« überschrieben haben, der aber mit über 2600 Versen beinahe ein Drittel des Gesamtepos einnimmt. Man darf die Vermutung äußern, dass die Sängerin im folgenden Teil ihrer Phantasie freien Lauf ließ, nachdem sie die inhaltlichen Vorgaben von Voolaine abgearbeitet hat, denn die nun folgenden Teile können schwerlich auf Voolaines Brief beruhen, da es sich zu einem Großteil um Jesuslegenden handelt. Pekos Vorhersagen bewahrheiten sich, und die Sängerin, die nun selbst in Erscheinung tritt, backt am Erntetag Brote, von denen sie einen Teil den Armen gibt und einen Teil auf den Sarg von Peko legt (5379–5450). Dann

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folgen mehrere Zyklen aus dem Leben Jesu, erst die Heilung eines Kranken (5451–5508), dann die Belehrung eines pflügenden Mannes (5509–5550) und Jesu Verrat und Tod (5551–5628). Dies ist mehr oder weniger eine Nachdichtung des biblischen Stoffes. Weiter geht es mit der Erfüllung von Pekos Prophezeiungen, die bis ins Detail hinein stimmen, auch bezüglich des großen Krieges, von dem er beim Pflanzen der Eiche gesprochen hatte. Nun beweint so manche Braut ihren Bräutigam, so manches Kind seinen Vater. Jesus – der plötzlich wieder unter den Lebenden weilt, dies ist eine von mehreren Inkonsequenzen innerhalb des Epos, die die Oralität bzw. Authentizität unterstreichen, beweisen sie doch, dass Vabarna nicht in der Lage war, ihr Werk im Nachhinein zu bearbeiten oder zu redigieren – seufzt, dass Peko nicht mehr lebt und dem Krieg ein Ende bereiten kann. Nun sind alle Beteiligten gleich stark, so dass Jesus selbst eingreifen muss. Er sorgt für Frieden, und alle sind froh und glücklich. Das Kloster ist unbeschädigt geblieben, und die Männer freuen sich, dass sie fortan nicht mehr so lange zum Militär einrücken müssen, sondern die Dienstzeit sich stark verkürzt hat (5629–6234). Hier sind erneut Bezüge zur aktuellen historischen Situation eingebaut worden. Das setzt sich fort mit einer Beschreibung von Sibirien (6235–6760), wohin im 19. Jahrhundert viele ausgewandert sind. Am Ende werden noch allgemeine Informationen über das Leben von früher gegeben, ohne dass ein direkter Zusammenhang zum vorangegangenen Teil ersichtlich wäre. Sodann folgt ein über 600 Verse umfassender Zyklus, der innerhalb der estnischen Folklore als das »Lied vom Mädchen im Mond« oder die »Geschichte von Luko« bekannt ist. Hierbei geht es um ein Waisenkind und sein in der Folklore übliches hartes Schicksal, das damit endet, dass es trotz seiner Schönheit nicht verheiratet wird, weil die Stiefmutter lieber ihre eigene Tochter an den Mann bringen will. Luko, so ihr Name, klagt ihr Leid dem Mond und bittet ihn, sie zu sich zu nehmen, was dieser auch tut. Seitdem leuchtet, wenn schönes Wetter ist, das schöne Waisenmädchen Luko auf eine Hälfte der Welt hinab. Ohne direkten Bezug zum Rest des Epos ist an dieser Stelle also eine klassische Ursprungssage eingeflochten worden (6761–7384). Weiter geht es dann mit Mitteilungen über das frühere Leben, so dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass die Sängerin hier den Faden wieder aufnahm, den sie verloren hatte, als sie mit ihrem Zyklus vom Mädchen im Mond begann. Jedenfalls ist auch dies wieder eine anschauliche Illustration ihres Vortrags und ein weiterer Beweis für die mündliche, unredigierte Überlieferung (7385–7444). Gleiches gilt für die abschließenden Passagen über Jesus auf der Flucht vor bösen Männern (7445–7696), über sein Festsetzen der Fasten (7697–7750) und seine Hilfe für die Fischer

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(7751–7898). Sie sind teilweise erneut verbunden mit Ursprungssagen über Bäume und Tiere. Abgeschlossen wird das Epos mit den üblichen Schlussworten der Sängerin (7899–7982). Wirkung und Wertung des Setu-Epos Man kann schwerlich behaupten, dass das Epos eine auch nur annährend dem finnischen Kalevala oder dem Kalevipoeg vergleichbare Wirkung erzielt hätte. Schon die Bezeichnung des Textes als »das« Epos der Setu erscheint vermessen, da es kaum einen Platz im allgemeinen Bewusstsein der Setu haben dürfte. Allein die Hauptfigur, Peko, erfreut sich als König der Setu eines breiteren Bekanntheitsgrades, und einzelne von Anne Vabarna verwendete Zyklen sind ebenfalls verbreitet. Trotzdem kann man noch lange nicht von einem echten Epos der Setu sprechen, weil einige entscheidende Kriterien inhaltlicher, kompositorischer und rezeptioneller Art hierzu fehlen. Um beim Letzten zu beginnen: Das Epos wurde 1927 abgefasst, sein Inhalt in einer wissenschaftlichen Zeitschrift kurz referiert und danach weitgehend dem Vergessen anheimgestellt. Seine Publikation 1995 erfolgte weitab vom Ort seines Ursprungs im Rahmen einer wissenschaftlichen Serie im finnischen Kuopio und war zu jenem Zeitpunkt auch für die Setu selbst eine Überraschung und sicher nicht die Veröffentlichung eines im kollektiven Bewusstsein vorhandenen Textes. Die formale Übereinstimmung beim Erscheinungsort mit dem estnischen Nationalepos, dessen erste Volksausgabe 1862 ebenfalls in jener finnischen Provinzhauptstadt erschien (vgl. § 18), kann dabei wohl kaum mehr als groteske, wenn auch möglicherweise gewollte, Koinzidenz angesehen werden. Auch ein gutes Jahrzehnt nach seiner Veröffentlichung spielt das Epos nicht die verbindende Klammer für das sich allmählich herausbildende Gemeinschafts- und Identitätsgefühl der Setu, sondern wird eher vorsichtig als ein mögliches künftiges Symbol einer kulturellen Identität der Setu angesehen (vgl. Honko 2003, 153). In inhaltlicher Hinsicht fällt das Epos hinter seine großen »Brüder« zurück. Zwar ist der Held und König Peko die bestimmende Figur, jedoch ist sie weniger autonom als die vergleichbaren Helden des finnischen oder estnischen Epos und viel mehr von einem anderen, nämlich Essu, abhängig. Mit dieser Setu-Version von Jesus kommt zwar eine für die Setu-Kultur bedeutsame Figur ins Spiel, nur ist dies kein Setu-Spezifikum, sondern gemeineuropäisches, d. h. christliches Erbe, das in vielen Kulturen eine mehr oder weniger starke Rolle spielt. Der für umfangreiche Epen charakteristische Eklektizismus wird bei Anne Vabarnas Text überdeutlich. Allerdings ist die Verknüpfung von christlichen und heidnischen Elementen etwas für die Setu-Kultur Spezifi-

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sches und nicht allein eine Vorliebe der Sängerin. Auch andere Aspekte machen den Unterschied zur übrigen estnischen Folklore aus: Die Hauptfeinde bzw. schlauesten Gegner, denen sich der Held im Kriege ausgesetzt sieht, sind nicht über das Meer gekommene Eisenmänner, sondern ganz konkret die Russen. Deren Einfluss ist zudem bei der Darstellung des Krieges spürbar, da klassische Kriegslieder im Estnischen fehlen. Alles in allem stand auch diese inhaltliche Uneinheitlichkeit einem durchschlagenden Erfolg des Epos im Wege. In kompositorischer Hinsicht schließlich hebt sich das Epos aus dem einfachen Grund von den Schöpfungen Lönnrots und Kreutzwalds ab, dass sich die Zeiten geändert hatten und man an einer der Romantik verpflichteten stringenten Durchkomponierung des Stoffes nicht mehr interessiert war. Im Gegenteil, als Voolaine sich an die Arbeit machte, war das estnische Epos gerade heftiger Kritik ausgesetzt gewesen, weil gewisse literarische Kreise Kreutzwalds Werk Gekünsteltheit und Unnatürlichkeit vorwarfen. Mittlerweile war man viel stärker an »echter« Volksdichtung interessiert, und die konnte man nur im naturgetreuen Transkribieren eines mündlichen Vortrags erhalten. Es bleibt somit dahingestellt, ob sich Anfang der 1920er-Jahre eben gerade keine passende Person – wie Lönnrot und Kreutzwald es ein knappes Jahrhundert vorher waren – gefunden hatte, die das Material zu einer neuen Einheit umgeschmiedet hätte, oder ob man aufgrund folkloristisch-wissenschaftlichen Interesses gar nicht mehr auf die geschmeidige Form einer verklärenden Romantik aus war. Denn das authentische und holprige Endergebnis entsprach viel stärker den Erfordernissen der Zeit. Andere Dichtung von Anne Vabarna Das besondere Interesse estnischer und finnischer Folkloristen an dieser in relativer Abgeschiedenheit länger als im übrigen ostseefinnischen Gebiet bewahrt gebliebenen Volksdichtung sowie die Produktivität einer außergewöhnlichen Sängerin wie Anne Vabarna führten dazu, dass noch eine Reihe von anderen Dichtungen der Setu-Sängerin publiziert worden ist. Sie sind teilweise auf äußere Anregung, teilweise aus eigenem Antrieb verfasst worden. In erster Linie ist hier das Zwillingsepos zu nennen (Honko 2003), das Väisänen 1923 aufgezeichnet und in Übereinstimmung mit der Sängerin minimal bearbeitet hatte. Es stellte den ersten großen Wurf der Sängerin dar. In diesem 6621 Verse umfassenden Text sind neben einem Prolog über 50 traditionelle Hochzeitslieder zu einem Zyklus Suurõ’ saja’ (Die große Hochzeit) verbunden, dem unmittelbar N’eijo koolulaul (Die Totenklage des Mädchens) folgt. Ursprünglich wollte Vabarna nur die Totenklage singen, doch hat ihre

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Tochter bemerkt, sie könne dem finnischen »Onkel« doch nicht etwas so Trauriges vorsingen. Daraufhin änderte Vabarna ihr Konzept und fügte den wesentlich längeren Hochzeitszyklus hinzu. Die 80 Jahre später erfolgte gedruckte Version trägt dem Rechnung, indem im Titel die Totenklage an erster Stelle steht. Verbindendes Element ist in jedem Fall die Brautwerbung und die Klage, denn im zweiten Teil hat das Mädchen den Freitod gewählt, um unliebsamen Freiern zu entkommen, und ihre Freundinnen bzw. ihre Mutter beweinen nun ihren Tod. Auch im ersten Teil sind zahlreiche Klagelieder enthalten (ca. 10 % des Hochzeitszyklus), die bei den Setu – im Gegensatz zu den übrigen Esten – Bestandteil des Hochzeitsrituals ausmachen. Denn die Braut muss das Haus verlassen, unter Umständen muss sie einen nicht von ihr selbst gewählten Mann heiraten u.Ä. Im Weiteren haben wir es dann mit einer ausführlichen Beschreibung der verschiedenen Hochzeitsbräuche zu tun. Die Kombination dieser beiden Liederzyklen zu einem Ganzen macht den besonderen Wert dieses Epos, das innerhalb der Setu-Folklore einmalig ist, aus. Indem sie die beiden Alternativen nebeneinander stellt, fragt die Sängerin, welche der beiden Lösungen besser ist und ob es für ein junges Setu-Mädchen wirklich keine andere, dritte Möglichkeit gibt. Von den weiteren Dichtungen Vabarnas sind der zweite Teil ihres Epos Peko zu nennen, den sie auf Andringen Voolaines, aber ohne dessen direkte Vorlage oder Richtlinien verfasst hat, und der Vers-Roman Ale, der über 10 000 Verse enthält und wie Peko auf direkte Anregung von Voolaine, der diesmal auch eine Handlungsskizze entworfen hatte, verfasst worden ist. Die Fortsetzung des Peko ist 1929 entstanden und von Vabarnas damals 15-jährigem Sohn Mihkel aufgezeichnet worden. In 4320 Versen wird hier von allerlei Taten Pekos berichtet, ohne dass eine kompakte Gesamtheit erreicht würde. Stattdessen werden in loser Komposition verschiedene Lieder geboten, deren einziges verbindendes Element Peko ist, wobei die Sängerin manche Originaldichtungen auch abgewandelt und Peko gewaltsam in vorhandene Zyklen, in denen er eigentlich keine Rolle spielte, integriert hat. Auch trägt diese Fortsetzung deutliche Elemente von Gelegenheitsdichtung, wenn zum Beispiel von Amerika und Ungarn die Rede ist: Esten aus Amerika hatte Vabarna 1928 in Tallinn getroffen, und ebenfalls in den 1920er-Jahren war eine Ungarnreise geplant, die jedoch nicht zustande kam. Auch aufgrund dieser Heterogenität ist der zweite Teil nicht in die Edition von 1995 aufgenommen worden (vgl. Hagu 2002, Voolaine 1930). Der Vers-Roman Ale beruht allem Anschein nach – der Brief ist nicht erhalten – vollständig auf Voolaines Handlungsrahmen und ist im Herbst 1927 innerhalb von nur sechs Wochen von Vabarnas Sohn Ivo niedergeschrieben worden. Es ist die Lebensgeschichte eines jungen Setu-Mannes namens Ale,

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der heranwächst, Hirte wird und erfolgreich zur Schule geht. Er ist brav und eifrig und überdurchschnittlich gut, so dass er es bis zur Universität bringt. Nach einiger Zeit erfolgt die Verlobung mit Taadsi, die seine Gasteltern, bei denen er auf dem Bauernhof Geld verdiente, eingefädelt haben. Nun tritt aber der Teufel auf den Plan und streut Gerüchte aus, denen zufolge Ale sehr arm sei, was Taadsi samt ihrer Mutter von ihm entfremdet. Gleichzeitig taucht in der Gestalt des reichen Kaadsi ein Konkurrent auf, der Taadsi verführt und sofort mit ihr zu deren Eltern fährt und um ihre Hand anhält. Der Vater, der Ale die Treue gehalten hatte, lässt sich von Frau und Tochter herumkriegen und verspricht dem Werber seine Tochter. Es folgt eine ausführliche Hochzeitsbeschreibung im Setu-Stil, allerdings begleitet von bösen Omen. Nach der Eheschließung erschleicht sich Kaadsi die Unterschrift von seiner Frau und erhält den kompletten Zugriff auf ihren Reichtum, den er alsbald in Kneipen und Bordells zu verprassen beginnt. Taadsi trifft sich heimlich mit Ale und beklagt ihren Eltern gegenüber ihr Schicksal. Im weiteren Verlauf bringt Kaadsi durch seinen Lebenswandel Haus und Hof und das Erbe seiner Frau durch. Schließlich zieht er mit Taadsi in die Stadt, um dort einen Laden zu öffnen, bleibt unterwegs aber im Wirtshaus hängen, betrinkt sich und schlägt danach zum wiederholten Male seine Frau. Dies geschieht aber bereits im Wald, wo Ale plötzlich auftaucht und seine ehemalige Braut aus den Fängen ihres Mannes errettet. Der trollt sich in die Stadt und klagt darüber, dass Ale ihm seine Frau genommen habe. Taadsi ihrerseits dankt Ale für ihre Errettung, bittet ihn um Verzeihung, dass sie ihn nicht geheiratet habe, und ertränkt sich. Daraufhin verliert Ale den Verstand und wird in eine Anstalt eingeliefert; Kaadsi bereut seine Tat und säuft sich zu Tode, so dass der Teufel seine Seele bekommt. Taadsis Eltern sterben vor Kummer, Ales Eltern warten auf die Rückkehr eines gesunden Sohnes (vgl. Hagu 2002, 447f. und Voolaine 1928a; der gesamte Text ist auch über www.folklore.ee zugänglich). Der Text kann nur als Auftragsarbeit verstanden werden, die bis auf die ausgebreiteten Hochzeitslieder wenig authentisches Material enthält. Der moralisierende Grundton und die Propaganda gegen Alkoholmissbrauch entsprechen ganz der Stimmung der Zeit und haben mit der Folklore der Setu nur wenig gemeinsam. Auch die späteren Dichtungen von Vabarna beruhen nur in Teilen auf der Volksdichtung und sind viel stärker von der Sängerin, die zusehends und bewusster zur Dichterin wird, komponiert. So behandelt Ivvan Hirmus (Ivan der Schreckliche) eine historische Begebenheit aus dem Jahre 1570, als Ivan IV. das Petseri-Kloster besuchte und den dortigen Abt Kornelius ermordete; weitere Lieder behandeln systematisch einige Bäume (Eiche, Birke, Kiefer, Fichte, Wacholder) und die Elemente Wind,

§ 8 Zum Alter und zur Forschungs- und Überlieferungsgeschichte

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Feuer und Wasser. Mitte der 1930er-Jahre hörte Vabarna ganz mit dem Dichten auf, wohl auch weil die Aufnahme ihrer letzten Lieder weniger begeistert war. Außerdem trat sie zunehmend auf Festivals auf, wo man nur kürzere Lieder vortragen konnte.

§ 8 Zum Alter und zur Forschungs- und Überlieferungsgeschichte der estnischen Volksdichtung Die Form des älteren Volkslieds Auch wenn es aus der ältesten Zeit der Entstehung der estnischen Volksdichtung keine direkten Überlieferungen gibt, da die ersten Sprachdenkmäler erst aus dem 13. Jahrhundert stammen (vgl. § 9), lassen sich durch den Vergleich mit der oralen Tradition der benachbarten Sprachen und Völker Rückschlüsse auf das Alter der Volksdichtung bzw. zumindest einiger ihrer Gattungen ziehen. Der wichtigste Anhaltspunkt ist die poetische Struktur der Volkslieder. Deren feste Form – Alliteration, Trochäus und Parallelismus – findet sich in beinahe allen ostseefinnischen Sprachen. Lediglich im Wepsischen und Livischen, am Nordost- und Südwestrand des ostseefinnischen Sprachgebiets, fehlt diese Versform nahezu völlig bzw. ist, wie im Falle des Wepsischen, auf Alliteration und Parallelismus reduziert. Ob das Fehlen des besagten Metrikschemas eine Folge der intensiveren Kontakte mit dem Russischen bzw. Lettischen ist und verloren gegangen ist, oder ob umgekehrt die Verhältnisse im Wepsischen einen Hinweis auf eine noch ältere Form darstellen und der Trochäus eine im Kerngebiet des Urostseefinnischen entstandene Innovation ist, die die äußeren Ränder nie erreicht hat, ist dabei von untergeordnetem Interesse. Entscheidend ist, dass die Form offenbar schon bestand, als die Aufspaltung der ostseefinnischen Einzelsprachen noch nicht vollzogen war. Damit dürfte die älteste Schicht etwa 2000 Jahre alt sein, da nach der communis opinio der Sprachwissenschaft die Trennung in die ostseefinnischen Einzelsprachen vor der Zeitenwende stattgefunden hat. Diese Zeitangabe wird unterstützt durch die phasenweise archaische Sprache der älteren Volksdichtung. Im heutigen Estnisch erloschene Formen, deren ehemaliges Vorhandensein in der Sprache man aber auf Basis des Vergleichs mit den verwandten Sprachen als gesichert betrachten kann, sind vereinzelt noch in der Volksdichtung nachweisbar. So sind im modernen Estnisch die Possessivsuffixe (die aus den meisten anderen finnougrischen Sprachen nicht wegzudenken sind) verschwunden, aber in der Volksdichtung tauchen sie

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noch hier und da auf; ähnlich verhält es sich mit einem ausgestorbenem Modus, einem Kasus und dergleichen mehr. Von den anderen finnougrischen Sprachen verfügt allenfalls das Mordwinische, das die dem Ostseefinnischen am nächsten stehende finnougrische Sprachgruppe ist, über eine vergleichbare poetisch-metrische Struktur, jedoch liegen hier andere Betonungsverhältnisse vor: Die Betonung ist im Erzamordwinischen irrelevant, im Mokschamordwinischen wechselnd in Abhängigkeit von der Qualität des Vokals. Beide Metriksysteme sind syllabisch, in beiden Sprachen fehlt die für das Ostseefinnische so charakteristische Quantitätskorrelation, d.h. die Unterscheidung von kurzen und langen Vokalen und Konsonanten. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass die Entwicklung im Mordwinischen anderweitig erklärt werden kann, denn für die angesetzte finnougrische Ursprache nimmt man durchaus Erstsilbenbetonung an, aber das Fehlen des Versmaßes in allen anderen finnougrischen Sprachen macht ein noch höheres Alter unwahrscheinlich. Zu denken gibt auch, dass im Saamischen, das ebenfalls dem Ostseefinnischen recht nahe steht und zudem in dessen unmittelbarer Nachbarschaft gesprochen wird, in der traditionellen Volksdichtung gleichfalls eine völlig andere Form vorherrscht: Der weitgehend auf das Saamische beschränkte Joik, der höchstens noch bei den Kareliern bekannt ist, ist in erster Linie musikalisch definiert, das Textelement nimmt eine untergeordnete Position ein und lässt sich nicht mit dem Befund des Estnischen und Finnischen in Einklang bringen. Wenn die poetische Struktur der estnischen Volkslieder also auf das Ostseefinnische beschränkt ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die in gemeinostseefinnischer Zeit erfolgte Innovation auf externen Einfluss zurückzuführen ist. Hierbei hat man an das Baltische (die Vorform des heutigen Lettisch und Litauisch) gedacht, doch beschränken sich die möglichen Übereinstimmungen auf das Lettische, während im Litauischen völlig andere prosodische Verhältnisse anzutreffen sind. Es ist näher liegend, beim Lettischen eine estnische bzw. ostseefinnische Beeinflussung anzusetzen, zumal das Lettische auch die Erstsilbenbetonung von seinen nördlichen Nachbarn übernommen hat. Da auch im Germanischen und Slawischen andere metrische Gegebenheiten vorliegen, ist einstweilen von einer eigenständigen ostseefinnischen Neuerung auszugehen. (Vgl. Korhonen 1987 bzw. 1994, Leino 1994) Schließlich gibt es einige inhaltliche Anhaltspunkte, die auf ein hohes Alter deuten. Neben christlichen Motiven, die schwerlich älter als ein knappes Jahrtausend sein dürften, finden sich Namen und andere Elemente in der estnischen Volksdichtung, die man aus dem Finnischen kennt und die als gemeinsames Erbe, das vor der Aufspaltung in die heutigen ostseefinnischen

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Einzelsprachen entstanden ist, angesehen werden müssen. Hierzu zählen der erwähnte Weltentstehungsmythos aus dem Ei (vgl. § 6) und der Name Kalev, der sowohl in den zahlreichen Sagen vorkommt, auf deren Grundlage Kreutzwald später sein Epos Kalevipoeg (vgl. § 18) geschaffen hat, als auch als Namensgeber der mythischen Landschaft Kalevala fungiert, die die Heimstatt des weltberühmten finnischen Epos geworden ist. Weitere gemeinsame uralte Stoffe wären etwa der Bau der Kantele (ein fünfsaitiges traditionelles Musikinstrument der Finnen und Esten) aus dem Kiefer eines Lachses oder die Mythen von der Großen Eiche und dem Großen Ochsen. Erste Zufallsaufzeichnungen Vereinzelte Mitteilungen über alte estnische Bräuche oder Volkslieder findet man bereits in mittelalterlichen Chroniken (etwa in der Novgoroder Chronik oder bei Saxo Grammaticus, vgl. den erschöpfenden Überblick bei E. Laugaste 1963), und die ersten Sprichwörter sind in einer Randbemerkung in einem handschriftlichen Rechnungsbuch des 16. Jahrhunderts vermerkt. Die ersten längeren Aufzeichnungen, die folkloristisch relevant sind, erschienen dann im 17. Jahrhundert. Ursache hierfür war nicht etwa ein plötzlich aufkommendes Interesse an alten Überlieferungen und Traditionen, sondern das Bestreben der lutherischen Kirche, der im zentralistischen schwedischen Staatsapparat eine bedeutende Rolle zukam, das Christentum unter den Esten zu erneuern und fester zu verankern. Dazu musste man die immer noch lebendigen heidnischen Praktiken der Esten bekämpfen, was wiederum erforderlich machte, dass man sich erst einmal einen Überblick über sie verschaffte. Dies wurde von den Geistlichen tatsächlich geleistet. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass es auch im 17. und 18. Jahrhundert – ganz der gesamteuropäischen Tradition entsprechend – noch Hexenprozesse gegeben hat, in denen den Angeklagten die finstersten Rituale zur Last gelegt wurden. Mehr noch als im übrigen Europa florierte in jener Zeit auch die Werwolfthematik. Das erste Buch stammt von Johann Gutslaff (auch Gutsleff ), der Pastor in Urvaste war und als Verfasser einer Grammatik (vgl. § 11) bekannt ist. Sein Kurtzer Bericht und Unterricht von der Falschheilig genandten Bäche in Lieffland … (Dorpat 1644, das Buch galt eine Zeit lang als verschollen und ist heute eine Rarität, vgl. L. Kõiv 2003) war eine über 400 Seiten starke Abhandlung über estnische Volksbräuche und enthielt die erste Aufzeichnung einer estnischen Beschwörungsformel bzw. eines Gebets an einen Flussgott (Piksepalve). Gutslaffs Feldzug gegen den estnischen Aberglauben – denn als nichts anderes muss man das geschickt und rational argumentierende Buch, das als

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frühaufklärerisch bezeichnet werden kann, interpretieren – hatte einen konkreten Anlass: In seiner Gemeinde wurde 1642 eine Mühle zerstört, weil die Bauern die Anstauung des Wassers für schädlich und verantwortlich für die Missernte im vorangegangenen Jahr hielten. Der Fluss war heilig, dem Flussgott musste zur Vermeidung eben solcher Missernten bisweilen ein Ochse geopfert werden, und wenn das dreimal nicht geholfen hatte, angeblich sogar ein Kind. Letzteres ist zwar in den Bereich der Fabelwelt zu verweisen, weil uns über Menschenopfer keinerlei andere ernst zu nehmenden Quellen vorliegen, aber des ungeachtet enthielt Gutslaffs Buch viel Informationen über rituelle Handlungen im 17. Jahrhundert. Damit ist es eine der wichtigsten Quellen über den estnischen Volksglauben jener Zeit. In den Grammatiken des 17. Jahrhunderts (vgl. § 11) wurden immer wieder vereinzelt auch Rätsel und Sprichwörter verzeichnet. Das nächste eigenständige Werk, das sich erneut ausschließlich mit dem estnischen Volksglauben befasste, war Johann Wolfgang Boeclers (vgl. § 12) Der einfältigen Ehsten abergläubische Gebräuche, Weisen und Gewohnheiten … (Reval 1685). Tatsächlich handelte es sich hier um Material, das Johann Forselius gesammelt hatte und nach dessen Tode mit wenigen Hinzufügungen von Boecler unter eigenem Namen herausgegeben wurde. Diese schmale Büchlein (48 Seiten) enthielt wertvolle Informationen zu den nicht-kirchlichen Ritualen der Esten und war für Amtsbrüder von Boecler, der u.a. von 1674 bis 1689 Pastor in Kuusalu war, gedacht. Da es aber auch unsittliche und in damaligen Augen obszöne Passagen enthielt, wurde es kurz nach Erscheinen völlig vernichtet, so dass heute nur noch zwei Exemplare erhalten sind. Das erste Volkslied wurde 1695 in dem als »Kelchsche Chronik« bekannten Werk Liefländische Historia von Christian Kelch gedruckt. Durch die relativ weite Verbreitung dieses bald als Standardwerk geltenden Buchs ist auch das hierin enthaltene estnische Volkslied vielfach abgeschrieben und zitiert worden. Im 17. Jahrhundert finden wir ferner noch Reiseberichte, die am Rande die Esten behandeln und dann manchmal etwas über deren (merkwürdige) Bräuche mitteilen. Im 18. Jahrhundert nahm die Zahl der verstreut erschienenen Proben aus der estnischen Volksdichtung einerseits zu, weil die Buchproduktion angestiegen war und in den Kalendern immer wieder Sprichwörter oder Rätsel abgedruckt wurden (vgl. § 13), andererseits wirkte sich die Aktivität der Herrnhuter (vgl. § 12) insofern negativ aus, als diese vehement gegen alles auftraten, was nicht ihrer wahren Lehre entsprach. Viele Anhänger der Brüdergemeine vernichteten daraufhin aus heutiger Perspektive wertvolles volkskundliches Material.

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Erste umfangreichere und wissenschaftliche Sammlungen Für lange Zeit beinhaltete die 1732 erschienene Grammatik von Anton Thor Helle (vgl. § 11) die größte gedruckte Sammlung von Sprichwörtern, Redensarten und Rätseln (über 500), die mehrfach kopiert wurde. Auch August Wilhelm Hupel (vgl. §§ 11, 13) verwendete u. a. Thor Helles Sammlung, lieferte aber im Rahmen seiner fruchtbaren Publikationstätigkeit noch viel mehr neues Material zur Volkskunde allgemein. Er war es auch, der sieben Volkslieder in deutscher Übersetzung an Johann Gottfried Herder übermittelte, der sie daraufhin in seine Volkslieder aufnahm (1778–1779, die revidierte Auflage von 1807 enthält acht estnische Lieder und ist unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern in die Geschichte eingegangen). Herder war von 1764 bis 1769 in Riga Lehrer und Pastor gewesen und hatte dort Bekanntschaft mit lettischen und litauischen Volksliedern – der Terminus stammt von Herder selbst – gemacht. Seine spätere bahnbrechende Tätigkeit und europaweite – auch gerade für Estland bedeutende (vgl. erschöpfend Undusk 1995) – Wirkung auf dem Gebiet der Volksdichtung muss hier ihren Anfang genommen haben, und es ist Hupels Verdienst, dass hierbei letztlich auch alte estnische Volkslieder Pate gestanden haben. Des weiteren sah Hupel, ein Anhänger der Aufklärung, in der Verwendung von volkstümlichem, volksnahem Sprachmaterial auch den positiven Nebeneffekt, dass man damit seine Hörerschaft fesseln und sie der eigentlichen Botschaft zugänglicher machen konnte. Überdies publizierte Hupel viele Angaben zu Hochzeitsbräuchen, Volksweisheiten und der Volksmedizin, so dass er als einer der ersten Volkskundler Estlands betrachtet werden kann. Von den vielen Deutschen, die nach ihrer Ausbildung ihr Glück in einer Hauslehreranstellung im Baltikum versuchten, verdient Christian Hieronymus Justus Schlegel an dieser Stelle besondere Erwähnung. Er war zwar nur von 1780 bis 1782 in Estland und zog anschließend nach Russland weiter, aber auch danach reiste er noch mehrmals nach Estland und befasste sich intensiv mit den dortigen Zuständen. In seinem zehnbändigen Hauptwerk Reisen in mehrere russische Gouvernements (1819–1834) publizierte er neben anderem volkskundlichen Material fast 150 estnische Volkslieder. Einige wurden im estnischen Original wiedergegeben, der größte Teil jedoch in deutscher Übersetzung. Schon früher hatte Schlegel im Teutschen Merkur 1787 und 1788 seine Reiseeindrücke aus Estland mitgeteilt und mit ausführlichen Textbeispielen aus der Volksdichtung (Deutsch und Estnisch) garniert. Teile hiervon erschienen einige Jahre später auch in englischen Publikationen. Relativ große Verbreitung erzielte ferner Johann Christoph Petri, der von 1784 bis 1796 in Estland weilte und in seinen Büchern zahlreiche Mitteilungen

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über estnische Volksbräuche machte. Er war inspiriert von Garlieb Helwig Merkels berühmtem Werk Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts (1796), worin die beklagenswerte Situation der unterdrückten Völker geschildert wurde, und konzentrierte sich in seinen Werken vornehmlich auf die Lage der estnischen Landbevölkerung. In folkloristischer Hinsicht bot sein Werk indes wenig Neues. In die Reihe der aus Deutschland zugewanderten Literaten gehört auch Johann Wilhelm Ludwig von Luce, der aber im Gegensatz zu Petri und Schlegel nach seiner Übersiedlung nach Estland (1781) dort blieb und durch seine vielfältigen Aktivitäten eine bedeutende Rolle innerhalb des frühen estnischen Schrifttums und eben auch der Literatur (vgl. § 14) einnahm. Für die Erforschung der Volksdichtung ist er insofern von Bedeutung, als er in seinen Publikationen die alten Bräuche der Esten beschrieb und sich mit der Volksüberlieferung befasste. Außerdem war er die treibende Kraft bei der Gründung der Arensburgischen Ehstnischen Gesellschaft (1817, vgl. § 17), deren eine Aufgabe es laut Statut war, sich um die estnische Sprache zu kümmern und die sich als erste Organisation mit der systematischen Erfassung volkskundlichen Materials beschäftigte. Johann Heinrich Rosenplänter, der Anfang des 19. Jahrhunderts mit seiner Zeitschrift Beiträge … (vgl. § 14) entscheidende Impulse für eine intensivere Befassung mit dem Estnischen gab, leistete auch in folkloristischer Hinsicht Beachtliches, indem er in seiner Zeitschrift diesbezügliche Materialien veröffentlichte. Obwohl man immer noch eine, lutherisch-christlich motivierte, skeptische Haltung der Volksdichtung gegenüber feststellen konnte, machte sich allmählich Herders Einfluss bemerkbar, und es gab Stimmen, die dafür plädierten, dass man Estnisch viel besser anhand der alten Volkserzählungen als der von Deutschen verfassten Grammatiken lernen könne. In Rosenplänters Beiträgen … ist dann 1817 im Rahmen einer Nachbemerkung zu publizierten Märchen erstmals öffentlich dazu aufgerufen worden, weitere Märchen zu sammeln. Systematisches Sammeln Zwanzig Jahre nach Rosenplänters etwas verstecktem Aufruf wurden mit der Gründung der Gelehrten Estnischen Gesellschaft (1838, vgl. § 17) bessere Rahmenbedingungen für eine Beschäftigung mit der alten Volksüberlieferung geschaffen. Schon im Statut der Gesellschaft heißt es u.a., dass der Zweck der Gesellschaft die Förderung der »Kenntniß der Vorzeit und der Gegenwart des Esthnischen Volkes, seiner Sprache und Litteratur …« sei. Mit zwei Publikationsreihen (Verhandlungen ab 1840, Sitzungsberichte ab 1861) schuf sich die

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Gesellschaft ausreichende Foren zur Verbreitung ihres Materials; gleichzeitig erschien von 1836 bis 1863 in Tartu die Wochenzeitschrift Das Inland, in deren Spalten zahlreiche Publikationen zur estnischen Volksdichtung zu finden sind. Die herausragenden Persönlichkeiten in dieser Phase des Entstehens einer estnischen Folkloristik waren Friedrich Robert Faehlmann und Friedrich Reinhold Kreutzwald (s. §§ 17, 18). Sie hatten sich 1825 kennen gelernt und waren die treibenden Kräfte beim Sammeln und Publizieren der Volksdichtung, so stammte von Kreutzwald der erste Aufruf zum Sammeln, der auch weitere Kreise erreichte: 1843 – genauer gesagt bereits 1841, denn das Buch blieb zwei Jahre in der Zensur stecken – fragte er in seinem Büchlein Sipelgas (Die Ameise), das Ratschläge zur Kindererziehung, erbauliche Geschichten, ein Märchen von Johann Peter Hebel u.a. enthält, die Leserschaft, ob sie noch von weiteren im Volke zirkulierenden Märchen wisse, und bat sie gleichzeitig, ihm diese dann mitzuteilen. Der Aufruf in dem immerhin in 2000 Exemplaren gedruckten Buch verhallte jedoch weitgehend ungehört. Trotzdem kann man ihn als Beginn einer systematischeren Hinwendung zur estnischen Volksdichtung betrachten. Kreutzwald unternahm auch selbst Sammelreisen, er war 1847 und 1849 in Setumaa und zeichnete ca. 100 Lieder direkt aus dem Volksmunde auf. Entscheidende Impulse erhielten Faehlmann und Kreutzwald von Elias Lönnrot, dem finnischen Arzt, Folklorist und Philologen, der 1835 die erste Fassung seines Kalevala veröffentlicht hatte. Er war auf seiner elften Wanderung 1844 längere Zeit in Estland, lernte Estnisch, vertiefte sich in die zum damaligen Zeitpunkt vorliegende estnische Literatur und wurde zum Ehrenmitglied der Gelehrten Estnischen Gesellschaft gewählt. Seine wichtigste Kontaktperson in Estland war Faehlmann gewesen (A. Suits 1931; Niit 1986). Eine weitere wichtige Gesellschaft war die 1842 in Tallinn errichtete Estländische Literärische Gesellschaft (vgl. § 17), deren eines Gründungsmitglied Alexander Heinrich Neus war. Die Gesellschaft widmete sich später in erster Linie der deutschbaltischen Kultur und der allgemeinen Landesgeschichte; in ihrer Anfangsphase beschäftigte sie sich auch mit der estnischen Volkskultur, und Neus hat seine Arbeiten auf dem Gebiet der estnischen Volksdichtung im Auftrage der Gesellschaft ausgeführt. Seine in den Jahren 1850 bis 1852 in drei Lieferungen erschienene zweisprachige Anthologie estnischer Volkslieder ist die erste Ausgabe, die auch wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird. Monumentale Ausmaße nahm die Sammlungstätigkeit dann unter der Leitung von Jakob Hurt an, einer der führenden Figuren der estnischen nationalen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts (s. § 19). Hurt studierte von 1859 bis 1864 in Tartu Theologie, seine eindeutige Vorliebe galt aber der estnischen Volksdichtung und den alten überlieferten Traditionen. Es ist nicht

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auszuschließen, dass er sich lediglich auf familiären oder gesellschaftlichen Druck hin der Theologie widmete: Sein Vater war Anhänger der Herrnhuter, und im Hinblick auf eine spätere Existenzsicherung war das Pfarramt noch immer einer der besten Garanten für ein gesichertes Auskommen. Inhaltlich blieb Hurt aber der Philologie treu und belegte schon während seines Theologiestudiums nebenher auch philologische Fächer. Und 1886, als er schon geraume Zeit Pfarrer an einer estnischen Gemeinde in St. Petersburg war, promovierte er mit einer linguistischen Arbeit in Helsinki zum Dr. phil. Bereits während seiner Studienzeit hatte er 1860 in seinem Heimatdorf mit der Aufzeichnung von Volksliedern begonnen. Dazu setzte er seine beiden Schwestern ein, denn als angehender Theologe konnte er sich selbst eine derartige Tätigkeit nicht gestatten. Als 1872 die Estnische literärische Gesellschaft (Eesti Kirjameeste Selts, vgl. § 20) gegründet wurde und Hurt deren Vorsitz übernahm, wurde eine der Hauptaufgaben dieser für die gesamte estnische Nationalbewegung wichtigen Institution das Sammeln von Volksdichtung. Auch nach Hurts Abtritt als Vorsitzender (1881) blieb die Vereinigung wichtig für die Sammlung von Folkloretexten. Hurt und wenig später auch seine jüngeren Kollegen, etwa Jaan Jõgever oder Matthias Johann Eisen, publizierten seit 1871 immer wieder Sammelaufrufe in estnischen Zeitungen und gaben Hinweise, wie man beim Sammeln der Texte vorzugehen habe. Besonders intensiv wurde dies Ende der 1880er-Jahre. Für internen Gebrauch verfasste Hurt sehr detaillierte Leitfäden, wie ein Ausschnitt aus einem 1887 für Stipendiaten der Estnischen Studentenvereinigung (Eesti Üliõpilaste Selts, vgl. § 20) verfassten Text gut veranschaulicht (der Text ist im Original auf Deutsch, was auch estnische Muttersprachler, die in jener Zeit ihre gesamte höhere Bildung auf Deutsch durchlaufen hatten, gelegentlich benutzten, und komplett abgedruckt bei Pino 1992): 1. Die Lieder, Märchen etc. sind durchaus genau im localen Dialect und in den Redewendungen des Volkes niederzuschreiben, wenn auch der Styl dabei zunächst ungehobelt auf dem Papier erscheint. 2. Die Localität der Aufzeichnung (Kirchspiel, Dorf ) ist genau zu notiren, ebenso die Person, welche die Mittheilung macht. 3. Machen die Personen, von welchen man Mittheilungen haben will, Schwierigkeiten und wollen ihren Erinnerungsschatz nicht öffnen, sei es aus Mißtrauen gegen den Sammler oder aus religiösen Bedenken oder aus der eingebildeten Furcht, dergleichen Dinge könnten der Person selbst oder sonst schaden, so empfehlen sich folgende Verhaltensmaßregeln: [Hier folgen sechs Unterpunkte, wie man das Vertrauen gewinnen kann, u.a. durch einerseits Standhaftigkeit, andererseits freundliches Benehmen an den Tag

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zu legen, ferner durch das Versprechen, die Angaben keineswegs zu missbrauchen, durch die Herausstreichung, dass man gerade durch die Kenntnis des Aberglaubens die Segnungen des Christentums erkenne, durch die Betonung der Schönheit der alten Lieder sowie durch Zusage von finanzieller Entschädigung für die Mühe. Dabei sind im deutschen Text für alle Deutlichkeit hin und wieder estnische Passagen eingebaut.] 4. Am fruchtbarsten sammelt man, wenn man die ergiebigen Personen allein aufsucht und die Fragen und Forschungen nie in größerer Gesellschaft thut. Erstens sind die Mittheilenden in solchen Gesellschaften zugeknöpfter, u. zweitens stören die Zuhörer meist gar sehr. Ich habe das mehr als einmal sehr empfindlich erfahren. In einigen Fällen will dann die ganze Gesellschaft Bezahlung haben, was ich auch erfahren. 5. Man meide durchaus Krüge und suche die Leute in ihren Häusern auf. 6. Ehe man sich auf die Reise begiebt, ziehe man brieflich in der Gegend Erkundigungen ein (durch Bekannte), wo Liedersängerinnen u. Märchenerzähler sicher zu finden, wer sagenkundig u.s.w. […] 11. Hat man in der Gegend keinen Bekannten, so trete man bei einem Schulmeister ein u. erbitte sich Orientirung, wo Etwas zu hoffen sei. 12. In ganz ordinären Fällen ist die Anbietung von Schnaps wohl zulässig, aber nicht zu empfehlen, ausgenommen bei den Setukesed, wo man auf eine reiche Ausbeute hoffen kann, wenn man ein pudel viina taskus [estn., ›eine Flasche Schnaps in der Tasche‹, CH] hat, woran ja dort Niemand Anstoß nimmt. 13. Für Lieder sind die Frauen stets die bessere Quelle, für Märchen in der Regel junge Männer. […]

Hurts Sammelaktionen waren von überwältigem Erfolg gekrönt, am Ende verfügte er über schätzungsweise 1400 Korrespondenten nicht nur aus Estland, sondern auch aus Innerrussland, wo es einige estnische Siedlungen gab. Auch unternahm Hurt selbst Sammelreisen, allein bei den Setu in Südostestland war er viermal. Die auf diese Weise zustande gekommene Materialsammlung umfasste über 120000 Seiten, die Hurt zu 170 Bänden binden ließ. Damit legte er als Initiator den Grundstein für den heute immens angewachsenen Schatz an estnischer Volksüberlieferung, der in der Folgezeit durch die Sammeltätigkeit von Mihkel Veske, Matthias Johann Eisen und später Oskar Kallas, um nur einige der wichtigsten Sammler zu nennen, kontinuierlich vergrößert wurde. Eisen verfügte wie Hurt über ein ähnlich großes Netzwerk von Korrespondenten und hinterließ eine umfangreiche Sammlung, war bei der Aufzeichnung aber weniger gründlich. Oskar Kallas hatte nach seinem Tartuer Studium der klassischen Sprachen ein Studienjahr in Helsinki verbracht und wurde einige Jahre später (1901) an der Universität von Helsinki zum ersten estnischen Dr. der Folkloristik promoviert.

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Wissenschaftliche Bearbeitung und Erforschung Von einer modernen wissenschaftlichen Behandlung der estnischen Folklore kann man dann seit Ende des 19. Jahrhunderts sprechen, als eine erhebliche Menge an Forschungsmaterial bereitstand und mit Oskar Kallas (Helsinki) und Mihkel Veske (Leipzig) zwei im Ausland ausgebildete Philologen professionelle Arbeit leisteten. Ein großes Verdienst kommt außerdem Finnland zu, das quasi als Mutterland der Folkloristik angesehen werden kann, wenn man bedenkt, dass die historisch-geographische Methode als »finnische Methode« weltweit Eingang in nahezu alle folkloristischen Forschungen gefunden hat. Da Estland für die finnische Folkloristik praktisch direkt vor der eigenen Haustür lag, haben sich finnische Forscher immer wieder auch der estnischen Materialien angenommen und somit entscheidende Impulse gegeben. Wichtige systematisierende und theoretische Werke erschienen von den Begründern der finnischen Folkloristik, Kaarle Krohn und Antti Aarne, selbst. Überdies befand sich Hurts Sammlung lange im Gewahrsam der Finnischen Literaturgesellschaft in Helsinki, so dass finnischen Forschern der Zugang zum Material viel leichter war als ihren Kollegen aus Estland. Als nach der Staatsgründung an der Universität Tartu 1919 auch ein Lehrstuhl für Estnische und vergleichende Folkloristik errichtet wurde, waren die wichtigsten Voraussetzungen für eine regelmäßige und systematische Befassung mit der estnischen Volksliteratur geschaffen. Erster Lehrstuhlinhaber war Walter Anderson, der für eine Verbreitung und Vertiefung der historisch-geographischen Methode sorgte und in den knapp zwanzig Jahren seiner Lehrtätigkeit (1939 verließ er Estland) für eine ganze Generation künftiger Forscherinnen und Forscher prägend war. Die Gründung des Archivs für estnische Volksdichtung (Eesti Rahvaluule Arhiiv, 1927, als Zweig des bereits 1909 gegründeten Estnischen Nationalmuseums in Tartu) schließlich markierte eine Art Schlussstein im Gebäude der Estnischen Folkloristik. Nun kamen auch die Hurt’schen Sammlungen nach Estland. Erster Direktor des Archivs war Oskar Loorits, der ab 1927 Privatdozent an der Tartuer Universität war und durch seine zahlreichen Veröffentlichungen auch gerade zu den kleineren ostseefinnischen Völkern wichtige Bausteine zum Verständnis des alten ostseefinnischen Volksglaubens schuf. Er sorgte ferner für eine systematische Aufbereitung des Materials und organisierte das zielbewusste Füllen von Bestandslücken durch »Nach-Sammeln«. Auch andere am Archiv angestellte Folkloristen, zu nennen wären hier etwa Richard Viidalepp, Rudolf Põldmäe oder Herbert Tampere, sorgten kontinuierlich für eine Erweiterung der Archivsammlung. Sie gehörten, neben Eduard Laugaste, nach dem Zweiten Weltkrieg zur älteren Generation der Forscher, die

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die Kontinuität aus der Zwischenkriegszeit fortsetzte, nachdem wichtige Wissenschaftler (Anderson, Loorits) ins Ausland gegangen waren. Nach der sowjetischen Besetzung erfolgten einige Umstrukturierungen: In den Augen der neuen Machthaber konnte eine Institution wie ein Estnisches Nationalmuseum nichts anderes sein als eine Brutstätte nationalistischen Gedankenguts, und so etwas hatte in einer – vermeintlich – nach Internationalismus strebenden Gesellschaft keinen Platz. Das Museum wurde indes nur formal zerschlagen in zwei verschiedene Einrichtungen, nämlich in ein ethnographisches Museum und ein Literaturmuseum, dem das Archiv für estnische Volksdichtung (freilich unter der Bezeichnung Abteilung für Volksdichtung, denn auch hier durfte nichts »Estnisches« mehr im Namen auftauchen) zugeordnet wurde. Ferner wurden Teile der Forschung nach Tallinn überführt und an der Universität die estnische Folkloristik zeitweilig mit der estnischen Literatur zu einem (größeren) Lehrstuhl vereinigt. Trotzdem konnte auch während der sowjetischen Besetzung die Folkloristik eine mehr oder weniger funktionierende Disziplin bleiben und in einer windstillen Nische überleben. Die Sammlungen, die durch rechtzeitige Auslagerung den Krieg glücklicherweise unbeschadet überstanden hatten, wurden kontinuierlich erweitert. Nur waren die Publikationsmöglichkeiten angesichts der knappen Ressourcen relativ begrenzt, und viele Arbeiten blieben ungedruckt. Ebenso konnte es Bereiche geben, deren Erforschung unerwünscht war, wozu zum Beispiel die alte Volksreligion zählte. Für die Wissenschaftler im Exil blieb das heimatliche Archivmaterial unzugänglich. Sie hatten allerdings Teile ihres Materials mitnehmen können, so dass sie darauf aufbauend einige wichtige wissenschaftliche Publikationen vorlegen konnten, in erster Linie sind hier im Bereich der allgemeinen Volkskunde Gustav Ränk und Ilmar Talve zu nennen. Mit der Volksdichtung bzw. Mythologie im engeren Sinne befassten sich der genannte Oskar Loorits und Felix Oinas. Nach 1991 konnte auf diesen Arbeiten aufgebaut und teilweise an die Vorkriegstradition angeknüpft werden. 1994 wurde an der Universität Tartu wieder ein eigener Lehrstuhl für Ethnologie eingerichtet, ein Jahr später erfolgte die Loslösung der Volksdichtung von der estnischen Literatur und die Einrichtung eines eigenen Lehrstuhls für Volksdichtung. Am Ende des 20. Jahrhunderts befand sich die estnische Folkloristik wieder im Normalzustand einer nationalen Geisteswissenschaft, die nach wie vor lebensfähig ist und vor allem auch lebendig: So gehört beispielsweise bis heute ein Feldpraktikum zum Lehrplan des Folkloristikstudiums in Estland.

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Publikations- und Editionsgeschichte Nach den oben erwähnten, größtenteils zufälligen und unsystematischen Wiedergaben von einzelnen Proben der Volksdichtung kann man von einer eigentlichen Editionstätigkeit erst im 19. Jahrhundert sprechen. Es ist dabei charakteristisch für die Situation der Esten, dass – sieht man von einigen estnischen Publikationen in Rosenplänters Beiträgen (1817, s. § 14) ab – zunächst fremdsprachige Ausgaben erschienen, bevor die entsprechenden estnischen Originale in größerem Stile der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. So erschien bereits 1847 eine von Elias Lönnrot zusammengestellte, aber anonym publizierte finnischsprachige Sammlung estnischer Märchen (Viron satuja, 21849), die sieben Märchen enthielt. Wenig später wurde von Alexander Heinrich Neus die bereits erwähnte dreiteilige Sammlung Ehstnische Volkslieder (1850–52, enthält 289 Volkslieder) publiziert, der der Autor bald die gemeinsam mit Kreutzwald besorgte Sammlung Mythische und magische Lieder der Ehsten (1854) folgen ließ. Sie ist weniger authentisch und genügt wissenschaftlichen Ansprüchen nicht. Von Kreutzwald stammt dann auch die schnell kanonisch gewordene erste umfassendere estnische Märchensammlung (1866), die 43 Märchen und 18 Sagen enthält, die aus dem Volksmund aufgezeichnet sind (vgl. § 18). Hiervon erschienen und erscheinen bis heute regelmäßig Neuauflagen; schon 1869 kam in Halle die erste deutsche Ausgabe heraus, die in verschiedenen zeitgenössischen Blättern rezensiert worden ist und der mehrere weitere Ausgaben folgten. Märchen wurden auch danach von verschiedenen Autoren und Wissenschaftlern immer wieder veröffentlicht (Eisen, Kunder), aber eine umfassende wissenschaftliche Ausgabe, die wenigstens einen etwas größeren Teil der vorhandenen immensen Sammlungen zugänglich machen würde, fehlt bis heute. Immerhin liegt aber ein Typenverzeichnis der wichtigsten, nämlich der Hurt’schen Sammlung, vor (Aarne 1918). Mit dem Namen Jakob Hurts sind nicht nur die größten Sammlungen, sondern auch die ehrgeizigsten Publikationsvorhaben im Bereich der Volksdichtung verbunden. Aufgrund der wechselvollen Entwicklung im 20. Jahrhundert hat Hurt selbst nur Teile davon verwirklicht sehen können, doch geht die Namensgebung auf ihn zurück: Er schlug in den 1880er-Jahren vor, unter dem Titel Monumenta Estoniae antiquae nach geographisch-systematischem Prinzip Quellenpublikationen zu allen Genres der estnischen Volksdichtung vorzunehmen. Dabei sollte die I. Reihe die Volkslieder umfassen, die II. Reihe die verschiedenen Prosaformen, die III. Reihe die Sprichwörter und die IV. Reihe die Rätsel. Bis heute sind die Vorhaben in verschiedenem Ausmaße realisiert worden:

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Die Volkslieder werden unter dem Obertitel Monumenta Estoniae Antiquae I: Estonum carmina popularia geführt. Sie sind bislang noch nicht annähernd in dem Ausmaße veröffentlicht worden, wie das etwa im benachbarten Finnland mit der einschlägigen Ausgabe Suomen Kansan Vanhat Runot (Die alten Runen des finnischen Volkes; XIV Teile in 33 Bänden) geschehen ist, wo über 85 000 Liedtexte in gedruckter Form vorliegen. Immerhin gibt es aber einige umfangreichere Sammlungen, die einen repräsentativen Überblick vermitteln können. Dies beginnt mit der von Jakob Hurt initiierten Serie Vana Kannel (Alte Harfe). Hierin wollte er nach Kirchspielen sortiert Proben von estnischen Volksliedern veröffentlichen, jedoch gelangen ihm zu Lebzeiten nur zwei Bände: In einem ersten über sein Heimatkirchspiel Põlva brachte er in drei Lieferungen (1875–1886) gut 200 Lieder, parallel mit deutscher Übersetzung. Der zweite Band über Kolga-Jaani (zwei Lieferungen 1884, 1886) bot über 500 Lieder, verzichtete aber auf die deutsche Übersetzung. Zur gleichen Zeit veröffentlichte Mihkel Veske zwei schmale Anthologien mit estnischen Volksliedern (1879 und 1883 mit zusammen weniger als 200 Liedern), die zwar außerhalb der Monumenta-Serie blieben, durch ihre sorgfältige Auswahl für spätere Volksausgaben aber zu einer wichtigen Quelle wurde. Hurts dreibändige Ausgabe seiner Lieder der Setukesen (Hurt 1904– 1907, gleichzeitig pars prima, volumen primum – volumen tertium der Monumenta-Serie und innerhalb der Publikationsreihe der Finnischen Literaturgesellschaft) war mit 1975 Liedtexten dann die ausführlichste ihrer Zeit und ist bis heute eine wichtige Quelle. Sie ist in wissenschaftlicher Hinsicht nicht nur wegen ihres Umfangs so wertvoll, sondern auch weil sie am Ende jeweils ausführliche Inhaltsangaben (insgesamt fast 400 Seiten!) der Lieder in deutscher Sprache bringt und damit den Stoff auch für nicht des Estnischen Kundige erschließt. Nach Hurts Tod und den bald folgenden weltpolitischen Umwälzungen trat eine Pause in der Publikationstätigkeit ein. In der Zwischenkriegszeit begann man mit staatlicher Finanzierung und in enger Zusammenarbeit mit Finnland mit einer systematischen Publikation von Liedern samt all ihren Varianten, d.h. man verließ das Monumenta-Konzept und strebte nach einer kompletteren Darstellung. Allerdings kam man über zwei Bände nicht hinaus (Eisen et al. 1926, 1932), die zusammen knapp 2000 Varianten von 18 Liedtypen enthielten. Besonders wertvoll an dieser Ausgabe sind die ausführlichen Register sowie die Verbreitungskarten. Statt einer Fortsetzung dieser wissenschaftlichen, aber eben sehr kostspieligen und arbeitsintensiven Serie bemühte man sich Ende der dreißiger Jahre um eine Weiterführung der von Hurt begonnenen Reihe Vana Kannel. Unter Herbert Tamperes Herausgeberschaft erschien 1938 der 3. Band mit 860 Liedtexten aus Kuusalu (Nordestland, östlich von Tallinn), 1941 der 4. Band mit 905 Tex-

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Kapitel I: Literatur vor der Literatur: Die Volksdichtung

ten aus Karksi (Südestland, südlich von Viljandi). Die sowjetische Besetzung des Landes sorgte erneut für eine empfindliche Unterbrechung. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen als erste größere Publikationen fünf Bände mit 800 Liedern und Melodien (Tampere 1956–1965), die auch für die musikwissenschaftliche Forschung von erheblicher Bedeutung sind. Die bald danach folgende vierbändige Anthologie von Ülo Tedre stellt mit ihren über 7000 Liedtexten bis heute die umfangreichste Volksliedsammlung ihrer Art dar (Tedre 1969–1974). Nach einer langen Unterbrechung konnte gegen Ende der sowjetischen Periode dann eine Fortsetzung der Vana Kannel-Serie in Angriff genommen werden: 1985 erschien der 5. Teil (mit Texten aus Mustjala, Saaremaa), 1989 zweibändig der 6. Teil (Haljala, Nordestland, nördlich von Rakvere), 1997 und 2003 in zwei Bänden der 7. Teil (Texte von der Insel Kihnu) und 1999 der 8. Teil (Jõhvi und Iisaku, Nordostestland). Sie alle erschienen wiederum unter dem Obertitel Monumenta Estoniae Antiquae I: Estonum carmina popularia, weitere Bände sind in Planung. Als Reihe zwei der Monumenta Estoniae Antiquae wurde die Publikation der Prosaformen, also der Sagen und Märchen, vorangetrieben. Hiervon liegen derzeit drei Bände (1959, 1963, 1970) vor, die sich mit den Riesensagen befassen, ferner ein Band zu mythischen Krankheiten. Großer Beliebtheit haben sich seit jeher die Sprichwörter erfreut, die sich aufgrund ihrer Kürze und Kompaktheit zur vielfältigen Publikation geradezu aufdrängen. Es verwundert daher nicht, dass bereits in der Grammatik von Thor Helle (1732, s. o. und vgl. § 11) eine umfangreiche Liste von Sprichwörtern enthalten war, die immer wieder kopiert und zitiert worden ist. Der Sprachwissenschaftler und Finnougrist Ferdinand Johann Wiedemann, der u. a. eine lange unerreicht gebliebene umfangreiche estnische Grammatik (1875) und ein bis heute für Philologen unentbehrliches estnisch-deutsches Wörterbuch (1869, 21893) verfasst hat, brachte in seiner 1876 erschienenen Studie Aus dem inneren und äusseren Leben der Ehsten über 4000 estnische Sprichwörter, was für längere Zeit eine der am meisten ausgebreiteten Sammlungen war. Auch die Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Auflagen erschienenen Sammlungen von Eisen waren nicht umfangreicher. Erst in den 1980er-Jahren folgte dann eine komplette Ausgabe aller 15 140 Typen in 81 500 Varianten (von insgesamt doppelt so vielen aufgezeichneten Belegen). Diese unter Federführung von Arvo Krikmann zustande gekommene Sammlung stellt für die vergleichende Pariömologie einen kaum überzubewertenden Schatz an estnischem Material bereit. Ein deutsches und ein russisches Register erleichtern dabei den Zugang für die internationale Forschung (Krikman/Sarv 1980–1988, Monumenta Estoniae antiquae III. Proverbia Estonica).

§ 8 Zum Alter und zur Forschungs- und Überlieferungsgeschichte

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Teil IV schließlich erschloss in zwei Bänden (2001–2002) die Rätsel. Monumenta Estoniae antiquae IV. Aenigmata Estonica bringt 2800 Rätseltypen mit einem Vielfachen an Varianten und ist damit, wie im Falle der Sprichwörter, eine Fundgrube für die vergleichende Folkloristik. Während also die Kurzformen (Sprichwörter, Rätsel) nahezu komplett publiziert worden sind, sieht sich die estnische Folkloristik bei den umfangreicheren Formen (Lied, Prosa) naturgemäß noch vor größere Aufgaben gestellt. Seit 2002 gibt der Tartuer Lehrstuhl die Reihe Dissertationes Folkloristicae Universitatis Tartuensis heraus, in der bislang sieben (Stand 2005) Titel erschienen sind. Auch außerhalb der genannten Reihen erschienen relevante Veröffentlichungen, wobei die jüngsten Publikationen zur Setu-Folklore besonders hervorzuheben sind (vgl. § 7 und z. B. Honko 2003 mit ausführlichem Apparat). Seit 1995 werden Texte mehr und mehr elektronisch zugänglich gemacht, das Portal www.folklore.ee, das teilweise auch Informationen auf Deutsch enthält, ist hier eine unerschöpfliche Quelle.

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Kapitel II: Schriftliche Fixierung: Das frühe estnische Schrifttum

Kapitel II Schriftliche Fixierung: Das frühe estnische Schrifttum (1525/35–1800) § 9 Die ersten estnischen Drucke Handschriftliches Die ersten überlieferten estnischen Wörter finden sich als Streudenkmäler innerhalb eines lateinischen Kontexts. Heinrich von Lettlands Livländische Chronik (Henrici Chronicon Livoniae), eine wichtige Geschichtsquelle des Mittelalters für den fraglichen Raum, enthält die ersten aufgezeichneten estnischen Wörter. Sie zählen damit gleichzeitig zu den frühesten ostseefinnischen Belegen. Der Text entstand in den Jahren 1224 bis 1227 und ist im Original nicht mehr erhalten, wohl aber existieren zahlreiche Abschriften und spätere Drucke. Aufgrund seiner Bedeutung für die estnische Geschichte ist der Text sogar dreimal in estnischer Übersetzung ediert worden (1881–1883, 1962 und 1982). Neben vier estnischen Wörtern enthält die Chronik einige Satzfragmente und Eigennamen. Die nächsten frühen Belegen sind über 500 Ortsnamen auf der Estlandliste des Liber Census Daniae aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, die 1933 vom Historiker und späteren Direktor des Tallinner Stadtarchivs Paul Johansen ediert worden ist. Die weiteren estnischen Frühbelege stammen aus handschriftlichen Aufzeichnungen oder Randbemerkungen aus dem späten 15. und dem 16. Jahrhundert und sind (mit Ausnahme des Katechismus von 1535, s.u.) nicht gedruckt. Insgesamt liegen uns aus 16 frühen Quellen bis einschließlich ca. 1600 gut 1300 Wortformen vor (ohne die erwähnten Ortsnamen), die sich auf etwa 565 Lexeme verteilen (Ehasalu et al. 1997). Aus der Zeit vor der Einführung des Buchdrucks ist die Quellenlage bekanntlich dürftig, doch wäre es falsch, aus der dünnen Überlieferungslage estnischer Texte auf eine geringe Verbreitung oder einen sehr niedrigen Status des Estnischen zu schließen. Schon 1236 wurde den Dominikanermönchen, die seit 1229 in Tallinn waren, vorgeschrieben, sich im Interesse der Verbreitung des Glaubens die örtliche Sprache anzueignen. Aus späteren Jahrhun-

§ 9 Die ersten estnischen Drucke

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derten weiß man, dass sich die Mönche Bauernknaben in die Klöster holten und sie in ihre Lehre und ins Lateinische einwiesen, während sie selbst die Landessprache erlernten, wie ein Handbuch aus dem Jahre 1691 im Vorwort berichtet (zit. nach Ikola 1983, 136). Aus dem frühen 15. Jahrhundert sind Beschlüsse überliefert, denen zufolge die Priester auf Estnisch predigen mussten, und es ist bekannt, dass schon geraume Zeit vor der Reformation in beinahe allen Tallinner Kirchen auch auf Estnisch gepredigt wurde. Hieraus kann man schließen, dass andere Handlungen des Gottesdienstes ebenfalls auf Estnisch stattfanden. Die dazu erforderlichen Texte müssen sich die Geistlichen auch notiert haben, nur ist eben kaum etwas davon bewahrt geblieben. Der erste längere erhaltene Text ist die 1923 von Paul Johansen am Ende eines Wackenbuchs (eine Art Rechnungsbuch der Güter, in dem die Arbeitsnormen der Bauern verzeichnet wurden) entdeckte Handschrift von Kullamaa (oder entsprechend dem Gebrauch in zeitgenössischen deutschsprachigen Quellen nach dem deutschen Ortsnamen: Goldenbeker Handschrift) aus den Jahren 1524–1532. Sie ist eindeutig vorreformatorisch und enthält neben einem Pater noster ein Ave Maria und ein Credo. Mit ihren ca. 140 Wörtern in einem zusammenhängenden Text stellt sie das älteste estnische Schriftdenkmal von einigem Umfang dar. Ihre Urheber sind nicht bekannt. Vom damaligen Pfarrer in Kullamaa, Johannes Lelow, nimmt man an, dass er lediglich der Abschreiber des ersten Teils war, während der zweite Teil möglicherweise von seinem Nachfolger, einem gewissen Konderth Gulerth (vgl. Põld 1999, 17), verfasst worden ist. Wenn die Handschrift eine Abschrift war, liegt es nahe, nach möglichen Vorbildern, gegebenenfalls dann sogar in gedruckter Form, zu suchen. So hat man lange Zeit aufgrund von Sekundärquellen vermutet, dass im Jahre 1517 ein gewisser Johannes IV. Kievel (oder Kyvel, Bischof von Saaremaa) einen Katechismus mit estnischem Text im Ausland hat drucken lassen, jedoch haben sich die Angaben bis heute nicht zu etwas Konkreterem verdichtet. Sie beruhten lediglich auf dem Wissen, dass Kievel das Estnische beherrschte und dass es in Synodalprotokollen detaillierte Beschreibungen gibt, wie man den Undeutschen den Katechismus beibringen müsse. Auch ohne den Fund dieses vermuteten vorreformatorischen Drucks ist dies im Übrigen ein weiterer Grund dafür, den Einfluss der Reformation auf die Entstehung der estnischen Schriftsprache nicht überzubewerten. Mittlerweile ist sich die Forschung einig, dass dies ein »Mythos der Lutheraner« sein könnte, denn wichtiger als die Ideen Luthers dürfte die zeitgleiche – und für die Durchsetzung der deutschen Reformation enorm wichtige – Verbreitung des Buchdrucks gewesen sein. In Estland haben die Luther’schen Ideen eher zu einer Polarisierung der Sprachgrenzen im mittelalterlichen polyglotten (Latein,

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Kapitel II: Schriftliche Fixierung: Das frühe estnische Schrifttum

Niederdeutsch, Estnisch und andere Sprachen) Tallinn geführt, was letztlich die Position des Estnischen schwächte (vgl. Kala 2004). Die estnische Buchgeschichtsschreibung setzt heute das Jahr 1525 als Geburtsjahr des estnischen Buches an. Zwar ist auch aus diesem Jahr kein entsprechendes Buch oder auch nur Fragment auf unsere Tage gekommen, doch hat Paul Johansen (1959) in einer überzeugenden Argumentation nachgewiesen, dass ein 1525 in Lübeck vernichteter Satz Bücher, der für Riga bestimmt war, auch einen Druck – Messen oder eine Agenda – mit estnischen Texten oder Textteilen enthalten haben muss. Freilich liegt hier noch einiges im Dunkeln – als Verfasser ist zwar Franz oder Franciscus Witte(n) vermutet worden, aber man ist sich nicht einmal sicher, ob der Katechismus protestantisch oder katholisch war (vgl. Põltsam 2000), was in Ermangelung des vorliegenden Textes nicht weiter überraschen kann –, aber die estnische Bibliothekswissenschaft ist felsenfest von der Existenz dieses Buches überzeugt und begann den ersten Band ihrer retrospektiven Nationalbibliographie folgerichtig mit dem Jahr 1525 (Endel Annus 2000). Auch als Ausgangsjahr für Jubiläen oder so genannte »Buchjahre« dient seit Johansens Nachweis das Jahr 1525, so dass 2000 in großem Stil das 475-jährige Bestehen des estnischen Buchs begangen wurde. Das erste teilweise erhaltene Buch mit estnischem Text 1929 entdeckte der Historiker Hellmuth Weiss Reste eines frühen Drucks, die als Makulatur zur Füllung eines Einbandes verwendet waren, wie es im Bindehandwerk üblich ist. Unter den zutage geförderten elf Blättern fand sich glücklicherweise auch die letzte Druckseite mit Angabe von Druckort und -jahr: Es handelte sich um Reste eines 1535 in Wittenberg bei Hans Lufft – bei dem ein Jahr zuvor Luthers Bibelübersetzung die Druckpresse verlassen hatte – gedruckten zweisprachigen niederdeutsch-estnischen Katechismus. Damit war die estnische Buchgeschichte auf einen Schlag beinahe hundert Jahre länger geworden, denn zum damaligen Zeitpunkt ging man noch von dem ersten bewahrten Druck von 1632 aus (s.u.) und bereitete sich auf ein 1932 zu feierndes Jubiläum vor. Dies konnte nun um drei Jahre verschoben werden, mit dem nicht unerheblichen Gewinn, dann auf 400 anstelle von 300 Jahren estnischer Drucke zurückblicken zu können. Wie sein bislang nicht aufgefundener Vorgänger von 1525 ist auch dieses Buch kurz nach seiner Herstellung weitgehend vernichtet worden, da es vermutlich zu stark von der reinen lutherischen Lehre abwich. Jedenfalls verbot das Tallinner Ratsgericht das Buch 1537, so dass die ungebundenen Bögen – es entsprach der damaligen Praxis, dass im Ausland gedruckte Bögen in Tal-

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linn, wo es schon Buchbinder, aber noch keine Drucker gab, gebunden wurden – in einer örtlichen Binderei als Füllmaterial gebraucht wurden. Über die mögliche Verbreitung des ursprünglich immerhin in einer Auflage von 1500 Exemplaren gedruckten Buches kann man daher nur spekulieren. Bekannt sind hingegen die beiden Verfasser: Simon Wanradt schrieb den niederdeutschen Teil, Johann Koell zeichnete für die estnische Übersetzung verantwortlich. Beide waren zu jener Zeit Pastoren in Tallinn, und auch die Druckkosten waren von einem Tallinner Ratsherrn getragen worden. Die erhaltenen Seiten des schätzungsweise 120 Seiten starken Büchleins umfassen Teile des zweiten und dritten Glaubensartikels, des Vaterunsers und einiger Sakramente, mithin den für einen Katechismus üblichen Inhalt. Sie sind in erster Linie sprachhistorisch von Interesse, da hier 230 verschiedene Wörter in über 600 Formen auftauchen, damit haben wir es mit ca. zwei Fünftel des oben erwähnten frühen Sprachmaterials aus dem 16. Jahrhundert zu tun. Verwendet wurde – erwartungsgemäß – der nordestnische Dialekt, der aber durch die allzu wörtliche Übersetzung starke Germanismen aufweist und bereits von einem vermuteten Korrektor in Halle als mangelhaft erkannt wurde. Nur so sind einige Randbemerkungen zu erklären, die sich im Druck finden. Hervorzuheben bleibt in jedem Fall, dass dies ein für die Region relativ früher Druck ist: Die Erstlinge des Finnischen (ca. 1543), Lettischen (1585) und Litauischen (1547) sind allesamt späteren Datums, wobei man im Falle des Lettischen allerdings davon ausgeht, dass der oben erwähnte Druck aus dem Jahre 1525 auch einen lettischen – und sogar einen livischen – Teil enthalten haben könnte. Weitere Drucke des 16. Jahrhunderts Es ist charakteristisch für die unruhige Geschichte und die fehlenden Aufbewahrungsstätten Estlands, dass von den anderen estnischen Drucken aus dem 16. Jahrhundert kein einziger erhalten ist und wir nur über andere Quellen von ihnen wissen. Diese sind aber in manchen Fällen dermaßen zuverlässig – überdies sind sie häufig mehrmals erwähnt –, dass die Existenz einiger Bücher als gesichert gilt. Sie sind entsprechend in der retrospektiven Nationalbibliographie (Endel Annus 2000) aufgenommen und in aller möglichen Ausführlichkeit, mit Nennung aller Quellen, beschrieben worden. Als erstes sind zwei weitere Katechismen von Luther aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zu nennen, deren erster 1549 oder etwas früher gedruckt sein soll. Hierüber ist jedoch sehr wenig bekannt, er taucht lediglich in der Formulierung »ein Bund undeutscher Katechismen« im Nachlassverzeichnis

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Kapitel II: Schriftliche Fixierung: Das frühe estnische Schrifttum

eines Groninger Buchhändlers aus dem Jahre 1549 auf, und man geht davon aus, dass es sich hierbei nicht mehr um den Druck von 1535 handeln konnte, da der bereits größtenteils vernichtet war (Johansen 1935). Als einigermaßen gesichert gilt dann ein in Lübeck gedruckter Katechismus von 1554, der unter anderem auch sechs Choräle enthielt. Er war im südestnischen Dialekt abgefasst, als Übersetzer nimmt man den bereits erwähnten Franz Witte an. Ein Exemplar hiervon befand sich in der Bibliothek des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna, wie aus dem 1732 gedruckten Katalog dieser Büchersammlung noch hervorgeht. Dieser Katalog der über 4000 Bände umfassenden Oxenstierna-Bibliothek war gedruckt zum Zwecke des Verkaufs derselbigen, und danach verliert sich leider die Spur von Wittes Katechismus (vgl. Penttilä 1927). Die Angaben zu dem nächsten angenommenen Druck basieren größtenteils auf Gerichtsakten bzw. einem Nachlassstreit. Aus Beschwerden gegen den Vormund der Kinder des Tallinner Superintendenten und estländischen Bischofs Johann(es) Robert(us) von Geldern (oder Gellern) geht hervor, dass dieser vermutlich 1572 einen Katechismus in Deutschland hat drucken lassen, der unter seiner Federführung abgefasst worden war. Das Buch gelangte aber offenbar erst nach von Gelderns Tod nach Tallinn und wurde dann von besagtem Vormund – Joachim Walther junior, der gleichzeitig einer seiner Schwiegersöhne war – vertrieben. Nach Walthers Tod kam es zu Erbstreitigkeiten, deren schriftlicher Fixierung wir unser spärliches Wissen über dieses Buch verdanken (Kivimäe 1993). Da ferner in einem Manuskript vom Beginn des 17. Jahrhunderts (Müller, vgl. § 12) sehr häufig von einem »Heiligen Katechismus« die Rede ist und wir aus anderen Quellen vom Verkauf »undeutscher« Bücher aus jener Zeit wissen, geht man von der Existenz eines solchen Katechismus aus dem Jahre 1572 aus. Aus dieser Periode (1575) stammen noch sehr vage Angaben über ein mögliches erstes Abc-Buch (vgl. § 11). Erwähnenswert ist ein anderes berühmtes Buch aus jener Zeit, das hinsichtlich seiner Entstehung, seiner Thematik und seines Verfassers eng mit Estland verbunden ist, auch wenn es nicht zum estnischen Schrifttum gerechnet werden kann. Gemeint ist die Chronica der Prouintz Lyfflandt, die 1578 in zwei Auflagen (Rostock, wobei die zweite Auflage unautorisiert war) und 1584 in dritter Auflage (Bart) erschienen ist. Dieses Buch ist nicht nur eine bis heute wichtige Geschichtsquelle, sondern auch ein bedeutendes Werk des niederdeutschen Schrifttums seiner Zeit. Sein Autor war Balthasar Rüssow (Russow), der Pastor an der estnischen Heiliggeistgemeinde in Tallinn war und im Übrigen in zweiter Ehe (1582–1590) mit einer Tochter des oben erwähnten, zu jenem Zeitpunkt allerdings schon geraume Zeit verstorbenen Johannes Robertus von Geldern

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verheiratet war. Inwiefern Rüssow, der ohne Zweifel fließend Estnisch sprach, an der Erstellung des oben genannten Katechismus von 1572 mitgewirkt haben könnte, muss vorerst Spekulation bleiben. Die bislang behandelten Texte lassen in der Tat den Eindruck eines klaren protestantischen Übergewichts entstehen, was aber auch mit der günstigen Quellenlage in Gestalt des reichhaltigen Tallinner Stadtarchivs zusammenhängen dürfte. Nicht zu vergessen ist, dass die südlichen Gebiete im 16. Jahrhundert noch unter polnischer Hoheit standen, was zu starkem Einfluss der Gegenreformation – zumindest bei den Esten, während die Deutschen weniger anfällig waren (Helk 1977, 84) – in diesen Gebieten führte. In diesem Zusammenhang ist die Gründung eines Jesuitenkollegs in Vilnius (1570), das 1579 zur Universität aufgewertet wurde, dem wenig später analoge Institutionen in Riga (1583) und Tartu (1585) folgten, von großer Bedeutung. In Vilnius wurde glaubhaften Angaben zufolge 1585 ein Catechismus Catholicorum gedruckt, der auf Südestnisch abgefasst war und neben einem Katechismus auch Gebete und Lieder enthielt. Von dem Buch wurden auch eine russische, eine litauische und eine lettische Version gedruckt, wobei wir es im Falle des lettischen Schrifttums gleichzeitig mit dem ersten erhaltenen Druck zu tun haben. Ein estnisches Exemplar ist trotz der angenommenen Auflage von 1000 Exemplaren bislang indes nicht gefunden worden. Auf Basis der erhaltenen lettischen Ausgabe sowie anderer Quellen wird vermutet, dass der Autor des Textes der Jesuit niederländischer Herkunft Petrus Canisius war die Übersetzung ins Estnische wurde von seinem Verwandten Thomas Busaeus, der gleichfalls aus den Niederlanden stammte und seit 1583 in Tartu weilte, und Johannes Ambrosius Völcker (Veltherus), der aus Eisenach kam und ebenfalls seit 1583 in Tartu war, besorgt (vgl. Salo 1998). Völcker wurde in älteren Quellen auch als Autor eines Buches aus dem Jahre 1591 geführt, jedoch dürfte dies nur ein Manuskript gewesen sein, denn auch hiervon konnten bis heute keine konkreteren Spuren gefunden werden. Ebenfalls völlig im Dunkeln liegt die mögliche Existenz eines zweisprachigen Gesangbuchs vom Ende des 16. Jahrhunderts, das Johansen in einem 1606 erstellten Nachlassinventar mit dem Titel »Geistliche Lieder Henrici Fabrici Teutsch und Unteutsch« entdeckt haben will (Johansen 1935, 436). Die retrospektive Nationalbibliographie führt das Buch als siebtes (und letztes aus dem 16. Jahrhundert) unter Hinweis auf Johansen an, ohne weitere Informationen oder andere Quellen zu liefern. Da der erwähnte Eintrag ein halbes Jahrhundert nach Johansen erstaunlicherweise nicht mehr gefunden wurde (Kivimäe 1993, 389), muss das Buch einstweilen zu den unsicheren Kandidaten gerechnet werden.

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Kapitel II: Schriftliche Fixierung: Das frühe estnische Schrifttum

Handbücher aus dem frühen 17. Jahrhundert Auch zu Beginn des folgenden Jahrhunderts ist die Überlieferungslage noch dürftig. Erst 1937 wurde in der Akademie-Bibliothek im ostpreußischen Braunsberg (poln. Braniewo), wo es seit 1568 ein Jesuiten-Kolleg gegeben hatte, eine dortselbst 1622 gedruckte Agenda Parva entdeckt. Dieses 96-seitige Handbuch ist vorwiegend auf Lateinisch abgefasst und beinhaltet neben einer katholischen Liturgie, Gebeten und erklärenden Einführungen für Priester auf Lateinisch auch Ansprachen an das Volk und Antworten auf Lettisch, Südestnisch, Polnisch und Deutsch. Insgesamt bringt es 89 estnische Zeilen mit 451 Wortformen (von weniger als 200 Wörtern), die das erste gedruckte Sprachdenkmal des Südestnischen überhaupt bilden. Als Verfasser der estnischen Textteile ist der aus dem südestnischen Halliste gebürtige Jesuit Wilhelm Buccius (Bock) vermutet worden, der unter anderem in Tartu und in Braunsberg tätig gewesen ist. Ein Jahr später, 1623, scheinen an gleicher Stätte diesmal vornehmlich für Esten bestimmte Institutiones Estonicae Catholica gedruckt worden zu sein, doch auch hiervon wissen wir nur aus indirekten Quellen, d.h. älteren Handbüchern oder Vorreden in späteren Buchausgaben. Möglicherweise war es eine erweiterte Neuauflage des – ebenfalls hypothetischen – Katechismus von 1585, Verfasser könnte der erwähnte Buccius gewesen sein, unterstützt von einem gewissen Michael Sommer, von dem man lediglich vom Ende des 16. Jahrhunderts Spuren in Braunsberg und Tartu nachweisen konnte. In jedem Fall waren es südestnische Texte, deren sprachliche Qualität in einem Kirchenhandbuch von 1691 lobend hervorgehoben wurde (Ikola 1983). Unauffindbar ist bislang das vermeintlich erste Buch von Henricus Stahell (oder Stahl, s. § 11), dem allgemein als »Begründer« der estnischen Schriftsprache titulierten Geistlichen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 1630 sollen in Riga Kurtze und einfältige Fragen, die Grund-Stücke des Christentums betreffend in deutsch-estnischem Paralleltext zum Druck gelangt sein. Außer einer Erwähnung von 1832 (Recke/Napiersky), die sich bekanntlich auf das Vorwort zum Neuen Testament von 1715 stützen (vgl. § 12), ist über das Buch nichts bekannt, und es besteht Anlass zur Annahme, dass wir es hier mit einer Ghostpublikation zu tun haben, zumal auch Stahell selbst nirgendwo dieses angebliche erste Buch von ihm erwähnt hat und die Erstquelle auch für andere Fehler bekannt ist (R. Raag 2001). Lange Zeit galt 1632 als das »Geburtsjahr« des estnischen Buches, weil aus diesem Jahr drei Bücher vorliegen, die zudem auch mehr oder weniger ununterbrochen bekannt waren und nicht erst durch verspätete Funde ins Bewusstsein der literarischen Welt gelangt sind. Gleichzeitig sorgten diese

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Bücher für eine Verbreiterung des Spektrums, da mit einem Mal sowohl Texte auf Südestnisch als auch auf Nordestnisch publiziert wurden. Sie stehen am Anfang einer dualen Entwicklung von zwei estnischen Schriftsprachen und am Beginn einer deutlich steigenden Buchproduktion, so dass sie einen logischen Abschluss für die Behandlung dieser frühesten Periode des estnischen Schrifttums bilden. Inhaltlich gehören sie bereits zur Phase der religiösen Literatur (§ 12). Joachim Rossihnius publizierte 1632 in Riga einen zweisprachigen lutherischen Katechismus (Deutsch-Südestnisch) und ein 200 Seiten starkes Handbuch Evangelia und Episteln, das trotz seines deutschen Titels vorwiegend auf Südestnisch abgefasst war und erstmalig die Tradition der Paralleltexte verließ. Rossihnius war in Pommern geboren und nach seiner Ausbildung in Frankfurt/M. seit 1622 Pastor in Vigala in Nordwestestland. Seit 1625 war er Militärseelsorger bei der schwedischen Armee, mit deren siegreichen Truppen er im gleichen Jahr in Tartu einzog. Dort war er dann fünf Jahre Pastor an der estnischen Gemeinde, im Anschluss daran bekleidete er noch verschiedene kirchliche Ämter und Pfarrstellen, von 1637 bis zu seinem Tode war er zusätzlich Propst des Landkreises Tartu. Für seine beiden Bücher sind verschiedene (handschriftliche) Vorlagen angenommen worden, aber in Ermangelung aufgefundener Texte lässt sich hierüber nichts Genaueres sagen. Auf jeden Fall markiert das zweibändige Kirchenhandbuch von Rossihnius, wie die beiden Bücher zusammenfassend gelegentlich bezeichnet werden, allein schon in quantitativer Hinsicht einen Einschnitt, da mit ihm viel mehr estnisches Textmaterial vorliegt, als in allen vorherigen zusammengenommen vorhanden war. Es sind selbstredend, wie auf dem Titelblatt vermerkt, Übersetzungen aus dem Deutschen, doch tut das der Sache keinen Abbruch. Die Existenz der beiden Bücher beweist, dass zu jenem Zeitpunkt genügend Potenzial vorhanden war für die Entwicklung einer eigenen Buchkultur. Noch stärker trifft dies für das dritte 1632 erschienene Buch zu, das den Auftaktband zu einem groß angelegten (und tatsächlich auch verwirklichten) Plan eines vierbändigen Handbuchs bildet. Die erste Lieferung des Stahell’schen Hand = vnd Hauszbuches markierte den Beginn der kontinuierlichen Herausbildung der nordestnischen Schriftsprache. Sie enthielt neben dem obligatorischen kleinen Katechismus von Luther auch einen eigenen Anteil von Stahell, in dem er einige liturgische Texte zum Abendmahl und zur Beichte mitteilt. Das im Quartformat gedruckte Buch umfasste 84 Seiten und endete wie der Gottesdienst mit dem priesterlichen Segen aus dem 4. Buch Mose (6, Vers 24–26), d.h. die Texte waren mehrheitlich Übersetzungen. Die weiteren Lieferungen des Hand und Hauszbuches enthalten aber

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zunehmend auch Eigenständiges (vgl. § 12). Dies sowie die Tatsache, dass von diesem Buch mehrere Auflagen veranstaltet wurden und dass die weiteren Teile die ersten estnischen Bücher waren, die in Estlands selbst gedruckt worden sind, mögen Grund genug dafür sein, von einer neuen Periode innerhalb des estnischen Schrifttums zu sprechen.

§ 10 Gelegenheitsdichtung Die Academia Das Jahr 1632 als Beginn einer neuen Periode anzusetzen, hat noch einen anderen Grund, denn dieses Jahr ist auch das Gründungsjahr der Universität Tartu. Zwar sollte dieser eher zufälligen Koinzidenz in den Jahreszahlen keine übermäßige Bedeutung beigemessen werden, aber in mnemotechnischer Hinsicht ist sie hilfreich. Die erwähnten Drucke aus diesem Jahr stehen mit der Gründung der Universität in keinem direkten Zusammenhang. Andererseits ist es kein Zufall, dass in dieser Periode der Konsolidierung der schwedischen Macht auch im literarisch-kulturellen Bereich von einem Aufschwung die Rede sein kann. Die Gründung der Universität ist dabei nur das heute ins Auge stechende Ereignis. Entscheidender war die zwei Jahre zuvor erfolgte Eröffnung eines Gymnasiums am gleichen Ort. Derartige höhere Lehranstalten mit acht oder zehn Klassen wurden seit der Reformation überall in der protestantischen Welt gegründet. Der 1629 zum Generalgouverneur von ganz Livland sowie Ingermanland und Teilen Kareliens ernannte Johan Skytte hatte bewusst Tartu als seinen Amtssitz gewählt, weil es gemäß der schwedischen Politik der Zeit insbesondere hier die Spuren der Gegenreformation auszulöschen galt. Die Gründung einer höheren Lehranstalt für Kinder von Adligen, Bürgern, aber prinzipiell auch Bauern war für den erfahrenen Pädagogen, der Erzieher des Kronprinzen Gustav Adolf und Kanzler der Universität Uppsala gewesen war, dazu das probateste Mittel. 1631 wurde nach längeren Vorbereitungen auch in Tallinn ein solches Gymnasium gegründet, allerdings mit nur vier Klassen auf etwas niedrigerem Niveau und mit weniger Personal. Hier wie in Tartu hießen die Lehrenden aber durchaus Professoren, und der einzige Unterschied zur Universität bestand darin, dass ein Gymnasium nicht das Recht zur Verleihung eines akademischen Grades hatte. Ansonsten funktionierten die Gymnasien praktisch wie Universitäten und entwickelten eine blühende Disputationskultur. Hierzu bedurfte es jeweils einer Bibliothek, deren Aufbau zögerlich begann, und einer Druckerei,

§ 10 Gelegenheitsdichtung

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und so ist denn auch die Gründung der ersten Druckereien in Estland in Tartu (1631) und Tallinn (1633) ein weiterer Grund für die Ansetzung einer Zäsur an dieser Stelle. Die Aufwertung des Tartuer Gymnasiums zur Universität wurde von Skytte bereits ein Jahr später beantragt und vom schwedischen König wohlwollend behandelt. Mit der Einwerbung und baldigen Ernennung von Professoren wurde unmittelbar begonnen, und im April 1632 wurden bereits die ersten Studenten immatrikuliert, obwohl die Gründungsurkunde erst auf den 30. Juni 1632 datiert ist. Nach ihrem Gründungsvater hieß die Universität Academia Gustaviana und fungierte als lateinischsprachige und protestantische Hochschule. Höhere Lehranstalten in Anbindung an Kirchen oder Klöster hatte es auch vorher schon in Estland gegeben – die ersten Angaben stammen aus dem 13. Jahrhundert, die früheste konkrete Erwähnung einer Domschule in Tallinn bezieht sich auf das Jahr 1319, eine lateinische Stadtschule wurde 1428 an der Oleviste-Kirche ebenfalls in Tallinn gegründet etc. –, aber die nun erfolgte Gründung einer Universität bedeutete eine neue Qualität. Trotz der streng protestantischen Ausrichtung war die Academia Gustaviana eine unabhängige Einrichtung mit denselben Privilegien wie die Universität von Uppsala, deren Statuten für sie in den ersten knapp 20 Jahren in Ermangelung eigener ebenfalls galten. Durch die Verpflichtung ausländischer (schwedischer, in der Mehrzahl aber deutscher) Professoren war sie automatisch international, d.h. stand sie in unmittelbarem Kontakt zu vergleichbaren ausländischen Institutionen. Damit war sie auch empfänglich für kulturelle Einflüsse aller Art. Ein illustres Beispiel hierfür ist die Berufung von Friedrich Menius (s. ausführlich Fredén 1939), der schon seit 1630 am dortigen Gymnasium war, zum ersten Geschichtsprofessor in Tartu. Er stammte aus Mecklenburg, hatte in Rostock und Greifswald studiert, war danach in Polen, Wilna und Weißrussland gewesen und dann als Feldprediger bei den schwedischen Truppen in Livland gelandet. Seine Vorliebe galt lateinischen und deutschen Gelegenheitsgedichten, er kannte die Poetik von Martin Opitz, und war zudem der erste Übersetzer von Shakespeare ins Deutsche. Auch war er stark vom tschechischen Humanisten Comenius beeinflusst, was zeigt, dass er allerlei verschiedene Kulturimpulse mit nach Tartu brachte. Zwar blieb er nur bis 1637 in Tartu, weil er, der Bigamie bezichtigt, dann das Weite suchte, und über eine direkte Vermittlung Opitz’scher Ideen durch ihn ist nichts bekannt, aber allein die Tatsache, dass hier verschiedene Kulturen miteinander in Kontakt gerieten, ist auch der Existenz der Universität zu verdanken. Selbstverständlich finden Kulturkontakte auch ohne Universitäten statt, hierfür ist Tallinn mit seinem Hafen und seinen Jahrhunderte alten

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Hansebeziehungen ein beredtes Beispiel. Trotzdem entstand mit der Academia eine neue spezifische Kultur, die es bis dahin in Estland so noch nicht gegeben hatte. Bestandteil dieser akademischen Kultur war im Zeitalter des (Spät)Humanismus oder Barocks auch die Gelegenheitsdichtung, zu deren Pflege und Lehre es einen eigenen Lehrstuhl gab. In dessen Wirkungsbereich – treibende Kraft war hier Laurentius Ludenius, der von 1636 bis 1648 die Professur für Rhetorik und Poetik bekleidete – wurden unter dem Titel Musaæ Embecciades (Emajõgi, dt. Embach, ist der Name des Flusses, an dem Tartu liegt) die meisten Gelegenheitsdichte herausgegeben. Hierbei handelte es sich nicht um eine näher umrissene Dichtergruppe, vielmehr war es ein Oberbegriff, unter dem praktisch jeder etwas veröffentlichen konnte (K. Viiding 2002, 44). Den Gepflogenheiten der Zeit und der wissenschaftlichen Umgangssprache der Akademie entsprechend wurde diese Dichtung vorwiegend auf Lateinisch abgefasst. Von allen in der ersten Periode an der Akademie entstandenen Gedichten waren 88 Prozent Lateinisch, gefolgt von Deutsch, Griechisch und Schwedisch. Mit der Zeit entstanden hier aber auch estnische Gedichte, d.h. die Entstehung einer estnischen Gelegenheitsdichtung ist nicht von der akademischen Gelegenheitsdichtung in den seinerzeit gängigen akademischen Sprachen zu trennen. Hieran wird deutlich, dass die Wahl der Sprache zeitweise eine untergeordnete Rolle spielen kann. Bei der Herausbildung eines literarischen Feldes stehen Motivation und eine bestimmte Stilform im Vordergrund. Es ist im europäischen Kontext völlig normal, dass eine solche Dichtung hauptsächlich auf Lateinisch stattfindet. Alles andere wäre überraschend, hier unterscheidet sich Estland in seiner Entwicklung nicht von anderen Ländern oder Kulturen. Allerdings ist bei Gelegenheitsdichtung ein Bezug zu Ort und Zeit ihres Entstehens eo ipso gegeben. Im Falle der lateinischen Texte aus dem Umkreis der Tartuer Universität – aber ebenso haben auch die Tallinner Gymnasialprofessoren derartige Gedichte verfasst und generell lassen sich frühere Spuren lateinischer Dichtung bereits für das 16. Jahrhundert nachweisen – haben wir es also mit estländischen Texten zu tun, die ein Bindeglied zu den bald darauf entstehenden estnischsprachigen Texten gleichen Stils und gleicher Thematik bilden. Meiner Meinung nach zeigt schon der sprachliche Variantenreichtum an – neben dem vorherrschenden Latein auch Griechisch, Hebräisch, Deutsch, Schwedisch, Niederländisch, Französisch, Tschechisch, Russisch, Lettisch und Estnisch –, dass wir es hier mit einer Übergangssituation zu tun haben. (Vgl. Salu 1965, 143–187) Es versteht sich von selbst, dass auf diese Art und Weise die in Europa gängigen Poetikanleitungen auch in Estland Verwendung fanden. In diesem

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Hinblick unterschied sich die universitäre Welt des 17., aber auch früherer Jahrhunderte, wenig von der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts. Fast überall in humanistischen Kreisen wurde damals die 1561 erschienene Poetik Poetices libri septem von Julius Caesar Scaliger befolgt, die im deutschsprachigen Raum durch die Vermittlung von Martin Opitz in dessen Poetery (1624) bekannt geworden ist. Gleichzeitig fügte Opitz noch ein entscheidendes Element hinzu, nämlich die Konzentrierung auf die Volkssprache (s.u.). Für Estland ging man lange ebenfalls von Opitz’ Einfluss aus, doch deuten neuere Forschungen, zumindest was die im Umkreis der Academia entstandenen Gedichte betrifft, auf einen stärkeren Einfluss Scaligers hin. Nicht auszuschließen ist freilich auch, dass in Tallinn der Einfluss von Opitz stärker war (s.u.), während in Tartu eher Scaliger das Sagen hatte (vgl. K. Viiding 2002, Undusk 2003). Auch wenn die Universität mit neun bis zehn Professoren und durchschnittlich ca. 100 Studenten an vier Fakultäten (Theologie, Philosophie, Jura und Medizin) nicht gerade groß war – aber das entsprach in etwa der Größe der Greifswalder oder Erfurter Universität in jener Zeit – und obwohl sie aufgrund der Belagerung und Eroberung Tartus durch die Russen schon im Herbst 1656 ihre dortige Tätigkeit vorerst einstellen musste, waren diese ersten 24 Jahre doch von erheblicher Bedeutung für das Kulturleben Estlands. Sie bildeten den Auftakt zu einer bald als Wiege der nationalen Identität bezeichneten Institution. Der Versuch einiger nach Tallinn geflüchteter Professoren und Studenten, den Lehrbetrieb dort in den Räumen des Gymnasiums fortzuführen, scheiterte jedoch am Widerstand des Tallinner Stadtrats, der keine privilegierte Institution in seinem Einflussbereich duldete und die Universität zwang, sich als private Einrichtung über Wasser zu halten. Das gelang in Ermangelung der nötigen Ressourcen kaum, ein Weiteres tat die Pestepidemie von 1657, und 1665 beschloss der Rat von Tallinn endgültig, die Universität zu schließen. Erst eine Generation später, 1690, erfolgte die Wiedereröffnung in Tartu, nunmehr als Academia GustavoCarolina, doch auch diesmal war der Alma Mater kein langes Leben beschieden: Zehn Jahre später brach der Nordische Krieg aus, vor dem die Universität samt Bibliothek und Druckerei erneut flüchtete, diesmal nach Pärnu, wo immerhin noch von 1699 bis 1710, als die Stadt vor den Truppen von Peter I. kapitulierte, der Lehrbetrieb aufrechterhalten werden konnte. 1710 wurden die Druckerei und Bestände der Universitätsbibliothek nach Stockholm evakuiert, wo Letztere bis heute sind, und die Universität geschlossen. Tartu war im Nordischen Krieg 1704 von den russischen Truppen erobert und 1708 dem Erdboden gleichgemacht worden, so dass an eine Wiedereröffnung so schnell nicht zu denken war. Es sollte fast ein Jahrhundert dau-

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ern, ehe 1802 die Neueröffnung in Tartu erfolgen konnte. Seitdem hat die Universität alle Regierungs- und Regimewechsel überdauert und feiert im Jahre 2007 ihr 375-jähriges Bestehen. Reiner Brockmann Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass in dieser Zeit auch die ersten Gelegenheitsgedichte auf Estnisch erschienen. Beinahe jede chronologisch aufgebaute estnische Gedichtanthologie beginnt heute mit dem Jahr 1637, aus dem das erste gedruckte estnische Hochzeitsgedicht überliefert ist. Sein Verfasser Reiner Brockmann (Brocmann und noch andere, teils latinisierte Schreibweisen) stammte aus Mecklenburg, besuchte die städtische Schule in Rostock, das Gymnasium in Hamburg und die Universität wiederum in Rostock. 1633 berief ihn Heinrich (Henricus) Vulpius, der von 1620 bis 1632 Rektor der Rostocker Stadtschule gewesen war und von 1632 bis zu seinem Tode Rektor des Tallinner Gymnasiums war, an eben dieses Gymnasium, wo Brockmann 1634 als Professor für Griechisch eingeführt wurde. Von 1639 bis zu seinem Tode war er Pastor in Kadrina in Nordostestland. Er verfasste zahlreiche Gelegenheitsgedichte auf Lateinisch, Griechisch und Deutsch – und einige eben auch auf Estnisch. Wesentliche Impulse hierfür wird er von Paul Fleming bekommen haben, wenngleich nicht vergessen werden darf, dass die ersten (griechischen) Gelegenheitsgedichte von Brockmann älteren Datums sind und vermutlich in das Jahr 1626 zurückreichen. Und auch in Tallinn hatte Brockmann bereits 1634 Gedichte geschrieben. Trotzdem muss sich die Beziehung zum deutschen Barockdichter beflügelnd auf Brockmann ausgewirkt haben, wie man auf Grundlage der Gedichte, die Brockmann Fleming gewidmet hat, vermuten darf. Paul Fleming kam 1635 auf der Durchreise von Moskau zum ersten Mal nach Tallinn und freundete sich schnell mit seinem gleichaltrigen Landsmann an. Er war Mitglied einer Holstein-Gottorpschen Gesandtschaft unter Leitung von Adam Olearius, die schon auf dem Hinweg nach Moskau 1633 Station in Tartu gemacht hatte. Dort war Fleming unter anderem mit dem erwähnten Menius zusammengekommen. Nun blieb er über ein Jahr in Tallinn, um dort die Rückkehr der Gesandtschaft abzuwarten, mit der er dann eine Expedition nach Persien unternehmen wollte. Während dieser Zeit verliebte er sich nicht nur in eine zwei Jahre zuvor nach Tallinn übergesiedelte Kaufmannstochter aus Hamburg, sondern gründete mit seinen neuen literarisch interessierten Bekannten aus dem Umkreis des Tallinner Gymnasiums nach barockem deutschen Vorbild – und wie er es auch schon in Leipzig getan hatte – eine Schäfergesellschaft, im Rahmen derer man Ausflüge ins

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Grüne veranstaltete und sich der Dichtkunst nach den Opitz’schen Regeln widmete. Diesem Kreis gehörten außer Brockmann und Fleming noch der Poetikprofessor Timotheus Polus, der Rhetorikprofessor Heinrich Arninck sowie der Mathematikprofessor und Stadtarzt Gebhard Himsel an. Fleming war für sie vermutlich der Vermittler der Opitz’schen Poetik, auch wenn angenommen worden ist, dass Brockmann schon vor der Begegnung mit Fleming die Poetik von Opitz kannte (Lepajõe 2003, 332). Ein Kontrast zu den Prinzipien von Scaliger bestand darin, dass bei Opitz besonderer Wert auf die Volkssprache gelegt wurde. Damit waren Opitz und Fleming bekanntlich zu Wegbereitern der modernen deutschen Lyrik geworden, deren Daseinsberechtigung neben dem vorherrschenden Latein sie nachzuweisen suchten. Angeregt hierzu waren sie ihrerseits durch niederländische Vorbilder wie etwa Daniël Heinsius oder Johannes Meursius, die gezeigt hatten, dass man auch in der Volkssprache, in diesem Fall Niederländisch, dichten konnte. Opitz hatte sich längere Zeit in Leiden aufgehalten, und auch in Flemings Nachlass findet sich ein Buch über Poetik von Meursius aus dem Jahre 1602. Dieser Nachlass befindet sich in Tallinn und wirft abschließend ein etwas tragisches Licht auf diese deutsch-niederländisch-estnische Verbindung: Nach seiner Rückkehr aus Persien fand Fleming seine Angebetete in Tallinn verheiratet vor und warf daraufhin ein Auge auf deren jüngere Schwester, mit der er sich 1639 verlobte. Fleming wollte in Tallinn bleiben und hatte schon eine Stellung in Aussicht, wozu er nur noch seine Studien vernünftig abschließen musste. Zu diesem Zweck reiste er nach Leiden, wo er 1640 promoviert wurde. Auf der Rückreise nach Tallinn erlag er aber in Hamburg einem Fieber, so dass heute nur sein Büchernachlass in Tallinn ist. Dass Fleming es ernst mit Estland meinte, mag aus dem folgenden Abschnitt hervorgehen, der dem Hochzeitsgedicht »Liefländische Schneegräfin, auf Herrn Andres Rüttings und Jungfrau Annen von Holten Hochzeit« entnommen ist: … Die Braut, bald rot, bald blaß, fieng endlich an zu reden: Wat schal ich arme Kind? Gott wet, wat sy my deden, Das ander Ycks – Kacks – Kol hub sie auf undeutsch an, das ich noch nicht versteh’, und auch kein Gott nicht kan. … (zit. nach Fleming 1865, 98)

Das Gedicht ist bereits 1636 geschrieben und insofern bemerkenswert, als hier drei estnische Wörter eingebaut sind: üks, kaks, kolm (in heutiger Orthographie) bedeuten ›eins, zwei, drei‹. Wenn der Dichter in der folgenden Zeile sagt, dass er dies noch nicht verstehe, so kann man das so interpretieren, dass

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er die Absicht hatte, die Sprache zu lernen. Interessanterweise hat sich zwei Jahrhunderte später der Herausgeber der Fleming’schen Gedichte nicht darum bemüht herauszubekommen, um welche Sprache es hier geht, und in seinem Glossar, das alle in Flemings Gedichten enthaltenen Wörter aufführt, den Eintrag zu Ycks-Kacks-Kol umschrieben mit »onomatopoet. der fremden Sprache« (Fleming 1865, 937). Ein weiteres Indiz für Flemings Interesse an Estland kann man dem Verzeichnis der »Verlorenen Gedichte« entnehmen, das seiner Gesamtausgabe beigefügt ist: Hier gibt es auch ein Gedicht mit dem Titel »An Esthonien, die liebe« (Fleming 1865, 539), von dem wir aber eben leider nur den Titel kennen. Wie dem auch sei, Brockmann hat die Idee von der Anwendung der poetischen Regeln auf die Volkssprache so wortwörtlich genommen, dass er sie nicht nur auf seine Muttersprache bezog, sondern als offenbar sehr am Estnischen Interessierter kurzerhand auch auf die örtliche Volkssprache ausdehnte. Er selbst war sich dabei der Besonderheit seines Unterfangens bewusst und fügte seinem ersten – bzw. dem ältesten erhaltenen – estnischen Hochzeitsgedicht, schmunzelnd-überschwänglich eine deutsche Erklärung an: ANdre mögn ein anders treiben; Ich hab wollen Esthnisch schreiben. Ehstnisch redet man im Lande / Esthnisch redet man am Strande / Esthnisch redt man in der Mauren / Esthnisch reden auch die Bauren / Ehstnisch reden Edelleute / Die Gelährten gleichfals heute. Esthnisch reden auch die Damen / Esthnisch / die auß Teutschland kamen. Esthnisch reden jung’ und alte. Sieh / was man von Esthnisch halte? Esthnisch man in Kirchen höret / Da GOtt selber Esthnisch lehret. Auch die klugen Pierinnen Jetz das Esthnisch lieb gewinnen. Ich hab wollen Esthnisch schreiben; Andre mögn ein anders treiben. (zit. nach Brockmann 2000, 94f., ohne Behebung der Inkonsequenzen bei der Orthographie, vgl. z.B. die Schreibweise von »Ehstnisch« bzw. »Esthnisch«)

Dieses Parallelen zu Horaz aufweisende Gedicht (vgl. Lepajõe 1994, 601 bzw. 2003, 331f.) kann man geradezu als Manifest auffassen: Von nun an möge man auf Estnisch dichten! Zwar lässt sich keine ununterbrochene Kontinuitätslinie

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von Brockmann bis ins 21. Jahrhundert nachweisen – und muss das Manifest, wenn nicht als folgenlos, so doch zumindest als in seiner Wirkung sehr begrenzt angesehen werden –, doch ist andererseits unstrittig, dass dieser von Brockmann unternommene Versuch doch mehr als eine Eintagsfliege war. Er war nicht mehr und nicht weniger als der Anfang einer eigenen estnischen Literatur, und wie überall ist auch im Falle des Estnischen normal, dass die Personen, die am Beginn stehen, in mehreren Sprachen gedichtet bzw. geschrieben haben. Dies sollte aufgrund der besonderen Situation in Estland auch noch ein paar Jahrhunderte so bleiben, und allenfalls in der Länge dieser Entstehungsperiode liegt ein estnisches Spezifikum, nicht in der Tatsache an sich. Insgesamt sind von Brockmann 45 Gedichte bekannt, wobei man von zweien nur von ihrer Existenz weiß bzw. die Überschrift, nicht aber den Inhalt, kennt. Alle Gedichte wurden vor einigen Jahren gemeinsam mit seinen anderen Werken (Kirchenlieder, Reden und Briefe) in einer sorgfältig kommentierten und reichhaltig mit Faksimiles ausgestatteten Ausgabe publiziert (Brockmann 2000). Fast die Hälfte der Gelegenheitsgedichte (21) ist auf Lateinisch abgefasst, ein gutes Drittel (16) auf Deutsch, drei auf Griechisch und fünf auf Estnisch. Es sind Hochzeitsgedichte, Trauer- bzw. Begräbnisgedichte, Reisegeleitgedichte und Gratulations- bzw. Dedikationsgedichte. Die fünf estnischen Gedichte sind mit einer Ausnahme allesamt Hochzeitsgedichte. Sie sind entstanden in den Jahren 1637–1643 und, wie für die damalige Periode der sich erst allmählich herausbildenden Schriftsprache üblich, sprachlich noch relativ uneinheitlich. Sie weisen erwartungsgemäß einige Germanismen wie z.B. stellenweise den Gebrauch eines Demonstrativpronomens in der Funktion eines bestimmten Artikels (den es im Estnischen nicht gibt) auf, sind im Großen und Ganzen aber in einer eloquenten Sprache verfasst. Das erste Gedicht, dem das oben zitierte deutschsprachige »Manifest« am Ende beigefügt wird, ist auch in seinem estnischen Teil eine Art Programm, wie die (sicherheitshalber lateinische) Überschrift andeutet: Carmen alexandrinum Esthonicum ad leges Opitij poëticas compositum, also eine Anwendung der Opitz’schen Regeln auf das Estnische. Nachfolgend werden die ersten und die letzten acht Zeilen des Gedichts wiedergegeben: Kui õnnis on see mees, kes Isa peale loodab (kes kõiges paigas on) ning õnne järel ootab, kumb jumal ise toob, kumb jumal annab neile, kes hästi käivad eel, oh ristirahvas, teile! Seepärast südamest sind, peigmees, kiidan mina, et oled meelega nii kaua ootnud sina su ausa elu sees see suure kõrge õnne, kumb jumal annab nüüd; kui tõdeks teeb mu kõne

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… Siis mine sina ka, ja aja hästi taga, las hästi teha tööd, et küll sa oled vaga. Siis anna armsast suud, ning hakka kangest’ kaela, käi koju pruudiga: ning päästa kaunist paela. See pruut saab käima eel, need teised käivad pära, ning nutvad väga, et üks neist saab viidud ära. Siis minge mängima, et pea küll saab nähtud, mis teie mänguga on ööseajal tehtud. (Orthographisch modernisiert, wie in heutigen Anthologien üblich. FaksimileDruck bei Brockmann 2000, 93f.)

Das Gedicht zählt insgesamt 42 Zeilen und ist ein klassisches Hochzeitsgedicht, in dem zunächst die Rechtschaffenheit des Bräutigams, die Schönheit der Braut, der Reichtum des Brautvaters etc. besungen werden: ›Wie selig ist der Mann, der auf den Herrn hofft // (der an allen Orten ist) und auf sein Glück wartet, // das Gott selbst bringt, das Gott denen gibt // die gut vorangehen, oh Christenvolk, euch! // Deswegen lobe ich dich, Bräutigam, von ganzem Herzen, // dass du absichtlich so lange gewartet hast // auf dieses große Glück in deinem ehrlichen Leben // das Gott nun gibt, wenn meine Rede wahr wird // …‹ Am Ende werden die Gäste zum Gehen aufgefordert, das Fest ist vorbei, und das Brautpaar wird noch mit einem leicht frivolen Schlussvers verabschiedet: ›Dann geh auch du und streng dich ordentlich an // lass gute Arbeit machen, dass du wohl fromm seist // Dann gib einen lieben Kuss und fall [ihr] um den Hals // Geh nach Hause mit der Braut und löse das schöne Band // Die Braut wird vorausgehen, die anderen hinterdrein // und weinen sehr, dass eine von ihnen fortgebracht wird // Dann geht spielen, schon bald werden wir sehen // was mit eurem Spiel in der Nacht vollbracht worden ist.‹ Die Sauberkeit der Alexandriner und ihres weiblichen Reims ist bestechend und gleichzeitig ein überzeugendes Argument dafür, dass das Gedicht nicht ein achtlos dahin geworfener Versuch ist, sondern erst nach sorgfältigen Vorarbeiten entstanden sein kann. Brockmann hatte sich also sicherlich schon länger, wahrscheinlich seit seiner Ankunft in Estland, mit der örtlichen Sprache beschäftigt und erbrachte mit diesem Gedicht den Nachweis, dass ein Dichten auf Estnisch sehr gut möglich ist. Auch weitere estnische Gedichte überschrieb der Autor mit (programmatischen) lateinischen Titeln, so sind von ihm eine Oda Esthonica Jambico-Trochaica und eine Oda Esthonica Trochaica in den Jahren 1638 und 1639 gedruckt worden, während das vierte Gedicht von 1643 als Element eines viersprachigen Hochzeitslieds keine eigene Überschrift erhielt. Das fünfte Gedicht ist ein 1637 in Stahells Hand-

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und Hauszbuch veröffentlichtes Lied, das Brockmann offenbar auf Deutsch verfasst und selbst ins Estnische übertragen hatte. Man kann darüber spekulieren, ob diese 246 estnischsprachigen Verszeilen allein Brockmann schon einen Platz in der estnischen Lyrikgeschichte sichergestellt hätten. Zweifellos liegt seine Bedeutung auch in der Übersetzung von Kirchenliedern, derer 22 postum im Gesangbuch von 1656 (vgl. § 12) erschienen sind. Sie haben ihren Verfasser weit länger überlebt als seine Gedichte, was nicht zuletzt an der poetischen Erudition ihres Autors gelegen haben wird. Weitere Dichtungen des 17. Jahrhunderts Es ist nicht viel estnisches Material aus dem 17. Jahrhundert überliefert. Die meisten Gelegenheitsgedichte wurden zwar gedruckt, jedoch gelangten sie selten in Konvolute – in denen sie überdies rein bibliothekstechnisch später nur mühselig wieder dingfest gemacht werden können – oder anderweitig zwischen feste Buchdeckel, sondern wurden auf losen Blättern ausgeteilt. Derlei Material hält dem Zahn der Zeit nur sehr begrenzt stand. Ferner waren die immer wieder aufflammenden Kriege einer Bewahrung solch ephemeren Materials nicht förderlich. Schließlich ist auch die Pest nicht zu vergessen, die bei einer so relativ dünnen Schicht von Intellektuellen einschneidende Wirkung haben kann. Jedenfalls ist die Häufigkeit des Todesjahrs 1657 bei den hier relevanten Verfassern auffällig. In jenem Jahr wütete in ganz Estland eine Pestepidemie, deren exakte Opferzahl nicht bestimmt werden kann, aber an manchen Orten könnten bis zu zwei Drittel der Bevölkerung daran gestorben sein (Laidre 1999, 304). Da die Tartuer Universität – und mit ihr die Druckerei – 1656 einstweilen ihren Betrieb einstellte, endete damit auch eine erste Blütezeit der akademischen Gelegenheitsdichtung. Dennoch ist das Datum vom Standpunkt der estnischen Gelegenheitsdichtung betrachtet von untergeordneter Bedeutung, weil die Tartuer Dichtung, wie erwähnt, vorwiegend Lateinisch war und ganze drei Gedichte auf Estnisch erschienen waren (K. Viiding 2002, 42). Fruchtbarer scheint hier das Tallinner Gymnasium gewesen zu sein, in dessen Umfeld mehrere Professoren auch auf Estnisch Gedichte verfassten. Generell wurden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Bedingungen schlechter. Vielerorts unterbanden die Behörden den Handel mit Gelegenheitsgedichten oder verboten die Tätigkeit ganz, weil zu viel Frivoles oder Obszönes bzw. auch bloß Verleumderisches zirkulierte. Schon 1658 erging beispielsweise in Hamburg ein diesbezügliches Verbot, 1664 folgte ein solches im schwedischen Reich, 1665 wurde in Tallinn eine neue Landord-

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nung erlassen, die das Geldverdienen mit Gelegenheitsgedichten untersagte (K. Viiding 2005, 372–373). Seit 1667 wurde die Hochzeitsdichtung in Tallinn zensiert, 1668 wurde das schwedische Verbot auch auf die Kolonien, d. h. also auch auf Estland und Livland ausgedehnt. Damit war einer weiteren geregelten Befassung mit dem Genre weitgehend der Boden entzogen, und man beschäftigte sich nur noch sporadisch damit. Von den heute ca. 30 bekannten estnischen Gelegenheitsgedichten aus jener Zeit (s. Alttoa/Valmet 1973 mit einer erschöpfenden Dokumentation, der nur wenige spätere Funde hinzuzufügen sind, vgl. etwa Põldvee 1992) sind zwei Drittel auf Nordestnisch und ein Drittel auf Südestnisch abgefasst. Der größere Teil stammt von Autoren, die – wie Brockmann – Pastoren aus dem weiteren Umkreis von Tallinn waren. Allerdings spielt wohl auch hier wieder die günstigere Überlieferungslage eine Rolle, es gibt jedenfalls keinen triftigen Grund zu der Annahme, dass im Bereich von Tartu entsprechende Dichtungen seltener aufgetreten seien. In der Mehrheit geht es um Hochzeitslieder, nur vereinzelt gibt es Begräbnis- und Dedikationslieder, erwähnenswert ist nur die Anhäufung von Begräbnisliedern anlässlich des Todes von Karl XI. Einige Autoren sind bekannt und tauchen im Zusammenhang mit der kirchlichen Literatur, vor allem den Gesangbüchern, erneut auf, so etwa Heinrich Göseken, Daniel Göbel, Johann Gutslaff, Josua Möllenbeck, Georg Saleman(n) oder Olaus Georg Salenius, andere Gedichte sind nur anonym überliefert. Von den gedruckten sind die meisten in Tallinn erschienen (15), der Rest in Tartu und Pärnu oder im Ausland, einige sind nur handschriftlich oder in späteren Drucken überliefert worden. Im Falle des Letzteren hätten wir es also mit der Besonderheit zu tun, dass manche der Gelegenheitsgedichte eine gewisse Popularität erlangten und bei weit mehr Gelegenheiten als nur der einen, für die sie ursprünglich geschrieben worden waren, vorgetragen wurden. Sie sind mündlich weitergetragen, aber auch abgeschrieben und vervielfältigt worden. Dadurch weisen sie dieselben Wesenzüge auf wie die ursprüngliche estnische Volksdichtung, von der sie in manchen Fällen kaum zu unterscheiden sind. So konnte auch geschehen, dass unbedarfte Beobachter etwas als »reine Volksdichtung« aufgezeichnet haben, was sich bei näherer Betrachtung und Auffinden des entsprechenden Vorbilds als Adaptation oder Variante eines einst gedruckten Gelegenheitsgedichts entpuppte (Salu 1965, 180). Noch deutlicher wird die Parallele zur alten Volksdichtung bei den Liedern bzw. Gedichten, die anonym gedruckt und weitergereicht worden sind. Sie weisen mitunter alle Kriterien der Volksdichtung auf: Trochäus, Alliteration und Parallelismus finden Verwendung in dem anonymen Hochzeitsgedicht für Heinrich Heller und Dorothea Elisabeth Frölich aus dem Jahre 1717 (Alttoa/Valmet 1973, 87–90).

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Käsu Hans Eine besondere Stellung nimmt Käsu Hans (Hans Kes) mit seinem Oh! ma waene Tarto Liin …, einem Klagelied über den Untergang von Tartu im Nordischen Krieg, ein. Dabei interessiert nicht so sehr, dass wir es bei ihm offenbar mit einem gebürtigen Esten zu tun haben, was die frühere Forschung immer wieder betont hat, vom hier vertretenen Standpunkt her aber irrelevant ist; viel entscheidender ist, dass sich das Gedicht von der herkömmlichen, bis dato praktizierten Gelegenheitsdichtung eindeutig abhebt, denn es ist nicht zu einem der üblichen gesellschaftlichen Anlässe verfasst worden, sondern fußt auf einer singulären lokalen Katastrophe. Damit geht einher, dass es keinerlei barocke Elemente enthält, sondern eine nüchterne Reportage über ein einschneidendes Ereignis ist. In dem 256 Zeilen (32 achtzeilige Strophen) umfassenden Gedicht beklagt die Stadt Tartu als Subjekt ihr eigenes Schicksal. Die ersten Strophen beginnen jeweils mit einer Hervorhebung des einstigen Glanzes – wie schön die Straßen, Häuser und Gärten waren, wie berühmt die Universität, wie blühend der Handel war etc. – und enden mit dem Klageruf »Ach! Ich armes Tartu!«. Die weiteren Strophen beschreiben die Belagerung und Eroberung der Stadt sowie ihre Einäscherung, Letztere sogar mit exaktem Datum. Es folgt eine Warnung an Tallinn, Pärnu und Riga, die den Hochmut fahren lassen und sich in Demut üben mögen, um ein vergleichbares Schicksal zu vermeiden. Mit den Zeilen »Ein Haufen Steine bin ich hier // oh! Ich armes Tartu.« endet die Dichtung. Das Gedicht ist gereimt und zeigt durch seine Ausdruckskraft und Formgebung, dass sein Autor sowohl die zeitgenössische kirchliche Literatur wie auch die estnische Volksdichtung gut gekannt haben muss. Überdies kann man Ähnlichkeiten mit anderen zeitgenössischen Texten, etwa einem 1695 gedruckten Text über die Zerstörung von Jerusalem oder Begräbnisgedichten, feststellen. Über den Verfasser ist außer seinem Namen und seiner zeitweiligen Anstellung als Küster und Schulmeister in der Nähe von Tartu wenig bekannt. Ebenso wenig ist ein Original des offenbar 1708 entstandenen Gedichts bewahrt, jedoch stammt die erste Niederschrift bereits aus dem Jahre 1714 aus einem Tartuer Kirchenbuch. Es ist erst fast zwei Jahrhunderte später gedruckt worden (Bienemann 1902), war aber während der gesamten Zeit im Volksmund in Südestland lebendig. Dies bezeugen die verschiedenen Varianten, die in schriftlicher Form überliefert worden sind. Damit verkörpert das Klagelied von Käsu Hans in mehrfacher Hinsicht eine Übergangsform. Obwohl nicht anonym, existierte es lange Zeit im Volksmunde und wurde erst viel später gedruckt. Obwohl relativ schnell

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nach seinem Entstehen niedergeschrieben, wurde es auch danach noch in verschiedenen Versionen schriftlich fixiert. Obwohl keine barocke Gelegenheitsdichtung, ist es doch anlässlich einer bestimmten Begebenheit verfasst worden, mit einem entscheidenden Unterschied: nicht zu einem Anlass, sondern aus einem Anlass, d.h. im Nachhinein. Dies war der Umschlag von der Gelegenheits- zur Erlebnisdichtung, wie wir ihn auch aus anderen Literaturen kennen. Der Impuls zum Abfassen des Gedichts war plötzlich von fundamental anderer Art als bei der früheren Gelegenheitsdichtung: In den Vordergrund rückte das Mitteilungsbedürfnis, zu dessen Gunsten das Vergnügungselement in den Hintergrund trat. An der Schwelle zur Aufklärung Da Käsu Hans’ Lied nur mündlich zirkulierte, das Land nach dem Nordischen Krieg völlig verwüstet und die Bevölkerung dezimiert war, entstand hiermit noch keine irgendwie geartete »literarische« Tradition. Im Gegenteil, die Gelegenheitsdichtung flackerte nur noch sporadisch zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf und endet dann, wie im Rest von Europa, gänzlich. Sie blieb eine relativ begrenzte und isolierte Erscheinung und ist nur mit Einschränkungen als Zwischenglied zwischen Folklore und moderner Literatur oder Auftakt zu Letzterer zu sehen. Eher steht sie als frühes Zeugnis von der Modernität der estnischen Dichtung ziemlich alleine da. Danach gerät sie in Vergessenheit, um erst zwei Jahrhunderte später wiederentdeckt zu werden. Das ganze 18. Jahrhundert ist im Weiteren arm an lyrischen Zeugnissen des Estnischen. Es hat den Anschein, als habe sich der Schwerpunkt verlagert und die Energie der wenigen, die überhaupt in der Lage waren, Texte zu produzieren, auf andere Dinge konzentriert: auf die Erstellung von Grammatiken und Lesebüchern (§ 11), die Übersetzung der Bibel (§ 12) oder allgemein aufklärerische und erbauliche Schriften (§ 13). Nur ganz vereinzelt finden sich gegen Ende des Jahrhunderts hier und da estnische Gedichte, häufig innerhalb eines deutschen Kontextes bzw. sogar in Deutschland erschienen. So gibt es aus den 1780er-Jahren einige Publikationen, die estnische Sprachproben bringen und dabei zeitgenössische Gedichte in deutscher Übersetzung abdrucken (vgl. Hasselblatt 2004, 103, 142f.). Die Urheberschaft ist bei diesen sentimentalen Dichtungen bisweilen ungeklärt oder bewusst geheimnistuerisch anonym gehalten, für manche hat man Bernd Heinrich von Tiesenhausen als Autor angenommen. Das ihm zugeschriebene Gedicht Tiiu tasane ja helde (Tiiu, hold und sanft) hat später mit Hilfe der populären Kalender sogar eine gewisse Verbreitung erreicht. Dennoch ist die Überlieferungslage viel zu dünn, als dass man hieraus eine Kontinuitätslinie

§ 11 Frühe Grammatiken und Abc-Bücher

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oder auch nur Brücke von der Gelegenheitsdichtung des 17. zur frühromantischen Dichtung des 19. Jahrhunderts konstruieren könnte. Es bleiben Streubelege, die im Rahmen der Aufklärung von anderen Völkern und Kulturen wahrgenommen wurden.

§ 11 Frühe Grammatiken und Abc-Bücher Die Estnischkenntnisse der Oberschicht Welche Sprache in Estland gesprochen wurde, hing nach wie vor beinahe ausnahmslos von der sozialen Stellung der jeweiligen Person ab: Die Oberschicht sprach Niederdeutsch, das allmählich in Hochdeutsch überging, obwohl noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Niederdeutsch als Umgangssprache in Tallinn angetroffen werden konnte, und die Unterschicht bediente sich des Estnischen. Begrenzt auf den kleinen akademischen Kreis war das Lateinische, als neue Verwaltungssprache kam in geringem Maße das Schwedische hinzu. Alle anderen Sprachen waren von marginaler Bedeutung. Eine Zweioder Mehrsprachigkeit war auf kleinere Gruppen begrenzt. Von alters her hatte es Mönche gegeben, die sich die örtliche Sprache angeeignet hatten, ferner hatten manche Aufsteiger ihre Muttersprache nicht vergessen und waren zweisprachig geworden, Kaufleute hatten die örtlichen Sprachen erlernt, und in zunehmendem Maße waren die protestantischen Pastoren angehalten, in der Landessprache zu predigen. Dies entsprach den Grundsätzen der schwedischen Politik, hiermit wollte man dem Protestantismus zum entscheidenden Sieg über den Katholizismus verhelfen. Bereits 1586 erging unter dem Tallinner Bischof Christian Agricola, der ein Sohn des finnischen Reformators Mikael Agricola war, eine Bestimmung, der zufolge die Prediger im Lande die örtliche Sprache beherrschen mussten. Der Aufbau neuer Strukturen nach schwedischem Vorbild verlief jedoch sehr schleppend, da das Land sich lange im Kriegszustand befand, auch wenn sich Nordestland nominell bereits 1561 dem schwedischen König unterworfen hatte. Erst nachdem auch Livland erobert war und das estnischsprachige Gebiet sich in seiner Gesamtheit unter schwedischer Herrschaft befand, kehrte für eine Zeit Frieden ein. Gustav Adolf wollte nun endlich klare Verhältnisse schaffen und entsandte 1627 eine Kommission unter der Leitung des Bischofs von Västerås, Johannes Rudbeckius, nach Estland. Sie führte eine strenge Visitation durch und fand niederschmetternde Zustände vor: Ein nicht geringer Teil der Pastorenschaft muss ziemlich ungebildet gewesen sein, ihre Estnischkenntnisse waren durchgehend schlecht, manche waren gar dem

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Trunk ergeben (R. Raag 2003, 338, vgl. auch Westrén-Doll 1956). Rudbeckius setzte noch im gleichen Jahr sechs neue Pröpste ein, mit deren Hilfe er die Kirche wieder auf Vordermann bringen wollte. Gleichzeitig zog er damit die Feindschaft des estländischen Adels auf sich, der bislang selbst alle Geistlichen eingesetzt hatte und auf sein Mitspracherecht nicht verzichten wollte. In der Folgezeit scheiterten viele der umfassenden Reformierungspläne an diesem Widerstand, so dass eine elf Jahre später durchgeführte Visitation des frisch eingesetzten Bischofs von Tallinn, Joachim Jhering, zu den gleichen niederschmetternden Ergebnissen hinsichtlich des Bildungsstandes und der Sprachkenntnis der Pastoren kam. Eine Konsequenz der schwedischen Bemühungen war aber, dass die Erstellung von Lehrmaterial vorangetrieben wurde, denn wenn man etwas gegen die schlechten Estnischkenntnisse der Pfarrer unternehmen wollte, so bedurfte es dazu der entsprechenden Hilfsmittel. Die Grammatiken des 17. Jahrhunderts Angesichts dieser Situation überrascht nicht, dass in einem Zeitraum von nicht einmal 60 Jahren vier estnische Grammatiken erschienen sind: 1637, 1648, 1660 und 1693. Dies liegt allerdings nicht nur an den beklagenswerten Sprachkenntnissen der Pfarrer, sondern auch an dem Nebeneinanderbestehen der beiden Varianten des Estnischen sowie an der Verwaltungsgrenze zwischen Estland und Livland, die zu Konkurrenz und auch Antagonismen zwischen den Bistümern bzw. Konsistorien in Riga (für Südestland, d.h. Livland) und Tallinn (für Nordestland) geführt hatte. Diese Grammatiken waren keine Sprachbeschreibungen im heutigen Sinne, sondern Sprachlehrbücher, was zum Teil aus ihren Titeln hervorgeht. Sie waren gedacht als Lehrmittel für Personen, deren Muttersprachler nicht Estnisch war, sie waren aber auch durchweg von Nichtmuttersprachlern des Estnischen abgefasst. Das muss noch kein Nachteil sein und keineswegs bedeuten, dass die Verfasser kein gutes Estnisch konnten, andererseits ist verständlich, dass sich auf diesem Wege auch Formen in die Werke eingeschlichen haben, die nicht unbedingt dem zeitgenössischen Estnisch entsprachen. Es waren von Deutschen für Deutsche geschriebene Estnisch-Lehrbücher, die in Ermangelung von Vorarbeiten Pionierarbeit leisten mussten. Die Frage, woran man sich orientieren und auf welche Sprachform man sich stützen sollte, wurde für das gesamte Jahrhundert zu einem Zankapfel zwischen dem konservativen Norden unter der Ägide des Tallinner Konsistoriums und dem progressiverem Livland im Umfeld von Tartu und Riga. Den Auftakt bildete 1637 die Anführung zu der Esthnischen Sprach von Henricus Stahell, der durch diesen Erstling, mehr aber noch durch seine kirch-

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lichen Handbücher (vgl. § 12) zum »Vater« der estnischen Schriftsprache wurde. Der Name dieses um 1600 in Tallinn geborenen Begründers der estnischen Orthographie ist Jahrhunderte lang als »Heinrich Stahl« überliefert worden, weil das vorherrschende Deutsch und die Praxis der Druckereien hier vereinheitlichend eingegriffen haben. In den Buchtiteln figuriert er meistens im Dativ als »Stahlen« oder »Staheln«. Eine gründliche Untersuchung der Autographen des Autors unter lateinischen, deutschen und schwedischen Briefen lässt hingegen die Nominativform »Henricus Stahell« plausibler erscheinen (R. Raag 2002), weswegen im Weiteren dieser Name verwendet wird. Stahell muss bereits als Kind die Möglichkeit gehabt haben, Estnisch zu hören und zu sprechen, trotzdem ist seine Sprache reichlich mit Germanismen durchsetzt. Dies mag an seinem Bildungsweg, der ihn an die Universitäten von Rostock, Greifswald und Wittenberg führte, gelegen haben, aber es ist auch ein Indiz für die Undurchlässigkeit der Standesgrenzen im 17. Jahrhundert. Auch kann Stahell, der ab 1623 Pastor in Nordestland war, nicht zu denjenigen schlechten Kennern des Estnischen gehört haben, mit denen die Visitation von Rudbeckius so hart ins Gericht ging, denn niemand anders als Rudbeckius berief Stahell 1627 zum Propst von Järvamaa, einem Landkreis in Mittelnordestland. Später war Stahell noch Oberpastor an der Tallinner Domkirche und ab 1641 Propst von Ingermanland und Alutaguse, dem Nordostzipfel Estlands, mit Sitz in Narva. Hier starb er 1657 an der Pest. Es ist klar, dass Stahell sich im Bereich der Orthographie, wo es noch gar keine Tradition gab, auf das Deutsche stützte; ebenso wenig kann man bei der grammatischen Beschreibung etwas anderes erwarten als das lateinische Modell mit seinem Sechs-Kasus-System, das damals auf alle Sprachen angewendet wurde und schlicht als das »einzige« und »logischste« galt. Aber was einige Satzbeispiele und Wortfügungen betrifft, so gab es auch im 17. Jahrhundert bereits bessere nichtmuttersprachliche Kenner des Estnischen. Dennoch ist gerade Stahell mit seinen zahlreichen Büchern zum Begründer der alten Schriftsprache geworden, was an seiner einflussreichen Position gelegen hat. Das geht allein schon aus dem Dedikationsgedicht im Vorspann der Grammatik hervor, das Timotheus Polus, Poetikprofessor am Tallinner Gymnasium, abgefasst hat: WEr Esthnisch reden kan / und kan das Beten nicht / Den habet ir / Herr Stahl / mit Schreiben unterrichtt Die Catechismus=Lehre Vom anfang biß zu letzt Habt ihr zu Gottes Ehre In Ehstnisch übersetzt. …

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Die erste estnische Grammatik

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Die Sprachlehre umfasst 134 Seiten, von denen 100 auf ein deutsch-estnisches Wörterverzeichnis entfallen, der Rest auf eine sehr knappe Beschreibung der Grammatik. Satzbeispiele oder Texte fehlen völlig. Was das Buch besonders macht, ist der Umstand, dass es auf Deutsch abgefasst ist: Zum damaligen Zeitpunkt fand Grammatikbeschreibung prinzipiell auf Lateinisch statt; alle anderen Sprachbeschreibungen, die ungefähr in jener Zeit entstanden sind, sind Lateinisch (vgl. R. Raag 2003, 359), und Stahells Buch war europaweit die erste deutschsprachige Grammatik einer Sprache. Die Ursache hierfür wird in dem oben erwähnten Befund der Visitationskommission zu suchen sein: Stahell fürchtete, dass seine potenzielle Leserschaft nicht genügend Latein konnte, und fasste sein Buch von daher auf Deutsch ab, in einer Sprache, von der er sicher sein konnte, dass seine Klientel sie beherrschen würde. Elf Jahre später erschien in Tartu ein Pendant für das Südestnische, Johann(es) Gutslaffs Observationes grammaticae circa linguam esthonicam. Gutslaff stammte aus Hinterpommern und hatte in Greifswald (1632–1634) und Leipzig (ab 1634) studiert, bevor er 1639 in Tartu immatrikuliert wurde. Hier legte er 1640 eine Disputation ab, und seit 1641 war er Pfarrer im südestnischen Urvaste. Dort arbeitete er bis 1656, dann floh er vor dem Krieg nach Tallinn, wo er 1657 der Pest erlag. Gutslaffs Grammatik ist mit ihren gut 150 Seiten (kein vollständiges Exemplar ist erhalten) etwas umfangreicher als die Stahell’sche Grammatik und enthält wie diese ein deutsch-estnisches Wörterverzeichnis, das mit gut 1700 Lemmata gegenüber den über 2300 bei Stahell aber etwas knapper ausfällt. Dafür ist die grammatische Beschreibung ausgebreiteter und zuverlässiger als bei Stahell, beispielsweise erkennt Gutslaff bereits, dass das lateinische Kasussystem eigentlich nicht passend ist und streicht daher den Vokativ und den Ablativ kurzerhand; stattdessen führt er in Analogie zum Hebräischen einen so genannten Rektiv ein, der als Basis für zahlreiche andere Formen gilt. Damit tut er nichts anderes als die auch von ihm erkannten 13 Kasus unter einem anderen Nenner zusammenzuführen, so dass er nach wie vor ein Paradigma mit fünf Kasus übrig behält. Wir haben es bei ihm also mit einer Art Übergangsgrammatik zu tun: Wohl wird eingesehen, dass das lateinische System nicht tauglich ist, aber man ist noch nicht so weit, ein anderes System an seine Stelle zu setzen. Gutslaffs Grammatik ist eine typische Vertreterin einer auch als »Missionslinguistik« bezeichneten Disziplin, die die Vermittlung einer fremden Sprache ganz in den Dienst der Verbreitung der christlichen Lehre stellt. Der Verfasser hatte offenkundig recht schnell und gründlich Estnisch gelernt, wenn man bedenkt, dass er erst 1639 im Lande eingetroffen war. Schon sein

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1644 publizierter Kurtzer Bericht … (vgl. § 8) verrät die gute Sprachkenntnis seines Verfassers. Womöglich war es in der südestnischen Provinz, wo man sich schwer in deutschsprachige höhere Schichten zurückziehen konnte, auch leichter, sich die Sprache anzueignen. Das Missionsgefühl des Autors wird schon im – auf Deutsch verfassten – Vorwort angedeutet, in dem er betont, dass alle Seelen vor Gott gleich sind und man keinen Unterschied zwischen den Sprachen machen solle. Hieraus folgt, dass man sich auch der Sprachen annehmen sollte, die bislang noch nicht verschriftlicht worden sind, sich in ihnen üben und die Bibel in sie übertragen sollte. Das Buch hat deswegen einen besonderen Stellenwert, weil es die erste und auf lange Zeit einzige südestnische Grammatik war und weil es eines der ganz wenigen Bücher in der Geschichte estnischer Drucke war, das in Tartu gedruckt worden ist. Bei der dortigen Universitätsdruckerei wurden normalerweise nur akademische Abhandlungen in den entsprechenden Sprachen gedruckt, das Privileg für estnische (und lettische) Drucke hatte in Livland Riga inne. Mit der 1660 erschienenen Manuductio ad Linguam Oesthonicam / Anführung Zur Öhstnischen Sprache … von Heinrich Göseken entsteht schon eine Tradition, denn Göseken bezieht sich ausdrücklich auf seine Vorgänger Stahell und Gutslaff, deren Werke er gelesen und verwendet hat. Göseken ist in Hannover geboren, hatte von 1631 bis 1634 in Rostock und anschließend in Königsberg studiert, ehe er 1637 nach Tallinn kam. Hier muss er sich schnell mit dem Estnischen vertraut gemacht haben, da er bereits 1638 eine Pfarrstelle in Nordwestestland erhielt. Von 1641 bis zu seinem Tode war er Pfarrer im ebenfalls nordwestestnischen Kullamaa. Bis auf den Titel enthält das weit über 500 Seiten starke Buch kaum Lateinisches und ist, wie Stahells Anführung, auf Deutsch verfasst. Auch im Grammatikteil stützte Göseken sich im Großen und Ganzen auf Stahell, den er im Vorwort seinen Lehrer genannt hat, und brachte hier keine nennenswerten Verbesserungen an, wenngleich er hier und da die Schwächen des Stahell’schen Systems erkannte und, zum Beispiel im Bereich der Orthographie, andere Lösungen vorschlug. Der Bezug zu Stahell wird weiter daran deutlich, dass der Druck seiner Grammatik wohl nur deswegen zustande kam, weil 1659 eine Neuauflage von Stahells Buch geplant war, woraufhin Göseken sein Manuskript dem Drucker angeboten habe (Endel Annus 2000, 85). Der wichtigste Teil ist das deutsch-estnische Wörterverzeichnis, das über vier Fünftel des Buches einnimmt und mit seinen mehr als 9000 Wörtern heute die wertvollste lexikologische Quelle aus dem 17. Jahrhundert ist. Auch finden sich hier erstmalig etymologische Hinweise zum estnischen Wortschatz. Einschneidender war die letzte Grammatik in diesem Jahrhundert, die eine Generation später von Johann Hornung verfasste Grammatica Esthonica,

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brevi, Perspicuâ tamen methodo ad Dialectum Revaliensem (1693). Hornung ist wahrscheinlich in Tallinn geboren und ging nach der Lehrzeit am dortigen Gymnasium zum Studium nach Wittenberg, wo er von 1679 bis 1683 immatrikuliert war. Ab 1692 hatte er verschiedene Pfarrstellen in Mittel- und Südestland inne, nach Ausbruch des Nordischen Kriegs wurde er von den Schweden, später von den Russen verhaftet und starb in russischer Gefangenschaft. Entscheidend für Hornungs Tätigkeit war die Zusammenarbeit mit Bengt Gottfried Forselius (s.u.). Er war sein Vetter – oder Onkel, die Verwandtschaft ist nicht ganz geklärt (vgl. Aarma 1996), auf jeden Fall waren sie ungefähr gleich alt –, mit dem er nicht nur seit seiner Kindheit Kontakt hatte, sondern auch gemeinsame Studienjahre in Wittenberg verbracht hatte. Nach seiner Rückkehr nach Estland widmete er sich intensiv der Bibelübersetzung (vgl. § 12). Hierbei wollte er eine neue Orthographie anwenden, weil ihm die alte zu sehr am Deutschen orientiert, dem Estnischen unangemessen und inkonsequent erschien. Üblicherweise stoßen derlei Reformvorhaben auf Widerstand, und so war es auch im Falle Hornungs, der beim Tallinner Konsistorium mit seinen Vorschlägen auf taube Ohren gestoßen war und daher Unterstützung in Riga suchte. Das war nicht weiter abwegig, da er auch in südestnischen Gemeinden tätig war. Allerdings sprach (und schrieb) er nordestnisch, was im Übrigen auch ein gutes Licht auf die denn doch nicht so großen Unterschiede zwischen den beiden Hauptdialekten wirft: Immerhin konnte ein im Nordestnischen geläufiger Pfarrer auch im südestnischen Sprachgebiet sein Amt ausführen. Die kleine Grammatik, die 1693 in Riga erschien, ist dabei eigentlich nur als Nebenprodukt im Zuge des Streits um die richtige Form der Bibelübersetzung anzusehen. Mit ihr sollte gezeigt werden, dass eine mehr an der Volkssprache orientierte Aufzeichnung des Estnischen möglich und machbar ist. Und genau hierin liegt das Verdienst von Hornungs schmalem Büchlein: Er führte eine neue Orthographie ein, die die alten Inkonsequenzen bereinigte und dem Estnischen wesentlich gerechter wurde. Sie ging als die so genannte »alte Orthographie« in die Geschichte ein und wurde erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch die »neue Orthographie« abgelöst, die im weitesten Sinne phonetisch ist und der heutigen bis auf wenige Ausnahmen gleicht. Von den anderen Grammatiken unterscheidet sich Hornungs Buch ferner darin, dass ihm kein Wörterverzeichnis beigegeben ist. Es ist eine nüchterne, durch die Verwendung der neuen Orthographie erstmalig auch normative Beschreibung des Estnischen, bei der alles Beiwerk wie Dedikationen, Vorreden und missionarische Einleitungen fortgelassen ist. Es bleiben alle 114 Seiten für die Grammatikbeschreibung, die damit ausführlicher sein kann als es bei ihren Vorgängerinnen der Fall war. Der erklärende Text ist durchweg lateinisch, während die Glossierung der Wörter auf Deutsch erfolgt.

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Schulwesen und Abc-Bücher Die behandelten Grammatiken bzw. Sprachlehrbücher waren ausnahmslos für die gebildete Schicht der Nichtmuttersprachler im Lande gedacht, es war also im weitesten Sinne Material für die Erwachsenenbildung. Parallel dazu brauchte man aber auch Lehrmaterial für den normalen Schulunterricht, in dem man den Kindern Lesen und Schreiben beibringen wollte. Die Anfänge der Schulbildung in Estland gehen zurück bis ins 13. Jahrhundert, als man bereits über lateinische Klosterschulen verfügte. Stadtschulen, die sich auch mit der gesprochenen örtlichen Sprache befassen, können auf das 15. Jahrhundert datiert werden, wobei als örtliche gesprochene Sprache erst einmal nur das (Nieder)Deutsche in Betracht kam. In der gleichen Zeit wurde auch auf dem Lande bei dem einen oder anderen Pastorat eine Kirchenschule eingerichtet. Mit der Reformation und der bald danach im Süden einsetzenden Gegenreformation entstanden Schulen für estnischsprachige Kinder, in denen diese im Katechismus in ihrer Muttersprache unterwiesen wurden. Erste Versuche einer Vereinheitlichung des Schulsystems konnten nach der Konsolidierung der schwedischen Macht festgestellt werden, als in den 1640er-Jahren der Landbevölkerung Katechismus- und Leseunterricht auferlegt wurde. Erste Dorfvolksschulen wurden in den 1650er-Jahren in der schwedischsprachigen Küstenregion gegründet. Die weiterhin unruhige Zeit sorgte hier aber für eine empfindliche Verzögerung, so dass eigentlich erst seit den 1680er-Jahren von einer konsequenten Entwicklung des estnischen Volksschulsystems die Rede sein kann. Maßgeblich beteiligt hieran war Bengt Gottfried Forselius, der in Wittenberg übrigens nicht Theologie, sondern Jura studiert hatte. In seinen pädagogischen Ansichten orientierte er sich an Comenius. Nach seiner Rückkehr nach Estland widmete er sich dem Schulunterricht und musste dabei die Unzulänglichkeit des verfügbaren Lehrmaterials feststellen. Hierdurch, durch seine Erfahrungen aus der Studienzeit und durch die Unterstützung des Generalsuperintendenten von Livland, Johann Fischer (vgl. § 12), wurde er angeregt, die bisherige Orthographie zu reformieren. Fischer war von 1675 bis 1700 in Riga tätig und hatte dort von der schwedischen Krone das Privileg zum Druck von Büchern in den Landessprachen erhalten. Auch Forselius erhielt so das Angebot, eine Fibel nach seinen neuen Prinzipien in Riga drucken zu lassen. In der Folgezeit verwandte er seine ganze Energie auf die Verbesserung des Lehrmaterials und die Organisation des Schulwesens. 1684 wurde in der Nähe von Tartu unter Forselius’ Leitung ein Lehrerseminar gegründet, an dem bis 1688 ca. 150 Esten lernten und mit ca. 50 tatsächlichen

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Absolventen die erste Generation estnischer Volksschullehrer ausgebildet wurde. Dann wurde das Seminar geschlossen, nachdem sein Gründer auf der Rückreise von Stockholm im Sturm umgekommen war. Zwar bedeutete der Nordische Krieg mit seinen Verheerungen und dem Wechsel der Macht von Schweden nach Russland einen empfindlichen Rückschlag und zeitweiligen Stillstand, jedoch konnte das Schulsystem im 18. Jahrhundert auf dem in schwedischer Zeit errichteten Fundament aufbauen. Allmählich wurden mehr und mehr Schulen gegründet, Güter wurden ab einer bestimmten Größe von der Zentralmacht dazu verpflichtet, eine Schule zu errichten, so dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts annähernd 600 Schulen für eine Bevölkerung von einer knappen halben Million bestanden. Der Prozentsatz an Analphabeten war zu jenem Zeitpunkt auf ein Drittel zurückgegangen. Anfangs bediente man sich im Unterricht wohl ausschließlich der in § 9 erwähnten Katechismen, aber die Erstellung von eigens für den Leseunterricht verwendeten Lehrbüchern dürfte nicht viel später erfolgt sein. Nur ist wie bei den Katechismen auch hier die Überlieferungslage mehr als dürftig. Beispielsweise wird in der Literatur gelegentlich das Jahr 1575 als frühestes Erscheinungsjahr eines estnischen Abc-Buches genannt, aber hiervon ist kein einziges Exemplar bewahrt, und die Angaben hierzu sind so kümmerlich, dass eine Aufnahme in die retrospektive Nationalbibliographie, die immerhin eine Reihe von nicht überlieferten, aber glaubhaft nachgewiesenen Drucken anführt, nicht erfolgt ist (Endel Annus 2000). Ein Gleiches trifft für weitere angenommene Fibeln aus dem 17. Jahrhundert zu, so sind für 1641, 1671, 1686 und 1688 glaubhaft Drucke von Abc-Büchern nachgewiesen, ohne dass auch nur Teile davon heute erhalten sind. Das älteste erhaltene Exemplar eines Abc-Buches stammt aus dem Jahre 1694. Hierbei handelt es sich um die dritte Auflage eines Abc-Buches von Forselius, dessen erste Auflage man für 1686, eine zweite für 1687 ansetzt. In dem 24 Seiten umfassenden Büchlein kommen die neuen Orthographieregeln zur Anwendung. Entsprechend den im Estnischen tatsächlich auftretenden Phonemen lautet der Titel denn auch AEHIK, denn b, c, d, f und g kommen im Estnischen nicht vor (b, d, g sind auch im heutigen Estnisch nur als Grapheme, nicht als stimmhafte Verschlusslaute vorhanden, c und f nach wie vor nur in Fremdwörtern). Einige Quellen weisen darauf hin, dass Forselius sein Buch, das in der nordestnischen Variante abgefasst war, erst in Tallinn drucken lassen wollte, dort aber auf unüberbrückbare Widerstände stieß, so dass es schließlich in Riga erschien. In Tallinn ist möglicherweise im gleichen Jahr (1686) eine Fibel von seinen Konkurrenten, die an den Konventionen der Stahell’schen Schriftsprache festhielten, erschienen. Auf jeden Fall war

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Forselius’ Buch ein Erfolg, 1698 und (vermutlich) 1700 erschienen zwei weitere Auflagen, diesmal in der südestnischen Variante. Von nun an kann man von einer kontinuierlichen Edition von Fibeln für beide Hauptdialekte des Estnischen sprechen, auch wenn die Überlieferung der Bücher nach wie vor äußerst lückenhaft ist. Für das gesamte 18. Jahrhundert kann man von etwa zehn verschiedenen Drucken ausgehen. Die Lesefähigkeit unter dem Volk war zum Ende des Jahrhunderts jedenfalls auf ca. zwei Drittel gestiegen, während es am Anfang vielleicht gerade einmal zehn Prozent gewesen waren, die lesen konnten. Vertiefung im 18. Jahrhundert Die beiden im 18. Jahrhundert erschienenen Grammatiken heben sich in einigen Punkten von ihren Vorgängerinnen des 17. Jahrhunderts ab. Zwar spürt man bei der ersten noch den Impetus der Missionslinguistik, die mit Hornung überwunden schien, aber beide basieren viel mehr auf der tatsächlich gesprochenen Sprache, sind also stärker deskriptiv, weniger präskriptiv. Sie sind zudem viel umfangreicher und bieten reichhaltiges Anschauungsmaterial, unterstützt durch ausgebreitete Glossare. Und die erste von ihnen enthält darüber hinaus auch längere Textpassagen, denen man einen belletristischen Einschlag schwerlich absprechen kann. Anton Thor Helles, von Eberhard Gutsleff dem Jüngeren zum Druck beförderte, Kurtzgefaßte Anweisung Zur Ehstnischen Sprache, in welcher mitgetheilet werden I. Eine GRAMMATICA. II. Ein VOCABVLARIVM. III. PROVERBIA. IV: ÆNIGMATA. V. COLLOQVIA. … erschien 1732 in Halle, wo Gutsleff Anfang der 1720er-Jahre studiert hatte. Mit Halle als dem (universitären) Zentrum des Pietismus bestanden damals intensive Verbindungen. Anton Thor Helle war 1683 in Tallinn geboren und hatte in Kiel studiert. Von 1713 bis zu seinem Tode 1748 war er Pastor in Jüri, einem Dorf in der Nähe von Tallinn. Verewigt in der estnischen Kulturgeschichte ist er als federführender Übersetzer der ganzen estnischen Bibel (1739, vgl. § 12), jedoch ist auch seine sieben Jahre zuvor erschienene Grammatik ein Meilenstein in der estnischen Schriftkultur. Wie der Untertitel bereits verrät, liefert das Buch nämlich weit mehr als nur eine Sprachlehre. Nach einer weitschweifigen, 40-seitigen Einleitung mit Widmungen, Sendschreiben, ausführlicher Erläuterung der babylonischen Sprachverwirrung und Aufzeigung hebräischer Spuren im Estnischen (!) folgt auf 80 Seiten eine knappe grammatische Beschreibung des Estnischen. Sie schreitet auf dem von Forselius und Hornung gewiesenen Weg fort, bleibt aber der Tradition des 17. Jahrhunderts insofern noch treu,

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als die estnische Grammatik nach wie vor in das Korsett des Lateinischen gezwängt wird. Als »Quantensprung« in der estnischen Grammatikgeschichte kann man dann aber die folgenden Teile bezeichnen: Auf über 200 Seiten folgt ein estnisch-deutsches Wörterverzeichnis (ca. 7000 Wörter) samt deutschem Register. Dieses Glossar ist das erste gedruckte Verzeichnis, in dem Estnisch als Ausgangssprache benutzt wird. Es stützte sich auf eine handschriftliche Vorlage von Heinrich Salomo Vestring, der gleichfalls als einer der besten Kenner des Estnischen galt und in den 1720er- und 1730er-Jahren ein umfangreiches Lexicon Esthonica Germanicum zusammengestellt hatte, das in mehreren Abschriften zirkulierte, aber nicht gedruckt wurde. Noch Ende des 18. Jahrhunderts erwog man den Druck. Er kam aber erst 1998, dann schon als historisches Dokument, zustande. An das Wörterbuch schließt sich ein terminologischer Appendix an, der einige Kräuternamen auf Estnisch, Deutsch und Lateinisch auflistet, ferner andere botanische Begriffe und auch technische Terminologie, noch einmal gesondert die Monatsnamen und Wochentage sowie die christlichen Festtage. Weiter geht es mit den traditionellen Festtagen der Esten, so dass hier bereits Material von folkloristischem Interesse mitgeteilt wird, estnischen Begrüßungsformeln, einer Liste estnischer Vornamen, einer Liste der Tallinner Straßen und einem Ortsnamenverzeichnis aller estnischen Distrikte. Abgerundet wird dieser Appendix mit einem etymologischen Verzeichnis deutscher und russischer Lehnwörter im Estnischen. Der dritte Teil enthält 525 alphabetisch aufgelistete estnische Sprichwörter, der vierte Teil 135 Rätsel. Beide Teile beweisen, dass der Autor eigene Feldforschung betrieben hat. Den Abschluss bilden dann knapp 50 Seiten mit estnischen Gesprächen. Sie sind zweispaltig auf Estnisch und Deutsch gedruckt und sollten den Pfarrern, die auch für dieses Buch noch die Hauptzielgruppe ausmachten, Anschauungs- und Übungsmaterial bieten. Da hier aber auch Zwiegespräche zwischen zwei Bauern über Flachs und Bienenzucht enthalten sind, kann man in diesen Stücken den Beginn einer didaktischen Prosa sehen. Die Texte sind keine Übersetzungen mehr, sondern von den Autoren (neben Thor Helle ist auch Gutsleff hierfür verantwortlich) selbst ersonnen und formuliert. Mit August Wilhelm Hupel (vgl. Vihma 1969 und jetzt die ausführliche Darstellung von Jürjo 2004) ergreift die Aufklärung das Wort. Er stammte aus Thüringen, hatte in Jena Theologie studiert und war 1757 als Hauslehrer nach Riga gekommen. Ab 1760 war er Pfarrer an verschiedenen Gemeinden in Estland. Hupel ist berühmt geworden durch seine umfangreiche Publikationstätigkeit auf dem Gebiet der Geschichte und Landeskunde, erwähnt seien seine Nordischen Miscellaneen (28 Teile, Riga 1781–1791) und die Neuen

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Nordischen Miscellaneen (18 Teile, Riga 1792–1798), in denen das Baltikum und Russland beschrieben werden. Konkreter mit den baltischen Landen befassten sich seine Topographischen Nachrichten von Lief- und Ehstland (3 Bde., Riga 1774–1782). Hupels Grammatik von 1780 stützte sich inhaltlich auf Thor Helle und stellte so gesehen keinen Fortschritt dar. Allerdings ist hervorzuheben, dass Hupel ausdrücklich beide Hauptdialekte behandelt. Und der besondere Wert liegt in den beiden beigefügten Wörterbüchern, deren estnisch-deutscher Teil 17 000 Lemmata enthält und die größte Wortsammlung des 18. Jahrhunderts ist. Von Hupels Grammatik erschienen zwei weitere Auflagen (1806 ohne Wörterbuch, 1818 mit erweitertem Wörterbuchteil), und sein Buch war es auch, das 1803 bei der Gründung des Estnisch-Lektorats an der Tartuer Universität als Lehrbuch verwendet wurde. Mit Hupel vollzog sich der Übergang zum 19. Jahrhundert, in dem die estnische Sprache und die estnische Kultur ihre tatsächliche Eigenständigkeit erlangten.

§ 12 Religiöse Literatur und Bibeln Vorarbeiten und Manuskripte Es mag deutlich geworden sein, dass unabhängig von der konfessionellen Zuordnung die Entstehung einer estnischen Schriftkultur untrennbar mit der christlichen Lehre verbunden war. Zu ihrer Verbreitung bedurfte es der schriftlichen Fixierung, sei es als Gedächtnisstütze für die Multiplikatoren des Glaubens, sei es als Handreichung für das »gewöhnliche Volk«, auf dass es sich selber ein Bild von der angebotenen Religion machen könne. Im ersteren Fall brauchten die Texte noch nicht unbedingt in den Druck zu gelangen, wie man an der erwähnten Handschrift von Kullamaa (vgl. § 9) sehen kann. Deren Überlieferung war ein Glücksfall, denn die meisten anderen handschriftlichen Aufzeichnungen, von deren Existenz man in Kenntnis der Geschichte des späten Mittelalters guten Gewissens ausgehen kann, sind verloren gegangen. Ein weiterer solcher Glücksfall war 1884 die Entdeckung von 39 teils mischsprachigen, teils estnischen Predigten aus den Jahren 1600–1606. Stadtarchivar Theodor Schiemann fand bei der Sortierung des Tallinner Ratsarchivs 34 Hefte mit fein säuberlich aufgezeichneten und mit Daten versehenen Predigten, die – alsbald als wertvolles Sprachdenkmal aus dem frühen 17. Jahrhundert erkannt – 1891 gedruckt wurden und mit ihren 340 Seiten seitdem die ergiebigste Quelle für die estnische Sprachforschung bilden.

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Ihr Verfasser war Georg Müller (auch Jürgen Möller und andere verwandte Namensformen), der vermutlich in Tallinn geboren und nach einer Ausbildung in Lübeck Lehrer in Tallinn und Rakvere, ab 1601 dann bis zu seinem Tod Hilfsprediger an der Heiliggeistkirche in Tallinn war. Auch vom kulturgeschichtlichen Standpunkt her sind die Predigten von Interesse, weswegen sie an dieser Stelle erwähnt werden müssen. In ihnen wird neben dem Hauptanliegen, der Auslegung von Kirchenliedern oder Bibeltexten, ein plastisches Bild von den Zeitumständen entworfen, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts alles andere als geruhsam und friedlich waren: Zwischen Polen und Schweden tobte noch immer der Kampf um das Dominium Maris Baltici, 1602 standen polnische Truppen vor den Toren Tallinns, Missernten und die Pest dezimierten die Bevölkerung. Hierüber flicht der Prediger ausführliche Informationen in seine Texte ein, wobei er sich eines reichen estnischen Wortschatzes bedient. Damit liegen uns aus dieser Zeit die ersten längeren Prosatexte vor, und es ist erst von nachgeordneter Bedeutung, dass es sich hierbei um die Textgattung »Predigt« handelt. Von Müller wurde in späteren Quellen berichtet, dass er dem Tallinner Konsistorium ein Manuskript zum Druck übergeben habe, doch ist die Drucklegung, soweit bekannt, nicht erfolgt. Der Zeit entsprechend wird es dabei um eine Predigtsammlung oder Vergleichbares gegangen sein, unwahrscheinlich ist hingegen, dass damit das aufgefundene Konvolut gemeint war, denn dessen Form ist zu uneinheitlich: Immer wieder finden wir eingeflochtene lateinische und deutsche Passagen, die bezeugen, dass der Autor, der die Predigt in ihrer Gänze auf Estnisch gehalten haben wird, die Aufzeichnungen für sich selbst als Gedächtnisstütze und nicht für die Bestimmung zum Druck angefertigt hat. Vergleiche mit späteren tatsächlich gedruckten Texten von Stahell (s.u.) legen aber die Vermutung nahe, dass Müller und Stahell sich zum Teil auf die gleichen Quellen gestützt haben, d.h. dass es zu jenem Zeitpunkt – handschriftliche oder gedruckte – Vorlagen gegeben haben muss. Außerdem hatte Stahell möglicherweise Zugang zum Nachlass von Müller, da er 1624 mit Dorothea Eckholt (Eichholtz) eine Tochter des Nachlassverwalters von Müller geheiratet hatte. In jedem Fall sind die Predigten von Müller ein wichtiges Bindeglied beim Übergang von der handschriftlichen Literatur zu den zahlreichen Drucken des 17. Jahrhunderts. Katechismen und Handbücher Diese Drucke setzten wie erwähnt mit dem Jahr 1632 ein, als drei Bücher erschienen. Von ihnen steht der zweisprachige Katechismus von Rossihnius noch ganz in der Tradition des 16. Jahrhunderts (vgl. § 9), wohingegen sein

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umfangreiches Opus Evangelia und Episteln von ganz anderer Art ist und erstmals eine ausführliche Textauswahl auf (Süd-)Estnisch präsentiert. Das Handbuch steht am Anfang einer langen Tradition von praktischen Hilfsmitteln für die Tätigkeit der evangelischen Pastoren und ist wegen seines Seltenheitswerts zusammen mit dem Katechismus 1898 als historisches Sprachdokument komplett neu herausgegeben worden (Reiman 1898). Große Verbreitung hat das vierteilige Hand= vnd Hauszbuch für das Fürsenthumb Esthen In Liffland von Henricus Stahell (vgl. § 11) erlangt. Es ist nach der Erstauflage (1632–1638) noch in vier weiteren Ausgaben erschienen und hat schätzungsweise eine Gesamtauflage von 20 000 Exemplaren erzielt (Teile davon, z.B. das Gesangbuch, s.u., sind unter anderem Namen erschienen, was exakte Zahlenangaben verkompliziert). Damit wurde es für lange Zeit das maßgebliche Standardwerk für die estnischen Gemeinden und hat die Entwicklung der estnischen Schriftsprache nachhaltig, wenn auch nicht immer zu ihrem Vorteil, wie die teils heftigen Polemiken um die Stahell’sche Schriftsprache zeigen, beeinflusst. Die zweite Auflage erschien noch zu Lebzeiten Stahells 1654–1656, wurde aber von Georg Saleman redigiert (s. u.). Auch die weiteren Ausgaben wurden immer wieder redigiert und erschienen unter wechselnden Titeln 1673–74, 1693 und schließlich noch einmal 1700–1702, dann schon unter dem estnischen Titel Ma Kele Koddo- nink Kirko-Ramat. Der erste Teil dieses Handbuchs (1632) ist das nordestnische Pendant zu Rossihnius’ südestnischem Katechismus. Er ist ebenfalls zweisprachig und enthält ferner einige liturgische Texte von Stahell. Der zweite Teil (1637) enthält ein zweisprachiges Gesangbuch mit 144 Liedtexten, die lediglich Prosaübersetzungen der deutschen Kirchenlieder darstellen. Gerade die Tatsache, dass sich die Autoren – neben Stahell, der den Löwenanteil übersetzte, waren noch 12 weitere Übersetzer, unter ihnen auch Reiner Brockmann, beteiligt – nicht um eine gereimte und damit auch singbare Fassung bemüht haben, ist von späteren Autoren immer wieder bemängelt worden. Immerhin haben wir es hier aber mit dem ersten gedruckten Gesangbuch überhaupt zu tun. Der dritte Teil (1637) trägt den Untertitel Evangelia und Episteln und bringt auf seinen knapp 250 Seiten, wiederum in zweisprachigem Paralleltext, Teile des Neuen Testaments (s.u.). Auch der vierte Teil (1638) ist zweisprachig aufgebaut und liefert einige Psalmen Davids, Gebete, Liturgien zu bestimmten kirchlichen Anlässen wie Hochzeit, Taufe und Beerdigung sowie Leitfäden für seelsorgerische Gespräche. Insgesamt umfasste das vierteilige Handbuch damit beinahe 1000 Seiten. Im Anschluss daran publizierte Stahell noch zwei umfangreiche Predigtsammlungen unter dem Titel Leyen Spiegel, die zweiteilig 1641 und 1649 in

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mehreren Lieferungen in Tallinn erschienen. Nach Luthers Vorbild teilte Stahell das Kirchenjahr in einen Winterteil und einen Sommerteil und stellte jeder Predigt einen Abschnitt aus dem Tagesevangelium voran. Im Gegensatz zu Müllers Texten sind Stahells Predigten zwar viel didaktischer, aber auch ihnen fehlt ein landeskundlicher Einschlag nicht und man kann hier erstmalig im Druck etwas über einen mythologischen Helden Kalev lesen. Obwohl es Stahell nicht gelang, den zweiten Teil zu Ende zu führen, und dieser nur 10 Predigten enthält, beträgt der Gesamtumfang über 700, unter Einberechnung der Zwischentexte fast 800 Seiten. Mit diesem monumentalem Werk im Quartformat festigte Stahell endgültig seine Autorität als Pionier auf dem Gebiet der estnischen Schriftsprache. Stahell war nicht der Einzige, der damals Predigtsammlungen verfasste, und auch nicht der erste, wie wir von Müllers Beispiel wissen. Es gibt Hinweise darauf, dass Stahells Leyen Spiegel als Instrument im Machtkampf zwischen Bischof Jhering und dem Tallinner Rat eingesetzt wurde: Jhering wollte nach schwedischem Brauch das Druckprivileg und damit die Zensur an sich reißen, wogegen sich der Tallinner Rat, dem die Druckerei unterstand, sträubte. 1640 konnte daher auch ein Druckprivileg von Königin Christina (bzw. ihrem Vormund Oxenstierna oder dem Regentschaftsrat) erwirkt werden, das gleichzeitig zur Folge hatte, dass konkurrierende Werke nicht erscheinen durften bzw. vernichtet wurden. Dies geschah ganz offensichtlich mit einer 1639 erschienenen Predigtsammlung von Simon Blankenhagen, Pfarrer an der Heiliggeistkirche in Tallinn. Seine Postilla Esthonica, von der kein Exemplar erhalten ist, fiel wahrscheinlich diesem Machtkampf zum Opfer und ist nicht etwa aus ideologischen oder inhaltlichen Gründen vernichtet worden (vgl. Aarma 1995). Von den weiteren Publikationen, die nun allmählich häufiger und regelmäßiger werden, sind die Werke von Christoph Blume besonders hervorzuheben. Blume stammte aus Leipzig und kam 1645 zum ersten Mal nach Tallinn, wo er vermutlich drei Jahre am Gymnasium lernte. Danach kehrte er zum Studium nach Leipzig und Wittenberg zurück, traf jedoch 1652 wieder in Estland ein und trat im gleichen Jahre eine Pfarrstelle in Hageri an. Von 1662 bis 1667 veröffentlichte er vier Handbücher mit den Hauptstücken der christlichen Lehre, Gebeten, Liedern, Fragen und Antworten etc. Von ihnen ist der erste Teil weitgehend eine Übersetzung eines Werks von Matthäus Judex, wie auch aus dem Titel hervorgeht: Matthaei Iudicis kleines Corpus Doctrinae (1662). Dieses Buch ist in Tallinn gedruckt, während die drei folgenden (1666, 1667) in Leipzig gedruckt und erst 1979 in der Universitätsbibliothek von Wrocław wieder aufgefunden worden sind. Der Grund für die Verlegung des Drucks nach Leipzig war rein technischer Art: In Tallinn

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konnte man noch keine Noten drucken, die aber wollte der Autor unbedingt seinen Liedern beifügen, was ihm in Leipzig auch gelang. Besonders fällt Blume aber durch seine reiche und natürliche, d.h. überraschend wenig vom Deutschen beeinflusste Sprache auf, die eindeutig besser als die von Stahell ist. Generell wendet sich Blume eher an seine estnische Gemeinde als an seine (deutschen) Kollegen, er war also einer der ersten Autoren, der auch für die Esten schrieb (Lill 1988). Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entstand ein größerer Bedarf an Büchern, da die Lesefähigkeit allmählich zugenommen hatte. Zwar wirkte sich der schwelende Streit um die Orthographiereform hemmend auf die Druckproduktion aus, und es bestanden weiterhin parallel zwei Schriftsprachen, dennoch kann man gegen Ende der schwedischen Periode beinahe von einem Literaturboom sprechen, der auch dadurch zustande kam, dass sich der Tallinner Drucker beispielsweise, dem Druck des Marktes nachgebend, nicht um die Genehmigungen vom Konsistorium scherte und zahlreiche ungenehmigte Neu- bzw. Nachdrucke vergriffener Werke herstellte. In einem Zeitraum von 30 Jahren (1680–1710) sind auf diese Weise beinahe 80 Bücher erschienen, was im Vergleich zur vorangegangenen Periode die Lage auf dem Buchmarkt nachgerade unübersichtlich macht. Ein gutes Drittel dieser Bücher wurde in Riga gedruckt, wo man sowohl süd- als auch nordestnische Bücher verlegte. Dabei verwendete man in der Regel die reformierte Orthographie von Forselius. Im nordestnischen, etwas konservativeren Gebiet wurde Forselius’ Reform nach wie vor abgelehnt. Dort hatte man sich als Kompromiss eine eigene, als »Mediumorthographie« bezeichnete Orthographie ausgedacht, in der alle zwischen 1689 und 1697 in Tallinn gedruckten Bücher gesetzt sind. Das Konsistorium als Hauptauftraggeber der Tallinner Druckerei achtete dabei peinlich genau auf die Verwendung dieser Orthographie. Die Druckerzeugnisse waren nahezu ausnahmslos religiösen Inhalts – kirchliche Handbücher, Katechismen, Gesangbücher etc. –, sieht man von den immerhin neun im fraglichen Zeitraum gedruckten Abc-Büchern ab (vgl. Endel Annus 1991). Das estnische Gesangbuch Eine besondere Stellung im christlichen Gottesdienst nimmt das Kirchenlied ein, und so waren die Pfarrer stets bemüht, ihre Gemeinde zum guten Singen anzuhalten. Hierzu bedurfte es der entsprechenden Hilfsmittel, die herzustellen nicht eben einfach war, da man zur Abfassung von metrischen und gereimten Texten schon über gehörige Sprachkenntnisse verfügen musste. Stahell konnte es ganz offensichtlich nicht, weswegen im zweiten Teil seines

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Handbuchs nur Prosaübersetzungen geliefert wurden, mit denen die Gemeinde nichts anfangen konnte. Schon Müller hatte sich in seinen Predigten häufig über die schlechte Qualität des Gemeindegesangs beklagt. Es müssen bereits im 16. Jahrhundert estnische Liedtexte vorgelegen haben, nur waren die kaum geeignet, eine blühende Kirchengesangskultur entstehen zu lassen. Sicherlich gab es zu Lebzeiten Stahells bereits Personen, die auch auf Estnisch dichten konnten, wie wir bei der Behandlung der Gelegenheitsdichtung (§ 10) sahen. Einer von ihnen war Georg Saleman, der 1597 in Pommern geboren war und in Rostock studiert hatte. Von 1626 bis 1632 war er Pastor in Jüri in der Nähe von Tallinn, ab 1632 war er Hilfsprediger und ab 1640 Pastor an der Heiliggeistkirche in Tallinn. Wie so viele, starb auch er 1657 an der Pest. Er war der Erste, der sich daran wagte, die Kirchenlieder gereimt und metrisch ins Estnische zu übersetzen, und hat glaubhaften Angaben zufolge 1638 unter dem Titel Geistliche Freude eine Sammlung von 40 gereimten estnischen Kirchenliedern publiziert. Hiervon ist aber kein Exemplar bewahrt geblieben. 1655 publizierte Saleman eine zweisprachige Gebetssammlung, die ebenfalls teilweise gereimt ist, und die 1645 von Bischof Jhering eingesetzte Kommission zur Anfertigung eines estnischsprachigen gereimten Gesangbuches hatte Saleman zum Vorsitzenden. Als Resultat legte diese Kommission als Teil der Neuauflage des Stahell’schen Handbuchs (s.o.) 1656 ein Neu Ehstnisches Gesangbuch vor, das 241 Lieder enthielt und für lange Zeit das Standardgesangbuch in den estnischen protestantischen Kirchen blieb. Die meisten Lieder waren aus dem Deutschen übersetzt, einige aus dem Schwedischen und Finnischen. Über die Hälfte der Übersetzungen stammte von Heinrich Göseken, 45 von Saleman, 38 von Martin Giläus, 21 von Reiner Brockmann und der Rest von unbekannten Übersetzern. Dieses Gesangbuch diente als Ausgangsbasis für zahlreiche weitere Ausgaben, die nun regelmäßig – mehr oder weniger bearbeitet, erweitert oder gekürzt – erschienen (1673, 1689, 1693). 1685 stellte Andreas Virginius (s.u., nicht zu verwechseln mit dem 1664 verstorbenen gleichnamigen Theologieprofessor aus der Zeit der Academia Gustaviana) auf der Grundlage dieses Gesangbuches eine südestnische Ausgabe zusammen, von der 1690, 1693 und möglicherweise 1698 neue Auflagen erschienen, teilweise bearbeitet von seinem Sohn Adrian Virginius (s.u.). In den 1690er-Jahren folgen noch mehrere Ausgaben auf Nordestnisch, von denen diejenige von 1694 lange Zeit maßgeblich blieb und erst zwei Jahrhunderte später von einer vollständigen Neubearbeitung abgelöst wurde. Aber auch hier sowie in dem aktuellen Gesangbuch von 1992 finden sich noch Lieder aus der allerersten Ausgabe von 1656.

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Gesungen wurde schon im katholischen Gottesdienst (R. Neithal 2005, 96), aber die planmäßige Verbreitung und Kanonisierung des estnischen Kirchenlieds kam erst in der nachreformatorischen Zeit in Schwung. Die Entstehung des gereimten Kirchenliedes fällt zeitlich zusammen mit dem Aufkommen der weltlichen Dichtung (Gelegenheitsdichtung, vgl. § 10), und es waren zum Teil dieselben Personen, die als Schöpfer der Texte in Erscheinung traten. Die Nähe zur Gelegenheitsdichtung wird an einem abschließenden exotischen Beispiel deutlich: 1678 erschien eine Teutsch-Ehstnische AndachtsFlamme von Johann Wolfgang Boecler, der zu jenem Zeitpunkt Pfarrer in Kuusalu war. Die hierin in deutsch-estnischem Paralleltext enthaltenen sechs Lieder sind jedoch weniger als Kirchenlieder zu verstehen, sondern als Widmung an vier adlige Damen zu lesen und damit reinste Gelegenheitsdichtung. So stehen sie als Unikum der Druckgeschichte in der Landschaft. Sie passen allerdings zu ihrem Urheber, der Mitte des 17. Jahrhunderts in Erfurt als Katholik geboren war, 1669 nach Estland kam und nach seiner Konvertierung Pfarrer wurde. Danach hat er mehrmals seine Wirkungsstätten (und damit jeweils seine Konfession) im Streit verlassen und ist nach dreimaligem erneuten Konvertieren schließlich 1717 in Köln gestorben (Ariste 1958). Das Neue Testament Der wichtigste Text für das Christentum, gleich welcher Konfession, bleibt die Bibel. Der Protestantismus legte besonderen Wert auf die allgemeine Zugänglichkeit dieses Buches in der Volkssprache und bemühte sich daher, wo immer er Fuß fassen konnte, um eine Übersetzung der Bibel in die Landessprache. Nicht selten ist es dabei dem Arbeitseinsatz einer einzigen Person zu verdanken, die dann von der späteren Historiographie – zu Recht oder zu Unrecht – als »der Reformator« verklärt wird. Aufgrund der spezifischen historischen Situation im estnischen Sprachgebiet gab es jedoch im 16. Jahrhundert noch nicht »diese eine Person«, die als Reformator des Landes in die Geschichte hätte eingehen können und beispielsweise das Neue Testament in einem Guss übersetzt und publiziert hätte, wie es in Finnland der Fall war: Dort war schon 1548 das Neue Testament in der finnischen Übersetzung von Mikael Agricola erschienen, der selbst in Wittenberg bei Luther studiert hatte. In Estland entstand durch die langen Kriege, die dadurch entstandene Zweiteilung des Sprachgebiets in zwei Provinzen mit stark divergierenden Dialekten und die damit einhergehende Konkurrenz zwischen zwei kirchlichen Instanzen eine Verzögerung von ungefähr einem ganzen Jahrhundert: Man plagte sich noch mit der Übersetzung nur des Neuen Testaments ab, als in Finnland (1642) bereits die erste komplette Bibelübersetzung erschienen

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war. Auch auf Lettisch lag die gesamte Bibel schon 1689 vor, ganz zu schweigen von Schweden, wo man im 17. Jahrhundert schon längst mit der Revidierung der ersten Bibelübersetzung von 1541 befasst war. Im estnischen Sprachgebiet bemühten sich sowohl das Tallinner Konsistorium von Estland als auch das livländische Konsistorium in Riga um die Bibelübersetzung in die Landessprache, bzw. im Falle Rigas in die Landessprachen, denn dort fühlte man sich für das Lettische und das Südestnische zuständig. Das bedeutet, dass beide auch den Ruhm für die Veranstaltung der Bibelübersetzung ernten wollten, was eine effektive Zusammenarbeit verhinderte und auf Kosten der Sache nur zu Streit und Verzögerung führte. Wenn dann noch hemmende äußere Umstände wie Krieg und Pest hinzukamen, konnte sich das für die Realisierung der verschiedenen Projekte sehr negativ auswirken. Einzelne Teile der Bibel fanden sich bereits in den ersten estnischen Drucken, den Katechismen des 16. Jahrhunderts. Die Perikopen, d.h. die für den Gottesdienst relevanten Passagen aus den Evangelien, zirkulierten vermutlich lange in Handschriften, ehe sie vereinzelt auch gedruckt wurden. Dies war beispielsweise im dritten Teil von Stahells Handbuch von 1637 der Fall, wo neben den maßgeblichen Evangelien und Episteln des Kirchenjahrs auch die Leidensgeschichte Jesu nach den vier Evangelien abgedruckt wurde. Darüber hinaus enthielt das Handbuch einen Teil von Jesaja und 14 Psalme. Ebenso beinhaltete Rossihnius’ Handbuch von 1632 die Perikopen. Die ersten Bemühungen um eine Übersetzung des Neuen Testaments fallen in die Periode von Bischof Jhering in den Beginn der 1640er-Jahre. Schon 1643 scheint eine Rohfassung des Neuen Testaments fertig gewesen zu sein, die »nur noch« der Redigierung bedurfte. Wie roh bzw. komplett diese Fassung, die vermutlich nicht aus dem Original, sondern aus dem Deutschen übersetzt war, wirklich war, ist mittlerweile nicht mehr festzustellen, da der Text niemals gedruckt wurde und heute als verschollen gilt. Noch Mitte der 1640er-Jahre wurde eine Kommission zur Redigierung eingesetzt, der unter anderem auch Reiner Brockmann angehörte, aber nach dessen Tod (1647) und der zehn Jahre später wütenden Pest, der außer Heinrich Göseken praktisch alle Beteiligten zum Opfer fielen, verlieren sich die Spuren dieser ersten Übersetzung des Neuen Testaments im Dunkeln. Zwar bat der Bischof von Estland 1666 die schwedische Regierung um Unterstützung bei der Herausgabe des Neuen Testaments (Pahtma et al. 2003, 17), aber um welchen oder wessen Text es sich dabei handelte, ist nicht bekannt. Göseken hatte gemeinsam mit dem nach Tallinn geflohenen Johann Gutslaff an einer Bibelübersetzung gearbeitet, wobei Letzterer den südestnischen Text beigesteuert hätte. Geplant war damals eine dreisprachige Ausgabe mit dem deutschen Text in

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der Mitte zwischen dem nord- und dem südestnischen. Nach Gutslaffs Tod setzte Göseken die Arbeit fort. Es ist jedoch nicht mit Sicherheit zu sagen, dass sein Text die Grundlage für das genannte Ersuchen von 1666 bildete, ebenso wenig ist exakt bekannt, wie umfangreich Gösekens Übersetzungstätigkeit war. Diese Periode ist verbunden mit dem Rigaer Superintendenten Johann Fischer (vgl. § 11), der sich seit seinem Amtsantritt 1675 energisch für die Bereitstellung der Heiligen Schrift in den Landessprachen einsetzte. Zu diesem Behuf gründete er 1675 eigens eine Druckerei, so dass von da an in Riga zwei Druckereien bestanden. Im Falle des Lettischen trug seine Arbeit alsbald Früchte, 1685 erschien das Neue Testament auf Lettisch, 1689 war auch das Alte Testament fertig, so dass der Druck der ganzen lettischen Bibel beginnen konnte. Auch für beide estnischen Dialekte hatte Fischer vom schwedischen König die Vollmacht zur Herausgabe der ganzen Bibel erhalten, wobei parallel das Tallinner Konsistorium ebenfalls die Erlaubnis zur Herstellung einer nordestnischen Bibel erhielt. In diesen beiden im August 1682 vom schwedischen König gewährten Genehmigungen (vgl. Aarma 1995, 35) – und nicht nur das: Der König stellte auch erhebliche Geldbeträge zur Verfügung – muss man die Ursache für die in der Folge eingetretene Verzögerung bei der Erstellung der estnischen Bibel sehen. Dabei ist es müßig darüber zu spekulieren, was eigentlich die Gründe für den schwedischen König waren, seine Genehmigung und Mittel doppelt auszuteilen. Sollte er sich gedacht haben, dass Konkurrenz das Geschäft belebt und man auf diese Weise vielleicht schneller zu einer Bibelübersetzung gelangen würde, so ist der Schuss nach hinten losgegangen. In den folgenden Jahrzehnten blockierten sich die beiden Instanzen gegenseitig mehr, als dass sie einander anspornten. Dabei spielten auch ideologische Unterschiede eine Rolle: Während man in Tallinn an der orthographischen Tradition von Stahell festhielt und überdies eine Übersetzung der Lutherbibel einer Übersetzung aus den Originalsprachen vorzog, wollte Fischer in Riga aus dem Original übersetzen lassen und eine im Sinne von Forselius reformierte Orthographie verwenden. Am südestnischen Neuen Testament ging die Arbeit in Riga zügig voran, denn hier brauchte Fischer keine Rücksicht auf seine Kollegen aus Estland zu nehmen. Adrian Virginius (Verginius, Vergin) traf 1683 in Riga ein und fertigte an Ort und Stelle eine Übersetzung an, wobei er sich zum Teil auf die Vorarbeiten seines Vaters, Andreas Virginius, und anderer stützen konnte. Vater und Sohn Virginius gehörten, besonders der Sohn, zu den besten Kennern des Estnischen ihrer Zeit und haben sich um die Herausbildung einer Schriftsprache große Verdienste erworben. Der Vater Andreas Virginius war über 40 Jahre lang Pfarrer im südestnischen Kambja gewesen, wo der Sohn

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Adrian auch geboren wurde. Dieser ging in Tartu und Riga zur Schule und studierte von 1681 bis 1683 in Kiel Theologie, ohne das Studium abzuschließen: Er hatte sich im Duell mit einem jungen Baron verwundet, und sein Vater hielt es für besser, ihn zurück nach Hause zu holen. Dort konnte er dann gleich in die Übersetzungsarbeit am Neuen Testament einsteigen, anschließend war er ab 1686 Pfarrer in Puhja, ab 1694 in Otepää. Tragisch ist sein Ende: 1704 wurde er von den Russen der Spionage für die Schweden bezichtigt und verhaftet. Obwohl sich viele für den damals schon recht bekannten Pfarrer und Sprachkenner einsetzten, wurde er 1706 in Tartu enthauptet. Als Mitstreiter von Forselius und Übersetzer und Herausgeber zahlreicher Schriften ist Virginius ohnehin untrennbar mit der Entstehung des estnischen Schrifttums verbunden, den größten Ruhm brachte ihm aber die südestnische Übersetzung des Neuen Testaments ein, die 1686 in Riga erschien. Noch nie war ein so umfangreiches Buch mit ausschließlich estnischem Text erschienen, zum ersten Mal lag hiermit ein Buch vor, das eindeutig für die einheimische Bevölkerung, d.h. für das gemeine Volk und nicht nur für eine kleine Oberschicht von Intellektuellen, geschrieben war. Es erlangte schnell kanonischen Wert und wurde, ab der zweiten Auflage 1727 mehr oder weniger vorsichtig redigiert, bis 1905 in insgesamt 20 Editionen herausgegeben. Auch ein Verbot, mit dem aufgrund einer Klageschrift aus Tallinn irrtümlicherweise diese südestnische Ausgabe des Neuen Testaments belegt wurde, konnte die Verbreitung des Buches kaum beeinträchtigen: Im Rahmen des andauernden Nord-Süd-Streites hatten schwedische Beamte geglaubt, eine Tallinner Beschwerde aus dem Jahre 1689 bezöge sich auf ein in Riga gedrucktes nordestnisches Neues Testament, was es zum damaligen Zeitpunkt aber noch gar nicht gab. In Ermangelung eines besseren Opfers und in Unkenntnis der Sprache wurde daraufhin die Verbreitung des südestnischen Buches von 1686 unterbunden. Jedoch sind die Säuberungen wohl nicht sehr intensiv gewesen, wie die heutige Verbreitung der Erstausgabe zeigt (vgl. Endel Annus 2000, 103–105, Salu 1965, 32–45). Die Arbeit am nordestnischen Neuen Testament dagegen stockte, nachdem sie schon durch den Brand des Tallinner Dombergs 1684 empfindlich getroffen war: Hierbei waren nicht nur die Übersetzungen vernichtet, sondern auch das Kapital, da drei Viertel der vom König zur Verfügung gestellten Summe kurzerhand für den Wiederaufbau des Doms verwendet wurden und damit für die Bibelübersetzung nicht mehr zur Verfügung standen (Pahtma et al. 2003, 18). Es fehlte also bei den Verantwortlichen ganz einfach der Wille, die Übersetzug voranzutreiben. Da Fischer aber nach der Publikation des lettischen und des südestnischen Neuen Testaments die Hände frei hatte, konnte er sich ganz der nordestnischen Bibel zuwenden. Dabei war er

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auf die Zusammenarbeit mit seinen Kollegen bzw. Konkurrenten in der Provinz Estland angewiesen, zumal er selbst kein Estnisch konnte. Ihm ging es vermutlich auch mehr um die Sache als um persönlichen Ruhm, jedenfalls berief er für September 1686 die erste so genannte Bibelkonferenz auf seinem Gut Liepa (dt. Lindenhof, im lettischsprachigen Teil Livlands) ein. Auf dieser wie auch auf einer zweiten Bibelkonferenz, die kein halbes Jahr später im Januar/Februar 1687 in Pilistvere (Mittelestland, nach damaligen Grenzen im estnischsprachigen Teil Livlands) stattfand, konnten die beiden prinzipiellen Meinungsunterschiede der beteiligten Parteien – die Frage der Ausgangssprache und die Frage der Orthographie – nicht beigelegt werden, so dass alle Anstrengungen im Sande verliefen. Wohl gab es einen fertigen gemeinsamen Text des Neuen Testaments, über den man diskutierte, auch ist dieser – wie eine Reihe von anderen, auch früheren – bewahrt geblieben, aber aufgrund der unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten gelangte während der schwedischen Zeit keines davon zum Druck. Der 1700 ausgebrochene Krieg mag auf den ersten Blick nicht als kulturfördernd erscheinen, doch hat Toomas Paul (1999, 389) korrekt angemerkt, dass einige der vor dem Krieg nach Tallinn geflohenen Pastoren ihre freie Zeit dort nutzten, um sich mit den von den Bibelkonferenzen bewahrt gebliebenen Manuskripten zu befassen. Dies wurde schon im Vorwort der Bibelübersetzung von 1739 erwähnt. Dennoch waren die Zeiten nicht gerade günstig, und es dauerte immer noch über zehn Jahre, ehe 1715 – also ein Dreivierteljahrhundert nach den ersten Versuchen – endlich das Neue Testament auch in einer nordestnischen Version erschien. Diese Ausgabe illustriert noch einmal gut ihre Entstehungsgeschichte, denn man weiß bis heute nicht genau, wer in der Hauptsache für die Übersetzung verantwortlich ist. Das zugrunde liegende Manuskript stammt sicherlich aus der schwedischen Zeit und wird unter anderem mit Hornung und Virginius in Verbindung gebracht, denn auch die Rechtschreibung lehnt sich an Hornung an. Die Endredaktion lag auf jeden Fall in den Händen von Heinrich Gutsleff und seinem Vater, Eberhard Gutsleff dem Älteren. Das Alte Testament und die ganze Bibel Auf den genannten Bibelkonferenzen ging es im Prinzip um die ganze Bibel, doch beschränkte man sich bald auf das Neue Testament, damit wenigstens etwas erreicht wurde. Aber die Arbeiten am Alten Testament wurden wie im Falle des Lettischen unmittelbar nach Abschluss des Neuen Testaments fortgesetzt. Teile des Alten Testaments zirkulierten schon seit längerem in Manuskriptform, einzelne Personen hatte auch größere Passagen übersetzt. So war

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bereits Mitte des 17. Jahrhunderts von Johann Gutslaff ein Teil des Alten Testaments ins (Süd)Estnische übersetzt worden (Tering 1979). 1687 hatten Vater und Sohn Virginius mit der Übersetzung des Alten Testaments begonnen und waren bis zum Buch Hiob gekommen, also bis etwas über die Hälfte. Danach geriet die Arbeit ins Stocken, wobei die Ursachen hierfür nicht eindeutig geklärt sind (vgl. Ross 2003, 7–12). Der bald darauf einsetzende Krieg wirkte sich ausgesprochen negativ auf die Fortsetzung des Projekts aus, denn weder Vater noch Sohn Virginius überlebten ihn. Auffällig ist, dass hier wiederum das Südestnische einen Vorsprung hat, denn hinsichtlich des Nordestnischen gibt es nur vage Erwähnungen früherer Vorarbeiten (s.u.), während zwei, wenn auch unvollständige südestnische Manuskripte bis heute erhalten sind (Ross 2003). Hiermit wird unterstrichen, dass in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts für eine kurze Periode die von einer Minderheit gesprochene südestnische Variante des Estnischen die führende Rolle bei der Herausbildung der estnischen Schriftlichkeit innehatte. Dies änderte sich ziemlich schnell im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts, als nach der Überwindung der Agonie, die die Kriegsverwüstungen und die Pest erzeugt hatten, das Leben allmählich wieder in geordneten Bahnen verlief. Auch das geistige Leben reorganisierte sich einigermaßen zügig. Von der Frage der Veröffentlichung des Alten Testaments verabschiedete man sich schnell zugunsten der Herausgabe der ganzen Bibel. Hierzu wurde 1731 in Tallinn eine Kommission zusammengestellt, deren Vorsitz Anton Thor Helle einnahm. Er war bereits an der Zweiten Auflage des Neuen Testaments (1729) maßgeblich beteiligt gewesen und leitete nun, als guter Kenner des Hebräischen bekannt, die Edition der ganzen Bibel. Dabei konnte er sich beim Alten Testament offenbar auf Übersetzungen aus den 1720er-Jahren stützen (Ross 2002), beim Neuen Testament begnügte man sich mit einer Durchsicht und Überarbeitung der älteren Ausgabe, so dass die gesamte Bibel bereits 1736 fertig war. Nach Überwindung der finanziellen Schwierigkeiten konnte 1739 in Tallinn die vollständige Bibel im nordestnischen Dialekt erscheinen. Eine Gesamtausgabe der Bibel auf Südestnisch ist ihr nie gefolgt, und dies mag einer der Gründe sein, warum die nordestnische Variante des Estnischen dann allmählich zur allgemeinen Standardvariante wurde. Der Druck von gut 6000 Exemplaren eines über 1300 Seiten dicken Buches war auch eine Geldfrage. Mittlerweile war der absolute Monarch eines durch und durch protestantischen Staates in Gestalt des schwedischen Königs nicht mehr ansprechbar, denn man gehörte jetzt zu Russland. Hier lagen die Dinge etwas anders, auch wenn sich die russische Dynastie ebenfalls gerne als christlich bezeichnete. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass man Unterstützung für den Druck eines Buches in einer Sprache erhalten hätte, von

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deren Existenz man in dem frisch gegründeten St. Petersburg möglicherweise noch gar nicht so recht wusste. Ganz abgesehen davon gab es in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch keine wie auch immer geartete Infrastruktur zwischen der Elite der neu gewonnenen Provinzen und der Zentralmacht. Es lag daher auf der Hand, das Geld anderswo zu suchen. Neben reichen Mäzenen, die gewonnen werden konnten, war es die pietistische Bewegung, genauer gesagt die Herrnhuter, die bei der Finanzierung der ersten estnischen Bibel eine wichtige Rolle spielte. Ihnen hatten sich damals viele Pastoren Estlands angeschlossen, und neben anderen Mitgliedern der Übersetzungskommission war auch Anton Thor Helle selbst einer ihrer Anhänger. In dessen Kirchspiel Jüri wurde 1738 das erste Bethaus der Brüdergemeine errichtet. Die Herrnhuter Die in Mitteleuropa entstandene Frömmigkeits- oder Erweckungsbewegung, die unter dem Oberbegriff Pietismus zusammengefasst wird, war Ende des 17. Jahrhunderts nach Estland gelangt. Studenten aus Estland lassen sich in Halle, das bald zum Zentrum des Pietismus aufstieg, bereits seit den 1690er-Jahren nachweisen. Auch der erwähnte Rigaer Generalsuperintendent Fischer und der lettische Bibelübersetzer Ernst Glück standen pietistischen Strömungen nahe. Sie mussten sich aber angesichts ihrer exponierten Stellung sehr zurückhalten, denn die dogmatische schwedische Staatskirche unterband rigoros, manchmal sogar unter Androhung der Todesstrafe, alle protestantischen Erneuerungsbewegungen, weil sie für die zentrale Kirchenmacht eine Bedrohung darstellen konnten. Man verbot sogar Studienreisen nach Halle, befragte Rückkehrer aus dem Ausland nach ihren Aufenthaltsorten und führte eine strenge Zensur durch. Das alles änderte sich schlagartig, als die schwedische Oberherrschaft von der russischen abgelöst wurde, denn Peter I. stand dem Pietismus durchaus aufgeschlossen gegenüber. Überdies strömten nach dem Nordischen Krieg mehr und mehr Akademiker aus Deutschland in das entvölkerte Land, und hierunter befand sich auch ein nicht unerheblicher Anteil von pietistisch gesinnten Personen. Sie lehnten den allzu gestrengen Ton der Lehr- und Strafpredigten ihrer (lutherisch-)orthodoxen Amtsbrüder ab und legten mehr Wert auf seelsorgerische Arbeit. Dabei standen sie den verelendeten unteren Bevölkerungsschichten näher und richteten ihr Augenmerk besonders auf das Schulwesen, das sich nach dem Nordischen Krieg ebenfalls in einem beklagenswerten Zustand befand. Da auch Teile des Adels pietistische Neigungen hatten, konnte geschehen, dass hier und da ansehnliche Geldsummen für die Belange dieser christlichen Erneuerungsbewegung bereitgestellt wurden. Damit konnten

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Waisenhäuser errichtet, Schulen wieder aufgebaut und eben auch die dringend notwendigen Bücher gedruckt werden. Als Teil der pietistischen Bewegung erlangte für Estland die 1727 von Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf in Herrnhut begründete Brüdergemeinde besondere Bedeutung. Im Unterschied zu anderen pietistischen Strömungen beschränkte die Herrnhuter Bewegung sich nicht auf einige Adlige und Pastoren, sondern es gelang ihr, auch bei der bäuerlichen Bevölkerung Fuß zu fassen. Seit 1729 sind die ersten Wanderprediger dieser Gemeinde in Estland nachzuweisen, und 1736 befand sich Zinzendorf selbst zu einem längeren Aufenthalt in Estland. Er trug persönlich eine Summe zur Deckung der Druckkosten der estnischen Bibel bei und konnte auch einige betuchte Adlige überreden, einen Beitrag zu leisten. Neben der allgemeinen geistesgeschichtlichen Bedeutung, die die pietistische Bewegung für Estland erlangte, ging es hier also auch um ganz konkrete materielle Unterstützungen. Im Gefolge von Zinzendorf wurden in den Jahren danach immer wieder sowohl von Adligen als auch von Pfarrern »Brüder« ins Land gerufen, die dort seelsorgerisch-erweckend wirken sollten. Einen Erfolg kann man diesen Bestrebungen nicht absprechen, wenn man bedenkt, dass schon nach wenigen Jahren (1742) gut 10000 Mitglieder der Brüdergemeinde im estnischen Gebiet gezählt wurden (Webermann 1956, 159). Sie stießen jedoch nicht nur auf Wohlwollen: Die herrschende lutherische Kirche befürchtete allmählich eine »Kirche in der Kirche« und eine Untergrabung ihrer eigenen Autorität. Sie ergriff Maßnahmen zur Gängelung und letztlichen Unterbindung der Bewegung. Hierbei bekam man Schützenhilfe von der Zentralmacht: 1743 wurde per Ukas von Zarin Elisabeth die Bewegung verboten. Bei der Durchführung dieses Verbots ging man mit unterschiedlicher Härte vor, nicht überall legte man die gleiche Strenge an den Tag. Besonders hart traf es den Superintendenten von Saaremaa, Eberhard Gutsleff den Jüngeren (vgl. §§ 11 und 13), der inhaftiert wurde und 1749 in St. Petersburger Festungshaft starb. Bemühungen der Leitung der Brüdergemeine um eine Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten scheiterten, Zinzendorf selbst wollte zwar in St. Petersburg vorstellig werden, musste aber seine Reise abbrechen, nachdem er um die Jahreswende 1743/44 in Riga sogar kurzzeitig inhaftiert gewesen war (Kahle 1991, 179, vgl. allgemein Ilja 1995). Auch nach dem Verbot bestand die Bewegung weiter, auch wenn die Versammlungen nun bisweilen nachts abgehalten werden mussten. Gut zwanzig Jahre später wurde unter Katharina II. 1764 den Herrnhutern zwar völlige Religionsfreiheit gewährt, aber dieser Toleranzerlass war eigentlich auf die von ihr ins Land gerufenen Kolonisten gemünzt und sollte sich nicht auf die baltischen Provinzen erstrecken. Dort ging die Tätigkeit folgerichtig im Ver-

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borgenen weiter und wurde erst unter Alexander I. 1817 vollständig legalisiert. Bis in die 1840er-Jahre hinein erlebte die Bewegung dann noch einmal eine Blütezeit. In literarischer Hinsicht sind die Pietisten von zweifacher Bedeutung. Einerseits können sie als Bindeglied zur Aufklärung verstanden werden, denn sie bemühten sich um ein Zurückdrängen des Aberglaubens und um eine Betonung der Bildung und selbstständigen Befassung mit der Heiligen Schrift. Damit nicht genug, förderten sie die Befassung mit dem geschriebenen Wort ganz allgemein und widmeten sich der Volksbildung; insofern werden sie uns auch im folgenden Kapitel noch beschäftigen. Andererseits war ein Nebeneffekt ihres Kampfes gegen abergläubische Praktiken die strikte Ablehnung jeglicher traditionellen Kultur, die naturgemäß mit irrationalen und damit in den Augen der Pietisten unchristlichen Elementen durchsetzt ist. Dadurch sind unter den strengen Pietisten auch viele Zeugnisse der alten estnischen Kultur vernichtet worden.

§ 13 Aufklärerisches Schrifttum, Kalenderliteratur und Presse Erbauungsschrifttum Es gehörte zu den erklärten Zielen der Herrnhuter Brüdern und Schwestern – etwa ein Viertel der leitenden Personen der Brüdergemeine waren Frauen –, die Menschen zum wahren Glauben zu erwecken, und das bedeutete, dass an die Stelle des bloßen Auswendiglernens oder Nachbetens lutherischer Formeln die eigenständige Befassung mit der Bibel oder, noch mehr, mit erbaulichen Texten ganz allgemein treten sollte. Hierzu bedurfte es der entsprechenden Texte, und wenn es diese auf Estnisch noch nicht gab, so mussten sie angefertigt werden. Bei der Erstellung von Texten gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten: Die direkte Übersetzung einer fremdsprachigen Vorlage, wie es bei der Bibel, den Gesangbüchern und vielen religiösen Texten der Fall ist; die Nacherzählung oder Umarbeitung eines ursprünglich in einer anderen Sprache geschriebenen Stoffes; und schließlich die völlig freie, eigenständige Formulierung eines Textes. Natürlich sind solche Kategorien problematisch, gerade bei der letzten erhebt sich die Frage, ob es »unabhängige« Texte überhaupt geben kann, da beinahe alles auf irgendwelchen Vorlagen beruht. Es versteht sich also von selbst, dass wir hier mit den entsprechenden fließenden Übergängen hantieren müssen und harte Zäsuren gar nicht möglich sind. Überdies finden alle

§ 13 Aufklärerisches Schrifttum, Kalenderliteratur und Presse

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drei Verfahren der Texterstellung zeitgleich statt und werden manchmal von denselben Personen getragen, was in den 1730er-Jahren in Estland augenfällig wird. In diesem Jahrzehnt beispielsweise erscheinen parallel Übersetzungen, Adaptationen und eigenständige estnische Texte. Die exakte Datierung des Beginns eines Erbauungsschrifttums ist dabei unmöglich. Einen Anfang kann man in den lehrreichen Texten sehen, die im Anhang der Grammatik von Thor Helle (vgl. § 11) abgedruckt sind. Damit fiele der Beginn einer eigenständigen Prosaliteratur auf das Jahr 1732 und noch ins erste Drittel des 18. Jahrhunderts. Einen Teil dieser Texte hatte Eberhard Gutsleff der Jüngere verfasst, der seit seinem Studium in Halle stark dem Pietismus zugeneigt war, weswegen die Entstehung einer frühen Prosa untrennbar mit dem Pietismus bzw. dem Herrnhutertum verbunden ist. Von der Textart fallen die genannten Dialoge in Thor Helles Grammatik sicherlich in die Kategorie eigenständiger Prosa, nur waren sie von der Funktion her noch nicht unbedingt für ein breiteres Publikum bestimmt: Die Zielgruppe des Buches waren vorwiegend Deutsche, die Estnisch lernen wollten und denen anhand der Texte Anschauungs- und Übungsmaterial präsentiert werden sollte, mehr nicht. Nun ist aber einer der in der Grammatik abgedruckten Dialoge wenige Jahre später erneut erschienen – und zwar in einem separaten Buch gemeinsam mit einigen anderen (übersetzten) Geschichten und eben ohne deutschen Paralleltext –, was ein erstklassiges Beispiel für den fließenden Übergang zwischen den Gattungen ist. 1739 erschien ein Büchlein, von dem kein vollständiges Exemplar erhalten ist und das deswegen nach der ersten in ihm enthaltenen Geschichte gemeinhin als Hanso ja Mardi jut (Das Gespräch von Hans und Mart) bezeichnet wird. Hierin wird in einem lehrreichen Dialog eine verirrte Seele auf den tugendhaften Pfad des Christentums zurückgeführt. Dessen Verfasser ist nicht mit Sicherheit zu ermitteln, da aber im gleichen Buch auch der erwähnte Text von Gutsleff enthalten ist und auch ein zweiter Text eine Bekehrungsgeschichte gleichen Stils ist, ist die Urheberschaft zweifelsfrei im pietistischen Umfeld zu suchen. Dieser zweite Text – Kuseni Hinriko ümberpöörmisseluggu (Die Bekehrungsgeschichte von Hinrik Kusen) – ist eine Übersetzung aus dem Deutschen und handelt von einem Rügener Schäfer, der durch eifrige Bibellektüre zurück zum rechten Glauben findet. Sie war vermutlich bereits 1737 in einem nicht mehr bewahrten südestnischen Buch erschienen, das noch zwei weitere Texte und einige Lieder enthielt. Verfasser der Übersetzungen war Johann Christian Quandt (der Ältere), der aus Thüringen stammte und seit 1732 im südestnischen Urvaste Pastor war. Durch Quandts vielfältige Aktivitäten, wozu unter anderem die eifrige Vernichtung von heidnischen Opfer-

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plätzen gehörte, wurde Urvaste ein Zentrum der Erweckungsbewegung in Südestland. Von Quandt stammt auch das erste Herrnhuter Gesangbuch mit 21 Liedern, das 1741 erschien, aber nicht mehr bewahrt ist. Alle Texte von Quandt, der mit seinen Prosastücken neben Gutsleff zu den ersten Verfassern eigenständiger estnischer Texte gerechnet werden kann, sind nur in späteren Ausgaben (1747, 1759, 1776) zugänglich. Ein Grund für die dürftige Überlieferungslage ist in dem erwähnten Verbot der Herrnhuter (1743) durch Zarin Elisabeth zu sehen, das eine großflächige Vernichtung von Literatur nach sich zog. Die Bücher waren seinerzeit ohne Zustimmung der Zensur erschienen und fielen daher nun umso leichter einem behördlichen Säuberungsdrang zum Opfer (R. Põldmäe 1936, 261). Diese Erfahrungen veranlassten die weiterhin aktive Bewegung, fortan ihre Texte in Manuskriptform zu verbreiten. Da dies offenbar massenhaft geschah und auf positives Echo in der Bevölkerung stieß, sind einige Manuskripte bis auf den heutigen Tag erhalten. Zum Großteil handelte es sich um Übersetzungen, so zum Beispiel eine (aus dem Deutschen angefertigte) Übersetzung von John Bunyans The Pilgrim’s Progress, die in den 1750er-Jahren entstanden sein dürfte, während der Text erst 1842 in Buchform erschienen ist. Die Urheberschaft ist bis heute strittig, da derlei Texte anonym kursierten. Man vermutet einen gewissen Mango Hans, von dem weiter nichts Gedrucktes überliefert ist, dessen unter dem Volk zirkulierende Manuskripte aber eine große Verbreitung erlangt haben. Er war lange Zeit Küster in Urvaste und stammte damit aus dem Umfeld Quandts. Ebenso hat man aber auch dessen Vorgänger und Schwiegervater Adam Koljo als Urheber der Bunyan-Übersetzung angenommen (vgl. R. Põldmäe 1981, Vinkel 1993). Des Weiteren ist Michael Ignatius zu nennen, der in Tartu Küster und Schulmeister war und pietistische Literatur aus dem Deutschen übersetzte sowie in Manuskriptform verbreitete. Schließlich war Matthias Friedrich Hasse, der aus Thüringen stammte, durch Übersetzungen und Herausgebertätigkeit an einigen der erwähnten Herrnhuter Gesangbücher beteiligt. Insgesamt lässt sich für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ein allgemeiner Anstieg der Lesefähigkeit feststellen, und die Herrnhuter haben hieran ihren Anteil gehabt. Ihnen ist die Entstehung der ersten längeren eigenständigen Prosatexte zu verdanken. Gleichzeitig entfaltet sich allmählich eine literarische Infrastruktur, wenn man bedenkt, dass 1721 und 1759 die ersten Buchhandlungen in Tallinn gegründet wurden (Pullat 1996, 233). Allerdings verlief die Entwicklung nach wie vor schleppend, und nach der blühenden Aktivität der Herrnhuter entstand eine Pause.

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Aufklärung Auch wenn aus der Distanz betrachtet diese religiöse Literatur mit der klassischen Aufklärung nichts gemein zu haben scheint, darf man mit Blick auf das 18. Jahrhundert nicht vergessen, dass beide Strömungen im Ansatz gleiche Ziele verfolgten: Beiden ging es um eine Betonung der persönlichen Freiheit und der individuellen Autonomie, beide waren gegen jede Art von fremdbestimmtem Absolutismus gerichtet, ob der nun kirchlicher oder weltlicher Art war. Ihr Unterschied bestand lediglich in der Thematik. Die im Folgenden als aufklärerisch im engeren Sinne bezeichneten Schriften sind allein dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen das religiöse Element in den Hintergrund tritt oder völlig fehlt. Dabei waren die Texte immer noch erzieherisch und keineswegs aufrührerisch, mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass die verschiedenen Autoren interessanterweise eine zweigleisige Politik verfolgten: In ihren deutschsprachigen Arbeiten waren sie aufklärerisch und kritisierten die örtlichen herrschenden Verhältnisse, während die estnischsprachigen Texte eher den Status quo widerspiegelten (Lukas 2001a, 268). Man hielt die sozial niedriger stehende Bevölkerung, für die die estnischen Texte gedacht waren, einfach noch nicht für reif genug und wollte sie erst einmal durch »leichte« Lektüre vorbereiten, während man innerhalb der deutschsprachigen Oberschicht nach Gleichgesinnten suchte, die sich der Bildung und Emanzipierung der Unterschicht annahmen. Ein erstes mehr oder weniger in dieser rationalistischen Tradition geschriebenes Buch könnte das 1778 in Tallinn, bislang jedoch nicht aufgefundene Büchlein von Johann Martin Hehn gewesen sein. Es war vermutlich 40 Seiten stark und soll auch einige Fabeln enthalten haben. Von Hehn, der aus Franken stammte und in Halle Theologie studiert hatte, ist weiter relativ wenig bekannt. Er war von 1769 bis 1776 Diakon in Tartu und anschließend Pfarrer in Otepää. Dass er sich intensiv mit Land und Leuten befasst hat, geht aus der Tatsache hervor, dass er eine südestnische Grammatik angefertigt hatte, deren Manuskript nach seinem Tode verloren gegangen ist (Jürjo 2004, 374–379). Die beiden wichtigsten Autoren dieser Zeit waren Friedrich Wilhelm von Willmann und Friedrich Gustav Arvelius, die mit ihren Büchern entscheidenden Anteil an der Hebung der Volksbildung hatten. Willmann ist 1746 in Kurland geboren und war nach seinem Studium in Göttingen und Königsberg seit 1772 Hilfspastor und bald Pastor in Karja auf Saaremaa. Diese Tätigkeit legte er 1802 nieder, danach lebte er, der 1790 vom österreichischen Kaiser in den Adelsstand gehoben war, in Kuressaare und begab sich gelegentlich auf Reisen ins Ausland. Willmann verfasste eine christliche Sittenlehre, die in zwei estnischen Ausgaben (1793, 1804) erschien,

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und ein deutschsprachiges Handbuch zur Bienenzucht (1787), erzielte den größten Erfolg und die nachhaltigste Wirkung aber mit seinem seit 1782 in vier Auflagen erschienenen Prosabuch Juttud ja Teggud mit dem deutschen Paralleltitel Fabeln und Erzählungen. Außer dem Titel und einem Vorwort enthält das Buch keine deutschen Texte und ist somit das erste umfangreiche und sich um eine Hebung der Volksbildung bemühende estnische Lesebuch seiner Art. Es umfasst 51 Fabeln, 38 Erzählungen und 125 Rätsel, die Thor Helles Grammatik entnommen sind, sowie im Anhang Anleitungen zur Bienenzucht und zur Heilung von Haustieren. Die Fabeln und Erzählungen sind einem lettischen Vorbild von Gotthard Friedrich Stender entnommen, der 1766 ein didaktisches Buch für die Letten verfasst hatte. Stender seinerseits hatte die Geschichten vorwiegend nach deutschen Vorbildern abgefasst bzw. übersetzt, so dass auf diesem Wege auch deutsches Fabelgut Eingang in die estnische Literatur fand. Der didaktische Charakter des Buches wird am Ende jeder Erzählung offenkundig, wenn in einem eigenen Abschnitt die Moral des vorangegangenen Textes noch einmal mit Nachdruck erläutert wird. Offenbar konnte sich der Autor nicht sicher sein, dass seine Leserschaft auch alles richtig verstand. Dass, wie oben erwähnt, den verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Dinge zugetraut bzw. zugemutet wurden, lässt sich schön an den beiden Vorworten illustrieren, die mitnichten textidentisch sind. Im deutschen Vorwort erklärt der Autor seinen Landsleuten, warum er ein solches Buch für die Esten verfasst hat, und weist darauf hin, dass alle Menschen gleich sind und die Esten nur aufgrund des Drucks, unter dem sie zu leiden haben, und dem Mangel an Erziehung ihre guten Eigenschaften nicht zur Geltung kommen lassen können. Zudem müsse man sich ehrlicherweise eingestehen, dass man die Esten als seine Ernährer zu betrachten habe. Im viel knapperen estnischen Vorwort wird dagegen erklärt, dass man nicht denken solle, die Tiere hätten früher gesprochen, wie das in einigen nachfolgenden Fabeln der Fall sei. Das war eine fundamentale Fehleinschätzung der intellektuellen Kapazität der anvisierten Leserschaft, so dass hier berechtigterweise von einer »estophilen Gehirnwäsche« (Undusk 1999b, 349–350) gesprochen werden kann. Trotzdem war Willmanns Buch sehr erfolgreich, wie die in den Jahren 1787, 1804 und 1838 erschienenen Neuauflagen belegen. Ab der dritten Auflage wurde der Titel abgeändert in Juttud ja moistatussed (Geschichten und Rätsel) und das Buch sprachlich stark überarbeitet, d.h. die Saaremaaschen Dialektismen wurden ausgemerzt. Verantwortlich hierfür war höchstwahrscheinlich Otto Reinhold von Holtz (vgl. § 14). Ferner wurden einige Ersetzungen und Ergänzungen vorgenommen. Darüber hinaus sind viele der

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hier abgedruckten Texte auch in anderer Form (Kalender o.Ä.) erneut gedruckt worden und teilweise in den Volksmund übergegangen, so dass sie eine der Volksdichtung vergleichbare große Verbreitung erlangt haben. Im gleichen Jahr wie Willmanns Buch erschien Friedrich Gustav Arvelius’ Üks kaunis Jutto- ja Öppetusse-Ramat (Ein schönes Geschichts- und Lehrbuch, 1782, 21791, Teil II 1787). Arvelius stammte aus Tallinn und hatte von 1771 bis 1775 in Leipzig Theologie und Philologie studiert. Nach seiner Rückkehr nach Estland war er zunächst Hauslehrer und seit 1790 Theologieprofessor am Tallinner Gymnasium. In seinen deutschen Werken (Gedichte und drei Dramen) kann man ihn als einen dem Sturm und Drang nahe stehenden Vorromantiker charakterisieren, während seine estnischen Bücher didaktisch-aufklärerischen Inhalts sind. Das erste, oben erwähnte, ist nach dem Vorbild von Friedrich Eberhard von Rochows Kinderfreund (1776– 1779) abgefasst worden. Während Rochows weit verbreitetes Buch aber auch tatsächlich für Kinder, d. h. als Lesebuch für die Schule, gedacht war, konnte sich Arvelius auch eine erwachsene Leserschaft vorstellen, weswegen er den Buchtitel entsprechend anders formuliert hatte. Auch hat er nicht nur Geschichten von Rochow übernommen, sondern im ersten Teil neun eigene hinzugefügt. Der zweite Teil stützte sich noch weniger auf Rochows Vorlage und enthält zu zwei Dritteln die eigenständige Erzählung Ramma Josepi Ello, Öppetussed ja Könned (Leben, Lehren und Reden des lahmen Joseps). Die Erzählung handelt von einem Diener, der mit seinem Herrn lange in WestEuropa auf Reisen ist, ihm dort auch einmal das Leben rettet, wobei er selbst versehrt wird, und dadurch in enger Freundschaft mit ihm verbunden ist. Zurück in der Heimat, lehnt der Diener die angebotene Freiheit ab und erbittet sich nur ein Stück Land von seinem Herrn. Er möchte selbst im Leben zurechtkommen und sich mit seiner Hände Arbeit ernähren. Dies gelingt ihm auch, und zwar – hier wird der starke aufklärerische Impetus deutlich – aufgrund seines rationalen Handels, seiner Erfahrung aus den Reisen in anderen Ländern, aber auch seiner Frömmigkeit. Fortan schickt er sich an, den Menschen in seiner direkten Umgebung zu einem besseren Leben zu verhelfen. Damit wird der zweite Teil von Arvelius’ erstem Buch unmittelbar mit seinem zweiten Buch verknüpft. Dieses zweite Buch, Josepi Hädda- ja Abbi-Ramat (Joseps Not- und Hilfsbuch, 1790), basiert direkt auf Rudolph Zacharias Beckers erfolgreichem Noth- und Hilfsbüchlein für Bauersleute (1788, bis 1838 ca. 40 Auflagen). Arvelius hatte den Text, der ein Ratgeber zu Gesundheit, Ernährung, Erster Hilfe, Landwirtschaft, Haushalt und allgemeiner Lebensweise ist, für seine Erzählung benutzt, zu großen Teilen übersetzt und bearbeitet, d.h. stellenweise den estnischen Gegebenheiten angepasst. Das so zustande gekommene,

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stark didaktisch-volksbildende Buch wurde auf Kosten des Tallinner Amateurtheaters (vgl. § 17) in einer Auflage von 10 000 Exemplaren gedruckt und kostenlos unter dem Volk, dem in der Regel die Mittel zum Kauf von Büchern fehlten, verteilt. Nun stellt sich die Frage, wieso das Tallinner Theater sich für die Verbreitung dieser Schrift einsetzte. Die Antwort ist in der Person und Position von Arvelius zu suchen, der diesem Theater nahe stand. Das Theater wiederum ist untrennbar mit dem Wirken des deutschen Dramatikers August von Kotzebue verbunden, der seit 1781 in St. Petersburg weilte und sich ab 1783 in Tallinn aufhielt, wo er das Theater ins Leben gerufen hatte. Dieses Theater nun sah sich in einer Schrift von Heinrich Johann von Jannau heftigen Vorwürfen ausgesetzt. In seiner – anonym erschienenen – Geschichte der Sklaverey, und Charakter der Bauern in Lief- und Ehstland (1786) plädierte der Autor unter anderem dafür, dass man anstatt Komödien zu spielen seine Fähigkeiten lieber für die Bildung des Volkes einsetzen möge, worauf Kotzebue zwar gereizt reagierte, eine Verwendung von Mitteln des Theaters für aufklärerische Arbeiten aber nicht ausschloss. Mit der Finanzierung von Arvelius’ estnischer Bearbeitung des Becker’schen Handbuchs ist dies dann tatsächlich erfolgt. Arvelius’ Bücher haben vermutlich weniger dauerhafte Wirkung als diejenigen Willmanns erzielt, jedoch ist Arvelius auch wegen seiner anderen aufklärerischen, auf Deutsch verfassten Schriften von Bedeutung für die Literatur der Aufklärung. Er wollte den Menschen »besser« machen und ihm dazu die notwendigen Hilfsmittel an die Hand geben. Dabei ging es ihm nicht um ein Aufbegehren gegen die Obrigkeit, die er respektierte und zu der er im weitesten Sinne selbst gehörte, sondern um eine Hebung der Bildung der Bevölkerung, der man sich nach seinem Verständnis nur in ihrer eigenen Sprache annähern konnte. Die Anregungen und Vorlagen hierzu stammen weitgehend von deutschen Vorbildern, aber bei der Umarbeitung in die estnische Form hat Arvelius einen Grad an Eigenständigkeit erreicht, der zum damaligen Zeitpunkt ein neues Niveau markierte (vgl. zu Arvelius erschöpfend Vinkel 1958 und Webermann 1978). Kalender Das Hauptverbreitungsmedium für estnische Texte war im 18. Jahrhundert der Kalender. Ein solches Büchlein enthielt neben dem Kalendarium häufig allerlei Wissenswertes und nicht selten umfangreichere Textbeilagen, wodurch die Kalender ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit sind. Deutschsprachige Kalender wurden in Tallinn bereits im 16. Jahrhun-

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dert verwendet, nach der Gründung der dortigen Druckerei entstand unmittelbar eine eigene Kalenderserie, für deren Herausgeberschaft der Gymnasialprofessor Gebhard Himsel (vgl. § 10) verantwortlich war. Aufgrund des tagtäglichen Gebrauchs sind von der Serie, die man für den Zeitraum 1635– 1676 ansetzt, nur wenige Exemplare erhalten geblieben, das älteste ist ein Kalender auf das Jahr 1646. Nach den Verwüstungen des Nordischen Krieges nahm der ursprünglich aus Riga stammende Drucker Johann Köhler (Köler) die Tradition der Kalender wieder auf. Er war nach der Gründung der Druckerei in Narva (1695) dort der erste Drucker gewesen und während des Nordischen Krieges nach Russland evakuiert worden. 1716 erlaubte man ihm die Rückkehr nach Tallinn, wo er die Witwe des im selben Jahr verstorbenen Druckers Johann Christoph Brendeken heiratete und als Erbe die Gymnasialdruckerei übernahm. Diese Druckerei war bis 1802 die einzige Druckerei in Tallinn und blieb lange Zeit in der Hand einer Familie: ab 1736 unter der Leitung von Sohn Jacob Johann Köhler, ab 1757 unter dessen Witwe Anna Catharina (geb. Trump), danach unter Axel Heinrich Lindfors, dem Schwiegersohn der beiden Vorgenannten, und später dessen gleichnamigem Sohn bzw. nach dessen frühem Tod seiner Witwe Maria Elisabeth Lindfors. Seit 1718 erschien in dieser Druckerei eine deutsche Kalenderserie, wenig später begann eine estnische. Das exakte Geburtsdatum dieser ersten estnischen Kalenderserie ist nicht bekannt, da die Anfangsjahrgänge nicht erhalten sind. Aufgrund des einst ältesten bewahrten Kalenders auf das Jahr 1731 und der dort enthaltenen Texte – das Exemplar ging im Zweiten Weltkrieg verloren, so dass der heute älteste erhaltene Kalender für das Jahr 1732 gilt und 1731 gedruckt ist – lässt sich errechnen, dass die Serie vermutlich mit dem Jahr 1720 begann, der erste estnische Kalender also 1719 gedruckt sein könnte (Endel Annus 1974). Die Kalender waren im 16°-Format gedruckt und enthielten zumeist 48 Seiten. Auf der Rückseite des Titelblatts fand sich eine Auswahl wichtiger Daten aus der Weltgeschichte – wie Schöpfung, Sintflut, Reformation, Erfindung des Buchdrucks, Geburtstag und Thronbesteigung der jeweiligen Zarin oder des Zars etc. –, sodann folgte eine Erklärung der im Kalendarium verwendeten Zeichen, die beispielsweise markieren, wann es günstig ist, zur Ader gelassen zu werden, zu pflanzen oder auch sich die Haare zu schneiden(!). Das Kalendarium selbst verzeichnete keine Wochentage, sondern lediglich die Monatsnamen und bei den durchnummerierten Tagen deutsche Vornamen, also Namenstage, sowie groteskerweise auch Wettervorhersagen. Erst ab 1780 finden sich die estnischen Bezeichnungen der Wochentage. Ein Monat nahm zwei Seiten ein, so dass genügend Raum für die Beilagen blieb.

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Diese Beigaben sind bei den älteren Jahrgängen in erster Linie biblische Geschichten oder direkt Teile der Bibel in Übersetzung. Beinahe alle Texte sind anonym, da die frühen Kalender aber im unmittelbaren Umfeld der Bibelübersetzung entstanden sind, kann man davon ausgehen, dass die Autoren der Kalendertexte dieselben Personen waren, die mit der Übersetzung der Bibel befasst waren. Teilweise sind in den Kalendern auch Probeübersetzungen von Bibelpassagen abgedruckt worden. Solange die ganze Bibel noch nicht erschienen war (1739), empfahl das Konsistorium denn auch die Verwendung der in den Kalendern abgedruckten Texte für den Gottesdienst. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, insbesondere in den letzten fünfzehn Jahren, verbreiterte sich das Spektrum der dem Kalendarium beigefügten Texte. Politische und militärische Themen sollten die Leserschaft fesseln. So gab es spannende Berichte über den russisch-türkischen Krieg, wobei eine kurze Darstellung des muslimischen Glaubens nicht fehlte, man konnte über den Staatsstreich von Gustav III. in Schweden lesen, ebenso von der ersten Teilung Polens oder dem Kosakenaufstand unter Jemeljan Ivanoviˇc Pugaˇcov. Neben solchen Reportagen aus dem Weltgeschehen fanden sich zusehends Texte mit Ratgebercharakter, also im weitesten Sinne aufklärerischen Inhalts. Gesundheit und Ernteglück wurden in ihnen nicht mehr bloß Gottesfürchtigkeit und eifrigem Gebet anheim gestellt, sondern als durch rationale Handlungsweise beeinflussbar dargestellt. Einen maßgeblichen Anteil hieran hatten neben den oben erwähnten Willmann und Arvelius auch Hupel und Peter Ernst Wilde (s.u.). Da einige von Willmanns Fabeln in den Kalendern wieder abgedruckt wurden und ferner Übersetzungen von Christian Fürchtegott Gellert erschienen, wurden die Kalender zu den Trägern einer frühen literarischen Kultur. In ihnen erschienen gegen Ende des 18. Jahrhunderts die ersten vorsichtigen lyrischen Versuche von Johann Gottlieb Schwabe, der sich ansonsten allerdings nur als Herausgeber einiger Kalender hervorgetan hat. Über die Herausgeberschaft von Kalendern begann auch die literarische Tätigkeit von Gustav Adolph Oldekop (vgl. §§ 15 und 16), der 1796 den ersten Kalender beim Tartuer Verleger Johann Michael Gerhard Grenzius (s.u.) redigierte. Damit begann eine zweite Kalenderserie im estnischsprachigen Gebiet, die für eine größere Vielfalt sorgte, zumal die Kalender bei Grenzius teilweise auf Südestnisch erschienen. Die exakten Druckauflagen der Kalender sind nicht bekannt, geschätzt wird sie auf bis zu 2000 Exemplare, da ihre Verbreitung recht groß gewesen ist. Die regelmäßige Erscheinungsweise lässt zudem vermuten, dass es für die Drucker ein einträgliches Geschäft war. Bekannt ist auch, dass Gutsbesitzer ihren Untergebenen häufig Kalender geschenkt haben (Mihkla 1935, 61; vgl. allgemein zu den Kalendern ausführlich Endel Annus 2000a).

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Die erste estnische Zeitung Eine deutschsprachige Presse lässt sich in Tallinn bereits seit dem 17. Jahrhundert nachweisen: 1675 und 1676 erschien hier eine Ordinari Freytags Post= Zeitung, in den beiden Folgejahren eine Ordinari Donnerstags Post=Zeitung, und ab 1689 (bis 1710) die etwas langlebigere Revalsche Post=Zeitung. Auch in Pärnu und Narva hat es zu Anfang des 18. Jahrhunderts kurzzeitig vergleichbare Publikationen gegeben, danach sorgte der Nordische Krieg für eine längere Pause, so dass erst im letzten Drittel des Jahrhunderts wieder deutschsprachige Zeitungen entstanden (1772 in Tallinn, 1789 in Tartu, Nachweise im Einzelnen bei Endel Annus 1993a). Für das Entstehen einer eigenständigen estnischen Presse fehlten lange Zeit die Voraussetzungen, die bekanntlich nicht nur in verfügbaren und ausreichend gebildeten Verfasserinnen und Verfassern von Artikeln bestehen, sondern vor allem in einer potenziellen Leserschaft, die in bescheidenem Maße auch finanzkräftig sein musste. Gerade an Letzterem haperte es aber, so dass man über die jährliche Publikation von Kalendern nicht hinauskam. Es bedurfte der Hartnäckigkeit einiger Aufklärer und der finanziellen Unterstützung eines umtriebigen Gutsbesitzers, ehe die erste estnische Wochenzeitung das Licht der Welt erblicken konnte. Vom Dezember 1766 bis zum (wahrscheinlich) Oktober 1767 erschienen 41 Nummern von Lühhike öppetus mis sees monned head rohhud … (Kurze Anweisung enthaltend vielerlei gute Arznei …). Die vierseitige Zeitung im Oktavformat lieferte gesundheitliche Ratschläge für die Landbevölkerung, gab allgemeine Richtlinien für eine vernünftige Regelung des Lebens und zog gegen die Trunksucht zu Felde. Der überzeugte Aufklärer, der die Sache vorantrieb, war Peter Ernst Wilde, der 1732 in Hinterpommern geboren und nach dem Studium verschiedener Disziplinen (Theologie, Jura, Medizin) an verschiedenen Universitäten (Königsberg, Halle, promoviert in Greifswald) 1765 nach Kurland gekommen war. Hier gab er in Jelgava (dt. Mitau) die wissenschaftliche Zeitschrift Der Landarzt (1765–1766, die Grundlage für seine Promotion zum Dr. med.) heraus, ehe er nach Riga und dann bald nach Põltsamaa ging. Im nordlivländischen Põltsamaa residierte zu jener Zeit der Gutsbesitzer Woldemar Johann von Lauw, unter dessen Ägide der Flecken eine industrielle Blütezeit erlebte. Damals lebten über 2000 Menschen dort, nachdem der ehrgeizige Gutsbesitzer diverse Fabriken errichtet hatte. Insgeheim wollte von Lauw sich eine Art eigenes kleines Fürstentum aufbauen. Dazu benötigte er auch ein Krankenhaus und eine Apotheke; Letztere gründete er 1766, womit er die erste Landapotheke in Estland betrieb. Als Leiter des Krankenhauses und der Apotheke holte er sich den genannten Wilde nach Põltsamaa.

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Dieser wollte unbedingt seine publizistisch-aufklärerische Tätigkeit fortsetzen und begann umgehend mit dem Aufbau einer Druckerei, die zu jenem Zeitpunkt neben der Tallinner die einzige im Lande war. Er erwirkte hierzu eine Genehmigung vom Generalgouverneur, die überdies einherging mit einer Zusicherung der Zensurfreiheit, freilich unter der Bedingung, dass Wilde nur seine eigenen Blätter drucke und nichts publiziere, was gegen die Religion oder die Staats- bzw. Landesgesetze gerichtet sei. Wildes Druckerei, die die erste auf private Initiative gegründete und betriebene Druckerei im Zarenreich war, publizierte hauptsächlich deutschsprachige Zeitungen und Fachliches zu Medizin, Landwirtschaft und Viehzucht. Daneben wurden dort vereinzelt auch Hochzeitsglückwünsche und Liederzettel für Taufen oder Beerdigungen gedruckt. Entsprechend seinen Idealen wollte Wilde aber die unteren Volksschichten aus ihrer Unwissenheit befreien und direkt mit Literatur versorgen. Da er jedoch kein Estnisch konnte, war er auf Hilfe angewiesen, und da erwies es sich als eine Fügung des Schicksals, dass in jenen Jahren der ortsansässige Pfarrer in Põltsamaa kein Geringerer als August Wilhelm Hupel (vgl. § 11) war. Er war nicht nur einer der besten Estnischkenner seiner Zeit, sondern auch ein Gesinnungsgenosse von Wilde, was die Aufklärung anbetraf. Hupel erklärte sich bereit, die von Wilde verfassten Texte ins Estnische zu übersetzen, und damit war 1766 die estnischsprachige Presse geboren. Im Zusammenhang mit dieser populärwissenschaftlichen Publikation wird gerne der Durchbruch von rationalistisch-aufklärerischem Gedankengut in Estland erwähnt. Gewiss, die Zeitschrift war die erste ihrer Art im ganzen Zarenreich, die ersten 25 Nummern wurden 1768 in Põltsamaa auch auf Lettisch herausgebracht, und vom Inhalt her war sie sicherlich neuartig. Aber ihre Verbreitung dürfte nicht allzu groß gewesen sein, wenngleich über die exakte Auflagenhöhe nichts bekannt ist. Vermutlich sind die Nummern der Zeitschrift kostenlos an die Bevölkerung verteilt worden (Normann 1926, 616). Auf jeden Fall muss man im Auge behalten, dass diese Zeitung noch nicht am Anfang einer sich kontinuierlich entwickelnden Presselandschaft stand. Es war nur ein erstes Aufflackern, dem noch mancherlei Versuche im kommenden Jahrhundert folgen mussten, ehe die estnische Presse so recht in Gang kommt. Hervorzuheben bleibt aber, dass dieser Presseerstling in zensurfreier Umgebung entstanden war, was für die damaligen Verhältnisse alles andere als normal war, und dass sie die erste umfangreichere Publikation war, die nicht religiösen Inhalts war (vgl. Valmet 1966). Die Druckerei in Põltsamaa, wo insgesamt 33 – mehrheitlich deutsche, aber auch einige estnische – Bücher und die genannten Zeitungen gedruckt worden waren, blieb eine kuriose Episode innerhalb der estnischen Kulturge-

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schichte. Wilde hatte auf eigene Rechnung gewirtschaftet und 1770 die Druckerei an den Gutsbesitzer verkauft, nachdem er zu viel Verlust gemacht hatte. 1773 ist die Druckerei abgebrannt, und die Wiederaufbauarbeiten wurden erst 1782 aufgenommen. Gleichzeitig begann man sich in Tartu, wo es immer noch keine (wiedererrichtete) Druckerei gab, dafür zu interessieren, nachdem seit einem Ukas von Katharina II. aus dem Jahre 1783 die Gründung von Druckereien frei war: Man musste sie lediglich bei den örtlichen Polizeibehörden, die die Zensuraufsicht hatten, melden. Da Tartu aber zu arm war, blieb die Druckerei weiterhin – untätig – in Põltsamaa. Für die Jahre 1784 und 1785 sind keine Drucke nachgewiesen. Erst 1786 trat mit Grenzius (s.o.) wieder eine Person auf den Plan, die sich energischer um die Druckerei kümmerte. Im gleichen Jahr starb der Gutsbesitzer hochverschuldet, so dass die Druckerei in die Konkursmasse geriet, eine Zeit lang von Grenzius vom Landgericht Viljandi gepachtet und 1789 schließlich komplett nach Tartu überführt wurde. Dort entfaltete Grenzius dann in enger Zusammenarbeit mit der 1785 in Tartu gegründeten, auch als Auftraggeber, d. h. Verlag, fungierenden Buchhandlung von Gauger und Linde eine florierende Tätigkeit als Buch-, Kalender-, Zeitungs- und ab 1802 sogar Universitätsdrucker. (Vgl. zur Druckerei Sumbeg 1935, zu Wilde Peegel 1975 und Bartlett 1998)

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Kapitel III: Neue Genres: Von der Erbauung zur Zerstreuung

Kapitel III Neue Genres: Von der Erbauung zur Zerstreuung (1800–1870) § 14 Estnisch als Kultursprache und frühe Prosa Otto Wilhelm Masing Die auffälligste Persönlichkeit im kulturellen Leben Estlands während des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert war zweifelsohne Otto Wilhelm Masing. In seiner Person haben wir es mit einem Aufklärer par excellence zu tun, der sein ganzes Leben in den Dienst der Förderung der estnischen Kultur stellte. Dabei legte er den Schwerpunkt auf aufklärerisch-rationalistische Texte und interessierte sich nicht sonderlich für Belletristik, die dementsprechend nur einen Bruchteil seines umfangreichen Schaffens ausmacht. Sein Hauptaugenmerk lag auf der Hebung der Volksbildung, der Förderung und Entwicklung der (Kenntnis der) estnischen Sprache und Orthographie und der Entwicklung des Zeitungswesens. Auf Masing geht beispielsweise die Einführung des Buchstabens õ für den ungerundeten halboffenen Mittelvokal zurück, der bis dahin meistens mit ö wiedergegeben wurde. Masing ist 1763 in Nordlivland in Lohusuu am Ufer des Peipsisees geboren. Sein Vater war ein estnischer Küster, seine Mutter möglicherweise schwedischer oder adliger Herkunft. Er ging in Narva und später im sächsischen Torgau zur Schule und studierte von 1783 bis 1786 Theologie in Halle. Nach einer kurzzeitigen Anstellung als Hauslehrer und einer Wanderung durch Südeuropa war er von 1788 an auf verschiedenen Pfarrstellen tätig: In Lüganuse in Nordestland, ab 1795 im benachbarten Viru-Nigula, und von 1815 an bis zu seinem Tode in Äksi, das 19 Kilometer nördlich von Tartu liegt. Masing begann seine Publikationstätigkeit zwar 1795 mit einer Fibel, entfaltete seine eigentliche literarische Aktivität aber erst in den letzten gut fünfzehn Jahren seines Lebens. Ihm ging es darum, bei der deutschsprachigen Oberschicht mehr Verständnis für die Landbevölkerung zu wecken, und so publizierte er 1816 das erste Heft einer auf mehrere Lieferungen angelegten

§ 14 Estnisch als Kultursprache und frühe Prosa

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Publikation unter dem Titel Ehstnische Originalblätter für Deutsche. Da der Widerhall unter der Zielgruppe jedoch zu wünschen übrig ließ, ist keine zweite Lieferung erfolgt. Dennoch war diese Publikation für die estnische Literatur wichtig. Hier findet sich – gedacht als Übungstext für Deutsche – ein knapp 30-seitiger, sehr geistreicher estnischer Essay, der für ein gebildetes Publikum gedacht war. Darin wird erörtert, ob ein Gelehrter sich eher mit profunder Kenntnis in einem schmalen Fachgebiet begnügen oder sein Interesse auch auf andere Gebiete ausdehnen solle; es versteht sich von selbst, dass der passionierte Aufklärer sich für die Betätigung auf vielen Gebieten entscheidet. Mit diesem Text wurde Masing zum Begründer einer estnischen Essayistik, bevor es eigentlich eine estnische Literatur geschweige denn eine einheitliche Schriftsprache gab (vgl. Metste 2001, mit Wiederabdruck des Essays, ferner Undusk 1999b). Zwei Jahre später publizierte Masing seine Pühhapäwa Wahhe-luggemissed (Erholungslektüre an Sonntagen, 1818), worin zahlreiche geographische und volkskundliche Skizzen enthalten sind. Auch hierzu war eigentlich ein zweiter Teil geplant, aber trotz positiver Leserreaktionen war der (finanzielle) Erfolg des Buches nicht groß genug, so dass Masing von einem zweiten Band vorerst absah und später infolge seiner anderen Projekte nicht mehr dazu gekommen ist. Zwar gibt es noch einzelne Gedichte und Fabelübersetzungen von Masing, aber die weitere Bedeutung liegt in seiner anderweitigen wissenschaftlichen Herausgeber- und Übersetzungstätigkeit. Er publizierte Gesetzesübersetzungen, Lesebücher, einige Kalender und ein estnisches Arithmetik-Lehrbuch (1823). Ferner nahm er in verschiedenen Publikationen Stellung zur Frage der estnischen Orthographie, wobei er vehement für eine einheitliche Verwendung der nordestnischen Variante eintrat – sehr zum Verdruss seiner unmittelbaren Amtsbrüder, denn Äksi lag im südestnischen Gebiet. Er stellte auch ein umfangreiches estnisch-deutsches Wörterbuch zusammen, dessen Publikation von der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften jedoch abgelehnt wurde (nach seinem Tod ging das Manuskript verloren). Schließlich fehlten auch Publikationen aus seinem eigenen Berufsfeld nicht, er publizierte Predigten, Erzählungen aus der Bibel und Religionslehrbücher. In seinen Texten und seinem Handeln erwies sich der wortgewandte Pfarrer als streitbar und energisch, stellenweise auch als verbittert, da er nicht wenige Rückschläge hat erleiden müssen. Er hatte sich nicht nur Freunde gemacht, seine größte Gegnergruppe bestand erwartungsgemäß in den Herrnhutern, die gerade zu jenem Zeitpunkt, nach dem Gnadenbrief von Alexander I. aus dem Jahre 1817, eine relative Blüte erlebten, die sich indes auf die bäuerlichen Kreise beschränkte, während die Herrnhuter in den Schaltstellen der kirchlichen Macht nicht zum Zuge kamen. Hier wurden die Pietisten

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nach Möglichkeit zurückgedrängt, Masing selbst war 1823 und 1824 Mitglied einer vom livländischen Gouverneur eingesetzten Untersuchungskommission, die sich mit den Pietisten befasste (Anvelt et al. 1995–1997, I, 47). Dem rationalistischen Aufklärer war jegliche Frömmelei, die zu Trancezuständen und »Himmelsgängen« führen konnte, zuwider, und er machte daraus keinen Hehl. So schrieb er 1822 in einem Brief an Rosenplänter (s.u.): … und der verdamte hiesige Herrnhuter Auswurf, an deren Spitze der Ruhestöhrer Nawwa Hinrik stehet, und der Bereits 3 mahl coram protocollo Verhöre ausgestanden, und noch ferner verhört werden wird, macht mir viel Verdruß, und raubt mir noch mehr Zeit. ad vocem. Hernhuter: Es ist jezt in Dorpat eine Ansiedelung der Basler Mission. Heintzi, die lange Latte Prof. Aderkas, der Privatlehrer Asmuss, und ein Gymnasiast Köpke, gebürtig aus Lübeck, haben sich zu diesem großen Entzwecke verbunden. Auch ist ein Verrückter jezt in Dorpat angelangt, der unsre ganze Bibel für ein verfalschtes und eigendlich für ein Pseudographon ausgiebt, und versichert, daß die eigentliche Bibel nur in den Händen und Herzen der Gotterleuchteten sich befinde, auch soll ein Exemplar davon unter den libris raris der Dorptschen Bibliothek vorhanden sein und verheimlicht worden, weswegen Morgenstern und der Secretär Petersen eigentlich mit dem Schwerdte vom Leben zum Tode geführt werden sollten. Die Professoren aber verdienten, samt und sonders gebrandtmarckt zu werden, weil sie Tollheit lehrten &c. der Kaufmann Luhha, ein geborner Ehste, soll vom Evangelisten Lukas abstammen, auch die frapanteste Aehnlichkeit mit ihm haben. Die Policei duldet es, daß dieser Kerl herumläuft, und über all seinen Unsinn plaudert. Secretär Petersens Frau ist leider! seit einigen Wochen, durch die Fellinschen Schwärmer, und wie man sagt, durch den Einfluß eines Mystischen Kandidaten Namens Hesse, splitter toll, so daß sie um sich beißt, und die Kleider vom Leibe reißt. Wird denn die Stadt nicht einmal gewahr, wohin die Frömmelei der Zeit führt? – (zit. nach Anvelt et al. 1995–1997, III, 166 – der gesamte Briefwechsel zwischen Masing und Rosenplänter aus den Jahren 1814–1832 ist auf Deutsch geführt und im Original samt estnischer Übersetzung mit Kommentar und Registern publiziert worden. Die beinahe 300 Briefe sind eine anregende und kulturgeschichtlich ausgesprochen interessante Lektüre.)

Besonders hervorgehoben werden müssen Masings Verdienste im Bereich des Zeitungswesens. Er war nicht nur Mitarbeiter mehrerer deutschsprachiger Zeitungen (vgl. z.B. Anvelt 1963), sondern auch Begründer einer der ersten estnischsprachigen Zeitungen, denen eine längere Lebensdauer beschieden war (s. hierzu § 15). Die ersten Prosaisten Wichtiger für die Entwicklung der schöngeistigen Literatur am Beginn des 19. Jahrhunderts waren zwei Zeitgenossen Masings, die mit ihren Lesebüchern und Übersetzungen einen Schritt weg von der rein religiös oder ratio-

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nalistisch orientierten Gebrauchsliteratur wagten: Otto Reinhold von Holtz und Johann Wilhelm Ludwig von Luce. Von ihnen stand der Erstgenannte in gewisser Hinsicht in direkter Gegnerschaft zu Masing, denn er war eher dem Neupietismus zugeneigt, wenn auch sicherlich nicht in der von Masing so schroff abgelehnten Form, die das obige Zitat an den Tag legt. Holtz war 1757 in Keila in der Nähe von Tallinn geboren und hatte den für viele damalige Pastoren üblichen Weg eingeschlagen: Von 1774 bis 1778 studierte er in Greifswald und Tübingen Theologie, nach der Rückkehr in die Heimat war er kurze Zeit Hauslehrer, ehe er 1780 eine Pfarrstelle in Keila antrat, wo er bis zu seinem Tode blieb. Einen Großteil seiner Zeit und Energie verwendete Holtz auf Übersetzungen von Gesetzestexten und Ratgebern ins Estnische. Er galt als einer der besten Kenner des Estnischen seiner Zeit und unterrichtete die Sprache auch kurzzeitig an der Tallinner Kreisschule, wo einer seiner Schüler Friedrich Reinhold Kreutzwald war. Auch nimmt man an, dass es Holtz war, der die dritte Auflage von Willmanns Juttud ja Teggud (vgl. § 13) sprachlich überarbeitet hat. Es blieb aber nicht bei jenen technischen Übersetzungen, sondern Holtz war auch der Erste, der Gedichte von Schiller ins Estnische übersetzte. Schiller war nicht zuletzt aufgrund seiner Freiheitsdichtung im Russischen Reich, das gerade gegen Napoleon gekämpft hatte, außerordentlich populär, wovon auch die beiden ältesten Schiller-Denkmäler bzw. -Gedenksteine, die Jahrzehnte vor den ersten Denkmälern in Deutschland errichtet worden sind, zeugen. Sie stehen bzw. standen in Helme, in der Nähe von Tartu, errichtet bereits 1805, und in Puhtu, an der Westküste Estlands, errichtet 1813 (Salumets 1986; zur Schiller-Rezeption allgemein Salu 1968). Holtz übersetzte 1813 Schillers An die Freude, publizierte den Text erst in einem Kalender und verbreitete ihn später mit einigen anderen Gedichtübersetzungen separat auf einem losen Blatt. Noch einmal wurden diese Gedichte gemeinsam mit anderen Prosastücken des Autors 1817 in einer Sammlung publiziert, die sich großer Beliebtheit erfreute und praktisch im Alleingang den bescheidenen schriftstellerischen Ruhm von Holtz begründete: Luggemised Eestima Tallorahwa Moistusse ja Süddame Juhhatamisseks (Lektüre zur Anleitung von Verstand und Herz des estnischen Bauernvolks). Die hierin enthaltenen Geschichten basieren nur teilweise auf ausländischen Vorbildern, bei einigen kann man davon ausgehen, dass sie allein der Phantasie bzw. Beobachtungsgabe des Autors entsprungen sind. Zwar sind die Texte immer noch recht didaktisch und eindeutig von ihrer Moral her, aber es lässt sich nicht abstreiten, dass sie von einer gewissen Fabulierlust getragen werden und damit einen Übergang von der Erbauung zur Zerstreuung markieren.

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Johann Wilhelm Ludwig von Luce stammte im Gegensatz zu Holtz aus Deutschland und war im braunschweigschen Hasselfelde geboren. Er studierte von 1774 bis 1777 Theologie in Göttingen und Helmstedt und trat 1781 eine Hauslehrerstelle auf Saaremaa an. Als er 1783 eine Pfarrstelle in Püha, ebenfalls auf Saaremaa, erhielt, schien sein weiterer Lebensweg dem Beispiel vieler seiner bislang erwähnten Vorgänger, die für das frühe estnische Schrifttum verantwortlich sind, zu folgen. Doch Luce hatte lange am Pfarrberuf gezweifelt und neigte obendrein zu Depressionen, und 1785 legte er sein Pfarramt plötzlich nieder und widmete sich der Bewirtschaftung eines Gutes. In dieser Phase publizierte er eine Reihe von deutschen Gedichtbänden. Vier Jahre später beendete er nach dem Tod seiner ersten Frau die landwirtschaftliche Tätigkeit auf dem Gut und ging wieder nach Deutschland, wo er von 1789 bis 1792 ein Medizinstudium in Göttingen und Erfurt absolvierte. Danach kehrte er über die Zwischenstation St. Petersburg nach Estland zurück und war in verschiedenen Bereichen u.a. als Arzt tätig, bevor er von 1804 bis 1820 Schulinspektor in Kuressaare war. Luce war Rationalist und bemüht, der Landbevölkerung zu einem besseren Leben zu verhelfen, während er für den Adelsstand, in dem er selbst sich im Übrigen seit 1795 befand, und die Geistlichkeit, der er ebenfalls eine Zeit lang angehört hatte, nicht viel mehr als Spott übrig hatte. Von seinen zahlreichen Texten sind nur die frühesten religiösen Inhalts, schon schnell verlegte er sich auf medizinische, naturwissenschaftliche und historische Themen. In diesen Bereichen hat er verschiedene Schriften veröffentlicht und so zur allgemeinen Hebung der Volksbildung beigetragen. Er war Mitarbeiter bei diversen Zeitschriften und bemühte sich um die Erforschung von Kultur und Sitten des Landes, wozu er auch eigens eine Gesellschaft gründete (vgl. § 17). Der größte Wurf gelang Luce mit seinen Erzählungen, die er in zwei Bänden unter dem Titel Sarema Jutto ramat (Das Geschichtenbuch von Saaremaa, 1807, Teil 2 1812) veröffentlichte. Wie damals üblich, estisierte er dabei seinen Namen und figurierte auf dem Titelblatt als Johann Willem Luddi Ludse. Vergleichbar den früheren Büchern von Arvelius und Willmann, handelt es sich auch hier um in der Hauptsache didaktische Prosa, der eine eindeutige Moral nicht fehlt. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern sind die 43 Erzählungen von Luce aber authentisch und beruhen auf eigenen Beobachtungen, die der Autor auf dem Lande, wo er selbst zeitweise gelebt hatte, gemacht hat. Das Buch wurde zwar 1843 erneut aufgelegt, war aber wohl außerhalb Saaremaas, wo es als Schulbuch verwendet wurde, nicht sehr verbreitet. In der unmittelbaren Rezeption nahm es daher nicht den Platz ein, der ihm eigentlich gebührte: Mit seinen zusammengenommen weit über 400 Seiten stellte es schon rein quantitativ einen Schritt nach vorne da, und hinsicht-

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lich der Originalität konnte es für sich eine neue Qualität beanspruchen. Da tut es keinen Abbruch, dass die Geschichten selbst relativ konventionell sind und das volksaufklärerische und erzieherische Element in den Vordergrund rücken. Ebenso wenig stellen sie die herrschende Ordnung in Frage, aber sie sind gekennzeichnet durch den Versuch, die Standesschranken zu überwinden und für gegenseitiges Verständnis zu werben. Damit war Luce sicher nicht der Erste, aber die Art und Weise, wie dies versucht wurde, war innovativ. Während Luces Sammlung als Schulbuch nur zufällig verwendet wurde, gebührt einem anderen die Ehre der expliziten Abfassung des ersten Schullesebuchs: George Gottfried Marpurg publizierte 1805 in Tartu ein kleines Lesebuch, das im Untertitel ausdrücklich als für Schulkinder geschrieben bezeichnet wurde. Marpurg stammte aus Thüringen, hatte von 1773 bis 1777 in Leipzig Theologie studiert und anschließend eine Hauslehrerstelle in Riga angetreten. Von dort war er 1780 nach Tartu gelangt, wo er anfing, sich mit dem Estnischen zu beschäftigen, und alsbald auch eine Pfarrstelle bekam. Dort widmete er sich der Verbesserung der Lebensumstände der Landbevölkerung, was er als Rationalist über die Bildung versuchen wollte. Neben praktischen Ratgebern schrieb er noch zwei weitere Büchlein mit Prosa, von denen das erste (1802) jedoch nicht bewahrt geblieben ist. Das zweite (1813) ist ein Gespräch von zwei Bauern über den Schaden, den der Hagel angerichtet hat, und endet damit, dass der eine seine Verzweiflung über den Unwetterschaden dadurch überwindet, dass er den Weg zu Gott findet. Marpurg, der in seinen späteren Jahren zum Pietismus neigte, war mit seinen südestnischen Texten eine Bereicherung für die aufkeimende Prosa (Oinas 1935). Nach diesem ersten kleinen Prosaschub zu Beginn des 19. Jahrhunderts trat eine Pause ein. Erst Ende der 1830er-Jahre wurde der Faden wieder aufgenommen: 1838 publizierte Peter August Friedrich von Mannteuffel einen Erzählband mit dem Titel Aiawite peergo walgussel (Zeitvertreib im Schein des Kienspans), der neben einigen Fabeln, wie damals üblich, eine längere Erzählung enthielt, die völlig eigenständige Prosa darstellt und den Autor zu einem der ersten estnischen Prosaisten macht. Mannteuffel war ein wohlhabender Graf, dem in Nordestland ein Dutzend Güter gehörten, der ansonsten aber nicht viel mit seinen Standesgenossen gemein hatte. Er interessierte sich mehr für das Tallinner Liebhabertheater (vgl. § 17), befasste sich mit Erfindungen, schrieb Gedichte auf Deutsch und Estnisch und wurde wegen seines exzentrischen Lebenswandels gemeinhin der »verrückte Graf« genannt. Mit Masing verband ihn nicht nur die aufklärerische Weltanschauung, sondern auch eine gemeinsame Erfahrung, denn die beiden waren seinerzeit zusammen durch West- und Südeuropa gewandert.

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Mannteuffels ganz im Stile der Aufklärung verfasste Erzählung trägt keinen Titel, wird aber meistens nach der ersten auftretenden Person, die jedoch nicht unbedingt die Hauptperson ist, mit Jüri Tarwel bezeichnet. Es ist eine Mischung aus Prosa und Bühnentext, gebundener Erzählstil wechselt ab mit wörtlicher Rede, denen nur der Name der sprechenden Person vorangestellt ist, hier und da finden sich Regieanweisungen. Der erste Teil behandelt die negativen Zeiterscheinungen wie Diebstahl und Trunksucht und zeigt einen Mann, der mit Hilfe seiner Mitmenschen wieder auf den rechten Weg findet. Der zweite Teil ist eine simple Liebesgeschichte, die mit einer Hochzeit endet. Gleichzeitig wird in diesem Teil der Erzählung dargestellt, wie sich die Generationen einander ablösen, denn heiraten konnte man nur, wenn man danach einen Ort zum Leben hatte, d.h. in diesem Fall musste der Vater des Bräutigams den Gutsherrn bitten, den Sohn an seiner Stelle auf dem betreffenden Hof einzusetzen. Das gelingt alles ohne viel Federlesens, und als die Schwiegermutter auf dem Hof ist und das Leben in geordneten Bahnen verläuft, kann die ältere Generation abtreten: Die Erzählung endet mit dem Tod der Mutter des Bräutigams. Sie entbehrt nicht eines gewissen didaktischen Untertons, zeichnet sich aber durch ihr exaktes Bild von den damaligen Zeitumständen aus. Das Büchlein erlangte schnell Verbreitung und wurde 1839 zum zweiten Mal aufgelegt. Es wurde auch mehrfach in der Zeitschrift Inland (vgl. § 15) besprochen und steht am Beginn einer sich entfaltenden Prosakultur, denn in den Folgejahren erschienen zusehends häufiger Erzählbände von verschiedenen Autoren (s. u.). Von Mannteuffel erschien 1839 noch ein zweites Buch, Willem Nawi ello= päwad (Die Lebenstage von Willem Nawi), das moralisierender Art war. Diese Bearbeitung des damals verbreiteten Buches Die Brannteweinpest (1837) des deutsch-schweizerischen Schriftstellers Heinrich Zschokke war das erste einer ganzen Reihe von Mäßigkeitsbüchern, die in Estland erschienen. Durch die intensive Betreibung des Wirtschaftszweiges der Schnapsbrennerei auf den Gütern war der Alkoholismus zu einem weit verbreiteten und bedrohlichen Problem geworden, dem sich viele Aufklärer, Pfarrer und Schriftsteller zuwandten. Mannteuffels Version ist leicht bearbeitet auch in finnischer und schwedischer Übersetzung von Elias Lönnrot erschienen. Rosenplänters Beiträge Die 1802 erfolgte Wiedereröffnung der fast ein Jahrhundert lang ruhenden Universität in Tartu war für das estnische Geistesleben von eminenter Bedeutung, auch wenn die Hochschule im 19. Jahrhundert eine rein deutschsprachige Angelegenheit blieb. Allerdings gab es dort bereits seit 1803 ein ge-

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meinsames Lektorat für Estnisch und Finnisch, das die künftigen Pastoren mit den notwendigen Estnischkenntnissen ausstatten sollte. Darüber hinaus gab es von 1812 bis 1816 sogar einen Kreis interessierter Studenten, der sich mit Sprache und Literatur des Estnischen befasste und in dem man auch Gedichte schrieb (EKA I, 258). Allein das ist schon ein hinreichender Beweis dafür, wie wichtig die bloße Existenz einer derartigen höheren Lehranstalt im estnischsprachigen Gebiet war. Im Prinzip stand die Hochschule allen Söhnen des Landes offen – den Töchtern freilich erst seit 1905 als Gasthörerinnen, seit 1915 formal als vollberechtigte Studentinnen, was jedoch erst 1917 realisiert wurde (vgl. Tamul 1999). Für wen ein Studium an einer deutschen Universität aus finanziellen Gründen bislang schier utopisch gewesen war, rückte ein solches nun in den Bereich des Möglichen. Die Universitätsgründung war ein vermutlich unerwünschter Nebeneffekt des Ukas von 1798, mit dem Zar Paul I. allen seinen Untertanen aus Furcht vor den Einflüssen der Französischen Revolution das Studium an ausländischen Universitäten untersagt hatte. In der Folge musste dann nämlich im Inland für die entsprechenden Studienmöglichkeiten für die künftigen lutherischen Pastoren gesorgt werden, und nach Pauls Ermordung wählte sein Sohn und Nachfolger Alexander I. hierzu Tartu als Standort. Bei den Eröffnungsfeierlichkeiten war der Zar selbst anwesend, was den besonderen Status und damit auch die Bedeutung der Universität für die Entfaltung einer estnischen Intelligenzschicht herausstreicht: Die Universität war durch einen in Tartu ansässigen Kurator direkt der Zentralregierung in St. Petersburg unterstellt und nicht den Organen der lokalen deutschen Oberschicht. Einer der ersten Studenten an der wiedereröffneten Universität und überhaupt die erste wichtige Kulturpersönlichkeit Estlands, die nicht an einer ausländischen Universität studiert hat, war Johann Heinrich Rosenplänter. Er stammte ursprünglich aus Valmiera, im lettischsprachigen Teil Livlands gelegen, ging aber in Tallinn und Riga zur Schule. Von 1803 bis 1806 studierte er in Tartu Theologie, war danach Hauslehrer und trat 1808 seine erste Pfarrstelle in Tori an. Von 1809 bis zu seinem Tode war er Pastor in Pärnu. Von Rosenplänter, der der rationalistisch-aufklärerischen Strömung zuzuordnen ist (vgl. z.B. Tasa 1982), sind keine nennenswerten belletristischen Versuche bekannt. Seine Bedeutung für die Nachwelt besteht in seiner umfangreichen bibliographisch-dokumentarischen Arbeit und seiner Herausgebertätigkeit: Seine Beiträge zur genauern Kenntniss der ehstnischen Sprache, die in der weiteren Literaturgeschichte bezeichnenderweise kurz als Rosenplänters Beiträge oder nur Beiträge tituliert werden, bildeten den Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Estnischen und schufen die Basis für die künftige estnische Schriftkultur.

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Die Zeitschrift erschien in 20 Heften von 1813 bis 1832 in Pärnu, wo es seit 1809 eine Druckerei gab. Sie kam nicht ganz so regelmäßig heraus, wie diese Zahlen suggerieren, einige Ausgaben waren außerdem reine Monographien. Ursprünglich waren zwei Lieferungen pro Jahr geplant, was aber nur in einigen Jahren (1813, 1816, 1822; 1817 und 1818 sogar drei Lieferungen pro Jahr) verwirklicht wurde, während in anderen Jahren nur ein Heft oder gar nichts erschien. Durch die geringe Auflagenhöhe rentierte sich die Zeitschrift nicht, und Rosenplänter, der zudem eine umfangreiche und ständig wachsende Familie – zwischen 1813 und 1840 brachte seine Frau 15 Kinder zur Welt! – zu ernähren hatte und die Zeitschrift von seinem Pastorengehalt finanzieren musste, hatte große Geldprobleme. Bei den ersten Jahrgängen überstieg die Zahl der Abonnenten mit etwas über 40 die Zahl der Autoren (23) nur unwesentlich. Bei den letzten Jahrgängen wurde das Erscheinen zusehends sporadischer (1823, 1825, 1827, 1828, 1832). Versuche einer Wiederbelebung als Neue Beiträge zu Beginn der 1840er-Jahre scheiterten gänzlich. Des ungeachtet wurde die Unternehmung mit insgesamt über 3400 gedruckten Seiten ein Meilenstein auf dem Wege der Herausbildung der estnischen Schriftsprache und Literatur. Nahezu alle namhaften Kulturpersönlichkeiten der Zeit konnten von Rosenplänter als Autoren für seine Beiträge gewonnen werden, wobei sich der Kreis der Mitarbeiter nicht auf Estland beschränkte, sondern auch Kollegen aus Finnland mit einschloss: Neben den erwähnten Hupel, Luce und Masing z.B. noch Arnold Friedrich Johann Knüpffer als Erforscher der estnischen Sprache und Volksdichtung, Johann Friedrich Heller, ebenfalls ein Kenner und Erforscher des Estnischen, Abram Holter, Verfasser von Volkserzählungen und Schulbuchautor, Kristian Jaak Peterson (s. § 16) sowie die finnischen Wissenschaftler Carl Axel (Kaarle Aksel) Gottlund und Adolf Ivar Arwidsson. Die Intention der Zeitschrift wird durch den Titel exakt wiedergegeben, wenngleich das tatsächliche Betätigungsfeld viel größer war. In erster Linie ging es aber um eine Verbesserung der Kenntnisse des Estnischen, die Rosenplänter für unabdingbar hielt, wenn man sich mit der Kultur des Landes, in dem man lebte, befassen wollte. Rosenplänter sah das Estnische als eine reiche Sprache an, die nicht nur für eine niedrige Bauernkultur geschaffen sei. Folgerichtig wurden auf den Seiten der Zeitschrift alle Fragen der estnischen Sprache und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten diskutiert, neue Wörter mitgeteilt, nach der Bedeutung seltener Wörter gefragt, zum Sammeln von Wörtern aufgerufen und Fragen der Orthographie, wobei insbesondere die Schaffung einer einheitlichen Schriftsprache im Vordergrund stand (Laanekask 1983), behandelt. In der 15. Lieferung (1822) findet sich erstmalig der Vorschlag, die finnischen Orthographieregeln auch für das Estni-

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sche anzuwenden, wie es dreißig Jahre später in der 2. Auflage der Grammatik von Eduard Ahrens dann geschah. Neben wissenschaftlichen deutschsprachigen Aufsätzen brachte die Zeitschrift auch estnische Materialien, Textbeispiele und -proben, manchmal sogar einige estnische Gedichte, sehr häufig Volkslieder und Märchen. Dadurch war die Zeitschrift ungeachtet ihres deutschen und wissenschaftlich klingenden Namens auch ein frühes Forum für estnische Texte. Durch ihre Vielseitigkeit erreichte sie schließlich genau das, was sie wollte: Die Hebung des Estnischen zu einer Kultursprache, d. h. zu einer Sprache, die über das komplette Instrumentarium verfügt, das nötig ist, um die verschiedenen Facetten der modernen Humankultur zu behandeln und auszufüllen. Das gelang nicht auf einen Schlag und auch nicht innerhalb der zwanzig Jahre des Erscheinens der Beiträge, aber die Zeitschrift war der entscheidende Schritt am Beginn dieser Entwicklung. Gleichzeitig füllte sie auch das Loch zwischen den Erzählbänden von Holtz und Luce und der Prosa von Mannteuffel und den dann bald nachwachsenden Erzählern. Johann Heinrich Rosenplänter hätte sich schon allein durch die Herausgabe der Beiträge unsterblich gemacht für die estnische Kulturgeschichte, jedoch war er noch in einem anderen Bereich von eminenter Bedeutung: Als Sammler estnischen Schrifttums und erster Bibliograph ist es sein Verdienst, dass wir von vielen Dingen wissen, die heute nicht mehr erhalten sind. Er publizierte im letzten Heft seiner Beiträge eine 40-seitige Bibliographie estnischen Schrifttums und stellte ferner einen Zettelkatalog Bibliotheca esthonica zusammen, der in der Universitätsbibliothek von Tartu aufbewahrt wird und über 300 Einträge aus dem Zeitraum von 1553 bis 1826 enthält. Außerdem befasste er sich mit Literaturgeschichte, wozu er allerlei Material sammelte und ein unvollendetes Manuskript Critische Uebersicht der Esthnischen Literatur, von ihrem ersten Ursprunge bis zum Jahre 1843 hinterließ (vgl. Alttoa 1962, Veersalu 1966). Rosenplänters Bibliothek enthielt über 800 Bände. Seiner Sammlersorgfalt verdanken wir überdies viel ungedrucktes Material zur frühen estnischen Literaturgeschichte, allen voran die Gedichte von Kristian Jaak Peterson (s. § 16), aber zum Beispiel auch die erwähnten Briefe von Masing an ihn, während Rosenplänters Briefe an Masing verloren gegangen sind. Schließlich hat Rosenplänter auch im Bildungsbereich Pionierarbeit geleistet und im Jahre 1814 in Pärnu eine Lehrerausbildungsanstalt ins Leben gerufen, mit deren Hilfe er für den erforderlichen Nachwuchs im schulischen Bereich sorgte. Zwar war der Lehranstalt kein langes Leben beschieden, sie ist vermutlich 1819 oder 1820 geschlossen worden; aber immerhin haben mindestens sechs Nachwuchslehrer in dieser Schule ein dreijähriges Programm absolviert. Sie bekamen dabei Unterricht im Lesen, Schreiben

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und Rechnen, ferner in Religion, Geographie, Pädagogik, Buchbinderei und Gartenpflege. So entstand eine Art Rosenplänter’sche Schule, deren Nachwirkungen lange andauerten. Übersetzungen, Nacherzählungen, Sentimentalismus Wenn sich seit den 1840er-Jahren die Literatur im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten nachgerade zügig weiterentwickelte, so hatten die Beiträge sicherlich ihren bescheidenen Anteil daran. Weitere Faktoren waren technische Neuerungen wie zum Beispiel die 1846 erfolgte Einführung der ersten Schnellpresse (bei Laakmann, vgl. § 19), die gestiegene Schulbildung und die damit einhergehende Alphabetisierung. Alles in allem führte dies dazu, dass die tragende Schicht einer Schriftkultur, die bislang nahezu ausnahmslos aus Pastoren bestanden hatte, mehr und mehr von Küstern und Lehrern gebildet wurde, während sich die Geistlichen allmählich aus dem Metier zurückzogen. Freilich spielen religiöse Themen noch immer eine große Rolle, aber allmählich gesellten sich nun auch die für das 19. Jahrhundert so typische Abenteuerliteratur, Robinsonaden, sentimentale Literatur und dergleichen hinzu. Eine Subsumierung unter dem Oberbegriff »Sentimentalismus« soll dabei keine exakte Genredefinition sein, sondern eher den Rahmen andeuten, innerhalb dessen sich die erzählende Prosa in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts abspielt. Ein erster wichtiger Text kommt sogar unmittelbar aus dem Umkreis von Rosenplänter, denn es war der Küster von Rosenplänters Kirche, Caspar Franz Lorenzsonn, der 1839 die erste von einem knappen Dutzend Bearbeitungen des populären Genovefa-Stoffes herausbrachte. Die bekannte Sage – ein abgewiesener Liebhaber bezichtigt Genovefa ihrem Ehemann gegenüber fälschlicherweise des Ehebruchs, woraufhin dieser seine Frau zum Tode verurteilt, die aber durch das Mitleid der Vollstrecker gerettet wird und sieben Jahre im Walde lebt, wobei sie ihr inzwischen geborenes Kind mit Hilfe einer Hirschkuh aufzieht, ehe sie per Zufall von ihrem Mann entdeckt wird, der ihr dann verzeiht – stammt vermutlich aus dem frühen 15. Jahrhundert. Weite Verbreitung hat sie in der 1638 erschienenen Version des französischen Jesuiten René de Cerisier erlangt. Nach Estland gelangte sie, zumindest als erste gedruckte Form, über die deutsche Version von Christoph Schmid aus dem Jahre 1810. Lorenzsonns Buch erschien in zwei weiteren Auflagen (1841, 1853), während gleichzeitig noch andere Bearbeitungen herauskamen, von denen die von Kreutzwald die größte Verbreitung erlangte. Er hatte sich seit der Anfangsphase seiner schriftstellerischen Karriere in den 1820er-Jahren mit dem Stoff befasst, publizierte aber erst 1842 seine erste Ausgabe, die of-

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fenbar auf einem deutschen Volksbuch von Gotthard Oswald Marbach aus dem Jahre 1838 beruhte. Kreutzwalds Buch wurde ein Verkaufsschlager, von dem sieben Drucke mit einer Gesamtauflage von ca. 20000 Exemplaren erschienen, wobei der Verleger sich auch nicht scheute, ohne Wissen des Autors Neuauflagen zu veranstalten. Zeitgleich mit dem Genovefa-Boom begannen die Robinsonaden, deren erste ebenfalls 1839 erschien, als in der Übersetzung des Lehrers Johann Thomasson ein Text des erwähnten Christoph Schmid herauskam, der im Original Gottfried der Einsiedler hieß und seinerseits eine Adaptation von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) darstellte. In der estnischen Fassung, die wie ihr Vorbild für eine jugendliche Leserschaft gedacht war, erhielt sie den Titel Weikisi Hanso luggu tühja sare peäl (Die Geschichte vom kleinen Hans auf einer einsamen Insel) und spielte in weit kleinerem Maßstab: Ein Fischersjunge wird vom Sturm auf eine Insel verschlagen, lebt dort drei Jahre und wird dann infolge eines glücklichen Zufalls vom Vater an der Küste entdeckt und abgeholt (J. Roos 1939). Das Buch hatte großen Erfolg und ist noch dreimal neu aufgelegt worden. Ihm folgten weitere Robinsonaden von anderen Autoren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein (vgl. den guten Überblick von Vinkel 1960) und andere sentimentale Bücher gleichen Stils. Meistens stehen hier edle, unschuldige und zu Unrecht verstoßene Frauen im Zentrum des Geschehens, denen nach langem Leidensweg doch noch Recht widerfährt. Es handelt sich in der Regel um Übersetzungen aus dem Deutschen oder freiere estnische Bearbeitungen des Stoffes, der seinerseits auf viel ältere Quellen zurückgeht. Die Hirlanda- oder Irlanda-Geschichten können mit dem Artusstoff in Verbindung gebracht werden, das Griseldis-Motiv wiederum findet sich bereits im Decamerone von Boccaccio, das Motiv der Geduldigen Helena, wie wir es in dem seit 1850 in vier Auflagen erschienenen Buch von Berend Gildenmann finden, ist als Helena von Konstantinopel in vielen Sprachen anzutreffen. Es hat seinen Ursprung in der griechischen Sagenwelt, ist seit dem 15. Jahrhundert im Französischen überliefert und geht hier auf eine Version aus einem deutschen Volksbuch zurück. Charakteristisch für die Zeit war, dass manche Übersetzer sich auch an eigenen literarischen Texten versuchten. So publizierte Carl Matthias Henning, von dem seit 1821 zahlreiche Übersetzungen religiöser Literatur und erbauliche Texte erschienen sind, darunter eine estnische Fassung von Thomas von Kempens De imitatione Christi, auch eine eigenständige Geschichte. In Waene Mart (Der arme Mart, 1839) schildert eine Großmutter das Schicksal ihres früh verwaisten und nach kurzem, mühevollem, aber glücklichem Leben ebenfalls früh verstorbenen Enkel Mart. Die Erzählung steht noch ganz in der Tradition der Erbauungsliteratur, markiert andererseits aber auch

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einen ersten Schritt auf dem neuen Terrain der eigenständigen estnischen Jugendliteratur, wie es die erwähnten Robinsonaden auch tun. Als einer der Ersten verkörpert dann Carl Wilhelm Freundlich den Typ des frühen Schriftstellers, wie er in den folgenden Jahrzehnten mehrfach begegnet: Aus einfachen Verhältnissen stammend, mit geringer Schulbildung ausgestattet, aber vielseitig begabt und aktiv, tätig im journalistischen Bereich, aber auch dichtend und Geschichten schreibend, Verfasser von Kalendergeschichten, und obendrein sehr musikalisch. So jemand fand sein Auskommen häufig als Küster oder Lehrer. Freundlich, der eigentlich Henrikson hieß und seinen Nachnamen tatsächlich infolge seines freundlichen Wesens erhalten hatte, vereinigte all diese Eigenschaften in sich und war seit 1824 Küster auf Muhu, der kleinen Insel zwischen Saaremaa und dem Festland. Er wurde in seinen späteren Jahren als Zeitungsredakteur und Dichter bekannt, begann seine Karriere aber mit sentimentaler Prosa. 1837 erschien von ihm ein nur 15 Seiten umfassendes Büchlein mit dem umständlichen Titel Siin on Magdeburgi-linna hirmsast ärrarikkumissest […] luggeda (Hier ist von der schrecklichen Zerstörung der Stadt Magdeburg […] zu lesen), das neben einer Beschreibung der Zerstörung von Magdeburg im 30-jährigen Krieg auch Gedichte enthält. Das Buch wurde schnell beliebt und noch zweimal (1843, 1848) neu aufgelegt. Das zweite Buch von Freundlich, Appolonius, Tirusse ja Sidoni kunningas (1846), ist eine estnische Version des klassischen Apollonius von Tyros-Stoffes, das Freundlich über Marbachs deutsche Version rezipiert hat. Seine Fassung ist, wie der Untertitel seines Buches unumwunden zugibt, eine Erzählung von Gottes großer Hilfe und Erbarmung und fällt somit noch ganz in den Bereich der Erbauungsliteratur. Des ungeachtet hat dieses Buch eine gewisse Popularität erreicht und Freundlichs Ruf eines volkstümlichen Schriftstellers mitbegründet. Wie das Beispiel Carl Körbers (Bruder von Martin K., s. § 19), zeigt, gab es aber nach wie vor eifrig schreibende Pfarrer, die sich darum bemühten, das Volk mit Lesestoff zu versorgen. Körber ist 1802 in Võnnu geboren, ging in Tartu zur Schule und studierte dort von 1820 bis 1823 Theologie. Den Studienabschluss machte er erst 1834, nachdem er verschiedene Stellungen bekleidet hatte und auch größere Reisen nach Deutschland und Italien unternommen hatte. Ab 1841 war er Hilfspfarrer, später ordentlicher Pfarrer in Vändra und in dieser Funktion Johann Woldemar Jannsens (s.u.) Vorgesetzter. 1859 ging er nach Tartu, redigierte dort kurzzeitig eine estnische Zeitung (s. § 15) und danach eine Kalenderserie. Währenddessen publizierte er seit Anfang der 1840er-Jahre zahlreiche Bücher meist geistlichen, aber auch allgemein erbaulichen Inhalts, Schulbücher und Ähnliches. Als er 1883 starb, hatte er über 40 Titel produziert. Hinzuweisen ist darauf, dass sein für Kinder

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geschriebener Erzählband Karjalaste luggemisse ramat (Lesebuch für Hirtenkinder, 1849) den Beginn der eigenständigen estnischen Kinderliteratur markiert (vgl. Krusten 1995, 42). Eine Sonderstellung nimmt schließlich Suve Jaan, mit bürgerlichem Namen Johann Friedrich Sommer, ein. Denn Sommer war einer der wenigen Literaten der Zeit, der auch Impulse aus der russischen Literatur aufnahm. Er war viele Jahre Russisch-Lehrer in Tallinn, Rakvere, Viljandi und Pärnu und damit auch einer der wenigen, der keine direkten Beziehungen zur Kirche aufwies. Auffällig ist ferner, dass er erst im Pensionsalter zu schreiben anfing. Sommer veröffentlichte zwei Erzählungen, die bis ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder neu aufgelegt wurden und in gewisser Hinsicht im Kanon verankert sind: Venne südda ja Venne hing (Das russische Herz und die russische Seele, 1841) und Luige Laus (1843). Beide Bücher sind historische Erzählungen. Im ersten wird der Krieg gegen Napoleon behandelt, das zweite spielt ein wenig früher und hat eine russisch-schwedische Seeschlacht aus dem Jahre 1790 zum Gegenstand. In beiden Büchern wird ausführlich der heldenhafte Kampf der Soldaten beschrieben. Dabei wird die Titelfigur des zweiten Buchs, der auf russischer Seite kämpfende Este Luige Laus, zum heroischen Krieger emporstilisiert. Auf diese Weise erschien erstmals vorsichtig die Betonung des nationalen Elements oder einer nationalen Eigenart in der estnischen Literatur. Johann Woldemar Jannsen Auf ein umfangreiches Prosa-Œuvre kann auch Johann Woldemar Jannsen, der als Begründer der estnischen Presse (vgl. § 15) und eine der Leitfiguren in der nationalen Emanzipationsbewegung bekannt ist, zurückschauen. Jannsen wurde im nordöstlich von Pärnu gelegenen Vändra geboren, ging dort zur Schule, war anschließend eine Zeit lang Kutscher und bekleidete danach das Amt des Küsters und Schulmeisters. Von 1850 an lebte er in Pärnu, wo er bald seine bahnbrechende journalistische Tätigkeit begann. 1863 siedelte er nach Tartu über, um fortan dort zu wirken. 1880 erlitt er einen Schlaganfall. Die letzten zehn Jahre seines Lebens war er bettlägerig und beteiligte sich nicht mehr am kulturellen Leben, das er drei Jahrzehnte lang entscheidend mitgestaltet hatte. Neben zahlreichen Gedicht- und Liedpublikationen liegt von Jannsen auch ein umfangreiches Prosawerk vor. Seine Geschichten sind verstreut veröffentlicht worden, hauptsächlich in eigenen Sammlungen des Autors, von denen seit 1848 insgesamt sieben unter dem Titel Sannumetoja (Der Nachrichtenbote) erschienen sind. Dieser Titel war als eine Art Jahrbuch geplant,

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was nur bei den ersten vier Lieferungen gelang (1848–1851), danach gab es infolge der Zensur Verzögerungen, und die nächsten Ausgaben erschienen 1856, 1857 und 1860. Parallel dazu und auch später noch publizierte Jannsen die Geschichten in den Beilagen seiner eigenen Zeitungen und in Kalendern. Insgesamt dürfte es sich um weit über 200 Texte handeln – die meisten Quellen verzeichnen die Zahl 224 –, die vom Umfang her zwischen zwei und hundert Textseiten liegen und in der überwiegenden Mehrzahl Übersetzungen aus dem Deutschen sind. Die exakte Zahl der Texte ist schwer zu bestimmen, weil viele von ihnen anonym in Zeitungsbeilagen erschienen sind und auch von Jannsens Tochter Lydia Koidula (vgl. § 19) verfasst worden oder in Gemeinschaftsarbeit entstanden sein können. Als Vorbild dienten zu einem Großteil die Geschichten von W.O. von Horn (d.i. Philipp Friedrich Wilhelm Oertel), die in dem jährlich erscheinenden Volksbuch Die Spinnstube, das in 29 Jahrgängen von 1846 bis 1874 herauskam, publiziert worden waren (vgl. Tork 1933, Rebane 1996). Daneben finden sich aber auch Erzählungen von Johann Peter Hebel (vgl. UndlaPõldmäe 1978) und anderen Autoren. Sie sind entweder bloß übersetzt oder geringfügig den estnischen Verhältnissen angepasst worden. Dabei darf man nicht vergessen, dass die deutschen Vorbilder ihrerseits häufig auf anderen Quellen beruhten, so dass in der Gestalt der Jannsen’schen Erzählungen Material aus vielen verschiedenen Literaturen und Traditionen zusammenfloss. Meistens waren es historische Erzählungen, die über die verschiedensten Begebenheiten berichten oder berühmte Persönlichkeiten darstellen. Andere Geschichten sind lehrreichen Inhalts und haben die moralische Schulung der Leserschaft zum Inhalt. Bei Jannsen, der ursprünglich pietistische Neigungen hatte und später treu der lutherischen Kirche zugetan war, stand immer die Moral im Vordergrund; es ging ihm nicht um Amusement oder reinen Zeitvertreib. So gesehen sind seine Texte von der Intention her der didaktischen Literatur zuzurechnen, was indes der ästhetischen Bedeutung keinen Abbruch tut. Außerdem war Jannsen bei allem moralischen Einsatz keineswegs humorlos, so dass seinen Texten eine gewisse Kurzweiligkeit durchaus innewohnt. Das wird mit ein Grund gewesen sein dafür, dass die erste Lieferung zum Bestseller wurde: Innerhalb von zwei Jahren waren alle 1000 Exemplare verkauft (Loosme 1966, 78). Die Zahl der Originale wird dem letzten Forschungsstand zufolge auf nur sechs eingeschätzt, wobei die Grenzziehung kompliziert ist, da die Anzahl der potenziellen Vorbilder praktisch unbegrenzt ist. Inhaltlich unterscheiden sich die als eigenständig eingestuften Texte im Hinblick auf ihre moralisierende Ausrichtung nicht von den Übersetzungen und Adaptationen. Lediglich was das Lokalkolorit anbetrifft, sind sie »estnischer«, d.h. stärker auf die örtlichen

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Verhältnisse gemünzt. In letzter Konsequenz ist eine solche Grenzziehung auch irrelevant, denn den Hauptwert aller Geschichten von Jannsen muss man darin sehen, dass mit ihnen im doppelten Sinne Aufklärungsarbeit betrieben wurde: Einmal inhaltlicher Art, weil Jannsen ganz einfach allerlei Wissenswertes aus Geschichte und Gegenwart zusammentrug, und zum anderen sprachlicher Art, denn erstmals konnte man dies alles auch auf Estnisch lesen. So gesehen ist Jannsens Tätigkeit prinzipiell pädagogisch aufzufassen (vgl. Schmidt 1925). Da der Stil von Jannsen als flüssig und reich angesehen werden kann, bauten seine Texte ein Fundament für die künftige Literatur. Allein schon ihre Quantität ist von Bedeutung. Für ihren Verfasser waren es Fingerübungen, für die Leserschaft Anschauungs- und Übungsmaterial, insgesamt eine Art Trainingsprogramm für die keimende Literatur.

§ 15 Die Geburt der estnischen Presse Ein holpriger Beginn Nach dem kurzlebigen Versuch von Peter Ernst Wilde 1766/67 (vgl. § 13) tat sich im Bereich des Zeitungswesens eine Generation lang zunächst nichts. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurden wieder zaghafte Versuche unternommen, estnischsprachige Periodika herzustellen: 1798 beantragte der Tartuer Drucker Grenzius (vgl. § 13) vergeblich die Genehmigung zur Herausgabe einer estnischsprachigen Zeitung. Grenzius gab seit 1796 jährlich einen Kalender heraus und stieg nach der Wiedereröffnung der Universität auch bald zum Universitätsdrucker auf. Seit 1789, dem Jahr, in dem er die Druckerei von Põltsamaa nach Tartu gebracht hatte, war er überdies der Herausgeber der örtlichen deutschen Zeitung, die unter dem Titel die Dörptsche Zeitung einmal, seit 1791 zweimal wöchentlich erschien. Es kann also nicht überraschen, dass in diesem Umkreis auch der Gedanke an eine estnische Zeitung entstand. Einige Jahre später war es dann so weit: Im März 1806 erschien die erste Ausgabe des Tarto maa rahwa Näddali-Leht (Tartuer Wochenblatt für das Landvolk). Von der Entstehungsgeschichte dieses Blattes ist wenig bekannt, und da die Zeitung Ende 1806 wieder verboten wurde und die existierenden Exemplare vernichtet werden mussten, war auch lange Zeit über den Inhalt nicht viel bekannt. Denn die Zeitung galt als verschollen, man hatte nur vage indirekte Quellen in Gestalt der sorgfältig archivierten Zensurberichte. 1995 wurden glücklicherweise in einem St. Petersburger Archiv zehn Nummern wieder aufgefunden, so dass man sich mittlerweile ein besseres Bild von dieser

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zweiten estnischen Zeitung machen kann (Faksimile-Ausgabe der bewahrten Exemplare bei Tannberg 1998). Verantwortlich für die Zeitung waren zwei Pfarrer, Gustav Adolph Oldekop aus Põlva und Johann Philipp von Roth aus Kanepi, sowie des Letzteren Bruder Carl August von Roth, seines Zeichens Schulinspektor in Võru. Alle drei stammten also aus Südestland, und so nimmt es nicht Wunder, dass die Zeitung in der südestnischen Variante abgefasst war. Als weiteren Mitarbeiter nimmt man den Sohn von Johann Philipp, Georg Philipp August von Roth an, der zu jenem Zeitpunkt Theologie in Tartu studierte. Er galt erstens als guter Kenner des Estnischen und war später auch Lektor für Estnisch und Finnisch an der Universität, und zweitens war mit ihm eine Person an dem Ort ansässig, wo die Zeitung gedruckt wurde. Inhaltlich orientierte sich die Zeitung ganz an der Dörptschen Zeitung, aus der die meisten Artikel schlicht übersetzt wurden. Wie damals üblich und speziell im fraglichen Jahr besonders aktuell, wurde viel über die Kriegshandlungen in Europa berichtet. Gleich in der ersten Nummer wurden im Zusammenhang mit der Schlacht von Austerlitz, die hier übrigens nur zwischen Russland und Frankreich stattgefunden hat (!), heldenhafte Taten der russischen Soldaten beschrieben. Das Blatt war patriotisch und zarentreu und begann seine Eröffnungsnummer mit einem Lobgedicht auf Alexander I. Gleichzeitig war es aber auch ganz ein Kind der Aufklärung und enthielt ungeachtet des Berufs der Herausgeber so gut wie keine geistlichen Texte oder Ratschläge. In der ersten Nummer erklärten die Herausgeber, warum sie eine solche Unternehmung in Angriff nahmen und erläuterten ganz lapidar, dass ihr Wunsch sei, »dass ihr und eure Kinder klüger und besser mögen werden.« Hierzu wurden neben den erwähnten Kriegsnachrichten, die die umfangreichste Themengruppe bildeten, auch andere Informationen mitgeteilt: diverse Nachrichten aus dem Ausland, amtliche Bekanntmachungen, praktische Ratschläge für die Landwirtschaft, Statistiken über die Wirtschaft, aber auch Fahndungsaufrufe, Berichte über Verbrechen und Anekdoten. Die Schließung des Blattes Ende 1806 ist in direktem Zusammenhang mit der weltpolitischen Situation zu sehen: Russland wollte zur Verteidigung seiner Grenzen eine größere Streitmacht aufbauen und nahm dazu Rekrutierungen vor. In den baltischen Provinzen befürchtete die deutsche Oberschicht im Zusammenhang damit Unruhen, zu deren Vermeidung verschiedene Präventivmaßnahmen ergriffen wurden. Da eine Zeitung prinzipiell ein Hort der Insurgenz war, zumal eine solche, die sich der Aufklärung verschrieben hatte, war deren Schließung das Nächstliegende. Es bedurfte dazu nur einer Anschwärzung des Blattes bei der St. Petersburger Zensurbehörde, wo

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man normalerweise nichts von einem in einem Provinzstädtchen erscheinenden Blatt wusste. Es ist vermutet worden, dass dies von Otto Friedrich von Pistohlkors, damals Kreisrichter, Oberkirchenvorsteher und livländischer Landrat in einer Person, besorgt worden ist (Tannberg 1996). Er verfügte über gute Beziehungen in St. Petersburg und konnte als Vertreter der konservativen Strömung des Adels kein sonderliches Interesse an politischer Aufklärung bei den unteren Bevölkerungsschichten haben. So endete das Tarto maa rahwa Näddali-Leht, nachdem 41 Nummern erschienen waren. Das war exakt die gleiche Anzahl an Nummern, auf die es auch die erste Zeitung von 1766/67 gebracht hatte, die im Übrigen auf ein und derselben Druckpresse entstanden ist. Die kurze Geschichte des Blattes illustriert noch einmal gut die spezifische kulturelle Situation in Estland und mahnt zur Differenzierung: Ein paar Deutsche beschließen, eine estnische Zeitung zu machen, und verwirklichen ihre Pläne auch, bis ein anderer Deutscher kommt, dem das nicht gefällt, woraufhin das ganze Unternehmen kurzerhand eingestellt wird. Die Esten selbst waren in dieser Periode noch zu weit entfernt von ihrer Emanzipation, als dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand hätten nehmen können. Marahwa Näddala=Leht Allerdings sollte es nicht mehr lange dauern, bis hier eine Änderung eintrat. Gut zehn Jahre später war es Otto Wilhelm Masing (vgl. § 14), der dem estnischen Pressewesen zu einer ersten kurzen Blüte verhalf. Masing hatte mit seinen ursprünglich auf ein periodisches Erscheinen angelegten Ehstnischen Originalblättern für Deutsche (1816) keinen Erfolg gehabt und versuchte ein Jahr später ein ebenfalls deutschsprachiges Kritisches Journal der ehstnischen Sprache und Literatur herauszugeben. Davon nahm er bald wieder Abstand, nachdem sich nicht genügend Subskribenten gefunden hatten. Im gleichen Jahr begann Masing mit der Planung einer estnischsprachigen Zeitung, wofür er 1818 beim Generalgouverneur in Riga einen Genehmigungsantrag einreichte. Da dessen Behandlung auf sich warten ließ, beantragte Masing parallel beim Bildungsministerium in St. Petersburg eine Genehmigung, die er im Juni 1819 auch tatsächlich erhielt. Masing hatte gut daran getan so zu verfahren, denn wie sich bald herausstellte, war der örtliche Adel gegen die Herausgabe eines solchen Blattes. Der an höchster Stelle gefällten Entscheidung wagten sich die lokalen Instanzen aber nicht zu widersetzen. Es war das erste Mal, dass estnischerseits die – russische – Zentralmacht in St. Petersburg eingesetzt wurde, um die – deutsche – Lokalmacht zu bezwingen. Damit wurde Masing zu einer Art Vorreiter auf dem diplomatischen Feld, denn ein paar

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Generationen später wurde das gleiche Verfahren angewendet, als sich die estnische nationale Bewegung zu formieren begann. Masings Begründung für die Zeitung, mit der er auch den Minister überzeugt hatte, war die folgende: Viele der amtlichen Bekanntmachungen, die von der Kanzel herab verkündet würden, gerieten in Vergessenheit oder böten zu viel Interpretationsspielraum, weswegen man zur allgemeinen Hebung der Volksbildung diese Texte in gedruckter Form zugänglich machen müsste. Damit war das Hauptanliegen der Zeitung ganz Masings Weltanschauung entsprechend zutiefst aufklärerischer Art. Auch die anderen Programmpunkte dienten diesem Zweck. Die Zeitung sollte Informationen über das ganze Reich und die Provinz bringen, über nützliche Erfindungen auf dem Gebiet der Landwirtschaft, Viehzucht und Gesundheitspflege berichten, in bescheidenem Maße auch zur Hebung der Religiosität beitragen, Mitteilungen über Marktpreise, den Silberkurs und Jahrmärkte enthalten und Privatanzeigen abdrucken. Wie sich dann später zeigen sollte, hat die Zeitung all diese Aufgaben erfüllt und noch einige andere darüber hinaus: Sie enthielt auch im weitesten Sinne Belletristisches, d.h. hin und wieder zerstreuende Lektüre, ferner brachte sie Nachrichten über Verbrechen, Feuersbrünste, Überschwemmungen oder Unglücke. Auch der Kampf der Griechen gegen die Türken fand in den Spalten der Zeitung Widerhall. Da Masing 1820 noch mit anderen Arbeiten voll ausgelastet war, begann das Marahwa Näddala=Leht (Wochenblatt des Landvolks, d.h. der Esten, denn dies war nach wie vor die gängige Bezeichnung für sie) sein Erscheinen im Januar 1821. Woche für Woche erschienen nun acht Seiten in kleinem Buchformat (Oktav), die Masings Ideen über ganz Estland verbreiten sollten. Denn da man das Blatt mit der Post bestellen konnte und sollte, war es nicht auf seinen Druckort – der im Übrigen zwischen Tartu, Pärnu und sogar Riga wechselte – beschränkt, sondern prinzipiell für das gesamte estnischsprachige Gebiet gedacht. Tatsächlich gelangte es auf diesem Wege auch bis nach Saaremaa, nur darf man sich hinsichtlich der tatsächlichen Verbreitung keinen Illusionen hingeben. Die Zahl der Abonnenten belief sich in der ersten Jahreshälfte von 1821 auf 156, sank dann kurzzeitig auf beinahe die Hälfte und erreichte im dritten Quartal 190. Die Zahl von 200 wurde nie erreicht, die Auflagenhöhe betrug erst 500, später 350. Dennoch gelang es Masing nur vorübergehend und sehr bedingt, kostendeckend zu arbeiten. Ein starker Rückgang der Abonnentenzahl im Jahr 1823 führte im folgenden Jahr zur Einstellung, der 1825 ein Neuanfang folgte, der indes nicht über das Jahr hinausging. Somit sind vier vollständige Jahrgänge des Marahwa Näddala=Leht erschienen – 1821, 1822, 1823 und 1825 – mit insgesamt 1668 Seiten, was gegenüber allen früheren Versuchen der Initiierung einer estnischen Presse

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eine enorme Steigerung darstellt. Darüber hinaus war die in der Zeitung zur Anwendung kommende Sprache reich, vielseitig und auf gutem Niveau, womit sie sich ebenfalls von ihren Vorgängerinnen abhob. Dennoch war auch dieser Versuch nicht von bleibender Kontinuität gekrönt, wofür man die beiden folgenden Gründe anführen kann: Erstens war das Feld noch nicht »reif« oder weit genug vorbereitet; das Potenzial fehlte sowohl bei der Leserschaft wie auch bei der Autorschaft. Der weitaus größte Anteil der Artikel ist von Masing selbst verfasst worden, obgleich er über eine Anzahl an Korrespondenten verfügte. Trotzdem klagte er immer wieder über schleppende Mitarbeit, so dass er viel selbst schreiben musste. Bei der Leserschaft fehlte das Geld und/oder der Wille, sich für ein solches Projekt zu engagieren, ein Großteil bestand sogar nicht einmal aus der eigentlich Zielgruppe der »Landbevölkerung«, sondern der ungleich kleineren Gruppe der estophilen Pastoren. Und zweitens war Masings schwelender Konflikt mit der nicht unbedeutenden Gruppierung der Brüdergemeinde der Sache nicht förderlich. Immer wieder schrieb er in seinem Blatt gegen die Frömmelei und die in seinen Augen irrationalen Praktiken der Herrnhuter an, was diese zumindest mit Boykott und Ablehnung, teils aber sogar mit direkten Versuchen, ein Verbot zu erwirken, quittierten. In einer solchen Atmosphäre war es schwierig, etwas Beständiges aufzubauen. So kam Masing bereits im April 1822, nachdem er sich in seinem Brief an Rosenplänter wieder einmal über die »Pharisäer und Hundsvötter« von Herrnhutern ausgelassen hatte, zu dem teils resignierenden, teils aber auch selbstbewussten, fast eingebildeten Resümee bzw. einer Begründung, warum er seine Zeitung vorerst weiterbetreiben müsse: Denn ich halt es für heilige Pflicht, dieses zu thun, da ich (man sage was man wolle; und lache soviel man darüber nur immer wolle) mir dessen ohne Selbsttäuschung, und bei aller Anspruchlosigkeit meiner Denkart vollkommen bewußt bin, das Volck so zu kennen, wie jezt keiner; und seine Sprache so ergründet zu haben, wie noch keiner: ich weiß es, daß meine Arbeiten für die Zeitgenossen wenig oder nichts gelten; aber für die Zukunft ist Saat in ihnen vorhanden: Saat zur Bildung des Ehsten; Saat zur Sprachkentniß für den Deutschen – und in dieser lezteren Hinsicht bin ich vest überzeugt, durch Gottes gnädigen Beistand ein Großes für künftige Volcksbelehrung gethan zu haben, – indem die da lehren sollen, lernen werden bestimt und richtig und der Sprache angemessen sich auszudrücken, ohne welches keine treue Belehrung möglich ist –. (Anvelt et al. 1995–1997, III, 149)

Masing hat insofern Recht behalten, als die Wirkung für die Nachwelt beträchtlich gewesen ist. Noch Generationen später wurde auf diese erste Zeitung, der ein etwas längeres Leben vergönnt war, Bezug genommen. Die

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nicht verkauften, durchgehend paginierten, Exemplare wurden später gebunden und zum halben Preis verkauft, und erst 1840 scheinen die letzten Jahrgänge vergriffen zu sein. Das Inland Der Ruhm von Masings Zeitung konnte noch aus einem anderen Grund so lange nachhallen: Danach entstand nämlich wieder eine Pause, im Zeitraum zwischen 1825 und 1857 klafft eine journalistische Lücke, was das Estnische anbetrifft. So wurde zwar 1824 von Oldekop das Kulutamisse Leht (Mitteilungsblatt) ins Leben gerufen, das alsbald umgetauft wurde in Tallorahwa Kulutaja (Mitteilungsblatt für die Landbevölkerung) und dann drei Jahre lang von Masing redigiert wurde, doch handelte es sich hier eher um ein amtliches Mitteilungsblatt mit ausschließlich gerichtlichen Anordnungen und offiziellen Bekanntmachungen. Es konnte auch nicht abonniert werden, sondern wurde an alle mehr oder weniger offiziellen Instanzen verteilt und sonntags von den Kanzeln verlesen. Das Blatt erschien in unregelmäßiger Folge neun- bis fünfzehnmal pro Jahr und war für die allgemeine Bildung und den Informationsfluss sicherlich bedeutend, konnte aber eine regelmäßige Wochenzeitung, die unter Umständen auch für Kurzweil sorgte, nicht ersetzen. Für das nordestnische Gebiet übernahm ab 1856 die Zeitung Maa Valla Kuulutaja (Gemeindemitteilungsblatt des Landes) die gleiche Funktion. Beide Organe erschienen bis 1889, wodurch im Bereich der amtlichen Verlautbarungen eine estnischsprachige Kontinuität entstanden war. Es erfolgten 1833, 1838 und 1840 von verschiedener Seite Versuche, eine Genehmigung für eine estnische Wochenzeitung zu erwirken, aber es war auch die veränderte Stimmung unter Nikolai I, der nicht umsonst als der Gendarm Europas bezeichnet wurde, die jeweils für negative Bescheide sorgte, teilweise durch den Zaren höchstpersönlich (vgl. Depman 1959, 236). Die erwähnte Lücke wurde indessen nicht völlig leer gelassen, sondern interessanterweise von einer deutschsprachigen Zeitung ausgefüllt. Von 1836 bis 1863 erschien allwöchentlich in Tartu die Zeitung Das Inland, die innerhalb der estnischen Kulturgeschichte eine besondere Position einnimmt. Das liegt zum einen sicherlich an der fehlenden Alternative: Wer zum damaligen Zeitpunkt etwas mitzuteilen hatte, konnte das in Ermangelung anderer Kanäle nur in einer deutschen Zeitung tun. Und es gab nach Masings Tod im Jahre 1832 eine allmählich breiter werdende Schicht von Intellektuellen, die sich Gedanken über eine estnischsprachige Kultur machten. Da andererseits aber der Untergang von Masings Unternehmen ja gerade gezeigt hatte, dass die Zeit noch nicht ganz reif war, kehrte man einstweilen zur bewährten und

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bekannten »Kultursprache« zurück. Hier findet sich eine interessante Parallele zur Entwicklung in Finnland, wo 1831 die Finnische Literaturgesellschaft gegründet war und man auf der Gründungsversammlung feierlich beschlossen hatte, die Protokolle auf Finnisch abzufassen. Nachdem Lönnrot viermal das Protokoll mühselig auf Finnisch abgefasst hatte, ging er jedoch wieder zum Schwedischen über, weil im Finnischen für vieles noch die passende Terminologie fehlte. Erst ab 1858 wurden die Protokolle der Gesellschaft auch tatsächlich auf Finnisch verfasst. Allerdings gab es eine ganze Reihe von deutschen Zeitungen, so dass Das Inland sich schon durch irgendeine Besonderheit auszeichnen musste. Diese Besonderheit wurde bereits im Untertitel angedeutet, der da lautete Eine Wochenschrift für Liv-, Esth- und Curländische [ab 1837: und Curland’s] Geschichte, Geographie, Statistik und Litteratur. Damit erging ein deutlicher Hinweis, dass man sich von Politik fernhalten wollte. Die Herausgeber sind im weitesten Sinne als Estophile zu bezeichnen und waren in der Mehrzahl Historiker, allen voran der Gründer des Blattes, der Jurist und Historiker Friedrich Georg von Bunge, der von 1831 bis 1842 Professor für liv-, est- und kurländisches Provinzialrecht in Tartu war. Ihm zur Seite standen die nicht weniger bekannten Historiker Carl Eduard Napiersky in Riga und Carl Julius Albert Paucker in Tallinn. Hieran ist ersichtlich, dass die Zeitung kein EinMann-Unternehmen war, sondern dass hier ein weites Netz von Korrespondenten für die entsprechende Vielfalt sorgen sollte, denn neben den Genannten waren noch zahlreiche andere Personen aktiv am Gelingen der Zeitung beteiligt. Aufgrund der Neigungen der federführenden Personen lag zwar ein eindeutiger Schwerpunkt des Blattes auf der Geschichte, dennoch blieb genügend Platz für die Behandlung auch anderer Themen. Und genau hierin liegt die besondere Bedeutung: Die Zeitung wurde ein Sammelbecken für alle, die sich für die estnische – und auch für die lettische – Kultur interessierten. Viele Personen, die später mit estnischen Texten, sei es im wissenschaftlichen, sei es im belletristischen Bereich, an die Öffentlichkeit traten, haben in den Spalten des Inlands auf Deutsch debütiert. In der Zeitung finden sich Artikel über die estnische Geschichte, die estnische Volksdichtung, estnische Mythologie, Volksglauben und Sitten. Von August Ahlqvist erschien hier sein Überblick über die estnische Literatur (1861) auf Deutsch, von Neus ein Artikel über die estnischen Dichtungen von Deutschen (1840), von Gustav Heinrich Schüdlöffel ein Artikel über die Sage vom Helden Kalevipoeg (1836) und vieles andere mehr. Ergänzt wurde dieser wissenschaftliche Teil mit verschiedenen Chroniken und Rubriken, die den aktuellen Zeitungscharakter herausstrichen. Dadurch wurde das jeweils im Umfang von acht Seiten, zweispaltig eng bedruckte, im Quartformat er-

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scheinende Blatt zu einem wichtigen Diskussionsforum für alle kulturellen Aspekte der baltischen Ostseeprovinzen und eben auch zu einem wichtigen Mitteilungsblatt für die sich entfaltende estnische Intellektuellenschicht. Das Inland war das Sammelbecken für die Estophilie in einer Zeit, als eine estnischsprachige Zeitung, wie das Beispiel Masings zeigte, noch keine Überlebenschance hatte. Inhaltlich war die Zeitung aber eigentlich »estnisch«, nur bediente man sich ganz pragmatisch der deutschen Sprache. Perno Postimees und Eesti Postimees Als Geburtsjahr der modernen estnischsprachigen Presse ging dann das Jahr 1857 in die Geschichte ein, weil sich ab hier eine bis heute ununterbrochene Kontinuität nachweisen lässt, die bei wohlwollender Interpretation sogar im Namen der Zeitung bis auf den heutigen Tag besteht. Am 17. Juni 1857 (alten Stils) erschien die von Johann Woldemar Jannsen (vgl. § 14) redigierte erste Nummer des Perno Postimees ehk Näddalileht (Pärnuer Postbote oder Wochenblatt), der bald zu einer viel gelesenen Wochenzeitung wurde. Nach seiner 1863 erfolgten Übersiedlung nach Tartu, brachte Jannsen dort ab 1864 den Eesti Postimees (Estnischer Postbote) heraus. Die Zeitung wurde nach Jannsens Erkrankung von seinen Söhnen fortgeführt und blieb bis 1894 in Tartu, danach wurde sie nach Tallinn überführt. Parallel dazu war 1886 in Tartu der Postimees (Postbote) gegründet worden, der der ursprünglichen titelähnlichen Erstgründung – mit der er insofern identisch war, als sein Gründer Karl August Hermann 1885 den heruntergekommenen Perno Postimees gekauft hatte und unter neuem Namen nunmehr in Tartu herausbrachte – bald den Rang ablief und ab 1887 dreimal pro Woche, ab 1891 dann sechsmal pro Woche erschien und damit die erste estnische Tageszeitung wurde. Sie kam von 1922 bis 1940 sogar jeden Tag heraus, wurde dann von den Sowjets eingestellt und nach dem Zweiten Weltkrieg kurzzeitig als Uus Postimees (Neuer Postbote) wieder gegründet. Von 1945 bis 1948 lautete der Titel abermals Postimees, ehe der Name in Edasi (Vorwärts) abgeändert wurde, wie die mittlerweile wieder in Tartu erscheinende Zeitung bis 1990 hieß. Seit 1991 trägt das Blatt erneut den Namen Postimees, das seit Ende 1997 in Tallinn gemacht wird und heute die auflagenstärkste estnische Tageszeitung ist. Jannsen hatte schon zweimal, 1845 und 1850, bei den zuständigen Behörden um die Genehmigung für eine Zeitung angesucht, damit aber keinen Erfolg gehabt. Nach dem Thronwechsel wehte unter Alexander II. ein günstigerer Wind, so dass Jannsen gleich 1855 einen neuerlichen Versuch unternahm. Vorsichtig geworden, reichte er jedoch nicht selbst den Antrag ein, sondern schob zwei Verleger vor, die er ohnehin für sein Projekt brauchte:

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Friedrich Wilhelm Borm in Pärnu und Heinrich Laakmann in Tartu. Die doppelte Antragstellung sollte die Chancen erhöhen. Als Ende 1856 dann beiden Anträgen stattgegeben wurde, musste sich Jannsen entscheiden und wählte den Standort Pärnu, wo er wohnte und auch eine Anstellung als Schulmeister hatte. In Tartu sollte zeitgleich unter der Redaktion des Pastors Adalbert Hugo Willigerode ebenfalls eine Zeitung erscheinen. Während der in Tartu erscheinende Tallorahwa Postimees (Postbote des Bauernvolks) 1859 schon wieder einging, weil sich nicht genügend Mitarbeiter fanden und ihm die Leserschaft davonlief, war Jannsens Gründung schnell von durchschlagendem Erfolg gekrönt. Jannsen sah sich ganz in der Nachfolge Masings, dessen Zeitung er als Schüler gelesen hatte, und wollte mit seinem Blatt seine Landsleute zu besserer Bildung und mehr Selbstbewusstsein verhelfen. Dies konnte allein schon dadurch geschehen, dass er in der Eröffnungsnummer die potenzielle Leserschaft direkt ansprach mit »Sei gegrüßt, liebes estnisches Volk« – in einer Phase, da von einem estnischen Volk gemeinhin noch kaum die Rede war. Jannsens ganzes Engagement war aber gerade darauf ausgerichtet: Er wollte das Bewusstsein der Esten heben und sie zu der Einsicht bewegen, dass sie mehr sind als nur eine diffuse Masse, die jahrein, jahraus fremdbestimmt das Land beackert und weiter zu nichts anderem fähig ist. Der Erziehung zur Selbstständigkeit musste aber die notwendige Bildung vorausgehen, und dies suchte Jannsen mit seiner Zeitung zu erreichen. Dabei waren ihm freilich enge Grenzen gesetzt, denn eine Erlaubnis zum Drucken einer Zeitung war

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alles andere als ein Freibrief, sondern mit strengen Auflagen verbunden. So war genau festgesetzt, worüber die Zeitung berichten durfte: Nachrichten aus dem In- und Ausland, Kirchen- und Schulmitteilungen, Berichte über Missionstätigkeit, Artikel über Landwirtschaft und Ökonomie, Hinweise zur Gesundheit, amtliche Verlautbarungen und Geschichten. Über die örtlichen sozialen und politischen Zustände durfte nicht berichtet werden, und streng genommen wollte man auch keine Leitartikel sehen, doch wusste Jannsen diese ein ums andere Mal so geschickt zu verpacken, dass der Zensor, dem jede Nummer vorgelegt werden musste, sie nicht unterband. In der Anfangsphase klagte Jannsen über fehlende Mitarbeiter und musste die Spalten seiner Zeitung größtenteils eigenhändig füllen, obwohl er einige Korrespondenten hatte. Die Lage änderte sich spürbar, als ab 1861 seine Tochter Lydia, die später unter dem Namen Koidula als Dichterin berühmt geworden ist (vgl. § 19), in die Redaktionsarbeit einstieg und ebenfalls zahlreiche Artikel verfasste. Eines der Erfolgsrezepte der Zeitung war die Einführung einer Leserbriefrubrik. So wurde ein lebendiger Kontakt mit der Leserschaft erzeugt, denn auf die Briefe wurde auch treu geantwortet. Ebenso wichtig war die Rubrik mit Erzählungen und Geschichten, die große Beliebtheit bei einer Bevölkerung, die inzwischen zu ca. drei Vierteln lesen konnte, erlangte und sich verkaufsfördernd auswirkte. Auch das rein wirtschaftliche Potenzial, das notwendig ist, wenn man eine Zeitung am Leben erhalten will, war nun infolge der landwirtschaftlichen Reformen allmählich im Entstehen begriffen. Im zweiten Jahr ihres Erscheinens hatte die Zeitung bereits über 2000 Abonnenten, so dass sie für den Verleger einigen Gewinn abwarf. Jannsen selbst bekam davon noch nicht allzu viel zu spüren, da er nach wie vor im Schuldienst war und von Borm lediglich ein zusätzliches Jahresgehalt als Zeitungsredakteur bekam. Die Arbeit hierfür leistete er größtenteils nachts, zeitgenössischen Berichten zufolge soll er manchmal nur zwei Stunden geschlafen haben (Mälestused 1916, 204). Der Erfolg der Zeitung und die wachsende Popularität im Volk veranlassten Jannsen Ende 1863 schließlich dazu, den entscheidenden Schritt in die wirtschaftliche Unabhängigkeit zu wagen. Er gab seine Stellung in Pärnu auf und übersiedelte nach Tartu, wo er hauptberuflich ab 1864 die Zeitung Eesti Postimees ehk Näddalaleht herausgab. Der Perno Postimees erschien unter der Leitung von Caspar Franz Lorenzsonn (vgl. § 14) weiterhin in Pärnu, verlor aber zusehends an Bedeutung, weil er der neuen Tartuer Konkurrenz nicht gewachsen war. Damit lässt sich der Beginn der Professionalisierung (vgl. Kapitel IV) ziemlich genau auf den 1. Januar 1864 datieren, als der 44-jährige Schulmeister Jannsen der erste selbstständige journalistische Unternehmer wird, der

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versucht, von seiner eigenen Feder zu leben. Freilich befinden wir uns hier noch voll und ganz im journalistischen Bereich und haben es in der Gestalt von Jannsen nicht unbedingt mit dem ersten freiberuflichen Schriftsteller im heutigen Sinne zu tun. Aber da der Übergang von der journalistischen zur schriftstellerischen Tätigkeit bekanntlich fließend ist, war der erste Schritt in diese Richtung hiermit vollzogen. Der Tartuer Eesti Postimees festigte schnell seine Position und machte damit die Universitätsstadt auch zum Motor der entstehenden nationalen Bewegung. Die Zahl der Abonnenten überstieg auch hier schnell wieder die 2000 und pendelte sich in den 1860er-Jahren bei etwa 2500 ein. Noch höher stieg sie zeitweise in den 1870er-Jahren, beispielsweise im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den russisch-türkischen Krieg von 1878, als beinahe 5000 Exemplare gedruckt wurden. Nahezu alle bedeutenden Kulturpersönlichkeiten der Zeit waren Autoren von Jannsen, dessen Zeitung damit zum zentralen Anlaufpunkt für jeden an der estnischen Kultur und der estnischen Emanzipationsbewegung Interessierten wurde, jedenfalls solange sie noch die einzige ihrer Art war. Aus dem Nichts eine erfolgreiche Zeitung aufzubauen ist kein Kinderspiel, und Jannsen hatte dementsprechend konkrete Vorlagen. Dem Literaturkritiker Anton Jürgenstein gelang 1921 der Nachweis, dass Jannsen in engem Kontakt mit einem benachbarten Gutsbesitzer stand, den er auch im Zusammenhang mit der zu gründenden Zeitung konsultierte. Dieser Gutsbesitzer stammte ursprünglich aus dem Schwarzwald und hatte den Schwarzwälder Boten abonniert. Dessen Titelbild muss er Jannsen gezeigt haben, der es kurzerhand übernommen hat, denn die beiden Titel gleichen einander bis ins Detail: Unter dem in einem Bogen geschriebenen Zeitungstitel wandert auf einem Feldweg von rechts nach links ein Mann mit Hut, Stock, Pfeife und Umhängetasche. Die einzige Anpassung, die Jannsen vornehmen ließ, war vielleicht die, dass sein Bote einen Hut trägt, der eher der estnischen Volkstracht entspricht, und dass die Landschaft flach ist, wo der Schwarzwälder Bote sich auf einem hügeligen Weg zwischen Tannen bewegt. Neben diesen Äußerlichkeiten gab es auch Parallelen im Aufbau der Blätter, so war das Unterhaltungsblatt des Schwarzwälder Boten direktes Vorbild für die Juttutubba (Plauderstube) des Postimees, einer Beilage, die beschauliche und erbauliche Geschichten lieferte. Jannsens Pionierarbeit auf dem Gebiet des estnischen Pressewesens ist unumstritten und hat ihm im Volksmund die liebevoll-verhätschelnde Bezeichnung Postipapa eingebracht. Das Behäbige, was man mit dieser Bezeichnung assoziiert, hat seine Berechtigung, denn Jannsen war kein feuriger Revolutionär oder dynamischer Freiheitskämpfer, hinter dem sich die Volks-

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massen versammelten. Er war relativ gemäßigt und eigentlich konservativ. Das zeigte sich übrigens auch in seiner Einstellung zur Orthographiereform: 1844 war bei Laakmann das erste Buch in der neuen Orthographie erschienen, neun Jahre später die 2. Auflage der Grammatik von Ahrens, mit der die neue Orthographie sich durchzusetzen begann, aber Jannsen folgte in seiner Zeitung noch bis 1872 den alten Regeln. Trotz seines stetigen Kampfes mit der Zensur war Jannsen obrigkeitstreu, wozu seine Frömmigkeit ihren Teil beitrug. Die von Gott gegebene Ordnung durfte nicht angetastet werden. Diese Scheu, althergebrachte Traditionen anzugreifen und überkommene Sitten radikal in Frage zu stellen, wurde ihm vielleicht sogar zum Verhängnis: Als in den 1870er-Jahren eine Polarisierung innerhalb der nationalen Emanzipationsbewegung der Esten stattfand, verbannte Jannsen im Februar 1871 eine allzu kritische Stimme wie Carl Robert Jakobson aus seinem Blatt und ließ sich dafür – aller Wahrscheinlichkeit nach – von den Deutschen bezahlen. Dieser schwerwiegende Vorwurf der Bestechlichkeit hat verständlicherweise die Gemüter verschiedener Generationen erhitzt und tut das im Grunde genommen bis heute, da die Sache nach wie vor nicht hundertprozentig geklärt ist (vgl. Paatsi 2001). Neben zahlreichen Polemiken zwischen Befürwortern und Gegnern der Bestechungshypothese hat der Fall auch Eingang in die schöne Literatur gefunden, wie die Beispiele von Juhan Kunder (vgl. § 22) und Jaan Kross (vgl. § 46) zeigen. Sicher ist aber, dass das Ansehen der Zeitung sehr darunter gelitten hat und ein erheblicher Rückgang der Abonnements die unmittelbare Folge war. Die weitere Entwicklung des Pressewesens Der kraftvolle und überzeugende Auftritt von Jannsens Postimees sorgte dafür, dass in dieser Geburtsphase des estnischen Pressewesens andere Zeitungen neben ihm kaum existieren konnten. Dafür war der Markt noch nicht groß genug, so dass eine parallele Gründung wie der Tallorahwa Postimees keine Überlebenschance hatte. Ebenso typisch ist das schnelle Absinken in die Bedeutungslosigkeit des Perno Postimees, sobald Jannsen in Tartu seinen Eesti Postimees eröffnet hatte. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die Zeitung nicht sofort eingegangen ist und weiterhin bestand, wenn auch mit bescheidenerem Leserkreis. Ende der 1860er-Jahre belief sich die Zahl der Abonnements noch auf ungefähr 500–600. Es gibt auch einen zweiten Grund für die lange Zeit singuläre Position des Postimees: Die örtlichen Behörden, d.h. die deutsche Oberschicht, bekamen allmählich kalte Füße angesichts der Raum greifenden Emanzipationsbewegung des in ihren Augen nach wie vor tumben Bauernvolkes. Um dem

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einen Riegel vorzuschieben, bemühten sich die Ritterschaften, das Erscheinen von weiteren Zeitungen zu unterbinden, was auch gelang. In der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre sind mindestens vier Gründungsversuche auf diese Weise gestoppt worden: 1867 betrieb Kreutzwald via die Gelehrte Estnische Gesellschaft (vgl. § 17) die Gründung einer Zeitschrift mit dem Namen Eesti Koit (Estnische Morgenröte), ein Jahr später bemühte sich Carl Robert Jakobson in St. Petersburg darum, eine estnische Zeitung Valgus (Licht) ins Leben zu rufen, der Verleger Heinrich Laakmann plante 1869 gemeinsam mit Jakob Hurt eine Zeitschrift mit dem Titel Mesilane (Die Biene), und auch eine Publikation mit dem Titel Maja sõber ehk pühapäevaleht Eesti rahvale (Der Hausfreund oder Sonntagsblatt für das estnische Volk) war 1870 geplant – alle diese Bemühungen verpufften (vgl. Talve 2004, 431). Das einzige Blatt, das eine Genehmigung erhielt, war bezeichnenderweise das Missioni=Leht (Missionsblatt), das als Sonntagszeitung von Weihnachten 1858 bis Pfingsten 1862, also nicht einmal vier Jahre, erschien. Dann ging die Zeitung Bankrott. Sein Herausgeber war Johann Diesfeld, Lehrer an einer Tallinner Mädchenschule. Entgegen seinem Namen war das Blatt aber nicht beschränkt auf die Missionstätigkeit, sondern brachte Informationen über ferne Länder und glich damit den vergleichbaren Unternehmungen der Zeit. Darüber hinaus wurden auch Nachrichten aus Tallinn und Nordestland verbreitet, und es muss hervorgehoben werden, dass wir es hiermit immerhin mit der ersten estnischsprachigen Zeitung in Tallinn zu tun haben. Sie war angelegt als Lokalzeitung und strebte, anders als der Postimees, nicht nach landesweiter Verbreitung. Mit ihren ca. 1600 Abonnements konnte sie nicht an die Verbreitung des Postimees heranreichen, dennoch war das Blatt für die Entwicklung einer estnischsprachigen Schriftkultur in Tallinn nicht unbedeutend. Was sich ebenfalls als möglich erwies, war die Gründung einer deutschsprachigen Zeitung. Von 1860 an erschien in Tallinn die Revalsche Zeitung, die in ihren Anfangsjahren unter der Redaktion von Friedrich Nikolai Russow unumwunden pro-estnisch war und kein gutes Wort für die deutschen Gutsbesitzer übrig hatte. Russow konnte die Redaktion jedoch nur bis 1862 führen, und nach seinem Fortgang verlor das Blatt, das unter wechselndem Namen dann bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs existierte, schnell seinen Ruf als progressives, sich für die Belange der Esten einsetzendes Organ. Eine einschneidende Veränderung trat erst in den 1870er-Jahren, insbesondere 1878, ein, als dem Postimees mit Carl Robert Jakobsons Sakala echte Konkurrenz geboten wurde, doch befinden wir uns dann bereits in einer ganz anderen Phase der estnischen Kulturgeschichte (vgl. § 20).

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§ 16 Kristian Jaak Peterson und die frühe estnische Dichtung Die Situation um die Jahrhundertwende Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts findet man unter den Texten der nun vergleichsweise häufig erscheinenden kirchlichen Handbücher verstreute Gedichte bzw. Gedichtübersetzungen. So publizierte Anton Heinrich Lücke in diversen Büchern in den 1790er-Jahren, die ausnahmslos religiösen Inhalts waren, auch einige Gedichte. Anfang des 19. Jahrhunderts boten Rosenplänters Beiträge eine Publikationsmöglichkeit für Verse, wovon zum Beispiel Peter Heinrich von Frey Gebrauch machte. Ebenso wurden hier Gedichte von Joachim Gottlieb Schwabe, lange nach dessen Tod, abgedruckt. Das waren meist »Geistliche Lieder«, denn die drei genannten Personen waren Theologen. Von ihnen erlangte Frey die größte Bedeutung, da er in den Beiträgen auch öffentlich über die Entwicklungsmöglichkeiten der estnischen Lyrik nachdachte und Perspektiven aufzuzeigen versuchte. Als erste weltliche Gedichtanthologie wird gemeinhin die 1806 anonym erschienene Sammlung Monned laulud (Einige Lieder) bezeichnet. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass auch diese Lieder – zum Großteil Übersetzungen von Gedichten aus dem Umkreis des Göttinger Hains – in der Hauptsache christlich-sentimental waren. Überdies enthielt das schmale Heft ganze neun Gedichte. Andererseits muss es ziemlich populär gewesen sein, was eine Neuauflage von 1810 und eine teilweise Wiederauflage von 1813 bezeugen. Die Angabe der Übersetzer fehlt zwar, aber die Urheberschaft wird meistens Otto Reinhold von Holtz (vgl. § 14) und Reinhold Johann Winkler zugeschrieben, während die gelegentlich vermutete Autorschaft von Johann Heinrich von Wahl wohl zu Recht in den Bereich der Fabelwelt verwiesen werden muss (EKA I, 296). Von Winkler erschien dann ein Jahr später die Sammlung Eestima Mawäe söa-laulud (Kriegslieder des Heeres von Estland, 1807), die, wie der Titel vermuten lässt, Rekrutenlieder enthält, die die Moral der für den Kampf gegen Napoleon aufgestellten Truppen heben sollten. Die fünf Gedichte orientierten sich an deutschen Vorbildern von Matthias Claudius, Christian Adolf Overbeck und Christian Friedrich Daniel Schubart, was ihrer Beliebtheit indes keinen Abbruch tat. Auch lange nach Winklers Tod wurden sie noch gesungen. Eine zweite Sammlung von Winkler trug den Titel Juttud (Geschichten, 1816), enthielt aber gleichfalls Fabeln in Versform und die ersten estnischen Balladen. Auch hier standen deutsche Autoren wie Gottfried August Bürger, Christian Fürchtegott Gellert und andere Pate, aber des un-

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geachtet kann man Winkler mit seinen insgesamt 17 Gedichten mit aller gebotenen Vorsicht als Schöpfer einer neuen Form in der estnischen Dichtung bezeichnen. Seine Sprache war dabei zwar alles andere als elegant, aber unter den Blinden ist bekanntlich der Einäugige König. Einige von Winklers Gedichten waren bereits in den Beiträgen erschienen, und umgekehrt stellte auch Rosenplänter 1814 eine Anthologie unter dem Titel Lillekesed (Blümchen) zusammen, in dem er einige zuvor in seiner Zeitschrift publizierte Gedichte neu auflegte. Alle genannten Büchlein waren ausgesprochen dünn und verdienten kaum die Bezeichnung als Buch, aber neben den Kalendern und der Flut an religiöser Literatur stechen sie doch als erste Manifestationen einer Literatur im eigentlichen Sinne hervor. Das junge Genie? Sämtliche Personen, die bislang mit den verschiedensten estnischen Texten an die Öffentlichkeit getreten waren und damit an der Wiege der estnischen Literatur stehen, hatten diese Texte im Rahmen oder neben einer anderen Haupt(erwerbs)tätigkeit produziert. Niemand von ihnen fasste sich selbst als ein Vertreter einer wie auch immer gearteten Unternehmung, der man die Bezeichnung »Estnische Literatur« verpasst hätte, auf. Sie verstanden sich als Erbauer und Aufklärer, Freunde der niederen Schichten oder bloß pflichtgetreue Diener im Interesse einer Besserung der Menschheit, in welchselbiger Funktion es eben auch galt, estnische Texte zu erstellen. Eine jähe Wende trat ein, als mit Kristian Jaak Peterson eine Person auf den Plan trat, die sich erstmals explizit als Dichter des Estnischen fühlte und auch so bezeichnete. Obwohl die nach wie vor recht gemächliche Entwicklung der estnischen Literatur durch das kometenhafte Erscheinen von Peterson nicht beeinflusst wurde, bedeutet sein schmales Werk insofern einen deutlichen Einschnitt innerhalb der Entwicklung der estnischen Literatur, als er für viele spätere Generationen – und bis heute – als der erste »echte« Dichter des Estnischen dasteht. Es sollte bloß fast ein Jahrhundert dauern, bis diese Erkenntnis Allgemeingut wurde und nicht nur im Kopf des jung Verstorbenen existierte. Über Petersons Leben ist aufgrund der späten Wiederentdeckung nicht allzu viel bekannt, andererseits ist gerade sein Leben und Umfeld besonders erforscht worden, so dass der Nachwelt ein einigermaßen umfassendes Bild überliefert ist. Er wurde 1801 in Riga geboren, wo sein Vater, ein Este aus der Gegend von Viljandi, beim schwedisch-estnischen Beichtkreis der St.-JakobiKirche angestellt war. Bei Petersons Mutter, Anna Elisabeth Michailowna, scheiden sich die Geister, was ihre exakte Herkunft anbetrifft. Die Forschung hat sich auf die Formulierung »vermutlich nicht-estnisch« (Undusk 2001,

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13; 21) geeinigt, wofür auch ihre katholische Konfession spricht. Ob Michailowna aber russischer Abstammung war, worauf ihr Nachname verweist, jedoch nicht ihr im Russischen unüblicher doppelter Vorname, oder lettischer oder litauischer Herkunft, wofür es außer der Konfession allerdings keine Anhaltspunkte gibt, ist nicht geklärt (vgl. generell Lepik 1972) und hier ebenso irrelevant wie die estnische Herkunft des Vaters. Auf jeden Fall lernte Kristian Jaak zu Hause Estnisch und Deutsch, im Rahmen der Arbeit seines Vaters bald auch Schwedisch. Auf der drei Klassen umfassenden Elementarschule kamen Latein, Französisch und Russisch hinzu. Von 1815 bis 1818 war der wissbegierige Schüler auf dem Gouvernementsgymnasium, wo er neben dem Griechischen außerhalb des Unterrichts andere, asiatische und amerikanische, Sprachen lernte. Er träumte davon, christlicher Missionar zu werden, war gleichzeitig ein Anhänger der Kyniker und huldigte der Bedürfnislosigkeit. Im Januar 1819 wanderte Kristian Jaak nach Tartu, um dort Vorlesungen in Theologie zu folgen. Man kann schwerlich sagen, dass er dort ein echtes Studium aufgenommen hat, denn erstens belegte er nur bei einem einzigen Professor Vorlesungen – nämlich bei Johann Wilhelm Friedrich Hezel über verschiedene orientalische bzw. biblische Sprachen –, und zweitens brach er nach drei Semestern seine Studien ab, ohne ein einziges Examen abgelegt zu haben. Seiner eigenen Aussage zufolge gab es für ihn in Tartu nichts mehr zu lernen, und er kehrte nach Riga zurück. Die genauen Ursachen des Studienabbruchs sind unbekannt. Man kann hierfür gesundheitliche – gut zwei Jahre später starb er an Tuberkulose – oder wirtschaftliche Gründe – er war zwar vom Hörgeld befreit, führte mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, offenbar aber ein recht ausschweifendes Leben, das auch schon mal im Karzer enden konnte – verantwortlich machen. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass die 1820 erfolgte Emeritierung seines Lehrers und Geistesverwandten Hezel hier eine Rolle spielte. Hezel war bis 1813 Professor für Exegetik und orientalische Sprachen gewesen, dann war ihm wegen seiner für ketzerisch erklärten Übersetzung des Neuen Testaments die Lehrbefugnis für Exegetik entzogen worden, so dass er nur noch orientalische Sprachen unterrichten durfte. Kristian Jaak war danach Hauslehrer in Riga und unterrichtete so ziemlich alle Sprachen, die er konnte und an denen ein Bedarf bestand: Hebräisch, Griechisch, Latein, Russisch, Englisch und Deutsch. Ferner gab er Stunden in Mathematik, verfasste wissenschaftliche Aufsätze und Übersetzungen und war einer der Bearbeiter der Neuauflage eines russisch-deutsch-französischen Wörterbuchs. So schlug sich der eigenbrötlerische Literat ohne festen Wohnsitz durchs Leben. Die letzten zwei Jahre soll er einem verbreiteten Mythos

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Kristian Jaak Peterson, F. B. Dörbeck, Aquatinta, 1822

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zufolge mit seinen langen Haaren, seinem auffallenden schwarzen Rock bzw. Mantel und seinem knorrigen Spazierstock eine bekannte Erscheinung auf den Straßen Rigas gewesen sein. Nach seinem 1822 erfolgten Tode geriet er so schnell in Vergessenheit, dass heute nicht einmal seine exakte Grabstelle auf dem Rigaer Jakobi-Friedhof bekannt ist. Ein Nachruf erfolgte lediglich in einer deutschen Zeitung in Riga (Sonntag 1822) und einer Zeitung in Deutschland (s.u.), des Weiteren nahm man keine Notiz von seinem Dahinscheiden. Immerhin aber wurden seine nachgelassenen Papiere zu Rosenplänter geschickt, von dem man wusste, dass er mit Peterson in Kontakt gestanden hatte und dass er ein sorgfältiger Pfleger der estnischen Kultur war. Da Rosenplänter alle Materialien nicht nur sorgfältig bewahrte, sondern auch sortierte und gegebenenfalls binden ließ, und da ferner sein Nachlass nach seinem Tode in die Bibliothek der Gelehrten Estnischen Gesellschaft gelangte, konnte der Nachwelt die Kunde von diesem frühen estnischen Dichter mit fast hundertjähriger Verspätung doch noch übermittelt worden. 1901 erschien ein erster Aufsatz, der Peterson überhaupt als Dichter, wenn auch als schlechten (!), erwähnte, nachdem er vorher allenfalls als Sprachforscher und Sammler von Volksdichtung genannt worden war – Letzteres übrigens fälschlicherweise, denn er hatte Volksdichtung nur kopiert, nicht aber selbst aufgezeichnet. Bald danach wurden seine estnischen Gedichte veröffentlicht, und man erfuhr mehr und mehr über seine Person. Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine erste estnische Intellektuellenschicht anschickte, die Eigenständigkeit der estnischen Kultur zu betonen, kam es gelegen, dass man plötzlich darauf hinweisen konnte, dass es bereits Anfang des 19. Jahrhunderts einen jungen, genialen, aber leider früh verstorbenen Dichter der Esten gegeben habe. Insbesondere die Tatsache des frühen Todes ist geradezu ein Garant für Mythenbildung und beinahe eine Voraussetzung für die Anwendung des Geniebegriffs. Gewiss war Kristian Jaak Peterson ein überaus begabter Jüngling mit vielseitigen Fähigkeiten und hochtrabenden Gedanken, der auch dichten konnte, dennoch sind es vor allem seine auffällige Erscheinung, sein früher Tod und seine in einigen Quellen gut belegte explizite Hinwendung zum Estentum bzw. dem estnischen Volk gewesen, die für verschiedene nachfolgende Generationen das Bild des frühen Genies erzeugt haben, wobei je nach Zeitströmung verschiedene Aspekte der Person hervorgehoben wurden (vgl. Epp Annus 2001). Wie sehr dieses Bild bis heute vorherrschend ist, erhellt auch aus der Tatsache, dass Peterson häufig liebevoll-verhätschelnd nur mit seinen Vornamen bezeichnet wird – wie teilweise auch im vorangegangenen Abschnitt geschehen (!).

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Petersons estnische Gedichte Die Betonung dieser Mythenbildung soll nicht die Bedeutung einiger Gedichte von Peterson schmälern. Sie gelangten zwar zu seinen Lebzeiten nicht an die Öffentlichkeit, doch bemühte der junge Dichter sich sehr wohl um eine Publizierung. Denn er fühlte sich zum Poeten berufen und stellte als 17-Jähriger ein Heftchen mit eigenen Gedichten zusammen, das er auch entsprechend betitelte: Kristiani Jago Petersoni laulud. Rialinnas, 1818 (Kristian Jaak Petersons Lieder. Riga, 1818). Es enthielt 14 estnischsprachige Gedichte, denen er im folgenden Jahr ein zweites Heftchen folgen ließ: Kristian Jaak Petersons Lieder. Zu Tartu, 1819 umfasste sieben weitere estnischsprachige Gedichte. Dass er eine Veröffentlichung dieser Gedichte plante oder zumindest davon träumte, zeigt die Tatsache, dass er Proben seiner Lyrik an die damals einzig logische Instanz schickte, nämlich zu Rosenplänter nach Pärnu. Eine Rolle wird hierbei auch der Umstand gespielt haben, dass Rosenplänter der Onkel eines Mitschülers und Freundes von Peterson war, andererseits stand er aber sowieso in Kontakt mit Rosenplänter, da er bei ihm schon einige andere Arbeiten veröffentlicht hatte (s.u.). Rosenplänter konsultierte seinerseits Masing hinsichtlich der eingesandten Gedichte, und der kam zu einer negativen Beurteilung: An solchen Sachen ist wohl kein Geschmack abzugewinnen, … […] Uebrigens ist das Ganze bei seiner armseligen Sprachhäßlichkeit, weder Fisch noch Fleisch – wo liegt denn nun etwas Dichterisches? Ich sehe nichts, ausser nur die platteste Prosa in schlechter und verunstalteter Sprache ausgesprochen. […] Ohne das Bestreben des jungen Mannes verkennen, noch seine Aufmercksamkeit herabwürdigen zu wollen, welche ich beide mit Würdigung an ihren verdienten Ort stelle – muß ich aufrichtig sagen, daß es mir scheint, als laborire derselbe an dem unsren Landeskindern endemischen Kützel, frühreif scheinen, und so wie die Uebrigen dieser Gattung Menschen, saure und ungenißbare Früchte tragen zu wollen. […] Hier will aber ein jeder, der nur ein Paar Zeilen zusammenstoppeln kann, gleich öffentlich auftreten.« (Anvelt 1995, II, 96–97).

Masing hatte als Rationalist und Aufklärer keine sonderliche Neigung zur Lyrik, und damit war das Schicksal Petersons als Dichter einstweilen besiegelt. Denn Masings Autorität war enorm, und es gab kein Konkurrenzunternehmen, an das sich der aufstrebende Dichter hätte wenden können. Allein Rosenplänters Ordnungssinn und Sammlerleidenschaft retteten Peterson vor dem völligen Vergessen und verhalfen ihm zu spätem, allerdings postumem Ruhm. Es wäre aber falsch, Masing als den Bösewicht darzustellen, der die Entdeckung eines Genie hinausgezögert hat: Solche Gedichte hätten gar nicht in die Beiträge gepasst, da war man ganz anderes gewöhnt und für so etwas noch nicht reif (Lepik 1932).

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Insgesamt sind von Kristian Jaak Peterson 22 estnischsprachige Gedichte bekannt (ein weiteres, das er nicht in seine Sammlungen aufgenommen hatte, fand sich noch in Rosenplänters Material). Es handelt sich um Schäferidyllen, Übersetzungen von Liedern Anakreons und im klassischen Stil geschriebene Oden, bei denen häufig auf die Nähe zur deutschen Dichtung vom Ende des 18. Jahrhunderts und speziell zu Klopstock hingewiesen wurde. Bei genauerer Betrachtung liegt jedoch die Vermutung nahe, dass nicht der Göttinger Hain als Vorbild diente, sondern die antiken Klassiker direkt, in diesem Fall Pindar (Undusk 2001, 14; 22). Einige der Gedichte sind in Dialogform geschrieben und nähern sich dadurch dem didaktischen Stil an, sind aber eher als philosophische Gespräche ohne erhobenen Zeigefinger zu interpretieren. Andere wiederum sind echte Gefühlsdichtung in dem Sinne, dass Peterson in ihnen nicht aus den Texten anderer aufgegriffene Motive verarbeitet, sondern seiner eigenen Gefühlswelt Ausdruck verleiht. Die besondere Bedeutung dieser Gedichte lässt sich an drei Punkten festmachen: Zum Ersten wurde hier von Dingen gesprochen, die bis dahin in estnischen Versen noch nicht an der Tagesordnung gewesen waren: Da ist von der Schönheit der Sprache die Rede, aber auch von Volk und Vaterland, vom Tod etc. Zum Zweiten hatte bislang noch niemand diese virtuose freie Form verwendet, alle bisherigen Dichter hatten sich mehr oder weniger brav an die üblichen Knittelverse gehalten. Eine Besonderheit in der Form war auch, dass sich der Autor teilweise an der Volksdichtung, für die er sich nachweislich interessierte, orientierte. Und drittens war der geschliffene, ausgereifte Stil des Estnischen zum damaligen Zeitpunkt völlig neu. So betrachtet war Petersons Dichtung tatsächlich revolutionär. Er konstruierte komplizierte Syntagmen in freiem Rhythmus und machte reichhaltig Gebrauch von Enjambement. Seine Bildsprache mag an die antiken Vorbilder angelehnt sein, geht dabei aber über die bloße Nachahmung hinaus und zeigt Eigenständigkeit. Ein beredtes Beispiel hiervon ist sein viel zitiertes Gedicht Kuu (Der Mond), in dem es unter anderem heißt: Kas siis selle maa keel laulu tuules ei või taevani tõustes üles igavikku omale otsida? (Kann denn die Sprache dieses Landes // nicht im Winde des Gesanges // zum Himmel aufsteigend // sich ihre eigene Ewigkeit suchen? [Estnische Orthographie modernisiert.])

Diese vier Zeilen aus einem Gedicht, das mehrfach von der Schönheit der Sprache und Eigenart des Volkes handelt, sind emblematisch geworden für

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das estnische Nationalgefühl. Sie sind heute tief im kollektiven Gedächtnis der Esten verankert und werden immer wieder gerne zitiert, und zwar nicht ohne einen gewissen Stolz: Wenn heute das Estnische eine der offiziellen Sprachen der Europäischen Union ist und nach dem Isländischen wohl die kleinste Sprachgemeinschaft der Welt ist, deren Sprache noch alle Facetten der Gesellschaft bis hin zu Universität, Armee und Politik abdeckt, so heißt das, dass Kristian Jaaks Traum in Erfüllung gegangen ist. Und da in der Rückschau ein Traum im Falle der Erfüllung eine Prophezeiung ist, erlangt Peterson dadurch den Status des Propheten. Groteskerweise wird dieses Gedicht trotz seiner Berühmtheit häufig falsch zitiert, was der holprigen Überlieferungsgeschichte zuzuschreiben ist. Peterson verwendete logischerweise die zu seiner Zeit übliche, so genannte »alte Orthographie« (vgl. § 11), bei der lange Vokale nur in geschlossenen Silben mit zwei Graphemen bezeichnet wurden, während in offenen Silben ein Zeichen ausreichte. Dies entsprach der Praxis im Deutschen, vgl. Deutsch graben mit einem einzigen a für den langen Vokal gegenüber Deutsch grabbeln, wo das a kurz ausgesprochen wird, weil die Silbe geschlossen ist. Das geht gut, solange keine konkurrierenden Wörter in der Nähe sind, und es funktioniert nur bei Sprachen wie den germanischen, die keine Längenunterschiede bei den Konsonanten machen, weil dann die Konsonantengrapheme zur Bezeichnung der Vokallänge eingesetzt werden können. Im Estnischen liegen die Verhältnisse bekanntlich anders, was mit ein Grund für die Orthographiereform nach finnischem Vorbild Mitte des 19. Jahrhunderts war. In der alten estnischen Orthographie, d. h. in Petersons handgeschriebenem Heftchen, lautete die oben zitierte Passage wie folgt: Kas siis selle maa keel / Laulo tules ei woi / Taewani toustes ülles / Iggawust ommale otsida? Es besteht kein Zweifel darüber, dass das tules der zweiten Zeile hier mit einem langen u zu interpretieren ist und als tuules zu lesen ist, d.h. der Kasus Inessiv des Wortes tuul ›Wind‹. Unglücklicherweise gibt es nun ein phonetisch ähnliches Wort, das semantisch weit entfernt ist, aber ebenso »gedichtanfällig« ist: tuli ›Feuer‹, dessen Inessiv in heutiger Orthographie tules lautet. Wenn jemand allzu großzügig von einer poetischen Bildsprache ausging, so konnte es passieren, dass bei unachtsamer Lektüre des Urtextes der Wind zum Feuer wurde, denn kann etwas nicht auch »im Feuer des Gesanges« emporsteigen?! Dies ist mehrmals geschehen und hat auch zu falschen Übersetzungen geführt (vgl. Nerling 1925, 12), die noch bis in die jüngste Zeit hinein wiederabgedruckt sind (vgl. Vikerkaar 10/1993, 1 und G. Suits 1905, 37 [= 2001, 544]). Natürlich gibt es hier keine Ambiguität – Peterson hätte, und hat im Übrigen an anderer Stelle auch, wenn er ›im Feuer‹ gemeint hätte, zweifellos tulles geschrieben – und für Esten ist der phonetische Unterschied zwischen

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ihren Wörtern für ›Feuer‹ und ›Wind‹ nicht viel kleiner als derjenige zwischen den bezeichneten Phänomenen selbst. Trotzdem ist die Tatsache, dass solche Fehler passieren können, in gewisser Hinsicht auch ein Indikator für die Vielseitigkeit von Petersons Dichtung. Wie die Biographie des Dichters ist auch die Dichtung selbst beinahe losgelöst vom zeitgenössischen Kontext. Peterson stand in brieflichem Kontakt mit Rosenplänter, hatte ansonsten aber wenig oder keinen Umgang mit den maßgeblichen estnischen Kulturpersönlichkeiten der Zeit. Ob er Friedrich Robert Faehlmann (vgl. § 17), der zur gleichen Zeit in Tartu studierte, je getroffen hat, ist fraglich, bei der damals recht intimen Universität jedoch wahrscheinlich. Das Zusammentreffen mit Masing, das Jaan Kross in einer historischen Erzählung behandelt (vgl. § 46), ist ebenfalls nicht bewiesen. Die zeitgenössischen Dichtungen und Diskussionen muss Peterson auf der Grundlage seiner Mitarbeit für die Beiträge gekannt haben, aber nirgendwo geht er darauf ein, allein die klassische und begrenzt auch die deutsche Dichtung sind seine Bezugspunkte. Petersons deutsche Gedichte Wie zum damaligen Zeitpunkt nicht anders zu erwarten, dichtete Peterson auch auf Deutsch, einer Sprache, die er ebenso fließend beherrschte und in der er seine sämtlichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen publizierte. Kurioserweise sind seine deutschen Gedichte sehr wohl erschienen, zwar ebenfalls postum, aber doch unmittelbar nach seinem Tode. Freilich haben sie den Dichter nicht vor dem Vergessen bewahren können, denn in Deutschland ging eine solche Publikation auf dem damals schon unübersichtlichen Literaturmarkt völlig unter. Dennoch ist bemerkenswert, dass 1823 in der Zeitung für die elegante Welt in Leipzig drei deutsche Gedichte von Peterson erschienen sind. Auf welchem Wege diese Gedichte nach Leipzig gelangt sind, ist nicht geklärt. Man muss davon ausgehen, dass es nicht der Dichter selbst war, der Kontakt mit der Redaktion aufgenommen hatte, zumindest finden sich keinerlei Hinweise darauf. Es ist zu vermuten, dass der Rigaer Vorsteher einer Pensionsanstalt für Knaben und Theaterkritiker Karl Friedrich Wilhelm Fleischer die Gedichte nach Leipzig geschickt hat. Fleischer stammte aus Braunschweig und kam über viele Stationen und Berufe schließlich nach Riga, wo er sich 1814 kurz und dann wieder ab 1819 aufhielt. Ab 1823 finden wir Fleischer als Korrespondenten der Zeitung für die elegante Welt, die auf ihrer letzten Seite immer vermischte Nachrichten aus aller Welt brachte. Fleischers erster Bericht ist überschrieben mit »Aus Riga, im Decbr. 1822« und erschien am

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1. März 1823 in der Zeitung. Es war ein Nekrolog auf Kristian Jaak Peterson, eine ziemlich exakte Wiedergabe des im August 1822 in Riga erschienenen Nekrologs von Sonntag. Am Ende des Nekrologs wurde eine Fortsetzung angekündigt, die drei Wochen später in Gestalt der Publikation dreier Gedichte von Peterson auch geschah. Auch wenn hier der Name des Korrespondenten nicht angegeben ist, kann man davon ausgehen, dass es Fleischer war, der die Gedichte von Riga, wo er demzufolge vermutlich mit Peterson zusammengetroffen war, nach Leipzig vermittelte. Ob Peterson Fleischer die Gedichte nur gezeigt hatte und dieser sie nach dem Tode einfach der Zeitung anbot oder ob Peterson selbst um die Auslotung von Veröffentlichungsmöglichkeiten nachgesucht hatte oder ob Fleischer auf ganz anderem Wege in den Besitz der Gedichte gekommen sind – das sind einstweilen unbeantwortete Fragen. Anzunehmen ist aber Ersteres, denn ein bewusster Publikationsversuch via Fleischer lag für Peterson insofern nicht auf der Hand, als Fleischer erst ab 1823 für die Zeitung arbeitete. Wahrscheinlich ist auch aus diesem Grund der Nekrolog mit einem halben Jahr Verspätung in Leipzig erschienen, normal war bei den damaligen Postverhältnissen eine Verzögerung von ca. drei Monaten. Wenn Fleischer eine Nachricht vom August 1822 mit dem Vermerk »im Dezember« auf die Reise schickte, so kann das nur daran gelegen haben, dass er erst Ende 1822 und damit nach Petersons Tod seine Mitarbeit mit Leipzig arrangiert hatte. Da die drei deutschen Gedichte andererseits nicht im Nachlass von Peterson waren, sondern ihre 1961 erfolgte Entdeckung eine völlige Überraschung war, ist auch nicht anzunehmen, dass die Gedichte erst nach dem Tode des Dichters zu Fleischer gelangten. Er wird sie von Peterson zu dessen Lebzeiten erhalten haben, und nach dessen Tod bot er sie der Zeitung an, um seinem Freund (?) einen letzten Dienst zu erweisen. Und dies gelang, denn eine Zeitung nimmt bekanntlich viel lieber Gedichte von einem 21-jährig verstorbenem Genie entgegen als von einem 21-jährigen Debütanten. Die drei Gedichte formen inhaltlich eine Einheit und sind vom nahenden Lebensende gekennzeichnet. Sie atmen eine gewisse Todessehnsucht, wenn es in ihnen heißt: »… Erde! nimm dein Eigenthum, die Erde, // Daß der Geist, der hohe, freier werde!« oder »… Und dann hinauf zum Ziel; steil oder eben; // Des Lebens Höchstes ist ja nicht das Leben.« oder »… Dann spricht man einst von mir: Er ist gewesen! // In eurer Brust lebt dann in heil’gen Flammen, // Ihr wen’gen Freunde, was ich kühn gesungen.« (IAAK 2001, 124–128) Zitiert wurden hier jeweils die Schlusszeilen der drei Gedichte, von denen die ersten beiden drei bzw. vier achtzeilige Strophen umfassen, während das dritte ein Sonett ist. Damit ist diese deutsche Poesie im Gegensatz zu Petersons estnischer Dichtung relativ konventionell, ganz im

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Stile Schillers, dessen Dichtung einige Jahrzehnte früher als neu und aufregend empfunden worden war. So passten sie gut in den Kontext einer Zeitung, die in den 1820er-Jahren eher gemäßigt-konservativ als besonders fortschrittlich oder gar rebellisch daherkam. Der deutsche Peterson ist ein anderer als der estnische, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Peterson »sich, bedenkt man den damaligen Schillerkult im deutschbaltischen Kulturraum, noch lange auf seinen Lorbeeren hätte ausruhen können« (Undusk 2001, 28). Anzunehmen ist hingegen, dass er lieber als Este und damit als estnischer Dichter rezipiert worden wäre und die Publikation seiner deutschen Gedichte vielleicht gar nicht so wichtig fand. Andere Arbeiten von Peterson Noch als Gymnasiast begann Peterson mit der Zusammenstellung einer schwedischen Grammatik, und die Beschäftigung mit Sprache und Sprachen hat ihn nicht mehr losgelassen. Seit 1818 sind mehrere seiner sprachwissenschaftlichen Arbeiten in den Beiträgen publiziert worden. Sie befassten sich mit einigen Spezialfragen des Estnischen und waren relativ unbedeutend. Unpubliziert blieb sein Tagebuch, das er als 17-Jähriger begonnen hatte und in dem er allerlei Gedanken und auch kurze Prosastücke in Form von Zwiegesprächen niederschrieb. Aus ihm wissen wir um seine Hinwendung zum Volk und seine Hochschätzung der Muttersprache, wie er dies auch in seiner Kleidung manifestierte. Er verfasste sein Tagebuch auf Estnisch und wollte sich nachdrücklich von der Konvention absetzen, wenn er schrieb: Die Menschen unserer Zeit glauben, dass die modischen Sitten etwas Gutes seien, und manch einer, der wohl ein guter Mann ist, wird schlecht angesehen, weil er nicht nach den leeren Sitten der anderen lebt. So verhält es sich auch mit mir, weil ich keine Zeit zum Erlernen der leeren Sitten habe, wo ich doch Weisheit lernen will. (IAAK 2001, 77). Diese Passage zeigt in der Tat, dass Petersons spätere Stilisierung zum frühen und verkannten Genie nicht vollkommen aus der Luft gegriffen ist, denn eine solche Haltung war Anfang des 19. Jahrhunderts sicherlich nicht verbreitet. Zumindest wissen wir nicht von vielen Beispielen, und Kristian Jaak war einer der wenigen, der solche Gedanken bewusst für die Nachwelt bewahren wollte. Petersons wichtigste wissenschaftliche Arbeit war die komplette deutsche Übersetzung von Kristfrid Gananders Mythologia Fennica, die im schwedischen Original 1789 erschienen war. Gananders Werk war ursprünglich als Anhang zu seinem Wörterbuch geplant und stellte in alphabetischer Reihenfolge eine umfangreiche Inventarisierung der finnischen Mythologie dar. Neben Henrik Gabriel Porthans Dissertationsserie De poesia fennica (1766–

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1778) war dies einer der ersten substanziellen Beiträge zur Erforschung der finnischen Mythologie und Volksdichtung und eine bedeutende Vorarbeit zu Lönnrots späterer Tätigkeit. Allein schon deswegen war die Übersetzung des Werkes in eine Weltsprache von großer Bedeutung. Sie erschien 1822 in der 14. Lieferung der Beiträge und zusätzlich als Separatdruck (mit dem Erscheinungsjahr 1821). Besondere Bedeutung erlangte diese Übersetzung durch den ausgebreiteten Kommentar beziehungsweise die regelrechten Hinzufügungen, die der Übersetzer vornahm. An zahlreichen Stellen flocht Peterson nämlich Kommentare zur estnischen Mythologie ein, indem er zum Beispiel versuchte, estnische Äquivalente für die finnischen Götter zu finden. Damit wird Petersons Text nicht nur eine Erklärung der Mythen eines benachbarten Volkes, sondern Mythenbildung selbst: Denn die estnischen Götter, die er seiner Übersetzung beifügte, entstammten zum Großteil seiner eigenen Phantasie und nicht etwa folkloristischer Feldforschung, obwohl er sich auch auf die vorhandene Literatur stützte (vgl. R. Järv 1996, 2001). So schuf Peterson ein eigenes estnisches Pantheon, das später dankbar aufgenommen wurde und Pate stand bei späteren künstlichen Konstruktionen einer estnischen Vorzeit, die in Unkenntnis oder bewusster Ignorierung der Tatsache, dass Petersons Angaben keineswegs authentisch waren, dann eben auch als Rekonstruktionen bezeichnet wurden. Petersons Pseudomythologie wurde Grundlage und Vorläufer für andere spätere Pseudomythologien. Dichtung nach Peterson Während Kristian Jaak Peterson aus den erwähnten Gründen außerhalb der Kontinuität steht, ging es im öffentlichen literarischen Leben Estlands auf die bewährte und etwas behäbige Art und Weise weiter; allmählich verlagerte sich der Schwerpunkt von der Liebhaberdichtung vom Ende des 18. Jahrhunderts (vgl. § 10) auf erste frühromantische Versuche im beginnenden 19. Jahrhundert. Noch immer war die Nähe zur Gelegenheitsdichtung spürbar, aber mehr und mehr schob sich das Element der Erlebnis- oder Gefühlsdichtung in den Vordergrund. Überdies wurde die Publikationstätigkeit allmählich stetiger, gegenüber den noch recht sporadischen Publikationen im 18. Jahrhundert kann eine vorsichtige Belebung des Literaturmarkts im frühen 19. Jahrhundert festgestellt werden. Ursache hierfür war unter anderem die entstehende Zeitungslandschaft, die schnellere und preiswertere Veröffentlichungsmöglichkeiten bot. So erreichte Masings im Gellert’schen Stil verfasste Versfabel Päts (Meister Petz), die er 1821 in seiner Zeitung veröffentlicht hatte, als eines der ganz wenigen Gedichte von Masing große Popularität. Parallel dazu boten die Beiträge be-

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scheidene Publikationsmöglichkeiten, wenngleich damit noch lange kein vielfältiges Publikationswesen entstanden war. Eine kleine Gruppe von maßgebenden Personen beherrschte das Feld, und wer ihnen nicht genehm war, hatte keine Chance, wie Petersons Beispiel zeigt. Glücklicherweise war Rosenplänters Sammlungs- und Dokumentationstrieb jedoch so umfassend, dass in seinem Nachlass manches bewahrt geblieben ist, was dem zeitgenössischen Publikum vorenthalten geblieben war. Ein solches Beispiel ist der völlig unbekannt gebliebene Schulmeister Ado Peterson, von dem sich in Rosenplänters Nachlass ein paar handschriftliche Gedichtsammlungen befinden, die vor 1830 entstanden sein dürften. Dass Ado Peterson kein losgelöster Einzelgänger war, sondern dass schon eine literarische Kommunikation entstanden war, zeigt sich darin, dass seine Sammlung ein Gedicht enthält, das ganz offenkundig von Masings Päts inspiriert worden ist (Paatsi/Nagelmaa 1998). Ebenfalls Rosenplänter verdanken wir die Bewahrung der Gedichte von Gustav Adolph Oldekop, der vornehmlich als Herausgeber des Tarto maa rahwa Näddali-Leht (§ 15) und Verfasser religiöser Erbauungsliteratur bekannt ist. Oldekop war 40 Jahre lang (1781–1820) Pastor in Põlva gewesen und musste diese Stelle verlassen, nachdem herausgekommen war, dass nach dem Tod seiner Frau (1804) seine Haushälterin sieben uneheliche Kinder bekommen hatte (!). Bis zu seinem Tode 1838 lebte Oldekop mit seiner neuen großen Familie unter erbärmlichen Umständen in Tartu und ernährte sich von Übersetzungs- bzw. Herausgebertätigkeiten, Untervermietung von Zimmern an Studenten und Betreibung einer Suppenküche. Als Dichter war Oldekop zu seinen Lebzeiten fast ebenso unbekannt wie Kristian Jaak Peterson, namentlich sind nur vier Gedichte von ihm in den Beiträgen (1823) erschienen. Allerdings publizierte er in den von ihm herausgegebenen Kalendern seine Gedichte auch anonym, mit dem Ergebnis, dass diese danach manchmal ohne seine Zustimmung erneut abgedruckt wurden. Damit nicht genug, wurden später einige seiner Gedichte seinem Schwager und Mitredakteur bei der Zeitung, Johann Philipp von Roth (vgl. § 15), zugeschrieben. Roth war in Halle Oldekops Kommilitone gewesen und wohnte nun im benachbarten Kirchspiel Kanepi, wo er 1804 eine Schule gegründet hatte. Dort brauchte man Lieder als Übungsstoff, und dazu eignete sich Oldekop hervorragend. Er versorgte seinen Schwager mit Material, was später zur falschen Zuschreibung der Gedichte, die nur handschriftlich überliefert wurden, führte. Heute sind 20 eigenständige Gedichte von Oldekop, der auf Südestnisch dichtete und auch deswegen als »Mundartdichter« leicht in Vergessenheit geraten konnte, bekannt, ferner 22 Übersetzungen und noch einige Zweifelsfälle. Seine größte Begabung legte Oldekop in den Gedichten

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an den Tag, die Milieubeschreibungen sind und das Landleben oder die Natur zum Thema haben. Auch wenn seine Gedichte noch einen didaktischen Unterton haben und zu Arbeit, Lernen und Gesundheitspflege aufrufen, fehlt ihnen nicht eine Prise Humor (vgl. Vinkel 1985 für eine kommentierte Gesamtausgabe). Der wichtigste Produzent estnischer Liedertexte und Gedichte in dieser Phase war Johann Woldemar Jannsen (vgl. §§ 14, 15), der sich, solange er keine Genehmigung für seine Zeitung erhalten hatte, vornehmlich mit der Übersetzung pietistischer deutscher Kirchenlieder beschäftigte. 1845 erschien sein Sioni-Laulo-Kannel, eine Übersetzung von Friedrich Wilhelm Krummachers Zionsharfe (1827). Damit erzielt Jannsen einen überwältigen Verkaufserfolg, denn das Buch erschien in zwei weiteren Auflagen (1853, 1860) mit einer Gesamtauflage von schätzungsweise knapp 50000 Exemplaren. Einen ähnlich großen Erfolg landete Jannsen mit dem 1860 zum ersten Mal erschienenen Eesti laulik (Estnisches Liederbuch), einer Sammlung von Liedern, die zahlreiche weltliche Lieder enthielt, nach wie vor zum überwiegenden Teil Übersetzungen aus dem Deutschen. Auch dieses Buch kam in vier weiteren Auflagen heraus, erhielt wenig später noch eine Notenbeilage und beherrschte damit die estnische Liedkultur für eine lange Zeit. Es erscheint somit nur als logische Folge, dass Jannsen auch der Verfasser der estnischen Nationalhymne wurde, deren Text er 1869 gedichtet und im gleichen Jahr in der Sammlung 50 aastase Juubeli-pühha laulud (Lieder zum 50-jährigen Jubiläumsfest), einem speziell für das erste Estnische Liederfest (vgl. § 19) gedruckten Büchlein, publiziert hatte. Das Lied wurde schnell populär und entwickelte sich zur heimlichen Nationalhymne. Als 1918 tatsächlich eine Nationalhymne notwendig wurde, fiel die Wahl schnell auf Jannsens Gedicht, denn kein anderer hat so wie er die estnische Liedtradition geprägt. Ihm kam hierbei zugute, dass er über einen reichen Wortschatz verfügte und es wirklich verstand, flüssige Texte zu verfassen. Jannsen war sicherlich kein Erneuerer oder Bahnbrecher im Bereich der estnischen Lyrik. Er war ein Arbeiter auf dem Acker der estnischen Sprache und leistete bitter nötige Vorarbeiten, ohne die die weitere Entwicklung nicht möglich gewesen wäre. Seine Texte – insgesamt hat er wohl über 1000 Verse geschrieben bzw. übersetzt – erreichten einen Großteil der estnischen Bevölkerung und schufen die Voraussetzungen für eine estnischsprachige Schriftkultur. In die gleiche Kategorie fällt Carl Wilhelm Freundlich (vgl. § 14), der neben seinen verschiedenen Prosatexten auch zwei Gedichtsammlungen veröffentlichte: Aealikkud ello-luggud (Zeitgenössische Lebensgeschichten, 1857) und Aealikkud laulud (Zeitgenössische Lieder, 1879). Zusätzlich publizierte

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er in Gildenmanns Anthologien (s.u.) über 50 Gedichte. Im Gegensatz zu Jannsen ist bei Freundlich der Anteil an reinen Übersetzungen aber deutlich geringer, seine Dichtung war Erlebnislyrik, die häufig dadurch entstand, dass er eine Begebenheit oder eine Beobachtung im Nachhinein in eine flüssige und volksnahe Sprache goss. So entstanden seine beliebten Knittelverse, die die frühere Literaturgeschichte sogar veranlassten, ihn mit dem deutschen Dichter Hans Sachs zu vergleichen (Kampmann 1908, 73). Gemeinsam mit diesem hat er die große Beliebtheit, denn im Volke wurden seine säuberlich gereimten Verse positiv aufgenommen und weiter tradiert. Schnell überholt von der bald eintretenden rasanten lyrischen Entwicklung, geriet Freundlich bald in Vergessenheit, aber seine Bedeutung für die Herausbildung einer literarischen Kultur sollte dabei nicht unterschätzt werden. Ähnliches gilt vielleicht für Adam Peterson, der seit den 1850er-Jahren Verse schmiedete und diese Tätigkeit auch im Folgejahrzehnt, als er gemeinsam mit seinem Bruder an der Spitze der Bauernbewegung in Viljandi stand und zusehends in Konflikt mit der Obrigkeit geriet, fortsetzte. Seine gesellschaftskritischen Knittelverse zirkulierten im Volk – mündlich oder in Abschriften – und wurden erst zwischen 1895 und 1900 in vier Lieferungen gedruckt. Zu jenem Zeitpunkt hatten sie sowohl ihre Brisanz als auch ihre sprachliche Aktualität verloren, so dass sie innerhalb der Lyrik des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht mehr wahrgenommen wurden. Berend Gildenmann schließlich muss an dieser Stelle erwähnt werden, weil er verantwortlich war für die erste ausgebreitete estnische Gedichtanthologie, denn die oben erwähnten Heftchen verdienten diesen Namen aufgrund ihres geringen Umfanges kaum. Seine 1852 erschienenen Lillekessed, ehk: Mitmed ja mitmesuggused laulud Ma rahwale, ello parrandamiseks ja ausaks aiawiteks (Blümchen oder: Viele und vielerlei Lieder für das Landvolk, zur Verbesserung des Lebens und zum ehrlichen Zeitvertreib) enthielten über 100 Gedichte oder Lieder und boten damit erstmalig einen Querschnitt durch die vorhandene estnische Lyrik. Über die Hälfte der Gedichte stammte von Freundlich, andere Autoren waren zum Beispiel Suve Jaan, Lücke, Schwabe oder Masing. Das Buch wurde 1864 ein zweites Mal aufgelegt und erhielt 1866 noch eine Fortsetzung, worin unter anderem Gedichte von Jannsen und Hurt aufgenommen waren. Und hier finden sich auch Mundartgedichte von Friedrich Kuhlbars, womit eine Verbindung zur späteren estnischen Lyrik hergestellt wird, denn Kuhlbars wurde ein bedeutender Dichter der folgenden Periode, als die estnische Lyrik mehr und mehr Eigenständigkeit erreichte (vgl. § 19). Gildenmanns Anthologien kann eine gewisse Bedeutung nicht abgesprochen werden, zumal der Herausgeber auch redigierend eingriff und manches

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Gedicht eigenhändig veränderte. Selbst dichtete Gildenmann nicht, im Weiteren trat er nur als Verfasser von Schulbüchern und Übersetzer von deutschen erbaulichen Texten in Erscheinung (vgl. § 14). Er verkörperte noch ganz den Typ des emsigen Schulmeisters, der aus purem Enthusiasmus Bücher herausgab und nur mühselig über die Runden kam. Auch eine Nebenerwerbstätigkeit als Buchbinder konnte nicht verhindern, dass er in einem Armenhaus in Pärnu starb. Sein Name ist heute weitgehend vergessen, aber als Dokumentator der frühen estnischen Dichtung war er wichtig.

§ 17 Estophilie und Gelehrte Gesellschaften Anfänge des Theaters Besuche von durchreisenden Wandertruppen hatte es seit dem ausgehenden Mittelalter gegeben, sie häuften sich im 17. Jahrhundert, und aus dem Jahr 1690 stammen Angaben über ein eigens für das Theater zur Verfügung gestelltes Gebäude in Tallinn. Nach dem Nordischen Krieg dauerte es dann aber Jahrzehnte, ehe durchziehende Truppen wieder Station machten. In den 1770er-Jahren festigte sich kurzzeitig ein deutsches Ensemble in Tallinn, aber der eigentliche Beginn kann auf 1784 datiert werden, als unter der Leitung von August von Kotzebue (vgl. § 13) das Revaler Liebhaber-Theater seine Tätigkeit aufnahm. Diese erste reguläre Bühne in Estland, die den Zeitumständen entsprechend deutschsprachig war und vorwiegend Stücke von Iffland, Lessing und Kotzebue selbst im Repertoire hatte, existierte bis 1795 und war in dreierlei Hinsicht für die estnische Kulturgeschichte von Bedeutung. Erstens war es nicht nur ein Liebhaber-, sondern gewissermaßen auch ein Wohltätigkeitstheater, denn ein Teil der eingespielten Summen wurde den Tallinner Armen zur Verfügung gestellt. Das waren immerhin 14000 Rubel, was damals in etwa dem Wert von anderthalb Steinhäusern am Tallinner Markt entsprach. Zweitens wurden im Rahmen dieses Theaters erstmals auch estnische Sätze auf der Bühne verwendet, und zwar 1789 bei der Inszenierung von Kotzebues Stück, genauer gesagt Operette, Die väterliche Erwartung, wo das Gespräch mit den Dienstboten teilweise auf Estnisch stattfand und auch estnische Lieder gesungen wurden. Und drittens wurde im Umkreis des Theaters der erste Versuch unternommen, ein ausschließlich estnisches Stück auf die Bühne zu bringen bzw. erst einmal zu verfassen: Von Arvelius ist bekannt, dass er von seinem Ramma Josepi Ello … (vgl. § 13) eine, ebenfalls estnische, Bühnenfassung erstellen wollte, zu dessen Vorbestellung er 1794 zweimal in der Tallin-

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ner deutschen Zeitung inserierte. Offensichtlich war das Interesse jedoch zu gering, so dass Arvelius von dem Vorhaben Abstand nahm und nur der Versuch der Anfertigung eines estnischen Schauspiels in die Geschichte eingegangen ist (G. Suits 1927). Nach dem Fortgang von Kotzebue, der weiterhin aktiv blieb, auf verschiedenen Gütern in Estland zeitweise Theater initiierte und von 1812 bis 1813 abermals in Tallinn am Theater war, behalf man sich mit Gastspielen ausländischer Truppen. 1804 wurde in Tallinn erneut eine deutsche Schauspieltruppe ins Leben gerufen, die 1809 auch ein eigenes Haus erhielt und den Beginn der Kontinuität des deutschen Theaters in Estland markierte. Nur wenige Jahre später, und wiederum im Zusammenhang mit Kotzebue, gelangt auch die estnische Sprache auf die Bühne. Interessanterweise geschah dies in Pärnu, das wegen seiner vergleichsweise zentralen Lage zwischen den »echten« Zentren Tallinn, Tartu und Riga nicht unterschätzt werden darf. Die Stadt befindet sich in einer besonderen Situation, weil sie zum Beispiel im nordestnischen Dialektgebiet liegt, aber administrativ zum weitgehend südestnischen Livland gehörte. Außerdem hat sie als Küstenstadt eine günstige Infrastruktur, und sie war neben Tallinn und Riga auch die einzige Stadt gewesen, die im Nordischen Krieg nicht erobert worden war. Hierher war die Universität zeitweise ausgewichen, hier entstand die erste beständige estnische Zeitung, und Anfang des 19. Jahrhunderts war es Rosenplänters Wirken gewesen, das Pärnu zum estnischen kulturellen Zentrum aufsteigen ließ. Niemand anders als Rosenplänter war es auch, der 1816 die deutsche Schauspieltruppe aus Tallinn nach Pärnu einlud mit der Bitte, dort ein estnisches Theaterstück zu geben. Hierzu stellte er ein Gebäude direkt neben seiner Kirche zur Verfügung, das bis 1893 auch als Theatergebäude in Pärnu fungierte (Parek 1976). Das Stück, mit dem die Tallinner ihr Gastspiel in Pärnu gaben, war von Kotzebue und Johann Ludwig von Knorring verfasst worden und laut Untertitel – »in deutscher und esthnischer Sprache« – zweisprachig. Sein Titel lautete Der Talkus, auf Estnisch Talgud, womit eine Gemeinschaftsarbeit bezeichnet wird, bei der eine Dorfgemeinschaft einem Glied dieser Gemeinschaft hilft, indem sie ihre gemeinsame Arbeitskraft zur Verfügung stellt und dafür verköstigt wird. Leider sind die Angaben zu diesem Einakter, der als erstes zum Teil estnisches Theaterstück anerkannt ist, sehr knapp. Sie beruhen bloß auf einer Notiz von Rosenplänter selbst im letzten Heft seiner Beiträge, so dass man gerade einmal Titel und Urheber kennt, der Text selbst ist nicht bekannt. Daher weiß man auch nicht, in welchem Verhältnis die deutschen und estnischen Textteile zueinander standen und ob sich das Stück von dem 1789 in Tallinn aufgeführten in dieser Hinsicht unterschied.

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Pärnu erlebte noch weitere Theatervorführungen und kann mit Recht für sich in Anspruch nehmen, gemeinsam mit Tallinn die Wiege der estnischen Bühnenkunst zu sein. Das 1824 hier gegebene Permi Jago unnenäggu (Der Traum von Jaak Perm) war eines der ersten vollständig auf Estnisch präsentierten Theaterstücke. Sein Autor war Peter Andreas Johann Steinsberg (vgl. Treumann 1959), der am Deutschen Theater in Tallinn Schauspieler war und das Stück möglicherweise nach einer Vorlage von Kotzebue, letztlich aber auf Ludvig Holbergs Jeppe paa bierget (Jeppe vom Berge, 1722) basierend, abgefasst hatte. Die Komödie mit ihrer bekannten bis in die Märchen aus Tausend und Einer Nacht zurückverfolgbaren Thematik – ein betrunkener Bauer findet sich beim Aufwachen im Bett der Herrschaften, wähnt sich im Himmel, beginnt zu prassen und findet sich nach der nächsten Nacht wieder in seinem eigenen irdischen Elend etc. – muss recht erfolgreich gewesen sein und ist auch in Tallinn gegeben worden. Hier waren von Steinsberg bereits 1819 und 1821 kurze estnische Stücke angefertigt und als Beigaben zu den deutschen Inszenierungen gespielt worden. Das allererste lautete Häbbi sellel, kes petta tahhab (Schande dem, der zu betrügen versucht), und mehr als die Überschrift ist hiervon nicht bekannt. Bei dem zweiten Stück, Krappi Kaie willetsus (Das Elend von Kai Krapp), handelte es sich um eine Adaptation eines Stückes aus der Feder des österreichischen Schriftstellers Johann Hutt. Auch später in den 1820er-Jahren wurden in Tallinn und Pärnu, 1831 auch einmal in Narva, Theateraufführungen gegeben, aber allem haftet noch der Hauch der Zufälligkeit an, worin sich die Bühnenliteratur aber nicht von den anderen Genres unterscheidet. Immerhin war ein Anfang gemacht worden; dass dieser Anfang in Tallinn und Pärnu und so ganz eindeutig nicht in Tartu geschah, hat eine leichte Erklärung: Dort war bis 1867 öffentliches Theater schlicht verboten, weil man – angeblich – Angst hatte, dass die Studenten abgelenkt würden. Der wahre Grund wird eher gewesen sein, dass man Unruhe und Aufwiegelei unter der Studentenschaft befürchtete, denn dazu waren die Bretter, die die Welt bedeuten, ja von alters her prädestiniert. Früchte der Aufklärung Wenn man als Zeichen besonderer Aufgeklärtheit die Tatsache nehmen möchte, dass 1779 in Tallinn (gemeinsam mit anderen Druckorten) die ersten vier Bände der ersten deutschsprachigen sechsbändigen Gesamtausgabe von Jean-Jacques Rousseaus philosophischen Werken verlegt worden sind, so kann man im selben Atemzug fortfahren, dass dort im gleichen Jahr – und auch noch 125 Jahre später – die Körperstrafe ein völlig normales Rechtsmit-

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tel und das öffentliche Auspeitschen von Bauern an der Tagesordnung waren. Man darf weder das Erscheinen von Rousseaus Werken überbewerten noch von den rohen Sitten der ständischen Ordnung auf eine völlige Immunität gegenüber freiheitlichen oder aufklärerischen Strömungen schließen. Wie immer man die exakte Wirkung aufklärerischer Strömungen in Estland bzw. allgemein den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches auch quantifizieren mag, unstrittig bleibt, dass diese Strömung nicht spurlos an den Provinzen vorübergegangen ist (vgl. auch §§ 13 und 14). Durch das Fehlen einer Universität im eigenen Lande – auch die St. Petersburger Universität wurde erst 1819 gegründet und Moskau, wo es seit 1755 eine Universität gab, war weit weg – gingen viele zum Studieren nach Deutschland. Dort kamen sie unweigerlich mit den Ideen der Aufklärung in Berührung, die sie dann unter Umständen auch zurück in ihre Heimat trugen. Gleichzeitig hatte nach den Verheerungen Anfang des 18. Jahrhunderts eine Neueinwanderung aus Deutschland und Finnland stattgefunden, wodurch auch viele frische Ideen ins Land gekommen waren. Nach einer allmählichen Regenerierung der Bevölkerung während der folgenden Jahrzehnte und dem napoleonischen Intermezzo vom Anfang des 19. Jahrhunderts hatte sich die Lage konsolidiert. Das führte dazu, dass kulturelle Anstrengungen oder Manifestationen nicht mehr ausschließlich auf den Schultern einzelner Individuen lasteten und auf Zufall beruhten. Es gab zusehends mehr Personen, die sich für kulturelle Belange einsetzten. Man sah, dass man nicht mehr allein war, und begann sich zusammenzuschließen. Im estnischsprachigen Gebiet war die 1817 gegründete Arensburgische Ehstnische Gesellschaft ein erster derartiger Zusammenschluss. Die Abhängigkeit von einzelnen Individuen ist hier noch deutlich daran zu sehen, dass sich diese Gesellschaft auf Saaremaa, dessen Hauptort Kuressaare auf Deutsch Arensburg heißt, konstituierte, was sicher nicht unmittelbar zum Zentrum Estlands gerechnet werden kann. Die treibende Kraft hinter dieser Gesellschaft war mit Johann Wilhelm Ludwig von Luce (vgl. § 14) aber jemand, der auf Saaremaa lebte und zur Verwirklichung seiner Ideen nicht seinen Wohnort wechseln wollte. Er hatte ursprünglich geplant, eine landesweite Gesellschaft zur Förderung der estnischen Sprache zu gründen und hierzu auch einen Aufruf in den Beiträgen (Heft 4, 1815) platziert. Weil sich nicht genug für sein Projekt begeistern konnten, rief er zwei Jahre später die oben genannte Gesellschaft in Kuressaare ins Leben mit dem Hintergedanken, diese später auf das ganze Land auszuweiten. Gründungsmitglieder waren außer Luce noch acht Pastoren aus Saaremaa. Ziel der Gesellschaft war laut den im 12. Heft der Beiträge (1818) veröffentlichten Statuten, Wortschatz, Semantik, Phraseologie, Grammatik und Orthographie des Estnischen zu er-

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forschen. Außerdem sollten fremde Elemente ausgemerzt und durch estnische ersetzt werden, auf diesem Wege wollte man zu einer vollkommenen estnischen Schriftsprache gelangen. In den Folgejahren wuchs die Mitgliederzahl auf ungefähr 40. Die vielfältige Sammeltätigkeit erstreckte sich auf Sprache, Geschichte, Literatur und Folklore und führte zu umfangreichen Sammlungen, deren Publikation ursprünglich in den Beiträgen vorgesehen war. Offenbar gab es hier aber Probleme, die mit der Persönlichkeit des Sekretärs der Gesellschaft, Peter Heinrich von Frey (vgl. § 16), verbunden waren (R. Põldmäe 1971, 146), so dass sich das Vorhaben zerschlug. Nach dem Tod Freys 1833 existierten auch die Beiträge nicht mehr, so dass das gesamte Material größtenteils unpubliziert blieb und zum Teil sogar verloren gegangen ist. Ende der 1830er-Jahre erlahmte die Tätigkeit der Gesellschaft allmählich, infolge des aufrückenden Neopietismus fanden sich kaum neue Mitglieder, und als Luce 1842 starb, wurde auch die Gesellschaft gleich aufgelöst. Als Unterabteilung der Arensburgischen Gesellschaft, deren Statuten die Gründung solcher Zweigstellen explizit stimulierten, wurde 1819 in Tartu die Ehstnische Gelehrte Gesellschaft zu Dorpat, auch Ehstnische Gesellschaft Dörptscher Abtheilung genannt, gegründet. Deren Hauptanliegen war eigentlich die Vereinigung der südestnischen Pastoren in einer Front gegen Otto Wilhem Masing (vgl. § 14). Masing war seit 1815 unweit von Tartu in Äksi und hatte mit seinem Streben nach einer einheitlichen, auf dem nordestnischen Dialekt basierenden Schriftsprache die südestnische Pastorenschaft gegen sich aufgebracht. Mit ihrer Gesellschaft, deren Satzung schon rein formaljuristisch mit der ihrer Schwesterorganisation aus Kuressaare identisch war, wollten die Pastoren die Materialbasis für das Südestnische verbessern und Masing etwas entgegensetzen. Die Arbeit der Gesellschaft fand größtenteils in der Form von Rundbriefen mit Fragelisten statt, auf die die Mitglieder antworteten. Aufs Ganze gesehen blieb die Tätigkeit der Gesellschaft aber in recht bescheidenem Rahmen und war nicht zu vergleichen mit der Bedeutung der Arensburgischen Gesellschaft. Die beiden letzten Rundbriefe aus dem Jahre 1824 wurden nur noch mit fünf Antworten bedacht, ein Rundschreiben von 1831 musste konstatieren, dass die Gesellschaft seit fünf Jahren völlig danieder liege. Aber auch in den 1830er-Jahren wurde die Gesellschaft noch nicht geschlossen, sie vegetierte dahin, ohne sonderliche Aktivitäten an den Tag zu legen und kann im Nachhinein allenfalls noch als ein loser Verband der Pastoren aus Südestland angesehen werden. Ein offizielles Dokument über ihre Schließung ist nicht bekannt, sie ist schlicht abgelöst worden von späteren Neugründungen. Denn in jener Zeit entstanden auch die ersten wissenschaftlichen Unterhaltungszirkel im Umkreis der Universität. Aus solch

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einem Zirkel ist unter anderem die Gründung der Zeitung Das Inland (vgl. § 15) hervorgegangen, und auch die Gelehrte Estnische Gesellschaft (s. u.) hat hier ihre Vorläufer (vgl. Lepik 1938, Siimo 1983). Friedrich Robert Faehlmann Die Rolle der Universität in Tartu wurde zusehends bedeutender für die Formierung einer einheimischen Intellektuellenschicht, die sich allmählich auch aus anderen Berufsgruppen als allein der Pastorenschaft zu rekrutieren begann (vgl. § 14). Besonderes Augenmerk verdient die medizinische Fakultät, die viele Estophile hervorbrachte. Außerdem entstammen ihr die beiden wichtigsten Personen der estnischen Literaturgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Friedrich Robert Faehlmann und Friedrich Reinhold Kreutzwald (§ 18). Faehlmann wurde 1798 in Koeru in Nordostestland geboren, wo sein Vater Gutsverwalter war. Seine Schulzeit verbrachte er von 1810 bis 1814 in Rakvere und von 1814 bis 1817 auf dem Gymnasium in Tartu. Hier nahm er im unmittelbaren Anschluss an die Gymnasialzeit sein Medizinstudium auf, das er 1826 mit dem Doktorexamen, offiziell erst 1827 mit der feierlichen Promotion, abschloss. Damit hatte er länger als normal studiert, was daran lag, dass er nach den üblichen vier Jahren seiner Meinung nach noch nicht genug wusste und weiterlernen wollte. Außerdem hatte er während des Studiums noch Vorlesungen über Philosophie und Philologie gehört, ferner praktizierte er bereits seit 1824 als Armen-Arzt in Tartu. Später erlangte er als Arzt in allen Bevölkerungsschichten großes Ansehen. Faehlmanns Interesse an seiner Muttersprache und die Einsicht, dass zur Pflege des Estnischen etwas getan werden müsse, rühren von seiner Studienzeit her. Er stand an der Spitze eines estnischen Studentenkreises und hatte vermutlich das meiste, was damals über das Estnische publiziert worden war, gelesen. Während seiner Tätigkeit als Arzt konnte er sich jedoch nur sporadisch sprachlichen oder folkloristischen Fragen widmen, geschweige denn Dinge aus diesem Bereich publizieren. Eine einschneidende Änderung trat ein, als er 1842 – zu seiner eigenen Überraschung – zum Estnisch-Lektor der Universität gewählt wurde. In dieser Funktion hat er eine Anzahl von sprachwissenschaftlichen Arbeiten verfassen können und sich auch mit Fragen der Orthographie beschäftigt. Anders als seine Vorgänger, die sich noch an der Grammatik von Hupel (vgl. § 11) orientiert hatten, bemühte er sich um eine angemessenere Beschreibung des Estnischen. Er war einer der Ersten, der 1846 die neuen Orthographieregeln ausprobierte – das erste in der neuen Orthographie gedruckte Buch war 1844 erschienen (s. Endel Annus 2000,

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491) –, wenngleich es bei diesem Versuch blieb und alle anderen Texte von Faehlmann in der alten Orthographie abgefasst sind. Neben seiner Stellung als Universitätslektor blieb er als Arzt tätig und war maßgeblich an der Bekämpfung verschiedener Ruhrepidemien beteiligt. Von 1843 bis 1845 hielt er darüber hinaus zur Überbrückung einer Vakanz Vorlesungen in der medizinischen Fakultät. Faehlmann war ein wortgewandter und scharfsinniger Rationalist, der sich leidenschaftlich für die Unterdrückten und gegen jegliches Unrecht einsetzte. Er schimpfte auf die Herrnhuter, die dafür gesorgt hätten, dass das Volk keine alten Sagen mehr kenne, spottete über das Bild, das sich mancher von den Esten mache – »der im linneschen System so allenfalls die Lücke zwischen Menschen und Vieh füllen könnte« (Faehlmann 1999, 55) – und schreckte nicht vor Wortgefechten mit Vertretern der Ritterschaft zurück, wovon seine Niederschrift von einem Streit mit Johann Friedrich von Nolcken, einem Vertreter des konservativen Flügels des deutschen Adels, zeugt. Dem sagt er, nachdem Nolcken sich auf althergebrachte Rechte berufen hat, trocken ins Gesicht: »Aber sagen Sie mir doch, Herr Baron, sollte irgend eine Zeitdauer hinreichen, um ein usurpirtes Recht je zu sanctioniren?« (Faehlmann 1999, 105). Allerdings darf man hieraus nicht den Schluss ziehen, Faehlmann sei ein passionierter politischer Kämpfer gewesen. Das Zitat bzw. die Beschreibung des Streits mit Nolcken stammt aus einem Brief an Kreutzwald und war nicht für die Veröffentlichung bestimmt. Erst 1899 wurde sie, und dann in estnischer Übersetzung, in einer Zeitung publiziert, wobei das erwähnte Zitat nichts von seiner Relevanz eingebüßt hatte. So eine Publikation mag mit beigetragen haben zu dem Mythos vom »Schwur von Virumaa« (Viru vanne), der in jener Zeit entstanden ist und bis heute hier und da erwähnt wird. Dem zufolge hätten sich Faehlmann, Kreutzwald und Jakob Nocks (G. Suits 1935a), ein guter Freund, Schul- und Studienkamerad von Faehlmann, auf dem Schlossberg von Rakvere getroffen und einander geschworen, Estland bis zu ihrem Tode treu zu bleiben. Wahr daran ist nur, dass die drei tatsächlich auf derselben Schule waren (aber nicht zur gleichen Zeit!), dass sie befreundet waren und viel für die estnische Kultur geleistet haben. Alles Weitere ist der Phantasie der Nachwelt entsprungen (s. Haug 2003). Die übermäßige Belastung, der Faehlmann sich ausgesetzt sah bzw. selbst aussetzte, musste bei jemandem, der sich seit 1830 mit den Symptomen und auch zeitweisen direkten Ausbrüchen von Tuberkulose herumplagte, über kurz oder lang fatale Folgen haben. Die Krankheit war ererbt, seine Mutter und einer seiner Brüder waren daran gestorben, kurz nach Faehlmanns Tod starb auch der zweite Bruder. Faehlmann starb 1850, 51-jährig und ohne die

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Früchte seiner Bemühungen ernten oder auch nur die Verwirklichung eines Teiles seiner Pläne miterleben zu können. Später ist angenommen worden, dass Faehlmann so manche Idee, die er im Kopf, aber nicht niedergeschrieben hatte, unwiederbringlich mit ins Grab genommen hat (Reiman 1903, 8). Davon gingen jedenfalls seine Zeitgenossen aus, wie aus einem Brief des Kalevala-Autors Lönnrot, mit dem Faehlmann während dessen Estland-Aufenthalts in engem Kontakt gestanden hatte, hervorgeht: »Zu sehr zu bedauern ist, dass durch Fählmanns Tod die Redaction des Sagencyclus von Kallewe-Poeg unvollendet blieb. So viel man auch von Dr. Kreutzwald zur Vollendung derselben [er]warten mag, und nach seinen bisherigen Leistungen wirklich [er]warten kann, so glaube ich doch, dass manches, diesem Sagencyclus eigenes, nur i[m][…] Gedächtnis des Verstorbenen aufbewahrt, mit ihm ins Grab versank.« (A. Suits 1931, 167). Faehlmanns Mythen Für die estnische Literatur liegt die Bedeutung Faehlmanns in seinen folkloristischen Arbeiten und in seinem Organisationstalent (s.u.). Da Faehlmanns Anliegen unter anderem war, den Esten zur Emanzipation und zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen, wollte er dazu Beweismaterial aus der estnischen Folklore heranschaffen. Denn was konnte die Existenz einer eigenen Kultur besser begründen als eine eigene und ursprüngliche Mythologie? Weil zu seiner Zeit aber noch relativ wenig folkloristische Quellen erschlossen waren und es außer Petersons kommentierter Übersetzung von Gananders Finnischer Mythologie (vgl. § 16) praktisch nichts gab, war das leichter gesagt als getan. Faehlmann hat sich im Volk umgehört und versucht, sich auf dieser Basis eine eigene estnische Mythologie zusammenzubasteln, die später aber korrekterweise als Pseudomythologie bezeichnet worden ist. Faehlmann zeichnete keinesfalls ein kohärentes Gesamtsystem auf, sondern teilte streng genommen nur ein paar verstreute Sagen mit. Was aber im weiteren Verlaufe der estnischen Literaturgeschichtsschreibung geschah und bis heute geschieht, ist seinerseits eine Mythologisierung der Faehlmann’schen Mythen, die auch Züge einer Mystifizierung trägt: Nahezu alle einschlägigen Darstellungen und Literaturlexika erwähnen übereinstimmend Faehlmanns »acht Mythen«, die zwischen 1840 und 1852 auf Deutsch in den Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft erschienen seien und eine eigene estnische Götterwelt geschaffen hätten. Dabei wird eine Einheit suggeriert, die so nie bestanden hat und die man in Faehlmanns zweibändiger textkritischer Gesamtausgabe (1999–2002; ein dritter Band mit vorwiegend medizinischen Schriften von Faehlmann ist in Vorbereitung) folgerichtig

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auch vergebens sucht. Selbst wenn es möglich ist, die genannten acht Mythen aus Faehlmanns Texten herauszufiltern, wird das dem Anliegen des Autors nicht gerecht, zumal ein Teil postum erschienen ist, was häufig geflissentlich übergangen wird. Selbst die Überschriften der einzelnen Sagen, wie sie heute bekannt sind, stammen teilweise nicht von Faehlmann, sondern sind erst in der Neugliederung der estnischen Übersetzungen beigefügt worden. Konkret sind die folgenden Texte erschienen: 1840 publizierte Faehlmann im ersten Heft des ersten Bandes der Verhandlungen einen Zyklus Ehstnische Sagen, den er mit einem Vorspann über die Schwierigkeiten bei der Materialbeschaffung versah und der drei Sagen umfasste: Das Entstehen des Embachs (d. h. des durch Tartu fließenden Flusses, CH), Wannemunne’s Sang und Das Kochen der Sprachen. Sie beruhen teilweise auf tatsächlich im Volksmund zirkulierenden Sagen. 1844 folgte im dritten Heft des immer noch ersten Bandes der Verhandlungen die Sage Koit und Ämarik (Morgenrot und Abendrot), die ebenfalls auf der Volksüberlieferung beruht und in der kanonischen Zählung offenbar als vierter Mythos gilt. Im Gegensatz zu den drei vorgenannten Texten ist dies aber keine direkte Entstehungssage, sondern die romantisch stilisierte Schilderung der Liebesaffäre zwischen Abendrot und Morgenrot, die sich nur einmal im Jahr in der Johannisnacht treffen. Diese Erzählung, die gelungen die für Nordeuropa charakteristischen »weißen Nächte« im Juni paraphrasiert, ist außergewöhnlich populär geworden, hat aber mit der Konstruktion eines estnischen Pantheons wenig zu tun. 1846 dann erschien in einem in Moskau publizierten Geschichtsbuch (Kruse 1846) der Vortrag von Faehlmann über den Kalevipoeg, den er 1839 gehalten hatte und der einer der »Urtexte« für Kreutzwalds späteres Epos wurde (vgl. § 18). Dieser Text wird im Allgemeinen nicht zu den »acht Mythen« gerechnet, wohl weil er Grundlage für ein anderes, viel größeres literarisches Werk wurde, aber inhaltlich gehört er zu Faehlmanns Sagenœuvre. 1848 brachte Band 2 der Verhandlungen Faehlmanns Vortrag von 1847 mit dem Titel Wie war der heidnische Glaube der alten Esten beschaffen? Dieser keine sechs Seiten umfassende Text ist die eigentliche Quelle für die viel zitierte Pseudomythologie, denn hier entfaltete Faehlmann im Zusammenhang mit einem Mythos von der Erschaffung der Welt – dies ist als Mythos Nummer fünf anzusehen – dann tatsächlich »sein« kleines Pantheon: Altvater oder T[a]ara hatte sich einige Helden erschaffen, die ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen sollten und bei der Ausgestaltung der von ihm geschaffenen Welt behilflich sein sollten: Wanemuine, der alte Gott des Gesanges, Ilmarine, mit der Gabe der Kunst versehen und im besten Mannesalter, Lämmeküne, ein junger Heißsporn, und als vierter und Vertreter der Gruppe der weniger beachtenswerten Gottheiten Wibboane, der geschickte Jäger bzw. Bogen-

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schütze. Das ist alles und war erstaunlicherweise genug für spätere Generationen, von einem eigenen estnischen (Pseudo)pantheon zu sprechen, obwohl hier gerade einmal fünf Götter präsentiert wurden und bis auf den Obergott Taara alle unbeholfen aus dem Finnischen entlehnt worden sind. Sie sind als Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen die bekanntesten Helden des Kalevala, in dem Antero Vipunen ebenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Danach bekommen wir es mit den im Nachlass gefundenen Sagen zu tun, die 1852 in den Verhandlungen publiziert wurden unter dem Titel Die Sage von Wannemuine. Die spätere Forschung hat diese dann wiederum in drei Subsagen unterteilt, so dass man auf diese Weise auf die erwähnten acht Mythen kommt. Eine Einheit formen diese Texte jedoch nur sehr bedingt. Trotzdem erlangten sie große Bedeutung. Sie sollten zum Zeitpunkt ihres Erscheinens eine deutsche und möglicherweise internationale Leserschaft von der ruhmreichen Urgeschichte der Esten überzeugen. Das gelang insofern, als die ersten Sagen bereits ein Jahr später in Deutschland erneut publiziert wurden. In den 1840er-Jahren kamen auch Übersetzungen auf Finnisch und Schwedisch heraus. Erst viel später, vereinzelt in den 1860er-Jahren, die letzte erst 1883 (Jansen 2000a, 42), wurden sie auch auf Estnisch veröffentlicht. Die Veröffentlichung in Deutschland war von besonderer Bedeutung, weil die dortige Version der Sage vom Kochen der Sprachen (Kohl 1841, 254) die erste vollständige war: Faehlmann hatte eine Passage, die sich despektierlich über die Russen äußerte, vorsorglich weggelassen, weil er wusste, dass die Zensur sonst Probleme bereitet hätte. In der Sage, auf deren Originalität schon Jacob Grimm hinwies (s. Undusk 2000a, 15), wird berichtet, wie den Völkern vom Schöpfer die Sprachen und ihre Namen zugeteilt werden, wobei nur vier Völker namentlich genannt sind: Neben den Esten deren unmittelbare Nachbarn, die Deutschen, Russen und Letten – nicht aber die Finnen, was daran liegen mag, dass deren Sprache der der Esten ziemlich ähnlich ist und daher nicht gut in die Fabel der Sage gepasst hätte, die folgendermaßen abläuft: Während der Schöpfer noch bei den Vorbereitungen zum Kochen der Sprachen ist, kommen als erste die Esten, die folglich Gottes Sprache selbst erhalten, da die anderen noch nicht fertig sind. Danach wird in wenigen Worten der Tag des Sprachenverteilens beschrieben, bevor die drei oben erwähnten Nachzügler genannt werden, die notgedrungen mit den Resten und dem Bodensatz Vorlieb nehmen müssen, d. h. kümmerliche und hässliche Sprachen abbekommen. Schuld sind sie selbst, weil sie sich verspätet hatten. Es versteht sich von selbst, dass eine solche Sage gerne zur Mythenbildung verwendet wurde (vgl. Undusk 2002). Gleichzeitig ist logisch, dass in

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einer sowjetischen Ausgabe (Faehlmann 1979) diese Sage stillschweigend fortgelassen wurde, denn weder das große russische Volk noch das »sozialistische Brudervolk« der Letten durften in den Schmutz gezogen werden. Faehlmann aber schrieb über sie: »Sommer war es, und sie trugen Pelze, und hohe Stiefeln und ein Leibgurt begegneten einander; es waren die Russen.« Nachdem sie von Gottvater abgefertigt worden waren, gingen sie »watschelnd sich bückend und bedankend davon.« Und über die zuletzt gekommenen Letten hieß es gar: »Aber noch ein Haufe kommt heran, träge, schmutzig und unverschämt.« Gottvater ist erzürnt: »Für Faulenzer und Taugenichtse habe ich keinen besonderen Namen« (Faehlmann 1999, 43f.). Das deutschsprachige Schaffen von Faehlmann, dessen Briefwechsel mit Kreutzwald ebenfalls größtenteils auf Deutsch ablief, war umfangreicher und aufs Ganze gesehen wichtiger als seine estnischen Texte: einige wenige Gedichte und Aphorismen sowie ein paar im weitesten Sinne als Feuilletons zu bezeichnende Texte, teils politischen, teils erbaulichen Inhalts. Sie alle sind seit 1840 – zum Teil anonym – in Kalendern veröffentlicht worden und haben dadurch eine vergleichsweise große Verbreitung erlangt. Allerdings hat ein politisch gefärbter Beitrag, in dem Faehlmann die beklagenswerte Lage der zwar freien, aber landlosen Bauern beschreibt, auch die Aufmerksamkeit der Zensurbehörde auf sich gezogen, die eine ursprünglich geplante Fortsetzung unterband. Die Gelehrte Estnische Gesellschaft Die wichtigste kulturelle Tat von Faehlmann war die Gründung der Gelehrten Estnischen Gesellschaft, deren Präsident er von 1843 bis zu seinem Tode war. Knapp zwanzig Jahre nach Luces Initiative war die Zeit reif für die Errichtung einer Vereinigung, die sich nicht mehr ausschließlich aus deutschen estophilen Pastoren zusammensetzte. Schon 1836 erwähnte Faehlmann in einem Brief an Kreutzwald, dass es in Tartu durchaus einige Menschen gäbe, die guten Willens seien (KKV I, 16), was man als ersten Hinweis auf den Wunsch sich zusammenzuschließen lesen kann, wenngleich er später in einer Rede zum zehnjährigen Bestehen der Gesellschaft den konkreten Gedanken zu ihrer Gründung in den Sommer 1837 verlegt (Aaver/Laanekask 1988, 59). Einen wissenschaftlichen Unterhaltungszirkel im Umkreis der Universität hatte es bereits seit 1831 gegeben. Dieser spaltete sich später nach Disziplinen in einige Unterzirkel auf, wobei der Unterzirkel, der sich mit Sprache, Literatur, Geschichte und Geographie Estlands befasste, als Nukleus der Gelehrten Estnischen Gesellschaft angesehen werden kann. Federführend hierbei war Faehlmann, unterstützt vom damaligen Estnischlektor der Univer-

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sität, Dietrich Heinrich Jürgenson, und dem Anatomieprofessor Alexander von Hueck; auch einige ältere Mitglieder der formal noch existierenden Ehstnischen Gelehrten Gesellschaft zu Dorpat (s. o.) schlossen sich dem Vorhaben an. Von Letzterer übernahm man in leicht abgewandelter Form auch den Namen, als man 1837 eine Satzung der zu gründenden Gesellschaft erarbeitete. Im Januar 1838 fand in der Wohnung von Pastor Carl Heinrich Constantin Geheve in Tartu die Gründungsversammlung der Gesellschaft statt. An ihr nahmen 19 Personen teil, von denen knapp die Hälfte von außerhalb kam. Als die Gesellschaft ein Jahr später nach geringfügigen Satzungsänderungen vom Bildungsministerium in St. Petersburg offiziell als an die Universität Tartu gebundene Vereinigung bestätigt wurde, war eine Organisation geschaffen worden, die sich schon bald als kraftvolle Fürsprecherin der estnischen Kultur erwies und für die weitere kulturelle Entwicklung von eminenter Bedeutung war. Sie bestand weit über hundert Jahre und hat formal selbst die Sowjetisierung im Zuge des Zweiten Weltkriegs überlebt, denn sie wurde erst 1950 aufgelöst (Ligi 1988). 1988 wurde sie wieder gegründet, ohne in den veränderten Zeitumständen jedoch eine ähnlich wichtige Position erlangen zu können, wie sie sie in ihrer Anfangsphase gehabt hat. Die Gesellschaft hatte hochgesteckte Ziele. Laut Satzung war ihr Anliegen, »die Kenntniss der Vorzeit und Gegenwart des ehstnischen Volkes, seiner Sprache und Litteratur, so wie des von ihm bewohnten Landes zu fördern« (zit. nach Aaver/Laanekask 1988, 7). Dem versuchte sie durch regelmäßige Zusammenkünfte, auf denen Vorträge aus verschiedenen Wissenschaftssparten gehalten wurden, durch systematisches Sammeln und entsprechende Aufbewahrung des Materials in einer Bibliothek, einem Archiv, einer Münzsammlung etc. und durch ihre Publikationstätigkeit gerecht zu werden. Schon 1840 begann sie ihre Veröffentlichungsreihe Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft, in der bis 1940 in 63 Lieferungen 34 Bände erschienen sind. Eine Auswahl des Inhalts des ersten Bandes gibt bereits einen Eindruck vom breiten Spektrum der Gesellschaft. Da ist unter anderem von den folgenden Dingen die Rede: Ueber die Entstehung der beiden Hauptdialekte der estnischen Sprache; Kalevala, Uebersicht des Inhalts; Estnische Sagen aus Dorpat u. Umgebung [hierbei handelt es sich um die oben erwähnten ersten drei Mythen von Faehlmann]; Notizen über einige Burgwälle der Ureinwohner Liv.- u. Estlands; Ueber einige, bei Oberpahlen gefundene Russische Münzen; Vorläufiger Bericht über zwei antiquarische Reisen durch die Ostseeprovinzen 1838 u. 1839; Probe einer estnischen und deutschen Uebersetzung der Kalevala; Ueber die Flexion des Wortstammes in der estnischen Sprache; Ueber die Eintheilung des Tages u. der Nacht bei den Dörpt-Esten; Beiträge zur Charakteristik des Esten und seiner Sprache; Ueber die Bedeutung des Wortes Pikne; Kurze Ge-

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schichte der estnischen Literatur [die in § 4 erwähnte erste Gesamtdarstellung der estnischen Literatur von Jürgenson]; Ueber v. Parrot’s Liwen, Lätten u. Esten; Iggauni u. Esten; Nachricht von gefundenen Arabischen Münzen; Zur näheren Kenntniss der Volkssagen u. des Aberglaubens der Esten im Kirchspiel Odenpä; Ueber die Declination der estn. Nomina; Ueber die Nationalität der Scythen und ihrer Nachbarn; Notizen über alte Gräber, in der Umgegend Werros, Ausgrabungsversuche u. Spuren alter Kirchen im Neuhausenschen; Das Münzrecht der Stadt Dorpat; Erläuternde Bemerkungen, ein zu Pöddes, in Estland ausgegrabenes antikes Metallbecken betreffend; Ueber mehrere, im Estländischen Ritterschaftsarchive befindliche, bisher für unterschoben gehaltene Urkunden des St. Michaelisklosters in Reval vom XI-XIV Jahrhundert. Seit 1861 erschienen darüber hinaus die Sitzungsberichte der Gelehrten Estnischen Gesellschaft, von denen bis 1940 72 Bände herausgekommen sind und die neben den üblichen Formalia auch kürzere und längere wissenschaftliche Beiträge brachten. Zwischen 1863–1869 wurden zudem sieben Hefte der Reihe Schriften der Gelehrten Estnischen Gesellschaft herausgebracht, die sich aber inhaltlich nicht von den Verhandlungen unterscheiden. In den 1930er-Jahren schließlich gab es noch eine Serie mit Briefeditionen (Gesamtregister bei Vares 1977). Die Gesellschaft war also im weitesten Sinne landeskundlich orientiert und deckte tatsächlich all jene Bereiche ab, für die es im »normalen« wissenschaftlichen Betrieb der Universität noch keine Fachdisziplinen gab. Damit hatte sie unwillkürlich die Anlage, zu einer Brutstätte der nationalen Emanzipationsbewegung zu werden, da sie – wenn auch vielleicht nicht explizit – den Nachweis erbringen wollte, dass es auf estnischem Grundgebiet schon recht lange so etwas gegeben hatte, was man als »Kultur« bezeichnen musste, und dass dies nicht ausschließlich mit der deutschen Kultur verbunden war. Nach Faehlmanns Tod wurde dieser emanzipatorische Impetus abgeschwächt, insbesondere während der Präsidentschaft des konservativen Historikers und Ideologen der Deutschbalten Carl Schirren, der Anfang der 1860er-Jahre kurz die Führung der Gesellschaft übernahm und ganz sicher nicht zur Gruppe der estophilen Deutschen gerechnet werden konnte. Bald nach ihm trat jedoch unter der Präsidentschaft des Germanisten Leo Meyer wieder eine Phase ein, in der auch viele estnische Intellektuelle in der Gesellschaft aktiv wurden. Eine Speerspitze der estnischen nationalen Bewegung ist sie dennoch nicht geworden, dazu gab es bald andere Organisationen. Ihre Bedeutung liegt im Zusammenschluss von Wissenschaftlern und der Bereitstellung von Publikationsmöglichkeiten. Parallel zu den Aktivitäten in Tartu wurde auch in Tallinn die Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft vorangetrieben. Hier waren es vorwie-

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gend junge deutsche Intellektuelle – Lehrer, Juristen, Ärzte –, die sich 1842 in der Estländischen Literärischen Gesellschaft zusammenschlossen. Die Gesellschaft umfasste mehrere nach Fachgebieten eingeteilte Sektionen, war in der Hauptsache aber auf historischem Gebiet aktiv. Dabei lag der Schwerpunkt auf der deutschbaltischen Kultur, die gepflegt werden sollte, weniger auf der Estophilie. Trotzdem ist die Gesellschaft aus zwei Gründen wichtig: Erstens gelangte nach ihrer Auflösung die wertvolle Bibliothek, deren Mitnahme die estnische Regierung 1939 den aussiedelnden Deutschen verboten hatte (Robert 1992), in den Bestand der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften Estlands. Dieser heute als Baltica-Sammlung bekannte und in die Akademische Bibliothek der Tallinner Universität integrierte Buchbestand bildete seinerzeit die erste landesgeschichtliche Büchersammlung in Tallinn, wo es noch keine größere wissenschaftliche Bibliothek gab. Zweitens war mit Alexander Heinrich Neus, der seit 1841 wegen eines Augenleidens pensioniert war und sich ungestört seinen Leidenschaften widmen konnte, eines ihrer Gründungsmitglieder einer der aktivsten Erforscher der estnischen Volksdichtung, der in den 1850er-Jahren wichtige Publikationen hierzu vorlegte (vgl. § 8). Halbdeutsch Im weitesten Sinne in den Bereich der Estophilie fällt auch eine Erscheinung, die als »Halbdeutsch« bezeichnet wird und gelegentlich im Rahmen der makkaronischen Dichtung in Estland behandelt wird (Kalda 1993, 1996). Während als klassische makkaronische Dichtung die Mischung zwischen dem Lateinischen und der jeweiligen Landessprache gilt, werden im Falle des Anfang des 19. Jahrhunderts entstandenen so genannten Halbdeutschen deutsche und estnische – bisweilen aber auch russische – lexikalische und auch morphologische Elemente in einer (Misch)Sprache gemeinsam verwendet. Das Phänomen hat auch auf linguistischer Seite Interesse hervorgerufen, wobei aus Lehistes (1965, 57) Auszählung auf Basis des Gedichts von Malm (s. u.) hervorgeht, dass der russische Anteil nur unwesentlich kleiner als der estnische war, nämlich drei gegenüber fünf Prozent. Interessanterweise ist in der Forschung bisher kaum darauf eingegangen worden, dass in dieser Dichtung fast ebenso zahlreich russische Elemente bzw. sogar ganze Passagen auftauchen und es sich also mitnichten um einen ausschließlich estnisch-deutschen Kontakt handelte. Solch ein Sprachgebrauch hatte seinen realen Hintergrund in der Gesellschaft: Estnische Aufsteiger bedienten sich naturgemäß nicht selten eines nicht ganz fehlerfreien Deutschs bzw. es dauerte geraume Zeit, bis sie diese Sprache gut genug beherrschten. Solche Aufsteiger

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wurden spöttisch als »Wacholderdeutsche« (Kadakasakslased) bezeichnet, weil sie, wie das für den Vergleich bemühte Gewächs, weder Baum noch Strauch, d. h. weder das eine noch das andere waren. In begrenztem Maße konnte es sich bei Angehörigen dieser Schicht auch um »Absteiger«, d.h. verarmte Deutsche, handeln. Es war zwar nur eine kleine Gruppe, die dieses Mischidiom auch in literarischen Texten anwandte, da aber einige Gedichte in deutschbaltischen Kreisen sehr verbreitet waren, eroberte diese Dichtung, mit der man sich über die Emporkömmlinge lustig machte, eine kleine Nische im Literaturbetrieb Estlands im 19. Jahrhundert. Ein geradezu »klassischer« Text und Vorbild für Nachahmungen wurde die Oberpahlsche Freundschaft von Jacob Johann Malm, Sohn eines Zollbeamten und später selbst Zöllner, der zeit seines Lebens in Tallinn gelebt und außer diesem Gedicht nichts anderes geschrieben hat. Den ersten Teil seines Poems hatte er 1818 verfasst. Bis 1841 zirkulierte der anfangs anonyme Text nur in Manuskriptform, und viele konnten ihn offenbar auswendig. Erst 1855 gab sich der Autor zu erkennen, nachdem das Gedicht häufig anderen zugeschrieben worden war, und ließ sein Werk auch drucken. Das Doppelgedicht – Malm hatte 1857 eine Fortsetzung verfasst, die mehr als doppelt so lang wie der erste Teil ist – erschien dann bis 1905 zwölfmal (!) im Druck. Es ist eine humorvolle Sauf- und Raufgeschichte in einhundert Vierzeilern und beginnt folgendermaßen: Vart’, tenkt’ ich mal in meine Sinn, Willst wahren toch heinmal Su Wreind nach Oberpahlen in! Und ging nu in tas Tall, Und nehmt tas Wuchs mit lange Wanz Und pannt tas wor tas Saan Tann nehmt’ ich meine Mütz und Ans Und wangt’ su jagen an; (Malm 1905, 5)

Eine solcher Text ist ohne Estnischkenntnisse nur bedingt zu begreifen, wenngleich sich die Veränderungen auf die Phonetik und die Lexik beschränken. Sobald man weiß, dass im Bereich der Phonetik das estnische Phonemsystem einschließlich seiner Phonotaxe zur Anwendung gekommen ist – etwa keine stimmhaften Verschlusslaute (also immer p, t, k statt b, d, g), kein f (sondern w), keine Konsonantenanhäufungen am Wortanfang (daher Wanz pro Schwanz) –, kann man schon einen Großteil verstehen. Wenn ein Wort gar zu entstellt ist oder einfach ein estnisches Wort verwendet wird (wie im obigen Beispiel saan ›Schlitten‹), war überdies eine Fußnote hinzugefügt worden. Damit konnten auch die Deutschen des lettischsprachigen Gebiets das

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Gedicht verstehen, und tatsächlich soll es das »populärste Gedicht in den Ostseeprovinzen« gewesen sein – dies behauptet zumindest Paul Theodor Falck in seinem Vorwort zu einer Ausgabe (Malm 1905, 3), wobei allerdings zu bedenken ist, dass in einem anderen Zusammenhang von »berüchtigten Falckschen Fälschungen« (Stammler 1922, 170) die Rede ist. Ganz unabhängig davon spiegelt so ein Gedicht aber sicherlich in humorvoller Weise die gesamte sprachliche Situation in gewissen Teilen der Bevölkerung wider. Inwieweit es sich tatsächlich um eine keimende Literatursprache gehandelt hat, der bei anders verlaufener historischer Entwicklung gar die Zukunft im betreffenden geographischen Raum gehört hätte (Lehiste 1965, 56, die sich auf Schultz-Bertram beruft, vgl. a. Undusk 1999b, 356– 361), mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls hat Malm einige Nachahmer gefunden, aber kein Gedicht hat einen vergleichbaren Bekanntheitsgrad erreicht. Zu nennen wären hier etwa Rudolph Seuberlich, der direkt auf Malms Gedicht reagierte, oder Arthur Usthal mit seinen Gedichten vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Allenfalls Georg Julius Schultz-Bertram, der seit 1868 in Kalenderbeilagen seine Hallerlei nurrige Sichten und soterkleichen publizierte, die später in Buchform herausgekommen sind, reicht an den Ruhm von Malm heran, zumal er auch noch auf anderen Gebieten der estnischen Kultur seine Spuren hinterlassen hat (vgl. zum Phänomen auch Undusk 1992 und 1995a). Aufs Ganze gesehen scheint es sich hier aber eher um die mystifizierendverklärende Aufbauschung eines kuriosen Randphänomens zu handeln, welches darin besteht, dass einige Personen versuchten, den verbreiteten estnischen Akzent im Deutschen zu literarischem Ruhm zu verhelfen. Das an sich ist schon eine Besonderheit und verdient sicherlich der Erwähnung, da die literarische Verwendung von Soziolekten gemeinhin erst später ins Bild kommt. Doch ist die Klassifizierung als eigene Literatursparte irreführend. Wenn Stammler (1922, 169f.) zwar behauptet, dass eine »halbdeutsche Literaturgeschichte zu geben […] bei der Geringfügigkeit des Materials nicht angängig« sei, dann aber trotzdem »in chronologischer Folge diejenigen Schriften auf[…]führt, welche halbdeutsche Sprachbeispiele enthalten«, verleiht er dem Ganzen mehr Gewicht, als ihm zukommt. In seiner Liste findet sich auch Elisàr von Kupffers Revolutionsdrama Feuer im Osten (1907), das in reinstem Hochdeutsch geschrieben ist und das so genannte Halbdeutsch explizit vermeidet! Im Vorspann teilt der Autor nämlich Folgendes mit: »Bezüglich der Spracheigentümlichkeiten sei folgendes bemerkt: Wenn die Esten deutsch zu sprechen beginnen, so ist die Aussprache ein eigenartiges Gemisch von hart und weich, das eine Art Dialekt ergibt. Nach verschiedentlicher Erwägung blieb es dabei, daß die Esten hier rein deutsch sprechen, da das Publi-

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kum sonst glauben könnte, sie sprächen nur einen deutschen Dialekt, während das ganz falsch wäre, da sie ja ihre eigene mongoloide [das finnougrische Estnisch wurde damals häufig mit den mongolischen Sprachen in einer Gruppe zusammengefasst, CH] Sprache reden. Jenes verdorbene Deutsch reden nur Leute, die man gewöhnlich als Halbgebildete bezeichnet, Bediente, die lange in deutschen Herrschaftshäusern gedient haben, usw. Die Herrschaft spricht mit den Bauern nur estnisch. Würde der Verwalter Turmann in diesem Stück jenen Dialekt reden, so ergäbe sich das sonderbare Resultat, daß die Bauern ein reineres Deutsch sprächen als er.« (Kupffer 1907, 6) Mit anderen Worten: Da Kupffer sein Stück allgemein verständlich halten wollte – womit er nicht alleine steht, man beachte, dass bis auf den heutigen Tag der von alters her vielsprachigen Realität nur ganz marginal, etwa beim Film, Rechnung getragen wird –, verzichtete er bewusst auf das denkbare Einsprengsel eines besonderen Soziolekts: Der hätte die Sprachenvielfalt nur verzerrt und dann eben missverständlich wiedergegeben. Die Aufnahme von Kupffers Werk in eine angedachte »Bibliographie der halbdeutschen Literatur« ist also völlig verfehlt und veranschaulicht, dass das Phänomen in seiner Bedeutung nicht überschätzt werden sollte. Für die estnische Literatur ist es weitgehend bedeutungslos.

§ 18 Das estnische Epos Kalevipoeg und sein Schöpfer Friedrich Reinhold Kreutzwald Friedrich Reinhold Kreutzwalds Leben Der künftige »Liedervater« (Lauluisa), wie Friedrich Reinhold Kreutzwald im Kontrast zu Postipapa Jannsen später betitelt wurde, kam 1803 in Nordestland auf dem Gut Jõepära, wo seine Mutter Zimmermädchen und sein Vater Schuster war, zur Welt. Seine Kindheit verbrachte er auf einem Gut in der Nähe von Rakvere, wo der Junge schon frühzeitig von anderen Gutsbediensteten vom Kalevipoeg-Stoff und anderen estnischen Sagen hörte. Dies muss in ihm das Interesse für die Volksdichtung geweckt haben, denn seine ersten folkloristischen Aufzeichnungen stammen aus dem Jahre 1818. 1815 erhielt seine Familie vom Gutsbesitzer den Freibrief, d. h. sie wurde aus der Leibeigenschaft entlassen. Von 1815 bis 1818 war Kreutzwald auf deutschsprachigen Schulen in Rakvere, nach einem missglückten Zwischenspiel als Kaufmannslehrling in Tallinn kehrte er zeitweilig zu seinen Eltern zurück und vertrieb sich die Zeit unter anderem damit, sich von einem pensionierten Kammerdiener alte estnische Sagen erzählen zu lassen, was seinen wei-

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teren Lebensweg entscheidend beeinflusst haben muss. 1819 wurde es ihm von einem Gönner, denn seine Eltern waren mittellos, ermöglicht, an der Tallinner Kreisschule seine Studien fortzusetzen und das Schulmeisteramt anzustreben. 1820 trat er seine erste Stelle als Lehrer an, lernte aber parallel weiter und machte 1823 das Grundschullehrerexamen. Von 1824 bis 1825 war er dann Hauslehrer in St. Petersburg, aber auch diese Arbeit befriedigte den Spätstarter nicht, und er bewarb sich in St. Petersburg um die Aufnahme in die Akademie für Militärmedizin – vergeblich. Im Herbst 1825 begab er sich darum nach Tartu, wo er 1826 nach bestandener Aufnahmeprüfung an der medizinischen Fakultät der Universität immatrikuliert wurde. Kreutzwald studierte sechs Jahre und belegte neben dem medizinischen Pflichtprogramm auch Vorlesungen in Ästhetik und Literatur. Schon im ersten Jahr traf er mit dem etwas älteren Faehlmann zusammen, mit dem ihn nicht nur der künftige gleiche Beruf, sondern auch das Interesse an der Volksdichtung verband. Auch mit anderen estnischen Studenten entstanden Kontakte, die in die Gründung eines Freundeskreises estnischer Studenten, derer es damals in Tartu noch nicht allzu viel gab, einmündeten. Kurz vor den Abschlussprüfungen erreichte die in ganz Europa wütende Choleraepidemie via St. Petersburg und Witebsk auch die Städte in den Ostseeprovinzen, so dass der angehende Arzt 1831 seine ersten praktischen Erfahrungen bei der Bekämpfung der Epidemie in Riga und Tartu sammelte, hinzu kam noch eine Ruhrepidemie in Vastseliina. Zur Jahreswende 1832/1833 schloss Kreutzwald sein Studium mit den entsprechenden Examina ab und erhielt das Arztdiplom. Die Bekanntschaften, die er während seiner Studienzeit geschlossen hatte, wurden entscheidend und prägend für seinen späteren Lebensweg, der rein formal betrachtet nicht sonderlich spektakulär war: Noch im Jahr des Universitätsabschlusses heiratete er Marie Elisabeth Saedler, eine deutsche Handwerkerstochter, und trat eine Stelle als Stadtarzt in Võru, im Südostzipfel Estlands, an. Da die zuständigen Behörden mit seiner Qualifikation eigentlich nicht zufrieden waren, zog sich die offizielle Ernennung zwar noch siebzehn (!) Jahre hin, aber faktisch war Kreutzwald die folgenden 44 Jahre Stadtarzt in Võru. Von hier aus unternahm er seine Reisen nach Setumaa, wo er die noch lebende Tradition der Volksdichtung erleben und aufzeichnen konnte. Vom gesellschaftlichen Trubel in Tartu hielt er sich fern, er pflegte seine Kontakte auf dem Korrespondenzwege. 1877 zog er sich in den Ruhestand zurück und übersiedelte nach Tartu, wo er bei Tochter und Schwiegersohn wohnte und 1882 hoch verehrt starb. Kreutzwald und Saedler hatten drei Kinder, von denen eine Tochter in jugendlichem Alter starb. Die meisten

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Quellen sind sich darüber einig, dass Kreutzwalds Ehe nicht sehr harmonisch war. Seine Frau interessierte sich nicht für die Leidenschaft ihres Mannes und hat Zeit ihres Lebens kein Estnisch gelernt. Und die Tatsache, dass Kreutzwald eine uneheliche Tochter mit einem Dienstmädchen hatte, weist auch nicht gerade auf eine glückliche Ehe. Kreutzwalds Eltern gehörten beide zur Brüdergemeinde, aber der Sohn wurde ein aufgeklärter Rationalist, der später hin und wieder eine direkte Abneigung gegen Kirchliches oder die Pastorenschaft an den Tag legte. Mit Johann Woldemar Jannsen kam er allein schon aus diesem Grunde überhaupt nicht zurecht. Mit dessen Tochter dagegen verband ihn eine Beziehung, die von manchen in den Bereich der Liebe gerückt worden ist. Koidula und Kreutzwald haben sich nur wenige Male getroffen, sie haben aber zwischen 1867 und 1873 einen intensiven Briefwechsel geführt, der 1910/1911 veröffentlicht worden ist. Wie Masings Briefe an Rosenplänter sind auch diese Briefe ein wichtiges kultur- und literaturhistorisches Dokument, dessen Wert dadurch gesteigert wird, dass beide Teile erhalten sind (KKK, vgl. § 19). Nahezu alle literarischen Arbeiten, die Kreutzwalds Position als »Vater der estnischen Literatur« begründeten, sind neben seiner ärztlichen Tätigkeit in Võru entstanden, sieht man von den in den 1820er-Jahren verfassten deutschen Gedichten ab, die er aber erst später, und nur teilweise, veröffentlichte. In der Anfangsphase seiner schriftstellerischen Tätigkeit schrieb er viele Artikel für Das Inland, was mitunter zu Konflikten mit der deutschen Oberschicht führte, da er es wagte, die herrschenden Verhältnisse zu kritisieren. In den 1840er-Jahren widmete er sich didaktischem und aufklärerischem Schrifttum und veröffentlichte eine sehr populär gewordene Bearbeitung des Genovefa-Stoffes (vgl. § 14). Gleichzeitig hatte er sich schon mit der estnischen Volksdichtung befasst, die ihn für das nächste Jahrzehnt mehr und mehr in Anspruch nahm und in die Anfertigung des Epos Kalevipoeg (s. u.) mündete. Anschließend trat er mit einer Märchensammlung hervor, parallel dazu und auch schon früher sind andere Prosatexte von ihm erschienen. Seine Gedichte und Gedichtübersetzungen sind seit den 1840er-Jahren verstreut und sporadisch in Kalendern und Zeitschriften erschienen und erst 1865 in einer Gesamtausgabe als Buch herausgekommen. Schon zu Lebzeiten war Kreutzwald weit über die Grenzen seines Landes, in dem er übrigens bereits 1849 durch die Wahl zum Ehrenmitglied der Gelehrten Estnischen Gesellschaft gebührend anerkannt wurde, hinaus bekannt, 1855 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Finnischen Literaturgesellschaft gewählt, 1871 zum externen Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Er unterhielt seit 1833 eine lebhafte Korres-

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pondenz mit Kollegen in Berlin, Helsinki und St. Petersburg, aber auch mit den entsprechenden Zentren und Personen in Estland, die unter anderem in einer sechsbändigen Edition dokumentiert ist (KKV I-VI). Kreutzwalds frühe Publikationen Kreutzwald debütierte 1840 ganz im Zeichen der Volksaufklärung mit einem Buch über die schädlichen Folgen des Alkoholgebrauchs. Sein Wina=katk war eine freie Bearbeitung von Heinrich Zschokkes Brannteweinpest. Kreutzwalds Version – die nicht die erste estnische Version von Zschokkes Buch war, denn Mannteuffel hatte ein Jahr vorher sein beliebt gewordenes Buch publiziert (vgl. § 14) – bemühte sich um eine naturgetreue Beschreibung des estnischen Dorflebens und unterschied sich darin von ihrem deutschsprachigen Vorbild. Dies war die damals übliche Praxis, eine strenge Unterscheidung zwischen übersetzter und »authentischer« Literatur trat erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Bis dahin nahm man es mit der Urheberschaft der Texte noch nicht so genau. Das trifft auch auf Kreutzwalds zweites Prosabuch zu, eine Version des Genovefa-Stoffes (vgl. § 14), die 1842 zum ersten Mal erschien und zahlreiche Neuauflagen erlebte. Im Weiteren wollte Kreutzwald über periodische Veröffentlichungen volksaufklärerisch tätig sein, jedoch gelang es ihm nicht, für eine geplante Zeitschrift die Erlaubnis zu bekommen, und auch andere Unternehmungen von ihm wurden, wenn sie nicht gänzlich scheiterten, von der Zensur verzögert. Von einer als Zeitschrift oder Serie geplanten aufklärerischen Publikation konnte 1843 die erste Lieferung erscheinen, Sippelgas I (Die Ameise) war eine Art Familienratgeber mit praktischen Tipps zu Kindererziehung, Gesundheitspflege, Sparsamkeit etc. Die zweite Lieferung kam erst 1861, als der Autor durch andere Publikationen längst berühmt war. Ob der missglückte Versuch, eine Karriere als deutschsprachiger Dichter zu beginnen – 1846 publizierte er unter Pseudonym einige Gedichte im Inland, ließ nach sehr negativer Kritik aber schnellstens wieder davon ab –, tatsächlich dazu geführt hat, dass er sich danach vollends auf die estnische Sprache konzentrierte (so Metste/Laak 2003, 12), mag dahingestellt bleiben. Ganz sicher aber begründeten seine Publikationen in der zweiten Hälfte der 1840er-Jahre seinen Ruhm und ebneten wohl auch den Weg zum Epos. Von 1846 an war Kreutzwald nämlich verantwortlicher Herausgeber eines bei Laakmann erscheinenden Kalenders, eine Tätigkeit, die er mit einer Unterbrechung von vier Jahren bis 1874 ausführte. In dieser Funktion verfasste er zahllose Beiträge für die Kalender und prägte die frühe Lesekultur entscheidend mit, da der Kalender eine großer Verbreitung hatte und manche

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sogar mehrfach neu aufgelegt wurden, wobei die Gesamtauflage die 18000 Exemplare überschreiten konnte. Verstreut über einige Nummern des Kalenders (1847–48, 1850) erschien Kreutzwalds Reinowadder Rebbane (Reineke Fuchs), der sich an Alexander Friedrich Franz Hoffmanns Die Geschichte von Reineke dem Fuchs (1846) orientierte, weniger wohl an Goethes Reineke Fuchs. Kreutzwald hatte den Stoff fürs Estnische bearbeitet und stellenweise Bezüge zur Gegenwart hergestellt. Dadurch wurde sein Reinowadder auch gelesen als Satire auf die herrschenden Verhältnisse und die Kirche, was dem 1851 als Buch erschienenen Text zu großer Popularität verhalf. Zu Kreutzwalds Lebzeiten sind fünf Auflagen mit annähernd 10000 Exemplaren erschienen. Die zweite wichtige Publikation in dieser Phase war die ursprünglich als Zeitschrift geplante, letztendlich aber nur in fünf Lieferungen à 32 Seiten erschienene Serie Ma=Ilm ja mõnda mis seal sees leida on (Die Welt und so manches, was es darin zu finden gibt, 1849 tatsächlich erschienen, wenngleich meistens 1848–49 als Erscheinungsjahr angegeben wird). Mit dieser ersten populärwissenschaftlichen, reichlich illustrierten Publikation erreichte Kreutzwald, dessen Name freilich wie bei den meisten früheren Werken von ihm in der ganzen Reihe nirgendwo auftaucht, weite Kreise der estnischen Bevölkerung, die dankbar allgemein bildende Texte über technische Neuerungen, historische Ereignisse, fremde Länder und Völker oder wilde Tiere aufnahm. Vorbild für Kreutzwald bzw. den Verleger Laakmann, der für die Textauswahl und -beschaffung verantwortlich zeichnete, war das deutsche Pfennig-Magazin gewesen, das seinerseits dem englischen The Penny Magazine nachempfunden war. Aus Letzterem stammten in den ersten Nummern auch die meisten Holzschnitte, erst für die beiden letzten Nummern konnten einheimische Illustrationen verwendet werden. Die Serie, wenigstens die ersten Nummern, war so erfolgreich, dass die ersten Hefte in einer zweiten Auflage erschienen und einige sogar ins Deutsche und Lettische übersetzt wurden. Nach der Einstellung, über deren exakte Ursachen wenig bekannt ist, wurden noch einmal alle Teile in einem Band und mit einem Register versehen herausgegeben. Diese Ausgabe wurde noch Jahrzehnte später gelesen. Außerdem ist bekannt, dass die ersten Hefte Schullektüre wurden, und hierin mag eine Ursache für die Einstellung des offenkundig nicht ganz erfolglosen Produkts liegen: Es konnte einflussreiche Pastoren gegeben haben, denen der allzu weltliche und aufklärerische Stil der Publikation missfiel (Paatsi 1990). Kreutzwald verlegte sich danach jedenfalls stärker auf Abenteuerromane und publizierte zwischen 1851 bis 1862 drei Teile von Maa ja mere pildid (Land- und Seebilder), von denen die beiden ersten eine leicht bearbeitete Übersetzung von Alexander Friedrich Franz Hoffmanns gleichnamigen Büchern von 1848 bzw. 1849 mit Reportagen über Südafrika und Ceylon sind, während es sich beim dritten um

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eine Bearbeitung von Elisha Kent Kanes Bericht von seiner Reise ins Nördliche Eismeer handelte. 1851 starb Kreutzwalds jüngste Tochter, was direkter Anlass für die Abfassung einer Erzählung war, die in Teilen an Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterleins Wuz (1790) erinnert, ansonsten aber völlig eigenständig war: Paar sammokest rändamise-teed (Ein paar Schritte auf der Wanderschaft, 1853) ist eine der ersten originalen romantischen Erzählungen der estnischen Literatur. Sie steht im Schaffen Kreutzwalds relativ alleine da, denn danach wandte er sich wieder allgemeineren und volkstümlicheren Themen zu. So kam 1857 eine estnische, d.h. teilweise auf estnische Verhältnisse zugeschnittene, Bearbeitung von Marbachs Schildbürgern heraus, die große Verbreitung erreichte und 1878 zum zweiten Mal aufgelegt wurde. Allmählich erfolgte Kreutzwalds Hinwendung zur Volksdichtung, mit der er schon seit seiner Kindheit vertraut war. In Võru fand er in Märt Mohn, der Diener an einer örtlichen Lehranstalt war, nicht nur einen kundigen Sprachmeister, sondern auch eine unerschöpfliche Quelle für Märchen und Sagen. Auch stand er seit 1847 in intensivem Austausch mit Alexander Heinrich Neus (vgl. § 17), mit dem gemeinsam er 1854 Mythische und magische Lieder der Ehsten in einer zweisprachigen und kommentierten Edition herausgab, nachdem Neus bereits in seiner erwähnten dreiteiligen Sammlung viel Material von Kreutzwald verwendet hatte. All diese Arbeiten waren von großer Bedeutung für die Erfassung und Erforschung der estnischen Folklore, wurden aber verständlicherweise in den Schatten gestellt von dem bald folgenden Epos. Vorgeschichte und Entstehung des Kalevipoeg Wenn in der heutigen Wahrnehmung der estnischen Literatur der Kalevipoeg (Sohn des Kalev) allgemein als das estnische Nationalepos betrachtet wird, vergisst man leicht, dass es sich bei diesem Text um die Schöpfung eines einzigen Mannes handelt. Das Epos ist daher mitnichten als »urwüchsige« und »ursprüngliche« Volksdichtung, sondern als künstlich und kunstvoll geschmiedete Versdichtung von Friedrich Reinhold Kreutzwald anzusehen, denn nur ein gutes Achtel – exakt: 2489 von 19 033 Versen, also 13,07 Prozent (Kreutzwald 1963, 243) – des Epos besteht tatsächlich aus Textelementen, die mehr oder weniger auf den Volksmund zurückzuführen sind. Wir haben es also in dem Sinne nicht mit einem »klassischen« Epos zu tun, das als kompakte und kohärente Einheit Jahrhunderte lang mündlich tradiert und erst später aufgezeichnet worden ist. Das war allerdings nie ein Hindernis für die Rezeption und Einordnung des Textes als Nationalepos.

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Die Sage, genauer gesagt verschiedene Sagen und Sagenvarianten, von einem Recken namens Kalevipoeg oder Kalev, dem Vater also, ist sehr alt, eine erste Nennung im Druck fand sich bereits bei Stahell (vgl. § 12) und ist auch aus der finnischen Mythologie bekannt. Nur waren alle im Volksmunde kursierenden Varianten von der Form her Prosa, und erst Kreutzwald hat als Ergebnis eines längeren und komplizierten Entstehungsprozesses hieraus ein Versepos geschaffen. Ferner muss darauf hingewiesen werden, dass die meisten Aufzeichnungen aus Nordestland stammen und der Stoff in weiten Gebieten Südestlands nahezu unbekannt war. Hierauf wies Kreutzwald in seiner Vorrede bereits hin (s. Kreutzwald 1963, 65), und im Epos selbst werden die nordestnischen Landschaften viel häufiger erwähnt als die südestnischen. Die erste Erwähnung des sagenhaften Helden Kalevipoeg tätigte Arnold Friedrich Johann Knüpffer 1817 in einer Fußnote im neunten Heft der Beiträge. Eine schon konkretere Hinwendung zum Sagenstoff war ein Artikel von Gustav Heinrich Schüdlöffel, zu jenem Zeitpunkt Pfarrer in Jõelähtme in der Nähe von Tallinn, in der Zeitschrift Das Inland (1836). Drei Jahre später wurden in der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zwei Vorträge zum selben Thema gehalten: Friedrich Robert Faehlmann (s. § 17), der sich schon seit einigen Jahren mit dem estnischen Sagenstoff beschäftigte, machte als Erster die Mitglieder der Gesellschaft auf die Sage von Kalevs Sohn aufmerksam; und Georg Julius Schultz-Bertram (vgl. § 19) hielt kurz darauf ein glühendes Plädoyer für die Schaffung eines Epos, in dem die alten Mythen der Esten verarbeitet würden, denn – so sein häufig und gerne zitierter Satz: »Geben wir dem Volke ein Epos und eine Geschichte und alles ist gewonnen!« (zit. nach Kreutzwald 1963, 133). Der zweite Satz bezog sich auf die beklagenswerte Unmündigkeit der Esten, die Schultz-Bertram zu beseitigen suchte. Was genau er mit seinem geben im ersten Satz meinte, ist im Nachhinein nicht mehr festzustellen. Vermutlich dachte er an das Übergeben eines einst fertigen, nun lediglich wieder in Ordnung zu bringenden und niederzuschreibenden Textes und nicht an ein Geben im Sinne von Schenken. Geschehen ist jedoch Letzteres. Die Suche nach einem Epos oder Spuren aus einer (glücklicheren?) Vorzeit ist keine spezifisch estnische Erscheinung, sondern typisch für die gesamteuropäische Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Bahnbrechend waren hier die Ideen Herders, sehr wichtig auch James Macphersons Kunstepos Ossian (1765), das man lange Zeit für authentisch gehalten hat. Die Romantik ist gekennzeichnet durch eine derartige »Wurzelsuche«. Beflügelt wurden dahingehende estnische Bemühungen durch die Geschehnisse in Finnland, wo 1835 die erste Version des Kalevala von Elias

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Lönnrot erschienen war. Es muss dahingestellt bleiben, inwieweit estnische Kreise das finnische Epos wirklich gelesen haben, denn für ein Verständnis der komplizierten und archaischen Sprache des Kalevala brauchte man recht profunde Finnischkenntnisse. Immerhin wurde das finnische Epos mehrmals in den 1840er-Jahren auf den Sitzungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft behandelt, und es waren Proben in den Verhandlungen der Gesellschaft erschienen. Dennoch blieben Faehlmanns Pläne und Schultz-Bertrams Vorschläge zunächst folgenlos, weil keiner der beiden genug Zeit hatte, sich der Sache anzunehmen. Faehlmann befasste sich zwar hin und wieder mit dem Thema, aber was dann von ihm nach seinem Tode nachgelassen wurde, legt die Vermutung nahe, dass er an eine deutschsprachige und vorwiegend prosaische Bearbeitung des Sagenstoffes gedacht hatte, bei der nur einige Elemente wie etwa der Anruf (vgl. Lepik 1931, 420) in gebundener Sprache wiedergegeben worden wären. Nach Faehlmanns Tod übertrug die Gelehrte Estnische Gesellschaft Kreutzwald die Aufgabe, die Arbeit am estnischen Epos fortzusetzen. Als langjähriger Freund Faehlmanns war er die passendste Person, außerdem war er eines der angesehensten Mitgleider der Gesellschaft und mit der Materie vertraut. Auch Kreutzwald plante das Werk in Prosa. Das war logisch, weil die Sagen ebenfalls in dieser Form überliefert waren und weil er davon ausging, etwas einstmals Vorhandenes, nun zwischenzeitlich in Vergessenheit Geratenes, wiederherzustellen. Aber es gelang ihm trotz eines öffentlichen Aufrufs zur Mitarbeit nicht, genügend authentisches Material zu bekommen, so dass die Arbeit vorerst stagnierte. Einen neuen Impuls bekam Kreutzwald, als er 1853 eine deutsche Übersetzung des Kalevala in die Hände bekam. Mehr als der Inhalt muss die Form ihn dazu angespornt haben, sein Werk ebenfalls im Metrum der alten ostseefinnischen Volksdichtung abzufassen. Obwohl dies technisch wesentlich aufwändiger war, beflügelte ihn die Idee doch so, dass er der Gelehrten Estnischen Gesellschaft wenige Monate später, im November des gleichen Jahres, eine (unveröffentlicht gebliebene) Urfassung des Kalevipoeg mit 13 817 Versen in zwölf Gesängen und einem Vorspann von vier Gesängen präsentieren konnte. In seinem einführenden Vortrag vor der versammelten Gesellschaft rechtfertigte er seine Formwahl (ohne jedoch auf das Kalevala zu verweisen) und zeigte sich mittlerweile davon überzeugt, »dass vor Jahrhunderten die ganze Kalewi Sage in Liederform im Munde des Volkes gelebt haben muss.« (Kreutzwald 1963, 9) Die Aufnahme dieses Textes war nicht sonderlich positiv, neben scharfer Kritik gab es auch Probleme mit der Zensur, so dass Kreutzwald das Manuskript erst einmal zurückzog. Auch er selbst war wohl noch nicht ganz überzeugt von seinem Produkt und bearbeitete es weiter, strich Passagen und

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fügte neue hinzu. Gleichzeitig erkundigte er sich nach Druckmöglichkeiten in Finnland, wo bessere Zensurverhältnisse herrschten. In Estland schaute man argwöhnisch auf alles, was im weitesten Sinne aufrührerisch war, und was anderes war ein Text, der das Selbstbewusstsein eines unterdrückten Bauernstandes heben sollte oder auch nur konnte? 1855 war die heute bekannte 20-Gesänge-Version mehr oder weniger fertiggestellt. Sie umfasste 19087 Verse und war damit nur unwesentlich kürzer als das Kalevala mit seinen 22 795 Versen. Die Frage des Drucks war aber immer noch nicht geklärt. Schließlich entschied sich Kreutzwald für den Kunstgriff, sein Werk als wissenschaftliche Edition zu tarnen, und er bemühte sich um eine Publikation der ersten Gesänge in einer estnisch-deutschen Parallelausgabe – als Übersetzer gewann er hierzu Carl Reinthal – im Rahmen der Veröffentlichungsreihe der Gelehrten Estnischen Gesellschaft. Dies gelang 1857, und das zeigt, dass auch einflussreiche deutsche Kreise, die in der Gelehrten Estnischen Gesellschaft nach wie vor das Sagen hatten, der Publikation einer alten estnischen Sage positiv gegenüberstanden. Damit waren zwar noch lange nicht alle Probleme überwunden, aber zumindest war mit der Publikation der ersten drei Gesänge im April 1857 ein Anfang gemacht worden. Erneute heftige Kritik ließ das Projekt dann allerdings wieder stagnieren, die nächste Lieferung wurde erst 1858 gedruckt. Außerdem gab es Meinungsverschiedenheiten mit dem deutschen Übersetzer, so dass Kreutzwald die letzten fünf Gesänge schließlich selbst übersetzte und von Schultz-Bertram gegenlesen ließ. Abgeschlossen werden konnte die Unternehmung erst, nachdem einflussreiche Freunde in St. Petersburg für die Verleihung des begehrten Demidov-Preises gesorgt hatten (1860). Die sechste und letzte Lieferung erschien 1861. Eine erste einsprachige, vom Autor geringfügig veränderte Volksausgabe kam ein Jahr später im finnischen Kuopio heraus, die dritte und letzte zu Kreutzwalds Lebzeiten veranstaltete Publikation erfolgte 1876 (ein Teil dieser Auflage trägt das Erscheinungsjahr 1875, die Zensurerlaubnis ist auf den 22. April 1876 datiert, vgl. Laidvee 1964, 14). Bevor auf Bedeutung und Wirkung des Werks eingegangen werden soll, sei im Folgenden ein Überblick über den Inhalt gegeben. Inhalt des Kalevipoeg Im Prolog wird der Sänger Vanemuine angerufen und um Hilfe und Inspiration gebeten. Dies ist eine direkte Entlehnung aus dem Finnischen bzw. dem Kalevala, denn in der estnischen Überlieferung ist eine solche Figur nicht bekannt, während der finnische Halbgott und Schamane Väinämöinen, eine der Hauptfiguren des Kalevala, in der dortigen Volkstradition gut belegt ist. Dem

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Titel der Kalevipoeg-Ausgabe von 1862

Prolog folgt eine Einführung, in der das Publikum auf die kommenden Erzählungen eingestimmt und vorbereitet wird. Gleichzeitig werden einige der Helden des Epos vorgestellt, die im Himmel auf ihre ruhmreichen Taten zurückblicken. Ferner wird die Aufmerksamkeit auf sieben Grabhügel gelenkt, unter denen Trübsal, Knechtschaft, Kriegesqualen, Hunger, Elend, Pest und Krankheit vergraben sind. Diese Gräber gilt es zu pflegen, denn sie bergen die Erinnerungen. Im ersten Gesang wird die Herkunft des Helden beleuchtet und die Ankunft seines Vaters, Kalev, aus dem Norden beschrieben. Er ist einer von drei Brüdern: Die anderen zwei ziehen nach Osten (Russland) bzw. Westen (Norwegen), Kalev wendet sich nach Süden und wird von einem Adler am Strand

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von Nordestland abgesetzt. Zur Geburt eines Menschen bedarf es aber zweier, und so wird ohne Überleitung von einer jungen Witwe erzählt, die ein Küken, ein Krähenjunges und ein Birkhuhnei findet. Sie nimmt sich ihrer an und zieht drei Töchter auf: Das Küken wächst heran zu Salme, aus dem Birkhuhnei entsteht Linda, und das Krähenjunge wird eine nicht näher bezeichnete Magd. Bald treten Freier auf den Plan: Sonne, Mond, Sterne, Wasser, Wind etc., und Salme entscheidet sich für den Sternenjungen. Während ihrer Hochzeit kommen Freier auch zu Linda, die nacheinander eine ganze Reihe von ihnen abweist und schließlich Kalev nimmt. Auch deren Hochzeit wird nun gefeiert. Der zweite Gesang berichtet kurz über die zahlreichen Söhne von Linda und Kalev, dann erkrankt Kalev und stirbt, während Linda mit seinem letzten Sohn, über den der Vater schon allerlei Positives und Heldenhaftes vorauszusagen wusste, schwanger geht. Nach dem Tod von Kalev vergießt Linda ein Meer von Tränen, das ausreicht, um einen See in der Nähe von Tallinn zu füllen, während sie Steine für das Grab ihres Mannes zusammenträgt. Diese Steine, d.h. das Grab von Kalev, formen später den Domberg im Herzen von Tallinn. Danach setzen bald die Wehen ein, und in einer schweren Geburt kommt Lindas und Kalevs letztes Kind, Kalevipoeg (Sohn des Kalev), zur Welt. Gleich seinem Vater ist Kalevipoeg mit enormen Kräften ausgestattet, zerreißt frühzeitig seine Windeln, entwurzelt im Spiel kleine Bäume und wächst zum Recken heran. Währenddessen kommen immer wieder Freier zu Linda, unter ihnen auch der finnische Zauberer, doch Kalevipoegs Mutter weist sie alle ab. Der dritte Gesang sieht Kalevipoeg mit seinen Brüdern gemeinsam auf die Jagd gehen, wobei sie viel Spaß haben und ausgelassen singen. Ihre Abwesenheit von zu Hause wird jedoch vom finnischen Zauberer genutzt, der seine Abweisung durch Linda nicht hat verwinden können. Er kommt erneut nach Estland, ergreift die sich heftig widersetzende und laut um Hilfe rufende Linda und will sie nach Finnland entführen. Uku, der höchste Gott im Himmel, auch Donnergott genannt, erhört Lindas Flehen und schickt ein Unwetter, in dessen Folge der Finne von einem Ohnmachtsanfall niedergestreckt wird. Damit ist Linda zwar gerettet, aber auch für sie waren die Strapazen zu groß, sie stirbt und erstarrt zu einem Fels. Als der Finne aus seiner Ohnmacht erwacht, findet er sein Opfer nicht mehr und muss unverrichteter Dinge nach Hause ziehen. Nun kommen die Brüder von der Jagd und finden ihr Zuhause leer, sie schwärmen sofort in alle Himmelsrichtungen aus und suchen ihre Mutter. Als das erfolglos ist, erahnt Kalevipoeg, dass der finnische Zauberer sich Lindas bemächtigt haben könnte und geht zum Grab seines Vaters, um ihn um Rat zu fragen.

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Im vierten Gesang schwimmt Kalevipoeg nach Finnland, wo er den Entführer seiner Mutter und auch seine Mutter selbst vermutet. Auf dem Weg dorthin macht er Halt auf einer Insel und wird dort von dem Gesang eines jungen Mädchens betört. Daraufhin erwidert er den Gesang, trifft sich mit dem Mädchen, und bald entbrennen beide in heißer und fleischlicher Sehnsucht zueinander, der sie auch nachgeben. Vom Schreien ihrer Tochter werden die Eltern aufgeschreckt, und der Vater eilt herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Auf seine Frage hin stellt sich Kalevipoeg brav vor, woraufhin das Mädchen erbleicht, von Verzweifelung ergriffen an den Rand des Felsens gleitet und (sich?) in die Tiefe stürzt. Kalevipoegs Rettungsversuch bleibt erfolglos, und er begibt sich nach kurzem Abschied auf die Weiterreise. Nun holt der Inselvater seine Frau, die den Grund des Meeres absucht, aber statt ihrer Tochter findet sie nur ein Adlerei, einen Eisenhut, Baumreste und anderes. Dann erklingt vom Meeresgrund ein langes und rätselhaftes Lied der Inseltochter, das den Eltern ihren Tod zu erklären versucht. Man kann erahnen, dass ihr Verhältnis mit Kalevipoeg inzestuöser Art war, wenngleich dies erst im siebten Gesang explizit gemacht wird. Im fünften Gesang ist Kalevipoeg in Finnland eingetroffen und begibt sich nach einem Kraft spendenden Schlaf auf die Suche nach dem Zauberer. Es dauert eine Zeit, bis er dessen Zuhause gefunden hat. Dort angekommen, bezwingt er nacheinander alle vom Zauberer zu Hilfe gerufenen Geister und Krieger und hat auch kein Erbarmen mit dem um Gnade flehenden Zauberer selbst, der ihm genau berichtet, wie sich sein misslungener Raub abgespielt hat. Doch Kalevipoeg glaubt ihm kein Wort, erschlägt ihn und sucht danach vergeblich im Hause des Zauberers nach seiner Mutter. Nun bereut er, dass er den Zauberer kurzerhand erschlagen hat, ohne ihm das Versteck seiner Mutter entlockt zu haben. Erst im sich daran anschließenden Traum – denn der Kampf war so ermüdend, dass der Held sich danach schlafen legen musste – erfährt Kalevipoeg, dass seine Mutter tot ist. Eingeschoben ist hier ferner noch der erste Teil der Sage von der großen Eiche: Die Eltern der Inselmagd pflanzen die aus dem Meer gefischte Eiche ein, und sie wächst bis zum Himmel. Weiterhin in Finnland spielt der sechste Gesang. Der Held möchte sich vor seiner Rückkehr ein Schwert kaufen und begibt sich auf die Suche nach dem berühmten finnischen Schmied. Dort eingetroffen, probiert er verschiedene ihm angebotene Schwerter aus, schlägt sie bei einem Probeschlag aber jeweils kaputt. Schließlich bringt ihm der Schmied ein besonderes, und besonders teures, Stück, von dem sich herausstellt, dass es seinerzeit von Kalevipoegs Vater, also Kalev, in Auftrag gegeben worden ist, infolge dessen Tod aber liegen geblieben ist. Dieses Schwert hält allen Prüfungen stand, so dass

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Kalevipoeg zufrieden ist und der Kauf besiegelt wird. Zur Feier des getätigten Handels wird ein Festmahl veranstaltet, bei dem reichlich Alkohol fließt und es zu einer schweren Konfrontation zwischen Kalevipoeg und dem Sohn des Schmieds kommt. Kalevipoeg hat mit seinem amourösen Abenteuer auf der Insel geprahlt, was den Sohn des Schmieds, der der Bräutigam der Inseltochter war, außerordentlich empört hat. Im sich anschließenden Streit zieht Kalevipoeg sein Schwert und tötet den Sohn. Der entsetzte Schmied verflucht daraufhin das Schwert: Möge es einst seinen Träger töten. Am Ende folgt eine Fortsetzung des im fünften Gesang begonnenen Eichenlieds. Die Eiche, die so groß geworden ist, dass sie Sonne und Mond verdeckt, muss gefällt werden, wozu der Alte von der Insel händeringend einen fachkundigen Holzfäller sucht. Den findet er erst in Gestalt eines Däumlings, der unter dem Flügel eines Adlerjungen gefangen war und nach seiner Befreiung zu einem Hünen emporschnellt, dem das Fällen der Eiche innerhalb von drei Tagen auch gelingt. Vom Holz der Eiche werden viele nützliche Dinge gebaut, während der Stamm eine Brücke zwischen Finnland und Estland bildet. Der siebte Gesang führt Kalevipoeg nach Estland zurück. Während der Überfahrt ertönt vom Grunde des Meeres ein Lied von seiner Schwester, in dem sie sich zu erkennen gibt und die im fünften Gesange erfolgte Blutschande explizit macht. Auch beklagt sie die Untat ihres Bruders in Finnland, der daraufhin von Kummer ergriffen wird. An Land gekommen, hört er auf dem Nachhauseweg ein Elfenlied, hinter dem er seine Mutter erkennt, und er begreift, dass sie tot ist. Zu Hause berichten ihm die Brüder von ihren Abenteuern bei der erfolglosen Suche nach der Mutter, während Kalevipoeg von seinen Erlebnissen erzählt, dabei aber die negativen Elemente wie die Verführung und den Totschlag wohlweislich verschweigt. Sodann beschließen die Brüder, am nächsten Tag zur Königswahl zu schreiten. Kalevipoeg begibt sich daraufhin abermals zum Grab seines Vaters, wo er Trost und Stärkung sucht. Im achten Gesang machen sich die Brüder auf den Weg in den Wald und suchen einen geeigneten Platz für ihren Wettbewerb, mit dessen Hilfe sie unter sich den König ausmachen wollen. Unterwegs kommen sie an einem Hof vorbei, wo die Eltern ihre Töchter den vermeintlich auf Freiersfüßen durchs Land ziehenden Jünglingen anbieten wollen, aber diese haben anderes im Sinn und sind noch nicht reif für die Ehe. Bald finden sie einen geeigneten Ort an einem See, suchen drei Steine und beschließen, dass derjenige König wird, der seinen Stein am weitesten wirft, und dass die beiden Verlierer ohne Groll das Land verlassen sollen. Der älteste Bruder wirft den Stein in den See, der zweite an den Rand des Sees am gegenüberliegenden Ufer, Kalevipoeg weit über den See hinaus. Damit wird er König und macht sich sofort an die Arbeit, die erst einmal darin besteht, das Land urbar zu machen. Von dieser

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Arbeit ermüdet, sinkt er nach drei Tagen in einen tiefen Schlaf. Auch sein ermüdetes Pferd, dem Kalevipoeg die Beine zusammengebunden hat, damit es nicht zu weit fortläuft, will sich ausruhen, wird aber von Wölfen und Bären angefallen und zerrissen. Als Kalevipoeg im neunten Gesang erwacht und den Verlust seines Pferdes feststellen muss, rächt er sich zornig an den Tieren des Waldes. Dann legt er sich erschöpft wieder hin, wird aber, noch bevor er eingeschlafen ist, von einem Boten aufgeschreckt, der ihm die Nachricht von einem drohenden Kriege überbringt, denn vom Meer her habe man Feinde erspäht. Kalevipoeg gibt Ratschläge, wie man das Land zu verteidigen habe. Hier findet sich auch der berühmte Satz, dass nur diejenigen aus dem Krieg heimkehren werden, die sich in der Mitte halten. Dann will er sich wieder zum Schlafen umdrehen, doch erneut wird er von einem Ankömmling gestört, den er unter Hinweis auf seine getane Arbeit barsch auf den nächsten Tag vertrösten will, doch der lässt sich nicht abweisen. Es ist, stellt sich heraus, der alte Taara selbst, der Kalevipoegs Arbeit auf der Erde betrachten will, ihm freundlich Anweisungen gibt und zum Schluss auch noch weissagt. Nach dem endlich genossenen Schlaf schickt Kalevipoeg den Kriegsboten zurück an die Küste und verspricht, selbst zu kommen, wenn der Krieg sich ausdehnt. Am Ende erfolgt ein Monolog des Kriegsboten, dem auf seinem Weg zurück allerlei Tiere begegnen, die seine unheilsvolle Kriegsbotschaft erahnen und sofort weiterverbreiten bzw. die aufgrund seiner Botschaft erst in Erscheinung treten, weil sie Beute wittern; schließlich treten noch Hunger und Pest auf den Plan. Hiervon wird er dermaßen entmutigt, dass er haltmacht und seine Kriegsbotschaft vernichtet, weil er das Volk nicht auf diese Art und Weise aus dem Frieden aufrütteln will. Im zehnten Gesang begibt sich Kalevipoeg auf die Suche nach einem neuen Pferd. Dabei kommt er am Sumpf von Kikerpära vorbei, wo sich zwei Satanssöhne nicht über die Abgrenzung ihrer Herrschaftsgebiete einig werden können und Kalevipoeg um Schlichtung des Streits bitten. Er lässt seinen Gehilfen, Alevipoeg, den Sumpf vermessen und eine Grenze festlegen, während er selbst weiterzieht. Während Alevipoeg bei der Arbeit ist, erscheint neugierig der Wassergeist aus der Tiefe und verspricht ihm reiche Entlohnung, wenn er seinem Sumpfe die Wasserzufuhr nicht absperre, was zu tun Alevipoeg vorgegeben hatte. Daraufhin erbittet sich Alevipoeg einen Filzhut voll Gold. In der Nacht gräbt er eine Grube, auf die er einen durchstochenen Hut setzt, so dass der Wassergeist am nächsten Morgen vergeblich versucht, den Hut zu füllen, und alle seine Schätze verliert. Mit einer List versucht der Wassergeist nun, seinen Widersacher zu sich nach unten zu locken, doch Alevipoeg schickt stattdessen den Fersenknaben des Kalevipoeg. Diesen verlässt

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jedoch bald der Mut, und mit List und Tücke kann er aus der Hölle entfliehen. Aber der Wassergeist verfolgt ihn und stellt ihn zum Ringkampf. Da treffen Kalevipoeg und Alevipoeg ein, die den Schatz, der unter anderem für die Bezahlung des finnischen Schwerts verwendet wird, mittlerweile weggeschafft haben. Anstelle des Fersenknaben übernimmt Kalevipoeg das Kräftemessen mit dem Wassergeist, was er mühelos gewinnt. Danach ruht er sich aus und überlegt sich dabei, dass er zur Verteidigung seines Volkes Städte bauen will, wozu er Bauholz benötigt. Also begibt er sich nach Osten, um Bretter zu holen. Am Schluss ist eine Episode eingefügt, in der die Wetterjungfrau ihren Ring im Brunnen verliert und Kalevipoeg hinabsteigt, um ihn zu holen. In dem Moment wollen ihn seine Widersacher vernichten und werfen einen Mühlstein in den Brunnen, doch Kalevipoeg kommt mit dem Mühlstein am Finger wieder nach oben. Im elften Gesang kommt Kalevipoeg mit einer Ladung Bretter durch den Peipsisee zurück und trotzt dem vom Zauberer des Sees entfachten Sturm. Danach ist er so erschöpft, dass er sich schlafen legt. Während des Schlafs entwendet ihm der Zauberer mit Magie und Mühe das Schwert, kann es aber nicht weit tragen, im Kääpabach entgleitet es ihm und ist nicht mehr vom Boden des Flüsschens wegzubewegen. Als Kalevipoeg aufwacht und das Fehlen seines Schwertes bemerkt, macht er sich auf die Suche und findet es auch. Er unterhält sich lange mit ihm, kann es aber nicht dazu bewegen, sich vom Boden des Baches zu erheben und sich von ihm mitnehmen zu lassen, denn das Schwert zürnt ihm, weil Kalevipoeg mit ihm eine unüberlegte Bluttat begangen hat. Grollend belegt Kalevipoeg nun das Schwert mit einem Fluch: Wer es einst getragen habe – und dabei denkt er an den Dieb – möge durch das Schwert auch umkommen. Dann begibt er sich mit seiner Bretterladung weiter und trifft noch ein kleines verängstigtes Männchen im Wald, das sich verirrt hatte, bei zwei Riesen gelandet und nun aber glücklich geflohen war. Er steckt es in seinen Beutel. Im zwölften Gesang ist Kalevipoeg noch immer mit den Brettern unterwegs und wird von den Söhnen des Wassergeistes angefallen, bei deren Bekämpfung er ein Brett nach dem anderen zerschlägt, bis ihm jemand aus dem Unterholz zuflüstert, dass er mit der Kante schlagen müsse. Daraufhin erwehrt er sich einer Widersacher und belohnt seinen Ratgeber, einen nackten Igel, mit einem Stück von seinem Fellmantel. Das Männchen, das er im elften Gesang in seinen Beutel gesteckt hat, hat den Kampf nicht überlebt. Kalevipoeg begräbt es. Völlig ermattet fällt er danach in einen Schlaf, der durch Intervention des Zauberers sieben Wochen dauert und mit Alpträumen angefüllt ist. Wieder erwacht, beschließt er angesichts der dezimierten Bretterlast die Rückkehr zum Peipsisee, um neue Bretter zu holen. Unterwegs tötet

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er einen Wolf, der schon ein Schaf im Maul hatte. Am See selbst beginnt er mit dem Bau einer Brücke, um der Mühsal des letzten Mals vorzubeugen. Das misslingt, sie wird im Sturm weggerissen. Also wandert er doch durch den See und fängt dabei Krebse. Am Schluss ist noch eine Episode angefügt, in der erzählt wird, wie ein geknechteter Waisenknabe aus einem Lerchenei ein Schaf bekommt. Der dreizehnte Gesang führt Kalevipoeg mit einer neuen Bretterladung nach Hause. Dabei lauscht dieser dem Lied der Elster, die ihn über seine Königspflichten auf dem Laufenden hält. Auch lernt er von einer alten Frau Schlangenbeschwörungsworte. Nach einer Verschnaufpause wandert er weiter und trifft auf drei Männer, die am Eingang der Hölle für den Teufel kochen. Sie weisen Kalevipoeg den Weg in die Unterwelt. Dort hört er das traurige Lied der Höllenmagd, die ihn alsbald aber über die Geheimnisse der Hölle aufklärt und ihm einige Kniffe beibringt, mit deren Hilfe Kalevipoeg besondere Kräfte erlangt. Auch gibt sie ihm einen Fingernagelhut, der einen an einen anderen Ort zaubern oder sein Äußeres verändern lassen kann. Dann wird die Höllenalte in der Küche eingesperrt. Die Höllenmagd ruft ihre Schwestern herbei, und es wird ausgelassen ein Fest gefeiert. Im vierzehnten Gesang unternimmt Kalevipoeg nach dem Fest mit den Mägden einen Rundgang durch die Unterwelt, wo es verschiedene Zimmerfluchten in Eisen, Kupfer, Silber und Gold, aber auch in Seide, Samt und Spitzen gibt. Die Mägde zeigen ihm alles und eröffnen ihm, dass sie edlen Geschlechts seien, hier aber als Pflegetöchter vom Teufel gefangen gehalten werden. Kalevipoeg wartet dann auf den Teufel, stellt ihn zum Kampf und besiegt ihn durch eine List der gefangenen Pflegetöchter. Nach dem Sieg verlässt er mit reicher Beute und gemeinsam mit den nun befreiten Mägden die Unterwelt und kehrt zu seinen Brettern am Eingang der Höhle zurück, von wo aus er den Weg mit den Mägden fortsetzt. Zum Entsetzen der Mägde verbrennt er vor der Höhle den Fingernagelhut mit dem Hinweis darauf, dass nun goldene Zeiten angebrochen seien. In Gesang fünfzehn kommen die Verfolger aus der Unterwelt heraus, aber Kalevipoeg kann sie mit erneuter Hilfe der Mägde abschütteln und dem Alten aus der Unterwelt danach in aller Ruhe berichten, was er aus der Hölle alles mitgenommen hat. Während des danach notwendigen Schlafes wird Kalevipoeg von der Körperflüssigkeit einer Zauberertochter beinahe ertränkt, kann diesem Schicksal aber durch einen gezielten Steinwurf, mit dem er die Quelle schließt, entkommen. Sodann tritt Olevipoeg auf und setzt den von Kalevipoeg begonnen Plan des Städtebaus in die Tat um. Das weitere Schicksal der Mägde, die Alevipoeg, Sulevipoeg und Olevipoeg heiraten, wird ausführlich beschrieben.

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Der sechzehnte Gesang kommt mit einem völlig neuen Thema: Kalevipoeg will nun auf dem Wege der Weisheit fortschreiten und ans Ende der Welt fahren. Hierzu baut er sich ein Schiff und begibt sich auf die Reise. Unterwegs zum Ende der Welt trifft er den Lapplandweisen Varrak und nimmt ihn nach dem Versprechen reichlicher Entlohnung als Lotsen an Bord. Obwohl allerlei Hindernisse überwunden und Widersacher geschlagen werden, muss Kalevipoeg einsehen, dass er das Ende der Welt nicht erreichen kann. Er kehrt, um einige Erfahrungen reicher geworden, nach Hause zurück. Im siebzehnten Gesang tauft Kalevipoeg die von Olevipoeg fertig gestellte Stadt Lindanisa (d.i. eine der alten Namen Tallinns). Dann bricht erneut Krieg über das Land herein. Kalevipoeg schlägt in der Schlacht von Assamalla die Feinde in die Flucht, verliert aber sein Pferd im Sumpf, als er den Feinden nachsetzt. Danach zieht er mit Alevipoeg, Olevipoeg und Sulevipoeg durchs Land und trifft erneut auf einen Höhleneingang, vor dem eine Alte Suppe kocht. Sie nehmen ihr die Arbeit ab und wechseln sich in der Bewachung des Suppentopfes ab. Dabei werden sie der Reihe nach von einem Männchen mit einer Glocke um den Hals überlistet, das ihnen jedes Mal die Erlaubnis abluchst, einen Löffel zu probieren, dabei aber im Nu den ganzen Kessel leerschöpft. Kalevipoeg gelingt es dann, dem Männchen das Glöckchen zu entwenden, wodurch er dessen übernatürliche Kräfte bannt. Danach essen sie die Suppe, legen sich schlafen und werden vom Tanz der Grasjungfrauen eingeschläfert. Im achtzehnten Gesang macht sich Kalevipoeg zum zweiten Mal zu einem Besuch der Unterwelt auf, wobei er mit Hilfe des Göckchens viele Hindernisse überwindet. Er stößt auf die Gehilfen des Teufels, die er nach und nach alle besiegt. Endlich trifft er auf den Herrn der Unterwelt selbst, der ihn des Diebstahls während seines vorigen Unterweltbesuches bezichtigt und zum Zweikampf herausfordert. Dieser Zweikampf wird im neunzehnten Gesang ausgetragen und dauert sieben Tage und sieben Nächte. Am Ende bezwingt Kalevipoeg den Herrscher der Unterwelt definitiv und fesselt ihn. Mit reicher Beute verlässt er die Unterwelt, von den Verwünschungen der Teufelsmutter begleitet, und feiert ein großes Fest, im Land bricht eine Periode von Wohlstand und Glück an. Sie endet erst, als erneut Kriegsnachrichten gebracht werden. Auch tritt der Lapplandweise in Erscheinung und fordert seinen Lohn für die seinerzeit gegebenen Ratschläge. Der soll in einem Buch der Weisheit bestehen, das ihm Kalevipoeg auch gerne entgegen den Warnungen von Sulevipoeg und Olevipoeg abtritt. Am Schluss kann Kalevipoeg nicht einschlafen und sucht das Grab seines Vaters auf, ohne jedoch diesmal irgendeine Botschaft von dort mitnehmen zu können.

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Im letzten und zwanzigsten Gesang werden hastig Vorbereitungen für den Krieg getroffen. Der Schatz wird vergraben, die Truppen werden aus allen Winkeln des Landes zusammengerufen. In der nun folgenden heftigen Schlacht gegen die Ritter im Eisenkleid verliert Kalevipoeg erneut sein Pferd, Sulevipoeg stirbt im Kampf, Alevipoeg ertrinkt vor Erschöpfung, als er sich an einem See laben will. Kalevipoeg übergibt die Herrschaft an Olevipoeg und zieht sich betrübt in die Einsiedelei zurück. Dort wird er von drei Abgesandten der eindringenden Macht besucht, die ihm ein Friedensangebot machen, ihn aber hinterrücks ermorden wollen. Kalevipoeg durchschaut dies und vernichtet seine Gegner in aufbrausender Wut kurzerhand. Einen weiteren Abgesandten schickt er höhnend zurück. Missmutig zieht Kalevipoeg daraufhin weiter fort und gelangt an den Kääpabach, ohne daran zu denken, dass dort sein mit einem doppelten Fluch beladenes Schwert ruht. Als er in den Bach steigt, schneidet ihm das Schwert beide Beine ab, und Kalevipoeg stirbt. Seine Todesschreie erreichen den Himmel, wo man sich eine neue Aufgabe für den Helden ausdenkt: Fortan soll er vor dem Höllentor auf einem Pferd sitzend den Gehörnten bewachen, auf dass dieser nie mehr Unheil auf der Welt anrichten könne. Bedeutung und Interpretation des Kalevipoeg Schon dieser Inhaltsangabe, die alle Schnörkel und Wiederholungen des Textes übergeht, lässt sich entnehmen, dass das Epos nicht gerade aus einem Guss ist. Ebenso kann man die Vielschichtigkeit und Komplexität des Ganzen erahnen, was zu einer reichen Sekundärliteratur geführt und die verschiedensten Personen zu Essays und Untersuchungen inspiriert hat. Ganz zu schweigen von den Folgewerken, die das Epos in der estnischen Literatur hervorgerufen hat, und der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung, worauf im folgenden Abschnitt eingegangen wird. Anstelle einer detaillierten Gesamtinterpretation, die im Rahmen des vorliegenden Buches nicht geleistet werden kann, soll hier eine grobe Einschätzung des Werkes erfolgen sowie auf einige Besonderheiten oder Auffälligkeiten hingewiesen werden. Allem voran ist zu betonen, dass Kreutzwalds Epos stärker als manch anderes Kunstwerk von der Funktion her zu betrachten ist. Es entsprach weit weniger dem Mitteilungsbedürfnis eines Individuums als der Forderung der Zeit, etwas Derartiges vorzulegen, bzw. sogar der Notwendigkeit, wollte man als Volk fürderhin mitreden oder erst einmal ein Volk werden. Diese Zeichen der Zeit hatten mehrere Personen in Estland erkannt, Kreutzwald war sicher nicht der Einzige, wie aus der dargestellten Entstehungsgeschichte des Epos hervorgeht. Allerdings heißt das nicht, dass je-

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der andere das Werk ebenso hätte verfassen können. Gerade aufgrund des geringen Anteils an authentischer Folklore bleibt der Kalevipoeg ein sehr individuelles Kunstwerk und dadurch in erster Linie Kreutzwalds und niemandes anderen Schöpfung. Dies ist der Hauptunterschied zum finnischen Kalevala, mit dem der Kalevipoeg wegen des Gleichklangs des Namens, der Nähe der beiden Sprachen und Länder sowie der Übereinkunft einiger Handlungselemente immer wieder verglichen worden ist. Zwar ist auch das Kalevala das Werk eines Urhebers, d. h. die Gesamtheit ist niemals so an einem Stück vorgetragen worden, aber Lönnrots Eigenanteil wird auf gerade mal drei Prozent beziffert. Er war also viel mehr kunstvoller Komponist authentischen Materials und viel weniger Autor als Kreutzwald. Aber die Unterschiede zum finnischen Epos sind auch inhaltlich bedeutend und letztendlich die Ursache für den ungleich größeren Erfolg des Kalevala, das in beinahe 60 Sprachen übersetzt ist, während der Kalevipoeg bis heute in vollständiger Form nur in elf Sprachen vorliegt. Die Differenz liegt nicht nur im größeren Bekanntheitsgrad Finnlands. Das Kalevala kommt wesentlich wortgewaltiger und magischer daher, während der Kalevipoeg stellenweise ziemlich profan und bieder ist. Wo im Kalevala mit Worten gekämpft wird und sich die Gegner einander in den Sumpf singen, werden im Kalevipoeg die Klingen gekreuzt und es fließt ganz normales Blut. Ursache hierfür ist selbstverständlich die unterschiedlich verlaufene Geschichte der beiden Brudervölker. Auch im Kalevipoeg gibt es ausreichend Übernatürliches und Magisches, aber die im Endeffekt stärkere Zauberkraft kommt interessanterweise aus Finnland. Kreutzwald selbst hat in einer Fußnote zu seiner 1869 separat erschienenen Inhaltsangabe des Epos darauf hingewiesen: Bekanntlich hatte der finnische Schmied nach der an seinem Sohn erfolgten Bluttat das Schwert des Kalevipoeg mit einem Fluch belegt (6. Gesang). Als dem Helden im 11. Gesang das Schwert entwendet worden ist und er es trotz guten Zuredens nicht aus dem Bach emporheben kann, verflucht auch er seine Waffe. Dabei verhaspelt er sich aber, weil – so Kreutzwalds Erklärung – die Macht des finnischen Zauberers so weit reichte, dass sie die Worte von Kalevipoeg verwirren könne. Der habe nämlich eigentlich sagen wollen, das Schwert möge denjenigen töten, der es zuvor hierher getragen habe (… kes sind enne siia kandnud …), womit eindeutig gewesen wäre, wen er meinte, nämlich den Dieb; stattdessen habe er aber gesagt, es möge denjenigen töten, der es zuvor selbst getragen (… kes sind enne ise kandnud …) habe (Kreutzwald 2003, 44), was dann später bekanntlich Kalevipoeg selbst zum Verhängnis wird. Eine Kleinigkeit, gewiss, aber auch ein subtiles Indiz für die Anerkennung einer höheren Macht. Im übertragenen Sinne kann man dies auch als Reverenz an

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Finnland lesen, oder gar als Eingeständnis der eigenen Schwäche gegenüber dem nördlichen Nachbarn, auf dessen Erfolge im Bereich der eigenen Kultur man in Estland durchaus neidisch war. Trotz der erwiesenen Unterschiede zum Kalevala ist das Epos immer noch keine blutrünstige Heldengeschichte und hebt sich deutlich genug von vielen anderen europäischen Epen ab. Es hat auch gewisse pazifistische Züge, wenn man an das traurige Lied des Kriegsboten aus dem 9. Gesang denkt, der sich weigert, die Kriegsbotschaft zu überbringen, weil es ihn zu sehr schmerzen würde, das Volk in seinem Frieden zu stören. Zweimal findet das aus der Volksdichtung bekannte und ursprünglich aus dem slawischen Raum stammende (Oinas 1969, 111) Motiv Verwendung, demzufolge diejenigen aus dem Krieg heimkehren, die sich in der Mitte halten (9. und 20. Gesang), ein Rat, den Bertolt Brecht via Hella Wuolijoki aus dem Estnischen für seinen Kaukasischen Kreidekreis (Grusches Lied in der 4. Szene) übernommen hat. Die Betonung der Todesgefahr im Krieg und der Hinweis darauf, wie man am besten nach Hause kommt – und nicht etwa darauf, wie man seinen Gegner am besten tötet –, ist im weitesten Sinne auch pazifistisch zu nennen. Und schließlich sei darauf hingewiesen, dass das Böse am Ende nicht vernichtet, sondern lediglich gebändigt wird. Eine wirkliche Auffälligkeit bei Kalevipoeg, der ansonsten schon Gemeinsamkeiten mit vielen epischen und literarischen Helden seiner Art aufweist – schwere Geburt, übermäßige Körperkräfte, Fähigkeit zum Besuch anderer Welten –, ist sein extremes Schlafbedürfnis. Sieht man von den ersten drei Gesängen ab, die überdies mehr von seiner Mutter Linda als von ihm handeln, ist in fast jedem Gesang explizit eine Ruhepause eingeflochten. Nur zweimal, beim ersten Besuch in der Unterwelt (14. Gesang) und bei der Reise ans Ende der Welt (16. Gesang), kommt Kalevipoeg ohne Schlaf aus. In allen anderen Gesängen muss er sich stets ausgiebig von seinen Strapazen erholen, wobei der Schlaf durch fremde Mächte in die Länge gezogen werden kann. Auch gibt es im Schlaf manchmal gute Ratschläge, andererseits gereicht ihm seine Veranlagung auch zweimal sehr zum Nachteil, wenn ihm nämlich das Pferd (8. Gesang) und das Schwert (11. Gesang) abhanden kommen. Damit hat der Held sehr menschliche Züge, was ihn wiederum von vielen traditionellen Epenhelden abhebt. Kreutzwald zeigt das ziemlich drastisch, indem er seinen Helden im Rausch einen Totschlag begehen lässt. Hier folgt er aber nur der Sage (Karttunen 1905, 83), denn auch im Volksmund hatte der Held diese menschlichen Züge. Über ganz Estland verbreitet liegen Findlinge herum, die der Recke einst dorthin geschleudert haben soll, und es gibt zahlreiche Orte, an denen der Held geschlafen hat (vgl. die instruktive

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Karte bei Valk 2004, 318–319). Interessanterweise ist der Kalevipoeg der mündlichen Überlieferung aber ansonsten auch ein rechter Rohling und nicht unbedingt der arbeitsame und etwas einfältige Herrscher seines Volkes. Hierzu hat ihn erst Kreutzwald gemacht. Es ist noch viel mehr in das Epos hineininterpretiert und aus dem Epos herausgelesen worden, wie man es bei einem so weit verbreiteten Text erwarten kann. An dieser Stelle müssen wir uns mit dem Hinweis auf die gute bibliographische Erfassung von Kreutzwalds Werk begnügen, die den Weg zu weiterer Literatur erleichtert (vgl. Laidvee 1964 und 1978, Kabur 1982, Ritson 2004). Nachwirkung des Kalevipoeg Noch 1853, in seiner Begleitschrift zu der der Gelehrten Estnischen Gesellschaft vorgelegten ersten Version des Epos, zeigte sich Kreutzwald alles andere als bescheiden, was die Einschätzung seines magnum opus betraf. Verkappt als Hinweis auf das Copyright schrieb er: »Da dieses das Hauptwerk meines Lebens ist, das man nach 1000 Jahren, wie heutiges Tages den Homer auch bei solchen Leuten überall in den Bibliotheken vorfinden wird, die kein Jota von der Sprache verstehen, so muss ich bei Lebzeiten solche Anordnungen treffen, dass mein künftiges Geschlecht die Leist[ung] seines grossen Vorfahren überall ungeschmälert geniesse.« (Kreutzwald 1963, 15f.). Vier Jahre später, als die erste Lieferung tatsächlich erschien, klang es schon anders – offenbar hatten ihn die dazwischenliegenden Mühen doch pessimistischer werden lassen: »Jetzt, da die Arbeit fertig vor mir liegt und ihr Anfang so eben in die Welt treten soll, erkläre ich, dass die Concurrenz zur Abfassung eines Estnischen Nationalepos, wie es Dr. G. Schultz im Geiste sich abgebildet hatte, für Jedermann offen bleibt. Mein Kalewipoeg wenigstens macht nicht den geringsten Anspruch an so hochtrabenden Titel und will kein poetisches Kunstwerk sein, sondern nur eine Sammlung von wirklich im Munde des Volkes lebenden Sagen, die ich versucht habe in einer gewissen Ordnung an einander anzureihen.« (Kreutzwald 1963, 71). Kreutzwald war, ganz im Gegensatz zum begeisterten Schultz-Bertram, gar nicht so sehr davon überzeugt, dass es mit der estnischen Literatur noch etwas werden würde. Die Wahl der Form der genuinen estnischen Volksdichtung begründete er damit, dass »wir … bis jetzt noch keine genuine Estnische Prosa besitzen und, so wie die Sachen stehen, auch wohl in Zukunft nie besitzen werden.« (Kreutzwald 1963, 69). Aus diesem Blickwinkel betrachtet war die Schaffung eines Epos wie des vorliegenden ein absurder Akt, die Errichtung eines Denkmals für etwas dem Untergang Geweihtes (vgl. Undusk 2004).

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In den ersten Jahren nach dem Erscheinen sprach auch tatsächlich nichts dafür, dass hier eine Änderung eingetreten sei. Der dreieinhalb Rubel teure und zudem innerhalb einer wissenschaftlichen Reihe erschienene Text ging erst einmal am Volk vorbei. Zwar waren die 500 gedruckten Exemplare vergleichsweise schnell, nach fünf bis zehn Jahren, vergriffen, aber ihre Verbreitung beschränkte sich auf die intellektuelle Oberschicht und das Ausland. So ähnlich muss es auch Jannsen gesehen haben, als er 1862 in seinem Postimees beiläufig auf das annähernd 1000 Seiten umfassende zweisprachige Werk hinwies und betonte: »Obwohl es nicht für die Esten geschrieben ist, ist das Werk doch eine große Schatzkammer der estnischen Sprache, die ein verständigerer Mensch nicht ungelesen lassen sollte, wenngleich auch die Sprache für jene schwerfällig ist, die sie nicht sehr gewöhnt sind.« (zit. nach Kampmann 1911, 462). Vielleicht nahm man das Epos wirklich als Monument und Sprachdenkmal wahr und nicht so sehr als Kunstwerk; dafür spricht auch, dass die 1861 parallel angefertigte einsprachige deutsche Ausgabe in gleicher Auflagenhöhe kein Verkaufsschlager wurde, sie war sogar noch nach dem Ersten Weltkrieg in Estland zu haben (Annist 1936, 195 bzw. 2005, 549). Verständlicherweise bemühte sich Kreutzwald sehr schnell um eine preiswertere und einsprachig estnische Ausgabe. Hiervon wollte man in der Gelehrten Estnischen Gesellschaft jedoch nichts wissen, so dass Kreutzwald nach Finnland auswich und auf eigene Initiative in Kuopio 1862 eine Volksausgabe des Kalevipoeg drucken ließ. Sie war mit einem Preis von 50 Kopeken zwar wesentlich erschwinglicher, aber von einem echten Verkaufsschlager konnte auch jetzt noch nicht die Rede sein. »Sie erkundigen nach dem Absatz vom Kalewi poeg? Damit geht es schwach, kurz vor Weihnacht bin ich durch einige Prediger 40 Exemplare losgeworden, ein H. v. Wahl nahm 25 Exemplare zum Verschenken, das ist aber auch Alles; im Buchhandel geht es garnicht, das beste Geschäft haben HH. Kluge u Ströhm in Reval gemacht, nämlich 17, schreibe siebzehn Exemplare verkauft. Im Werroschen Depot [also in Kreutzwalds Wohnort Võru, CH] wurde ein Exemplar abgesetzt, in Dorpat 5 so dass nach Abschluss des ersten Jahres, Mitte April, 18 Actien können getilgt und für die übrigen die jährlichen Zinsen bezahlt werden.« (KKV III, 295f., hier zitiert nach dem Original aus dem Literaturmuseum in Tartu) schrieb Kreutzwald im Februar 1863 an Anton Schiefner, seinen Freund und Förderer bei der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. Die Auflage von 1000 Exemplaren reichte über zehn Jahre, wobei ein Fünftel obendrein im Lager vergammelte. Immer wieder hat sich Kreutzwald in seinen Briefen an Schiefner über die Herrnhuter beklagt, die nichts übrig hatten für diese Art weltlicher Literatur. Noch 1871 schrieb er: »… das fromme

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Reval und Ehstland hat ja durchgängig eine Herrnhutische oder pastorale Färbung, wer wird dort ein weltliches Buch lesen? Der Absatz für die profane ehstnische Literatur existiert ja nur in Livland, namentlich im Fellinschen Kreise und im Odenpähschen Kirchspiel des Dörptschen Kreises.« (zit. nach Karttunen 1906, 3). Hier, im etwas reicheren Süden, zog der Verkauf Ende der 1860er-Jahre an, so dass Mitte des nächsten Jahrzehnts eine Neuauflage erforderlich wurde. Der echte »Erfolg« stellte sich freilich noch später ein, und auch der musste – wie das Epos selbst – teilweise künstlich produziert werden. Damit stellt der Kalevipoeg aber keine Ausnahme dar, denn in den meisten Fällen ist der Erfolg oder Misserfolg von Texten keine logische Konsequenz textinhärenter Eigenschaften, sondern das Ergebnis zielgerichteter Arbeit. Wenn Kreutzwald selbst in seiner Rede vor der Gelehrten Estnischen Gesellschaft die Parallele zu Homer genannt hat, so ist das nichts anderes als der Versuch, sich selbst und sein Werk durch Anrufung anerkannter Autoritäten auf dem Gebiet zu adeln. Es ist gleichzeitig der erste Versuch, das Werk ins rechte Licht zu rücken und ihm eine spezielle Rolle zuzuschreiben. Der Text erhielt die Funktion, den Nachweis zu erbringen, dass man auf Estnisch Wortkunst veranstalten konnte; gleichzeitig sollte er zeigen, dass man dies schon sehr lange getan hat, dass es nun aber endlich auch einmal niedergeschrieben worden ist. Vor allem auf diese Art wurde das Werk im Ausland rezipiert und interpretiert. Und dafür war die Publikation innerhalb einer wissenschaftlichen Reihe und mit einer parallelen Übersetzung in einer Weltsprache von großer Bedeutung, auch wenn wir diesen Kunstgriff in Kenntnis der Entstehungsgeschichte vielleicht eher als Zufall oder Notbehelf interpretieren müssen. Nicht ausgeschlossen ist, dass Kreutzwald danach ganz bewusst aus der Not eine Tugend gemacht hat, denn er wusste wie kein anderer, dass eine potenzielle Leserschaft innerhalb Estlands selbst eigentlich noch nicht bestand. So war die Aufnahme im Ausland eigentlich wichtiger, und schon vor Abschluss des Epos begann man mit der gezielten Verbreitung des Textes. Im Oktober 1860 schrieb Schiefner an Kreutzwald, dass er ungefähr 20 Exemplare in Deutschland verteilt habe, und zählte ihm eine Reihe von Namen auf, worunter sich auch so bekannte Personen wie Jacob Grimm oder Ludwig Uhland fanden (KKV III, 175). Grimm hatte allerdings schon 1857 vom Übersetzer Carl Reinthal die erste Lieferung bekommen und sich in einem Dankesschreiben an Reinthal anerkennend geäußert: »Kaum aber hätte ich den Esten noch so grosse stücke von volkspoesie zugetraut, …« (Faksimile bei R. Põldmäe 1961). Dieselbe erste Lieferung wurde ebenfalls im Erscheinungsjahr von Wilhelm Schott im Berliner Magazin für die Literatur des Auslandes rezensiert, zwei Jahre später an gleicher Stelle auch die zweite Liefe-

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rung, und nach Abschluss des Epos widmete Schott, der zum wichtigsten frühen Vermittler des Epos in Deutschland wurde und wohl als Erster an einer ausländischen Universität über die estnische Literatur las (Webermann 1981, 202), dem Kalevipoeg eine ausführliche Studie (1862). Erst etwas später, zu Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, widmeten sich auch die einheimischen intellektuellen Kreise dem Kalevipoeg. Seit 1866 gab es Diskussionskreise, innerhalb derer man das Epos las und diskutierte, im gleichen Jahr schrieb Carl Robert Jakobson im Postimees: »Wenn wir auch sonst nichts hätten, auf unseren Kalevipoeg-Gesang können wir stolz sein, und mit ihm können wir allen anderen Völkern unter die Augen treten … Wenn das estnische Volk einstmals das sein wird, was wir von ihm erhoffen und ersehnen, dann wird es einem jeden jungen Esten zur Schande gereichen, wenn er seinen Kalevipoeg-Gesang nicht kennt.« (zit. nach Kreutzwald 1961, 60). In den bald darauf publizierten Schulbüchern von Jakobson wurde wiederholt und ausführlich auf den Kalevipoeg eingegangen. Damit diente Kreutzwalds Epos am Beginn eines entstehenden nationalen Selbstbewusstseins als Eintrittskarte in den Kreis der europäischen Kulturvölker, denn es erbrachte den Nachweis, dass es eine eigenständige estnische Kultur geben konnte. Bei dieser gesamteuropäischen Einbettung hat die positive wissenschaftliche Rezeption im Ausland eine Rolle gespielt und ihrerseits auf Estland zurückgestrahlt. Dadurch wurde in Estland selbst die Möglichkeit geschaffen, den Kalevipoeg als Volksepos anzusehen und ihm einen entsprechenden Platz in der Kulturgeschichte des Volkes zuzuweisen. Dieser Platz wurde im Zuge des Aufbaus eines estnischsprachigen Schulsystems dem Epos ganz automatisch zugewiesen, denn sobald es muttersprachlichen Unterricht auch in Literatur gab, wurde das Epos immer an prominenter Stelle behandelt, so dass der Kalevipoeg heute wohl der am besten kanonisierte Text der estnischen Literatur ist, den wahrscheinlich wirklich jeder und jede in Estland kennt. Dabei bleibt die vollständige Lektüre sicherlich begrenzt auf einige wenige Studierende, Fachleute und Enthusiasten, die meisten wissen lediglich um seine Existenz und haben nicht mehr als ein paar Ausschnitte gelesen. Hiermit aber stellt das Epos im gesamteuropäischen Kontext keine Ausnahme da. Es ist völlig normal, dass die für eine spezifische Kultur als charakteristisch angesehenen Texte von Angehörigen dieser Kultur selbst nur bruchstückhaft gelesen worden sind und als »Markenzeichen« im kollektiven Gedächtnis abgespeichert sind. Ebenso normal ist auch, dass dermaßen kanonisierte Texte immer wieder Neuinterpretationen und Neubewertungen unterliegen und damit auch Angriffen ausgesetzt sind. Als Anfang des 20. Jahrhunderts eine Gruppe von jungen Intellektuellen sich anschickte, die estnische Literatur zu modernisie-

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ren (§ 25), hatte man für den Kalevipoeg kein gutes Wort übrig: Zu gekünstelt, und dabei nicht einmal gut, kam ihnen das Epos daher, damit wollte man nichts zu tun haben: »Was für eine Dissonanz, was für eine Unlogik!« rief Friedebert Tuglas in einer Kritik (Mihkelson 1908, 230). Eine Generation später fungierte das Epos als das nationale Symbol schlechthin im unabhängigen Estland. In sowjetischen Zeiten musste der Kalevipoeg dann als früher Revolutionär gegen die deutsche Unterdrückung herhalten, und im 21. Jahrhundert sucht er noch seine Rolle innerhalb einer globalisierten Welt. Erwartungsgemäß hat der Kalevipoeg großen Einfluss auf die weitere estnische Literatur – wie die Künste ganz allgemein – ausgeübt. Immer wieder lassen sich Bezüge zwischen späteren Werken und dem Epos in seiner Gesamtheit oder einzelnen Figuren, Passagen, Episoden, Motiven oder Repliken des Epos herstellen. Das begann schon mit der nur wenig später erscheinenden Dichtung von Lydia Koidula oder Friedrich Kuhlbars (vgl. § 19), die gelegentlich Motive aus dem Epos aufgriff oder versuchte, den Stil nachzuahmen. Alle weiteren Generationen und Genres weisen Texte auf, die im Dialog mit Kreutzwalds Epos stehen, auch und gerade in Form von Parodien und Pastiches. Der Kalevipoeg schlängelt sich wie ein roter Faden bis ins 21. Jahrhundert hinein durch die estnische Literatur (s. hierzu Kampmann 1911, Laak 2003, Laak/Viires 2004). Märchen und Sagen von Kreutzwald Das zweite Werk von Kreutzwald, das eine ähnlich große Bedeutung wie der Kalevipoeg erlangte, war seine 1866 erschienene Märchensammlung Eestirahwa Ennemuistesed jutud. Er hatte sich schon länger mit dem Stoff befasst und bereits 1850, allerdings auf Deutsch, sein erstes Märchen in den Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft publiziert (Der dankbare Fürstensohn). Während der Arbeit am Kalevipoeg kam Kreutzwald aber nicht dazu, sich auch noch intensiv mit der komplizierten Frage der Publikationsmöglichkeiten seiner Märchen zu befassen. Erst Ende der 1850er-Jahre konnte mit St. Petersburger Vermittlung Kontakt zu Friedrich Nikolai Russow in Tallinn hergestellt werden, der sich für einen Druck der Märchen einsetzte, doch nun schob die Zensur dem Ganzen einen Riegel vor. Da eine umfangreiche Sammlung keine Chancen zu haben schien, entschied sich Kreutzwald für die Herausgabe einzelner Hefte. Auf diese Weise konnte 1860 sein erstes Heft mit zwei Märchen und drei Volksliedern erscheinen, aber die weiteren ließen auf sich warten. Russow verschleppte in Tallinn den Druck, weil er zu sehr mit seiner eigenen Zeitung beschäftigt war (vgl. § 15), am Ende ging Kreutzwalds Manuskript auch noch verloren und wurde nur teil-

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weise wieder gefunden. So erschien erst 1864 ein zweites Heft mit vier Märchen, diesmal schon bei Laakmann in Tartu, dem im folgenden Jahr das dritte mit fünf Märchen folgt. Bei allen war der Verkauf jedoch mäßig, so dass Laakmann kein Interesse an weiteren Heften hatte. Es ist logisch, dass in einer solchen Situation Kreutzwalds Blick sich wiederum nach Finnland wandte, wo sich auch tatsächlich eine Publikationsmöglichkeit auftat: Die Finnische Literaturgesellschaft zeigte Interesse, gleichzeitig wollte man an der Universität von Helsinki gerne Lehrmaterial zum Estnischen haben, wozu eine umfangreiche Märchensammlung geeignet erschien. Dies ließ sich Kreutzwald nicht zweimal sagen, zudem beflügelte ihn auch die erstmalige Aussicht auf ein mehr oder weniger anständiges Honorar für seine schriftstellerische Tätigkeit, so dass er zügig sein Manuskript zusammenstellte. Ein weiterer positiver Faktor war, dass in Finnland keinerlei Probleme mit der Zensur bestanden. Als das Werk 1866 als 42. Titel in der angesehenen Publikationsreihe der Finnischen Literaturgesellschaft erschien, fehlte sogar jeder Hinweis auf die Zensurerlaubnis. Wie beim Kalevipoeg war auch bei diesem zweiten Hauptwerk Kreutzwalds die Schützenhilfe aus Finnland und nicht zu vergessen St. Petersburg, worüber der Kontakt mit Helsinki weitgehend lief, von herausragender Bedeutung. Die Sammlung enthielt 43 Märchen und 18 Sagen, die laut Untertitel aus dem Volksmund aufgezeichnet waren. Das bedeutete lediglich, dass Kreutzwald sie nach dem Gedächtnis aufgezeichnet und formuliert hat: Er hatte wohl in seiner Kindheit und auch später noch viele Märchen gehört, aber er hat keine Feldforschung im eigentlichen Sinne betrieben. Im Allgemeinen ist Kreutzwald mit dem Stoff recht frei umgegangen, etwa ein Drittel der Märchen ist bei strenger Beurteilung als Kunstmärchen zu betrachten, während bei zwei Dritteln die folkloristischen Ursprünge deutlich nachgewiesen werden können. Trotzdem fällt die Märchensammlung gewiss eher in den Bereich der schöngeistigen Literatur als den der Aufzeichnung authentischer Folklore, aber damit fügte sich der Autor nur harmonisch in den damals vorherrschenden romantischen Zeitgeist ein. Auch inhaltlich sind Bezüge zu anderen europäischen Märchensammlungen unübersehbar. Das Buch wurde ein Erfolg und spätestens nach der zweiten Auflage, die 1875 in Tartu bei Laakmann erschien, schnell kanonisch und regelmäßig wieder aufgelegt (vgl. generell zu den Märchen und ihrer Typisierung Annist 1966).

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Kreutzwalds übrige Werke und seine Gesamtbedeutung für die estnische Literatur Kreutzwalds Vielseitigkeit und Produktivität führten dazu, dass er praktisch zu jedem Genre Arbeiten vorlegte und dabei in vielen bahnbrechende Leistungen vollbrachte. Weitgehend unbekannt geblieben ist nur sein Bühnenwerk, obwohl auch hier die Feder des Meisters nicht stillstand und er zeigen wollte, dass im Estnischen dramatische Dichtung möglich ist: In den 1860erJahren fertigte er zwei Dramen an, indem er estnische Versionen von Christoph Ernst von Houwalds Schicksalstragödien Der Leuchtturm (1819) und Fluch und Segen (1820) erstellte. Obwohl sich Kreutzwald um eine Aufführung seiner Stücke bemühte und die Dramen 1871 und 1875 auch im Druck erschienen waren, gelangten sie erst nach seinem Tod in den 1890er-Jahren auf die Bühne, als das estnische Theater sich zu etablieren begonnen hatte (vgl. §§ 19, 22). Wesentlich mehr Beachtung hat seine Dichtung gefunden, wenngleich auch die im Schatten der einen großen Dichtung, eben des Kalevipoeg, blieb. Recht populär geworden ist aber eine zeitgleich mit dem Kalevipoeg abgefasste Dichtung anlässlich des Krimkriegs, die 1854 erschien und im weitesten Sinne als Gelegenheitsdichtung bezeichnet werden kann. Seine 1865 veröffentlichte Sammlung Viru lauliku laulud (Gesänge des Sängers aus Virumaa – dies ist die Landschaft in Nordestland, aus der Kreutzwald gebürtig ist) enthielt zum größten Teil Übersetzungen und Nachdichtungen von deutschen Dichtern wie Goethe, Schiller, dem erwähnten Houwald, Nikolaus Lenau, Ludwig Uhland, Gottfried August Bürger, Wilhelm Hauff oder Ferdinand Freiligrath. Daneben fanden sich nur vereinzelt eigenständige Gedichte, was aber die Bedeutung dieser Dichtung für die weitere Entwicklung der estnischen Literatur nicht schmälert, denn Kreutzwalds Sprachbeherrschung und Wortwahl stellten eine eigene und neue Qualität dar. Am Ende seines Lebens schrieb Kreutzwald abermals ein langes Poem, das erst postum (1885) erschien: Lembitu ist direkt angelehnt an das epische Gedicht Buddha (1869) des österreichisch-schweizerischen Autors Josef Viktor Widmann und eine Art weltanschauliches Vermächtnis von Kreutzwald. Hierzu wählte er den Titel Lembitu, den Namen eines 1217 im Freiheitskampf gefallenen estnischen Anführers. Das ist gleichzeitig Programm, denn das Poem musste zeigen, dass auch philosophisch-religiöse Auseinandersetzungen mittlerweile im Kleide der estnischen Sprache möglich sind. Neben all dem ist nicht zu vergessen, dass Kreutzwald in erster Linie Arzt war und diesen Beruf nicht nur als Mittel zum Lebensunterhalt verstand, sondern auch als Berufung auffasste. Seit 1852, als sein erstes Buch mit An-

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leitungen zur Geburtshilfe erschien, hat er zahlreiche praktische Handbücher zu medizinischen Fragen verfasst, die im volksaufklärerischen Sinn von großer Bedeutung waren. Gleichzeitig waren sie auch für die Entwicklung der estnischen Sprache, in diesem Fall der medizinischen Terminologie, wichtig. Mit Fug und Recht kann abschließend betont werden, dass Kreutzwalds Rolle für die estnische Literatur und Sprache gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Er pflegte fast jedes Genre – auch als Essayist hat er Bedeutendes geleistet – und trieb die Durchsetzung der Orthographiereform vehement voran. Seit 1851 verwendete er die neue Rechtschreibung, die sich von da an mehr und mehr durchzusetzen begann.

§ 19 Lydia Koidula und ihre Zeit Lydia Emilie Florentine Jannsen Als erstes Kind der Ehe, die Johann Woldemar Jannsen im März 1843 mit Annette Juliana Emilie Koch geschlossen hatte, kam im Dezember 1843 in Vändra eine Tochter zur Welt, die im Januar 1844 auf den Namen Lidia Emilie Florentine getauft wurde. Der Vater nahm die fünfjährige Tochter gelegentlich mit in seine Schule in Vändra, und als die Familie, in der mittlerweile drei weitere Kinder geboren waren, 1850 nach Pärnu zog, ging Lidia ganz regulär beim Vater in die Schule. 1854 trat sie in das Pärnuer Mädchengymnasium ein, wo eine ihrer Schulkameradinnen Lilli Suburg (s. § 21) war: Ihr zeigte sie 1857 ihre ersten, deutschsprachigen, Gedichte. Im gleichen Jahr hatte bekanntlich auch die Zeitung ihres Vaters ihr Erscheinen begonnen, und im August 1861 findet sich dort die erste Arbeit von Lidia Jannsen, freilich ohne Angabe ihres Namens und »nur« eine Übersetzung aus dem Deutschen. Nach dem 1861 erfolgten Schulabschluss mit sehr guten Zensuren legte sie im November 1862 an der Universität Tartu das Examen für Hauslehrerinnen ab, was für Frauen damals der höchste erreichbare Bildungsgrad war, der sogar zu Unterrichtstätigkeiten in adligen Familien berechtigte. Lidia Jannsen schlug jedoch nicht diese Karriere ein, sondern half weiterhin ihrem Vater beim Zeitungmachen und schrieb nebenher erste eigene Geschichten. Ende 1863 – laut Buchdeckel 1864 – erschien, noch in alter Orthographie, das erste Prosabüchlein der Autorin Lydia (nunmehr also mit »y«) Jannsen: Ojamölder ja temma minnia (Der Grabenmüller und seine Schwiegertochter), wobei es sich um eine nur notdürftig den estnischen Verhältnissen angepasste Übersetzung von Louis Würdigs Auf der Grabenmühle oder Geld

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und Herz (1858 in der Zeitschrift Die Maje erschienen) handelte. Entsprechend den Gepflogenheiten der Zeit, man denke an die Praktiken ihres Vaters, war dies aber nicht vermerkt, und es blieb Gustav Suits vorbehalten, diese Quelle 1932 zu enthüllen. Bis dahin hatte man ein fremdes Vorbild nur vermutet, im Ausland, insbesondere in Finnland und Ungarn, wurde die Erzählung Koidulas für ein Originalwerk gehalten und bisweilen sogar als estnischer Roman (!) gelobt (Schott 1869). Gustav Suits (1932a, 103) brachte das Problem, das cum grano salis für die gesamte frühe estnische Prosa (vgl. § 14) zutreffend ist, noch einmal auf den Punkt: »So sind wir also Zeugen des folgenden paradoxen Phänomens: Das völlig marginale Vorbild Auf der Grabenmühle ist in seinem Herkunftsland längst vergessen und wohl kaum jemals Lektüre der entwickelten Gebildeten gewesen; eine Nachahmung für 10 Kopeken ist bei irgendwelchen Hinterwäldlern unvergessen und heute noch Schullektüre!« Ende 1863 erfolgte die Übersiedlung der Familie nach Tartu, wo Papa Jannsen ab 1864 seine Zeitung, weiterhin unter tatkräftiger Mitarbeit von Tochter Lidia/Lydia, herausgab. In den 1860er-Jahren entwickelte sich die Zeitung und das heißt auch ihre zwei Personen umfassende Redaktion zum Zentrum der nationalen Bewegung, die von der späteren Geschichtsschreibung als das »Nationale Erwachen« bezeichnet worden ist. In ihrem Haus traf man sich, hier liefen viele Fäden zusammen, so dass in diesem Zusammenhang von einem »literarischen Salon« (Aino Kallas 1935, 131; vgl. Laar 1999) gesprochen worden ist, obwohl so etwas im strengen Sinne wohl nicht bestand. Lydias Arbeit bestand nicht nur im Redigieren und Korrigieren, ebenso ruhte die Buchführung auf ihren Schultern, und außerdem musste sie etwas für den Inhalt des Blattes beisteuern. 1865 erschien unter dem Pseudonym »L.« ihr erstes Gedicht im Postimees. Im nächsten Jahr kam dann schon, anonym, ihr erster Gedichtband heraus, ferner unter dem Verfassernamen Johann Jansen (!) die längere Erzählung Perùama wiimne Inka (Der letzte Inka von Peru), die eine Adaptation von Horn (vgl. § 14) war. Natürlich war es kein Zufall, dass in dieser Zeit ein Werk erschien, das den Kampf der Ureinwohner Perus gegen die spanischen Eroberer zum Inhalt hatte. Die Dichterin befand sich nun in ihrer produktivsten Phase und legte 1867 ihren zweiten Gedichtband vor, dessen Bedeutung von zeitgenössischen Autoritäten wie Kreutzwald oder Jakobson schnell erkannt wurde. Carl Robert Jakobson (s.u.) kommt in diesem Zusammenhang eine doppelte Bedeutung zu. Erstens sorgte er durch Aufnahme in seine Schulbücher für die enorme Verbreitung der Gedichte, und zweitens schlug er in einer Rezension des abermals anonym erschienenen Buches den Dichternamen Koidula, in Anlehnung an das estni-

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sche Wort koit ›Morgenröte‹, vor, den er bereits im Februar 1867 Papa Jannsen gegenüber hatte fallen lassen. Damit war die Dichterin geboren. In den folgenden Jahren, während Koidula sich intensiv um die Entwicklung des Theaters kümmerte und auch an den Vorbereitungen des ersten Liederfestes beteiligt war, publizierte sie im Rahmen der Feuilletonbeilage der Zeitung weiterhin einige Geschichten. Gleichzeitig stand sie in ausführlichem Briefwechsel nicht nur mit Kreutzwald, sondern auch mit Gelehrten in Finnland und Deutschland. Dabei wurde Finnland für Koidula zum Vorbild und Ideal, das zeige, dass es zwischen Russland und Deutschland, zwischen Slawophilie und Germanophilie auch noch einen dritten, eigenen Weg gebe. In ihrem Briefwechsel mit ihrem Journalistenkollegen aus Finnland, Antti Almberg (ab 1906 Jalava), verwendete sie teilweise eine estnisch-finnische Mischsprache und versuchte auf diesem Weg, die beiden Völker einander anzunähern. Die Begeisterung für Finnland schlug um in Schwärmerei, nachdem sie 1871 mit Vater und Bruder Helsinki besucht und dort unter anderem auch Almberg getroffen und sich vermutlich heftig in ihn verliebt hatte. Sie nahm sich sogar ein Stück finnischer Erde mit und stellte es sich in einem Blumentopf auf die Fensterbank, wie sie nach der Rückkehr an Almberg schrieb. Alles spricht dafür, dass Koidula einer Heirat mit Almberg aufgeschlossen gegenüberstand, da aber den Sitten der damaligen Zeit entsprechend der Heiratsantrag vom Mann gestellt werden musste und Almberg eben dies nicht tat, der germanisierte Lette Eduard Michelson, ein Kommilitone des Bräutigams und baldigen Mannes von Koidulas Schwester Eugenie, ihr aber sehr wohl einen solchen Antrag schon 1871 gemacht hatte, entschied sich Koidula, nicht ohne brieflich darüber mit Kreutzwald beratschlagt zu haben, für Letzteren. Der Verlobung vom November 1871 folgte erst 1873 die Eheschließung, da Michelson vorher sein Medizinstudium abschließen und eine Stellung finden musste. Dies bedeutete für Koidula weit mehr als den damals für ein Berufsleben üblichen Einschnitt, der sich einstellte, wenn eine Frau in den Stand der Ehe trat. Michelson trat eine Stellung als Stabsarzt in Kronstadt, der St. Petersburg vorgelagerten Garnisonsinsel, an, wodurch er in der späteren nationalen estnischen Geschichtsschreibung beinahe zum Monster mutierte, das die Vaterlandsdichterin ihrer Heimaterde entrissen und in russische Umgebung verpflanzt hat. Sicherlich ist richtig, dass es Koidula schwer fiel, fern der Heimat zu leben und der Großteil ihres Werkes, das sie für die Nachwelt unsterblich gemacht hat, vor ihrer Kronstädter Zeit entstanden war. Andererseits war Kronstadt nicht aus der Welt. Hier wohnte – bis sie bald darauf nach Tallinn zog – ihre frisch verheiratete Schwester, ferner war die Hauptstadt des Zarenreiches nahe, wo viele Esten und Deutsche, mit denen Koidula gleichermaßen Kontakt hatte, lebten, und Finnland lag praktisch auch vor der Tür.

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Lydia Koidulas Porträt auf dem 100-Kronen-Schein

Koidula unterhielt auch weiterhin engen brieflichen Kontakt mit ihrer Familie und beteiligte sich nach Möglichkeit am kulturellen Leben Estlands, indem sie weiterhin Beiträge für den Postimees schrieb. 1876 begab sie sich auf eine anderthalbjährige Reise mit ihrem Mann und ersten Kind nach Deutschland und Österreich (s. Hasselblatt 2000a), auch von hier schickte sie Briefe und Reiseberichte. In Wien kam Anfang 1878 ihre zweite Tochter zur Welt. Als ihr Vater 1880 einen Schlaganfall erlitt, reiste Koidula nach Tartu, um dessen literarisches Kind, »ihren« gemeinsamen Postimees zu retten. Sie überbrückte die fünf Wochen, bis ihre Brüder die Zeitung übernahmen, und kehrte dann wieder nach Kronstadt zurück. Die wachsende Familie – Koidula bekam vier Kinder, von denen zwei sie überlebten – und die 1882 diagnostizierte Krebskrankheit trugen dann ihren Teil dazu bei, dass die Dichterin weitgehend verstummte. Das letzte Jahr war für Lydia Koidula nur noch mit Opium zu ertragen (M. Puhvel 1995, 230). Als sie 1886 starb, war sie dennoch keineswegs vergessen, sondern wurde als Vaterlandsdichterin, die fern der Heimat in Kronstadt begraben wurde, betrauert. Erst zu ihrem 60. Todestag gelangte ihre Asche nach Tallinn – als eine der ersten kulturpolitischen Aktionen der sowjetestnischen Regierung. Von der Journalistin zur Vaterlandsdichterin Auch wenn diese beiden Tätigkeiten chronologisch nicht voneinander zu trennen sind, da Koidulas erste dichterische Versuche bis in die Schulzeit zurückreichen und sie andererseits auch in späteren Jahren, lange nach der Publizierung ihrer Gedichtbände, journalistisch aktiv blieb, finden sie hier

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Verwendung, weil sie den Übergang in ihrer Wahrnehmung als Dichterin markieren. Koidula wird heute als die Nationaldichterin, die Verfasserin von patriotischer Lyrik angesehen und klassifiziert, und viel weniger als Mitarbeiterin bei der ersten estnischen Zeitung, obgleich sie auch an deren Gelingen erheblichen Anteil hatte. Das liegt daran, dass sie im journalistischen Bereich eine von mehreren war, während ihre Leistungen auf poetischen Gebiet vollkommen neuartig und singulär waren. Dabei erschienen zu Lebzeiten bloß zwei Gedichtbände, die mit 79 Gedichten nur ca. ein Viertel des später auf über 300 Gedichte angewachsenen lyrischen Œuvres von Koidula enthielten. Ungefähr ein weiteres Viertel war verstreut in Zeitungen und Schulbüchern publiziert worden, während die Hälfte erst in einer nach ihrem Tode von Jaan Bergmann (vgl. § 22) zusammengestellten Anthologie vertreten war. Die war zwar bereits Ende der 1880er-Jahre fertig, gelangte aber aus verschiedenen Gründen damals nicht zum Druck (Aaver 1961). Danach stockten die Publikationsversuche, nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil die Erben und Rechtsinhaber – der Witwer und die beiden Töchter – kein Estnisch konnten. Erst 1925 wurde die von Bergmann zusammengestellte Anthologie von Suits redigiert und zum Druck befördert, wobei sich bald herausstellte, dass Bergmann recht eigenmächtig mit den Versen umgegangen war und manches, was mit seinem Beruf – er war Pastor – nicht ganz in Einklang stand, einfach abgeändert hatte (Aaver 1962). Erst nachdem die Autographen 1958 nach langen Nachforschungen entdeckt waren, konnte man sich an die Herausgabe einer kompletten textkritischen Ausgabe machen, die schließlich 1969 erschien. Sie enthält 337 Gedichte, von denen einige wenige unvollendet und drei nicht mit hundertprozentiger Sicherheit von Koidula sind. Die erste Sammlung, Waino=Lilled (Feldblumen, 1866), enthielt unter ihren 34 Gedichten nur fünf Originale, alle anderen waren mehr oder weniger treue Übertragungen bzw. Bearbeitungen von in der Mehrzahl deutschen Vorlagen. Als Quelle dienten der jungen Dichterin, die einige, auch estnische, Verse offensichtlich schon während ihrer Pärnuer Gymnasialzeit verfasst hatte, die im Deutschunterricht verwendeten Lesebücher, allen voran Carl Oltrogges Deutsches Lesebuch in verschiedenen Ausgaben und Auflagen und Elise Polkos Dichtergrüße, deren 2. erweitere Auflage von 1861 sich in Koidulas Nachlass befindet, so dass man anhand der Anstreichungen der Dichterin sehr leicht ihre Vorlieben und eben auch Vorbilder ermitteln kann (Undla-Põldmäe 1968, 162). Viele der Dichterinnen und Dichter, die hierin enthalten waren, sind heute auch in Deutschland völlig unbekannt, Einzelnachweise finden sich in der textkritischen Ausgabe (Koidula 1969) und sind verdienstvollerweise von Friedrich Scholz (1990, 201f.) komplett aufgelistet worden, so dass

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sie hier nicht wiederholt zu werden brauchen. Koidulas Auswahl war breit gefächert, kaum einmal sind von einer Person zwei Gedichte vorgekommen. Im Großen und Ganzen sind die Dichtungen im Bereich der epigonalen Nachklassik anzusiedeln, wobei elegisch-melancholische Stimmungen überwogen. Koidulas zweite Sammlung, Emmajöe öpik (in heutiger Orthographie Emajõe ööbik, ›Die Nachtigall vom Emajõgi‹, dem Fluss, an dem Tartu liegt) erschien ein Jahr später. Das Buch war ebenfalls bereits 1866 fertig, mit einer Zensurerlaubnis versehen und auch gedruckt worden, wurde vom Buchhändler aber aus nicht ganz eindeutigen Gründen noch zurückgehalten und erst 1867 ausgeliefert. Dafür wurden aber nur einige Exemplare mit einem neuen Deckblatt versehen, so dass die meisten Exemplare auf dem Einband 1866 stehen haben (Undla-Põldmäe 1986). Diese Sammlung ist schon viel eigenständiger und stellte die erste, die heute wahrscheinlich völlig vergessen wäre, wenn zu Lebzeiten der Dichterin mehr erschienen wäre, deutlich in den Schatten. Sie brachte 45 Gedichte, in denen sich die Dichterin bei zwei Dritteln von ihren unmittelbaren Vorbildern gelöst hatte und einen eigenen Weg einschlug. Das war das Loblied auf Vaterland und Muttersprache, wie es bis dahin im Estnischen noch niemand angestimmt hatte. Das Thema lag zwar in der Luft, Koidula hatte es aber auch ihren deutschen Vorbildern entnommen, von denen nicht wenige der Freiheitsdichtung des frühen 19. Jahrhunderts entstammten. Wo im Original Deutschland stand, hatte Koidula dann einfach Estland eingesetzt, wie man an den Zeilen von Hoffman von Fallersleben sehen kann: Aus dessen »Nur in Deutschland, / Da muß mein Schätzlein wohnen« (aus dem Gedicht Nur in Deutschland!) wurde bei Koidula (übersetzt) »Eine estnische Braut und einen estnischen Bräutigam, / nur die will ich preisen« im Gedicht Kaugelt koju tulles (Aus der Ferne nach Hause kommend). In dem nun vorgelegten zweiten Band waren aber schon völlig authentische estnische patriotische Gedichte enthalten: Sind surmani küll tahan Ma kalliks pidada, Mo õitsev Eesti rada, Mo lehkav isamaa! Mo Eesti vainud, jõed Ja minu emakeel, Teid kõrgeks kiita tahan Ma surmatunnil veel! (Koidula 1969, 86; Bis zum Tode will ich / dich in Ehren halten / mein blühender estnischer Pfad, / mein duftendes Vaterland! / Meine estnischen Felder, Flüsse / und meine Muttersprache / Euch will ich hochloben / noch in meiner Todesstunde!)

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Dieses Gedicht enthält alle Grundelemente der Koidula’schen Vaterlandsdichtung: Das Land selbst ist mehrmals namentlich genannt, es wird mit positiven Attributen versehen und in einigen Details auch charakterisiert, es wird verbunden mit einer Muttersprache und mit der Treue bis in den Tod. Solche Gedichte hatte es im Estnischen bis dato schlichtweg noch nicht gegeben bzw. auch gar nicht geben können, denn von einem Estland als Vaterland war noch nicht die Rede gewesen. Nun aber kam Koidula mit einem knappen Dutzend von Gedichten, die eine im weitesten Sinne »vaterländische« Thematik enthielten. Viele von ihnen sind vertont worden und heute in aller Munde. Es ist die inhaltliche Seite, die Koidulas Dichtung bedeutsam mache, denn in formaler Hinsicht konnte man hier und da noch leicht Unvollkommenes finden. Alles andere wäre aber auch überraschend gewesen, wenn man bedenkt, dass Koidula kaum Vorbilder gehabt hat und ihre Schulbildung ebenso Deutsch war wie der Löwenanteil der Literatur, die sie gelesen hatte. Außerdem wurde zu Hause ja Deutsch gesprochen, so dass sie zweisprachig aufgewachsen war. Die überwiegende Mehrheit ihrer Korrespondenz – auch mit der Familie – ist deutschsprachig. Denn eine estnische Gedichtsprache musste erst noch geschaffen werden, und genau das war das Anliegen Koidulas. Unter anderem darüber korrespondierte sie mit Kreutzwald, den sie um seine Meinung zu ihren Gedichten befragte. Und der Liedervater gab bereitwillig und offenherzig Auskunft: Einige Worte über »Emmajõe öpik« […] Die zweimalige Wiederholung gleich am Eingange »ma jälle« [›ich wieder‹, CH] macht einen peinlichen Eindruck, abgesehen davon, dass das Ich – mina – hier wie überall die grösste Beschränkung erfordert, und der Dichter am glücklichsten ist, wenn er seine Person so viel wie möglich aus dem Spiel lassen kann. […] Warum, mein Fräulein! haben Sie in diesem artigen Liedchen die Oeselsche oder Wieksche Missgeburt »tend« [›sie, ihn‹ im westestnischen (Insel)dialekt, CH] zwei Mal adoptirt? Solche Ungeheuer sollte man billig unseren Bänkelsängern überlassen, aber wer vom Geist und der Würde unserer Estnischen Sprache etwas versteht, darf diesen u. ähnlichen Abgeschmacktheiten keinen Platz einräumen. Die Krücken sind für Lahme erfunden, eine jugendliche Sängerin aber, die leichtfüssig wie ein Reh über die Hügel jagt, muss solchen Nothbedarf von sich abweisen. (KKK I, 34–35; 44–45)

Hier wurde an den Gedichten und ihrer Sprache regelrecht gearbeitet, die Dichterin war sich dessen voll und ganz bewusst. Die Bedeutung der Sprache war ihr klar, und dem Lob der Sprache blieb Koidula auch in ihren späteren Gedichten treu. Zum 75. Geburtstag des verdienten Erforschers des Estnischen, Ferdinand Johann Wiedemann, widmete sie ihm ein Gedicht, in dem

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es unter anderem hieß: »Als Waisenkind am Wegesrand / stand weinend die estnische Sprache […] Vater, du sahst ihre Not / Aus dem Staube hast du sie herausgeholt.« (Koidula 1969, 394) Es ist im Nachhinein schwierig festzustellen, warum Koidula zu Lebzeiten nur diese zwei Bände veröffentlichte. Immerhin dichtete sie weiter und publizierte hier und da ihre neueren Gedichte auch. Angeblich wurde 1872 von einem übereifrigen Dienstmädchen das Manuskript eines weiteren Gedichtbandes versehentlich ins Feuer befördert, aber hierbei mag es sich auch um eine Mystifikation handeln, wie sie in literarischen Kreisen häufiger vorkommt, denn die Information stammt von der Dichterin selbst. In einem Brief an Kreutzwald vom 17. März 1872, in dem sie über die Eheschließung ihrer jüngeren Schwester lamentiert und angesichts ihrer eigenen Verlobung auch nicht gerade in euphorischer Stimmung ist, heißt es: Ich zehre mich innerlich auf und kann mich nicht zur Ruhe bringen! Seit dem unglücklichen Verlust ist es ganz aus mit mir; – Sie werden es ja wol noch nicht wissen, Papa, dass ich alle meine Lieder habe den Flammen lassen müssen – fast alle, alle! Die ganze Sammlung, darunter zehn für den Druck vorbereitete epische Producte meiner Muse, fuhr durch die Unglückshand einer all zu eifrigen Dienstmagd von meinem Schreibtisch in den Papierkorb und aus diesem in den Ofen! Für mich ein unersetzliches Unglück – oder soll es ein Omen sein für das was mir künftig nicht mehr zu thun sei? Darüber sind zwei Monate und mehr vergangen und ich habe mich noch nicht trösten können! Brouillons und Reinschriften mehrerer Jahre! Und ich wollte für diesen Sommer eine zweite Sammlung des Ööpik erscheinen lassen! Es sind vielleicht meine besten Productionen, die mit dieser Sammlung zu Grunde gegangen sind! Ich habe – ich will’s nur gestehen – bittere Thränen vergossen über das Unglück, meine Geschichte lebte ja, die innere, in meinen Liedern! (KKK II, 220–221)

Koidulas Biographin, die finnische Schriftstellerin Aino Kallas, zitiert allerdings eine Augenzeugin, die berichtete, dass Koidula wie ein kleines Kind geweint habe angesichts des Verlusts (Aino Kallas 1935, 193), insofern ist der Vorwurf der mutwilligen Mystifikation an die Dichterin vielleicht unberechtigt. Auffällig bleibt indes, dass anderweitig keinerlei Spuren von diesem schmerzlichen Verlust zu finden sind. Koidula plante 1878 ein Gedichtbuch für Kinder, verwirklichte das Vorhaben jedoch nicht. In den 1880er-Jahren erlahmte die dichterische Inspiration. Ihr letztes Gedicht ist ein Vermächtnis, und als solches wurde es immer gelesen. Vermutlich hat sein ambiger Titel aber auch seinen Teil zu einer Mythenbildung beigetragen, demzufolge die Dichterin nach ihrer Eheschließung gegen ihren Willen in eine fremde Umgebung verpflanzt worden war:

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Enne surma – Eestimaale! Issand, surres jätan maha Sinu hoolde isamaa – Lahkuda ei süda taha Raske hirmuohaga! … (Koidula 1969, 458; Vor dem Tod – An Estland! Herr, im Sterben stelle ich Estland / deiner Sorge anheim / Fortgehen will das Herz nicht / mit schwerem Angstseufzer …)

Denn die Überschrift Eestimaale kann auch ›nach Estland‹ bedeuten, so dass man das Gedicht verkürzt als Hilferuf der Dichterin interpretieren könnte, dass sie vor ihrem Tod nach Estland wolle, um dort und nicht in der Fremde zu sterben. Eine solche Interpretation verbietet sich aber, wenn man den Rest des Gedichts kennt, aus dem eindeutig hervorgeht, dass die Dichterin dem estnischen Volk vor ihrem Tod ihre Abschiedsworte und auch Hoffnungen mitteilt. Von einem Wunsch, in heimatlichen Gefilden zu sterben oder auch nur in heimatlicher Erde begraben zu werden, ist dort nicht die Rede. Koidula und der Beginn des estnischen Theaters Kaum weniger bedeutend als ihre dichterische Tätigkeit war Koidulas Aktivität bei der Entwicklung eines eigenen estnischen Sprechtheaters. 1865 hatte ihr Vater die Vanemuine-Gesellschaft ins Leben gerufen, ursprünglich nur als Männergesangsverein, der mit Schauspielerei nichts zu tun haben wollte. Im Übrigen galt in Tartu ohnehin noch bis 1867 das Theaterverbot (s. § 17), so dass Koidula mit dem Theater nur in Gestalt von heimischen Privatvorstellungen ihres Bruders, der gemeinsam mit Schulkameraden gelegentlich deutsche Komödien aufführte, in Berührung gekommen war. Andererseits dachten in den 1860er-Jahren so manche an die Möglichkeiten des Theaters, beispielsweise hatte Carl Robert Jakobson schon 1861 sein später berühmt gewordenes und scharf gegen den Adel gerichtetes Schauspiel Arthur und Anna geschrieben, damals noch auf Deutsch. Es wurde erst 1873 auf die Bühne gebracht, nachdem es 1872 auf Estnisch erschienen war. Da war die estnische Bühne aber schon geboren und Jakobson nicht mehr der allererste Pionier. Diese Pioniere sind trotz der ursprünglich anderen Intention des Vereins doch in der Vanemuine-Gesellschaft zu sehen, die sich bald nicht nur zum Singen traf, sondern auch Bildungsabende organisierte, zu denen verschiedene Redner eingeladen wurden. 1868 ist es im Rahmen eines solchen Abends auch zum Liedvortrag im Wechselgesang von kostümierten Darstel-

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lern gekommen – das war eigentlich schon die Geburt des estnischen Theaters. Es bedurfte dann nur noch einiger äußerer Impulse wie etwa der erfolgreichen Durchführung des Liederfestes (s.u.) und des Blickes nach Finnland und hinüber zu den Letten, wo ebenfalls exakt in diesen Jahren (1868, 1869) die ersten nationalsprachlichen Theateraufführungen stattfanden. Für 1870, nachdem die Vanemuine-Gesellschaft neue Räumlichkeiten bezogen hatte, beschloss man die feierliche Begehung des fünfjährigen Bestehens des Vereins, und es war Koidulas Idee, dies mit einer Theateraufführung zu tun. Hierzu bedurfte es eines passenden Stückes. Weil kein Originalstück zur Hand war und auch keine Zeit mehr war, eines zu schreiben, griff Koidula kurzerhand auf ihre frühere Technik zurück und nahm sich ein deutsches Vorbild. Dies wurde übersetzt und gleichzeitig bearbeitet. So wandelte sich Theodor Körners Schwank Der Vetter aus Bremen zu Lydia Koidulas Saaremaa onupoeg, d. h. zum ›Vetter von Saaremaa‹. Mit der Uraufführung am Johannistag 1870 war nach den erwähnten Anfängen im 18. Jahrhundert (§ 17) das estnische Theater endgültig geboren. Dass dies noch weitgehend als »Familienunternehmen« geschah, ist charakteristisch für die damalige Zeit und die vergleichsweise schmale Intellektuellenschicht: Die Proben fanden bei Jannsens zu Hause statt, Koidula hatte das Stück geschrieben und führte Regie, ihr Bruder Harry, ihr baldiger Schwager Heinrich Rosenthal und noch ein Gymnasialkamerad waren die Darsteller, und alles fand unter den Fittichen des von »Papa« gegründeten Vereins statt. Die Uraufführung war ausverkauft und wurde am folgenden Tag wiederholt, eine dritte Vorstellung fand im November des gleichen Jahres statt. Das Stück wurde positiv aufgenommen, was die Veranstalter, allen voran Koidula selbst, beflügelte weiterzumachen. Im Herbst 1870 hatte Koidula ihr zweites Stück fertig, Maret ja Miina ehk Kosjakased (Maret und Miina oder Die Freiersbirken), das auf einem Prosastück ihres Vaters beruhte, das seinerseits eine deutsche Vorlage von Horn gehabt hatte. Schritt für Schritt fand somit der Übergang von der Übersetzung und Adaptation zur Eigenständigkeit statt. Dieses Stück war schon deutlicher den örtlichen Verhältnissen angepasst und nahm Stellung zu aktuellen Problemen im Zusammenhang mit der nationalen Emanzipationsbewegung. Es wurde ebenfalls dreimal erfolgreich aufgeführt. Die absolute Loslösung von fremden Vorbildern gelang Koidula mit ihrem dritten Stück, das gemeinhin als Beginn der »echten« eigenständigen Bühnenliteratur gesehen wird: 1871 kam, wiederum in eigener Inszenierung, Särane mulk, ehk Sada wakka tangusoola (So ein Mulk [scherzhaft-pejorative Bezeichnung für einen Bewohner Südwestestlands] oder Hundert Scheffel Salz, gedruckt 1872) an zwei aufeinander folgenden Juniabenden auf die Bühne. Die Komödie hat eine übliche Handlung – der Vater möchte seine

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Tochter mit einem Mann verheiraten, den diese ablehnt; stattdessen kämpft sie gemeinsam mit der Mutter um das Recht, ihren Geliebten zu heiraten, was schließlich erfolgreich ist –, die bereichert ist um einige lokale Spezifika wie zum Beispiel den Antagonismus zwischen verschiedenen estnischen Provinzen. Die Kernaussage lautet, dass Bildung das höchste Gut ist, das auch in der Liebe als Leitfaden dienen soll und einen vor Unheil bewahrt. Denn am Ende muss der Vater einsehen, dass er sich von seinem Wunschkandidaten wirtschaftlich hat übervorteilen lassen, was ihm nur passiert ist, weil er die Zeitung nicht richtig gelesen bzw. verstanden hatte. Der ursprünglich vom Vater abgelehnte Geliebte erweist sich danach als edler Retter, der dem künftigen Schwiegervater aus der Klemme hilft und seine Geliebte heiraten darf. Durch eine sehr eindeutige Verteilung von Gut und Böse wird das Lustspiel zum Lehrstück, was seiner Popularität keinen Abbruch tat. Es war nicht nur auf den professionellen estnischen Bühnen erfolgreich, sondern besonders beliebt bei Laienspielgruppen und Schultheatern. Särane mulk ist immer wieder neu aufgelegt worden und gehört unumstritten als erstes Werk in den Kanon der estnischen Bühnenliteratur. Ein viertes Theaterstück schrieb Koidula noch 1880 während ihrer Kronstädter Zeit. Kosjaviinad ehk kuidas Tapiku pere laulupidule sai (Der Freiersschnaps oder Wie die Familie Tapiku aufs Liederfest gelangte) war eine Auftragsarbeit für das 3. Liederfest, gelangte dort aber nicht zur Aufführung. Das Stück handelt von dem letztlich erfolgreichen Bemühen eines unter dem Pantoffel seiner Frau stehenden Mannes, auf das Liederfest zu gelangen, und ist als komisches Volksstück angelegt. Es wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg gedruckt (1946) und inszeniert (1953) und steht daher außerhalb von Koidulas eigentlicher Theateraktivität, die sich auf ein gutes Jahr beschränkt – vom Sommer 1870 bis zum Sommer 1871 –, innerhalb dessen sie als Texteschreiberin, Dramaturgin und Regisseurin das Estnische Theater aus dem Boden stampfte. Das erste Allgemeine Liederfest Ein letztes Ereignis gilt es noch zu erwähnen, bei dem das Jannsen’sche Haus abermals Dreh- und Angelpunkt war: Das erste allgemeine estnische Liederfest von 1869, das eine Tradition nationaler Manifestationen begründete, die auch die sowjetische Periode hindurch gepflegt worden ist und bis auf den heutigen Tag fester Bestandteil der estnischen Identität ist. Das 24. Festival dieser Art fand im Sommer 2004 in Tallinn mit einer Beteiligung von über 800 Chören und 24000 Sängerinnen und Sängern statt. Seit 2003 steht es auf der Liste der UNESCO-Konvention zur Erhaltung des immateriellen Erbes.

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Erste Treffen von Chören zum gemeinsamen Singen hatte es seit den 1840er-Jahren in Deutschland und der Schweiz gegeben, von wo die Bewegung in den 1850er-Jahren ins Baltikum übergriff und dort zunächst von den Deutschen praktiziert wurde. 1857 wurde in Tallinn ein solches Chorfest organisiert, vier Jahre später auch in Riga, 1866 abermals in Tallinn. Die estnischen und lettischen Chöre, die zu jenem Zeitpunkt schon geraume Zeit bestanden, nahmen sich diese Großereignisse zum Vorbild und organisierten seit 1863/1864 ihrerseits auf lokalem Niveau vergleichbare Treffen. Wann genau Jannsen auf die Idee gekommen ist, eine landesweite Veranstaltung dieser Art zu organisieren, ist nicht mehr festzustellen. Die deutsche Zeitung in Tartu ging von beinahe zehn Jahren aus, die Jannsen den Gedanken in sich getragen haben soll (vgl. R. Põldmäe 1969, 28), jedoch erscheint es übertrieben, in dem Beginn von Jannsens Tätigkeit als Chorleiter in Pärnu gleich die Geburt eines groß angelegten Chortreffens zu sehen. Vom Standpunkt der Literatur ist die Frage auch weniger relevant, es genüge der Hinweis darauf, dass Mitte der 1860er-Jahre nach der Gründung der Vanemuine-Gesellschaft und anderen kulturell relevanten Ereignissen und Entwicklungen der Bedarf nach einem größeren Ereignis, auf dem man auch seine Einheit demonstrieren konnte, offenbar bestand. Hierzu bot sich das 50-jährige Jubiläum der Entlassung aus der Leibeigenschaft an, die in der mittleren Ostseeprovinz Livland 1819 erfolgt war. Natürlich war die Organisation einer solchen Großveranstaltung auf mehrere Schultern verteilt, aber die Initiative geht unbestritten auf Jannsen zurück, der die Hauptverantwortung trug und gemeinsam mit seiner Tochter das Fest in relativ kurzer Zeit vorbereitete: Am 20. Februar 1869 erst war die behördliche Erlaubnis eingegangen, und bereits vier Monate später, vom 18.–20. Juni des gleichen Jahres, fand das erste Allgemeine Liederfest in Tartu statt. Beteiligt waren 51 Männerchöre und Orchester mit insgesamt 845 Teilnehmern. Im Vorfeld der Organisation hatte es Streit gegeben wegen der Auswahl des Repertoires, da ganze drei estnische Originallieder vertreten waren. Das hatte zwar dazu geführt, dass der radikalere Flügel um Carl Robert Jakobson der Veranstaltung den Rücken kehrte, der immensen Bedeutung des Ereignisses für die weitere Emanzipationsbewegung tat dies aber keinen Abbruch. Die drei estnischen Lieder waren dann aber auch gleich solche, die bis auf den heutigen Tag das Rückgrat des estnischen Nationalbewusstseins bilden: Zwei Gedichte von Koidula, die der Komponist Aleksander Kunileid (Saebelmann) vertont hatte – Mu isamaa on minu arm (Mein Vaterland ist meine Liebe) und Sind surmani (Dich bis zum Tode, s.o.) – und ein Gedicht von Jannsen selbst: Mu isamaa, mu õnn ja rõõm (Mein Vaterland, mein Glück und

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meine Freude) zu den Noten des aus Hamburg gebürtigen finnischen Komponisten Friedrich (Fredrik) Pacius. Dieses Lied wurde begeistert aufgenommen und entwickelte sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte zur estnischen Nationalhymne, als die es 1919 dann offiziell eingesetzt wurde. Die gleiche Melodie ist zu den Worten des finnischen Nationaldichters Johan Ludvig Runeberg im Übrigen auch die finnische Nationalhymne. Kaum weniger erfolgreich waren die beiden Lieder von Koidula, die hierdurch viel mehr Bekanntheit erlangte als mit ihren beiden zu jenem Zeitpunkt erschienenen Gedichtbänden. Ihr Lied Mu isamaa on minu arm übernahm in der Sowjetzeit, als die Nationalhymne ihres Vaters verboten war, die Rolle einer inoffiziellen Hymne. So wurde das erste estnische Liederfest, dem im 19. Jahrhundert noch fünf weitere in den Jahren 1879, 1880, 1891, 1894 und 1896 folgten, auch zu einem Instrument der Popularisierung von Literatur bzw. im engeren Sinne Lyrik, denn das gesungene Wort fand damals noch leichter seinen Weg zu breiteren Volksschichten als das gedruckte Wort. (Vgl. generell zu den ersten Liederfesten R. Põldmäe 1969, 1976) Carl Robert Jakobson und Jakob Hurt Nun darf aber nicht der Eindruck entstehen, als hätten Vater und Tochter Jannsen die Identitätsfindung der Esten als Nation im Alleingang bestritten. Ein Kennzeichen der als Periode des »Nationalen Erwachens« bezeichneten Zeit, die grob gesprochen in die Jahre 1860–1885 fällt, war gerade, dass die intellektuelle Schicht, die auf ihrem Bildungsweg nicht mehr automatisch im Deutschtum aufging, sondern weiterhin estnisch blieb, breiter wurde. Was genau aber mit diesem »Estnischbleiben« gemeint war und wie man das erreichen wollte, war hingegen noch gar nicht klar. Deutlich war lediglich, dass die Pflege und Herausbildung einer eigenständigen estnischen Kultur anstand. Dies ging Hand in Hand mit dem politischen Emanzipationsstreit und führte erwartungsgemäß dazu, dass es verschiedene politische Fraktionen gab, weil es verschiedene Meinungen sowohl über die erstrebenswerten Ziele als auch über die Durchsetzung derselben gab. Die maßgeblichen Bezugspunkte waren die russische Zentralregierung einerseits und die lokalen deutschen Autoritäten andererseits. Was immer man probieren, verändern, erreichen wollte – man musste seine Position zu diesen beiden Machtfaktoren bestimmen. Bei Johann Woldemar Jannsen lagen die Dinge so, dass er sich eher der Seite der deutschen Obrigkeit und der Kirche zugeneigt fühlte. Zwei andere Wege wurden verkörpert von Carl Robert Jakobson und Jakob Hurt, die zu den wichtigsten Figuren des »Nationalen Erwachens« zu rechnen sind (vgl. auch § 20), wobei sie für die Literatur im engeren Sinne weniger als Ver-

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fasser von Texten, sondern stärker als Organisatoren und Multiplikatoren von Bedeutung sind. Gleichzeitig waren sie mit ihren Entwürfen einer estnischen, »eigenen«, Geschichte wichtige Identitätsstifter (vgl. Undusk 1999a). Carl Robert Jakobson wurde 1841 in Tartu geboren und übersiedelte 1846 nach Torma in Ostestland, wo sein Vater eine Küster- und Schulmeisterstelle bekommen hatte. Bei ihm genoss der Sohn seinen ersten Unterricht, ehe er 1856 auf das Lehrerseminar nach Valga ging. Dieses einzigartige »Ritterschaftliche Parochiallehrer-Seminar« war 1839 im lettischsprachigen Teil Livlands gegründet und 1849 in die estnisch-lettische Grenzstadt verlagert worden. Unter der Leitung des lettischen Pädagogen J¯anis Cimze, der Pestalozzis und Diesterwegs Prinzipien folgte, wurde es zu einer wichtigen »Kaderschmiede« für die künftigen estnischen und lettischen Schulmeister. Die Ausbildung fand auf Deutsch statt und dauert anfangs drei, ab 1879 vier Jahre. Das Seminar wurde 1887 im Zuge der Russifizierung zu einer bloßen Küsterschule herabgestuft und 1890 auf Beschluss der Ritterschaft ganz geschlossen. Es hatte zu jenem Zeitpunkt aber immerhin ca. 100 jungen Esten eine solide Ausbildung verschafft. Nach dem Abschluss der dortigen Ausbildung trat Jakobson 1859 erst 18-jährig die nach dem Tod seines Vaters (1857) verwaiste Küsterstelle in Torma an, wo er es aber nur bis 1862 aushielt. Seit 1861 schwelte ein Konflikt mit dem örtlichen Gutsbesitzer, dessen arroganter Neffe zudem den jungen Küster einmal schwer beleidigt hatte. Jakobson zog mit seinen Geschwistern und seiner Mutter, für deren Unterhalt er sorgte, nach Jamburg (seit 1922 Kingissepp) im Gouvernement St. Petersburg, 22 km östlich von Narva an der Bahnstrecke zur Hauptstadt gelegen, um dort an einer deutschen Kolonistenschule zu arbeiten. In den Erinnerungen eines Zeitgenossen (Rosenthal 1912, 79–82) wird Jakobsons Konflikt mit dem jungen Adligen eine initialzündende Bedeutung beigemessen, was Jakobsons spätere politische Einstellung und seine Abneigung gegen die deutsche Oberschicht und Pastorenschaft anbelangt. Auch wenn dies etwas vereinfachend klingen mag, ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Streit ein einschneidendes Ereignis für den 20-Jährigen war, der gerade im Begriff war, sich eine Karriere aufzubauen. Nun sah er sich genötigt, sich eine andere Stelle zu suchen. Es folgten unruhige Jahre mit wechselnden Stellungen und Wohnorten, seit 1864 war Jakobson in St. Petersburg und absolvierte eine Ausbildung zum Gymnasiallehrer. In dieser Funktion war er bis 1871 in der Hauptstadt tätig, danach lebte er kurzzeitig in Tallinn, unternahm eine Reise nach Finnland, war Gemeindeschreiber in Vändra und kaufte sich 1874 einen Bauernhof in Kurgja. Dies war möglich geworden, nachdem er seine Rechte an den Schulbüchern an den Verleger Laakmann (s.u.) verkauft hatte. Im gleichen

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Jahr heiratete er und konzentrierte sich fortan auf die Landwirtschaft und die Verwirklichung seines schon lange gehegten Traumes: die Herausgabe einer eigenen Zeitung. Das gelang erst 1878, als Jakobson noch vier Jahre vergönnt waren. 1882 starb er noch nicht 41-jährig an einer Lungenentzündung. Jakobsons Bedeutung für die kulturgeschichtliche Entwicklung Estlands in dieser Periode ist seiner Tätigkeit in drei Funktionen zu verdanken: Als Journalist, als Pädagoge und als politischer Agitator. Seine schriftstellerische Tätigkeit tritt demgegenüber in den Hintergrund. Er hatte auf Deutsch zu dichten begonnen und war erst zum Estnischen gewechselt, nachdem SchultzBertram, mit dem er in St. Petersburg Kontakt hatte, ihm dazu geraten hatte. Danach erschienen verstreut einige satirische Gedichte, 1870 auch ein separater Gedichtband mit patriotischer Lyrik, ferner Gedichtübersetzungen und ein Schauspiel (s. § 22). Seit 1865 lieferte Jakobson Beiträge für den Postimees, mit dessen gemäßigter Haltung er aber mehr und mehr in Konflikt geriet, bis ihm Jannsen ab Februar 1871 den Zugang zu seinem Blatt verwehrte (s. § 15). Bereits seit dem Ende der 1860er-Jahre hatte Jakobson sich um die Erlaubnis zur Herausgabe einer eigenen Zeitung bemüht, aber immer wieder erfolglos. Nach dem Rauswurf aus dem Postimees schrieb er für russische und deutsche Zeitungen. Als am 11. März 1878 die erste Nummer seiner eigenen Zeitung Sakala erschien, begann mit einem Schlage eine neue Periode in der Geschichte der estnischen Presse (s. § 20). Jakobsons praktische Arbeit im schulischen Bereich hatte ihm bald gezeigt, dass die Lehrmaterialien unzureichend waren. 1867 erschien im Selbstverlag in St. Petersburg sein Abc-Buch, das in neuer Orthographie abgefasst war und dessen zahlreiche Neuauflagen ab 1878 zum wirtschaftlichen Erfolg des Tartuer Verlegers Laakmann beigetragen haben dürften. Das traf noch mehr auf die Lesebücher zu, mit deren Publikation Jakobson parallel begann und die von Anfang an bei Laakmann erschienen. 1867 erschien der erste Band eines auf drei Bände angelegten Kooli Lugemise raamat (Schullesebuch), der Texte von über zwanzig Autorinnen und Autoren sowie Volksdichtung enthielt und ein Verkaufsschlager wurde: Innerhalb von 40 Jahren sind von dem Buch 15 Auflagen in annähernd 100000 Exemplaren gedruckt worden (vgl. R. Põldmäe 1962). Der zweite (1875) und dritte (1876) Teil waren weniger verbreitet, aber auch hiervon erschienen mehrere Neuauflagen. Jakobsons Schulbücher waren bis zum Ersten Weltkrieg in Estland in Gebrauch und sorgten dafür, dass praktisch jeder estnische Haushalt eine Sammlung von Texten der estnischen Literatur besaß (vgl. Jansen 1999). Die politische Tätigkeit von Jakobson ging einher mit der journalistischen. Im Oktober 1868 trat er in der Vanemuine-Gesellschaft mit einer Rede

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auf, die als erste von drei politischen Manifestationen in die Geschichte einging. Die zweite und die dritte Rede wurden 1870 gehalten. Danach veröffentlichte er sie gemeinsam unter dem Titel Kolm isamaa kõnet (Drei vaterländische Reden, 1870). Der Titel der ersten Rede war angekündigt als »Einst und jetzt«, tatsächlich lautete er dann aber »Licht, Finsternis und Morgenröte in der Geschichte des estnischen Volkes«, woraus bereits hervorgeht, was ihr Thema war: Die »wahre« Geschichte des estnischen Volkes und seiner einstigen Freiheit, der die Eroberung durch die Deutschen folgte, von denen nun allmählich die Emanzipation erfolgte. Damit wandte er sich erstmalig gegen die »Kulturträger«-Theorie der deutschen Oberschicht, die bis dahin die vorherrschende und allgemein verbreitete Ansicht war. Die zweite Rede erfolgte als Festrede zum 5-jährigen Bestehen der Vanemuine-Gesellschaft, hier ging es um den »Kampf auf dem Acker des estnischen Geistes«. Zwei Monate später erfolgte an gleicher Stelle Jakobsons dritte Rede zum Thema »Hexenglaube und Hexenprozesse.« Die Aufnahme aller drei Reden war sehr positiv, aber keineswegs stürmisch oder euphorisch. Erst ihre Beförderung zum Druck (1870) und anschließende systematische Verbreitung ließen sie zu dem werden, als was sie in der späteren Geschichtsschreibung immer wieder angesehen worden sind und weswegen sie der schärfsten Kritik von deutschen Kreisen ausgesetzt waren: als erste politische Willenserklärung einer entstehenden Nation. (Vgl. A. Palm 1964) Jakob Hurt wurde 1839 in Südestland geboren und gehörte damit zur gleichen Generation wie Jakobson und Koidula. Er ging in Põlva und Tartu zur Schule und blieb auch zum Studium der Theologie in der Universitätsstadt. Seine eigentliche Neigung galt aber der Philologie, und seine größte Wirksamkeit erzielte er wie oben (§ 8) erwähnt auf dem Gebiet der Folkloristik. Während des Studiums und in seiner Zeit als Gymnasiallehrer in Tartu (1868–1872) stand er in intensivem Kontakt mit den dortigen intellektuellen Kreisen, so dass es nicht überrascht, dass er in der Vanemuine-Gesellschaft aktiv war, zeitweise (1871) beim Postimees die Beilage gestaltete und 1869 zum Liederfest mit einer programmatischen Festrede in Erscheinung trat. Hiermit begründete er seine führende Rolle in der weiteren nationalen Bewegung, die er von 1872 an von Otepää aus, wo er eine Pfarrstelle erhalten hatte, steuerte. Die Rede war ursprünglich angelegt als ausführliche Behandlung allgemeiner und tagespolitischer Probleme, musste dann aber infolge des starken Regens sehr gekürzt werden und hat in dieser kürzeren Variante unter der Bezeichnung »Drei Wünsche« Geschichte gemacht. Diese drei Wünsche waren laut Hurt die folgenden: Erstens sollen Geist und Verstand und die Bereitschaft, sich für eine Sache einzusetzen, unter dem estnischen Volk wachsen;

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hierzu bedarf es mehr Bildung, Schulen, Bibliotheken, Gesellschaften. Zweitens soll ein jeder, der sich bildet, weiterhin Este bleiben und nicht deutsch werden, wie es bislang so oft geschehen sei; Letzteres sei zwar verständlich, da die Esten ein unterworfenes Sklavenvolk gewesen seien und ein jeder, der diesem Stand entkommen sei, froh sei, aber mittlerweile seien die Esten frei und könnten – und müssten – sich behaupten. Drittens bedürfe es auch einer höheren Schule, in der auf Estnisch unterrichtet werde, weil wahre Bildung nur in der Muttersprache geschehen könne. Das war einstweilen genug und wurde Leitfaden für die gesamte nationale Bewegung der kommenden Jahr(zehnt)e. 1880 verließ Hurt, der immerhin Pastor war und sich daher mit Jakobson wegen dessen antiklerikaler Haltung in einigen wichtigen Fragen überworfen hatte, Estland und trat eine Pfarrstelle in St. Petersburg an. Seinem nochmaligen Versuch, 1879 eine Zeitung oder Zeitschrift herauszugeben, war kein Erfolg beschieden (Laar 1987). Was Estland anbetraf, konzentrierte er sich nunmehr ganz auf die Sammlung von Folkloretexten. Als er 1907 starb, hatte er sich damit für die estnische Folkloristik unsterblich gemacht. Buchhandel Maßgeblich für die Propagierung und Durchsetzung politischer Ideen sowie der Förderung der kulturellen Bildung und damit eines nationalen Selbstbewusstseins war neben der Presse auch der Buchhandel, denn zusehends wurden nun, wie das Beispiel Jakobsons zeigt, auch Bücher abgefasst und verlegt. Und die mussten entsprechend verbreitet werden. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts gab es den Buchhandel als eigenen Wirtschaftszweig praktisch überhaupt nicht, die Verbreitung und der Vertrieb von Büchern erfolgte entweder über die Drucker selbst oder aber über die Buchbinder. Die ersten Buchhandlungen in Tallinn wurden 1721 und 1759 gegründet, in Tartu 1785, aber sie alle hatten kaum etwas mit estnischem Schrifttum zu tun. Das Monopol für die geistige Nahrung des Volkes hatten die Pfarrer und Küster inne, die für den Vertrieb der Katechismen, Gesangbücher, Bibeln und anderer geistlicher Bücher sorgten. Dies darf allerdings nicht im kommerziellen Sinne missverstanden werden, vielfach geschah der Vertrieb auch in Gestalt einer kostenlosen Verteilung, weil auf dem Lande überhaupt keine Kaufkraft vorhanden war. Die entscheidenden Dinge des täglichen Lebens waren naturalwirtschaftlich geregelt; das wenige Bargeld, das zur Verfügung stand, wurde nicht ohne weiteres für Bücher ausgegeben. Da gab es meistens Notwendigeres. Zur Finanzierung der kostenlosen Abgabe hatte die Kirche eigene Hilfsgesellschaften oder Bücherkassen ins Leben gerufen, die sich im Übrigen nicht nur aus Spenden, sondern auch aus

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Bußgeldzahlungen speisten (vgl. Paatsi 2003). Somit floss ein Teil des wenigen Bargelds indirekt doch der Anschaffung von Lesestoff zu (!). Die einzige andere Literaturquelle war der Krämerladen, wo es vielleicht den einen oder anderen Kalender zu kaufen gab. Es war daher eines der vornehmsten Anliegen der frisch gegründeten Gelehrten Estnischen Gesellschaft (s. § 17), die Verbreitung des estnischsprachigen Buches zu fördern. Zu diesem Zweck wurde ein eigenes Buchlager angelegt, aus dem sich ein über das Land verstreutes Netz von Korrespondenten entsprechend bedienen sollte, um an Ort und Stelle die Bücher zu vertreiben. So schön es gedacht und geplant war, so unrealistisch war es doch, und 1845 wurde das Unternehmen, das aufs Engste mit dem 1842 verstorbenen Alexander von Hueck verbunden war, weitgehend aufgegeben, wenngleich einige wenige – wie kein Geringerer als Kreutzwald in Võru – noch ein paar Jahrzehnte weitermachten. Aufs Ganze gesehen war der Bedarf an der durch die Gesellschaft vertriebenen Literatur noch nicht groß genug, und der bestehende Bedarf an geistlicher Literatur wurde mühelos von dem eingefahrenen System der Pfarrer und Küster gedeckt (Puksov 1933). Tatsächlich kam die Gelehrte Estnische Gesellschaft nur wenige Jahrzehnte zu früh, denn 1867 gelang es sehr wohl, dem klerikalen Monopol etwas entgegenzusetzen. In diesem Jahr gründete Heinrich Laakmann seinen Buchladen, nachdem er schon dreißig Jahre lang als Drucker und Verleger in Estland aktiv gewesen war. Er war nach seiner Ausbildung in Deutschland schon 1832 einmal nach Tallinn gekommen, dann aber nach Moskau weiter gezogen und erst 1837 wieder nach Tallinn zurückgekehrt, um dann die Druckerei Lindfors’ Erben zu pachten. Gleichzeitig richtete er in Tartu eine Außenstelle der Druckerei ein, die sich 1840 verselbstständigte und unter seinem Namen lief. 1844 übersiedelte Laakmann nach Tartu und baute seine Druckerei zur modernsten des Landes aus. Er war einer der Ersten, der Lithographien verwendete, spezialisierte sich bald auf die Produktion estnischsprachiger Bücher und erlangte auf diesem Gebiet schnell eine führende Position. Entsprechend den oben erwähnten Gepflogenheiten vertrieb er seine Bücher selbst, aber die Gründung eines eigenen Buchladens scheiterte an der Starrheit der Zunft. Erst als 1867 das Zunftsystem aufgehoben wurde, konnte Laakmann seine eigene Buchhandlung eröffnen. Zu jenem Zeitpunkt gab es bereits zwei Buchläden in Tartu, aber die von Laakmann ins Leben gerufene Buchhandlung war die erste, die sich auf estnische Bücher spezialisierte. Dadurch – aber ebenso durch die verlegerische Tätigkeit, denn bei Laakmann erschien im Zeitraum 1840 bis 1880 mehr als ein Drittel aller estnischen Bücher, und nicht zuletzt so wichtige Periodika wie der Postimees und Kalender – erlangte sie große Bedeutung für die nationale Bewegung. Laakmann war über die Grenzen Est-

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lands hinaus bekannt, da er in der Praxis das Monopol für die Verschickung estnischer Bücher in andere Zentren des Reiches besaß (vgl. Loosme 1964, Jahilo 2003). Estnische Bücher wurden auch anderswo verkauft, aber Laakmann hatte die exponierteste Position inne. In Tallinn konnte man seit dem frühen 19. Jahrhundert estnische Bücher bei der Buchhandlung von Eggers, später Kluge & Ströhm, erhalten (Aule 1970). Diese Buchhandlung wurde hernach auch auf verlegerischem Gebiet aktiv und brachte wichtige estnische Bücher heraus. Aber Kluge & Ströhm war nicht spezialisiert auf estnische Bücher, sondern hatte sie wie viele Läden nur nebenbei im Angebot. Dichtung vor und neben Koidula Koidulas Dichtung wurde zwar sicherlich auch deswegen so berühmt, weil sie etwas als Erste und als Einzige tat, dennoch bedeutet das nicht, dass sie in ihrer Zeit völlig alleine war und keinerlei zeitgenössische Kolleginnen oder Kollegen gehabt hätte. Die sich verbreiternde Intellektuellenschicht führte dazu, dass es zusehends mehr Personen gab, die dichteten und ihre Gedichte auch publizierten. Einer der Wichtigeren von ihnen war Friedrich Kuhlbars, der sogar noch vor Koidula debütierte. Er ist 1841 in Südestland geboren und ging in Tartu zur Schule. Nach dem Schulabschluss (1858) folgten zwei Studienjahre am deutschen Lehrerseminar in Tartu und 1861 eine erste Anstellung als Lehrer in Kurland, also in lettischsprachigem Gebiet. Ein Jahr später wechselte er an die deutsche Knabenschule in Viljandi, zu dessen Direktor er bald aufstieg. 1895 wurde er wegen mangelnder Russischkenntnisse aus dem Schuldienst entfernt. Danach lebte er, der sich von gesellschaftlichen Aktivitäten immer abseits gehalten hatte, noch zurückgezogener in Viljandi, wo er 1924 starb. Mit Kuhlbars haben wir noch einen typischen Vertreter der Übergangsgeneration vor uns, der in mehreren Sprachen dichtete. Interessanterweise war es bei ihm aber nicht so, dass er auf Deutsch begann und dann auf Estnisch weitermachte, sondern umgekehrt: 1863 debütierte er mit romantischen, stark an deutsche Vorbilder angelehnten südestnischen Versen, die nicht zuletzt wegen der Verwendung des Dialekts relativ unbeachtet blieben. Weitere Sammlungen folgten 1868 und 1870, wobei ihm, darin ist er Koidula vergleichbar, half, dass einige Lieder erfolgreich vertont wurden und heute in aller Munde sind. Dies geschah wohlgemerkt noch nicht auf dem ersten Liederfest, sondern erst später. Danach veröffentlichte der Autor plötzlich zwei deutsche Gedichtsammlungen – vielleicht weil er hoffte, damit mehr Erfolg zu haben: 1877 anonym Viliènde und 1904 unter dem Namen Fritz Klüse

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Vom Ostseestrande. Sie fanden indes kaum mehr Echo als seine estnischen Verse und gelten heute allenfalls als romantisch-epigonale Kuriosität. Unter den 21 Gedichten aus der zweiten Sammlung befinden sich zum Beispiel auch zwei Gelegenheitsgedichte zu Hochzeiten und Auszüge aus ungedruckten Dramen des Autors. Des weiteren schrieb Kuhlbars Kindergedichte, mit denen er – neben seinen patriotischen Liedern – sich einen festen Platz im lyrischen Alltagsrepertoire der Esten gesichert hat. Ein weiterer besonderer Fall ist Juhan Weitzenberg, der noch ein wenig älter als die Vorgenannten ist und noch früher debütierte. Wegen des allzu geringen Umfangs – man beziffert sein Werk auf 20 bis 30 Gedichte, die verstreut in Zeitungen oder als Separatdrucke erschienen sind – ist er aber weitgehend in Vergessenheit geraten. Weitzenberg war 1838 in Südestland geboren und nach der Schulzeit an der Tartuer Kreisschule kurzzeitig Hauslehrer beim Küster in Torma gewesen, und zwar in den Jahren 1855 bis 1857, als der dortige Küster Adam Jakobson hieß. Also war Weitzenberg auch der Lehrer von Carl Robert Jakobson gewesen, mit dem er in den Folgejahren noch Kontakt hielt, der nach seiner Übersiedlung nach Narva (1861) aber bald abriss. Damit entfernte er sich auch vom kulturellen Zentrum Tartu, unternahm Reisen nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz, ebenso nach Schweden und Finnland, und starb relativ unbeachtet 1877 in Narva. Sein bekanntestes Gedicht ist Tönnis Laks ehk Eestlaste isamaa (T.L. oder Der Esten Vaterland, 1862), ein 64-zeiliges Gedicht über einen Auswanderer nach Russland, das als Broschüre in Narva gedruckt wurde und im Volksmund weit verbreitet war. Da der Dichter hier wie auch in einem anderen Gedicht von 1864 von konkreten historischen Begebenheiten berichtete, ist seine Lyrik in den Bereich der neueren Volksdichtung gerückt worden und als solche auch später rezipiert worden. Von seiner Popularität zeugt auch, dass 1893 eine deutsche Übersetzung in der Düna-Zeitung abgedruckt wurde unter dem Titel Laksi-Tõnnis. Eine estnische Erzählung. In Versform. In engem Zusammenhang mit der entstehenden Musikkultur sind die Verse von Martin Körber (Bruder von Carl K., s. § 14) zu betrachten. Körber ist 1817 in Võnnu geboren, ging in Tartu aufs Gymnasium und studierte dort von 1837 bis 1842 Theologie. Nach einer Anstellung als Lehrer in Kuressaare war er von 1846 bis 1875 Pfarrer in Anseküla auf dem Südwestzipfel von Saaremaa. Hier verfasste er geistliche Literatur, allen voran einen kleinen Katechismus, der seit 1864 58 (sic, s. Vinkel 1994, 120) Auflagen erlebt und eine Gesamtauflage von ca. 300000 Exemplaren erreicht hat. Nach seiner Pensionierung lebte Körber in Kuressaare, wo er sich ganz der Heimatforschung verschrieb und 1893 starb. Insbesondere seine historischen und landeskundlichen Arbeiten zu Saaremaa sind noch heute eine wichtige Quelle.

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Körbers Gedichte, die sich vorwiegend an sentimentalen und romantischen deutschen Vorbildern orientieren, erschienen seit 1862 in immerhin fünf Sammlungen und waren als Liedtexte gedacht. Denn Körber war es auch, der 1863 das erste lokale Liederfest auf Saaremaa veranstaltete. Die Gedichte werden heute nur noch im Zusammenhang mit den Liederfesten vorgetragen, haben sich dort aber einen festen Platz erobert. Schließlich kann Georg Julius Schultz-Bertram angeführt werden, der neben seiner vielfältigen publizistischen Tätigkeit 1866 auch einen estnischen Gedichtband vorlegte. Er war 1808 in Tallinn geboren und hatte von 1827 bis 1835 in Tartu Medizin studiert. Sein weiterer Lebensweg führte ihn nach St. Petersburg, wo er lange Zeit als Arzt tätig war, nebenher auch als Journalist und später als Zensor. Er war begeistert von der estnischen Volksdichtung und nicht ganz unbeteiligt am Zustandekommen von Kreutzwalds Kalevipoeg (s. § 18). Seine Beschäftigung mit der Volksdichtung mündete in ein zweisprachiges Epos Ilmatar (1870), dessen Titel auf das finnische Kalevala verweist, worin Ilmatar als Mutter Väinämöinens und Göttin der Lüfte auftritt. Schultz-Bertrams satirische Gedichte von 1866 sind am besten als poetische Humoresken zu charakterisieren und stehen streng genommen außerhalb des Kontexts der entstehenden estnischen Lyrik. Die war nun doch schon so weit gediehen, dass die estnische Öffentlichkeit nicht mehr jede estophile Fingerübung als estnische Dichtung ansah: Kreutzwald äußerte sich vernichtend über die Sprachqualität von Schultz-Bertrams Versuchen, und damit war ihr Schicksal für die weitere estnische Literaturgeschichte besiegelt.

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Kapitel IV: Professionalisierung (1870–1900)

Kapitel IV Professionalisierung (1870–1900) § 20 An der Schwelle zur kulturellen Emanzipation Neue Organisationsformen Nach der im Laufe der 1860er-Jahre erfolgten allmählichen, aber stetigen Etablierung einer ersten estnischen Intellektuellenschicht im Umkreis des Postimees und der Vanemuine-Gesellschaft, die in eine erste Großveranstaltung in Gestalt des Liederfestes einmündete, verlief die gesellschaftliche Entwicklung im Folgejahrzehnt geradezu stürmisch. Dies war auch eine direkte Folge der veränderten sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die dafür sorgten, dass mehr und mehr Esten eigenen Grund und Boden erwerben konnten und in den Städten sich ein estnisches Bürgertum herauszubilden begann. Damit einher ging ein gestiegenes politisches Bewusstsein und Selbstbewusstsein, deren eine Konsequenz der Zusammenschluss zu verschiedenen Organisationen ganz unterschiedlicher Zielrichtung war. Die wenigsten von ihnen hatten eine direkte literarische Intention, aber für die Herausbildung eines literarischen Feldes waren alle in der einen oder anderen Form bedeutend. In erster Linie sind hier die Chöre zu nennen, ohne deren Existenz einerseits die Durchführung eines landesweiten Liederfestes gar nicht möglich gewesen wäre, die andererseits aber gerade nach der erfolgreichen Durchführung eben dieses ersten großen Festes 1869 in zunehmendem Maße allerorten gegründet wurden. Als nächstes verdient ein Projekt, das die Bildungschancen der Esten verbessern sollte, besondere Erwähnung: Die Alexanderschule (estn. Aleksandrikool bzw. Eesti Aleksandrikool ). Auch wenn das Projekt am Ende zum Scheitern verurteilt war, kam ihm im Rahmen der allgemeinen Emanzipationsbewegung große Bedeutung zu. Der Gedanke war einfach und bereits Anfang der 1860er-Jahre aufgekommen, öffentlich formuliert wurde er im dritten Wunsch von Hurts Rede auf dem Liederfest: Wahre Bildung könne nur in der Muttersprache geschehen, und daher sollten sich die Esten, die bislang nur über das Deutsche oder das Russische in den Genuss höherer

§ 20 An der Schwelle zur kulturellen Emanzipation

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Bildung kämen, für eine estnischsprachige höhere Schule einsetzen. Im gleichen Jahr von Hurts Rede, 1869, wurde die Erlaubnis zum Geldsammeln für diesen Zweck erteilt. Im Laufe von fast zwei Jahrzehnten wurden von den über das ganze Land verteilten 146 örtlichen Komitees über 100 000 Rubel aufgebracht. Die Versammlungen der Komitees wurden nationale Manifestationen, die die örtliche deutsche Oberschicht mit zunehmendem Argwohn betrachtete. Gleichzeitig gab es aber auch innerhalb der so genannten Alexanderschule-Bewegung Meinungsverschiedenheiten und sogar offenen Streit, der im Verbunde mit anderen Widerständen und wohl auch der zunehmenden Russifizierung schließlich dazu führte, dass die 1888 tatsächlich in der Nähe von Põltsama auf einem Gut gegründete Lehranstalt russischsprachig (!) war. Übrig geblieben von der hehren Bewegung, die eine Art Kaderschmiede für eine künftige nationale Elite hätte werden sollen, war lediglich der Name, Eesti Aleksandrikool, und die Tatsache, dass das Estnische immerhin noch Unterrichtsfach war. In die Rolle der Kaderschmiede schlüpfte erst das 1883 gegründete Privatgymnasium von Hugo Treffner in Tartu, das trotz der Unterrichtssprache Deutsch (später Russisch) für viele junge Esten der Ort der Bildung und auch nationalen Selbstfindung wurde, denn Treffner war ein glühender Anhänger der »estnischen Sache«. Eine Besonderheit seines Gymnasiums war, dass es hier keine Altersbegrenzung wie bei staatlichen Schulen gab und man auch noch in fortgeschrittenen Jahren die Schulbank drücken und sich auf ein externes Abitur vorbereiten konnte. Dies führte zu einer bunten Mischung und auch nationalen Vielfalt von Schülern, zumal Treffner auch mittellosen Schülern durch Befreiung vom Schulgeld den Bildungsweg öffnete. Die 1870 gegründete Gesellschaft estnischer Landwirte (Eesti Põllumeeste Selts) mit ihren zahlreichen Ortsvereinen erlangte als Brutstätte eines politischen Selbstbewusstseins schnell große Bedeutung und wurde ebenfalls von der herrschenden Oberschicht mit Argusaugen beobachtet. Darüber hinaus waren sie in rein ökonomischer Hinsicht wichtig, weil gerade in diesem Bereich erheblicher Nachholbedarf bestand: Die Esten hatten zwar Jahrhunderte lang ihr Land bestellt, aber der Handel mit den landwirtschaftlichen Produkten, die allgemeine Planung und die Verwaltung bis hin zur Finanzbuchhaltung lagen in den Händen der Gutsbesitzer, so dass den Esten bislang kaum die Möglichkeiten gegeben waren, hier eigene Erfahrungen zu sammeln. So mussten sie denn auch entsprechendes Lehrgeld in verschiedenen wirtschaftlichen Unternehmungen zahlen, die in den 1870er-Jahren zustande kamen. Neben der Alexanderschule wären hier der Kauf eines Guts auf der Krim oder die Gründung der Handelsschiff-Gesellschaft Linda (1879) zu nennen, die beide mit großer nationaler Begeisterung erfolgten, letztendlich

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aber ebenso große finanzielle Misserfolge waren. Dennoch waren sie für die Herausbildung eines Gemeinschaftsgefühls und nationalen Selbstbewusstseins wichtig. Ebenfalls in das Jahr 1870 fiel die Gründung der Estnischen Studentengesellschaft (Eesti Üliõpilaste Selts). Genau genommen wurde später eine Rückdatierung vorgenommen, denn diesen Namen trägt die Vereinigung erst seit 1883. 1870 hatten sich estnische Studenten zu Lektüreabenden zusammengefunden, auf denen man gemeinsam Kreutzwalds Kalevipoeg las und sich die schwierigen Stellen von Hurt, der damals Gymnasiallehrer in Tartu war, erklären ließ. Die Lektüre des Epos wurde als nationaler Akt aufgefasst, was auch die Bekenntnis zum Estentum an einer noch durch und durch deutschsprachigen Universität war. Die Vereinigung gab sich einen für studentische Verbindungen üblichen lateinischen Namen, Vironia, in Anlehnung an die finnische Bezeichnung für Estland (Viro, nach der nordestnischen Landschaft Virumaa, Wierland). Dem finnischen Vorbild folgte man auch in der Farbenwahl: Den finnischen Nationalfarben Blau (Himmel) und Weiß (Schnee) wurde das Schwarz als Unterscheidungsmerkmal und Symbol für die düstere Zeit der Leibeigenschaft hinzugefügt, die den Finnen fehlte. Als die Anerkennung als studentische Korporation jedoch verwehrt wurde, wählte man einen anderen Namen, unter dem die Gesellschaft bis heute, zwischenzeitlich ins Ausland ausgewichen, existiert. Ihre Mitglieder waren in vielerlei Hinsicht direkt oder indirekt am Aufbau des estnischen Staates beteiligt. Symbolisiert wird dies dadurch, dass die Farben der Eesti Üliõpilaste Selts – blau-schwarz-weiß – die estnischen Nationalfarben geworden sind. (Vgl. Grönberg 1971) In Kenntnis dieser gesellschaftlichen Zusammenschlüsse erscheint es nicht verwunderlich, dass zum Ende der 1870er-Jahre eine Art politisches Bewusstsein entstanden war. Gleichzeitig waren so viele Personen von verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Interessen aktiv, dass es zwangsläufig zu Meinungsverschiedenheiten kam, die 1878 zum so genannten »großen Bruch« der nationalen Bewegung führten. Vereinfacht gesagt, handelte es sich dabei um eine Aufspaltung in einen radikalen und einen gemäßigteren Flügel, personifiziert vom radikalen und stark antiklerikalen Jakobson auf der einen und dem gemäßigteren Pfarrer Hurt auf der anderen Seite. Auslösende Faktoren waren neue radikale Zeitungen (s. u.) und möglicherweise auch banaler Streit ums Geld: Aufgrund der oben erwähnten verschiedenen Projekte war ein gewisses Kapital vorhanden, das man bis zur eigentlichen geplanten Verwendung auch verwalten musste, d. h. zum Beispiel aber auch beleihen konnte. Und da konnte man sich schon gehörig über den richtigen Weg streiten.

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Sicherlich hat ein solcher Zwist die nationale Emanzipationsbewegung für eine Zeit geschwächt, andererseits darf man sich fragen, ob unter dem Druck der bald darauf einsetzenden verstärkten Russifizierung überhaupt mehr möglich gewesen wäre. Festzuhalten ist, dass inzwischen ein Politisierungsgrad erreicht war, der auch zu bewussten Manifestationen in der Öffentlichkeit führte. So stellten 1878 die Anhänger Hurts ein 15-PunkteProgramm auf, in dem sie unter anderem eine intensive Beschäftigung mit der Muttersprache, Estnisch-Kenntnisse bei den Beamten im Lande, die Einrichtung eines Lehrstuhls für Estnisch und verwandte Sprachen an der Universität Tartu und das Estnische als Gerichtssprache forderten (s. Hurt 1989, 73 f.). Drei Jahre später begab sich eine Delegation – diesmal Vertreter des radikaleren Flügels, der mehr auf eine Zusammenarbeit mit den Russen setzte – nach St. Petersburg, um dem soeben auf den Thron gestiegenen Alexander III. eine Petition mit den Wünschen des estnischen Volkes, deren maßgeblicher Verfasser Jakobson gewesen war, zu überreichen (vgl. § 2, auch Hasselblatt 1995). Die Verbreiterung des Pressespektrums Nach den Anfängen der regelmäßig erscheinenden estnischen Presse (vgl. § 15) war die weitere Entwicklung zurückhaltend gewesen, da die Behörden zahlreiche geplante Neugründungen unterbanden. Ende der 1870er-Jahre trat auch hier eine Veränderung ein, die mit Carl Robert Jakobson und seiner Zeitung Sakala (historischer Landschaftsname für die Gegend im Südwesten Estlands um Viljandi) verbunden ist. Als 1878 die erste Nummer dieser als erstes politisches Blatt Estlands zu bezeichnenden Zeitung erscheinen konnte, hatte Jakobson eine zehnjährige Erfahrung hinter sich, was das Beantragen von Genehmigungen betraf, denn bereits 1868 hatte er es zum ersten Mal erfolglos versucht. Nachdem Jannsen ihm den Zutritt zum Postimees verwehrt hatte, war Jakobson auf deutsche und russische Blätter ausgewichen, aber er wollte auch auf Estnisch publizieren und trieb weiterhin fieberhaft die Herausgabe eines eigenen Blattes voran. In diesem Bestreben stand er nicht alleine, man kann seit 1862 aus den Briefwechseln von führenden Intellektuellen des Landes herauslesen, dass alle sich nach einem Gegengewicht zum etwas behäbigen Postimees sehnten. Dennoch ist es in erster Linie Jakobsons unermüdlichem Einsatz zu verdanken, dass der Postimees 1878 endlich Konkurrenz bekam. Möglich wurde dies durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, deren Zusammenfügung man getrost als politisches Geschick bezeichnen kann: Die Beantragung erfolgte in St. Petersburg, wobei mit Hilfe der dortigen Kon-

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taktpersonen (s.u.) der günstigste Zeitpunkt abgepasst und die am wohlsten gesinnten Ansprechpartner ausgesucht wurden; als Erscheinungsort wurde Viljandi gewählt, das fern von Tallinn, Tartu und Riga im Herzen eines mit guten Böden ausgestatteten landwirtschaftlich prosperierenden Gebietes lag, so dass man das Blatt vor allem als Agrarblatt ankündigen konnte, im Übrigen war Jakobsons Hof in Kurgja nicht allzu weit von Viljandi entfernt; als Zensor – den durfte man nämlich selbst wählen bzw. zumindest vorschlagen – war an den zuständigen Beamten in Riga gedacht worden, der den nötigen Abstand zu den örtlichen Gegebenheiten und damit auch zum örtlichen Adel aufwies. Dennoch blieb es im autokratischen Zarenreich mit seinen ebenso bizarren wie obskuren bürokratischen und anderen Hierarchien eine Art Lotteriespiel, was seine logische Fortsetzung nach Erteilung der Genehmigung fand, als wechselnde Verbote das Erscheinen des Blattes immer wieder unterbrachen. 1878 war die Zeitung zwei Monate geschlossen, 1879 sogar zwei Drittel des Jahres, nur 1880 und 1881 sind zu Jakobsons Lebzeiten vollständige Jahrgänge der Wochenzeitung erschienen. Das alles tat dem überwältigenden Erfolg von Sakala indes keinen Abbruch. Schon kurz nach der Gründung war das Blatt, das sich durch ein weit gefächertes Korrespondentennetz, enthüllenden Journalismus und eine radikale politische Haltung, die gegen die Obrigkeit in Gestalt von Gutsbesitzern und Kirche gerichtet war, auszeichnete, das am meisten gelesene seiner Art. Es hatte mit seinen ca. 4500 Exemplaren dem Postimees, der nur kurzzeitig, im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den russisch-türkischen Krieg, an die 5000 Exemplare herangereicht war und sich ansonsten bei einer Auflage von 2500 eingependelt hatte, den Rang abgelaufen. Damit hatte sich das politische Spektrum der estnischen Presselandschaft ausgeweitet. Sakala stand mit seinen politischen Manifestationen und Forderungen in gewisser Hinsicht am Anfang einer damals noch undenkbaren estnischen nationalen Unabhängigkeit. Jakobsons Zeitung war weder die einzige noch die erste Neugründung zu Beginn des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts, aber aufgrund ihrer politischen Bedeutung überragte sie alle anderen und kann daher als Paradebeispiel für die kulturellen und politischen Veränderungen der Zeit angeführt werden. Drei Jahre früher war das Ristirahwa pühhapäwa leht (Sonntagsblatt des Christenvolkes) gegründet worden, das sich als konservative – noch bis 1880 wurde hier die alte Orthographie verwendet! – und deutschfreundliche Publikation erwies und keine große Breitenwirkung erzielte. Kurz nach Sakala begann 1879 die von den Ritterschaften ins Leben gerufene und finanzierte Zeitung Tallinna Sõber (Tallinner Freund) ihr Erscheinen. Sie war direkt gegen Sakala gerichtet und bereits geplant worden, sobald man erfahren hatte,

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dass Jakobson eine Genehmigung bekommen hatte, d.h. bevor die erste Nummer von Sakala erschienen war. Aufgrund einer relativ geringen Zahl von Abonnenten blieb sie aber weitgehend wirkungslos. Im Volksmund erhielt sie den sich aufgrund des Gleichklangs anbietenden Namen Tallinna tõbras, was so viel wie ›Tallinner Rindvieh‹ bedeutet (Ibius 1965, 673). Eine ebenfalls ritterschaftlich unterstützte Zeitung war der Kündja (Pflüger) in Riga, der auch eine lettischsprachige Parallelausgabe hatte. Ebenfalls 1879 wurde die Tartu Eesti Seitung (Tartuer estnische Zeitung) ins Leben gerufen, die die politische Linie von Sakala direkt unterstützte und in den Monaten, als Letztere nicht erscheinen konnte, deren Position einnahm. Sie existierte bis 1882 und wurde dann von Jaak Järv, der vorher für geplante Gründungen keine Erlaubnis erhalten hatte, nach Tallinn überführt und dort unter dem Namen Virulane (›Der Wierländer‹ nach dem Namen der nordestnischen Provinz) weitergeführt. Weitere wichtige und zum Teil bald sehr einflussreiche Neugründungen, die zum Teil eine gemäßigtere, auf jeden Fall eine andere Linie verfolgten, waren Jakob Kõrvs Valgus (Licht, seit 1880, ursprünglich ganz im Sinne Jakobsons, später aber reaktionär und zarentreu) und Ado Grenzsteins Olevik (Gegenwart, seit 1881). Gerade die drei letztgenannten Redakteure – Järv, Kõrv und Grenzstein – verkörperten die nun entstandene journalistische Streitkultur und erhitzten die Gemüter auf Jahre hinaus, wobei besonders die Person und politische Haltung Grenzsteins, die in der Phase der Russifizierung (s.u.) von der nationalen Bewegung leichtfertig ins gegnerische Lager abgeschoben wurde, bis heute verschiedenen Interpretationen und Bewertungen ausgesetzt ist (vgl. Tuglas 1926, Arukaevu 1997). Der Boom im journalistischen Bereich darf zwar einerseits nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in den nämlichen Jahren fast ebenso viele Ablehnungen eingereichter Genehmigungsanträge gab – 1879 hatten weder Järv für seine Linda noch Lilli Suburg für ihre geplante Frauenzeitschrift eine Erlaubnis bekommen, 1881 wurden Gesuche von Ado Reinvald, Mihkel Veske und Aleksander Eduard Brandt und 1882 eines von Karl August Hermann negativ beschieden –, er zeigt aber andererseits auch, dass sich die Situation innerhalb der estnischen Gesellschaft verändert hatte. Nun war ein Potenzial auf beiden Seiten vorhanden, sowohl was die Finanzkraft der Leserschaft betraf, als auch hinsichtlich der Lieferung von Beiträgen. Mit weiteren Neugründungen in den 1880er-Jahren – 1884 wurde in Kuressaare das deutschfreundliche Blatt Saarlane (Der Inseleste) gegründet, 1887 in Narva Virmaline (Nordlicht) – und dem Neubeginn des Postimees 1886 in Tartu unter der Redaktion von Karl August Hermann, dessen Blatt seit 1891 die erste täglich, sechsmal pro Woche, erscheinende Zeitung war,

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war eine Vielfalt erreicht, die über die tagespolitische Wirkung hinaus sich auch auf die Literatur im engeren Sinne auszuwirken begann. Denn die Zeitungen kämpften um ihre Leserinnen und Leser nicht nur mit Hilfe von politischen Kommentaren und aktueller Berichterstattung, sondern auch mit Fortsetzungsgeschichten und Romanen. So wurde die Presse zum Motor der Literatur in doppelter Hinsicht: Die gezahlten Honorare ermöglichten es den angehenden oder potenziellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, sich ihrer Tätigkeit eingehend zu widmen, gleichzeitig wurden ihre Texte in den Zeitungen sofort unter das Volk gebracht. Und nicht zuletzt wirkte sich der tägliche und zusehends routinierter werdende Umgang mit dem Wort förderlich aus. Ende des 19. Jahrhunderts verfügte Estland über eine solide und vielfältige Presselandschaft mit zehn regelmäßig erscheinenden Zeitungen: Vier in Tallinn, zwei in Tartu, die übrigen in Pärnu, Viljandi, Narva und Kuressaare. Wenn man hier die diversen Beilagen und auch die Zeitschriften hinzuzählt, kommt man auf über 20 Titel, die eine Garantie für inhaltliche und wirtschaftliche Konkurrenz boten. Die Petersburger Fraktion In den vorangegangenen Paragraphen ist immer wieder St. Petersburg erwähnt worden, und tatsächlich ist die Bedeutung der Hauptstadt des Zarenreiches, bzw. konkreter der relativen Nähe dieser Hauptstadt, für die kulturelle Entwicklung in Estland nicht zu unterschätzen. Aus der Not, keine 150 Kilometer Luftlinie hinter der Landesgrenze eine russische Stadtgründung vor die Nase gesetzt bekommen zu haben, konnten die Esten im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Tugend machen. Schließlich bedeutete die Nähe der schnell zur Hauptstadt erhobenen Metropole auch die Nähe zu den staatlichen Eliten und höchsten Kreisen der Macht. Großstädte üben immer eine magische Anziehungskraft auf die verschiedensten Bevölkerungsschichten aus, und eine weitere Attraktion lag für manche Esten darin, dass die dortige Kultur sich deutlich von der einheimischen, deutsch geprägten Kultur abhob bzw. sogar ein wünschenswertes Gegengewicht zur heimischen Gutsherrnherrlichkeit bildete. So überrascht nicht, dass mehr und mehr Estinnen und Esten ihr Glück in St. Petersburg suchten. Hier gab es einen viel größeren Stellenmarkt, hier gab es Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der staatlichen Bürokratie, wie sie in Estland kaum möglich waren, hier wehte der Wind der großen weiten Welt, der die recht konservativen Randprovinzen nur selten streifte. St. Petersburg war für viele tatsächlich die »Stadt der Hoffnungen«, wie Raimo Pullat seine Monographie

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(2004) bezeichnenderweise betitelt hat. Und schließlich gab es trotz der Existenz der Tartuer Universität, wo die Zahl der estnischen Studenten kontinuierlich angestiegen war, immer noch Fachgebiete, die in Estland nicht abgedeckt waren: Wer im Bereich der bildenden Kunst oder der Musik nach Höherem strebte, musste das Land verlassen, da es auf estnischem Gebiet weder ein Konservatorium noch eine Kunsthochschule gab. St. Petersburg hatte auch dieses zu bieten. Die Zahl der estnischen Einwohner der Hauptstadt stieg beständig, auch wenn sich ihre exakte Höhe kaum bestimmen lässt, da die verschiedenen Erhebungen nicht immer nach der nationalen Zugehörigkeit unterschieden, die ihrerseits nach unterschiedlichen Kriterien (Muttersprache, Gemeindezugehörigkeit) gemessen wurde. Grob gesprochen kann man davon ausgehen, dass Mitte des 19. Jahrhunderts ca. 5000 Esten in St. Petersburg wohnten, am Ende des Jahrhunderts drei- oder viermal so viel. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bzw. der Oktoberrevolution hat sich diese Zahl dann noch einmal mindestens verdoppelt, so dass kühne Schätzungen von ca. 50000 Esten ausgehen, die 1917 in der Hauptstadt des Zarenreichs gewohnt haben mögen. Gemeinsam mit den Finnen nahmen sie dort nach den Russen, Deutschen, Polen, Weißrussen und Juden den sechsten Platz in der inzwischen fast anderthalb Millionen Einwohner zählenden Stadt ein, während die Zahl der Letten wesentlich geringer war (Pullat 2004, 44). Trotz eines hohen Assimilierungsdrucks gab es eine relativ große Gruppe von Intellektuellen, die sich ihrer Herkunft bewusst war und dies entweder offen zur Schau trug oder zumindest im Verborgenen wirken ließ. Neben einer Vereinigung Petersburger estnischer Studenten ist der Zusammenschluss der so genannten »Petersburger Patrioten« besonders hervorzuheben. Sie versuchten mit Hilfe ihrer guten Verbindungen zu den Machteliten des Reiches eine Verbesserung der Lage ihres Volkes zu erreichen. Deren berühmteste Angehörige waren der Leibarzt von Alexander II., Philipp Jakob Karell, und der Kunstmaler Johann Köler, der Jakobson entscheidende Hilfestellung bei der Erlangung der Genehmigung für dessen Sakala bot. Von den im engeren Sinne schriftstellerisch Tätigen gehörte Friedrich Nikolai Russow (vgl. §§ 15, 18) zu den Petersburger Patrioten. Der Schwerpunkt dieser Gruppierung lag jedoch nicht auf literarisch-publizistischem Gebiet – eine geplante Zeitung kam nicht bzw. erst 1908 zustande –, sondern im juristischen Bereich. So unterstützten bzw. initiierten sie beispielsweise 1864 eine Bittschriftaktion estnischer Bauern, die sich beim Zaren über die heimischen Zustände beklagten, und sorgten dafür, dass das Schreiben auch zum Zaren gelangte. Die direkten Folgen hiervon waren zwar negativer Art, weil die örtlichen Behörden in Estland die Anstifter verurteilten, aber längerfristig ge-

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sehen ist nicht auszuschließen, dass eine solche Vermittlung im sich allmählich entfaltenden Emanzipationsstreit der Esten positive Folgen hatte. Ebenso wenig kann es Zufall sein, dass ein hoher Prozentsatz der späteren Elite des 1918 neu gegründeten Staates in St. Petersburg Jura studiert hatte. Russifizierung Aber die russische Zentralmacht wirkte sich auch auf andere Weise auf die sich entfaltende estnische Kultur aus, und zwar in Gestalt einer stärker werdenden Russifizierung. Mit diesem etwas unscharfen Begriff werden Bestrebungen des russischen Staates bezeichnet, die mehrheitlich von anderen Völkern bewohnten, aber dem Russischen Reich einverleibten Gebiete »russischer«, d.h. dem russischen Staatsvolk ähnlicher zu machen. Derlei Bemühungen hat es immer wieder und in verschiedenem Ausmaße gegeben, alle Völker des Zarenreichs sind in der einen oder anderen Form damit in Berührung gekommen. Hinsichtlich des Baltikums lassen sich erste Ansätze von Unifizierungsbestrebungen bereits Ende des 18. Jahrhunderts unter Katharina II. erkennen, als während der so genannten Statthalterschaftszeit (1783–1796) zeitweilig eine Verwaltungseinteilung nach russischem Vorbild galt. Im 19. Jahrhundert gab es mehrmals Bestimmungen, die eine Stärkung der russischen Zentralmacht in den »deutschen« Randprovinzen bewirken sollten, doch wurden sie nicht sehr streng ausgeführt und blieben teilweise auf dem Papier. Ein Erlass von 1850, demzufolge die örtlichen Behörden im Umgang mit der Zentralregierung das Russische benutzen sollten, wurde 1867 von Alexander II. bekräftigt, ohne dass er konkrete Folgen nach sich gezogen hätte. Erst nach der Gründung des Deutschen Reiches, als Russland mit einem Mal einen mächtigen Nachbarn bekommen hatte, der gleichzeitig das Mutter- oder Herkunftsland der führenden Schicht in den baltischen Provinzen war, wurden die Bemühungen verstärkt. Die Esten wurden hiervon allerdings kaum berührt. Als eigentliche Russifizierungsphase wird die Zeit ab 1885 angesehen, als mit der Einsetzung von slawophilen Gouverneuren schrittweise Verordnungen und Gesetzesänderungen verkündet wurden, die den Gebrauch des Russischen auf Kosten des Deutschen und Estnischen fördern sollten bzw. direkt vorschrieben. Nach wie vor waren aber hiervon die Deutschen weit empfindlicher getroffen, so dass die Esten dieser Politik nicht unbedingt prinzipiell ablehnend gegenüberstanden, sondern in ihr manchmal ein willkommenes Instrument sahen, sich von der deutschen Oberherrschaft zu befreien. Sie machten abermals aus der Not eine Tugend und nutzten die durch den ver-

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stärkten Schulunterricht zwangsläufig verbesserten Russischkenntnisse für eine Fortsetzung des Bildungswegs in Russland, wo ihnen zum Teil bessere Möglichkeiten geboten wurden. Im Einzelnen bestand die Russifizierung aus den folgenden Maßnahmen: 1885 wurde das Russische als allgemeine Verwaltungssprache vorgeschrieben, im gleichen Jahr begann eine groß angelegte Schulreform in den baltischen Provinzen, die das Russische als Unterrichtssprache einführte und die Schulen, deren Angelegenheiten bislang von der örtlichen Kirchenverwaltung geregelt worden waren, direkt dem russischen Bildungsministerium unterstellte. Lediglich der Religionsunterricht durfte noch in der Muttersprache erteilt werden, ferner war in den unteren Klassen der Gemeindeschulen die parallele Verwendung des Estnischen noch erlaubt. In den Jahren 1888 und 1889 wurden auch das Polizei- und Gerichtssystem vollständig dem russischen angepasst. Schließlich wurde auch das letzte Bollwerk nichtrussischer Bildung, die Tartuer Universität, Opfer der russischen Unifizierungstendenzen: Ab 1889 wurde schrittweise das Russische als Unterrichtssprache in allen Fakultäten mit Ausnahme der theologischen eingeführt. Dies führte zu einer erheblichen Abwanderung von Professoren, die den neuen Bestimmungen nicht Folge leisten wollten oder konnten. Gleichzeitig wurden die Zulassungsbestimmungen zum Studium derart geändert, dass die Universität auch Absolventen der (inner)russischen Priesterseminare, die beispielsweise in der Regel nicht einmal über Fremdsprachenkenntnisse verfügten, offen stand, was dem allgemeinen Niveau der Universität nicht gerade zugute kam. Die Folge dieser Veränderungen im Lehrkörper und in der Studentenschaft war ein drohendes Absinken in die Provinzialität. Formaler Höhepunkt war, dass die seit Menschengedenken von den Esten Tartu und von den Deutschen Dorpat genannte Stadt ab 1893 nur noch Jurjew, nach dem Stadtgründer Jaroslav dem Weisen, dessen Taufname Juri war, hieß (bis 1917). (Vgl. zur Russifizierung Jansen/Ruutsoo 1999, Thaden 1981) Obwohl diese russische Politik nicht spezifisch gegen die estnischen Emanzipationsbestrebungen gerichtet war und die Esten im Zuge der notwendig gewordenen Neudefinition und Selbstfindung zwischen der deutschen und der russischen Kultur sogar begrenzt ihren Nutzen daraus ziehen konnten, sind die Auswirkungen aufs Ganze gesehen eher negativ einzuschätzen. Sie führten zu einer gewissen Stagnation. Deutlich wird das im journalistischen Bereich, wo einige Zeitungen geschlossen wurden und die Vielfalt wieder eingeschränkt wurde. Dabei waren die Schließungen nicht unbedingt eine direkte Folge der Russifizierungspolitik, sondern wurden möglicherweise nur unter ihrem Deckmantel vorgenommen. Dieser Verdacht drängt sich beispielsweise im Falle des Virulane auf: Diese populäre Zeitung wurde

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1888 verboten, und ihr Herausgeber Jaak Järv wurde sogar für zwei Jahre des Landes verwiesen; die Initiative hierzu ging jedoch nicht etwa von der Zensurbehörde aus, sondern es waren neidische Kollegen – allen voran der Herausgeber des konkurrierenden Blattes Valgus, Jakob Kõrv –, die die Zeitung denunzierten. In einer politisch bewegten Zeit war es dann nicht schwer, in einem Artikel staatsfeindliche Aussagen zu entdecken (Ibius 1967). Hervorgehoben werden muss, dass der Zensor nur einer der die Presselandschaft bestimmenden Faktoren war (vgl. Jansen 2000). Gerade in den 1880er- und 1890er-Jahren bekämpften sich die Zeitungen außerordentlich heftig, wenngleich es ansatzweise auch Einigungsversuche gab, um dem russischen Druck standzuhalten (vgl. Aru 1997). Aber der Streit bewegte sich nicht nur auf dem Niveau strenger ideologischer Auseinandersetzungen über den richtigen politischen Weg. Es ging ganz banal um Marktanteile, wobei man vor Schüssen unter die Gürtellinie nicht zurückschreckte. Das mag einerseits ein Zeichen für eine – wenn auch fragwürdige – »Normalisierung« der Presselandschaft sein, ist andererseits aber ein Indiz für eine noch etwas unruhige Phase der Konsolidierung. Auf jeden Fall hatte die estnische Presse zum Ende des Jahrhunderts eine bemerkenswerte Komplexität erreicht. Die Estnische literärische Gesellschaft (Eesti Kirjameeste Selts) Zu den genannten Organisationen trat 1872 noch eine weitere hinzu, die hier aus zwei Gründen eine gesonderte Behandlung verdient: zum einen, weil sie im Gegensatz zur misslungenen Alexanderschulen-Bewegung oder der Bankrott gegangenen Aktiengesellschaft Linda nicht ergebnislos im Sande verlief, sondern echte Erfolge vorzuweisen hatte; und zum zweiten, weil es sich hierbei explizit um eine literarische Organisation handelte, was zum damaligen Zeitpunkt ein Novum war. Freilich war auch dieses mit großem Enthusiasmus und nationaler Begeisterung begonnene Vorhaben gekennzeichnet von Disputen und Konflikten, die zum baldigen Auseinanderbrechen in zwei Fraktionen führten, ehe die Gesellschaft zwanzig Jahre nach ihrer Gründung wieder aufgelöst wurde, aber des ungeachtet war sie für die entstehende estnische Literatur von eminenter Bedeutung. In ihrer Anfangsphase fand sich in ihren Reihen alles, was auf dem Gebiet der schreibenden Kultur in Estland Rang und Namen hatte. Die Initiative zur Gründung einer solchen Gesellschaft, die sich der Pflege der estnischen Sprache, insbesondere der Durchsetzung der neuen Orthographie, widmen, die Verbreitung von Schulbüchern und die Publikation von Literatur fördern und ganz allgemein die schreibenden Kräfte verbinden sollte, stammte von keinem Geringeren als Kreutzwald selbst. Er hatte 1865

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in einem Brief an Hurt den Gedanken geäußert, dass man eine Gesellschaft gründen müsse, die der Finnischen Literaturgesellschaft (die bereits seit 1831 bestand) ähnele, wenn man sich nicht in einer gelehrten Korporation zurückziehen, sondern im Volk etwas bewirken wolle (Tuglas 1932, 31). Die bereits bestehende Gelehrte Estnische Gesellschaft (vgl. § 17), deren Verdienste auch Kreutzwald wohl kaum bestreiten wollte, hielt er offenbar nicht für geeignet, eine derartige Breitenwirkung zu erzielen. So war der Gedanke geboren. Er wurde in den Korrespondenzen zwischen den tonangebenden Intellektuellen der Zeit immer wieder aufgeworfen. Maßgeblich beteiligt am Zustandekommen der Gesellschaft waren Jannsen, Hurt, Jakobson und Hans Wühner, ein vielfältig aktiver Lehrer, der schon bei der Alexanderschule-Bewegung federführend gewesen war. Es folgte der übliche Hickhack zwischen den russischen Zentralbehörden und auch den Initiativnehmern selbst, aber Ende 1871 war die Satzung fertig, so dass im März, nach altem Stil Februar, 1872 in Viljandi die Gründungsversammlung abgehalten werden konnte. Die Namensgebung der Gesellschaft illustriert noch einmal gut die besondere Situation, in der sich das Estnische und die estnische Kultur damals befanden: Inhaltlich betrachtet ging es um eine Literaturgesellschaft, aber das heutige estnische Wort hierfür – kirjandus – hielt man für noch nicht ausreichend im estnischen Sprachgebrauch verankert, was das 1869 erschienene Wörterbuch von Wiedemann bestätigt, wo das Wort fehlt. Erst in der zweiten Auflage von 1893 ist es zu finden. Obwohl das Wort kirjandus zum Gründungszeitpunkt der Gesellschaft in der Presse gelegentlich auftauchte, scheute man davor zurück, es im Namen einer Gesellschaft zu verwenden. In einer analogen Situation über vierzig Jahre zuvor hatten die Finnen den anderen Weg gewählt und ihr ebenso neues Wort für ›Literatur‹ – kirjallisuus – gleich mutig in den Namen ihre 1831 gegründeten Literaturgesellschaft eingebaut. Bei der Suche nach einem angemessenen estnischen Namen verfiel man auf das althergebrachte kirjamees, das wörtlich ›Mann der Schrift‹ bedeutet und am besten mit ›Literat‹ wiedergegeben werden kann. Die russischen Übersetzungen, die man für die Einholung der Genehmigung aus St. Petersburg brauchte, schwankten lange Zeit, während laut Friedebert Tuglas, der eine bis heute maßgebliche und detaillierte Monographie über die Gesellschaft vorgelegt hat, der deutsche Name von Anbeginn eindeutig Estnische literärische Gesellschaft lautete (Tuglas 1932, 52). Die Gesellschaft war geboren aus dem Gedanken, dass man dem Volk den Zugang zu guter Lektüre erleichtern wollte, und so wurde eines ihrer Kennzeichen, dass sie nicht etwa aus einer Handvoll hochtrabender Intellektueller bestand, sondern ihre Mitglieder vorwiegend aus den Reihen jener rekrutierte, die »dem Volk« besonders nahe standen, und das waren in erster

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Linie die Lehrer. Sie bildeten stets die Mehrheit des Mitgliedsstandes, der von 83 im Gründungsjahr über knapp 400 im Jahre 1879 auf deutlich über 1100 im Jahre 1882 stieg. Allerdings geben diese Zahlen nur ein ungenaues Bild wieder, denn infolge des Machtkampfes zwischen Jakobson und Hurt war es 1881, als die Gesellschaft gut 400 Mitglieder zählte, zum offenen Bruch gekommen, der nicht nur die Estnische literärische Gesellschaft, sondern die gesamte nationale Bewegung betraf: Die Wahl Jakobsons zum Präsidenten führte zum Austritt Hurts, der bisher seit der Gründung der Gesellschaft an ihrer Spitze gestanden hatte, und seiner Anhänger, so dass ein gutes Viertel der Mitglieder der Gesellschaft den Rücken kehrte (vgl. Laar 2005 mit einer detaillierten Liste). Die danach rapide angestiegene Mitgliederzahl deutet also insofern auf eine gewisse »Verwässerung« hin, als nun massiv bloße Verfechter der Jakobson’schen Politik Mitglied wurden, während auf der anderen Seite führende Intellektuelle die Gesellschaft verlassen hatten. Andererseits blieb die Gesellschaft noch eine Zeit lang aktiv, und der vom politischen Standpunkt aus betrachtet beklagenswerte Bruch sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die nach wie vor vielfältige Tätigkeit der Gesellschaft weiterhin wichtig und für die Entwicklung des literarischen Lebens entscheidend war. Diese Tätigkeit bestand neben diversen untergeordneten Vorhaben wie dem Aufbau einer Bibliothek oder dem Sammeln volkskundlichen Materials vorwiegend aus drei Hauptzweigen, die mit den Schlagwörtern Publikation, Information und Dokumentation umschrieben werden können. Unter die Publikationstätigkeit fallen die zahlreichen Schulbücher, die unter der Ägide der Gesellschaft herausgegeben worden sind. Ferner erschienen von 1873 bis 1890 18 Bände eines Jahrbuchs der Gesellschaft, das das erste Forum bildete, auf dem Literatur diskutiert und in dem Literatur abgedruckt wurde. Ab 1887 wurden auch Literaturwettbewerbe ausgeschrieben und literarische Werke prämiert. Da in die Veröffentlichungsreihe der Gesellschaft nur Werke aufgenommen wurden, die zuvor einem kritischen Beurteilungsprozess unterzogen worden waren, bekamen die Publikationen überdies einen besonderen Status. Zur Informationstätigkeit, die aufs Engste mit der Publikationstätigkeit verbunden ist, zählen die regelmäßigen Versammlungen, auf denen man sich Vorträge – nicht nur zur Literatur, sondern auch zu Sprache, Geschichte, Pädagogik u.Ä. – anhörte und anschließend darüber diskutierte. Was zehn Jahre zuvor noch in einen kleinen literarischen Salon einer Tartuer Privatwohnung passte, hatte nun amtliche Gestalt und viel größere Ausmaße angenommen. Inhaltlich gesprochen waren die Abende der Estnischen literärischen Gesellschaft der Salon der gesamten geistigen Elite der Zeit.

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Mit Dokumentation ist das Sammeln der mündlichen Volksdichtung gemeint, was von Anfang an zu den Hauptaufgaben der Gesellschaft gezählt wurde und worin sie ihre größten Erfolge zu verbuchen hat. In der Hinwendung zur alten estnischen Volksdichtung sah man einen nationalen Akt, denn dieses Kulturgut war eindeutig weder deutsch noch russisch. Für eine entstehende Nation, die geographisch und historisch zwischen diesen beiden Kulturen stand und nach Abgrenzungskriterien suchte, ein gefundenes Fressen. Die gesamten 1870er- und 1880er-Jahre hindurch und unberührt von den heftigen politischen Auseinandersetzungen wurde die Sammlungstätigkeit fortgeführt (vgl. § 8). Die personellen Veränderungen an der Spitze der Gesellschaft spielten hier eine untergeordnete Rolle und seien lediglich der Vollständigkeit halber noch erwähnt: Nach Jakobsons baldigem Tod wurde Mihkel Veske zum Präsidenten gewählt, der diese Position bis 1886 bekleidete. Von 1887 bis 1889 war Hugo Treffner Präsident, zuletzt Johann Köler. Wegen dann erneut ausbrechender Streitigkeiten, desolaten Zuständen in der Geschäftsführung und nicht zuletzt dem zunehmenden Druck der Russifizierungspolitik wurde die Gesellschaft 1893 (behördliche Entscheidung) bzw. 1894 (Auflösungsversammlung) offiziell geschlossen. Bezeichnenderweise dauerte die formale Abwicklung des Ganzen, d. h. die Aufteilung des Restguthabens und der Verkauf des Gebäudes – der Erlös deckte gerade einmal die Schulden der Gesellschaft –, aber noch weitere 13 Jahre, so dass erst 1907 ein Schlussstrich gezogen wurde. Da in diesem Jahr mit der Eesti Kirjanduse Selts (Estnische Literaturgesellschaft) eine Nachfolgegesellschaft gegründet wurde, die bis 1940 bestand (und 1993 wieder gegründet wurde), ist es nicht übertrieben, hier von einer gewissen Kontinuität zu sprechen. Außerdem hatte es in den genannten 13 Jahren immer wieder Versuche gegeben, eine neue Organisation ins Leben zu rufen. Symbolisch wurde die Kontinuität sogar noch dadurch unterstrichen, dass die Auflösungsversammlung von 1894 und die Gründungsversammlung von 1907 von ein und derselben Person, Villem Reiman, geleitet wurden (Prants 1932).

§ 21 Entwicklung der erzählenden Literatur Die Feuilletons Alle estnischen Zeitungen hatten seit Jannsens erstem Postimees eigene Literaturspalten oder separate Beilagen. Die mussten mit belletristischem Stoff versorgt werden, der in der Frühphase der estnischen Presse überwiegend aus

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Kapitel IV: Professionalisierung (1870–1900)

Übersetzungen oder allenfalls Adaptationen bestand. Das blieb bis in die 1880er-Jahre hinein so, danach wurden mehr und mehr ursprünglich auf Estnisch abgefasste Texte gedruckt, wodurch die Feuilletons – wie in anderen Kulturen auch – schließlich zum Wegbereiter der erzählenden Literatur wurden. Dabei wurde in und zwischen den Redaktionen heftig darüber gestritten, ob man nun Übersetzungen oder Originaltexten den Vorzug geben sollte. Übersetzungen waren billiger, da die Honorare relativ niedrig waren, und leichter zu beschaffen, denn die Auswahl an deutschen Blättern mit den entsprechenden Literaturbeilagen war groß. Und Deutsch war nach wie vor die Hauptsprache, aus der übersetzt wurde, obwohl zunehmend auch das Russische und andere Sprachen ins Blickfeld kamen. Allerdings wurden die russischen Texte, wie die meiste andere fremdsprachige Literatur, vielfach ebenfalls aus dem Deutschen übersetzt. Die Übersetzungen waren bei weitem nicht immer als solche gekennzeichnet, völlig ungebräuchlich war die Nennung des Namens der Übersetzerinnen oder Übersetzer. Wenn er genannt wurde, dann nicht in dieser Funktion, sondern als Urheber. Der Grad der Bearbeitung konnte verschieden sein, und wohl auch deswegen zogen manche Redakteure Übersetzungen den Originaltexten vor. Bei den Übersetzungen konnten sie selbst nach Belieben eingreifen, kürzen, hinzufügen, umschreiben, je nachdem, wie viel Platz noch war oder was ihr derzeitiges Anliegen war. Niemand hatte etwas dagegen. Diese Praxis bestand bereits seit dem 18. Jahrhundert (vgl. § 13) und währte somit ungefähr gut anderthalb Jahrhunderte, ehe hier eine Änderung eintrat. Als Ursache hierfür, d.h. dafür, dass man eine Grenzlinie zwischen »fremd« und »eigen« zu ziehen begann, kann ausschließlich das steigende Selbstbewusstsein der Esten angeführt werden. Man gab sich nicht mehr mit einem diffusen Mischmasch zufrieden und wollte »Echtes« und »Eigenständiges« produzieren. So gesehen ist die Entstehung der modernen estnischen Literatur ohne das kulturhistorische Umfeld gar nicht zu begreifen. In den Diskussionen um die Frage, ob man übersetzte oder originale Literatur bevorzugen sollte, spielte Eduard Vilde (vgl. § 24), der seit 1883 beim Virulane, dem größten Konkurrenten des für seine üppigen literarischen Beilagen bekannten Valgus, für Literatur zuständig war, eine bedeutende, wenn nicht entscheidende Rolle. Man hat es als sein Verdienst angesehen, dass die Originalliteratur letztlich Oberhand gewann, was sicherlich auch daran gelegen hat, dass Vilde durch seine erfolgreiche eigene Produktion das beste Vorbild abgab (vgl. Salu 1964a). Obgleich auch hier der Übergang fließend war, lässt sich zumindest ein ziemlich genauer Zeitpunkt nennen, ab dem die lange Zeit übliche Adaptationspraxis schlichtweg nicht mehr akzeptiert wurde: 1894 kam heraus, dass Jakob Kõrv eine Erzählung als seine eigene

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ausgegeben hatte, obwohl es in Wirklichkeit eine bloße Übersetzung aus dem Französischen bzw. eben Adaptation nach einem französischen Vorbild von Chateaubriand war. Zu allem Überfluss hatte das Opus 1890 auch noch einen Preis der Estnischen literärischen Gesellschaft bekommen. Interessant ist hier nicht die Tatsache selbst – denn dies war wie gesagt eine langjährige Praxis –, sondern der Umstand, dass dies nun angeprangert wurde und man erstmalig öffentlich von Plagiat sprach. Hierin kann man einen wichtigen Einschnitt und den Beginn einer neuen Periode sehen, der durch die strikte Trennung von Original und Übersetzung gekennzeichnet ist, wie es unter anderem Tiit Hennoste (2003b, 1155) ebenfalls tut. Ein weiteres Kriterium ist wirtschaftlicher Art: Der wachsende Umfang und die steigende Erscheinungsfrequenz der Zeitungen führte dazu, dass die Personen, die für die vollen Zeitungen sorgten, immer weniger Zeit hatten, nebenher einem anderen Broterwerb nachzugehen, mithin also vom Schreiben selbst leben mussten. Diese Entwicklung hatte wie erwähnt schon mit Jannsens Schritt in die wirtschaftliche Selbstständigkeit 1864 begonnen (vgl. § 15), und gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es auf dem rasch wachsenden Zeitungsmarkt nun immer mehr Personen, die ihren Lebensunterhalt dadurch bestritten oder wenigstens zu bestreiten versuchten, dass sie schrieben. Damit hatten sich die Rahmenbedingungen für die Literatur quantitativ und qualitativ grundlegend verändert. Anstelle des aufklärerisch oder ideologisch motivierten Freizeitschreibers trat der kommerziell orientierte FulltimeAutor – etwas später auch die Fulltime-Autorin –, den die Feder ernähren sollte. Parallel dazu entwickelte sich allmählich auch ein Literaturbetrieb, wenn man die Rolle der Estnischen literärischen Gesellschaft (vgl. § 20) bedenkt, obwohl Buch- und Verlagswesen noch relativ unterentwickelt und das einzige Forum die Zeitungen waren, die ihrerseits noch nicht im Sinne einer Qualitätshierarchie strukturiert waren. Erst die weiteren Entwicklungen bzw. späteren Generationen haben die Spreu vom Weizen getrennt und darüber entschieden, wer als minderwertiger Vielschreiber abqualifiziert wurde – wie es mit Jakob Kõrv einhellig geschehen ist, der zudem durch seine Intrigen, Denunziationen und fragwürdigen Praktiken als Zeitungsredakteur in Misskredit geraten war und 1916 vergessen in einer Schweizer Nervenheilanstalt starb – und wer als gefeierter Autor in den Rang eines Klassikers aufsteigen konnte, wie es ebenso einhellig mit Eduard Vilde geschah. In den 1880erJahren waren beide noch nichts anderes als bloß zwei Redakteure verschiedener, sich einander befehdender Zeitungsredaktionen. Die Zeitungen waren jedoch nicht mehr das einzige Forum für Literatur, denn inzwischen gab es auch Zeitschriften. Als erste Zeitschrift, die sich u.a. explizit mit Literatur befasste, war 1878 der Meelejahutaja (Der Zerstreuer)

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von Tartuer Theologiestudenten ins Leben gerufen worden. Die Zeitschrift erschien anfangs zehn-, bald zwölfmal pro Jahr und ab 1885 wöchentlich, musste aber Ende 1887 ihr Erscheinen einstellen, weil die Leserschaft ausblieb. Nicht viel besser erging es der 1884 ins Leben gerufenen Zeitschrift Oma Maa (Eigenes Land), die bis 1891 erscheinen konnte. Neben populärwissenschaftlichen Artikeln brachten diese Zeitschriften auch Originalliteratur und Übersetzungen. Parallel dazu entstanden die ersten Zeitschriften zu bestimmten Fachgebieten, etwa zur Musik oder zu landwirtschaftlichen Fragen, oder für bestimmte Zielgruppen: 1887 kam die erste Nummer der Zeitschrift Linda heraus, deren Untertitel lautete: »Erste literarische und aktuelle Zeitschrift für Estlands Frauen«. Ihre Gründerin und erste Redakteurin (bis 1893) war Lilli Suburg, die immer im Schatten ihrer berühmten Zeitgenossin und Schulkameradin Koidula gestanden hat, deren Bedeutung für die frühe estnische Literatur aber nicht unterschätzt werden darf. Lilli Suburg Caroline, so ihr Taufname, Suburg kam 1841 auf dem Gut Rõusa in der Nähe von Vändra, wo ihre Eltern angestellt waren, zur Welt und verbrachte ihre Kindheit auf dem Gut Vana-Vändra, wo ihr Vater bald nach ihrer Geburt eine Stelle als Verwalter angetreten hatte. Da die Gutsherrin ihre Patentante war und eine etwa gleichaltrige Tochter hatte, hatte Suburg viel Kontakt mit den höheren Kreisen. Deswegen trat sie 1852 in Pärnu in eine Privatschule ein, bevor sie später das dortige Mädchengymnasium besuchte. Dies schloss sie 1859 mit sehr guten Zensuren ab. Im gleichen Jahr machte sie in Pärnu an der Kreisschule auch das Examen als Privatlehrerin. Dann folgte allerdings ein Jahrzehnt der Stagnation, Suburg kränkelte, war lange Zeit bettlägerig und beschäftigte sich mit Privatunterricht auf dem väterlichen Hof in der Nähe von Vändra. Hier traf sie auch mit Jakobson zusammen, und diese Begegnung muss für Suburg, die aufgrund ihrer Kindheit auf der Schwelle zur »Verdeutschung« stand, prägend gewesen sein: »Mit dem Erscheinen von Jakobson stieg so etwas wie eine neue Sonne am Himmel des Lebens auf«, schrieb Suburg später in ihren Memoiren (Suburg 2002, 397). Bald danach entstanden ihre ersten schriftstellerischen Versuche, gleichzeitig war sie an pädagogischen Fragen interessiert, nachdem sie schon 1869 das Hauslehrerexamen in Tartu abgelegt hatte. Von 1878 an war Lilli Suburg für ein gutes Jahr Redakteurin des Perno Postimees, aber erst 1880 übersiedelte sie auch nach Pärnu. Dort gründete sie 1882 eine Mädchenschule, auf der sie gemeinsam mit ihrer Adoptivtochter unterrichtete und die sie 1885 nach Viljandi überführte. Hier begann Suburg

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nebenher mit der Herausgabe ihrer Zeitschrift Linda. In den 1890er-Jahren trat sie die Schulleitung an ihre Adoptivtochter ab und folgte ihr 1899, als diese geheiratet hatte, zu ihrem Mann auf einen Hof im lettischsprachigen Teil Livlands. Dort leitete sie bis 1906 erneut eine Privatschule für estnische Kinder, ehe sie sich zur Ruhe setzte. Nun verfasste sie ihre Memoiren und beteiligte sich bis in die frühen 1920er-Jahre hinein weiterhin mit journalistischen Beiträgen am intellektuellen Leben Estlands. Ihre letzten Lebensjahre, während der sie von der frisch gegründeten Republik Estland eine Pension erhielt, verbrachte Suburg in Valga, wo sie 1923 starb. Aufgrund dieser etwas holprigen Biographie kann man schon vermuten, dass Suburgs Rolle für die estnische Kulturgeschichte ebenfalls nicht so gradlinig und eindeutig zu bestimmen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass sie als Zeitgenossin und Schulkameradin Koidulas immer an Letzterer gemessen und mit ihr verglichen wurde. Da sie aber gleichzeitig Koidula relativ distanziert gegenüberstand und die beiden bis auf eine jugendliche Schulfreundschaft kaum etwas verband, geriet sie automatisch in die Rolle der Verliererin, die von der Literaturgeschichtsschreibung entsprechend behandelt wurde. Denn sobald Koidula unangefochten aufs Podest gehoben war, hatte die vermeintliche Gegnerin den Kürzeren gezogen. Einer der Brüder von Koidula bezichtigte sie in einer Polemik gegen die Koidula-Biographin Aino Kallas, die es gewagt hatte, Suburgs Memoiren als Quelle zu benutzen, des Neids und der Eifersucht (Jannsen 1927, 384) – als gäbe es in der estnischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht Platz genug für zwei Frauen! Ganz abgesehen davon überschnitten sich die Betätigungsfelder der beiden kaum: Suburg schrieb weder Gedichte noch Theaterstücke, sondern war in mindestens vier Funktionen wichtig für die estnische Kultur: als Feministin, Journalistin, Pädagogin und Prosaistin. Zwar gibt es auch von Koidula im Zusammenhang mit der Alexanderschulen-Bewegung eine briefliche Äußerung, dass man ebenso gut für Mädchen eine höhere estnische Schule bräuchte, aber es war Suburg, die diesen Gedanken schließlich 1882 in die Tat umsetzte. Sie war auch 1873 die erste Frau, die Mitglied der Estnischen literärischen Gesellschaft wurde, noch vor Koidula, die der Gesellschaft erst 1874 beitrat. Während ihrer langen Krankheitsjahre hatte Suburg viel gelesen, unter der meist deutschen Lektüre befanden sich auch aktuelle Bücher zur Frauenfrage, ebenso Werke von Rousseau und Pestalozzi. In den 1870er-Jahren war in ihr der Wunsch gereift, etwas zur Verbesserung der Lage ihre Geschlechtsgenossinnen zu tun. 1877 notierte sie in ihrem Tagebuch, dass sie bei der »Lösung der sozialen Frage« mit aller Kraft mithelfen wolle (Undla-Põldmäe 1981, 283). Erste Erfahrungen im journalistischen Bereich hatte sie bereits gesammelt, außerdem muss der Er-

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folg von Jakobsons Sakala sie optimistisch gestimmt haben, so dass sie 1879 zum ersten Mal die Genehmigung zur Herausgabe einer Zeitschrift für Frauen beantragte. Wie üblich erforderte so etwas einen langen Atem, die ersten beiden Anträge wurden abgelehnt, und zwischenzeitlich verlor Suburg selbst die Lust am mühseligen Redigieren einer Zeitschrift. Stattdessen stellte sie nach Jakobsons Tod in dessen Stil ein Lesebuch für Frauen zusammen, ohne dafür jedoch einen Verlag zu finden. Da sie sich mittlerweile auch stark auf ihre pädagogische Aktivität konzentriert hatte, wiederholte sie erst 1887 ihren Antrag, dem diesmal, nachdem sie als Redakteur den angesehenen Treffner vorgeschoben hatte, stattgegeben wurde. Inhaltlich war ab der ersten Nummer von Linda Suburg selbst verantwortlich, ab dem zweiten Jahr auch offiziell als verantwortliche Redakteurin. Tatsächlich nahmen in den ersten Jahrgängen neben belletristischen Texten Artikel zu Fragen der Gleichberechtigung und der Frauenemanzipation einen prominenten Platz ein, so dass die Zeitschrift als erste feministische Zeitschrift Estlands bezeichnet werden kann. 1888 wurden die Leserinnen explizit aufgerufen zu erwachen und sich zu bilden. Aber diese Thematik erwies sich in jener Zeit noch als gar zu fortschrittlich, die Redakteurin blieb auf sich allein gestellt, musste die meisten Artikel selbst beisteuern und wartete vergeblich auf den wirtschaftlichen Erfolg. Die Zahl der Abonnements bewegte sich zwischen 50 und 100 und erreichte in ihrer besten Zeit gerade einmal 380. Auch die Flucht nach vorne – ab 1891 erschien die Zeitschrift wöchentlich – konnte die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht überwinden, so dass sich Suburg 1893 verbittert ganz aus dem Unternehmen zurückzog. Die Zeitschrift erschien danach unter der Herausgeberschaft von Hindrik Prants und später Anton Jürgenstein weiter bis 1905 und war Anfang des 20. Jahrhunderts sogar ein wichtiges Forum für moderne Lyrik (Olesk 1988), aber ihren frauenemanzipatorischen Impetus hatte sie zu jenem Zeitpunkt längst eingebüßt. Grund für das Scheitern von Suburg war auch der Umstand, dass sie mit ihrer Zeitschrift auf Widerstand von mehreren Seiten stieß. Nicht nur die männerbestimmte estnische Publizistik konnte nichts Gutes sehen in einer Zeitschrift, die in ihren Augen nur den Hass zwischen Männern und Frauen schürte, auch die deutschbaltische Presse sah in den emanzipatorischen Bemühungen der Autorin nichts anderes als einen Angriff auf die herrschende, von Gott gegebene Ordnung. Der deutschen Presse war die Autorin aber schon wegen deren Erzählung Liina ein Dorn im Auge, die nach Meinung eines Rezensenten der Revalschen Zeitung einen gegen die göttliche Ordnung gerichteten Nationalismus verkörpere (Undla-Põldmäe 1981, 275). Diese stark autobiographische Erzählung Liina ist von Suburgs nicht sehr umfangreichem Prosawerk die früheste und bei weitem bekannteste Erzäh-

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lung, die der Autorin schließlich auch einen Platz in der estnischen Literaturgeschichte sicherstellte. Unmittelbarer Auslöser für die Niederschrift war die Bekanntschaft mit Jakobson, der sie in einem Brief konkret dazu aufgefordert hatte, ihre Jugenderlebnisse zu Papier zu bringen, nachdem sie ihm vorher ihrerseits in einem Brief über ihre Kindheitserlebnisse berichtet hatte. So verfasste Suburg 1873 postwendend ihre 32 000 Wörter umfassende Erzählung, die sie eigentlich noch von Jakobson redigieren lassen wollte, der dazu aber keine Zeit fand, so dass sie einige Jahre liegen blieb und erst 1877 mit einigen von der Zensur vorgenommenen Auslassungen in Tartu als Buch erschien. Wie der Untertitel – Die Lebensgeschichte eines estnischen Mädchens, von ihm selbst erzählt – verspricht, ist das Buch eine ziemlich naturgetreue Beschreibung der eigenen Kindheit und Jugend der Autorin. Das bedeutete, wie aus der oben knapp wiedergegebenen Biographie hervorgeht, dass im Mittelpunkt ein Mädchen aus der bäuerlichen Schicht steht, das engsten Umgang mit der deutschsprachigen Oberschicht hatte, eine deutsche Schulbildung genoss und sich im Laufe seiner weiteren Entwicklung zwangsläufig fragen musste, wohin es gehörte. Konkret hieß das, dass sich die Heranwachsende entscheiden musste, ob sie den Werbungen eines jungen Deutschen – und der Stimme ihres Herzens – Folge leisten sollte, oder aber ihrem Volk die Treue halten und sich für eine alte Jugendliebe entscheiden sollte. Schon die Formulierung des Untertitels, in dem explizit das Adjektiv eesti verwendet wird, verrät, welchen Weg die Heldin einschlägt: den des Widerstandes gegen die Vereinnahmung durch eine fremde Kultur und Sprache. Stattdessen entscheidet sie sich für die Bewahrung der eigenen Identität, was unweigerlich Kampf gegen die drohende Assimilation bedeutet. Ausgelöst wurde diese Entscheidung durch ein mitgehörtes Gespräch der Eltern des jungen Deutschen, in dem dessen Mutter ihre Abscheu gegen die Zuneigung ihres Sohnes zu einem Mädchen aus dem Bauernstande geäußert hatte. Der Gedanke, dass ihr Sohn mit seinen zukünftigen Schwiegereltern in der Bauernsprache konversieren müsste, war völlig unannehmbar. Schockiert von dieser Erkenntnis wendet sich Liina von der fremden Kultur ab und findet den Weg zurück zu ihren eigenen Wurzeln. Sie geht nach der Schulzeit zurück auf ihren elterlichen Hof, unterrichtet dort ihre Geschwister und findet ihr Glück in der Beziehung zu ihrem alten estnischen Gefährten aus der Jugendzeit. Die Geschichte an sich ist simpel und in rein technischer Hinsicht alles andere als überzeugend. Sie trägt stellenweise deutliche Züge eines politischen Bekenntnisses, wenn die Autorin zum Beispiel Fußnoten (!) einflicht, in denen es heißt »wortwörtlich wahr« oder »buchstäblich geschehen«. Im Schlusskapitel erhält die Erzählung den Charakter eines politischen Manifests, wenn die Autorin direkt ihre »estnischen Schwestern« anspricht und

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sie dazu auffordert, sich zu bilden, um ihre Männer im Kampf um die Befreiung von der Fremdbestimmung zu unterstützen. Auch ein Aufruf, sich ein Vorbild an den Finninnen zu nehmen, die schon mehr erreicht hätten, fehlt nicht. Dennoch ist hervorzuheben, dass diese Problematik vorher noch niemals so beschrieben worden ist. Das erklärt den großen Erfolg der Erzählung, die von Jakobson in seiner bald danach erscheinenden Sakala sehr positiv rezensiert wurde, während die deutschen Kreise pikiert reagierten und den Nationalismusvorwurf erhoben. Den Verkaufserfolg konnten solche Rückzugsgefechte freilich nicht verhindern, im Gegenteil, er wurde dadurch erst recht garantiert: Die 2000 gedruckten Exemplare waren schnell vergriffen, so dass 1884 eine zweite Auflage herauskam. 1892 erschien überdies eine finnische Übersetzung. An einen solchen Erfolg konnte Suburg mit ihren weiteren Erzählungen, die ebenfalls realistischen Inhalts waren und streckenweise von einem kämpferischen Ton durchzogen sind, nicht wieder anknüpfen. Das lag aber auch daran, dass diese Erzählungen zum Teil erst wesentlich später erschienen, als es schon viel mehr und ganz andere Literatur gab. Das war 1877 noch nicht der Fall gewesen, und nicht zuletzt deswegen gehört die Erzählung Liina zu den wichtigsten Dokumenten der frühen estnischen Prosa. Der Boom der historischen Prosa Der von Jakobson mit seiner ersten vaterländischen Rede 1868 ins Rollen gebrachte Stein wirkte sich nicht nur fruchtbar, da identitätsstiftend, auf die nationale Emanzipationsbewegung aus, sondern fand gut zehn Jahre später auch seinen Niederschlag in der estnischen Literatur. Die von Jakobson heraufbeschworene glückliche Vorzeit der Esten sowie andere, teils populärwissenschaftliche historische Darstellungen in den 1870er-Jahren inspirierten viele Autorinnen und Autoren dazu, sich in der einen oder anderen Weise mit der Geschichte der Esten zu befassen. Dabei brauchte es nicht unbedingt nur um eine Heroisierung der einstigen Freiheit vor der Ankunft der Deutschen zu gehen, sondern es konnte sich auch um Perioden aus späteren Jahrhunderten handeln. Aber die Grundtendenz war deutlich: Immer ging es darum aufzuzeigen, dass die Esten auch eine eigene Geschichte hatten. Unterstützt wurde diese Stimmung durch den europaweiten Siegeszug von Walter Scotts historischen Romanen, der auch Estland nicht unberührt ließ. Innerhalb von gut zehn Jahren sind rund dreißig kürzere und längere Prosatexte mit historischer Thematik erschienen, so dass man berechtigterweise von einem Boom sprechen kann, der dann allerdings ein jähes Ende fand: 1893 wurde es der Zensurbehörde zu viel mit dem ewigen Betonen

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der – glücklichen oder unglücklichen – Vergangenheit, das konnte schließlich für die Gegenwart nichts Gutes bedeuten, und die Publikation historischer Prosa wurde schlicht verboten. Der Vorgang zeigt, dass die Realität immer noch ein Stück absurder ist als die beste Satire, ganz bestimmt, wenn es sich um Behörden des russischen Zarenreiches handelt. Mal wird Belletristik in ihrer Gänze verboten – zwischen 1850 und 1860 durften auf Finnisch lediglich religiöse und ökonomische Texte publiziert werden –, mal wird ein bestimmtes Alphabet verboten – in Litauen war die Verwendung des lateinischen Alphabets von 1864 bis 1904 untersagt –, hier nun finden wir das einmalige Beispiel, dass ein bestimmtes Genre mit dem Bann belegt wird. Noch rätselhafter erscheint das aus dem Innenministerium (Epp Annus et al. 2001, 108) kommende Verbot, wenn man berücksichtigt, dass ein Teil der historischen Erzählungen als deutschfeindlich zu interpretieren war, was den Russen eigentlich hätte gefallen können. Von den über ein Dutzend Personen, die sich der historischen Prosa zugewandt hatten, haben die Texte von drei Autoren eine Bedeutung erlangt, die über die genannte Periode hinausreicht und ihnen einen festen Platz in der erzählenden Literatur des ausgehenden Jahrhunderts zugewiesen hat: Eduard Bornhöhe, Jaak Järv und Andres Saal. Von ihnen steht Järv noch am meisten in der Tradition des Journalismus, während die beiden ca. zehn Jahre Jüngeren viel weniger Affinität zu dieser Branche hatten und auch in anderen Berufen tätig waren. Was freilich nicht ausschließt, dass sie dann und wann auch für Zeitungen geschrieben haben, aber dies war in der Regel nur eine Nebentätigkeit. Jaak Järv ist 1852 in ärmlichen Verhältnissen geboren und hat sich im Selbstunterricht auf das Kreisschullehrerexamen vorbereitet, nach dessen erfolgreicher Absolvierung er von 1871 bis 1875 in der Nähe von Tartu Dorfschulmeister war. Bald danach verlegte er sich auf den Journalismus, war eine Zeit lang Mitarbeiter von Jakobson und kaufte 1881 die Tartu Eesti Seitung, die er ab 1882 als Virulane in Tallinn weiterführte (s. § 20). Ein abruptes Ende fand seine erfolgreiche – und in den Augen einiger Konkurrenten eben zu erfolgreiche – Karriere als Zeitungsredakteur 1888, als er das Land verlassen musste und sich zwei Jahre in Moskau durchschlug. Hier verfasste er pädagogisch-moralisierende Bücher und Broschüren. Nach seiner Rückkehr nach Tallinn setzte er seine schreibende und publizistische Tätigkeit fort, 1906 gelang ihm auch die Wiedereröffnung seiner Zeitung, die er unter verschiedenen Namen bis 1912 weiterführte, ohne an seinen Erfolg aus den 1880er-Jahren anknüpfen zu können. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er wieder in Moskau und später im Gouvernement Samara, wo er 1920 in einem Fluss ertrunken ist.

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Seine ersten Schreibversuche hatte Järv noch Anfang der 1870er-Jahre im Postimees lanciert, kurz danach publizierte er, begeistert von Koidulas Gedichten, eine eigene Gedichtsammlung, wie es so manch enthusiastischer Schulmeister in jener Zeit tat. Er stieß damit jedoch kaum auf Widerhall und verlegte sich in den 1880er-Jahren auf das Abfassen historischer Prosa, wozu ihm praktischerweise seine eigene Zeitung eine ideale Veröffentlichungsmöglichkeit bot. Im Verlag seiner Zeitung erschien dann auch 1885 in sechs Lieferungen der Roman Vallimäe neitsi (Die Jungfrau von Vallimäe), der in der estnischen Literaturgeschichte im Allgemeinen als der »erste estnische Originalroman« bezeichnet wird. Ob man nun den Argumentationen der auf verschiedenen Romantheorien fußenden Begründungen folgt oder nicht, auf jeden Fall gilt es festzuhalten, dass zum damaligen Zeitpunkt ein estnisches Originalwerk von 372 Seiten und 82 000 Wörtern Umfang tatsächlich ein Novum war, so gesehen hat diese Klassifizierung ihre Berechtigung. Hinsichtlich der Urheberschaft ist von Karl August Hermann in seiner Literaturgeschichte das Gerücht in die Welt gesetzt worden, dass Eduard Vilde Järv bei der Abfassung des Romans geholfen habe, denn schließlich waren beide zu jenem Zeitpunkt Kollegen in der Redaktion des Virulane. Da aber Vilde sich nie dazu geäußert hat und es auch keine handfesten Beweise für diese Unterstellung gibt, wird hier davon ausgegangen, dass Järv der alleinige Urheber ist. Der Roman spielt, sieht man von einem Ende des 17. Jahrhunderts angesiedelten Prolog ab, der die Herkunft der Titelheldin zum Inhalt hat, zum Großteil in den Jahren des Nordischen Kriegs in Tallinn, als dort der Wechsel von der schwedischen zur russischen Hoheit vollzogen wird. In seiner ereignisreichen Handlung, die nicht um melodramatische Einsprengsel verlegen ist, ähnelt das Werk den vielen ungefähr zeitgleich publizierten Abenteuerromanen. Eine direkte Verbindung zur Gegenwart des Autors, wie sie in vielen nationalromantisch gefärbten historischen Prosatexten der Zeit üblich war, kann hier nicht hergestellt werden: Es geht um allgemein menschliche Werte und moralische Normen, die am wechselvollen Schicksal der Titelheldin exemplifiziert werden. Die dürfte zwar estnischer Herkunft sein wie auch noch einige andere Romanfiguren, aber im Vordergrund steht die Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft in Tallinn, die zu jener Zeit weitgehend schwedisch und deutsch war und um das russische Element der neuen Machthaber bereichert wurde. Auch hierin unterscheidet sich der Roman also von der anderen historischen Prosa der Zeit, die den Schwerpunkt stärker auf die bäuerliche estnische Bevölkerungsmehrheit legte. Durch die spannende Handlung, die das Werk aus heutiger Sicht in die Nähe der Fernsehserien und Seifenopern rückt (Kalda 1997), wurde das Buch sehr populär

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und erlebte 1906 und 1908 Neuauflagen, ehe es weitgehend in Vergessenheit geriet und eigentlich nur noch wegen des Erstlingsstatus als Roman in die gängigen Literaturgeschichten gelangte. In seinen weiteren historischen Werken, die nicht den Umfang seines Romans erreichten und im Untertitel als Erzählungen bezeichnet wurden, behandelte Järv das ausgehende 15. Jahrhundert und den missglückten Aufstand der Esten aus dem Jahre 1343 – wie es eine ganze Reihe von Autoren vor und nach ihm getan haben. Gerade die letztgenannte Erzählung mit dem Titel Karolus (1892) zeigt, wie ein literarisches Feld allmählich im Entstehen begriffen war, denn sie muss gelesen werden als Reaktion auf ein anderes Werk, das u.a. den Aufstand behandelte, 1880 erschienen war und bis heute einen prominenten Platz innerhalb der estnischen Prosa innehat: die Erzählung Tasuja (Der Rächer) von Eduard Bornhöhe. Eduard Bornhöhe, mit bürgerlichem Namen Brunberg, wurde 1862 in Nordostestland geboren und ging in Tallinn zur Schule. Danach führte er über fünfzehn Jahre lang ein ausgesprochen unstetes Leben und versuchte sich in verschiedenen Berufen an mindestens ebenso vielen verschiedenen Orten: Als Zeichner, Kaufmannslehrling, Büroangestellter, Eisenbahner, Hilfsschulmeister, Zeitungsmitarbeiter, Küster und Hauslehrer in St. Petersburg, Kaunas, Põltsamaa, Tallinn, Stavropol und Tbilisi. Nachdem er als Externer 1888 am Tallinner Gouvernementsgymnasium die Reifeprüfung abgelegt hatte, nahm er kurzzeitig ein Philologiestudium in Tartu auf, was er bald darauf aber aus finanziellen Gründen wieder abbrechen musste. Es folgten erneut verschiedene Stellungen in Russland, Polen und auch Berlin, wo er beispielsweise auch einige Kurzgeschichten auf Deutsch in der Tagespresse publizierte (s. Nirk 1962). 1893 fand Bornhöhe eine Anstellung am Tallinner Kreisgericht, wo er erst Dolmetscher, später Archivar war. Er blieb nun in Estland – sieht man von einer großen Auslandsreise ab, die ihn 1898 nach Italien, Frankreich, Griechenland, Ägypten, Palästina und in die Türkei führte – und war bis zu seinem Tode 1923 in verschiedenen Funktionen im Justizwesen tätig. Auffällig an Bornhöhes Vita ist, dass er mit zunehmendem Alter immer weniger schrieb und bald nach seinem 40. Geburtstag ganz mit dem Schreiben aufhörte. Dafür hatte er aber bereits als 16-Jähriger in Buchform debütiert und seinen größten Erfolg mit einem Werk landen können, bei dessen Abfassung er gerade einmal siebzehn Jahre alt gewesen war. Dabei spiegeln diese beiden Erstlinge in nuce den Entwicklungsweg der estnischen Literatur in jener Zeit wider: Die 1878 erschienene Erzählung Röövel ja mõisnik (Räuber und Gutsherr) war aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Deutschen übersetzt oder beruhte zumindest auf deutschen Vorbildern. Diese Räuber-

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pistole gehörte noch eindeutig in den Bereich der Adaptationen, während der direkt im Anschluss daran verfasste Tasuja den vollzogenen Sprung in die Eigenständigkeit verkörpert. Auch für diese Erzählung sind gelegentlich Vorbilder angenommen worden – Herbert Salu (1955) wies auf Parallelen zum Wilhelm Tell in der Bearbeitung von Alexander Dumas père hin –, weil man einem Siebzehnjährigen vielleicht die Reife zur Abfassung eines solchen Werkes noch absprach. Selbst wenn das der Fall gewesen sein sollte, bewegen wir uns hier im Bereich der normalen Intertextualität, d.h. innerhalb eines Grades der Beeinflussung, der jeder denkende und schreibende Mensch ausgesetzt ist und die man in verschiedenem Ausmaße in jedem Werk finden kann. Nach der heute gängigen Auffassung wird der Tasuja eindeutig als eigenständiges estnisches Originalwerk angesehen. Mit seinem Erscheinen 1880, auf dem Höhepunkt der nationalen Emanzipationsbewegung und kurz vor deren Aufspaltung und Abflauen, begründete der Text die nationalromantisch-patriotische Strömung in der estnischen Literatur und war gleichzeitig der Auftakt zu dem kurzen Boom der historischen Prosa. Die ca. 25000 Wörter umfassende Erzählung spielt in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und gipfelt in dem Aufstand von 1343. Die Hauptperson und Titelfigur ist der mit einem edlen Charakter und imposanten Körperkräften ausgestattete Jaanus, der als Enkel eines Bauern, der vom Bischof die Freiheit geschenkt bekommen hatte, als freier Bauer im Wald heranwächst. In seiner Kindheit und Jugend hat er engen Umgang mit Emiilia und Oodo, den Kindern des milden Herrn auf der Ritterburg. Nach einem Zwischenfall mit einem Reitunfall war das Verhältnis jedoch erkaltet und abgebrochen. Fünf Jahre später trifft Emiilia während eines Reitausflugs mehr oder weniger zufällig mit Jaanus zusammen. Der liest inzwischen Latein, befasst sich mit Geschichte und macht sich Gedanken über sein Volk. Der Besuch bleibt vorerst aber folgenlos. Bald danach trifft Jaanus im Dorf auf einen halb zu Tode Gepeitschten, den er pflegt und der wenig später zu ihm flieht. Dort wird dieser auch vom Gutsaufseher vermutet, der daraufhin bei Jaanus erscheint, von diesem aber fortgejagt wird. Oodo, dessen Vater gerade gestorben ist und der nun andere Saiten aufzieht, überfällt daraufhin mit einer Rotte den Hof von Jaanus und legt ihn in Schutt und Asche. Jaanus entkommt dabei auf mysteriöse Art und Weise. Angestachelt von der gnadenlosen Unterdrückung durch die fremden Herrscher und am eigenen Leibe erfahrenes Unrecht wird Jaanus nach einigen Jahren zum Organisatoren des Widerstandes, zum »Rächer«, als die Ältesten der Esten einen Aufstand gegen die verhassten Unterdrücker organisieren. Überspitzt formuliert enthält Jaanus damit Elemente von Kalevipoeg, Wilhelm Tell und Michael Kohlhaas –

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und diese drei Gestalten aus der Weltliteratur sind dementsprechend immer wieder als Vorbilder oder Parallelen angeführt worden. Nur ganz am Rande wird eine Beziehung zwischen Emiilia und Jaanus suggeriert, sie geht nicht über das emotionale Band der Jugendfreundschaft hinaus, rührt den Rächer aber immerhin so weit, dass er wohl ihren Bruder Oodo bei der Erstürmung der Burg ermordet, nicht aber ihren Verlobten. Stattdessen wendet er sich nach Tallinn, um dort im Kampf gegen das übermächtige Ritterheer den Tod zu suchen. So wird Jaanus zum romantisch-tragischen Held und findet am Ende in einem verzweifelten und hoffnungslosen Kampf den Heldentod. Damit ist die kämpferische Grundaussage deutlich, die vorher explizit formuliert wurde: »Die Knechtschaft muss verschwinden – oder das Leben.« Eine passendere Botschaft konnte es in dieser Hochphase der nationalen Bewegung gar nicht geben, weswegen das Erscheinen der Erzählung ein Literaturereignis hätte werden können. Dass es das zunächst ganz und gar nicht wurde, liegt an verschiedenen Umständen, vor allem aber auch daran, dass die literarische Infrastruktur 1880 noch in den Anfängen steckte. Des weiteren spielte eine Rolle, dass der – unbekannte – Autor seine Erzählung in einem Tallinner Verlag veröffentlicht hatte, während zum damaligen Zeitpunkt alles Wichtige eigentlich bei zwei maßgeblichen Verlegern in Tartu erschien. So geschah es, dass keine einzige Rezension erschien und das Buch erst ganz allmählich in das Bewusstsein der Leserschaft drang. Die erste Auflage von 3000 Exemplaren reichte acht Jahre, dann erst war die zweite Auflage notwendig, der allerdings schnell eine dritte folgte, und danach war die Kanonisierung erreicht. Das Werk wurde regelmäßig neu aufgelegt, ganz einerlei unter welchem politischen System. Gleich 1945, im Jahr nach Stalins Wiederbesetzung von Estland, erschien eine Ausgabe in Tallinn, denn der Text passte nur allzu gut in den gerade siegreich abgeschlossenen antifaschistischen Kampf. Umgekehrt druckte auch die Exilgemeinschaft in Schweden 1947 eine Neuauflage, denn mit diesem Text konnte das Selbstbewusstsein gestärkt werden. In Estland wurde der Text Schullektüre, und zu Beginn des 21. Jahrhunderts konnten 20 Auflagen gezählt werden. Hinzu kommen Übersetzungen ins Finnische – bereits 1888 –, sowie nach dem Zweiten Weltkrieg auch ins Russische, Litauische und Mongolische. Bornhöhe verfasste mit Villu võitlused (Villus Kämpfe) 1890 eine weitere Erzählung über die Ereignisse von 1343 und schloss seine historische Prosa 1893 mit der Erzählung Vürst Gabriel ehk Pirita kloostri viimsed päevad (Fürst Gabriel oder die letzten Tage des Brigittenklosters) ab. Deren Handlung spielt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als im Zuge des Livländischen Krieges das Kloster im heutigen Tallinner Stadtteil Pirita zerstört wird

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(und als Ruine bis heute zu besichtigen ist). Diese Erzählung trägt mit ihrer spannungsreichen Handlung und unerwarteten Wendungen viel stärker die Züge eines Abenteuerromans als die kompakteren nationalromantisch geprägten Erzählungen über den Freiheitskampf der Esten. Sie wurde deswegen aber nicht weniger populär. 1969 diente sie als Vorlage für einen der erfolgreichsten estnischen Filme aller Zeiten: Viimne reliikvia (Die letzte Reliquie) wurde in der gesamten Sowjetunion von 45 Millionen gesehen und in über 60 Länder exportiert. Zu dem Erfolg dieses Films, der dem Genre der Mantel- und Degenfilme zuzuordnen ist, hat die im Hintergrund wirkende literarische Prominenz beigetragen. Das Drehbuch stammte von Arvo Valton, Lennart Meri hat es redigiert, und die Liedtexte schrieb Paul-Eerik Rummo (s. § 43). Gerade diese Texte, die Rummo geschrieben hat, während er mit einem Ohr nach den BBCNachrichten über den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag lauschte, verliehen dem Film Kultstatus. In ihnen wird in Anlehnung an den ZenBuddhismus das Hohe Lied auf die Freiheit gesungen: »Was die Welt vor allem braucht, ist ein freies Kind« und »Flieh, freies Kind, das ist die einzige Chance / verstecke die Freiheit der Welt« und »Gewalt liebt die Freiheit, will sie bezwingen und erobern« lässt Rummo zu den Bildern von galoppierenden Pferden singen. Dass solche Texte durch die Zensur gekommen sind, ist dem konspirativen Geschick der Beteiligten zu verdanken: Lembit Remmelgas, der verantwortliche Zensor, wurde im rechten Moment abgefüllt, so dass er zu Hause seinen Rausch ausschlief, während die entscheidende Sitzung im Filmstudio stattfand. Am Ende des Films wird der Schrein mit der »letzten Reliquie«, einem Knochen der Heiligen Brigitta, von den Bauern mit dem Satz »Unsere Reliquie ist die Freiheit« auf dem Steinfußboden des Klosters, das sie erobert und angezündet haben, zertrümmert. Ob es hier um die individuelle Freiheit einer selbstbewussten jungen Adligen, die Freiheit eines Volkes, das sich Ende des 16. Jahrhunderts gegen seine Unterdrücker erhebt, oder die ersehnte Freiheit einer bedrängten Nation im 20. Jahrhundert geht, macht dabei keinen Unterschied. Der Film war so berühmt, dass einige Jahre lang Auszüge aus dem Drehbuch als Schullektüre verwendet wurden. Bornhöhes schmales Werk beschränkte sich nicht auf die historische Prosa. Er verfasste später noch einige realistische Erzählungen, von denen eine Satire über zwei halbgebildete Möchtegernintellektuelle in Tallinn – ein Dichter und ein Erfinder – besondere Verbreitung erlangt hat. Außerdem schrieb er Reisereportagen und war als Übersetzer aus dem Russischen und Deutschen tätig. In die Reihe der Klassiker der estnischen Literatur gehört er aufgrund seiner historischen Erzählungen, deren Erscheinungszeitraum

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1880–1893 exakt diese Phase innerhalb der Entwicklung der estnischen Prosa umrahmt. Der dritte wichtige Verfasser historischer Prosa war Andres Saal, der 1861 im Landkreis Pärnu geboren ist. Er durchlief den damals für viele herangehende Autoren üblichen Weg, indem er erst 17-jährig eine Stelle als Hilfsschulmeister antrat, sich gleichzeitig weiterbildete, 1880 das Lehrerexamen machte und sich danach erst einmal dem Journalismus zuwandte. Auch die folgende Anstellung in einer Zeitungsredaktion (bei Olevik, 1884–1890) und die parallel dazu erfolgte Weiterbildung als Gasthörer an der Universität, wo er Vorlesungen in Archäologie und Geschichte belegte, waren noch nicht unbedingt ein Abweichen vom üblichen Weg. Der begann erst mit der Ausbildung zum Foto- und Zinkografen in Deutschland, die ihn zu einem anerkannten Spezialisten auf diesem Gebiet machte. Nachdem er in den 1890erJahren einige Jahre in der Druckerei von Olevik gearbeitet hatte, zog es ihn 1897 wieder in die Ferne, und zwar zur Weiterbildung nach Deutschland. Ab 1898 war er in Indonesien, wo er in seinem Fachgebiet in einer Privatdruckerei in Surabaya arbeitete, seit 1902 als Fotograf beim topographischen Dienst der niederländischen Kolonialbehörde in Batavia (dem heutigen Djakarta). Als pensionierter niederländischer Kolonialbeamter lebte er seit 1920 in Kalifornien, wo er 1931 starb. Zum letzten Mal war er 1925 in Estland gewesen. Aber die Verbindungen waren nie abgebrochen, und möglicherweise wollte Saal kurz vor seinem Tode auch dorthin zurückkehren (Urgart 1931, 487). Saal war ein produktiver Autor, dessen Kernwerk, zumindest was die historische Prosa anbetrifft, innerhalb von fünf Jahren erschien. Zwischen 1889–1893 publizierte er zwölf Bücher, die zum größten Teil in der fernen estnischen Vergangenheit angesiedelt waren und großen Erfolg bei der Leserschaft erzielten. Sie entsprachen genau dem Bedürfnis nach unterhaltsamer, spannender und abwechslungsreicher Lektüre einerseits und dem Wunsch nach romantisch-patriotischer Verklärung der estnischen Frühgeschichte andererseits. Am bekanntesten und häufigsten aufgelegt wurde die Trilogie Vambola (1889), Aita (1891) und Leili (1892–93), die Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts spielt, also an der entscheidenden Schnittstelle der estnischen Geschichte beim Übergang von der einstigen Selbstständigkeit in die koloniale Abhängigkeit. Ein Charakteristikum für viele von Saals Texten, deren Affinität zur Jugend- oder Unterhaltungsliteratur mehr als deutlich ist, ist die Titelgebung, die oft aus bloß einem einzigen – bisweilen alten estnischen – Vornamen bestand. Ein Zeichen der Beliebtheit von Saals Büchern, die zahlreiche spätere Neuauflagen erzielten, war auch die Tatsache, dass seine Romantitel besonders gerne als Vornamen vergeben wurden.

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Abgesehen von seiner erfolgreichen Unterhaltungsliteratur verfasste Saal, der weit in der Welt herumgekommen war, Reisebeschreibungen für Zeitungen und historisch-landeskundliche Bücher, in denen eine antikolonialistische Haltung zum Ausdruck kam. Sein Buch Priiuse ja isamaa eest (Für Freiheit und Vaterland, 1903) war eine unmittelbare Reaktion auf den Burenkrieg. In Valge vanne (Der weiße Eid, 1904 und überarbeitet 1911 in der Presse, erst 1912 als Buch) prangerte er an, dass die niederländische Kolonialmacht die letzten indonesischen Fürstentümer vernichtete. Vermutlich nahm seine Behörde keine Notiz davon, dass einer ihrer Beamten in einer exotischen Sprache kritische Worte über die niederländische Politik fand, andernfalls hätte ihn das seine Stellung kosten können. So aber fertigte er 1908 sogar eine Fortsetzung an und schickte sie nach Estland, wo sie allerdings erst 1929 als Buch erschien (Valgus hommikust, ›Licht vom Morgen‹). Triviale Blüte und Literaturverbreitung Zwar kann man schon den romantisch-historischen Verklärungen der im vorangegangenen Abschnitt behandelten Prosa trivial-banale Elemente nicht absprechen, wofür gerade der zuletzt genannte Andres Saal ein gutes Beispiel ist. Aber trotzdem gibt es gravierende Unterschiede zu der wahren Flut von kurzlebigen Gebrauchstexten, die im Zuge des vergrößerten Zeitungsspektrums und des gestiegenen Lesebedürfnisses ungefähr zeitgleich den Buchmarkt eroberte. Diese Literatur knüpfte unmittelbar an den Sentimentalismus der 1840er-Jahre an (vgl. § 14) und setzte die Tradition der »leichten Lektüre« fort, die von nun an, wie in jeder anderen Literatur, auch innerhalb der estnischen Literatur parallel zur »Hochliteratur« bestand. Vielfach handelte es sich immer noch um Übersetzungen aus dem Deutschen, das für die meisten die erste zugängliche Fremdsprache war. Immer häufiger wurde aber auch aus dem Russischen (Issakov 1964), in geringerem Maße auch aus anderen Sprachen, übersetzt. Oft waren es Küster oder Schulmeister, die sich auf diese Art ein kleines Zubrot verdienten. Neben den üblichen Abenteuer- und Räubergeschichten, deren Charakteristika eine spannende und mit überraschenden Ereignissen überfrachtete Handlungslinie sowie psychologisch unglaubwürdigen Wendungen und Lösungen waren, hatte nach wie vor die klerikale Literatur mit ca. 30 % einen erheblichen Anteil an dieser Literaturproduktion. Immerhin führte der sich verbreiternde Markt – 1880 hatte es 20 Druckereien in Estland gegeben, zehn Jahre später waren es schon 30 – dazu, dass der eine oder andere Übersetzer seinen Brotberuf an den Nagel hängen und sich ganz der literarischen Tätigkeit widmen konnte. Bestes Beispiel hierfür

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ist David Martson, der ein einfacher Postbeamter mit Volksschulbildung war und sich später ausschließlich von seinen Übersetzungen und anderen Publikationen ernähren konnte. Er stand ganz in der Tradition der 1870erund 1880er-Jahre, als die Grenze zwischen Nacherzählung und Übersetzung gerne verwischt wurde und die Angabe, ob das betreffende Buch eine Vorlage gehabt hatte, prinzipiell fehlte. Eigenständiges oder Neues lieferten seine Publikationen wohl kaum, aber für das estnische Lesepublikum war wichtig, dass eine Auswahl an Lesestoff bestand. Dies lässt sich abschließend mit einigen Zahlen illustrieren (vgl. Antik 1936): 1879 überstieg die Zahl der estnischen Buchtitel erstmals die hundert (112) und bewegte sich im folgenden Jahrzehnt konstant in diesem Bereich. Mitte der 1890er-Jahre wurden 150 Titel erreicht, und zum Ende des Jahrhunderts beinahe 200. Freilich betrifft diese Zahl die estnischsprachigen Titel generell, also keineswegs ausschließlich die Schöne Literatur, aber trotzdem veranschaulicht die Steigerung in der Anzahl der zur Verfügung stehenden Texte die Veränderungen im Bereich der estnischen Schriftkultur. Damit einher ging der allmähliche Ausbau des Buchhandels- und Bibliothekswesens. In den wichtigsten Zentren des Landes konnte man gegen Ende des Jahrhunderts Bücher kaufen, wenngleich immer noch ein großer Prozentsatz von wandernden Buchhändlern vertrieben wurde. Die Zahl der öffentlichen Leihbibliotheken belief sich auf dem Höhepunkt der nationalen Emanzipationsbewegung (1886) auf 135, danach mussten infolge der Russifizierungspolitik zahlreiche Einrichtungen geschlossen werden. Die Buchsammlungen wurden zwar nicht vernichtet, aber die Bibliotheken konnten nur illegal und im Verborgenen weiterexistieren. Auch hier stellte sich also gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine gewisse Depression ein, aber die Voraussetzungen für die weitere Entwicklung waren in den 1870er- und 1880er-Jahren geschaffen und nicht mehr rückgängig zu machen.

§ 22 Lyrik und Bühnenliteratur nach Koidula Die Schule Koidulas Obwohl zu Koidulas Lebzeiten nur etwa die Hälfte ihrer Gedichte bekannt geworden waren, war das genug für ihre unangefochtene Anerkennung als die Vaterlandsdichterin schlechthin. Ihre Dichtung wirkte inspirierend, und da in der Hochphase der nationalen Bewegung ein erheblicher Bedarf an patriotischen Gedichten und Liedern bestand, schoss die Zahl der Dichter und Dichterinnen in die Höhe. Koidula wurde dabei zum Maßstab für alles, was

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nach ihr kam. Allerdings ist dies teilweise erst eine spätere Zuordnung und Kategorisierung, es gab in unmittelbarer zeitlicher Nähe von Koidula Debüts, die nicht ihrem direkten Einfluss zuzuschreiben sind. Eine solche Position nimmt Mihkel Veske ein, der im selben Jahr wie Koidula geboren ist und dessen Dichtung unabhängig und parallel zu Koidula entstanden sein dürfte. Veske war ein typischer Vertreter der jungen Intellektuellenschicht, die die nationale Emanzipationsbewegung trug. Er war praktisch auf allen Gebieten tätig und an allen Projekten beteiligt: Vanemuine-Gesellschaft, Gelehrte Estnische Gesellschaft, Estnische literärische Gesellschaft, Alexanderschule, Linda-Gesellschaft – überall finden wir Veske in meist führender Position. Hauptberuflich war Veske Philologe, nachdem ihm wohlhabende Gönner ein Studium in Leipzig ermöglicht hatten. Hier wurde er 1872 mit einer Arbeit zur vergleichenden Grammatik der finnougrischen Sprachen zum Dr. phil. promoviert. Damit war er der erste promovierte estnische Sprachwissenschaftler und trat 1874 die Stelle des Estnischlektors an der Universität Tartu an, bald danach auch am dortigen russischsprachigen Lehrerseminar (II). 1886 wurde er auf die neu gegründete Dozentur für Finnougristik an der Universität von Kasan berufen. Er konnte diese Position aber nur wenige Jahre ausfüllen, da er bereits 1890 an Herzversagen starb. Zu Veskes Lebzeiten ist nur ein einziger Gedichtband erschienen, Laulud Viisidega (Gedichte mit Melodien, 1874). Der nichts sagende Titel ist insofern treffend, als Veskes Gedichte tatsächlich in erster Linie Lieder sind, als die sie heute noch bekannt sind. Häufig hat er sich zu vorhandenen deutschen Melodien einen estnischen Text ausgedacht, aber auch das Umgekehrte konnte geschehen: Karl August Hermann berichtete (Jürgenstein et al. 1915, 183), wie Veske einmal mit einem fertigen Gedicht zu ihm kam und darauf drang, dass Hermann hierzu eine Melodie verfasse. Ein paar Tage später war ihm das gelungen, und danach wurde Ilus oled, isamaa! (Schön bist du, Vaterland!) zu einem der meistgesungenen Lieder der Nationalbewegung, das auch heute noch in aller Munde ist. Wie etwa ein Fünftel von Veskes Gedichten beruhte auch dieses auf einem deutschen Vorbild bzw. lehnt sich daran an – Berthold Sigismunds Auf die Höhen laßt uns steigen –, aber es ist um eindeutige estnische Spezifika erweitert. Viele von Veskes über 200 Gedichten sind patriotischen Inhalts, dabei aber nicht schwermütig, sondern fast immer fröhlich. Abgesehen von deutschen Vorlagen gab es auch russische Einflüsse, da Veske zum Beispiel Puˇskin und Lermontov übersetzt hat. Seine literarische Bildung war infolge seines Studiums wesentlich höher als bei den meisten seiner Zeitgenossen, er hat neben den genannten Sprachen auch aus dem Finnischen, Ungarischen, Schwedischen und Dänischen übersetzt. Außerdem interessierte er sich für

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die estnische Volksdichtung und hat hiervon Elemente in seiner Lyrik verarbeitet. Auch Ado Reinvald mag unabhängig von Koidulas Gedichten auf die Idee gekommen sein, Verse abzufassen, aber die entscheidenden Impulse bekam er von der Dichterin, als deren glühender Anhänger und Verehrer er galt. Ganz anders als Veske war Reinvald Autodidakt, der zu Hause Lesen und Schreiben gelernt hatte und später gerade einmal fünf Monate lang als 14-Jähriger die Schulbank gedrückt hatte. Den Rest seiner Kindheit musste der 1847 geborene Bauernsohn auf dem Hof mit anpacken. Nach dem Tod des Vaters, der 1867 an den Folgen von 60 Stockschlägen gestorben war, war er allein verantwortlich für den Hof. Nicht zufällig trägt seine Biographie daher den Untertitel »Dichter und Bauer« (Priidel 1965). Als Landwirt hatte er viel Pech und erwies sich als ungeschickt in wirtschaftlichen Dingen, so dass der Hof 1894 zwangsversteigert werden musste. Der Dichter lebte bis zu seinem Tode 1922 an verschiedenen Orten und konnte sich nur mühselig über Wasser halten. Reinvald stand in Kontakt mit vielen bedeutenden Kulturpersönlichkeiten der Zeit, die seine Verse schätzten und ihn manchmal auch materiell unterstützten. Er war ein Freund und Mitarbeiter Jakobsons und wechselte mit Koidula und Kreutzwald Briefe. Letzterem schickte er das Manuskript seines ersten geplanten Gedichtbandes zur Korrektur, der sich der Sache annahm und dem Autor Verbesserungsvorschläge zurückschickte. Auch die zweite Version ging noch einmal zu Kreutzwald, ehe Ende 1871 Reinvalds erster Gedichtband Villandi Laulik (Liederbuch aus Viljandi) erschien. Dem Debüt folgten 1875, 1876 und 1877 weitere Sammlungen, dann trat eine Unterbrechung ein, während der Reinvald bei Sakala mitarbeitete und u.a. Kalender zusammenstellte. Ein fünfter Gedichtband kam 1889 heraus, daneben veröffentlichte der Autor einige Satiren und Erzählungen. Bekannt ist er jedoch ausschließlich wegen seiner Dichtung, die zwar vergleichsweise uneinheitlich ist, von der einige Beispiele aber bis heute zum Standardrepertoire der estnischen Lyrikgeschichte gehören – ganz sicher, wenn es um die Zeit der nationalen Emanzipationsbewegung geht. Wir haben es dabei nicht nur mit klassischer Vaterlandslyrik zu tun, obwohl diese Richtung in der patriotischen Stimmung nach dem ersten Liederfest auch bei Reinvald eine große Rolle spielte. Viele von seinen Gedichten sind Koidula gewidmet, auffällig ist die große Zahl von Widmungsgedichten an Personen oder zu Fest- und Todestagen, d.h. reine Gelegenheitsdichtung. Eine weitere Besonderheit ist die Heftigkeit, mit der sich manche Gedichte gegen Kirche und Gutsherrn richten. Eine rationalistisch-antiklerikale Grundhaltung war zwar bei allen Anhängern der Jakobson’schen Richtung vorherrschend, aber kaum jemandem gelangen so treffende Spottverse auf

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die örtliche Obrigkeit wie Reinvald. Diese Verse machten den Dichter beliebt. In ihnen klingt auch eine gewisse Verbitterung darüber mit, dass ihm aufgrund der Gutsherrnwillkür der höhere Bildungsweg versperrt gewesen war, denn wenn sein Vater nicht tot geprügelt worden wäre, hätte sich der Sohn eine Schulbildung leisten können. Bei Reinvald ist hervorzuheben, dass er relativ eigenständig war und allenfalls von der früheren estnischen Dichtung beeinflusst war, weil er keinerlei Fremdsprachen sprach. Zwar hegte er eine große Sympathie für Finnland und ließ sich von seinen Brüdern gelegentlich Gedichte von Schiller übersetzen, aber im Großen und Ganzen blieb er der dichtende Bauer, als den ihn – ganz ohne pejorative Konnotation, im Gegenteil: als Idealtyp des sich um geistigen Fortschritt und Bildung bemühenden Mannes vom Lande – seine gebildeteren Zeitgenossen auch ansahen. Zu den Lyrikern jener Zeit gehört auch Ado Grenzstein, der im Zusammenhang mit der Presse (vgl. § 20) und politischen Publizistik von sich reden gemacht hatte. Als Dichter veröffentlichte er 1877 und 1888 eigene Sammlungen mit teilweise vaterländischer Lyrik, die sich insbesondere durch Wortspiele und eine ausgefeilte Sprache auszeichnete. Bekannt ist er wegen seiner Kindergedichte. Ebenfalls nur am Rande als Dichter verzeichnet werden können Karl August Hermann, der neben seiner vielfältigen Tätigkeit als Komponist auch zwei Sammlungen mit Vaterlandslyrik herausgab, und Matthias Johann Eisen, der seit 1876 im Rahmen seiner produktiven Publikationstätigkeit auch eine ganze Reihe eigener Gedichtbände veröffentlichte. Hinter seiner folkloristischen Forschung und Tätigkeit als Übersetzer (z.B. des Kalevala) tritt seine Dichtung allerdings deutlich zurück. Allenfalls auf dem Gebiet der epischen Lyrik finden seine Gedichte noch heute einige Beachtung. Weitgehend vergessen sind schließlich Peeter Jakobson mit seinen epigonalen Dichtungen, worunter sich auch noch eine Sammlung auf Deutsch (1895) befindet, und Martin Lipp, der lediglich in quantitativer Hinsicht auffallend ist: Der Pastor verfasste einschließlich Übersetzungen über 850 Gedichte, von denen aber nur wenige in vertonter Form die Zeiten überdauert haben. Des weiteren trat er als Autor von Kirchenliedern, christlichen Kinderbüchern und Übersetzer finnischer Prosa in Erscheinung. Koidulas Nachfolge? Als Elise Aun 1885 erstmals ihre Gedichte an diverse Zeitungen sandte und 1888 mit dem Gedichtband Kibuvitsa õied (Die Blüten der Heckenrose) debütierte, wurde sie schnell als Nachfolgerin Koidulas gehandelt. Auns Dichtung bewegte sich auf einer eigenständigen Linie und läutete damit, im

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Verbund mit einigen anderen Dichtern, die Zeit nach Koidula und den Übergang zum 20. Jahrhundert ein. Elise Aun war 1863 in Südestland geboren und verbrachte ihre Kindheit in Setumaa, weitab von den damaligen Zentren der estnischen Kultur. 1890 begab sie sich auf Einladung von Lilli Suburg nach Viljandi, um dort in der Redaktion von Linda mitzuarbeiten, aber nach einem halben Jahr gab sie die Stellung wieder auf, weil sie sich mit Suburgs Weltanschauungen nicht anfreunden konnte. Danach arbeitete sie kurz in einem Krankenhaus in Riga, als Gouvernante in Kronstadt, in einem Buchladen in Pärnu und von 1898 bis 1900 abermals in der Redaktion von Linda, die inzwischen von Prants und Jürgenstein geführt wurde. 1902 ging sie als Buchhändlerin nach Tallinn. Zu jenem Zeitpunkt waren von ihr innerhalb von 13 Jahren (1888– 1901) fünf Gedichtbände und eine Sammlung mit Kurzprosa erschienen. 1903 heiratete sie – und verstummte. Die genauere Ursache hierfür ist nicht bekannt. Eheschließung und Mutterschaft mussten damals für eine Frau nicht mehr automatisch das Ende der literarischen Karriere bedeuten, aber auszuschließen ist es deswegen nicht. Sie starb 1932 in Tallinn. Die ersten Verse von Aun sind durchzogen von der Sehnsucht nach der Heimat. Damit sind sie der Vaterlandsdichtung nur teilweise vergleichbar, weil sie in wesentlich intimerem Milieu stattfinden und der nationalromantische Einschlag fehlt. Sie sind nicht euphorisch, sondern elegisch. Trotzdem war die Aufnahme positiv, es erschienen lobende Rezensionen (s. UndlaPõldmäe 1963, 364). Auch die weitere Dichtung ist pessimistisch, düster, fast schwermütig. Hatte sie anfangs noch Trost im Glauben gefunden und dies am Ende ihrer Gedichte oft ausgedrückt, so fällt auch diese Hoffnung in den späteren Gedichten weg. Auffällig ist der recht knappe, wenig blumige Ausdrucksstil, der einhergeht mit Sauberkeit in der Form. Auns kompaktes Werk ist zwar heute weitgehend vergessen, aber es markiert gut den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Auf ganz andere Weise mit Koidula verbunden war Jaan Bergmann, der nach Koidulas Tod die erste umfangreichere Anthologie ihrer Gedichte zusammengestellt hatte. Die Sammlung war aber erst nach Bergmanns Tod (1916) erschienen, und mit ihr hatte Bergmann der Nachwelt bekanntlich einen Bärendienst erwiesen, da er eigenmächtig Texte verändert hatte (vgl. § 19). Der 1856 geborene Bergmann hatte bereits als Gymnasiast altgriechische Hexameter ins Estnische übersetzt und war während seines Theologiestudiums in Tartu (1877–1882) in studentischen Kreisen aktiv. Sein Anliegen war es zu zeigen, dass man auch auf Estnisch formvollendete, »klassische«, Dichtung abfassen konnte, und allein hierin ist seine Bedeutung für die Entwicklung der estnischen Lyrik und Lyriksprache zu sehen. Denn seine

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Gedichte, die verstreut in der Presse erschienen und von ihm erst 1901 in einer Gesamtausgabe veröffentlicht wurden, wiesen inhaltlich nicht über Koidula hinaus und waren konventionelle Vaterlands- und Liebeslyrik. Lediglich seine Balladen, die Themen aus der Volksdichtung und dem Freiheitskampf der Esten aufgriffen, schufen etwas Neues und Eigenständiges. Am bekanntesten von ihnen ist Ustav Ülo (Der getreue Ü.), der einer belagerten Stadt die Nachricht des nahenden Entsatzes übermittelt und dafür den Heldentod stirbt. Ab 1884 war Bergmann Pastor in Paistu, wo er sich in seinen späteren Jahren mehr und mehr der kirchlichen Dichtung zuwandte und sich der Revision des Gesangbuchs widmete. Seine intensive Befassung mit dem Estnischen kommt auch in einer kompletten Neuübersetzung der Bibel zum Ausdruck, wovon allerdings nur das Neue Testament und geringe Teile des Alten Testaments erschienen sind (vgl. Paul 1995). Als Bindeglied zwischen der Koidula’schen Tradition und neuen Strömungen, die um die Jahrhundertwende entstanden und am stärksten mit Juhan Liiv (vgl. § 23) verbunden sind, müssen neben den unten separat behandelten Sööt und Haava an dieser Stelle Jakob Liiv und Jakob Tamm erwähnt werden. Jakob Liiv ist 1859 in Alatskivi, nicht weit vom Peipsisee, geboren und wurde nach dem Schulabschluss 1878 Hilfslehrer. Später wechselte er zwischen dem Lehrerberuf und dem Amt des Gemeindeschreibers hin und her, von 1901 bis 1913 betrieb er einen Buchladen in Väike-Maarja. Danach war er im Bankwesen tätig, später auch in der Politik: Von 1919 bis 1921 war er Bürgermeister von Rakvere. Seine aktive Karriere beschloss er wieder als Lehrer. Seit 1886 publizierte er Gedichtbände, die in ihrer Mehrheit idyllische Heimatdichtung enthielten, in der Bilder aus der Natur dominierten. Es überwogen die traurigen, fast schwermütigen Töne, denen in den späteren Gedichten, die während der Russifizierung entstanden sind, auch Resignation zu spüren ist. Hervorzuheben ist die strenge und saubere Form, die Liiv beherrschte. Jakob Tamm ist 1861 in der Nähe von Tartu geboren und ging nach der Gemeindeschule 1873 auf die orthodoxe Kirchenschule in Tilga in Südestland. Hier fand der Unterricht selbstverständlich auf Russisch statt, was den Schüler frühzeitig mit der russischen Literatur in Kontakt brachte. Auch seine weitere Fortbildung am Tartuer II. Lehrerseminar, wo er ab 1878 war, war russisch geprägt, aber hier traf er in Mihkel Veske auf einen Estnischlehrer, der ihn mit der nationalen Bewegung in Berührung brachte. Nach dem Lehrerexamen hatte er kurzzeitig verschiedene Stellungen inne, ging 1890 an die zwei Jahre zuvor gegründete Alexanderschule, wo der Unterricht ebenfalls auf Russisch stattfand, und wechselte 1893 nach Väike-Maarja in Nordest-

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land, wo er bis zu seinem Tode (1907) Schulleiter war. Hier war zum Beispiel auch Tammsaare (vgl. § 32) einer seiner Schüler, und im pädagogischen Wirken des literaturinteressierten Schulmeisters liegt eines der Verdienste von Jakob Tamm. Als Dichter debütierte Tamm 1882 in der Presse und veröffentlichte zu Lebzeiten nur eine zweiteilige Sammlung: Ärganud hääled I+ II (Erwachte Stimmen) erschien 1892, eine vom Autor selbst zusammengestellte Fortsetzung mit den Lieferungen III und IV des gleichen Titels erschien zu seinen Lebzeiten nicht mehr und wurde erst 1914 publiziert. Nach anfänglicher Liebes- und Naturlyrik verlegte er sich bald auf gereimte Fabeln und Balladen, worin er seine größte Meisterschaft erlangte. Bei den Fabeln ist der Einfluss von Krylov spürbar, den er übersetzt hat. Übersetzungen nahmen bei Tamm eine herausragende Position ein. Insbesondere als Übersetzer aus dem Russischen entwickelte er eine wichtige Vermittlertätigkeit, aber auch aus dem Deutschen fertigte er viele Übersetzungen an. Mit Krylov, Nekrasov, Puˇskin, Lermontov und Heine seien nur einige der wichtigsten Namen genannt. Tamms eigene Gedichte sind klar und sachlich, wenn auch nicht ohne Emotionalität, formuliert. Hier finden sich direkte Kommentare auf die Zeitumstände, weswegen sie durchaus in den Kontext der nationalen Bewegung gehören, aber die mittlerweile sattsam bekannte Vaterlandslyrik fehlte. Stattdessen schrieb er auf der estnischen Volksdichtung beruhende Balladen. Ferner gab es Gedichte, in denen er direkt auf Erscheinungen der Zeit reagierte. Damit war er einer der Ersten, dessen Lyrik man eine gewisse Gesellschaftskritik attestieren konnte, weswegen seine Gedichte in die Nähe des Realismus gerückt worden sind. Tamms Dichtung hatte sich relativ weit von der nationalpatriotischen Lyrik des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts entfernt und versuchte ganz bescheiden neue Wege zu gehen. Anna Haava und Karl Eduard Sööt Eine Besonderheit dieser beiden Dichterpersönlichkeiten liegt in ihrem langen, schaffensreichen Leben: Beide kamen noch vor Koidulas Gedichtdebüt zur Welt und publizierten wenige Jahre nach dem Tod der Dichterfürstin ihre ersten Gedichtbände, und beide erreichten ein so hohes Alter (92 bzw. 87), dass sie erst in der Sowjetzeit in Estland starben. Sie wurden zum Symbol für die Kontinuität der estnischen Poesie. Anna Haava ist 1864 in Mittelestland in einem bildungshungrigen Elternhaus geboren und geriet frühzeitig in Kontakt mit literarischen Texten. Ihre Schulbildung erhielt sie größtenteils in Tartu, wo sie von 1880 bis 1884 die Höhere Töchterschule besuchte, die sie mit dem Zeugnis als Hauslehre-

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rin abschloss. Danach schlug sie sich als Kindergärtnerin und Privatlehrerin durch und begann zu dichten. In den 1890er-Jahren hielt sie sich länger in Deutschland und St. Petersburg auf, kränkelte, war eine Zeit lang auf dem Hof bei ihrem Bruder und übersiedelte 1906 endgültig nach Tartu. Hier blieb sie ein halbes Jahrhundert lang und lebte – relativ zurückgezogen – hauptsächlich vom Übersetzen. Nur kurzzeitig war sie vor dem Ersten Weltkrieg in der Redaktion des Postimees tätig. Damit war sie eine der ersten Personen in der estnischen Literaturgeschichte, die sich – sieht man von der journalistischen Tätigkeit vieler Zeitgenossen ab – von der eigenen Feder auf rein literarischem Gebiet zu ernähren probierte. Das gelang ihr auch einigermaßen, wenngleich sie Zeit ihres Lebens in beengten Verhältnissen lebte. Immerhin erhielt sie 1920 eine staatliche Pension und 1939 eine angemessene Wohnung von der Stadt Tartu, und auch die sozialistischen Machthaber versorgten sie von 1945 an mit einer Pension. Als die Dichterin 1957 hoch verehrt starb, konnte sie auf eine fast siebzigjährige Schaffensperiode zurückblicken, denn debütiert hatte sie 1886 anlässlich Koidulas Tod mit einem der Dichterin gewidmeten Gedicht, und die letzten neuen Gedichte sind nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und in ihrer Gedichtauswahl von 1954 publiziert worden. Die ersten drei Gedichtbände von Haava, die jeweils den schlichten Titel Luuletused I, II und III (Gedichte; 1888, 1890, 1897) tragen, bedeuteten sowohl eine Anknüpfung an die Koidula’sche Tradition als auch eine Vertiefung und Erweiterung. In der Mehrheit waren es Liebesgedichte – und damit eine Thematik, die nicht unbedingt neuartig war. Haavas Gedichte aber zeugten von einer Intensität und Intimität, die es bis dahin in der estnischen Dichtung noch nicht gegeben hatte. Die Gedichte sind manchmal überschwänglich fröhlich, können aber auch kontemplativ und schwermütig sein, die ganze Skala der menschlichen Gefühle findet Verwendung. Statt romantischer Gefühlsduselei war hier echte Authentizität zu spüren. Damit traf die Dichterin die Stimmung der Zeit, was die überaus positive Aufnahme der Gedichtbände, die schnell weitere Auflagen erlebten, erklärt. Die anhaltende Popularität der Dichterin liegt in diesen frühen Werken begründet. Aus ihrem zweiten Gedichtband von 1890 stammt das folgende Gedicht, das eines der bekanntesten estnischen Gedichte aller Zeiten ist und fast redensartlichen Charakter eingenommen hat; das liegt nicht zuletzt daran, dass es vielfach einsetzbar und interpretierbar ist und die ersten Zeilen beispielsweise in der Sowjetperiode eine ganz andere Bedeutung und Verwendung gefunden haben können:

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Ei saa mitte vaiki olla Lauluviisi lõpeta’: Vaikimine oleks vale, Sunniks südant lõhkema Tahan õige tasa laulda Tasa kannelt helista’, Et ei sind, mu kõige kallim, Lauluga ma tülita Aga kui torm minu kandlelt Kostab siiski kõrvu sull’, Siis sa ise oled süüdi: Miks nii armas oled mull’! (Haava 1954, 76; Ich kann nicht verstummen / das Lied beenden / Schweigen wäre falsch / ließe das Herz zerspringen // Ich will ganz leise singen / leise meine Laute spielen / Um dich nicht, mein Allerliebster / mit meinem Gesang zu stören // Wenn aber der Sturm meiner Laute / dennoch an dein Ohr dringt / dann bist du selbst schuld: / Warum bist du mir so lieb!)

In der zweiten Schaffensphase zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Haavas Dichtung nüchterner, realistischer und in dem 1906 erschienenen Band Lained (Wellen) stellenweise auch gesellschaftskritischer. In den folgenden Sammlungen von 1910 und 1913 drang die Liebesthematik wieder stärker in den Vordergrund, wohingegen in der dritten Schaffensphase, während der abermals drei Sammlungen erschienen (1920, 1930, 1935), auch ein trauriger und schwermütiger Ton angeschlagen wurde. In die estnische Lyrikgeschichte und generell in das estnische kulturelle Gedächtnis – über 200 Gedichte von ihr sind vertont worden – ist die Dichterin aufgrund ihrer Interpretation der Gefühle eingegangen. Wie niemand zuvor fand sie sprachliche Formulierungen für intime Erlebnisse. Als Übersetzerin hat sie sich mit den Klassikern der Weltliteratur befasst, besonders mit der Dramatik: Shakespeare, Goethe, Schiller, Grillparzer und Hofmannsthal sind von Haava ins Estnische übertragen worden, ferner Andersens Märchen und auch russische Prosa. Karl Eduard Sööt kam 1862 in der Nähe von Tartu zur Welt und ging von 1878 bis 1881 in Tartu auf die Kreisschule. Danach war er kurzzeitig Gemeindeschreiber in einem Dorf bei Tartu und von 1886 bis 1893 Buchhalter und Redaktionsassistent bei Grenzsteins Olevik. In diese Phase fiel sein literarisches Debüt. Danach machte er sich selbstständig und gründete einen eigenen Verlag samt Druckerei und Buchhandlung, die er die nächsten zwanzig Jahre betrieb und am Vorabend des Ersten Weltkriegs verkaufte. Anfang der 1920er-Jahre war er kurz beim Postimees, bald danach zog er sich

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aber in die freiberufliche Tätigkeit zurück, der er bis zu seinem Tod 1950 treu geblieben ist. Sööt hatte in den 1880er-Jahren mit Versen in verschiedenen Zeitungen debütiert und publizierte 1890 und 1891 seine beiden ersten Bücher: Aasa õied I, II (Wiesenblüten). Wie der Titel vermuten lässt, waren diese Gedichte zum Großteil epigonal, wenngleich sie sich hier und da bereits durch realistische Wahrnehmungen von der Masse der spätromantischen Dichtung abhoben. Die Liebesgedichte dieser Sammlungen enthalten meist eine Prise Humor und unterscheiden sich dadurch von vielen Vorgängern. Ebenfalls bereits beim Debüt finden sich Gedichte, die Mitgefühl für diejenigen ausdrücken, die sich auf der Schattenseite der Gesellschaft wieder finden. Diese soziale Komponente zieht sich beinahe wie ein roter Faden durch das gesamte Werk des Dichters, ohne dass Sööt damit zu einem scharfen Kläger über unsoziale Zustände würde: Im Vordergrund stehen die sanften Töne und das Mitleid. In seiner dritten Sammlung, Rõõm ja mure (Freud und Leid, 1894), erwies sich der Dichter als ein Fortsetzer der Koidula’schen Vaterlandslyrik, ohne dabei in billige Nachahmung zu verfallen. Vielmehr gelang ihm mit seinen Elegien die Verbindung von persönlicher Gefühlslyrik mit aufrichtiger Sorge um das bedrängte Vaterland. Ferner ist festzuhalten, dass er mit diesem Band als einer der ersten den freien Vers in der estnischen Lyrik einführte. Den Abschluss der ersten produktiven Phase von Sööt bildeten die beiden Sammlungen Saatus (Schicksal, 1899) und Mälestused ja lootused (Erinnerungen und Hoffnungen, 1903), in denen die Linie der vorangegangenen Bände fortgesetzt wird und der Dichter sich als gereifter Humanist an der Grenze zwischen Romantik und Realismus erweist. Danach entstand eine längere Pause, während der Sööt sich seiner sonstigen Publikationstätigkeit und anderen gesellschaftlichen Aktivitäten zuwandte und Kindergedichte schrieb, die er 1923 veröffentlichte. Als er wieder mit eigenen Gedichten, darunter nun auch einige Balladen, an die Öffentlichkeit trat (1921, 1928, 1937), war seine Zeit eigentlich vorbei. Er hatte aber genügend gedichtet, um unvergessen zu bleiben, und regelmäßig wurden Gedichtauswahlen von ihm neu aufgelegt. Nicht nur seine Kindergedichte, mit denen er einen festen Platz in den meisten estnischen Kinderstuben erlangt hat und von denen 1957 sogar eine Sammlung auf Lettisch erschienen ist, sondern auch viele seiner übrigen Gedichte sind vertont worden und gehören heute zum allgemeinen Liedrepertoire in Estland. Einen weiteren Beitrag zur estnischen Kultur hat Sööt geleistet, indem er Gedichte von Heinrich Heine, dessen Einfluss bei ihm spürbar ist, und Sándor Pet˝ofi ins Estnische übertragen hat.

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Von der Liebhaberbühne zum professionellen Theater Nachdem Koidula 1870/71 in Tartu mit dem estnischen Theater einen Anfang gemacht hatte, schien der Knoten geplatzt und der Weg frei für eine Entwicklung des Theaters. Zwar entstand keine unmittelbare Kontinuität, und schließlich bestand auch das Koidula-Theater, wie es später bezeichnet wurde, aus gerade einmal acht Theaterabenden (vgl. § 19), aber in der Rückschau war die Entwicklung dennoch vergleichsweise zügig. Noch im selben Jahr, 1871, wurde in der einzigen anderen vergleichbaren Gesellschaft, der Estonia-Gesellschaft in Tallinn, die wie die Tartuer Vanemuine-Gesellschaft 1865 gegründet worden war, ein Theaterstück gegeben, das von Carl Hermann Petenberg, der weiter in der estnischen Literaturgeschichte nicht in Erscheinung getreten ist, übersetzte Lustspiel Wallelik, kes tõt rägib (Verlogen, wer die Wahrheit spricht). Wo es noch keine Gesellschaften dieser Art gab, wurden im Zuge der nationalen Begeisterung kurzerhand die entsprechenden Organisationen – meist als Gesanggesellschaften, teils auch als Mäßigkeitsgesellschaften – gegründet: 1871 in Viljandi, 1874 in Narva, 1878 Pärnu und auch in Tallinn, nachdem die Tätigkeit bei der Estonia-Gesellschaft wieder eingeschlafen war; weitere folgten in den 1880er-Jahren in Võru, Paide, Rakvere und in weiteren Orten. Sie alle hatten sich zum Ziel gesetzt, estnische Schauspiele aufzuführen, und tatsächlich fallen für die meisten Orte die Erstinszenierungen von estnischsprachigen Stücken in jene Jahre. Das Interesse beim Publikum war enorm, die Wandertruppen zogen auch über Lande. In Toila, einem Fischerdorf an der estnischen Nordostküste, ließ ein begüterter Landwirt 1880 sogar ein Gebäude eigens für Theateraufführungen errichten. Auch außerhalb Estlands fanden sich in St. Petersburg (1873) und Riga (1885) genügend Theaterbegeisterte für estnische Inszenierungen. Wenn die Truppen nicht immer nur Koidulas Stücke spielen oder auf Übersetzungen zurückgreifen wollten, mussten neue Texte her. Es überrascht daher nicht, dass Koidula recht bald Nachfolger bekam, die sich an die Abfassung von Bühnentexten heranwagten. Zeitlich der erste war Victor Julius Stein, der 1872 sein Stück Kivi-linad (Steinflachs) veröffentlichte, das im September 1872 auf der Bühne der Vanemuine-Gesellschaft uraufgeführt und dort insgesamt dreimal gespielt wurde. Das Stück handelt von einem Flachsdiebstahl, wie er dem Autor 1868 tatsächlich widerfahren war und der ihn in den Bankrott getrieben hatte. Es ist gewiss sprachlich schwach und uneinheitlich, relativ durchsichtig und am Ende sehr platt – der eine Dieb war aus dem Gefängnis entflohen, hatte sich danach aber aufgehängt und einen reuevollen Abschiedsbrief hinterlassen, der andere zog sich eine tödliche

§ 22 Lyrik und Bühnenliteratur nach Koidula

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Krankheit während der Gefangenschaft zu, woraufhin die beiden ursprünglich geschädigten Kaufleute um die Wette Geld für Schulen und bessere Gefängnisse spenden –, aber angesichts des beinahe luftleeren Raumes, in dem das Stück entstanden war, konnte man auch nicht viel mehr erwarten. Es war denn auch auf verschiedenen Wanderbühnen sehr erfolgreich und ist selbst Anfang des 20. Jahrhunderts noch einmal in Tartu inszeniert worden (R. Põldmäe 1968). Weitere frühe Stücke stammten von Karl August Hermann, der 1874 zwei Dramen publizierte, von denen eines auf einer Vorlage von Körner beruhte, sowie Johann Kantswey, dessen Stück Mihkel ja Liisa (Mihkel und Liisa, 1875) den Konflikt zwischen Liebes- und Vernunft- bzw. Zwangsehe behandelt und somit für sich in Anspruch nehmen kann, den universalen Romeo-und-Julia-Stoff erstmalig auf Estnisch auf die Bühne gebracht zu haben. Es gab noch weitere Dramen oder Dramenversuche in den 1870er- und 1880er-Jahren, die jedoch allenfalls für das Repertoire von Laienbühnen brauchbar waren und bald in Vergessenheit gerieten. Einige von ihnen sind aus rein kulturgeschichtlichem Interesse über hundert Jahre später noch einmal ediert worden (K. Laugaste 1997). Nicht zu vergessen ist, dass sich auch drei von den »Großen« mit Theatertexten befasst haben, nämlich Jakobson, Jannsen und Kreutzwald. Jakobsons Arthur und Anna wurde bereits erwähnt (§ 19). Es war ursprünglich auf Deutsch abgefasst worden, da Jakobson – zu Recht – keinerlei Möglichkeit sah, ein estnisches Stück auf die Bühne zu bringen, weil es eine solche Bühne zu damaligen Zeitpunkt schlicht noch nicht gab. In weiser Voraussicht hatte er nach der Fertigstellung des Textes aber gar nicht probiert, ihn von einem Tartuer Zensor absegnen zu lassen, sondern den Versuch in St. Petersburg unternommen, wo er das Manuskript aber völlig zusammengestrichen zurückerhielt. Auch in St. Petersburg erkannte man die Brisanz dieses Stückes, das allzu kritisch die Zustände in Estland beleuchtete, das althergebrachte Standesdenken unterminierte und die Liebe zwischen einem adligen Deutschen und einem estnischen Bauernmädchen zum Gegenstand hatte. Jakobson dachte nicht daran, das Stück zu bearbeiten und ließ es erst einmal liegen. Womöglich wartete er einfach auf bessere Zeiten. Ende der 1860er-Jahre machte er sich an die Übersetzung seines Stücks ins Estnische, weil mittlerweile in der Vanemuine-Gesellschaft Pläne für eine Theaterinszenierung aufgekommen waren. Dennoch ist die estnische Version von Arthur und Anna erst 1872 fertig geworden und im selben Jahr in Tallinn, wo es Jakobson gelungen war, den Zensor günstig zu stimmen oder einfach zu hintergehen, erschienen. Wie für seinen 1870 erschienenen Gedichtband verwendete Jakobson erneut sein Pseudonym Linnutaja. Die Uraufführung von

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Kapitel IV: Professionalisierung (1870–1900)

Arthur und Anna fand 1873 in Tartu in der Vanemuine-Gesellschaft statt, im gleichen Jahr wurde es auch in Viljandi gespielt, 1874 in Narva. Danach ist es vermutlich verboten worden, denn die deutsche Presse hatte das Drama erwartungsgemäß als Hetzstück, das geeignet war, die unteren Klassen gegen die Obrigkeit aufzuwiegeln, gebrandmarkt. Erst in den 1880er-Jahren wurde es wieder aufgeführt, und seitdem ist es mehr oder weniger regelmäßig auf den estnischen Bühnen zu finden. Von Jannsen sind drei Schwänke bekannt, die er für die Bedürfnisse »seiner« Vanemuine-Gesellschaft geschrieben hat und die dort alle, wenn auch eines mit großer Verspätung, zur Aufführung gelangt sind. 1873 kramte er Steinsbergs 50 Jahre zuvor in Pärnu inszeniertes Stück Permi Jago unnenäggu (Der Traum von Jaak Perm; vgl. § 17) aus dem Archiv hervor und verfasste auf dessen Grundlage eine neue Version gleichen Titels (G. Suits 1927), mit der er wenigstens so viel Erfolg hatte, dass er sich gleich an die Arbeit zu einem neuen Stück machte. Das war zwar im gleichen Jahr fertig, wurde aber erst 15 Jahre später auf die Bühne gebracht. 1875 wurde sein drittes Stück inszeniert. Alle Stücke entsprachen dem Geschmack der »leichten Kost« der damaligen Zeit und fügten sich nahtlos in die Reihe der anderen zeitgenössischen estnischen Bühnentexte ein (vgl. R. Põldmäe 1969a). Kreutzwald schließlich verfasste bereits in den 1860er zwei Dramen bzw. besser gesagt zwei estnische Versionen von Tragödien Christoph Ernst von Houwalds (vgl. § 18). Sie wurden zwar noch zu seinen Lebzeiten gedruckt, gelangten aber erst viel später auf die Bühne, so dass Kreutzwald, der mit seinen Dramabearbeitungen eigentlich nur zeigen wollte, dass sich auch das Estnische für eine höhere Bühnensprache eignete, nicht mehr direkt in die Gestaltung und Herausbildung des estnischen Theaters eingreifen konnte. Das hatte da bereits seinen Weg ohne die leitende Feder des Dichtervaters angetreten. Juhan Kunder und der Weg in die Professionalität Eine spürbare Veränderung in der estnischen Bühnenliteratur trat erst mit Juhan Kunder ein, der die von Koidula begonnene estnische Dramatik weiterentwickelte. Kunder ist 1852 im Landkreis Viljandi geboren, war von 1872 bis 1875 am I., dem deutschsprachigen, Lehrerseminar in Tartu und anschließend als Lehrer und Journalist tätig. Er wies die für viele in der nationalen Bewegung aktiven Personen übliche Biographie auf und beteiligte sich an den meisten Unternehmungen (Alexanderschule, Estnische literärische Gesellschaft). Sein weiterer Bildungsweg führte ihn 1886 nach Kasan und 1887 nach St. Petersburg, wo er an Typhus erkrankte und bereits im nächsten Jahr, gerade einmal 35-jährig, starb.

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Seine literarisches Wirken entsprach ganz dem Bild des »erwachten« Schulmeisters: Er verfasste Schulbücher, eine Prosanacherzählung des Kalevipoeg (1885), schrieb Literaturkritiken und machte sich an die Abfassung einer estnischen Literaturgeschichte (vgl. § 4). Ferner erschienen 1873 und 1876 zwei Gedichtsammlungen von ihm, die im weitesten Sinne der oben erwähnten »Schule Koidulas« zuzurechnen sind und von deren Gedichten einige bis heute populär sind. Eine umfangreichere Sammlung wurde postum (1890) herausgegeben. Eine zentrale Stellung in seinem Werk nahmen die Schauspiele ein, denn in diesem Bereich erwies er sich nicht als »einer unter vielen«, sondern als jemand, der Neues ausprobierte und sich auf diesem Gebiet zu profilieren wusste. Am Anfang steht auch bei Kunder eine Übersetzung von Kotzebue, aber beflügelt von Koidulas Erfolg und dem bald danach entstehenden Bedarf an estnischen Originalstücken machte er sich, erst 20-jährig, an die Arbeit zu seinem ersten »eigenen« Stück. Dabei ist nicht einmal klar, worum genau es sich dabei gehandelt hat, denn die Frühgeschichte von Kunders Texten ist reichlich sagenumwoben. 1873 wurde in der Estnischen literärischen Gesellschaft ein Drama von ihm zur Sprache gebracht, das danach spurlos verschwunden ist und von dem man nur den Titel kennt, Orust õnnemaale (Aus dem Tal ins Land des Glücks). Ebenfalls in jener Zeit zirkulierte eine anonyme satirische Bearbeitung von Jannsens vermutlicher Absprache mit den Deutschen zwecks Finanzierung seines Postimees (vgl. § 15), die lange Zeit Jakobson zugeschrieben worden ist, höchstwahrscheinlich aber von Kunder stammte. Aus dem Jahre 1874 dann stammen die ersten Schauspiele, die auch bald auf die Bühne gelangten. Mulgi mõistus ja tartlase tarkus (Der Verstand des Mulks [scherzhaft-pejorative Bezeichnung für einen Bewohner Südwestestlands] und die Weisheit des Tartuers) behandelt die überflüssige Konkurrenz der verschiedenen estnischen Landkreise – symbolisiert hier durch die Gegenden um Viljandi und Tartu, die innerhalb der nationalen Bewegung auch tatsächlich die aktivsten waren – und ruft zu gemeinsamem Handeln auf. Das Stück kam in der Hochphase der nationalen Euphorie 1875 auf die Bühne und wurde mit viel Erfolg gespielt. Es ist, wie auch die beiden bald darauf folgenden Stücke von Kunder, noch ganz der Koidula’schen Tradition verpflichtet und in diesem Sinne haben wir es hier mit epigonalen Volksstücken zu tun. Dennoch waren sie wichtige Etappen für den Autor auf dem Weg zur Herausbildung eines eigenen Stils. Nach einer etwas längeren Pause trat Kunder 1885 mit dem Drama Kroonu onu (Der Onkel der Krone) an die Öffentlichkeit, das 1886 mit großem Erfolg in der Vanemuine-Gesellschaft inszeniert wurde. Auch dieses Stück ist

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Kapitel IV: Professionalisierung (1870–1900)

nichts weiter als eine Dorfkomödie, deren Hauptintrige in einem den Betroffenen missfallenden Eheplan der Eltern besteht, der mit Hilfe der notwendigen Tricks schließlich glücklich abgewendet werden kann, aber der besondere Humor, die gelungenen Charakterrollen, die treffende Milieubeschreibung und die farbenfrohe Sprache schufen ein abgerundetes Volksstück, wie es in der damaligen estnischen Dramatik noch nicht vorhanden war. Auch deswegen musste sich die Komödie in der weiteren estnischen Theatergeschichte nicht mit der bloßen Verwendung auf dörflichen Laienbühnen abfinden, sondern wurde auch immer wieder von den wenig später entstandenen professionellen Bühnen ins Repertoire genommen. Das folgende Drama von Kunder war wesentlich ernsthafter und daher kein ebenso großer Publikumserfolg. In Mõrsja ja märatsejad (Die Braut und die Rasenden, 1887) wurden aktuelle gesellschaftliche Probleme wie die Tätigkeit mancher Erweckungsbewegungen thematisiert. Das Drama ist gegen die betrügerischen Praktiken religiöser Scharlatane gerichtet und ein Plädoyer für die Standhaftigkeit auch in gefährlichen Situationen, die durch die Hauptfigur verkörpert wird. Damit erwies sich Kunder als der erste Bühnenautor, der soziale Probleme auf einem anderen Niveau als dem des reinen Lustspiels anpackt, und nicht zuletzt hierin liegt seine Bedeutung für die Entwicklung der estnischen Dramatik. Außerdem hatte er inzwischen rein technisch eine andere Dimension erreicht, das notorische Zur-Seite-Sprechen der Akteure gehörte nun der Vergangenheit an. Kunder ließ noch eine Reihe von unvollendeten Texten nach und war ein viel versprechender Autor, von dem die estnischen Bühnen noch manches hätten erwarten können. Aber auch sein relativ schmales Œuvre reichte aus, dem estnischen Theater zu einem Aufschwung zu verhelfen und den Weg in die weitere Zukunft zu weisen. Diese Zukunft war freilich nicht nur von den Texten, sondern auch von den Rahmenbedingungen abhängig. Hier bestanden zunächst einmal nur die genannten Gesang- und Mäßigkeitsgesellschaften, unter deren Fittichen sich eine Theaterkultur mit wechselndem Erfolg und unterschiedlichem Tempo entwickeln konnte. Neben der materiellen Unsicherheit und der mäßigen Verfügbarkeit von brauchbaren Stücken war auch die sich hin und wieder einmischende Obrigkeit ein hemmender Faktor, denn für sie war es ein Leichtes, die Theatertätigkeit unter Hinweis auf die satzungsgemäßen Aufgaben der Gesellschaft zu unterbinden, solange es sich eben nur um Gesangsvereine oder Mäßigkeitsgesellschaften handelte. Denn in den entsprechenden Satzungen war von einer Theaterbühne natürlich nicht die Rede. So bewegte sich die gesamten 1870er-, 1880er- und 1890er-Jahre hindurch die estnische Bühne noch auf unsicherem Terrain. Selbst wenn in personeller Hinsicht eine

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gewisse Kontinuität erreicht wurde, bedeutete das noch nicht die notwendige gesellschaftliche Anerkennung. In Tartu hatte mit August Wiera zwar ein Vierteljahrhundert (1878–1903) lang ein und dieselbe Person an der Spitze der Vanemuine-Gesellschaft gestanden, die auch eine gewisse Konzeption befolgen und eine Tradition aufbauen konnte, aber als 1891 das Theaterspielen in Tartu wieder einmal verboten wurde, musste auch diese Tätigkeit im Verborgenen und auf eigene Kosten fortgeführt werden. 1903 brannte zu allem Überfluss noch das bisherige Gebäude der Gesellschaft ab. Erst 1906 konnte, dann auch gleich in einem neuen Gebäude, in Tartu das erste estnische professionelle Theater Vanemuine gegründet werden. Parallel dazu war die Entwicklung in der Hauptstadt verlaufen, mit dem einzigen Unterschied, dass die dortige Gesellschaft Estonia von einem Verbot verschont blieb. Dennoch gelang auch hier erst 1906 die Erhebung der Gesellschaft zu einem professionellen Theater, das dann 1913 sein repräsentatives Gebäude erhielt. Schließlich wurde 1911 auch in Pärnu das erste Berufstheater gegründet, alle weiteren Gründungen fallen dann schon in die Zeit der estnischen Unabhängigkeit.

§ 23 Früher Realismus »Eigener Herd ist Goldes wert« In der Blütephase der nationalen Emanzipationsbewegung gab es noch mehr als bloß patriotische Vaterlandsdichtung und eine Rückbesinnung auf die heroischen Vorzeiten des estnischen Volkes in Form von historischen Erzählungen. Auch die didaktische, moralisierende oder sentimentale Prosa früherer Zeiten (vgl. § 14) konnte schon lange nicht mehr befriedigen. Es herrschte allmählich ein Bedarf an Texten, die mehr mit der Realität der Gegenwart und den aktuellen Problemen der Menschen zu tun hatten, die von den Sorgen und Nöten berichteten, die die Menschen hier und jetzt hatten, statt nur über ferne Länder und vergangene Zeiten zu berichten. Solche Texte hat es vereinzelt auch früher schon gegeben, wo sie in der vorliegenden Darstellung dann mit dem Adjektiv »realistisch« charakterisiert worden waren. Dies war bislang bei Bornhöhe, Haava, Sööt, Suburg und Tamm der Fall. Zum Ende des 19. Jahrhunderts häufte sich die Zahl solcher Texte, so dass gelegentlich eine neue Epoche angesetzt wurde, die dann die Bezeichnung »Realismus« erhielt. Der Begriff des »Realismus« ist problematisch, da er je nach Theorie verschieden verwendet wird und ganze Bibliotheken über ihn geschrieben wor-

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den sind. Die Diskussion kann und soll hier nicht wiederholt werden. In den unterschiedlichen Konzeptionen und Diskussionen wurde der Begriff vielfach ausschließlich in einem Oppositionsverhältnis verwendet, etwa im Gegensatz oder als Gegenstück zum Idealismus, Modernismus, Expressionismus, Surrealismus oder auch zur Romantik. Gleichzeitig konnte er als Stilmerkmal oder als Epochenbezeichnung auftreten, wobei Ersteres schon bei antiken Autoren dingfest gemacht werden konnte, Letzteres aber lediglich auf eine im 19. Jahrhundert angesiedelte Periode angewendet wurde, die dann – und hier sind wir bezeichnenderweise wieder bei den Oppositionen – vorne von der Romantik und hinten vom Modernismus begrenzt wurde. In der sowjetischen Literaturwissenschaft war der Begriff obendrein eine Art Obsession: Alles wurde am Realismus – oder den verschiedenen Realismen: bürgerlicher, kritischer, sozialistischer o.Ä. – gemessen, und was nicht dazu passte, war eigentlich schon von vornherein schlecht. Um derlei Fallgruben und Ausgrenzungen nicht zu reproduzieren, sollte der Begriff der Einfachheit halber lieber ganz vermieden werden. Demgegenüber steht, dass das Wort auch eine Alltagsbedeutung hat und beispielsweise bei der Beurteilung dessen, ob etwas »realistisch« oder »unrealistisch« ist, ganz automatisch verwendet wird (und werden muss). In solch einem Kontext darf dem Wort nicht die Verwendung in einem Text verweigert werden. Es soll denn im Folgenden auch in dieser weiten Bedeutung und nicht in einem engeren streng stilistischen, theorie- oder epochebedingten Sinne verwendet werden. Mit dieser Definition ex negativo sind wir wieder beim Beginn dieses Kapitels angelangt: Was nicht als didaktisch, moralisierend, religiös-erbaulich, historisch-heroisierend, unrealistisch-sentimental – und mit Blick auf die Zukunft: symbolistisch, dekadent, surrealistisch, Sciencefiction oder auch postmodern – einzustufen ist, sondern sich in viel größerer Nähe zum Hier und Jetzt befindet, wird als im weitesten Sinne realistisch bezeichnet. Wann zum ersten Mal in estnischer Sprache Texte dieser Art auftraten, ist eine Definitionsfrage: Schon Luces Geschichten von Saaremaa (§ 14) beruhten zum Teil auf eigenen Beobachtungen vor Ort und weisen somit realistische Züge auf. Dasselbe war bei Kreutzwalds Bearbeitung von Zschokkes Brannteweinpest (§ 18) mit ihren Beschreibungen aus dem estnischen Dorfleben der Fall. Ganz bestimmt kann man das aber von Suburgs Liina behaupten (§ 21), der aufgrund ihres hohen Gehalts an Autobiographischem das Erstgeburtsrecht in Sachen »Realismus« nicht ganz abgesprochen werden kann. Häufig wird jedoch erstmalig im Zusammenhang mit Jakob Pärn, einem Zeitgenossen von Jakobson, Koidula und Suburg, vom aufkommenden Realismus gesprochen.

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Jakob Pärn ist 1843 im ostestnischen Torma geboren. Seine erste Schulbildung genoss er in der örtlichen Kirchspielschule, wo ihn u.a. sein aus Kindheitstagen schon bekannter Altersgenosse Carl Robert Jakobson unterrichtete, der nach Absolvierung des Seminars in Valga von 1859 bis 1862 Küster in Torma war. Pärn besuchte von 1865 bis 1869 in Tartu das Lehrerseminar und trat im Anschluss daran seine erste Stelle als Schulmeister an. In dieser Tätigkeit hielt es ihn aber nicht lange, da er 1872 – auf seiner zweiten Stelle – mit dem örtlichen Gutsbesitzer in Konflikt geriet und die Stelle verlassen musste. Er war allzu fortschrittlich gewesen, hatte bei Sakala mitgearbeitet und seinen Schützlingen auch Estnischunterricht gegeben, obwohl das gar nicht vorgesehen war. In der Folge versuchte er sich mit seiner Familie als Buchhändler in Tallinn und Tartu über Wasser zu halten. Erst 1883 konnte er wieder eine Stelle als Schulmeister antreten, diesmal in Otepää, wo Jakob Hurt früher Pastor gewesen war und noch genügend Einfluss hatte, um Pärn bei der Bewerbung auf die Stelle behilflich zu sein. Hier blieb Pärn 25 Jahre. Seine letzten Berufsjahre verbrachte er von 1908 bis 1916 im lettischsprachigen Teil Livlands in Valmiera, wo er an verschiedenen Lehranstalten Estnischunterricht erteilte. Kurz nach seiner Pensionierung starb er 1916 in Elva. Pärn hat seit seiner Zeit am Lehrerseminar pädagogische und populärwissenschaftliche Literatur und Schulbücher verfasst, seit 1871 auch zahlreiche Kinderbücher, die allerdings höchst moralisierend waren und sich mit ihrem ständig erhobenen Zeigefinger nicht von der üblichen Produktion der Zeit unterschieden. Das trifft im Großen und Ganzen auch auf seine Erwachsenenprosa zu, deren erste Texte zwischen 1872 und 1875 erschienen sind. Auch die Geschichte, die ihn berühmt gemacht hat, die Erzählung Oma tuba, oma luba ehk Lahvardi Kristjani ja metsavahi Leenu armastuse lugu (Eigener Herd ist Goldes wert oder Die Liebesgeschichte vom Lahvardi Kristjan und der Waldhüter-Leenu, 1879), kommt über diesen belehrenden Ton kaum hinaus und ist nach wie vor moralisierend. Die hier gewählte Übersetzung ›Eigener Herd ist Goldes wert‹ ist wegen des sprichwörtlichen Charakters gewählt, exakter wäre ›Eigenes Haus ist eigenes Recht‹, vielleicht auch die englische Redensart ›My home is my castle‹. Wichtig ist aber nicht der materielle Besitz, sondern das erworbene Recht und die Freiheit, die mit den eigenen vier Wänden assoziiert werden. Die relativ kurze Erzählung (15000 Wörter) ist wie Suburgs Liina weitgehend autobiographisch. Das erstreckt sich sogar auf die Namen, denn Pärns Vater hieß Kristjan, seine Mutter Leenu. Das Buch erschien in der Blütezeit der nationalen Bewegung und des politischen Kampfes und wurde so berühmt, weil sich in ihm der Autor eben nicht auf eine schwärmerische Va-

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terlandslyrik oder in die goldene Freiheitszeit der Esten vor etlichen Jahrhunderten zurückzog, sondern sich mit Dingen befasste, die buchstäblich vor der eigenen Haustür lagen: Er propagierte die Vorzüge des Landkaufs, der inzwischen von der Obrigkeit ermöglicht worden war, gegenüber der bloßen Pacht, die zur wirtschaftlichen Knebelung der Bauern verwendet würde. Nur durch den Kauf eines Hofes könne die wahre Freiheit erlangt werden. Verbunden wird dies mit der üblichen Liebesgeschichte, in der die Liebenden sich dem Wunsch der Eltern, die andere Heiratspläne haben, widersetzen und schließlich glücklich zusammenkommen. Anders als in den etwa zeitgleichen Bühnenstücken erfolgte hier die Lösung aber nicht mit Hilfe einer komplizierten oder durchsichtigen Intrige, sondern völlig gradlinig und geradezu spannungslos: Einzig der feste Wille der Frau ist entscheidend, und der Mann zeigt allein durch harte Arbeit, dass er eine würdige Partie ist. Viel mehr passiert in der ganzen Erzählung nicht, die bei näherer Betrachtung ziemlich plakativ und naiv ist. In ihrer Idealisierung des gebildeten, arbeitsamen Bauern und der Simplifizierung der tatsächlichen Zustände hat Oma tuba, oma luba sich vom moralisierenden Grundton ihres Autors noch nicht allzu weit entfernt. Sie enthält überdies auch politische Zwischenpassagen, in denen es sich der Erzähler herausnimmt, ein paar allgemeine Bemerkungen über die politische Lage zu machen, um seine Grundaussagen zu untermauern. Die lauten in etwa: Nur Bildung macht frei, ehrliche Arbeit lohnt sich, Alkohol und Kartenspielen führen ins Unglück, Veränderung muss sein – der Konflikt zwischen Alt und Neu, Alt und Jung wird mehrfach explizit genannt –, wenn man die Freiheit erlangen will. In der Thematik lag die Möglichkeit zur Identifikation, denn Pärn beschrieb wieder erkennbare Zustände. Nur deswegen konnte eine spätere Literaturgeschichtsschreibung das Werk auch in die Nähe des Realismus rücken. Und es war vermutlich auch der nüchterne und unspektakuläre Ton, der dem Buch zu relativ großer Verbreitung verholfen hat. Immerhin ist es in zwei Auflagen auf Finnisch (1882, 1891) und auch auf Schwedisch (1882) erschienen. Pärn schrieb noch mehr Prosastücke, die sich im Kern alle um dieselbe Problematik drehten: Die Befreiung der Esten aus der Fremdbestimmung, was nur durch eigenen Landbesitz, ehrliche Arbeit und ein Mindestmaß an Bildung gelingen kann. In späteren Werken wird die Thematik auch auf das städtische Milieu übertragen, wo die Esten es durch Fleiß ebenfalls zu etwas bringen könnten. Sein zweites bekanntes Werk, Must kuub (Der schwarze Mantel, 1883), behandelte abermals die beliebte Heiratsproblematik und die Standesunterschiede zwischen den beiden Nationalitäten. Der »schwarze Mantel« fungiert hier als Symbol der Esten, der zwischen ihnen und der mög-

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lichen Ehe mit einem oder einer Deutschen steht. Die Lösung, mit der Pärn am Ende aufwartet, ist einerseits überraschend, andererseits aber nur eine Konsequenz aus Pärns Programm, das gerade auch den gesellschaftlichen Aufstieg propagierte: Am Ende heiratet die Hauptperson, ein promovierter estnischer Arzt, nicht die ursprünglich Angebetete – ein deutsches Adelsfräulein –, sondern die Schwester eines estnischen Gutsbesitzers, die es bei Pärn inzwischen nämlich auch gibt. In Pärns Gesellschaftskonzeption, die ganz dem Denken von Carl Robert Jakobson verpflichtet ist, bestehen die Standesunterschiede nämlich weiterhin, nur sollten sie nicht mehr mit den nationalen Grenzen identisch sein. Im Gegenteil, die Esten sollten ihre eigene Oberschicht haben, was nach Pärn nur eine logische Konsequenz seiner politischen Haltung ist: Eine solche Schicht wird automatisch entstehen, sobald sich die Emporkömmlinge nicht mehr vom eigenen Volk lossagen. Auch wenn man diese Gedankenspielerei hinsichtlich der Eheschließung heute in der Rückschau als fundamentale Fehleinschätzung von Pärn belächeln mag – denn selbst bei einer Ausweitung der verschiedenen sozialen Schichten auf die verschiedenen Sprachen würden deswegen die Ehen ja noch lange nicht bloß innerhalb einer Sprache geschlossen werden, im Gegenteil (!) –, bleibt so ein Text für ein Verständnis der kulturellen Situation und auch der nationalen Schwärmerei im ausgehenden 19. Jahrhundert in Estland wichtig. Pärn hat danach kaum noch etwas veröffentlicht und sich ganz seiner pädagogischen Tätigkeit gewidmet. Auch sein Schreiben war vor allem pädagogisch, aber er griff deutlich Impulse aus der Gegenwart auf und zeigte manchmal gesellschaftskritische Züge. Elisabeth Aspe und Maximilian Põdder Das Thema der Eheschließung spielt auch bei einigen anderen Autorinnen und Autoren eine zentrale Rolle, hierin unterscheidet sich die estnische Literatur nicht vom Rest der Weltliteratur. Es gibt allenfalls den zusätzlichen Aspekt der Standes- und Sprachgrenzen, dessen Thematisierung innerhalb der estnischen (und zu einem geringen Maße auch der deutschbaltischen) Literatur Jaan Undusk (1998) einen interessanten Essay gewidmet hat. Zeitlich der nächste Text – nach Jakobson, begrenzt auch bei Bornhöhe und Pärn – stammt von Elisabeth Aspe. Sie war jedoch deutlich mehr als nur eine weitere Bearbeiterin des Themas der interkulturellen Eheschließung, sondern ging mit ihrem Werk weit über Pärn hinaus und markierte gemeinsam mit Juhan Liiv (s. u.) die endgültige Verabschiedung von der romantisch-sentimentalen Prosa.

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Elisabeth Aspe ist 1860 in Pärnu als Tochter des wohlhabenden Besitzers einer Säge- und Kornmühle geboren. Sie besuchte dort von 1871 bis 1878 dieselbe Höhere Töchterschule, auf der zuvor auch Koidula und Suburg gewesen waren. Ihr Elternhaus war belesen, man war auch mit Jannsens gut bekannt – Johann Woldemar Jannsen war ihr Patenonkel – und an der nationalen Bewegung interessiert und beteiligt. Trotzdem absolvierte Aspe die Schule nicht mit dem üblichen Lehrerinnenexamen, da ihre Eltern sie lieber als Erbin der Firma sahen. Was ihren beruflichen Lebensweg anbetrifft, hat ihre Familie bis zuletzt großen Einfluss ausgeübt: Jahrelang hat sie sich um kranke oder verwaiste Familienmitglieder kümmern und die eigenen Bedürfnisse hintanstellen müssen. Dennoch – oder auch dadurch, denn so manche Erzählung ist entstanden, während sie am Bett eines Kranken wachte – hat sie früh mit dem Schreiben begonnen, mit siebzehn Jahren begann sie ihr Tagebuch, und sie war noch keine zwanzig, als sie erstmals etwas an den Postimees schickte. Nach anfänglichen Übersetzungen erschien dort 1881 ihre erste Geschichte, die eine positive Aufnahme fand und die Autorin ermunterte weiter zu schreiben. Sie unterhielt Korrespondenz mit Grenzstein, der gerade mit der Herausgabe von Olevik begonnen hatte, besuchte 1882 Jakobson und engagierte sich für Projekte wie die Alexanderschule und die Estnische literärische Gesellschaft. Aus dem Bann der Familie konnte sie sich nur kurz lösen, 1891/92 arbeitete sie in einem Kinderheim in St. Petersburg, danach kehrte sie wieder nach Pärnu zurück, wo sie 1892 heiratete. Erneut fraß die Familie, seien es nun die eigenen Kinder oder kränkelnde Familienmitglieder, ihre gesamte Energie, so dass sie 1927 nicht als bekannte Schriftstellerin, sondern relativ unbeachtet starb. Ursache hierfür war auch, dass viele ihrer Erzählungen nur unter dem Kürzel »E.A.« oder »Elisabeth« in der Presse erschienen waren, weswegen manche ihrer Geschichten der bekannteren Elise Aun (vgl. § 22) zugeschrieben wurden. Aspes Hauptwerk ist die Erzählung Ennosaare Ain, die 1888 in der Beilage von Olevik erschien. Je nach Definitionskriterium kann man diese Erzählung mit ihren ca. 38000 Wörtern auch als Kurzroman bezeichnen, denn hier wird im Stile des Bildungsromans der Lebensweg der Titelfigur nachgezeichnet. Der Untertitel »Eine Erzählung aus Estlands Vergangenheit«, der der ersten Buchfassung von 1910 beigefügt ist, könnte das Buch in die Ecke der historischen Prosa abschieben. Aber der Exkurs in die etwas fernere Vergangenheit ist lediglich für die Darstellung der Herkunft der Hauptperson notwendig. Dieser Ennosaare Ain hatte sich im Laufe seines Lebenswegs zu Anton Enmann gewandelt, nachdem er auf dem Gut als Sohn einer Dienstmagd herangewachsen war und mit Hilfe des Schwagers des Gutsherrn eine

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anständige Bildung genossen hatte. Aufgestiegen in bessere Kreise fühlte er sich diesen auch emotional viel näher verbunden als beispielsweise seinem Halbbruder, zu dem er in der Kindheit ein inniges Verhältnis hatte, dessen national bewegtes Gehabe ihn aber nun gleichgültig lässt. Stattdessen entbrennt er in heftiger Liebe zur Tochter des Gutsherrn, mit der er in Kindheitszeiten schon mal gelegentlich gespielt hatte. Vor deren Abreise nach Deutschland eröffnet er ihr seine Liebe, woraufhin sie ihm leichtfertig ein Heiratsversprechen gibt. Allerdings könne eine Eheschließung nur erfolgen, wenn er sich hocharbeite, andernfalls würde ihr Vater nie einer Ehe mit einem Bauerntölpel zustimmen. Ein paar Monate später kommt die Gutstochter jedoch als Verlobte aus Deutschland zurück und will von ihrem Versprechen nichts mehr wissen. Tief gekränkt und von allen verlassen – denn auch die alten Bekannten aus dem Dorf und Freunde seines Bruders hatten ihn nur gehänselt wegen seiner Bemühungen, sich bei den Deutschen lieb Kind zu machen – verlässt Ain daraufhin Pärnu und tritt eine Stellung in Moskau an. In Moskau bleibt Enmann dreißig Jahre und wird ein gelehrter Astronom. Die Heimat interessiert ihn nicht, der Kontakt zu den Seinigen bleibt sporadisch, obwohl er sich des Gefühls nicht erwehren kann, dass er weder Deutscher noch Russe ist, sondern sich nur Estland und dem estnischen Volk verbunden fühlt. Er beginnt seinen Halbbruder zu verstehen und schreibt ihm, doch diesen erreicht der Brief nicht mehr, da er inzwischen an den Folgen der Stockschläge des Gutsherrn gestorben ist – hier ähnelt Aspes Beschreibung übrigens auffällig dem tatsächlichen Schicksal von Ado Reinvalds Vater (vgl. § 22), dem 1867 solches widerfahren war. Nachdem der Versuch, den Sohn seines verstorbenen Halbbruders nach Moskau zu holen und dort ausbilden zulassen, fehlgeschlagen ist, beschließt Ennosaare Ain alias Anton Enmann noch einmal nach Pärnu zu reisen. Hier setzt die Handlung ein, und hier endet sie auch im Schlusskapitel, das, wie sich nun herausstellt, im Jahre 1869 spielt. Zurück in Pärnu findet der Held kaum Bekannte oder Bekanntes, bleibt aber längere Zeit dort. Zufällig erfährt er vom Begräbnis seiner einstigen Geliebten und trauert lange an ihrem Grab. Hier trifft er eine Spielgefährtin aus der Kindheit, Olga, die später Zimmermädchen bei der nun Verstorbenen war. Enmann ereifert sich über die »alte Jungfer«, die ihn in seiner Trauer stört, macht ihr in einer plötzlichen Wendung dann aber einen Heiratsantrag, in den Olga nach Nennung ihrer Bedingungen auch einwilligt. Eine dieser Bedingungen ist eine Verschiebung der Abreise nach Moskau bis nach dem Liederfest, an dem Olga unbedingt teilnehmen will. Obwohl er immer noch einigermaßen distanziert ist und sich über die Vaterlandsliebe der Esten lustig macht, war er doch beeindruckt vom Postimees, den er bei Olga gesehen hatte. Eine weitere Bedingung ist, dass Anton sich wieder Ain

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nennen lässt, denn »Anton« sei so fremd und herzlos. Ain willigt ein, und einem glücklichen Ausgang steht nichts mehr im Wege. Obwohl manche Dinge in Aspes Erzählung etwas plötzlich, unmotiviert und ungereimt erscheinen und eine längere Darstellung stellenweise die Plausibilität hätte vergrößern können, ist die Grundaussage klar. Sie wird in der letzten Bedingung von Olga explizit gemacht. Im Leben der Esten war der Punkt erreicht, an dem ein gesellschaftlicher Aufstieg nicht mehr zwangsläufig den Übertritt »ins andere Lager« mit sich bringen musste. Der wurde häufig symbolisiert durch die Namensgebung, indem der archaischen Form mit nachgestelltem Nachnamen die bürgerliche Form umgekehrter Reihenfolge vorgezogen wurde. So war aus Ennosaare Ain, dem Ain aus Ennosaare, der Herr Anton Enmann geworden. Dabei hatte der ähnlich klingende deutsche Name etymologisch nichts mit dem estnischen Namen zu tun. Elisabeth Aspe traf mit dieser in Ansätzen auch psychologisch anspruchsvollen Darstellung, die auf einem höheren Niveau als Jakob Pärns Must kuub steht, genau den Geist der Zeit. Sie kleidete eine zeitgenössische Problematik aus ihrem unmittelbaren Umfeld in Worte und kann deswegen als frühe Realistin bezeichnet werden. Unterstrichen wird dies durch ihre weiteren Erzählungen wie Kasuõde (Die Adoptivschwester, 1887) oder Maantee pealt (Von der Landstraße, 1889), die ebenfalls aktuelle Probleme aufgreifen und durch ihre phasenweise psychologische Ausrichtung eine Bereicherung für die estnische Prosa waren. Der einzige Autor, der sich in diesem Bereich als ebenbürtig erwies, war Maximilian Põdder. Er ist 1852 in Südestland geboren und besuchte von 1867 bis 1873 das Gymnasium in Tartu, anschließend die Universität. Dort hörte er Vorlesungen in verschiedenen Fakultäten, ohne allerdings einen Abschluss zu machen. 1876 verließ er die Universität und war als Hauslehrer, Übersetzer und Literat tätig, indem er für zahlreiche Zeitungen schrieb. Seine Haupttätigkeit und -einnahmequelle waren Übersetzungen, so dass er mit seinen mehr als 25 übersetzten Büchern als einer der ersten professionellen estnischen Übersetzer gelten kann. Die meisten von ihnen waren aus dem Deutschen oder Russischen (z.B. Tolstojs Krieg und Frieden) übersetzt, aber vereinzelt auch Bücher aus dem Niederdeutschen – Fritz Reuters Ut mine Stromtid –, Französischen (Verne) und Norwegischen (Bjørnson). In den 1880er-Jahren befasste er sich auch mit der Abfassung von Lehr- und Wörterbüchern und war Lehrer in Tartu, danach noch in Tallinn, wo er 1905 starb. Põdders literarisches Werk ist schmal und zu seinen Lebzeiten ausschließlich in Zeitungen erschienen. Die meisten seiner Erzählungen sind kaum über den Durchschnitt der damaligen Feuilletons (vgl. § 21) hinausgekom-

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men. Einen Platz in der Literaturgeschichte hat Põdder einzig und allein durch seine längere, 52 000 Wörter umfassende Erzählung Bob Ellerhein erlangt, die 1884 vom Februar bis August in 28 aufeinander folgenden Nummern in Sakala erschienen ist. Sie erhielt 1888 einen Preis von der Estnischen literarärischen Gesellschaft, erschien aber trotzdem erst 1911 als eigenständiges Buch, nachdem zuvor der Abdruck in einer Zeitung zweimal wiederholt worden war. Ebenfalls in einer Zeitung war bereits 1884 eine lettische Übersetzung erschienen. In Bob Ellerhein beschrieb Põdder das Leben eines estnischen Intellektuellen: Es beginnt mit dem Medizinstudium, das abgebrochen werden muss, weil den Eltern das Geld zur Unterstützung des Sohnes fehlt. Während eines Zwischenspiels als Hauslehrer bei einem deutschen Kaufmann in Moskau lernt Bob dessen Tochter Mea kennen und lieben, wird aber aus dem Hause gejagt, als dies bekannt wird. Irgendwie kann das Studium dann fortgesetzt werden, Ellerhein nimmt als Stabsarzt am russisch-türkischen Krieg teil, schließt zwischendurch sein Studium ab und trifft Mea, die mittlerweile verheiratet ist, im Feldlazarett kurz wieder. Aber erst als deren Eltern tot sind und sie selbst verwitwet ist, kommt ein neuerliches Treffen, diesmal in Berlin, zustande und führt zum glücklichen Ende. Danach zieht der Titelheld nach Estland zurück und arbeitet dort als anerkannter Arzt. Põdders Erzählung zeichnet sich durch humorvolle und urbane Sprache, ausführliche Charakterzeichnungen und eine treffende Wiedergabe der politischen Situation jener Zeit aus. So gibt es Diskussionen zwischen Deutschen und Esten, die die Problematik des Verhältnisses deutlich machen und die Unmöglichkeit eines Ausgleichs zwischen den Bevölkerungsgruppen nahe legen. Tatsächlich kann die Überwindung nur durch den Tod – der Eltern und des von ihnen ausgewählten Gatten – erfolgen: Danach ist der Weg frei zur Eheschließung auch über die nationalen Grenzen hinweg. Wiederum geht es also um das bekannte literarische Motiv des Eheproblems, aber es wird anders gelöst als in den vorgenannten Texten, die plakativer das nationale Element betonen. Bei Põdder steht die Herausbildung eines estnischen Intellektuellen und dessen Glück im Vordergrund, und das ist nur sekundär mit dem Volk verbunden. Damit schob Põdder seinen Text weg von der national-romantischen Ebene in Richtung eines gesellschaftlich orientierten Realismus. Gegenüber Põdder und Aspe treten alle anderen zeitgenössischen Prosaisten, die ihre Texte ebenfalls in der Presse veröffentlichten und das Gesamtbild der Prosa vom Ende des Jahrhunderts sicherlich vervollständigen – zu denken wäre hier etwa an Christian Kannike, Kaarel Krimm, Jakob Kõrv und Jakob Martin Sommer, von den bis auf Kõrv zudem niemand das 40. Lebensjahr erreichte – in den Hintergrund.

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Der ungekrönte König In den Vordergrund rückte dagegen Ende des Jahrhunderts ein Zeitgenosse der meisten in diesem Paragraphen genannten Personen, der durch seine bahnbrechenden Leistungen auf dem Gebiet der Prosa und der Lyrik sowie durch seine tragische Biographie eine singuläre Position innerhalb der estnischen Literaturgeschichte einnimmt: Juhan Liiv, in dem manche den »ersten wirklich überzeugenden Lyriker der estnischen Literatur« (Laaban 1984, 27) sehen wollen. Juhan Liiv kam 1864 in Alatskivi in ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen zur Welt. Die Volksschulbildung war lückenhaft, da seine Eltern das wenige zur Verfügung stehende Geld auf die Bildung der älteren Brüder Elias und Jakob verwendeten. Von 1879 bis 1884 war Juhan Liiv mit Unterbrechungen auf der Kirchspielschule in Kodavere, wo er mit den Ideen der estnischen Emanzipationsbewegung in Berührung kam. Er wurde ein Anhänger von Jakobsen und war bei dessen Tod untröstlich: »Was wird nun aus uns und unserem Volk? Findet sich in Estland ein Mann, der an seine Stelle treten kann? Was werden sich die Deutschen jetzt freuen, während wir bloß immerzu weinen.« soll er den Erinnerungen seines Bruders Jakob zufolge ausgerufen haben (zit. nach Vinkel 1964, 23). Nach der Schulzeit war dem Zwanzigjährigen klar, dass seine Zukunft etwas mit Schreiben zu tun haben musste, und er bemühte sich um einen Posten bei einer Zeitung, was ihm im Herbst 1885 auch gelang. In diesem Jahr erhielt er eine Anstellung bei der Zeitung Virulane – als dort auch Jaak Järv und Eduard Vilde arbeiteten –, und in dieser Zeitung erschien im gleichen Jahr auch sein erstes Gedicht im Druck. Die Arbeit in der Zeitungsredaktion entsprach aber nicht ganz den Vorstellungen des heranwachsenden Dichters, so dass er bald wieder damit aufhörte und sich 1886 um seine Weiterbildung am Treffner’schen Gymnasium kümmerte. Hier hielt er es einige Monate aus, dann fuhr er wieder nach Hause und lebte abwechselnd bei seinen Eltern und seinem Bruder. Gelegentlich mischte er sich in literarische Diskussionen ein, versuchte sich vornehmlich aber aufs Schreiben zu konzentrieren. 1888 und 1889 arbeitete er für Sakala in Viljandi, plante sogar, die Zeitung ganz zu übernehmen, doch stattdessen finden wir ihn ab 1890 in der Redaktion von Grenzsteins Olevik in Tartu. Hier hielt er es bis 1892 aus, danach versuchte er sich freiberuflich über Wasser zu halten. Im April 1893 zeigten sich Symptome einer ernsthaften Geisteskrankheit, die den Dichter für beinahe zehn Jahre dermaßen in der Versenkung verschwinden ließ, dass die literarische Öffentlichkeit ihn bereits für verstorben hielt. Tatsächlich war er monatelang in einer Nervenheilanstalt, wo man bei ihm eine Katatonie diagnostizierte, danach lebte er zu-

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rückgezogen bei seinen Eltern und anderen Verwandten. Als Bedürftiger erhielt er sogar offiziell eine finanzielle Unterstützung von seiner Heimatgemeinde. 1902 wurde der tot geglaubte Liiv von der Öffentlichkeit wiederentdeckt. Der junge Psychiater Juhan Luiga hatte ihn bei statistischen Erhebungen über Geisteskranke, die er im Landkreis Tartu durchführte, auf dem Hof von dessen Bruder angetroffen und erkannt. Inzwischen war eine neue Dichtergeneration herangewachsen (vgl. § 25), die sich des vergessenen Liivs annahm, seine Werke publizierte und für ihn Geld sammelte. Noch einmal begann Liiv mit dem Dichten und publizierte das eine oder andere, aber bald stellten sich wieder Zeichen der Geisteskrankheit ein, diesmal mit Wahnvorstellungen und Anfällen von Größenwahn. Am Ende hielt er sich für den legitimen Prätendenten der polnischen Krone, der von »seinem« Volk erwartet würde. Folgerichtig musste er die Reise nach Warschau antreten, tat dies ohne Geld und wurde vom Schaffner erbarmungslos in eiskalter Nacht aus dem Zug geworfen. Das geschah Anfang 1913, und an den Folgen der bald darauf ausbrechenden Lungentuberkulose ist der Dichter im Herbst desselben Jahres gestorben. Juhan Liiv ist heute als Dichter bekannt und verehrt, doch hat er sich auch als Prosaist um die estnische Literatur verdient gemacht. Zwar debütierte er 1885 mit einem Gedicht, danach wandte er sich aber der Prosa zu und verfasste insgesamt drei längere Erzählungen und ca. zwei Dutzend kürzere Texte, von denen einige die Form von Miniaturen haben, ehe er sich – auch im Zusammenhang mit seiner Geisteskrankheit, die nur kurze Momente der Konzentration zuließ – der kürzeren Form und damit eben auch der Lyrik zuwandte. In seinem Debütband Kümme lugu (Zehn Geschichten, 1893) konzentrierte sich der Autor von Beginn an auf eine Wiedergabe der Wirklichkeit und erreichte mit einigen Erzählungen bereits eine höhere Ebene der Abstraktion, als es in der bis dahin tonangebenden Prosa der Fall war. Darüber hinaus gelang ihm überzeugend eine Formulierung der Empfindungen des Autors während des Schreibprozesses. Bald danach vollendete er seine Erzählung Vari (Der Schatten), die 1894 erschien und die Liiv selbst als perfekt ansah: »Der Himmel möge mir verzeihen, ich glaube, ich habe ein Meisterwerk geschrieben!«, teilte er euphorisch seinem Bruder mit (Vinkel 1961a, 626). Die ca. 25000 Wörter umfassende Erzählung, die der Autor in einem anderen Brief vom gleichen Tag auch als Roman bezeichnete (J. Liiv 22000, 207), ist eine gelungene, differenzierte und feinfühlige Beschreibung eines individuellen Schicksals, die kunstvoll verwoben ist mit einer Darstellung der

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gesellschaftlichen Verhältnisse im 19. Jahrhundert. Wie bei Aspes Ennosaare Ain ist auch Liivs Vari ein »Bild aus der jüngsten Vergangenheit«, wobei der Autor größtenteils seine eigenen Erinnerungen verwendete und die Lebensgeschichte des in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen Jungen Villu erzählt. Dieser Hirtenknabe gerät auf dem Gut, wo er eigentlich wegen eines illegal gefangenen Hasen bestraft werden sollte, in Kontakt mit dem aufgeklärten Sohn des Hauses, der ihn nicht nur diesmal vor der Strafe bewahrt, sondern Gefallen an dem in seinen Augen begabten Jungen findet und ihn unter seine Fittiche nimmt. Er leiht ihm Bücher, lässt ihm Bildung angedeihen und verschafft ihm eine Anstellung auf dem Gut. Zwischen dem Gutsherrnsohn, dessen Schwester und dessen Braut einerseits und Villu, der sich als bildungsfähig erweist und Gedichte schreiben kann, andererseits entsteht so etwas wie Freundschaft. Der Nebel, der wie ein Schatten zwischen den Ständen liegt, scheint sich zu verziehen, Verbesserung und Aufklärung sind möglich; aber der Schatten liegt auch zwischen den Generationen, der Vater des jungen Gutsherrn hält an seiner konservativen und autoritären Politik fest und schwingt gerne den Stock. Als Villu einmal für die Bauern eintreten will, wird auch er gnadenlos bestraft und so heftig verprügelt, dass er den Verstand verliert. Der Schatten senkt sich wieder über ihn und über das Licht der besseren Welt. Diese bessere Welt wird im Schlusskapitel in einer Art Utopie gezeigt, wo der junge Gutsbesitzer die Verhältnisse auf seinem Besitz geändert und zum Beispiel die Körperstrafe abgeschafft hat. In den umringenden Gütern hat sich aber noch nichts getan, dort hat sich der Schatten noch nicht verzogen. Damit ist die Erzählung auf der einen Seite eine reflektierende und stellenweise deprimierende Gesellschaftsanalyse, auf der anderen Seite aber eine Hoffnung ausstrahlende Utopie, der romantisch-naive Einsprengsel nicht fehlen. Durch diese eigenartige Mischung ist der Text von der späteren Literaturgeschichtsschreibung immer wieder als einer der Schlüsseltexte für den Beginn einer neuen, moderneren Literatur angeführt worden, die man dann meistens mit dem Beginn des Realismus in der estnischen Literatur gleichgesetzt hat. Liivs Text enthält aber ebenso naturalistische und symbolistische Züge, und nicht zuletzt aufgrund dieser Vielschichtigkeit ist der Text relativ berühmt geworden. Sein Schlusssatz, den Liiv ursprünglich als Titel geplant hatte, ist eines der bekanntesten Literaturzitate in Estland geworden: Kui seda metsa ees ei oleks! – ›Wenn doch der Wald nicht davor wäre!‹ Er bezieht sich zunächst auf die Kindheit des kleinen Villu, der das Rauschen des Peipsisees hörte, ihn aber nie sah, weil der Wald im Wege war, wird am Schluss dann auf den schwachsinnig geworden Villu angewendet, der vor seiner Hütte sitzt und dasselbe denkt, und steht heute als Sinnbild für

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etwas Spür- und Fühlbares, was dennoch – vorerst? prinzipiell? – unerreichbar ist. Die anderen Erzählungen von Liiv sind weniger autobiographisch und wenden sich der Gegenwart zu. In ihnen wird zum Teil erneut der Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen behandelt, aber auch unabhängig davon die sozialen Probleme innerhalb der Dorfgemeinschaft. Sie rundeten das schmale Prosawerk des Autors in dem Sinne ab, dass sich die estnische erzählende Prosa mit Liiv endgültig vom romantischen Sentimentalismus verabschiedet und einen neuen Weg eingeschlagen hat. »Eine schwarze Decke hat unsere Stube« Nach seinem Gedichtdebüt im Virulane von 1885 hatte Liiv kontinuierlich weitergedichtet und 1887 seine erste eigene Gedichtsammlung, Õied ja okkad (Blüten und Dornen), zusammengestellt. Erfolglos bemühte er sich darum, einen Verlag zu finden, schließlich ging das Manuskript zeitweilig verloren und tauchte erst 1954 aus Privatbesitz wieder auf (s. J. Liiv 1989, 373). In der Folgezeit sind Liivs Gedichte lediglich in Zeitungen erschienen, so dass der Lyriker Liiv nur sporadisch in Erscheinung trat. Zu allem Überfluss verbrannte der Dichter im Februar 1894 alle seine Manuskripte, unter denen sich auch eine bereits zensierte Gedichtsammlung befand. Später konnte er nur Teile davon rekonstruieren. Während seiner Krankheit in den Jahren 1895 bis 1902 erschien so gut wie nichts. An die breitere Öffentlichkeit und in das Bewusstsein der estnischen Literaturwelt gelangten seine Gedichte erst Anfang des 20. Jahrhunderts, doch auch dann nicht mit einem Schlag, sondern in kleinen Dosierungen. Wahrer Ruhm ist dem Dichter erst nach seinem Tode zuteil geworden. Dennoch gehören seine Gedichte von ihrer Entstehungszeit her zum Großteil noch in das 19. Jahrhundert oder zumindest in die Zeit der Jahrhundertwende. Nicht zufällig haben die nach ihm Kommenden in Liiv ihren Vorgänger gesehen. Von Juhan Liiv sind über 350 Gedichte bekannt, von denen ca. ein Drittel in seine erste Schaffensphase bis zur Erkrankung fällt. Von den zwei Dritteln, die Liiv Anfang des 20. Jahrhunderts anfertigte, sind indes wiederum nur geringe Teile zu seinen Lebzeiten erschienen, wobei der Dichter selbst keine einzige Sammlung zusammengestellt hat. Neben Veröffentlichungen in Almanachen und Anthologien war es die von Gustav Suits angefertigte Auslese, die 1909 mit 45 Gedichten die erste etwas kompaktere Übersicht über Liivs Lyrik gab. Später hat sich Tuglas um die Herausgabe von Liivs Gedichten verdient gemacht. Alle weiteren Werkausgaben erschienen nach dem Tod des Dichters und enthielten immer mehr Gedichte und immer andere Aus-

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wahlen bis hin zur bislang umfangreichsten Edition von 1989 (J. Liiv 1989). Auch die letzte Edition kann noch nicht den Anspruch einer kritischen Gesamtausgabe erheben, obwohl sie die bislang bei weitem umfangreichste Sammlung darstellt. Wenn der Inhalt von Liivs Lyrik mit den Schlagwörtern Natur, Vaterland, Schicksal des Volkes und menschliche Gefühle umschrieben werden kann, so erhebt sich unweigerlich die Frage, worin denn das Besondere dieser Dichtung gelegen habe, denn schließlich sind das – despektierlich ausgedrückt – Allerweltsthemen, die jeder Dichter und jede Dichterin behandelt. Allenfalls eine gewisse Abwesenheit von Liebesgedichten ließe sich feststellen, aber auch zu diesem Thema finden wir Gedichte. Das Themenspektrum ist breit, um nicht zu sagen allumfassend: Kein noch so profan oder banal erscheinendes Thema wird ausgeklammert. Auch wenn man die formale Seite hinzunimmt und die besondere Musikalität, den Rhythmus, die Sicherheit in der Form – auch und gerade im freien Vers – betont, erhält man noch nicht unbedingt eine Erklärung für die Besonderheit und Beliebtheit der Liiv’schen Lyrik, die bis in die heutige Zeit hinein nachwirkt. Man kann allenfalls erahnen, dass in der geballten Zusammenwirkung all dieser Elemente die Faszination und Bedeutung von Liivs Lyrik liegt. Der Schlüssel zum Verständnis seiner Gedichte liegt – so hausbacken das klingen mag – in der Biographie des Dichters. Bedingt durch seinen Charakter und durch seine Krankheit ist Liivs Lyrik praktisch ohne allzu viele äußere Einwirkungen entstanden. Zwar hat er deutsche Lyrik gelesen, aber die meisten seiner Gedichte sind frei von irgendwelchen Konventionen anderer Dichtungen und damit unabhängig entstanden. Es sind im Kopf des Poeten entstandene Verdichtungen von Gefühlen, Eindrücken, Empfindungen, Ideen, Hoffnungen und Ängsten, die in die sprachliche Form fliehen. Zutreffend ist hier ein Ausspruch des Liiv-Biographen Friedebert Tuglas, der feststellte, Liiv habe seine Gedichte nicht gedichtet, sondern gelitten (zit. nach EKA III, 128). Dabei ist die Sprache metaphern- und bildreich, aber losgelöst vom Zwang der Konvention und auf jegliches Pathos verzichtend. Dadurch wurde Liiv zum wahren Erneuerer der estnischen Lyrik, denn alle vor ihm hatten sich in der einen oder anderen Form auf Vorheriges gestützt, etwas nachgeahmt, weiterentwickelt oder zu kommentieren versucht. Bei Liiv ist alles erstmalig und nie da gewesen, autonom und authentisch – ohne dabei solipsistisch zu sein oder die reale Welt um sich herum auszuschließen. Im Gegenteil, ein Gedicht von Liiv kann auch sehr konkret zur aktuellen Lage Stellung nehmen, wie das folgende aus dem Jahre 1909 zeigt:

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Must lagi on meie toal Must lagi on meie toal, on must ja suitsuga, sääl ämblikuvõrku, sääl nõge, on ritsikaid, prussakaid ka. Mis tema kõik kuulnud, näinud, ei suuda ütelda, – kuis valu viskab varju, kuis muudab näo ta! Näind palju pisaraid, nuttu, ja palju riidu ka, nii palju, palju valu, – oh issand, halasta! Must lagi on meie toal ja meie ajal ka: ta nagu ahelais väänleb, kui tema saaks kõnelda! (J. Liiv 1989, 71; Eine schwarze Decke hat unsere Stube, / schwarz und verraucht, / dort gibt’s Spinnenweben und Ruß, / und Heimchen und Kakerlaken auch. // Was sie alles gehört, gesehen, / das kann man nicht sagen, – / wie wirft der Schmerz Schatten, / wie verändert er ihr Gesicht! // Viel Tränen, viel Schluchzen hat sie gesehen, / und viel Streit auch, / so viel, so viel Schmerz, – / oh Herr, erbarme dich! // Eine schwarze Decke hat unsere Stube / und unsere Zeit auch: / sie windet sich wie in Fesseln, / wenn sie reden könnte!)

Das Gedicht beschreibt anhand einer üblichen estnischen Bauernstube die Zustände im Zarenreich der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, wie es eindringlicher kaum geschehen könnte, und es kommt dabei doch ohne symbolträchtige Verrenkungen aus. Diese Schlichtheit in der direkten Wiedergabe der Eindrücke und auch der sprachlichen Form ließen den Dichter Ilmar Laaban (vgl. § 39) zu der treffenden Formulierung kommen: »Der poetische Primitivismus Liivs birgt Keime des Symbolismus, des Impressionismus, des Expressionismus, Richtungen, von denen er in diesen entscheidenden Jahren nach 1894 keine Kenntnis hat nehmen können.« (Laaban 1984, 28). Nicht von ungefähr haben die Theoretiker der NoorEesti-Gruppierung (s. § 25) Liiv später als »einen der ihren«, als Vertreter der neuen Dichtung apostrophiert. Die Kraft der Dichtungen von Juhan Liiv liegt in der nüchternen Wiedergabe der Empfindungen und der Realität des Dichters. Diese Lyrik wurde nachfolgenden Generationen zur Leitlinie und zum Maßstab. Man konnte die Gedichte von Kristian Jaak Peterson als frühe Episode übergehen, man

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konnte die Lyrik von Lydia Koidula als wichtig, aber »überwunden« betrachten und als Vergangenheit zu den Akten legen, aber viele der Gedichte Liivs blieben im Raum stehen, an ihnen konnte man nicht vorbei. Bis heute ist für viele Esten gerade die Dichtung Liivs etwas spezifisch Estnisches, und es ist kein Zufall, dass gerade diese Dichtung vergleichsweise sparsam in andere Sprachen übersetzt worden ist. Zwar verirrten sich manche Gedichte in die eine oder andere Übersetzungsanthologie, aber eigenständige separate Gedichtauswahlen liegen bislang nur auf Russisch vor (1933, 1962). Gesellschaftskritik Zum Ende des 19. Jahrhunderts bezogen die Schriftstellerinnen und Schriftsteller immer deutlichere Distanz zu romantisch-patriotischen Themen, zumal die Blüte der Emanzipationsbewegung schon einige Zeit zurücklag, die Bewegung selbst ins Stocken geraten war und der Druck der Zentralmacht in allen Lebensbereichen zunahm. In einer solchen Situation konnte es nicht ausbleiben, dass in den Feuilletons der Zeitungen, soweit es eben noch möglich war, zusehends mehr die aktuellen gesellschaftlichen Zustände zum Gegenstand der Darstellung wurden. Dies war der Nährboden für eine literarische Gesellschaftskritik, die eine eigene Strömung innerhalb der estnischen Prosa wurde, wie sie in ihrer reinsten Form Eduard Vilde (s. § 24) verkörperte. Neben ihm gab es noch andere, von denen Ernst Peterson-Särgava – Ernst Peterson nahm 1935 nach dem Hof seiner Vorfahren den Namen Särgava an – vermutlich die auffälligste Erscheinung war. Er ist 1868 im Landkreis Pärnu geboren, ging in Vändra und Tori zur Schule und besuchte von 1886 bis 1889 das russischsprachige Lehrerseminar in Tartu. Anschließend war er 50 Jahre in Vändra und später auf verschiedenen anderen Stellen, worunter auch die Alexanderschule in Põltsamaa war, im Schuldienst. Ab 1906 war er in Tallinn. Nach seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst wurde er 1938 in die Staatsversammlung gewählt, und auch unter sowjetischer Herrschaft war er noch von 1940 bis 1950 als Estnischlehrer am Tallinner Technikum angestellt. Kurz vor seinem 90. Geburtstag starb er 1958 in Tallinn. Vergleichbar Haava und Sööt gehört er damit zu jener Gruppe von Personen, die aufgrund ihres langen Lebens eine ganze Palette von politischen Systemen über sich ergehen lassen mussten, aber anders als bei den beiden Vorgenannten blieb seine schriftstellerische Aktivität, zumindest was seine bedeutsameren und erfolgreicheren Texte betrifft, auf eine vergleichsweise kurze Periode begrenzt. Der Veröffentlichung einiger Erzählungen in den 1890er-Jahren folgte im Zeitraum 1899 bis 1901 der Zyklus Paised (Geschwüre). Der Autor plante

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die Serie mit dem symbolträchtigen Titel – denn in ihr sollten ohne Beschönigung die gegenwärtige gesellschaftliche Situation analysiert und deren unübersehbare Schattenseiten bloßgelegt wurden – als jährlich erscheinendes Periodikum, kam aber über drei Lieferungen nicht hinaus. Sie enthielten zusammen vier Erzählungen, die den Kern von Peterson-Särgavas Kurzprosa bilden und von seinem Werk den bis heute rezipierten und gelesenen Teil ausmachen. Ühe härja elulugu (Die Lebensgeschichte eines Ochsen) beschreibt die ausweglose Lage der Landbevölkerung und ihre Ausnutzung durch die Gutsherrn – also keineswegs ein neues Thema. Dennoch wirkte die Erzählung in ihrer knappen, nüchternen und fast drastischen Darstellung, der man Elemente eines Naturalismus attestieren kann, aufwühlend und sorgte für hitzige Diskussionen. Peterson-Särgava hatte einen neuen Ton angeschlagen. Das Gleiche gilt für die drei folgenden Geschichten des Zyklus: Marjad silmas (Die Körnerkrankheit [volkstümlicher Ausdruck für die Augenkrankheit Trachom]) richtet sich gegen die Pfarrer, die die Armut der Landbevölkerung mit ihrer Trägheit und Gottlosigkeit erklären wollen; Issanda kiituseks (Gott zum Ruhme) behandelt die Rolle der Küster und bezichtigt diese der Mitschuld am allgemeinen moralischen Verfall; Tulge appi (Kommt zu Hilfe) thematisiert die sozialen Gegensätze, die innerhalb der Landbevölkerung selbst entstanden sind, richtet sich also nicht mehr einseitig gegen eine andere Schicht. Im Anschluss daran publizierte Peterson-Särgava noch weitere Erzählungen, von den einige die Frauenemanzipation behandelten und forderten – z.B. Elsa (1907) –, und den Roman Rahvavalgustaja (Der Volksaufklärer, 1904), der das gesellschaftliche Leben in einem Dorf am Ende des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand hat. Das Werk ist später immer wieder aufgelegt worden und wird gelegentlich als Hauptwerk des Autors bezeichnet, weil hier in überzeugender Weise die gesellschaftlichen Gegensätze innerhalb einer Dorfgemeinschaft seziert werden. Damit hatte der Autor gemeinsam mit Eduard Vilde endgültig eine neue Strömung in der Literatur begründet, die fortan als Realismus bezeichnet wurde. Danach wurde es zunehmend ruhiger um den Autor, der sich seiner Lehrertätigkeit widmete und auch gekränkt war von der Kritik, die ihm in einem Essay von Tuglas (1909) widerfahren war. Das ging so weit, dass Peterson-Särgava sogar aus der Estnischen Literaturgesellschaft austrat, nachdem diese eben diesen Essay von Tuglas mit einem Preis bedacht hatte! Als Postskriptum ist Peterson-Särgavas Roman Lähme linna kirjutama, oma elu kergendama (Gehen wir in die Stadt zu schreiben, unser Leben zu erleichtern) zu betrachten, der erst nach seinem Tode in der Bearbeitung des Literaturwissenschaftlers und -kritikers Olev Jõgi 1968 erschien. In diesem zweibändigen historischen Roman – historisch in dem Sinne, dass der Autor

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selbst die Zeit nicht miterlebt hatte – über die 1840er- und 1850er-Jahre verarbeitete der Autor die Biographie seiner Vorfahren und die anderer historischer Persönlichkeiten, so dass das Buch auch als belletristische Kulturgeschichte aufgefasst werden kann. Weniger drastisch als Peterson-Särgava war August Kitzberg, der Ende des 19. Jahrhunderts einige Erzählungen publizierte. Kitzberg hatte 1892 mit der historischen Erzählung Maimu, die im mittelalterlichen Estland spielt, debütiert und erzielte mit seiner Bühnenliteratur vom Beginn des 20. Jahrhunderts die größte Wirkung, weswegen er auch an anderer Stelle eingehender behandelt wird (§ 27). Dennoch sei an dieser Stelle auf seine so genannten »Dorfgeschichten« hingewiesen, die den Übergang von der romantisch-historischen und bei Kitzberg teils märchenhaften Prosa zu einem modernen Dorfrealismus markierten. Den Höhepunkt erreichte er mit den beiden Erzählungen Veli Henn (Bruder Henn, 1901) und Hennu veli (Henns Bruder, 1904), worin die Halbdeutschen oder Wacholderdeutschen aufs Korn genommen und vernichtend kritisiert werden.

§ 24 Eduard Vilde Ein unstetes Leben Zwei »lebendigen, lustigen und sehr redseligen« Schwestern – so charakterisierte Vilde 1933 seine Mutter und seine Tante (zit. nach Mihkla 1972, 30) – verdankt die estnische Literatur zwei ihrer bedeutendsten Prosaisten, die gleichzeitig die beiden wichtigsten Prosaisten des 19. Jahrhunderts waren: Eduard Bornhöhe (vgl. § 21) und Eduard Vilde. Doch die beiden Vettern verband noch mehr als nur der gemeinsame Vorname und ein Großelternpaar, sie beide begannen als Teenager mit Kriminalgeschichten, und beide führten jahrzehntelang ein ausgesprochen unstetes Leben. Trotzdem überwiegen die Unterschiede: Bornhöhes Erstling erschien 1878 als Buch, während Vildes Erstling erst zwanzig Jahre nach seinem Entstehen und dann ohne Wissen des Autors gedruckt wurde, Bornhöhe schrieb nach seinem 40. Geburtstag praktisch nichts mehr, Vilde hingegen dachte in diesem Alter nicht im Traum daran, mit dem Schreiben aufzuhören, sondern befand sich mitten in seiner fruchtbarsten Periode, und überhaupt hat der drei Jahre jüngere Vilde viel mehr geschrieben, wurde wesentlich berühmter, in mancherlei Hinsicht sogar bahnbrechend, und hat ein noch rastloseres Leben geführt. Eduard Vilde ist 1865 in Nordostestland geboren und erhielt ab 1875 seine Schulbildung in Tallinn. 1882 verließ er – auf dringendes Anraten des

§ 24 Eduard Vilde

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Direktors hin – die deutschsprachige Kreisschule ohne Abschlusszeugnis, nachdem ans Tageslicht gekommen war, dass er mit einigen Mitschülern im Tallinner Hafen probiert hatte, als Matrose anzuheuern. Der 17-Jährige hatte sich sowieso nicht recht wohl gefühlt auf der Schule und wollte lieber Schriftsteller oder Schauspieler werden. Immerhin nahm er aus der Schule solide Deutschkenntnisse auf muttersprachlichem Niveau mit, was ihm in späteren Jahren beim Broterwerb sehr hilfreich gewesen ist. Nach der Schule fing er sofort mit dem Schreiben an, und auf verschlungenen Wegen gelangte eine Geschichte auf Jaak Järvs Schreibtisch beim Virulane, der den offenbar begabten Jüngling zu sich in die Redaktion nahm. Von 1883 bis 1886 hatte Vilde bei der Zeitung seine erste Stellung inne, als dort übrigens auch Juhan Liiv arbeitete, mit dem Vilde aber nicht besonders gut auskam; zu verschieden waren die Charaktere der beiden angehenden Autoren. In dieser Zeit begannen Vildes erste Bücher zu erscheinen, so dass er nach Differenzen in der Redaktion im Sommer 1886 beschloss, die Zeitung zu verlassen und es als Freiberufler zu versuchen. Ihm war die Arbeit in der Redaktion, die hauptsächlich aus Lesen und Übersetzen bestand, überdies zu langweilig geworden, außerdem raubte sie ihm die Zeit für seine eigene schriftstellerische Tätigkeit. Er lebte eine Weile wieder bei seinen Eltern, ging im Dezember 1887 aber nach Tartu, um dort bei Karl August Hermanns Postimees, der gerade auf dreimaliges Erscheinen pro Woche umgestellt worden war, in die Redaktion einzusteigen. Und auf diese Weise ging es die nächsten dreißig Jahre im Großen und Ganzen weiter, nur dass die Kreise, die der Autor zog, immer größer wurden. Betont werden muss ferner, dass es sich hier keineswegs nur um Grillen eines unruhigen Geistes handelte, sondern bald auch die politische Lage eine Rolle spielte, da Vilde sich als Sozialist bzw. linker Sozialdemokrat nach der Revolution von 1905 im Visier der Behörden befand. Nach fünf Monaten verließ er den Postimees 1888 wieder, 1889 war er für anderthalb Monate bei der Revalschen Zeitung, versuchte sich dann kurz als Schauspieler und landete 1889/90 in Riga bei der dortigen Zeitung für Stadt und Land. Hier lernte er Antonie Gronau kennen, mit der er sich nach Berlin absetzte. Nun tauchte er in das dortige Kulturleben ein und war beeindruckt von den Theaterstücken von Hauptmann und Sudermann, deren Naturalismus stärker sein späteres Prosawerk beeinflusste als seine Dramen. Auf Andringen von Gronaus Mutter, die dem Paar hinterher gereist war, wurde der wilden Ehe 1891 in einem Berliner Standesamt eine offizielle Form verpasst. Die Verbindung erwies sich jedoch nicht als glücklich, und die folgenden Ortswechsel von Vilde hängen offenbar auch damit zusammen, dass er der nicht in die Scheidung einwilligenden Frau und der Schwie-

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germutter entfliehen wollte. Nach den drei Jahren in Berlin, wo er von 1890 bis 1892 als freiberuflicher Journalist tätig war, folgten wieder drei Jahre beim Postimees in Tartu, anschließend Moskau, dann Narva, und ab 1898 war Vilde wieder in Tallinn, wo er in der Redaktion des dortigen Eesti Postimees arbeitete. Der war Vilde, der im Berliner Reichstag August Bebel gehört hatte und sich der Sozialdemokratie zugewandt hatte, aber viel zu gemäßigt, und so gründete er gemeinsam mit Konstantin Päts 1901 eine neue radikale Zeitung, den Teataja (Der Bote). Bis 1904 war er in dessen Redaktion, anschließend anderthalb Jahre bei den noch ein wenig weiter links stehenden sozialdemokratischen Uudised (Nachrichten) von Peeter Speek in Tartu, ehe die revolutionären Ereignisse von 1905 Vilde zwangen, das Land zu verlassen. Inzwischen war die Scheidung von seiner ersten Frau endlich vollzogen – bzw. waren die Papiere irgendwie in Ordnung gebracht worden, denn scheiden lassen konnte er sich gar nicht, da er nach geltendem russischen Recht überhaupt nicht verheiratet war: Eine in Berlin geschlossene zivilrechtliche Ehe war im Heiligen Russland nämlich ungültig! Im September 1905 heiratete Vilde die Journalistin Linda Jürmann. Mit ihr floh er im Januar 1906 über St. Petersburg nach Helsinki und dann weiter über Stockholm, Kopenhagen und Berlin nach Zürich. Die nun folgenden elf Jahre des Exils waren noch unruhiger als das bisherige, an Reisen und Ereignissen auch nicht gerade arme Leben Vildes. Seine Deutschkenntnisse waren in diesen Jahren lebensrettend, da er immer wieder Artikel bei deutschsprachigen Zeitungen unterbringen konnte. Im Sommer 1906 ging er noch einmal zurück nach Helsinki, um in politisch brodelnder Zeit der Heimat näher zu sein. In der finnischen Hauptstadt hatte sich, obwohl sie prinzipiell ja im selben Zarenreich lag, eine große estnische Exilgemeinschaft etabliert, die hier vor den Verfolgungen der örtlichen Behörden weitgehend sicher war. Aber nicht hundertprozentig, im Oktober musste Vilde Helsinki eiligst wieder verlassen, nachdem er dort drei Nummern der satirischen Zeitschrift Kaak (Der Pranger) hat produzieren können. Seiner Verhaftung konnte er sich entziehen, weil ihn der Helsinkier Polizeichef von dem aus St. Petersburg eingetroffenen Befehl zuvor in Kenntnis gesetzt hatte. Die folgenden Stationen lauteten Kopenhagen, Nürnberg, München und Stuttgart, wo Vilde von 1908 bis 1910 lebte. Danach wohnte er ein halbes Jahr in Brüssel, während seine Frau nach New York abgereist war, um dort bei der sozialdemokratischen Zeitung Uus Ilm (Neue Welt), die der dorthin geflohene Peeter Speek ins Leben gerufen hatte, zu arbeiten. Nach einem weiteren halben Jahr in Innsbruck und Wien beschloss Vilde, ebenfalls nach New York zu fahren, wo er im März 1911 eintraf und erst einmal für knapp

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drei Wochen auf Ellis Island inhaftiert wurde: Politische Gegner hatten ihn bei den Behörden angeschwärzt, wobei sie ihm aus seiner ungeschiedenen Ehe einen Strick zu drehen versuchten. Nach der Beseitigung der Vorwürfe lebte Vilde drei Monate in New York, im Sommer 1911 reiste das Ehepaar aber wieder zurück nach Kopenhagen. Hier nun lebte Vilde die folgenden sechs Jahre und kam ein wenig zur Ruhe. Nach der Februarrevolution konnte Vilde im Mai 1917 nach elfjähriger Abwesenheit nach Tallinn zurückkehren, wo er wärmstens empfangen wurde. Er arbeitete hier wieder eine Weile als Journalist, dann für eine Saison als Dramaturg am Estonia, aber die Wanderjahre waren immer noch nicht vorbei: Nach der Ausrufung der Republik Estland schlüpfte der Autor kurz in die Rolle des Diplomaten und wurde 1919 Direktor des Estnischen Informationsbüros in Kopenhagen. Im Herbst desselben Jahres wurde er zum Estnischen Botschafter in Berlin ernannt. Diese Funktion hatte Vilde gut ein Jahr inne, danach verabschiedete er sich aus dem diplomatischen Dienst und lebte bis 1923 als freier Schriftsteller in Berlin. Die letzten zehn Jahre verbrachte er – nicht ohne, diesmal zur Pflege seiner Gesundheit, die eine oder andere Reise zu unternehmen – in gleicher Funktion in Tallinn, wobei er sich in der Hauptsache mit der Redigierung seiner gesammelten Werke beschäftigte. Denn all die Jahre hindurch hat sich Vilde nicht nur als Journalist durchgeschlagen, sondern ununterbrochen auch belletristische Werke verfasst. Er stand in ständigem Kontakt mit der Presse in Estland und auch mit seinen dortigen Verlegern und hatte mittlerweile ein umfangreiches Œuvre vorzuweisen. So war er 1919 der erste Autor, dem von der verfassungsgebenden Versammlung für seine schriftstellerischen Leistungen ein Preis in Form eines Geldbetrags verliehen wurde, wie er überhaupt für manches beanspruchen kann, der Erste gewesen zu sein: 1886 war er einer der Ersten, der versuchte, ohne feste Bindung an eine Zeitungsredaktion seinen Lebensunterhalt zu bestreiten – dass das nicht lange und nicht ganz reibungslos gelang, steht auf einem anderen Blatt; 1905 war er der Erste, der durch einen notariellen Vertrag die Zivilehe in Estland, wo man bis dahin nur kirchlich heiraten konnte, eingeführt hat; zu seinem 60. Geburtstag erhielt er 1925 als erster Autor von der Regierung eine Wohnung gestellt; und auch auf seinem letzten Weg war er der Erste: 1933 hatte Tallinn am Ostrand der Stadt einen städtischen Friedhof eingerichtet, der heute als der so genannte Waldfriedhof bekannt ist und vielen Autorinnen und Autoren als letzte Ruhestätte dient; Eduard Vilde war der Erste, der dort 1933 begraben wurde.

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Die frühe Prosa Vildes Schreibtalent und seine beruflichen Stellungen bzw. die Notwendigkeit Geld zu verdienen führten zu einem umfangreichen Werk, das am einfachsten chronologisch eingeteilt werden kann. Die Dreiteilung in Früh-, Haupt- und Spätwerk fällt zusammen mit drei inhaltlichen Charakterisierungen, die mit den folgenden Schlagwörtern umschrieben werden können: frühe Fabulierlust, kritischer Realismus und Naturalismus, reife Psychologie. Den Werken der ersten Phase ist noch deutlich die Nähe zum journalistischen Bereich anzusehen. Allein ihre hohe Anzahl lässt hinreichende Rückschlüsse auf das Tempo ihres Entstehens zu, denn innerhalb von zehn Jahren (1885–1894) sind von Vilde neunzehn Bücher erschienen. Ein Teil dieser Bücher waren Abenteuerromane oder Kriminalgeschichten, die flott geschrieben, ereignis- und spannungsreich waren und eine gehörige Portion Humor hatten. Die Texte waren teilweise im Rahmen der Zeitungsarbeit und für die Zeitungen entstanden – auf manchen Redaktionsposten war Vilde explizit als Schreiber von Feuilletons und Fortsetzungsromanen angestellt –, teilweise aber auch in der Freizeit, in der Vilde das Schreiben eben auch nicht lassen konnte. Ein anderer Teil, der nicht weniger flüssig geschrieben war, behandelte jedoch schon Probleme sozialer oder ethischer Art. Das altbekannte Konfliktpotenzial in Estland ließ auch Vilde nicht kalt. In der Erzählung Musta mantliga mees (Der Mann im schwarzen Mantel, 1883 geschrieben, erschienen 1886) schilderte Vilde in der Person des Dr. Meding einen estnischen Arzt, der wacker für Wahrheit und Gerechtigkeit eintritt und dabei immer wieder vom Adelsstand schikaniert wird. Die Erzählung enthält noch Elemente einer Kriminalgeschichte und einige spannenddramatische Wendungen, verlagert das Schwergewicht aber von der Unterhaltung auf die Problematisierung gesellschaftlicher Fragen. Die Geschichte steht schon vom Titel her mit Jakob Pärns Der schwarze Mantel, die 1883 erschienen war (vgl. § 23), im Dialog. Das Symbol des schwarzen Mantels wird hier aber nicht als Zeichen der Kluft zwischen den Nationalitäten verwendet, sondern im positiven Sinne als Kennzeichen für den erwachenden Nationalstolz des etwas geheimnisvollen Trägers des Kleidungsstückes. Vildes Dr. Meding ist eine rundum idealisierte Figur, die stets besonnen und rational ist und nur minimale »menschliche Schwächen« zeigt, nämlich dann, wenn es um die Liebe geht. Ansonsten ist sie aber der edle Typ schlechthin, das personifizierte Gute, das mit dem Bösen und Perfiden konfrontiert wird und dabei die Oberhand behält. Trotz dieser Plakativität enthält die Erzählung realistische Elemente. Auch in anderen Geschichten von Vilde standen die sozialen Gegensätze im Mittelpunkt des Interesses. Sie alle kamen gut beim

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Publikum an und machten den jungen Journalisten schnell als Autor bekannt, auch wenn sie heute nur noch marginal rezipiert und als Vorbereitung auf das spätere Hauptwerk gesehen werden. In dieser frühen Phase verfasste Vilde auch einige Erzählungen im Original auf Deutsch, was in direktem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei den deutschen Zeitungen in Riga und Berlin steht: Sie waren seine Eintrittskarten bei den entsprechenden Redaktionen. Die meisten hat er später selbst ins Estnische übertragen. Dass Vildes Blick für die sozialen Unterschiede und Missstände geschärft wurde, hängt sicherlich auch mit seiner Auslandserfahrung zusammen, denn hier arbeitete er nicht nur in der Zeitungsredaktion, sondern kam auch immer wieder mit Kollegen in Berührung. Das begann schon in Riga, wo er mit dem zwei Jahre älteren lettischen Schriftsteller R¯udolfs Blaumanis zusammentraf, der schon einige realistische Erzählungen geschrieben hatte, und es setzte sich in Berlin fort, wo Vilde sich kopfüber in das dortige rege Kulturleben stürzte. Mitte der 1890er-Jahre hatte sich Vilde endgültig von der »leichteren Kost« in Gestalt seiner Humor- und Spannungsliteratur gelöst und konzentrierte sich ausschließlich auf die Behandlung aktueller gesellschaftlicher Probleme. Das wurde 1896 deutlich, als sein Roman Külmale maale (Nach kaltem Lande) erschien, der seither einhellig und ideologieunabhängig als der Durchbruch bzw. die Begründung des kritischen Realismus in der estnischen Literatur bezeichnet wird. Tatsächlich markiert dieses Werk einen klaren Einschnitt innerhalb der estnischen Literatur, weil bis dahin noch niemand im Stande gewesen war, in der großen epischen Form eine so klare Analyse und Kritik der herrschenden gesellschaftlichen Zustände zu bringen. Der Roman behandelt die Zustände auf dem Lande am Beispiel eines nach langer Krankheit arbeitslos gewordenen landlosen Bauern, der trotzdem versucht, auf ehrliche Weise für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen. Das gelingt jedoch nicht, und er muss einen Diebstahl begehen, gerät mithin aus purer Not auf die schiefe Bahn. Er wird erwischt und nach Sibirien, wofür das »kalte Land« steht, verbannt. Auf diese fast simple Art zeigte Vilde, dass Verbrechen ihre Ursache nicht unbedingt in moralischer Verworfenheit haben, sondern auch im sozialen Elend bedingt sein können. Darüber hinaus ist der Roman auch engagiert und verhehlt nicht die Sympathien des Autors, der mit seiner symbolischen Schlussszene – als der Zug mit den Gefangenen die Stadt verlässt, bricht ein Gewitter los, in dessen Folge der Blitz in ein Herrenhaus und eine Kirche einschlägt – zu verstehen geben will, dass er diese Gesellschaftsordnung nicht besonders schätzt. Zwei Jahre später schrieb Vilde mit Raudsed käed (Eiserne Hände, 1898) das Pendant für das Stadtleben, der Roman spielt in einer Fabrik in Narva

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und kann als der erste estnische Arbeiterroman bezeichnet werden. Auch hier ging es dem Autor um eine detaillierte Beschreibung der vom Lande in die Stadt gekommenen Arbeiter und ihres erbärmlichen Lebens im Räderwerk der modernen Industrie. In weiteren Werken in jener Periode wandte sich Vilde auch Fragen der Frauenemanzipation zu, kritisierte die Kirche, machte sich über estnische Aufsteiger lustig, die »deutsch« werden wollten – kurzum: Kaum ein aktuelles gesellschaftliches Problem entging der spitzen Feder des mittlerweile renommierten Prosaisten. Die historische Trilogie Anfang des 20. Jahrhunderts verlegte sich Vilde auf historische Themen, ohne dass sich dabei sein Grundanliegen wesentlich geändert hätte, und das war nach wie vor die Behandlung der gesellschaftlichen Zustände im Lande. Ursache für die Hinwendung zur Geschichte ist einmal der rein praktische Bedarf an packender und tragender Lektüre für die neu gegründete Zeitung Teataja, die der etablierten Konkurrenz mit etwas Neuem den Rang ablaufen musste, und zum Zweiten auch der steigende politische Druck, der ein Ausweichen in andere Zeiträume ratsam erscheinen ließ. Als Fortsetzungsromane erschienen dann in rascher Folge drei Romane, die sich mit der Emanzipationsbewegung der bäuerlichen Landbevölkerung in den 1850ern und frühen 1860er-Jahren befassten. Sie werden in der Literaturgeschichtsschreibung gemeinhin als Trilogie bezeichnet, obwohl sie im engeren Sinne keine Einheit bilden. Lediglich ihre vergleichbare Grundthematik und ihre Platzierung innerhalb des Gesamtwerks von Vilde haben dazu geführt. Für alle drei Romane hat Vilde im Vorfeld ausführliche Archivforschungen betrieben und auf dem Lande im Stile moderner »oral history« Umfragen durchgeführt, für den dritten Roman der Trilogie hat er sogar eine Reise auf die Krim unternommen. Allen Romanen ist ferner gemein, dass neben den fiktiven Romangestalten auch historisch belegte Personen auftreten und gelegentlich sogar historische Dokumente und Fußnoten eingeflochten werden. (Erschöpfend zur Trilogie s. Salu 1964) Der erste Roman ist gleich der berühmteste und meist übersetzte geworden: Von Mahtra sõda (1902) gibt es auch drei deutsche Ausgaben unter dem Titel Aufruhr in Machtra (1952, 1955, 1984). Er spielt 1858 und 1859 und beruht auf wahren Begebenheiten. In verschiedenen Gegenden Nordestlands war es 1858 zu Arbeitsverweigerungen der Bauern gekommen, was eine indirekte Folge des an sich für Erleichterungen sorgenden neuen Agrargesetzes von 1856 war. Bei der Ausführung des Gesetzes hatte es Unklarheiten gegeben, weil die Bauern glaubten, das Gesetz sei schon in Kraft, während

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die Gutsbesitzer anderer Meinung waren und das, was die Bauern als ihr Recht ansahen, als pure Arbeitsverweigerung interpretierten. Auf dem Gut von Mahtra kam es daraufhin zu einer Konfrontation mit dem zu Hilfe gerufenen Militär, die völlig außer Kontrolle geriet und zu einem echten Aufruhr führte. Ein Soldat und zehn Bauern starben, auf beiden Seiten gab es ein Dutzend Verletzte, das Gut ging in Flammen auf. Im folgenden Jahr wurden die Aufrührer in der üblichen grausamen Weise bestraft, d.h. mit Spießrutenlaufen und anschließender Verbannung nach Sibirien. Um diesen Kern herum hat Vilde eine vielseitige und packende Romanhandlung entworfen, in der auch eine Liebesintrige zwischen den Ständen nicht fehlt und insgesamt die Atmosphäre der Zeit treffend eingefangen wurde. Durch seine detaillierten Charakterzeichnungen von Personen aus verschiedenen Ständen und ausführliche Milieubeschreibungen bis hin zu juristischen Erläuterungen wird der Roman zu einem groß angelegten historischen Gemälde, das vielen späteren Generationen ein realistisches Bild von der jüngeren Vergangenheit der Esten und ihres Freiheitskampfes gab. Der zweite Roman, Kui Anija mehed Tallinnas käisid (Als die Männer aus Anija nach Tallinn gingen, 1903), spielt im gleichen Zeitraum und hat insofern denselben Hintergrund, als 1858 in Tallinn tatsächlich eine Auspeitschung von Bauern stattfand, die den Frondienst für das Gut verweigert hatten. Diese Szene wird in dem Roman auch beschrieben, weiter erstreckt sich die Handlung aber über einen viel längeren Zeitraum, und es geht viel mehr um den Gegensatz zwischen den städtischen Bevölkerungsgruppen und einem vom Lande gekommenen Bauernsohn, der versucht, in der Stadt Fuß zu fassen. So wird der Roman zum Pendant von Mahtra sõda, hier wird ein ausführliches Bild vom Stadtmilieu der Zeit gegeben, das – wie auf dem Lande – für die untere Schicht der Esten allerdings wenig Rosiges zu bieten hat. Auch der dritte Roman, Prohvet Maltsvet (Der Prophet Maltsvet), begann 1905 in der Presse zu erscheinen, diesmal in den Uudised, aber infolge der politischen Ereignisse brach er nach einem Drittel ab, und Vilde musste den Rest während seiner ersten Jahre im Exil fertig schreiben. 1908 ist der Roman dann als Buch in Tallinn erschienen. Er hat die im gleichen Zeitraum aktuelle Emigrations- und Erweckungsbewegung zum Gegenstand, die mit der historisch belegten Person Juhan Leinberg, der sich als Prophet den Namen Maltsvet gab, verbunden ist. Leinberg hatte seit 1854 in Nordestland Gebetsstunden abgehalten und Ende der 1850er-Jahre eine Anhängerschaft von 200 bis 300 Familien um sich geschart. 1860 propagierte er die Auswanderung auf die Krim, wohin er selbst sich 1861 begab, während im gleichen Jahr zahlreiche Anhänger von ihm am Stadtrand von Tallinn auf das Weiße Schiff warteten, das sie ins Gelobte Land bringen sollte. Vilde beschreibt anhand

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dieser Auswanderungsbewegung, die man als eine spezifische Form der Bauernbewegung in den 1850er-Jahren betrachten kann, wozu sich Menschen in ausweglos scheinenden Situationen verleiten lassen. Er schildert die Hoffnungen der Anhänger des Propheten und ebenso die Skepsis jener, die Maltsvet als Scharlatan durchschaut haben, die Bewegung aber nicht mehr aufhalten können. Erneut gibt der Autor ein stellenweise ergreifendes Bild – beispielsweise bei der Beschreibung des Fußmarsches von Estland auf die Krim – der damaligen bedrückenden Verhältnisse. Mit dieser monumentalen Trilogie, die zusammengerechnet ca. 448000 Wörter enthält, hatte der Autor eine vorläufige Krönung seines Werkes erreicht. In einer Zeit starker Unterdrückung war es ihm gelungen über eine 50 Jahre zurückliegende Zeit ebenso starker, wenn auch etwas anders gearteter Unterdrückung zu schreiben – dies war das Hauptanliegen des Autors, der selbst betonte, dass er vor allem soziale Romane geschrieben habe. Damit einher gingen alle anderen Probleme, die in der estnischen Gesellschaft aktuell waren und die Vildes ewiges Thema waren: der Gegensatz zwischen Adligen und Bauern, der Gegensatz zwischen Kirche und Volk, die heuchlerische Sexualmoral und die Rohheit der Obrigkeit. Gerade Letzteres ist ein regelmäßig auftretendes Thema nicht nur in Vildes drei historischen Romanen, sondern in der estnischen Literatur allgemein: Szenen, in denen Bauern aus- und zu Tode gepeitscht werden, finden sich in vielen estnischen Romanen. Das zeigt, welch tiefes nationales Trauma die Körperstrafe, die noch Anfang des 20. Jahrhunderts angewendet wurde, hinterlassen hatte. Die besondere Situation in Estland war durch die unheilvolle Allianz von reaktionärer Zentralmacht und lokaler Adelswillkür entstanden. Vildes historische Romane sind nur vor diesem Hintergrund verständlich. Der Dramatiker Vilde Nach dem großen Wurf der Trilogie gönnte sich der Autor eine kleine Ruhepause, überdies wirkte sich die unsichere Exilsituation nicht gerade förderlich auf das Schreiben von größeren Romanen aus. Er wandte sich seiner alten Liebe, dem Theater, zu. Seit seinem kurzen Auftritt als Schauspieler und seit seiner Berliner Zeit, in der er ein eifriger Theaterbesucher war, hatte ihn die Bühne fasziniert. Nun war die Zeit reif für die Abfassung eigener Texte. 1912 schloss Vilde sein erstes Drama ab, Tabamata ime (Das unerreichte Wunder), das 1913 in Tallinn uraufgeführt wurde und für rege Diskussionen sorgte. Vilde hatte eine Gesellschaftssatire geschrieben, die als sozialpsychologisches und realistisches Drama bezeichnet worden ist. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Musiker, der in den Medien zum Star aufgeblasen wird

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und danach wie eine Seifenblase zerplatzt und abstürzt. Dabei macht er sich nicht über den Emporkömmling lustig, sondern prangert die Oberflächlichkeit der Gesellschaft bzw. konkret der intellektuell-künstlerischen Kreise an. Deren Verhalten führt das tragische Schicksal des Pianisten herbei, ihnen geht es nur um nationale Anerkennung und Erfolg im übrigen Europa, die eigentliche Kunst des Pianisten interessiert sie nicht. Bei diesem Streben nach Ruhm entsteht aber keine Kunst, sondern Un-Kunst, lautet Vildes Kernaussage. Groteskerweise wird das Dramendebüt des erfolgreichen Schriftstellers in der estnischen Literaturgeschichte mit einem Skandal in Verbindung gebracht, der in der Art und Weise bestanden haben soll, wie die Estnische Literaturgesellschaft ihren Preis für das beste Werk des Jahres 1912 bestimmt habe. In dem Jahr waren noch zwei andere bedeutende Werke erschienen, Kitzbergs Libahunt und Luts’ Kevade (vgl. § 27). Den Preis erhielt Kitzberg, was an sich noch kein Skandal zu sein braucht – sicher nicht in der Rückschau, wenn man bedenkt, dass die beiden konkurrierenden Werke später viel berühmter geworden sind als Vildes Schauspiel. Aber durch verschiedene Versionen der Begründung, durchgesickerte Interna und Meinungsverschiedenheiten in der Jury wurde eine Art Skandal konstruiert, in dessen Folge Vilde die Annahme der ihm zugedachten Förderungssumme verweigerte. In Wirklichkeit war das Ganze nur ein Sturm im Wasserglas und typisch für eine kleine Welt, in der jeder jeden kennt. Genau diese Welt – und letztlich auch den grotesken Skandal im Zusammenhang mit seinem ersten Drama – nahm Vilde in seinem zweiten Theaterstück, der Komödie Pisuhänd (Der Schrat, 1913), aufs Korn. Schon der Titel nimmt durch seine Ähnlichkeit mit Kitzbergs Libahunt direkt Bezug zu den Ereignissen des vorangegangenen Jahres. Es geht Vilde hier erneut um das Verhältnis zwischen Kunst und bürgerlicher Gesellschaft, zwischen Kunst und Geld. Im Zentrum des Geschehens stehen der neureiche Häuserspekulant Vestmann, seine beiden Töchter Mathilde und Laura sowie zwei dazugehörende Männer: Ludvig Sander, der mit Mathilde verheiratet ist, und Tiit Piibeleht, der am Ende des Stücks nach einer listig eingefädelten Intrige eine Verbindung mit Laura eingeht. Sander arbeitet in der Firma seines Schwiegervaters und ist in seinem Beruf ein Versager. Mathilde will ihrem Mann und sich selbst zu gesellschaftlichem Ansehen verhelfen, indem sie ihn einen Roman schreiben lässt. Auch dazu fehlt dem unbegabten Ingenieur jedoch jegliche Veranlagung, so dass er schließlich seinem Schulfreund Piibeleht, der ein erfolgloser Schriftsteller ist, ein Manuskript abkauft. Nach Vornahme kleinerer Veränderungen wird der Roman tatsächlich ein Erfolg und mit einem begehrten Literaturpreis belohnt. Mathilde ist überglücklich, selbst

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der Schwiegervater ist angetan. Nun tritt Piibeleht, der sich mittlerweile Laura angenähert hat, auf den Plan und erpresst Sander: Wenn er bei seinem Schwiegervater, der kaum geneigt sein wird, seine zweite Tochter mit einem mittellosen Literaten zu verheiraten, nicht ein gutes Wort für ihn einlegt, werde er die wahre Urheberschaft des Romans enthüllen. Sander geht notgedrungen auf den Deal ein und weiß die Dinge so zu drehen, dass Vestman am Ende seine Tochter unbedingt Piibeleht geben will. Der hatte sich nämlich zwischenzeitlich als Geschäftsmann ausgegeben und Vestman mit Sanders Hilfe eine sicher geglaubte Immobilie abgeluchst. In der Schlussszene entledigt sich Sander der Last seines Gewissens und enthüllt alles. Das stört aber niemanden, denn alle haben erreicht, was sie wollen: Laura und Piibeleht können heiraten, dadurch bleiben die Häuser, die Vestman durch die Lappen gegangen waren, doch in der Familie, und Sander darf sich weiter auf seinen schriftstellerischen Lorbeeren, von denen auch Mathilde zehrt, ausruhen. Somit siegt die Kunst über die Geschäftemacherei, denn die vermeintlichen Versager triumphieren am Ende. Wir haben es hier mit einer typischen Komödie zu tun, die durch ihre spritzigen Dialoge, die schillernden Figuren und die starke Ironie zu einem großen Bühnenerfolg wurde. Pisuhänd erschien bald auch auf Finnisch, und nachdem Vilde das Stück selbst ins Deutsche übersetzt hatte, erreichte es hierüber auch andere Sprachen und wurde auf Tschechisch, Lettisch und Litauisch auf die Bühne gebracht. Ebenso gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg Inszenierungen in russischen Theatern in Tallinn und Narva, nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Polen und einigen Sowjetrepubliken. Vilde verfügte mittlerweile über so viel Stilsicherheit und schriftstellerische Erfahrung, dass er mit diesen beiden Stücken praktisch aus dem Stand heraus zu einem gefeierten Bühnenautor wurde, dessen Werk zum regelmäßig wiederkehrenden Repertoire der estnischen Theater gehört. Sein drittes Stück, Side (Die Verbindung), war weit weniger erfolgreich und wurde nach der Uraufführung von 1917 erst 1922 gedruckt. Es behandelte Probleme der Geschäftswelt, aber auch des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern und ist im weitesten Sinne ein gesellschaftskritisches Werk wie die epische Prosa des Autors auch. Es ist heute beinahe in Vergessenheit geraten. Das spätere Werk Vilde hat trotz dieses Exkurses in die Welt des Theaters weiterhin vornehmlich Prosa verfasst. Dabei ist er seinem Hauptthema weitgehend treu geblieben: die Beschreibung des Unrechts in der Welt und die Parteinahme für die Unterdrückten. Das tat er weiterhin in verschiedenen Erzählungen und an-

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hand verschiedener Beispiele, am umfangreichsten in dem Roman Lunastus (Die Erlösung, 1909), der im dänischen Arbeitermilieu spielt. Interessanterweise weicht Vilde auch dann nicht von »seinem« Thema ab, als sich nach der Errichtung der estnischen Republik die Vorzeichen umgekehrt hatten und zumindest die Prügelstrafe wirklich der Vergangenheit angehörte. Zu seinem 60. Geburtstag verfasste er auf Bestellung der literarischen Zeitschrift Looming (vgl. § 30) eine kurze Erzählung unter dem Titel Asunik Woltershausen (Siedler Woltershausen, 1925), in der er einen enteigneten Gutsbesitzer beschreibt, der nun auf eine Neusiedlerstelle verpflanzt worden ist und kopfschüttelnd das Treiben um sich herum beobachtet. Er hält die Republik Estland für einen schlechten Traum, ein kurzes Zwischenspiel, von dem man bald wieder zu den »normalen«, althergebrachten Verhältnissen zurückkehren wird. Er erwacht aus seiner Traumwelt erst, als ein wohlhabender Bauer aus der Umgebung um die Hand einer seiner Töchter anhält und er daraufhin in Tränen ausbricht, anstatt den Brautwerber hohnlachend davonzujagen. Der geht von selbst und hat nur Mitleid mit der Tochter, die er gerne zur Bäuerin auf einem wohlhabenden Hof gemacht hätte. Vilde beschreibt dies wie gehabt mit viel Blick für die Realität – denn es gab eine Gruppe Deutscher, die nicht fassen konnte, dass sich die Zeiten geändert haben, so wie es in jeder Gesellschaft Ewiggestrige gibt – und einer gehörigen Portion Humor und Ironie, aber ohne Häme. Diese Betonung des Psychologischen ist charakteristisch für sein Spätwerk und kam schon während der letzten Jahre des Exils zum Ausdruck. Im Exil hatte Vilde seinen letzten großen Roman geschrieben, der als reifes Spätwerk gilt, sich aber auch sonst in mancherlei Hinsicht von seinem übrigen Werk abhebt. Mäeküla piimamees (Der Milchmann von Mäeküla, 1916) ist ein realistisch-psychologischer Roman mit leicht grotesken Zügen, der als Schullektüre große Verbreitung erlangt hat und ähnlich häufig wie Mahtra sõda in andere Sprachen übersetzt worden ist. Auf einer 1998 von zehn Experten und einer Expertin zusammengestellten Hitliste estnischer Romane nahm er als erster Roman von Vilde den siebten Platz ein (Langemets 1998). Oberflächlich betrachtet und rein äußerlich handelt es sich um eine im ländlichen Milieu angesiedelte Konfrontation zwischen einem Gutsherrn und einem armen Bauern. Ist aber schon der Gegenstand der Konfrontation einigermaßen überraschend – nämlich eine Frau, die bislang aufgrund der deutlichen Standesgrenzen niemals ein offizieller Zankapfel zwischen Männern verschiedener Stände gewesen sein konnte, ganz abgesehen davon, dass sich die Gutsherren jede Sklavin nehmen konnten, wenn sie wollten –, so ist der damit verbundene Kuhhandel geradezu absurd: Der alternde Gutsherr

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auf Mäeküla, Ulrich von Kremer, begehrt Mari, die Frau eines seiner armen Bauern, Tõnu, und stellt diesem in Aussicht, er werde die Stellung des Milchmanns erhalten, wenn er ihm seine Frau überlässt. Dieser Posten ist angesehen und einträglich, und Tõnu willigt ein; die Ehe mit Mari, der Schwester seiner ersten Frau, war doch nur aus praktischen Erwägungen heraus nach seiner Verwitwung geschlossen worden. Die beiden Herren haben die Rechnung aber ohne die Wirtin gemacht, denn Mari widersetzt sich. Tõnu versucht sie zu bearbeiten und flunkert ihr erpresserisch sogar die drohende Kündigung der Pachtstelle vor, so dass sie schließlich zum Schein auf den Handel eingeht. Nun aber beginnt Tõnu Zweifel an der Richtigkeit seines Handels zu bekommen, fängt an seine Frau zu begehren, wie er es zuvor nie getan hat, muss aber einsehen, dass er sie verloren hat und ergibt sich der Trunksucht, woran er in einer eisigen Winternacht auch bald zugrunde geht. Der Handel ist nun hinfällig und Mari in dem Sinne »frei«, dass sie verwitwet ist. Aber die Zeiten, dass sich ein Gutsherr alles nehmen kann, sind definitiv vorbei. Kremer erhält einen Korb, auch weitere Freier, die nun bei Mari auftauchen, werden abgewiesen. Mari hat beschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und in die Stadt zu ziehen, wo sie ein selbstbestimmtes Leben, das auch die eigene Wahl eines künftigen Lebensgefährten einschließt, führen will. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung des Seelenlebens der drei Hauptpersonen, während die aus Vildes früheren Romanen bekannten Milieubeschreibungen weitgehend fehlen. Vilde hat mit diesem überraschenden Werk ein Bündel von Themen angeschnitten und seine Sicht auf die Dinge mitgeteilt – mal direkt, mal zurückhaltend-verschmitzt, stets humorvoll, mit einem leichten Hang zur Melancholie. Überdeutlich ist die Erkenntnis, zu der Tõnu – zu spät – gelangt, nämlich dass Geld allein nicht glücklich macht. Ebenso explizit wird auch der Fremdbestimmung eine klare Absage erteilt. Sowohl der Fremdbestimmung der Frau, denn in Mari hat Vilde eine Frau dargestellt, die fröhlich, selbstständig, eigenwilllig und stark ist, als auch der Fremdbestimmung durch die adlige Oberschicht, denn der Gutsherr von Mäeküla ist ein komischer Papiertiger, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann. An dessen Charakterdarstellung wird die Subtilität des Romans deutlich: Einerseits zeigt Vilde die Notwendigkeit zur Differenzierung auf, die Zeit, dass alle Gutsbesitzer nur peitschenschwingende Unmenschen sind, ist nun vorbei, die ehemalige Oberschicht hat nicht mehr viel zu sagen. Andererseits ist der unsittliche Deal auch ziemlich perfide und Ausgeburt eines doch degenerierten Charakters. Genauso moralisch verwerflich ist freilich die Tatsache, dass Tõnu darauf eingeht – aber er erhält ja seine gerechte Strafe. Die auch Kremer erhält, denn er geht leer aus. Als Siegerin aus dem Komplott

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geht nur das ursprüngliche Opfer selbst hervor. Mit seiner Mari hat Vilde, der sich auch in früheren Werken mehrmals feministisch-emanzipatorischer Themen angenommen hat, einen der eindrucksvollsten Frauencharaktere der estnische Literatur geschaffen. Im Verbund mit der ebenfalls meisterlichen Charakterzeichnung der beiden anderen Hauptfiguren, Kremer und Tõnu, ist der Roman eines der originellsten und psychologisch überzeugendsten Werke der estnischen Prosa. Nachwirkung Literaturen werden am leichtesten durch große, dicke Romane wahrgenommen, selbst die besten Dichterinnen und Dichter erreichen oft nicht mehr als nur eine kleine Menschengruppe. Mit Vilde war ein Autor auf den Plan getreten, der ein dermaßen massives Werk in die Landschaft gestellt hatte, dass man das in Zukunft nicht mehr übersehen konnte. Er war der erste große eigenständige estnische Romancier mit einem vielfältigen und umfangreichen Werk. Dadurch hat er schnell Popularität erreicht und sie bis heute behalten, wobei es nur graduelle Schwerpunktverlagerungen in Abhängigkeit von den Vorlieben der jeweiligen politischen Systeme gab. Konnte man ihn in sozialistischen Zeiten besonders ausschlachten, weil er der heiligen Ideologie relativ nahe stand und weil sich Tote nicht mehr wehren können, so begegnete man ihm in Zeiten konservativer Gegenbewegungen, wie es vielleicht Ende des 20. Jahrhunderts nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit der Fall war, mit einer gewissen Reserviertheit, weil er nach deren Geschmack gar zu rot und antikirchlich war. Aber seine Reputation als Meister des estnischen Romans ist nie in Gefahr geraten. Er wurde schon zu Lebzeiten viel geehrt, 1925 wurde er zum Ehrenmitglied des Finnischen Schriftstellerverbandes gewählt, 1929 erhielt er – wiederum als erster Schriftsteller – die Ehrendoktorwürde der Universität Tartu, und 1946 wurde seine letzte Wohnung als Museum eröffnet. Allein seine Romane sind in zwölf Sprachen übersetzt, wenngleich hier ein auffälliger Schwerpunkt auf dem östlichen Europa liegt und die einzige englische Übersetzung in Tallinn verlegt und somit Pseudorezeption ist. In Deutschland ist er über einen Roman nicht hinausgekommen, und Skandinavien und Westeuropa haben seine Romane gar nicht erreicht. 2003 wurde in Tallinn ein Vilde-Club ins Leben gerufen, der sich die Befassung mit dem Werk Vildes und die Pflege seines Hauses als Kulturzentrum zur Aufgabe gestellt hat. Eduard Vilde schrieb seinen Nachnamen lange Zeit Wilde, wie es der älteren estnischen Tradition entsprach. Als er in seinem letzten Lebensjahr einmal gefragt wurde, wie er es denn nun mit der Schreibweise seines Namens

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Denkmal für Eduard Vilde und Oscar Wilde in Tartu (Kopie in Galway, Irland)

halte, antwortete er: »Ich bin immer für alles Neue gewesen und habe immer gegen Bürokraten gekämpft, deswegen unterschreibe ich in Zukunft alle meine Artikel mit ›Eduard Vilde‹.« (Mihkla 1972, 470). Demgemäß ist der Autor heute unstrittig unter dem »V« zu finden, aber in älteren Handbüchern selbstverständlich unter dem »W«. Weil Letzteres dem großen estnischen Romancier einen weltberühmten Namensvettern, den gut zehn Jahre älteren Oscar Wilde, beschert, kam Ende des 20. Jahrhunderts die estnische Künstlerin Tiiu Kirsipuu auf die geniale Idee, eine Skulptur von den beiden Autoren anzufertigen. Das Denkmal, auf dem die beiden Autoren, die sich im wirklichen Leben vermutlich nie getroffen haben, in Lebensgröße nebeneinander sitzen und sich angeregt unterhalten, wurde 1999 fertig und steht vor dem beliebten Café »Vilde« in Tartu. Pünktlich zum EU-Beitritt Estlands 2004 schickte die Stadt Tartu eine Kopie des Denkmals vom Ostrand an den Westrand der EU nach Galway in Irland, wo seitdem vor einem Juwelierladen der britisch-irische Dandy und der estnische Gentleman ihre Gedanken austauschen.

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Kapitel V Diversifizierung (1900–1918) § 25 Jung-Estland und literarischer Aufbruch Gesellschaftliche Umwälzungen Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war der Bevölkerungsanteil der Esten in den beiden großen Städten Tallinn und Tartu auf ca. 70 Prozent gestiegen, nachdem dort jahrhundertelang die Deutschen die Mehrheit gebildet hatten. Dies hatte sich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geändert, aber mit Blick auf die Machtstrukturen dominierten die Deutschen nach wie vor. Denn im 19. Jahrhundert mit seinem Dreiklassenwahlrecht brauchte sich eine demographische Entwicklung noch lange nicht in den entsprechenden Stadtverordnetenversammlungen niederzuschlagen. Eine Veränderung – im Verbunde mit dem neuen Wahlrecht von 1892, das das Klassenwahlrecht abgeschafft hatte und das Recht zur Teilnahme an der Wahl nur noch vom Eigentum abhängig machte – trat erst ein, als sich auch ein besitzendes estnisches Bürgertum herausgebildet hatte, dem man den Zugang zu den Wahlurnen nicht mehr verwehren konnte. Auch wenn erst etwa 20 Prozent der Bevölkerung Estlands in den Städten wohnten, kam ihnen als Kultur- und Bildungszentren doch die Rolle des Motors der gesellschaftlichen Entwicklung zu, weswegen die Veränderungen in der nationalen Zusammensetzung der kommunalen Organe eine mehr als nur symbolische Bedeutung hatten. Das an der Grenze zum und in seinem kleineren Teil im lettischen Sprachgebiet liegende Städtchen Valga (lettisch Valka) war 1901 der erste Ort, in dem bei Kommunalwahlen ein estnisch-lettisches Wahlbündnis die Mehrheit errang, was dazu führte, dass hier im Dezember 1901 der erste estnische Bürgermeister aller Zeiten sein Amt antreten konnte. 1902 folgte Rakvere, und 1904 kam in Tallinn eine russisch-estnische Koalition an die Macht. Zumindest in einigen Städten – bei anderen dauerte es noch bis in den Ersten Weltkrieg hinein – war damit auf natürlich-legalem Wege die Vormachtstellung der Deutschen gebrochen. Für die weitere Entwicklung war der Ausbruch des russisch-japanischen Kriegs im Januar 1904 von großer Bedeutung. Abgesehen davon, dass auch

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einige Tausend Esten an dem Krieg teilnehmen mussten und dabei die entsprechenden Verluste zu verzeichnen waren, sorgte der Krieg für eine neuerliche russisch-chauvinistische Welle, wie man sie bei Krieg führenden Nationen immer antrifft. Für die Entfaltungsmöglichkeiten einer gerade aufblühenden estnischen Kultur war das nicht unbedingt förderlich. Einschneidender war freilich, dass sich alsbald eine fatale Niederlage des Zarenreiches abzeichnete, die die Geschichtsforschung mehr oder weniger einhellig für die Auslösung der Revolution von 1905 verantwortlich gemacht hat. Diese Revolution bzw. insbesondere deren Niederschlagung war nicht nur für die soziale und politische Geschichte Estlands wichtig, sondern wirkte sich auch direkt auf das literarische Leben aus, da ein nicht geringer Teil der im Kulturleben führenden Personen politisch engagiert war. Hier genügt schon der Hinweis auf die Zeitungen, die alle in der Politik mitmischten, die aber auch alle, wie gezeigt werden konnte, für die literarische Entwicklung wichtig waren. Nach dem Oktobermanifest des Zaren von 1905 hatte es für ca. anderthalb Monate die so genannte »Freiheitszeit« gegeben, in der die Zensur weggefallen und die Zahl der Zeitungstitel kurzzeitig in die Höhe geschnellt war. Danach überschlugen sich aber die Ereignisse, und im Zuge der brutalen Niederschlagung der Revolution wurden viele Zeitungen wieder geschlossen. Infolgedessen verloren nicht nur etliche Personen ihren Broterwerb, sondern waren beinahe ebenso viele auch aufgrund ihrer politischen Betätigung direkt gefährdet. Eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren wurde im unmittelbaren Zusammenhang mit der Revolution von 1905 oder in deren Nachwehen bis 1907 festgenommen und verschwand für einen kürzeren oder längeren Zeitraum in den Gefängnissen des Zarenreichs: Friedebert Tuglas, Villem Grünthal-Ridala, Karl Rumor (mit bürgerlichem Namen Ast), Kustas Kotsar, Marta Lepp, Alma Ostra und Jüri Orgusaar waren die Leidtragenden (vgl. O. Kruus 1990). Einige von ihnen kamen nach kurzer Zeit wieder frei und zogen es dann vor, ins Ausland zu gehen, wie es vor ihnen schon andere getan hatten, die sich dadurch der Haft hatten entziehen können. Die Folge war in jedem Fall, dass sich das estnische literarische, aber auch das künstlerische Leben für eine gewisse Zeit auf verschiedene Länder verteilte. Von einer kompletten Verlagerung ins Ausland kann man aber nicht sprechen, da ein Kontakt zwischen Heimat und Exil, war er auch bisweilen konspirativer Art, immer vorhanden war. Dieses Ausland bestand aus relativ vielen Ländern, d.h. die estnische Diaspora war ein recht großes Gebiet und auch nicht ortsfest, wie die Beispiele Eduard Vildes (§ 24) und Friedebert Tuglas’ (§ 26) zeigen. Dennoch war der wichtigste Aufenthaltsort wohl Helsinki, was rein geographisch der nächstlie-

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gende, gleichzeitig aber einigermaßen sichere Ort war und wo man in den Finnen stammverwandte Schicksalsgenossen fand. Dabei ist die Nähe der beiden Sprachen sekundär, denn mit gebildeten Finnen wurde meistens auf Deutsch korrespondiert, solange man noch nicht genug Finnisch beherrschte. Deutsch und meistens auch Französisch konnten die estnischen Intellektuellen, die ins Exil gingen, so dass sie auch in Westeuropa mühelos zurechtkamen. Nur begrenzt im Zusammenhang mit der Revolution ist allerdings die in Paris entstandene Künstlerkolonie zu sehen. Gewiss waren auch die maßgeblichen Personen dieser Gruppe – etwa Nikolai Triik, Konrad Mägi, Aleksander Tassa oder Jaan Koort – mehr oder weniger revolutionär eingestellt und teilweise der Lehranstalt verwiesen worden, aber von ihnen musste nur Jaan Koort unmittelbar infolge seiner Teilnahme an der Revolution ins Ausland fliehen, bei den anderen erfolgte der Weg nach Paris eher als indirekte Folge der erschwerten politischen Bedingungen im Heimatland und weil sie ohnehin schon länger den Wunsch gehegt hatten, sich für eine gewisse Zeit im damaligen Mekka der Kunst aufzuhalten. Trotzdem scheint nach Helsinki Paris der wichtigste Ort des estnischen Exils zwischen den Revolutionen gewesen zu sein, da außer bildenden Künstlern sich auch der eine oder andere Schriftsteller hier einfand. Helsinki war dagegen seit geraumer Zeit ein beliebtes Reiseziel, wo viele Esten überdies persönliche Kontakte hatten und wo es auch estnische Organisationen gab. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die finnische Hauptstadt verstärkt von Esten besucht oder als zeitweiliger Wohnort gewählt. Man wollte hier in politisch ruhigeren Gefilden bessere Zeiten abwarten und etwas freiere Kulturluft schnuppern. Auch zum Studieren kam man nach Helsinki, da man hier erstens Fächer studieren konnte, die es in Tartu gar nicht gab, und da zweitens an der Universität von Helsinki ein wesentlich freierer akademischer Geist wehte als an der sich im Würgegriff der Russifizierung windenden Alma Mater in Tartu. Allein die Tatsache, dass 1910 bereits über ein Viertel der 2610 immatrikulierten Studierenden an der Helsinkier Universität Frauen war, illustriert dies schon überdeutlich. In Tartu gab es zu jenem Zeitpunkt allenfalls ein paar versprengte Gasthörerinnen mit Sondergenehmigung. Nur logisch erscheint vor diesem Hintergrund der Wunsch mancher Intellektueller, »über Finnland nach Europa« zu gelangen (vgl. Hasselblatt 2002). Sekundiert wurde dies durch ein Ansteigen der Übersetzungen finnischer Literatur, aber auch lettische, deutsche, russische, skandinavische, englische und französische Literatur wurde um die Jahrhundertwende und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verstärkt ins Estnische übersetzt. Das ging einher mit einer Verbesserung der literarischen Infrastruktur ganz allge-

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mein. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es 40 Druckereien und 170 Buchhandlungen in Estland. Von einer Stagnation infolge des politischen Drucks in den revolutionären Jahren kann also nicht unbedingt die Rede sein, denn trotz der gelegentlich haarsträubenden Maßnahmen der Zentralregierung überwogen während der Zeit der Doppelherrschaft von Zar und Duma aufs Ganze gesehen – so paradox es klingen mag – doch die liberaleren Tendenzen. Immerhin konnte 1906 in Tartu mit einer höheren Schule für Mädchen das erste estnischsprachige Gymnasium gegründet werden, dem bald weitere vergleichbare Gründungen, und dann auch für Jungen, folgten. Im gleichen Jahr rief Jaan Jõgever, der von 1892 bis 1903 Zensor in Tartu gewesen war, später Estnischlektor und nach dem Ersten Weltkrieg erster Professor für Estnisch, die Zeitschrift Eesti Kirjandus (Estnische Literatur) ins Leben. Die ersten beiden Jahrgänge bestritt Jõgever inhaltlich wie finanziell praktisch alleine (A. Palm 1932a), 1908 wurde die Zeitschrift dann von der 1907 gegründeten Eesti Kirjanduse Selts (Estnische Literaturgesellschaft), deren Rolle für die weitere Entwicklung der estnischen Literatur ebenfalls ausgesprochen wichtig war (A. Palm 1932), übernommen, unter dessen Fittichen sie in den folgenden Jahrzehnten zusehends umfangreicher wurde. Die Zeitschrift widmete sich der Sprach-, Literatur-, Folklore- und Kulturforschung und -geschichte, war also wissenschaftlich angelegt und brachte keine Primärliteratur. Durch ihre Rezensionen, Vorankündigungen und allgemeinen Neuigkeiten aus dem Kulturleben wurde die Zeitschrift zum zentralen Forum für die estnische Literatur. Hier erfuhr man, welcher Autor gerade an welchem Werk saß und wer gerade ein Manuskript einem Verlag übergeben hatte, ebenso konnte man hier 1911 zum Beispiel einen Aufruf finden, estnische Bücher ins Gefängnis nach Riga zu schicken: Dort seien etwa fünfzig Esten inhaftiert, die außer ihrer Muttersprache nichts anders können und in der Gefängnisbibliothek von Riga keine estnische Lektüre finden könnten (Waher 1911). Wenn man ferner berücksichtigt, dass 1909 das Eesti Rahva Muuseum (Estnisches Nationalmuseum) gegründet wurde, das als zentrale Sammelstelle für die estnische Kultur fungierte und aus dem 1940 u.a. das Kirjandusmuuseum (Literaturmuseum) hervorging (vgl. Olesk 1999), und dass in diese Jahre auch die professionellen Theatergründungen in Tartu, Tallinn und Pärnu fallen, so wird deutlich, dass sich die estnische Literatur im Windschatten der gesellschaftlichen und politischen Ereignisse, aber auch von ihnen beflügelt, in den beiden Jahrzehnten vor der Erringung der Eigenstaatlichkeit rasant entwickelte.

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Junges Estland Bezüglich des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts ist in der einschlägigen Literatur gelegentlich behauptet worden (z.B. Undla-Põldmäe 1963, 366), dass es hinsichtlich der Belletristik relativ mager gewesen sei, doch kann es sich hier auch lediglich um eine spätere Projektion handeln: Vorher gab es den ersten Höhenflug der nationalen Emanzipationsbewegung mit Koidulas Dichtung und einem aufblühenden literarischen Leben, danach gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen systematisch vorangetriebenen Modernisierungsschub – folglich blieb für die Jahre dazwischen nichts übrig, sie wurden als literarisches Wellental angesehen. Der Verdacht drängt sich aber auf, dass diese Jahre nur Opfer von Klassifizierungs- und Kanonisierungsbestrebungen geworden sind, denn rein quantitativ, d. h. was die Buchproduktion betrifft, kann hier kein Einbruch verzeichnet werden. Wenn man die Zahlen für die vollen Jahrzehnte miteinander vergleicht, so ergibt sich jedes Mal eine erhebliche Steigerung gegenüber dem vorangegangenen Jahrzehnt, die ihrerseits in ihrem Ausmaß kontinuierlich wächst: Im Zeitraum 1881–1890 wurden 37,5 % mehr Bücher gedruckt als im Jahrzehnt davor, im Zeitraum 1891– 1900 waren es 48,5 % mehr als 1881–1890, und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bezifferte sich der Zuwachs gegenüber dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auf 58,4 % (berechnet nach Antik 1936, 28–29). Auch inhaltlich fällt es schwer, eine eindeutige Flaute festzustellen, denn mit Haava, Sööt, Aspe, Põdder, Liiv und Vilde waren in der fraglichen Periode Autorinnen und Autoren an die Öffentlichkeit getreten, deren Werk bis heute unvergessen ist. Dies sollte im Hinterkopf behalten werden, wenn nun eine in allen Literaturgeschichten übereinstimmend mit den Epitheta »bahnbrechend« und »einschneidend« belegte Gruppierung behandelt wird. Die skizzierten gesellschaftlichen Veränderungen hatten jedenfalls dazu geführt, dass auch die Anzahl der estnischen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten – freilich auf Schulen, deren Unterrichtssprache nicht ihre Muttersprache war – erheblich zugenommen hatte und Anfang des 20. Jahrhunderts beispielsweise in Tartu beinahe 50 Prozent ausmachte (E. Roos 1974, 395). Sie waren längst nicht mehr gewillt, ihre nationale Identität aufzugeben, und fassten sich mehr oder weniger bewusst als Esten auf. Da die Schulordnungen im Allgemeinen jede Eigeninitiative auf Seiten der Schüler kategorisch verboten, musste man mehr oder weniger konspirativ operieren, und so schloss man sich in geheimen Gesprächskreisen zusammen, um über Gott und die Welt, aber ebenso über Kunst und Literatur zu diskutieren. Und man las in diesen Kreisen, neben moderner Literatur, die aktuellen Theoretiker und Philosophen wie Brandes, Darwin, Kautsky, Marx oder Nietzsche. Am inten-

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sivsten geschah dies in Tartu, Pärnu und Kuressaare, der Hauptstadt von Saaremaa, während in Tallinn Vergleichbares erst etwas später stattfand, weil dort anfangs schlicht noch nicht genug estnische Schülerinnen und Schüler zu finden waren. In Tartu war man aber im Herbst 1900 bereits so weit, dass man einen schulübergreifenden Diskussionskreis gründen konnte. Einer der maßgeblich an dieser Organisation mit dem Namen Eesti Külvaja (Estnischer Sämann) beteiligten Schüler war der gerade mal 17-jährige Gustav Suits, der buchstäblich zum Wortführer der einige Jahre später entstandenen ersten literarischen Gruppierung Estlands wurde, denn von ihm stammt der Leitsatz der Gruppe, der zu den am meisten zitierten Sätzen aus der estnischen Geistesgeschichte zählt: Olgem eestlased, aga saagem ka europlasteks! – ›Lasst uns Esten sein, aber lasst uns auch Europäer werden‹, formuliert im ersten Album der Gruppe (Noor Eesti I, 1905, 17). Bevor hierauf weiter eingegangen wird, muss die Person von Suits vorgestellt und kurz auf die Vorgeschichte der Gruppierung eingegangen werden. Gustav Suits wurde 1883 im südestnischen Võnnu in einer streng pietistischen Familie geboren und trat nach der Grundschulbildung in Võnnu und Tartu 1896 in Tartu ins staatliche Gymnasium ein. Da er mittellos war und aus ärmlichen Verhältnissen stammte, verdiente der frühreife Schüler, der als Vierjähriger schon lesen konnte und mit fünf Jahren die ganze Bibel durchgelesen hatte, sich schon während der Schulzeit seinen Unterhalt teilweise mit Übersetzungen und Privatunterricht. Die Schule schloss er 1904 mit Auszeichnung ab, im gleichen Jahr immatrikulierte er sich an der Tartuer Universität, um Philosophie zu studieren. Es zog ihn jedoch nach Finnland, wo er seit 1901 jeden Sommer verbracht und wo er zahlreiche Kontakte hatte, so dass er sich nach einem Semester in Tartu 1905 an der Universität von Helsinki einschrieb. Im selben Jahr erschien sein erster Gedichtband, dem insgesamt fünf weitere folgten. Das Studium der europäischen Literatur, Ästhetik, finnischen Sprache, Literatur und Kultur schloss Suits 1910 ab. Danach arbeitete er in der Universitätsbibliothek von Helsinki und von 1913 bis 1917 als Finnischund Schwedischlehrer am dortigen russischen Gymnasium. In den folgenden Jahren war er politisch aktiv, u.a. als Leiter des estnischen Informationsbüros in Stockholm, ehe er 1919 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für estnische und allgemeine Literatur an die Universität Tartu berufen wurde. Hier nahm er 1921 die Arbeit auf und stieg vom wahrnehmenden über den außerordentlichen zum ordentlichen Professor auf. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde seine gesamte Bibliothek mit ca. 10000 Bänden durch Feuer zerstört, 1944 floh er nach Schweden, wo er sich aktiv am kulturellen Leben der Exilgemeinschaft beteiligte, Literaturforschungen betrieb und auch noch einen letzten Gedichtband veröffentlichte. Er starb 1956 in Stockholm.

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Neben der Dichtung (s. § 26) kommt Suits’ literaturwissenschaftlicher und organisatorischer Tätigkeit große Bedeutung zu. Parallel zu dem oben genannten Diskussionskreis gründete Suits ungefähr zeitgleich, vermutlich irgendwann im Laufe des Jahres 1900, einen Verlag (E. Roos 1973, 80). Die Angaben hierzu sind so dürftig und teilweise sogar widersprüchlich, weil die Arbeit wenn nicht regelrecht konspirativ, so doch weitgehend im Verborgenen geschah und nicht systematisch dokumentiert worden ist. Dieser Schritt eines noch nicht 17-jährigen Schülers war zwar keine Verlagsgründung im privatrechtlichen Sinne, aber gemessen an der späteren Entwicklung und Bedeutung der hieraus hervorgegangenen Publikationen ist die Initiative von Suits ohne Zögern als Verlag zu bezeichnen. Denn bis dahin waren nur, etwa seit 1898 im Umkreis des Treffner’schen Gymnasiums, handgeschriebene Schüleralmanache erschienen (E. Roos 1972, 78). Was Suits nun unter dem Deckmantel seines eigenen Pseudonyms (Kirjanduse sõber, ›Der Literaturfreund‹), das er für seine ersten Publikationen in der Presse verwendet hatte, herausgab, war aber ein ordentlich gedruckter und vom Zensor genehmigter 144-seitiger Almanach mit dem Titel Kiired (Strahlen), der im März 1901 erschien. In weiser Voraussicht hatte Suits – bzw. die vierköpfige Redaktion, von der man aber nur einen weiteren Namen, Suits’ Mitschüler Rudolf Lesta, kennt – sich im Vorfeld darum bemüht, auch namhaftere Autorinnen und Autoren zu gewinnen, damit die Publikation nicht als bloßer Schüleralmanach vom literarischen Establishment übergangen werden konnte. Und die Angeschriebenen hatten zum Teil positiv reagiert, so dass tatsächlich von den Autoren des ersten Almanachs nur drei Gymnasiasten waren (N. Andresen 1969, 633) – neben den beiden genannten Lesta und Suits ein gewisser A. Hansen, d.h. niemand anders als Tammsaare (s. § 32), der nach seinem Debüt im Postimees eine seiner ersten Erzählungen also hier publizierte. Dem Almanach fehlte ein programmatisches Vorwort, aber er hatte ein klares Ziel vor Augen, das auf dem hinteren Innendeckel formuliert war: Es bestand darin, die bessere Literatur Estlands zu fördern und neuere Werke der ausländischen Literatur vorzustellen, wozu ein Mitarbeiterstab bestünde, der direkt aus dem Finnischen, Schwedischen, Russischen, Deutschen, Französischen, Polnischen und Lettischen übersetzen könne. Ferner wollte man ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung des Rezensionswesens legen, weil »selbst die Arbeiten, die in unserer armen Literatur erschienen sind, nicht immer die notwendige Aufmerksamkeit gefunden haben« (zit. nach E. Roos 1973, 82). Was hier mit »besserer Literatur« gemeint war, wurde weiter nicht erklärt, aber aus anderen, zum Teil späteren Verlautbarungen ist ersichtlich, dass man sich hier gegen den sentimentalen und romantischen Lesestoff abgrenzen wollte, der lange Zeit in Estland tonangebend gewesen

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war. Für Suits und seine Gesinnungsgenossen haftete dem viel zu sehr der Muff des Provinziellen an, weswegen man den Blick über den eigenen Tellerrand wagen wollte und sich so intensiv um Übersetzungen bemühte. Daneben galt es aber eben, die wahren Perlen der estnischen Literatur, die es auch nach Meinung des jungen Gymnasiasten schon gab, ins rechte Licht zu rücken. Immerhin waren ja bereits allerlei Texte von Eduard Vilde erschienen, die Suits kannte. Folgerichtig finden wir unter den Autorinnen und Autoren der ersten Ausgabe der Kiired dann auch die bereits etwas bekannteren August Kitzberg, Elise Aun und Karl Eduard Sööt, daneben die etwas jüngeren Jakob Mändmets, Hans Pöögelmann und Alide Ertel, die entweder kurz zuvor debütiert hatten oder – wie Pöögelmann – hier erstmalig im Druck erschienen. Übersetzte Autoren waren beispielsweise der damals schon recht bekannte finnische Autor Juhani Aho, der später mehrfach Kandidat für den Nobelpreis war, und der ungarische patriotische Dichter Mihály Vörösmarty. Mit diesem gemischten Programm bot Suits tatsächlich etwas anderes als die althergebrachte Hausmannskost, und durch geschickte PR-Arbeit – Suits hatte im Vorfeld Kontakt mit dem Chefredakteur des Postimees, Jaan Tõnisson, geknüpft und war mit den Druckfahnen oder einem druckfrischen Exemplar in der Redaktion vorbeigekommen (E. Roos 1973, 84) – wurde für eine angemessene Wahrnehmung gesorgt. Tatsächlich erschien im April 1901 eine nicht gerade überschwängliche, aber sicherlich wohlwollende Besprechung im Postimees, der damals eine maßgebende Instanz war. So war der Weg für weitere Schritte geebnet, wobei betont werden muss, dass die Publikation der ersten Kiired keineswegs eine Sensation war, die das literarische Leben von einem Tag auf den anderen umkrempelte. Es war zunächst nur der Versuch, eine etwas andere Sichtweise auf das Phänomen Literatur zu präsentieren, indem man sich zum einen – wie es bei Vertretern der jüngeren Generation üblich ist – gegen das Althergebrachte absetzte und zum Zweiten eine bewusste Miteinbeziehung ausländischer Strömungen in die estnische Literatur vorantrieb. Dies war in der kulturellen Situation am Ende des 19. Jahrhunderts, in der es wohl vereinzelte herausragende Texte gab, in der aufgrund der allgemein pessimistischen Stimmung eine tragfähige Zukunftsvision aber fehlte, von eminenter Bedeutung. Eine solche Vision nun hatten die Gymnasiasten, die hinter den Kiired standen. Zum ersten Mal ging die Befassung mit Literatur nicht aus den zahlreichen Zeitungsredaktionen hervor, in denen sowieso ständig etwas geschrieben wurde, sondern es waren junge Enthusiasten, die ihre eigenen hehren Ziele verfolgten. Die Begeisterung beflügelte die jungen Redakteure dermaßen, dass noch im gleichen Jahr, 1901, eine zweite Lieferung der Kiired erschien und 1902 die dritte. Auch in diesen beiden Alben wurde die gleiche

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Mischung von Bekanntem, Übersetzungen und Neuem geliefert, neben einer Hommage anlässlich des 15. Todestags von Koidula fand man wiederum Übersetzungen neuerer finnischer Literatur und eine Erzählung von Tammsaare. Die vermeintliche Eintagsfliege von »jungen, wilden« Schülern war zu einem respektablen Periodikum herangewachsen, das seinesgleichen suchte und ganz offensichtlich auch eine Marktlücke getroffen hatte, denn andernfalls hätte sich die Druckerei kaum dazu durchgerungen, die Pläne weitgehend mittelloser Schüler so mir nichts dir nichts zu verwirklichen. Hiermit war also auch Geld zu verdienen, zumindest konnte man sich über Wasser halten, und das roch auch Gustav Suits, als er sich an die Arbeit für die vierte Ausgabe der Kiired machte. Dabei ging es ihm allerdings sicherlich weniger um den kommerziellen als vielmehr um den ideellen Gewinn: Er wollte noch weitere Kreise erreichen und mehr bewirken. Dazu war eine Bündelung der vorhandenen Kräfte ratsam. Jung-Estland 1902 war Johannes Aavik (s.u.) zum Studium nach Tartu gekommen und, da er sich unter anderem für Literatur interessierte, schnell in Kontakt mit Gustav Suits geraten, dessen Kiired schon einigermaßen bekannt waren. Aavik hatte das Gymnasium in Kuressaare besucht und dort mit dem sich drei Klassen unter ihm befindenden Wilhelm Grünthal, der sich später den Dichternamen Villem Ridala gab, 1900 einen so genannten Eisverein aus der Taufe gehoben. Hier pflegte man tatsächlich den Eislauf, aber ebenso viel beschäftigte man sich mit Dichtung. Diese Dichtung war auf Deutsch, aber allgemein war die Bedeutung von Zusammenschlüssen im Zeichen des Sports im Hinblick auf die Festigung eines estnischen Selbstbewusstseins nicht zu unterschätzen. Die ungefähr zeitgleich gegründeten Radsportvereinigungen in Tartu (Taara, 1898) und Tallinn (Kalev, 1901) erhielten bald eine nationalpolitische Konnotation. Parallel zu dem Eisverein war in Kuressaare ein kleiner, zehnköpfiger Gesprächskreis von vorwiegend Schülerinnen und Schülern entstanden, in dem man über die aktuelle Politik, die Situation der Esten und den Status des Estnischen diskutierte. Man stand Grenzstein und seiner Zeitung Olevik insofern nahe, als man antideutsch eingestellt war, dagegen wurde dessen Russifizierungspolitk weniger geschätzt. Von Grenzstein dürfte auf jeden Fall der Name stammen, den man sich gab, denn dieser hatte die Bezeichnung mehrfach in seinen Leitartikeln verwendet: Nooreestlased (Jung-Esten), im Gegensatz zu den »alten Deutschen«, die zäh um die Erhaltung ihrer Sonderstellung rangen. Aus diesem Gesprächskreis ging im September 1901 eine handge-

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schriebene Zeitschrift Nooreestlane (Jung-Este) hervor, die vermutlich – nur drei Nummern vom Oktober und November 1901 sind erhalten – wöchentlich erschien und auch nach Aaviks Fortgang aus Kuressaare möglicherweise noch bis 1904 existierte. Mit Essays, Gedichten und Übersetzungen war diese Zeitschrift im Prinzip mit den Kiired vergleichbar, nur war sie nicht gedruckt, sondern zirkulierte jeweils in einem handgeschriebenen Exemplar, war also dementsprechend gering verbreitet (vgl. A. Palm 1972). Als Suits sich Anfang 1903 an die Arbeit für seine vierte Ausgabe der Kiired machte, die ursprünglich pünktlich zu Kreutzwalds 100. Geburtstag im Dezember erscheinen sollten, war durch die Bekanntschaft mit Aavik eine andere Situation entstanden. Aavik und Suits verfolgten im Prinzip die gleichen Ziele, und so tat man sich zusammen. Dabei brachte vereinfacht gesagt Suits seine Erfahrung als Redakteur ein, während Aavik den Namen für das Gemeinschaftsprojekt beisteuerte, denn das neue Album bekam den Namen Noor-Eesti (Jung-Estland). Dies war zunächst nur der Name des Sammelwerks, noch nicht der Name einer Gruppierung. Die amtliche Registrierung eines Vereins mit diesem Namen geschah erst 1912 und dann schon in Anlehnung an den Namen der Publikation. Für den Titel des Sammelwerks muss unstrittig Finnland Pate gestanden haben, da es hier bereits seit 1891 eine ähnliche Publikation mit dem analogen finnischen Titel Nuori Suomi (Junges Finnland) gab. Inhaltlich hatte Nuori Suomi den Anstoß seinerzeit aus Tartu von der Beilage von Grenzsteins Olevik bekommen (Tuglas 1961, 664), aber den Namen für ihre Publikation hatten sich die Finnen selbst ausgedacht. Er diente nun den Esten als Vorbild. Die erwähnte, ebenfalls auf Grenzstein zurückgehende Bezeichnung der Personengruppe(n) als JungEsten mag dagegen durchaus auf deutsche oder lettische Quellen zurückgehen, wie Friedrich Scholz (1990, 309) und Jaan Undusk (1992, 725) annehmen. Wenn dies so war, dann zeigt dies nur, dass Estland, wie nicht anders zu erwarten und wie die meisten Kulturen es tun, Impulse von verschiedenen Richtungen aufgenommen hat. Letztlich ist die Frage aber irrelevant, denn zur Aufstellung des Gegensatzpaars »jung (neu)« vs. »alt« bedarf es nicht notwendigerweise eines fremden Vorbilds. Aavik und Suits waren nicht alleine, sondern hatten noch ein paar weitere Köpfe um sich geschart, die der Gruppierung Gestalt gaben. Neben dem schon erwähnten Dichter und angehenden Philologen Villem GrünthalRidala, der sich 1905 in Tartu immatrikuliert hatte, tatsächlich aber in Helsinki studierte, sind vor allem Friedebert Tuglas (s. § 26) und Bernhard Linde zu nennen. Mit dem gut zwei Jahre jüngeren Tuglas war Suits bereits im Herbst 1902 in Kontakt gekommen, er war mittlerweile auf Treffners Gymnasium und hatte in der Presse bereits einige Kurzgeschichten publiziert.

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Bernhard Linde hatte 1902 das Pärnuer Gymnasium wegen nationalistischer Umtriebe verlassen müssen und war seit 1903 in Tartu, ebenfalls bei Treffner. Im Herbst 1904 stieß er mit Suits und Tuglas zusammen und wurde bald die »technische Seele« der Gruppe: Suits war der Chefideologe, Tuglas und Aavik die Theoretiker für ästhetische Fragen literarischer oder sprachlicher Ausrichtung, und Linde war verantwortlich für die Korrespondenz und die Finanzen, d. h. er hielt den Betrieb am Laufen, ganz besonders in den Jahren, in denen die anderen im Ausland waren. Lindes eigenes literarisches Schaffen ist bescheiden, aber als Organisator, Übersetzer – er hatte Slawistik studiert und war damals einer der wenigen, der sich intensiv mit der russischen Literatur befasste –, Redakteur, Herausgeber und Verleger hat er das estnische Kulturleben jahrzehntelang lebhaft mitgestaltet. Darüber hinaus war er, der fünfmal verheiratet war (Kulli 2005, 87), ständig Prozesse führte und gelegentlich auch mal im Gefängnis landete, eine recht schillernde Figur im estnischen Kulturleben jener Zeit (Kulli 1986, Ruutsoo 1986). Das vierte Album der Kiired wurde erst 1904 fertig, als die Diskussion um die Namensgebung längst beendet war. Danach sorgte noch die Zensur für eine neunmonatige Verzögerung, aber im Sommer 1905 war es dann soweit, und die vierten Kiired konnten unter dem Namen Noor-Eesti und damit als erstes Noor-Eesti-Album ausgeliefert werden. Im Gegensatz zu den Kiired eröffnete Suits hier mit einem explizit programmatischen Aufsatz, der durch seine Länge von 17 Seiten zwar keinen direkten Manifest-Charakter hat, durch seine Platzierung am Anfang einer neuen Publikation und seinen stellenweise getragenen Sprachduktus aber unstrittig als das Manifest der Gruppierung in die Geschichte eingegangen ist. Der Aufsatz hat den Titel Bestrebungen der Jugend und den Untertitel Einige Gedanken zu unserer Gegenwart. Suits fordert hier Eintracht und ein Gemeinschaftsgefühl ein, das notwendig sei, wenn das todgeweihte Volk überleben will. Eine besondere Verantwortung liege hier bei der Jugend, die eine eigenständige Meinung entwickeln müsse und nicht blindlings dem Alten folgen dürfe, wenngleich es auch beim Alten Bewahrenswertes gebe. Grundlegend aber war, dass dem alten Noblesse oblige das neue Jeunesse oblige entgegengesetzt wurde: Das Lexem »jung« oder »Jugend« sowie Zusammensetzungen damit kommen 28-mal im Text vor. Erreicht werden könne eine Erneuerung nur durch ein Mehr an Kultur, genauer gesagt: an europäischer Kultur – wobei gar nicht näher definiert wurde, was Europa eigentlich bedeutete. Aber es war deutlich, dass mit Europäisierung die Emanzipierung vom deutschen Paradigma gemeint war. Die Befreiung »des geknebelten Estenvolkes […], dessen natürliche Entwicklung das ›baltische Mongolenjoch‹ um 600 Jahre aufgehalten hatte« (G. Suits 1908, 341), stand nun an. Das bedeutete auch den Abschied von der Bauern-

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kultur, die bislang als das einzig spezifisch Estnische angesehen worden war und weswegen deren Vergangenheit häufig heroisiert worden war. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit müsse nun aber ein Ende haben, es gehe um die Gegenwart. Epp Annus (2005) hat hier eine Parallele zu Nietzsche und dessen Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) aufgezeigt. Die Überwindung der Vergangenheit heißt bei Suits auch die Überwindung des Bäuerlichen und Provinziellen. Dabei muss man sein Estentum indes nicht abstreifen, man kann es behalten, muss es nur neu definieren. Das mündet folgerichtig in die bereits zitierte Losung ein: Lasst uns Esten sein, aber lasst uns auch Europäer werden! Wie das geschehen sollte, wurde auf den folgenden Seiten erläutert, die darauf hinwiesen, dass gerade in Kunst und Literatur der europäische Geist vermisst werde und dass man sich nun, da eine gebildete Generation heranwachse, darum bemühen müsse. Und zwar direkt, nachdem bislang die Wahrnehmung alles Europäischen durch den deutschen Filter erfolgt war. Nun sei es an der Zeit, sich eigenständig um eine Rezeption der europäischen Kultur zu bemühen. Nur so ist die »Öffnung nach Europa« aufzufassen. Trotz der Verschwommenheit des Europabegriffs wird das literarische Programm deutlich. Es ist dasselbe wie bei den Kiired: originale Literatur, direkte Übersetzungen aus anderen europäischen Literaturen, Befassung mit der Literatur auf angemessenem Metaniveau. Hinzu kommt noch eine Propagierung der modernen Kunst. Tiit Hennoste (2005, 754) hat darauf hingewiesen, dass das erste Album inhaltlich betrachtet eigentlich im Widerspruch zu seinem einleitenden Manifest steht und dass erst ab dem dritten Album den eigenen Forderungen auch tatsächlich Rechnung getragen wurde. Andererseits war ja auch ein Punkt des Programms, dass man eine Art Bestandsaufnahme machen wollte, und das ist mit dem ersten Album sicherlich gelungen. Neben Originalerzählungen von Tuglas, Ansomardi, GrünthalRidala oder Jaan Lattik gibt es hier Gedichte von Suits, Haava, Enno, Juhan Liiv, Grossschmidt und anderen, ein kurzes Schauspiel von Kitzberg, Übersetzungen von Baudelaire, einen Essay zu Aho und Reproduktionen zeitgenössischer Kunst. Eine solche Vielfalt zwischen zwei Buchdeckeln hatte es bislang noch nie auf Estnisch gegeben. Und der Verkaufserfolg zeigte den Herausgebern, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Hiervon beflügelt und im Rausch der Freiheitszeit Ende 1905 stellte Tuglas im gleichen Jahr eine weitere Anthologie zusammen, die größtenteils mit Beiträgen von ihm, Linde und Suits gefüllt war und unter dem Titel Võitluse päivil (In den Tagen des Kampfes) erschien. Daneben gibt es einen Essay zur Frauenfrage, Gedichte von Marie Heiberg sowie Texte von einigen weiteren Autoren. Mit dieser schnellen Folgepublikation war die Gruppe beinahe schon etabliert; das Be-

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sondere an diesem Almanach war, dass es sich hierbei um das erste zensurfreie estnische Druckerzeugnis aller Zeiten handelte, sieht man von Peter Ernst Wildes Zeitschrift aus dem 18. Jahrhundert und nicht genehmigten Drucken wie etwa denen der Herrnhuter (s. § 13) ab. Die weitere Entwicklung war nicht ganz so rasant, was allein schon an den unsicheren politischen Umständen lag, die viele Personen ins Ausland zwangen. Dennoch konnten in den folgenden Jahren noch vier Noor-EestiAlben erscheinen: Das zweite 1907, das dritte 1909, das vierte 1912 in Helsinki, und das letzte 1915 wieder wie gehabt in Tartu. Damit nicht genug, kamen 1910/11 auch fünf Hefte einer Zeitschrift mit dem gleichen Titel heraus, ferner von 1914 bis 1916 die Zeitschrift Vaba Sõna (Das freie Wort). Nicht zu Unrecht bemerkte Bernhard Linde (2005 [1918], 68) in seinen Erinnerungen an die zehn Noor-Eesti-Jahre mit einigem Stolz, dass in ihren Publikationen ungefähr 200 Autorinnen und Autoren vertreten waren. Wenn man dann die im gleichen Satz angeführten hundert Personen hinzuzählt, die Veröffentlichungen von Noor-Eesti in der einen oder anderen Form rezensiert haben und die sich nur begrenzt mit der erstgenannten Gruppe überschneiden werden, wird ersichtlich, in welchem Ausmaße Noor-Eesti die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts dominiert hat. Alles was Rang und Namen hatte, war irgendwie beteiligt. Der Zusammenschluss hatte sich längst von einem literarischen Zirkel in eine kulturelle Institution verwandelt, die bei der amtlichen Registrierung 1912 61 Gründungsmitglieder zählte, von denen nur ein Sechstel direkt literarisch tätig war. Der jugendliche Erneuerungsimpetus war sachlicher Editionstätigkeit gewichen, und der Verlag NoorEesti wurde zu einem der wichtigsten und angesehensten estnischen Verlage in der Zwischenkriegszeit. Eine Aufzählung aller Texte und Autorinnen und Autoren aus den weiteren Alben kann hier nicht erfolgen, lediglich muss exemplarisch ein besonderer Text genannt werden: die von Johannes Aavik, dem Ideologen der Spracherneuerung (s. u.), verfasste essayistische Novelle Ruth, die 1909 im dritten Album erschienen war und eine bis dahin ungekannte Polemik auslöste. In diesem schon vom Genre her schwierig zu klassifizierenden Text hatte der Autor ein Idealbild von einer seiner Meinung nach emanzipierten Frau entworfen und damit versucht, einen Beitrag zur auch schon von anderen behandelten Frauenfrage zu leisten. Das ist ihm insofern gelungen, als seine Ruth durch ihre Intellektualität einen Frauentyp verkörperte, den es damals in Estland vielleicht wirklich kaum gab, den Aavik während seines Studiums in Helsinki, wo es schon Studentinnen gab, aber kennen gelernt hatte. Andererseits ist der Text weder in künstlerischer Hinsicht besonders hervorstechend noch in wissenschaftlich-essayistischer Hinsicht brillant, er spart nicht

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mit stereotypen Plattitüden über Frauen und kommt mit seiner Einflechtung eines verstaubten Schillerzitats auch nicht gerade allzu modern daher. Seine Einsortierung in die Belletristik hat dieser Text allein dem Umfeld seines Erscheinens, eben in einem der Noor-Eesti-Alben, zu verdanken. Wäre dieser Text anderswo erschienen, wäre er längst – und zu Recht – völlig vergessen. Das Beispiel von Aaviks Ruth zeigt wieder einmal, wie wichtig der Ort des Erscheinens für das weitere Schicksal eines Textes oder einer Person ist. In diesem Zusammenhang ist wichtig zu beachten, dass in den Noor-Eesti-Alben nicht nur zeitgenössische oder junge Autorinnen und Autoren publiziert wurden, sondern dass ein ums andere Mal auch der »Älteren« gedacht wurde. Hier mag der Hinweis auf Juhan Liiv (§ 23), den die Jung-Esten »wiederentdeckten« und für den sie Geldsammlungen durchführten, und auf Kristian Jaak Peterson (§ 16), der ohne die Publikation seiner Gedichte in den NoorEesti-Alben noch heute unentdeckt im Literaturarchiv ruhen würde, genügen. Ferner ist die Förderung der Kunst durch die Aufnahme von Reproduktionen zeitgenössischer und eben estnischer Künstler von großer Bedeutung gewesen, konnte man doch nun auch auf diesem Gebiet zeigen, dass es hier Eigenständiges gab (1906 war die erste estnische Kunstausstellung in Tartu gewesen). Und schließlich war die Gruppierung mit ihren Publikationen für die Entwicklung der Kritik wichtig: Erstmals stand hier das Werk im Mittelpunkt, es ging nicht mehr allein darum, wie gut oder wie schlecht jemand die Realität wiedergegeben hatte, sondern in der Literaturkritik griff ein ästhetisches Denken Raum. Überflüssig zu sagen, dass die Herstellung des Kontaktes mit anderen europäischen Literaturen als eines der Hauptanliegen der Gruppierung ebenfalls ziemlich erfolgreich war. Dabei beschränkte man sich nicht auf die Übersetzung fremdsprachiger Literatur, sondern bemühte sich auch um konkrete Mitarbeit aus dem Ausland. Es ist klar, dass eine so relativ umfassende Bewegung in einer vergleichsweise kleinen Kulturgemeinschaft aneckt und auf Kritik stößt. Die Rezeption von Noor-Eesti war keineswegs einhellig und euphorisch, aber alles andere wäre auch unnormal gewesen. Und natürlich war Kritik auch angebracht, wie es bei Gruppierungen, die eine Art Alleinvertretungsanspruch erheben, nicht anders sein kann. So schrieb Juhan Luiga, einer der schärfsten Kritiker, in seiner Rückschau über die Anfangsjahre von Noor-Eesti spöttisch: »Das Kind machte bei der Geburt viel Lärm« (Luiga 1917, 225), womit er den Nagel auf den Kopf traf: Klappern gehört bei literarischen Gruppierungen nun einmal zum Geschäft, wenn man Erfolg haben will. Aus der Sicht der Jung-Esten selbst haben sie diesen Erfolg ganz sicher gehabt, denn hundert Jahre später noch ist der Name in aller Munde in Estland. Der Nachteil dieser starken Kanonisierung – und eben von Kanonisierungen überhaupt – ist jedoch, dass

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alles, was nicht unmittelbar mit Noor-Eesti in Zusammenhang gebracht werden kann, unweigerlich in Vergessenheit gerät. Man tut gut daran, die kritisch-relativierenden Worte von Hugo Raudsepp nicht zu vergessen: »Unsere Literatur hat sich schon in ihren ersten Schritten an Europa orientiert.« (H. Raudsepp 1922a, 339). Das bedeutet aber, dass Noor-Eesti gar nicht so einzigartig war, wie man immer glauben machen will. Der Gruppierung kann kein Alleinvertretungsanspruch für »ihr« Jahrzehnt (1905–1915) eingeräumt werden (vgl. §§ 27, 28). Die Spracherneuerung Von einer neuen Zeit kann trotzdem in anderer Hinsicht die Rede sein: Zum ersten Mal haben wir es mit einer Personengruppe zu tun, die sich bei der Berufswahl nicht mehr für einen praktischen Brotberuf entscheidet, d.h. im Falle eines Universitätsstudiums Jura oder Medizin wählt oder lediglich die Lehrerausbildung an einem Lehrerseminar macht; Aavik, Grünthal und Suits studierten Sprachen und Literaturen – im Übrigen alle drei in Helsinki, dessen Bedeutung für die gesamte Noor-Eesti-Bewegung damit nochmals unterstrichen wird. Sie gingen ihren Neigungen nach und wählten – das war vor hundert Jahren nicht anders als heute – eine brotlose Kunst als Studienfach. Aber erstens haben sie alle damit später doch ihr Brot verdienen können, und zweitens war dies notwendig für einen Programmpunkt der genannten Europäisierung, die auch eine Emanzipation von der deutschen Majorisierung war, nämlich die Reformierung und Modernisierung der estnischen Sprache. Alle Kultursprachen sind von ihrer ersten schriftlichen Fixierung an in verschiedenem Ausmaße Normierungs- und Reformierungsbestrebungen unterworfen gewesen, und bei vielen gab es irgendwann in der Sprachgeschichte eine als Spracherneuerung oder Sprachreform bezeichnete Periode, aber in kaum einem Fall ist das so radikal geschehen bzw. versucht worden wie in Estland. Das liegt an der relativ kleinen, überschaubaren Sprachgemeinschaft, dem besonderen Druck, dem das Estnische jahrhundertelang ausgesetzt war, und zu einem Gutteil auch am Intellekt und der Energie einer Person: Johannes Aavik. Aavik ist 1880 auf Saaremaa geboren und besuchte von 1894 bis 1902 in Kuressaare das Gymnasium, wo er gemeinsam mit Grünthal in einem Schülerkreis aktiv gewesen war. 1902 ging er zum Studium der klassischen Sprachen nach Tartu, wo es ihn aber nur ein Jahr hielt. Danach lernte er weiter am historisch-philologischen Institut in Neˇzin in der Ukraine, und von 1906 bis 1910 studierte er an der Universität Helsinki romanische Philologie, finnische Sprache und Literatur und Folkloristik. Nach dem Abschluss war er

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kurzzeitig in Jalta Gymnasiallehrer für Französisch, wurde dort aber wegen sozialdemokratischer Umtriebe bald wieder entlassen und ging zurück nach Kuressaare. Von 1912 bis 1914 arbeitete er beim Postimees, anschließend war er als Estnisch-, Latein- und Französischlehrer im Schuldienst an verschiedenen Schulen in Tartu und Kuressaare. Parallel dazu bekleidete er von 1926 bis 1933 das Amt des Estnischlektors an der Tartuer Universität, später war er dort auch Privatdozent. Gleichzeitig war er im Bildungsministerium als Schulinspektor angestellt. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs ging er ins Exil nach Schweden, wo er Anstellungen an den Universitäten in Uppsala und Stockholm und ein Forschungsstipendium erhielt. Lange Zeit war er in verschiedenen Funktionen innerhalb der estnischen Exilgemeinschaft aktiv und starb hochbetagt 1973 in Stockholm. Aaviks Studien und intensive Beschäftigung mit anderen Sprachen hatten ihn zu der Überzeugung kommen lassen, dass das Estnische in vielerlei Hinsicht mangelhaft, unpraktisch, unterentwickelt und stellenweise auch nicht schön sei. Gerade der letzte Aspekt ist wichtig: Es gab nämlich manche Deutsche, die Estnisch schön fanden, und weil Aavik gegen alles Deutsche war, musste er aus Prinzip auch diese Estophilen mit etwas schockieren. Außerdem zeigt dieser Aspekt, wie sehr es hier auch um ästhetische, also künstlerische Fragen ging. Jedenfalls war für Aavik auf dem Weg nach Europa unentbehrlich, dass die Esten sich dabei auch einer zeitgemäßen Sprache bedienten, die die auffälligen deutschen, und in weniger großem Umfange auch russischen, Einflüsse abstreifen und sich auf ihre eigenen Grundlagen besinnen musste. Im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entwickelte er seine Gedanken und publizierte sie in zahlreichen Schriften und eigens dafür gegründeten Serien. 1924, als die heiße Phase der Spracherneuerungsbewegung gerade abflaute, erschien noch einmal eine Zusammenfassung der extremsten Reformvorschläge von Aavik sowie die Prinzipien der Spracherneuerung, die sich reduzieren lassen auf die drei Schlagwörter Zweckmäßigkeit, nationale Eigenart, Schönheit. Die Änderungsvorschläge betrafen alle Sphären der Sprache von der Orthographie über die Morphologie und Syntax bis hin zur Lexik. In vielen Bereichen fand eine Orientierung am Finnischen statt, dessen Orthographie – wie es bereits Mitte des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen war – diesmal dahingehend zum Vorbild genommen wurde, dass man das allzu deutsch anmutende ü durch das finnische y ersetzen wollte. Diese – relativ kleine und kosmetische – Änderung konnte sich nicht durchsetzen, wenngleich das Graphem y als besonderes Stilmittel oder im elektronischen Schriftverkehr gelegentlich auch heute noch Verwendung findet. Ein Unterschied in der Aussprache besteht nicht. Andere Veränderungen, besonders im Wortstel-

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lungsbereich und begrenzter auch in der Morphologie, haben sich aber durchgesetzt, so dass der Reformbewegung der Erfolg nicht abgesprochen werden kann. Am nachhaltigsten drückte die Spracherneuerung der Lexik, im engeren Sinne der Wortbildung, ihrem Stempel auf. In diesem Bereich gab es auch am meisten zu tun, denn zum einen bestand im Rahmen einer sich verändernden Gesellschaft und der sich damit ändernden Rolle des Estnischen ein großer Bedarf an neuen Wörtern, zum Zweiten brauchte man zusätzlich Wörter für die als unliebsam eliminierten Fremd- und Lehnwörter. Auch hier konnte man sich zum Teil in Finnland bedienen, weil sich das Finnische mit seiner ähnlichen Sprachstruktur gut für die estnische Zunge eignete. So sind in dieser Phase zahlreiche finnische Lehnwörter in das Estnische eingedrungen. Aber Aavik dachte sich noch eine andere Methode aus, nämlich die völlig willkürliche Bildung von neuen Wörtern. Ausgehend von der Saussure’schen Erkenntnis, dass die Zuordnung von Inhalt und Form bei Wörtern in der Regel arbiträr ist, beschloss er, auf Basis der ihm bekannten estnischen Phonotaxe theoretisch denkbare, aber (noch!) nicht existierende Wörter zu entwerfen und ihnen eine Bedeutung zuzuordnen. Die Schaffung von Neologismen ist in allen Sprachen der Welt ein tagtäglich praktiziertes Phänomen, aber normalerweise stützt man sich hier auf vorhandenes Wort- oder Morphemmaterial, das man anders zusammenstellt: So ist der deutsche Fernseher als Übersetzung der griechisch-lateinischen Television entstanden, aber fern und sehen gab es im Deutschen schon vorher. Was Aavik tat, war etwas völlig anderes: Er stellte nach phonotaktischen Richtlinien und zum Teil völlig mechanisch neue Klangkörper zusammen, eliminierte die bereits vorhandenen und solche, die existierenden Wörtern zu nahe standen, beurteilte sie nach ihrer Schönheit und entließ sie, nachdem er ihnen eine Bedeutung beigegeben hatte, in die Freiheit: Ab heute mögen wir Esten den Gegenstand oder das Phänomen XY mit dem Wort xyz bezeichnen. Das Erstaunliche ist, dass sich einige der so auf dem Reißbrett entworfenen Wörter tatsächlich durchgesetzt haben, mithin heute im Estnischen Wörter fest verankert sind, die es vor hundert Jahren noch mit keiner Spur gab und die auch keine jüngeren Lehnwörter sind. Diese Methode der Wortschatzerweiterung ist beispiellos und hat daher auch weit außerhalb engerer Fachkreise Beachtung gefunden. Dass eine sozusagen von oben verordnete Einbürgerung neuer, willkürlich geformter Wörter überhaupt möglich ist, liegt an der relativ geringen Sprecherzahl Estlands und der noch vergleichsweise dünnen Intellektuellenschicht zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Andererseits herrschte auch damals schon ein genügend breites Spektrum, das zu verschiedenen Fraktionen führte und für erbitterte Diskussio-

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nen in der Sprachenfrage sorgte. Das ist mit ein Grund dafür, dass sich viele von Aaviks Vorschlägen auch nicht durchsetzten. Ein anderer Grund mag eine Fehleinschätzung von Aavik gewesen sein: Was er als notwendig für die Etablierung einer eigenen Stimme innerhalb des Chors der europäischen Sprachen ansah – nämlich das Hervorheben vermeintlich estnischer Besonderheiten –, sahen andere als Ballast bzw. Trennung von Europa an. Man sollte nach Meinung des Professors für Estnische Sprache in Tartu, Andrus Saareste, nicht mit Gewalt versuchen, die Germanismen des Estnischen auszumerzen, denn die gehörten einfach zu den Esten und würde ihre Zugehörigkeit zur mentalité européenne beweisen (Saareste 1937, 34). Mit anderen Worten: Um Europa ging es allen, nur wie man dahin kommt oder ob man da nicht vielleicht doch schon war – daran schieden sich die Geister. Das aber war wohl das beste Zeichen dafür, dass man längst Bestandteil dessen war, worüber man so heftig diskutierte.

§ 26 Symbolismus Modernisierung der Dichtung Die Jung-Esten beschränkten sich nicht auf das Organisieren von Publikationen, Übersetzen ausländischer Literatur und Herausposaunen von Losungen. Sie schrieben auch selbst und wirkten an der Umsetzung ihres Programms eifrig mit. Damit setzten sie die schon bestehende Kontinuität der estnischen Literatur fort. Die Subsumierung unter dem Terminus »Symbolismus« ist dabei wiederum nur eine ungefähre Andeutung und keine strenge Klassifizierung. Damit soll angedeutet werden, dass sich manche Gestaltungselemente dieser großen europäischen Strömung tatsächlich in dieser Literatur wieder finden lassen, andererseits dürfte klar sein, dass auch bei früheren Dichtern wie beispielsweise Juhan Liiv (vgl. § 23) symbolistische Elemente auszumachen waren. Ferner ist zu berücksichtigen, dass in diese Zeit auch völlig andere Strömungen fallen können (s. § 28) und dass nicht alle Autorinnen und Autoren zum Kreise der Jung-Esten gehören. Zweifellos war aber der wichtigste Lyriker in dieser Periode mit Gustav Suits einer der Köpfe der Jung-Estland-Bewegung. Seine erste Gedichtpublikation erfolgte 1899 in einer Zeitung, als der Autor noch keine 16 Jahre alt war. In den folgenden Jahren waren kontinuierlich Gedichte des Gymnasiasten in Zeitungen erschienen, und 1905 erfolgte das Buchdebüt mit dem Band Elu tuli (Feuer des Lebens – wobei der Titel streng genommen ambig ist und auch mit ›Das Leben kam‹ übersetzt werden könnte, allerdings verbietet

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sich diese von Matthews [1950, 119] vorgeschlagene Lesart nach der Lektüre des Titelgedichts, in dem es unzweideutig um Feuer geht). Die 43 Gedichte des Bandes waren teilweise noch romantisch geprägt, enthielten aber schon einige neue Elemente, die ausreichten, das Buch zu einem Symbol für die neue Lyrik werden zu lassen. Zu diesen neuen Elementen gehörte neben der aktuellen Thematik auch ein besonderer Variantenreichtum in der Metrik. Ferner war es der stark revolutionäre, stürmische und nach Freiheit lechzende Ton der Gedichte, der insbesondere bei der jüngeren Generation in Estland für eine begeisterte Aufnahme des Buches sorgten. Elu tuli war im Revolutionsjahr – in Helsinki gedruckt – erschienen, und wurde zum Symbol für die Aufbruchstimmung im Lande, die Ausformulierung des Sturm und Drang, der im Programm der Jung-Esten schon durchschimmerte. Ebenso deutlich war hier und da der Einfluss des etwas älteren und wesentlich bekannteren finnischen Dichters Eino Leino zu spüren (s. Sinimets 1937), mit dessen Werk Suits seit 1902 in Berührung gekommen war und den er im Frühjahr 1905 auch persönlich kennen gelernt hatte. Leino rezensierte daraufhin Suits’ Debütband in der wichtigsten finnischen Tageszeitung (vgl. Webermann 1961). Die beiden Dichter hatten bis zu Leinos Tod Kontakt miteinander, wobei es intensive und weniger intensive Phasen gab. Eine wahre Leino-Begeisterung entstand in Estland aber erst nach dem Ersten Weltkrieg, als der finnische Dichter 1921 Estland bereiste. Umgekehrt war auch Leino von Estland eingenommen und wollte sogar seine Staatsangehörigkeit wechseln (Lilja 1981). Trotz der allgemein sehr positiven Aufnahme – endlich war der provinzielle Mief überwunden und das Tor zu einer modernen Welt aufgestoßen! – gab es auch Kritik an Suits’ Dichtung, so nahmen konservativere Kreise Anstoß an der manchmal durchschimmernden Erotik, und die Entdeckung des Reimpaares Jumalad – rumalad (Götter – Dummköpfe) wird manchen verärgert haben. Aber alles andere wäre beim Debüt eines 21-jährigen, revolutionär gestimmten Dichters auch überraschend gewesen. Suits war ein behutsamer Dichter, der lange an seinen Texten feilte und sorgfältig mit dem Wort umging. Das führte dazu, dass seine Produktion insgesamt gesehen nicht sehr umfangreich ist. Erst acht Jahre später, 1913, erschien zeitgleich mit der zweiten Auflage seines Debüts sein zweiter Gedichtband, Tuulemaa (Windland). Wie beim ersten Band ist den verschiedenen Zyklen ein Eröffnungsgedicht vorangestellt, das gleich darauf hinweist, dass es vorbei ist mit der stürmischen Revolutionsromantik und nun ein anderes Lied gesungen wird. Tatsächlich hat sich der Band weit von seinem Vorgänger entfernt und ist durchzogen von Enttäuschung und einem gewissen Pessimismus. Nach der Euphorie des Aufbruchs ist Ernüchterung eingetreten. In

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düsteren Farben werden die Empfindungen eines Menschen, der introspektiv und kontemplativ geworden ist, wiedergegeben. Auch der Natur kommt in diesen Gedichten ein viel größerer Stellenwert zu, wie schon an der symbolträchtigen Überschrift zu sehen ist, die von nachfolgenden Generationen immer wieder verschiedenen Interpretationsansätzen unterworfen worden ist: Das mythische Ultima Thule, das dem Wind ausgesetzte, auch hilflos ausgelieferte Heimatland, der Wind, der das revolutionäre Feuer des ersten Bandes auslöscht (Oras 1993, 2533) und anderes mehr. Man kann hier sicherlich nach Einflüssen von französischen oder russischen Symbolisten suchen, auch zur zeitgenössischen deutschen Dichtung gibt es Parallelen, andererseits ist klar, dass die zwischen dem ersten und dem zweiten Band liegenden politischen Ereignisse ebenso für den Stimmungswandel des Dichters verantwortlich gemacht werden können. Nur hinsichtlich der Form schließt der zweite Band an den ersten an oder weist sogar noch über ihn hinaus, was die souveräne Beherrschung verschiedener Reimtechniken betrifft. Mit ihm begründete Suits den späteren Ruhm seiner Dichtung als »Poetikschule für die nachfolgenden Generationen« (Muru 1985, 69). Es verging wieder ein ähnlich langer Zeitraum bis zum nächsten Buch von Suits, das 1920 in Gestalt einer Sammlung früherer Liebesdichtung herauskam, worin auch einige neuere Gedichte aufgenommen waren (Ohvrisuits, ›Opferrauch‹). 1922 publizierte der Dichter eine längere im Stile der Volksdichtung geschriebene Ballade Lapse sünd (Geburt eines Kindes) und seine dritte umfangreiche Sammlung mit neuen Gedichten, Kõik on kokku unenägu (Alles ist nur ein Traum). Mit dieser Sammlung, die abermals in eine neue historische Periode Estlands fällt, festigte Suits endgültig seine Stellung als einer der wichtigsten Erneuerer der estnischen Lyrik. Der Titel ist Calderóns La vida es sueño (Das Leben ein Traum, 1634/35) entlehnt, wie der belesene und sich der Lebensmitte nahe fühlende Autor in der Vorbemerkung erläutert: »Ist es nötig, sich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts seinem vierzigsten Lebensjahr zu nähern, um sich die Erkenntnis des alten Calderón de la Barca in Erinnerung zu rufen La vida es sueño – Das Leben ist ein Traum! Diese Erkenntnis hat mich dennoch schon mehr als einmal überrascht während meiner Wanderungen im Windland.« (zit. nach G. Suits 1992, 157.) Diese Vorbemerkung ist als Hintergrundinformation für die folgenden Gedichte zu lesen, die ohne die einschneidenden Ereignisse wie Weltkrieg, Exil, Revolution und Erlangung der Eigenstaatlichkeit kaum denkbar wären. Die Lyrik dieses Bandes ist demzufolge häufig auch als »Zeitdichtung« (vgl. § 31) charakterisiert worden, da sie ganz anders als im stark symbolistischen Tuulemaa viel konkreter auf die den Dichter umgebende äußere Welt Bezug nehmen. Damit stand der Dichter allerdings nicht mehr alleine, denn mittler-

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Gustav Suits 1904

weile hatten einige andere debütiert und waren auch neue Gruppierungen, teils unter Beteiligung von Suits selbst, entstanden (vgl. §§ 28, 29), aber die Intellektualität des erfahrenen Dichters mit hohem Abstraktionsvermögen hoben seine streckenweise komplizierte Dichtung auf ein besonderes Niveau. Damit hatte Suits sein Werk, das an Formenreichtum in der bis dahin erschienenen estnischen Lyrik seinesgleichen suchte, vorerst abgeschlossen. In den 1930er-Jahren widmete er sich seiner Forschungstätigkeit und befasste

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sich nur noch mit Neuausgaben seiner Gedichte, wobei er die Texte nicht selten gründlich redigierte. Neuland betrat er mit der Publikation einer Übersetzungsanthologie moderner niederländischer Dichtung (1937), die bis dahin in Estland so gut wie gar nicht rezipiert worden war. Vergleichbares leistete er im schwedischen Exil, wo er 1950 eine Blütenlese schwedischer Lyrik auf Estnisch herausbrachte. Im Exil, genauer gesagt schon während des Zweiten Weltkriegs in Estland, begann der Autor, wiederum gezwungen durch die äußeren Umstände, auch wieder zu dichten. Seine letzte Sammlung, Tuli ja tuul (Feuer und Wind) erschien 1950 in Stockholm und ist geprägt vom persönlichen Schicksal, insbesondere von der Erfahrung des Exils. Gustav Suits hat wie kaum ein anderer die nachfolgenden Generationen von Dichterinnen und Dichtern beeinflusst, bei denen man immer wieder Zitate, Verweise oder Entlehnungen finden kann. Ohne die Leistung des Dichters schmälern zu wollen, muss freilich festgehalten werden, dass diese enorme Wirkung nicht ausschließlich an dem hohen Innovationsgehalt seiner Dichtung, der gar nicht bestritten werden soll, lag, sondern auch an der exponierten Stellung des Dichters. Gustav Suits war als Kopf der Noor-EestiGruppierung, Herausgeber, Literaturforscher, Übersetzer, Ideenpropagierer und Inhaber des einzigen Lehrstuhls, der sich mit Literatur befasste, eine Institution. Es war die Kombination von Suits’ Dichter- und Organisationstalent, die die 1905 eingeläutete »Europäisierungskampagne« letztlich zum Erfolg geführt hat. Als zweiter, eng mit der Noor-Eesti-Gruppierung verbundener Dichter ist Villem Grünthal-Ridala zu nennen. Er war 1885 auf Muhu, der kleinen Insel zwischen Saaremaa und dem Festland, geboren worden und besuchte von 1897 bis 1905 das Gymnasium von Kuressaare, wo er wie erwähnt mit Aavik zusammentraf und den Kern der dortigen Schülerzusammenschlüsse bildete. Im Zuge der Revolution von 1905 wurde er inhaftiert, was literaturhistorisch insofern relevant war, als er im Gefängnis Friedebert Tuglas (s.u.) kennen lernte. 1906 wurde er aber wieder aus der Haft entlassen, so dass er sein Studium der finnischen Sprache und Literatur, Folklore und skandinavischen Geschichte in Helsinki fortsetzen konnte. Nach dem Studienabschluss war Grünthal-Ridala von 1910 bis 1919 Lehrer in Tartu, anschließend ging er als Stipendiat zur Weiterbildung wieder an die Universität von Helsinki. Hier fand er 1923 auch eine Anstellung als Lektor für estnische Sprache und Literatur, die er bis zu seinem Tode 1942 innehatte. Mit dem Dichten hatte Grünthal-Ridala bereits in seiner Gymnasialzeit begonnen, in den ersten Alben von Noor-Eesti erschienen dann folgerichtig auch seine ersten Gedichte, 1908 erfolgte sein Buchdebüt mit dem schlichten Titel Villem Grünthali Laulud (Villem Grünthals Lieder). Weitere Bände

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folgten 1914, 1915 und 1918. Von Anfang an nahm er mit seinen Gedichten eine Sonderrolle innerhalb der estnischen Lyrik ein. Obwohl er organisatorisch eng mit Noor-Eesti verbunden war, war seine Dichtung stellenweise archaisch, doch ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch: Grünthal-Ridalas Spracherneuerung bestand gerade in der Verwendung von Archaismen, Dialektalismen und einem Rückgriff auf die Sprache der Volksdichtung. Für ihn war das Finnische Vorbild, das tatsächlich in vielerlei Hinsicht etwas ältere, weniger abgeschliffene Formen der ursprünglich gemeinsamen ostseefinnischen Ursprache zeigt. Seine Dichtung, die in groben Zügen als symbolistisch und impressionistisch charakterisiert werden kann, konzentrierte sich auf die Natur und verhehlte nicht die Herkunft ihres Schöpfers: die Inselregion und das Meer. Dabei war die Stimmung manchmal elegisch oder zumindest melancholisch, was durch die Formulierung der Dichtung als lange und dadurch leicht langatmige Poeme in archaischer Sprache noch unterstrichen wurde. Damit hatte Grünthal-Ridala eigentlich gar keinen Erfolg beim Lesepublikum, nur einige seiner Naturgedichte sind heute in weiten Kreisen bekannt. Seine Kolleginnen und Kollegen schätzten Grünthal-Ridalas Dichtung aber durchaus. In späteren Werken wandte er sich noch mehr der Volksdichtung zu und verfasste in diesem Stile Dichtung, so auch eine Neufassung des Kalevipoeg – wie alle Mitglieder der Noor-Eesti-Gruppe hielt er nichts von Kreutzwalds Kunstschöpfung –, die aber unpubliziert blieb und sich derzeit im Nachlass des Dichters befindet. Grünthal-Ridala ist auch als Übersetzer aus dem Finnischen, Griechischen, Italienischen und Ungarischen in die Geschichte eingegangen, zumal er in seinen Übersetzungen ebenfalls seine extremen Sprachauffassungen anwandte. Beispielsweise wurde seiner Übersetzung von D’Annunzios Roman L’innocente am Ende ein 28-seitiges Glossar beigefügt, das die Dialektismen und Neologismen erklärte. So hatte auch Grünthal-Ridala neben Aavik seinen Anteil an der Spracherneuerung, auch wenn er weniger lautstark in Erscheinung trat. Damit hatte er vieles gemein mit Ernst Enno, den er als Einziger der Noor-Eesti-Gruppe schätzte (s. Mäger 1985). Ernst Enno war ohne Zweifel der wichtigste außerhalb der Noor-EestiGruppe stehende Dichter dieser Epoche. An seiner Person wird noch einmal die ganze Problematik der Kanonisierung anhand von Gruppen und Strömungen deutlich: Seine ersten Gedichte erschienen bereits 1896 in der Presse, als noch niemand an die später den Beginn des 20. Jahrhunderts dominierende Formierung dachte. Als die dann 1905 mit ihrem ersten Album an die Öffentlichkeit trat, waren »ein oder zwei Gedichte von Enno« dort nicht aufgenommen worden, »weil sie uns zu modern und unverständlich waren«, wie sich Bernard Linde später erinnert (Linde 2005, 23). In den fol-

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genden Jahren debütierte Enno auch in Buchform, stieß aber auf teilweise vernichtende Kritiken. Erst nach seinem Tode kam ihm der verdiente Ruhm zu, indem er gemeinsam mit Juhan Liiv, Suits und Grünthal-Ridala zu den wichtigsten Lyrikerneuerern gerechnet wird. Ernst Enno ist 1875 im Landkreis Tartu geboren und ging ab 1886 in Tartu zur Schule. Von 1896 an war er auf dem Rigaer Polytechnikum, wo er Handelswissenschaft studierte und Deutsch und Französisch lernte. Er absolvierte die Lehranstalt 1904, nachdem er das Studium zuvor aus Geldmangel unterbrochen und ein Jahr für den Postimees Übersetzungen angefertigt hatte. Im journalistischen Bereich, 1904/05 bei Linda, 1906 bei Isamaa (Vaterland), war er auch danach tätig, von 1906 bis 1909 widmete er sich ausschließlich dem Dichten und lebte auf dem Hof seiner Eltern. 1909 wurde er Bankangestellter, parallel dazu war er bald auch im Schuldienst tätig, so dass er nach Erlangung der Unabhängigkeit Schulrat in Westestland wurde. 1934 ist er in Haapsalu gestorben. Die ersten Gedichte von Enno erschienen in einem längeren Zyklus im Zeitraum zwischen 1902 und 1905 in der Presse und wurden allein schon deswegen nicht als eigenständige Sammlung wahrgenommen. Sie erklären aber, warum der Dichter seinem 1909 verlegten Debütband den Titel Uued luuletused (Neue Gedichte) gab. Hier hatte er sich vom freien Vers seiner früheren Gedichte entfernt und sich für ein festes Metrum entschieden. Die Kritik war nicht vernichtend, hier und da sogar anerkennend, im Grundton aber zurückhaltend. Das betraf auch seinen zweiten Band, Hallid laulud (Graue Lieder, 1910), und änderte sich nicht bei den zwei anderen noch zu Lebzeiten erschienenen Bänden, die beide 1920 herauskamen. Danach verfasste Enno vorwiegend Kinderlyrik und war auch als Redakteur bei einer Kinderzeitschrift tätig. Einen annähernden Überblick über sein Werk erhielt man erst Ende der 1930er-Jahre, aber viele Gedichte wurden 1998 erstmalig in einer relativ vollständigen Ausgabe seiner Gedichte publiziert. Ennos Dichtung ist, wie insbesondere der Titel seiner zweiten Sammlung vermuten lässt, vom Grundton her gefühlsbetont, traurig, fast schwermütig, melancholisch, die Vergänglichkeit der Welt betonend. Durch ihre reichlich verwendete Symbolik ist Enno vielleicht der reinste Vertreter des Symbolismus jener Zeit, aber seine Gedichte sind auch als impressionistisch bezeichnet oder mit dem – wenig aussagekräftigen (vgl. § 28) – Begriff neoromantisch charakterisiert worden. Alle diese Bezeichnungen haben ihre Berechtigung, denn in der Wiedergabe von konkreten persönlichen Eindrücken und Gefühlserlebnissen war Enno ebenso wortgewandt wie beim Verschaffen von Einblicken in die menschliche Seele allgemein. Spürbar ist, dass sich der Autor viel mit östlichen Kulturen und Religionen beschäftigt hat, womit er sei-

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nen Horizont und den seiner Leserschaft erheblich erweiterte. Dabei ging es ihm sowohl um den Nahen Osten wie auch um Indien und Fernost. Obwohl er sicherlich beeindruckt war von der Lektüre Maeterlincks und Rilkes, beschränkte er sich nicht auf den »Import« anderer europäischer Literaturen, sondern ging weiter. Er probierte neue Formen aus, von ihm stammt beispielsweise das erste estnische Gasel. Damit überwand er den Europazentrismus in einer Zeit, als die Jung-Esten sich gerade erst Europa zuwandten. Dieser Gegensatz zur herrschenden Strömung führte zwangsläufig dazu, dass Ennos Dichtung nur vereinzelt und zögerlich rezipiert wurde. Je größer der Abstand wurde, desto mehr begann man jedoch den Dichter, der zwar nie völlig vergessen war, der aber aufgrund seiner vergleichsweise zurückgezogenen Lebensweise auch nie sehr bekannt gewesen war, wieder zu entdecken. Nicht nur seine Kindergedichte gehören zum Standardrepertoire der estnischen Kinderstube, auch seine übrigen Gedichte sind von zahlreichen Komponisten vertont worden und haben daher nicht selten als Lieder große Verbreitung erlangt. Ernst Enno war als Dichter eigenständig und allein und damit vielleicht seiner Zeit voraus. Eine weitere wichtige Dichterin der Zeit war Marie Heiberg, die als »Wunderkind« mit 16 Jahren ihren ersten Gedichtband veröffentlichte und auf große Anerkennung stieß. Sie ist 1890 in Südestland geboren und erhielt nur eine lückenhafte Schulbildung. Als 14-Jährige publizierte sie ihre ersten Gedichte in der Zeitschrift Linda, 1906 erschien ihr Debüt Mure-lapse laulud (Lieder eines Sorgenkinds), dem sie 1913 ihren zweiten, und gleichzeitig letzten, Band folgen ließ. 1910 war noch eine Erzählung von ihr gedruckt worden, 1914 eine Sammlung mit Briefen, damit endete ihr Werk. Denn während des Ersten Weltkriegs machten sich erste Zeichen einer Geisteskrankheit bei der Dichterin bemerkbar, die seit 1907 in Tartu lebte und sich dort aktiv am literarischen Leben beteiligte. Nun umnebelte die Autorin ihr Werk mit Mystifikationen, indem sie Vorankündigungen von bald zu erscheinenden Büchern in der Zeitung erschienen ließ, denen aber stets nur ein paar knappe Auszüge folgten, weil es das genannte umfangreiche Werk offenkundig nicht gab. 1919 wurde sie zum ersten Mal in eine Anstalt eingeliefert, aber bald wieder entlassen. Danach streunte sie, die sich für die – zu jenem Zeitpunkt längst hingerichtete – Tochter des letzten russischen Zaren hielt mehr oder weniger orientierungslos durchs Land, ehe sie 1923 endgültig in einer geschlossenen Anstalt verschwand. Hier starb sie, längst tot geglaubt (s. Eelmäe 1966, 25), erst 1942 während – und höchstwahrscheinlich infolge – der deutschen Besetzung Estlands. Die beiden Gedichtbände von Heiberg, die zufällig in denselben Jahren wie die beiden ersten Gedichtbände von Suits erschienen sind, können in

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ihrer poetischen Suche als Verbindungsstück zwischen Haava und Suits interpretiert werden (Kepp 1990). Im ersten Gedichtband gibt es an Haava gemahnende sehnsuchtsvolle Lieder, aber auch an Suits erinnernde revolutionär gefärbte Gedichte. Der zweite Band ist von der Form her gestraffter und inhaltlich stärker an der symbolistisch-impressionistischen Zeitströmung orientiert. In der Phase der sich wandelnden, erneuernden und diversifizierenden estnischen Lyrik kommt damit auch Heibergs Dichtung eine wichtige Position zu. Vom revolutionären Schüler zum Literaturpapst Eine der Besonderheiten der Noor-Eesti-Gruppe war, dass viele ihrer Mitglieder auf mehreren Gebieten aktiv waren. So war Aavik Sprachforscher, Übersetzer und Schriftsteller (s.u.), Suits Dichter und Literaturwissenschaftler und -historiker, Grünthal-Ridala ebenfalls Dichter und Philologe. Eine weitere, damit zusammenhängende Besonderheit war, dass die Tätigkeit der Gruppe nicht auf ein Gebiet oder eine Gattung beschränkt blieb, sondern sich auf mehrere Bereiche ausdehnte. Neben der Literatur waren auch Kunst und Sprachpflege betroffen, und innerhalb der Literatur befasste man sich nicht nur mit der Dichtung, die in hektisch-stürmischen Umbruchszeiten häufig als führendes Genre angesehen wird, da die notwendige Ruhe zum Abfassen längerer Prosa halt fehlt, sondern auch mit Prosa. Der wichtigste Prosaist und prinzipiell einer der führenden Köpfe von Noor-Eesti sowie einer der prägendsten estnischen Literaturpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts war Friedebert Tuglas. Friedebert Mihkelson, wie der Schriftsteller bis 1923 mit bürgerlichem Namen hieß, wurde 1886 auf dem Gut Ahja, wo sein Vater als Tischler angestellt war, ca. 25 Kilometer südöstlich von Tartu geboren. Ab 1896 ging der angehende Autor in kleineren Orten in der Nähe von Tartu zur Schule, seit 1901 befand er sich auf der Stadtschule in Tartu, wo er 1902 zum ersten Mal mit Gustav Suits zusammentraf. Den Schulabschluss machte er 1903 als Externer, nachdem er vorher die Schule verlassen hatte, um einem Rausschmiss zuvorzukommen. Gemeinsam mit Suits hatte er eine Gedenkfeier zum 60. Geburtstag von Koidula und Veske organisiert, was bei den Behörden Argwohn erzeugt hatte. Danach sammelte er ca. ein Jahr lang seine erste journalistische Erfahrung in der Redaktion des Postimees. 1904 beschloss er weiterzulernen und ging auf Treffners Gymnasium, wo er aber infolge der sich bald überschlagenden revolutionären Ereignisse nur ein Jahr lang blieb. Damit hatte sein formaler Bildungsweg, anders als bei Suits und den anderen führenden Personen der Noor-Eesti-Gruppe, frühzeitig ein Ende gefunden.

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Friedebert Tuglas 1906

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Der Schüler war mit sozialdemokratischen Ideen in Berührung gekommen und beteiligte sich im Herbst 1905 aktiv an der Revolution. Er nahm Teil an Demonstrationen, trat als Redner auf, musste während seiner Abwesenheit eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen und wurde erwartungsgemäß Ende 1905 für einige Monate in Tallinn inhaftiert. Nach seiner Freilassung im Frühjahr 1906 lebte er kurzzeitig unter falschem Namen in St. Petersburg, kehrte aber bald wieder nach Tartu zurück, wo er nur knapp einer erneuten Festnahme entkam und sich nach Finnland absetzen konnte. Nun begann für ihn wie für Suits und Vilde eine elfjährige Zeit des Exils. Anders als bei Suits war diese Zeit jedoch wesentlich unruhiger und von vielen Ortswechseln geprägt, im Gegensatz zu Vilde wiederum hatte Tuglas aber für lange Zeit ein Standbein in Finnland, wo er meistens die Sommer auf den Ålandinseln verbrachte, während er ab 1909 jeden Winter in Paris war. Ferner fallen kürzere oder längere Aufenthalte in Belgien, Deutschland und der Schweiz in diese Zeit. Anders als die beiden genannten Kollegen war Tuglas in der Anfangsphase auch mehrmals geheim und unter falschem Namen in Estland, wobei er die Pässe der weniger gefährdeten Freunde Grünthal-Ridala und Suits verwenden konnte. Die Exiljahre waren auch Lehr- und Wanderjahre, denn Tuglas reiste viel, u. a. in Skandinavien, Italien und Spanien und holte auf diese Weise das an Sprach- und Kulturbildung nach, was sich die anderen führenden Köpfe der Noor-Eesti-Gruppe an der Universität aneigneten. Legal zurückkehren nach Estland konnte Tuglas im März 1917. Sofort stürzte er sich in das brodelnde Kulturleben, beteiligte sich an neuen literarischen Gruppierungen (s. § 29) und wurde zu einem der Hauptorganisatoren des sich in der unabhängigen Republik neu sortierenden Literaturbetriebs (s. § 30). Er stieg überdies durch seine essayistische und literaturkritische Aktivität schnell zur anerkannten Autorität auf diesem Gebiet in Estland auf und wurde dementsprechend auch im Ausland wahrgenommen und geehrt. 1926 wählte ihn die Finnische Literaturgesellschaft zu ihrem korrespondierenden Mitglied, 1928 wurde er – drei Jahre nach Vilde – Ehrenmitglied des Finnischen Schriftstellerverbandes, 1937 Ehrenmitglied des Londoner PEN-Zentrums. Während der gesamten Zwischenkriegszeit ist er weiterhin leidenschaftlich gereist und war in Finnland, Skandinavien, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Nordafrika, als hätte er geahnt, dass sich die Grenzen bald wieder schließen würden. Unter der sowjetischen Okkupation wurde dem anerkannten Literaturkritiker, der über keinerlei Universitätspapiere verfügte, 1944 der verwaiste Lehrstuhl von Suits, der ins Exil gegangen war, angeboten. Aber Tuglas lehnte, auch aus gesundheitlichen Gründen, ab und zog es vor, nach Tallinn

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zu übersiedeln. Hier wurde er 1946 korrespondierendes Mitglied der Sowjetestnischen Akademie der Wissenschaften, beschäftigte er sich mit der Redigierung und Herausgabe seiner Werke und nahm am Wiederaufbau des literarisch-kulturellen Lebens teil. Dann ereilte aber auch Tuglas die Fuchtel des Stalinismus, und von Ende 1949 bis 1955 musste er sich mit Übersetzungen, bei denen mitunter nicht einmal mehr sein Name erschien, sein Auskommen verdienen – herausgeworfen aus dem Schriftstellerverband, verhetzt als Volksfeind, getilgt in den Bibliotheken und seiner Ehrungen und Sonderpension beraubt. Nur die Akademie der Wissenschaften hat ihm die Treue gehalten, und dies wird ein Grund dafür gewesen sein, dass Tuglas in seinem Testament sein Haus inklusive Bibliothek und Kunstsammlung der Akademie vermachte. Erst im Mai 1955 erfolgte die vollständige Rehabilitation. Der kränkelnde Schriftsteller konnte noch über fünfzehn Jahre als Grand old man der estnischen Literatur in Tallinn leben. Er beschäftigte sich nun vornehmlich mit der Redigierung seiner Gesammelten Werke, beteiligte sich aber auch rege am öffentlichen literarischen Leben. Kurz vor seinem Tode stiftete er einen Novellenpreis, der seit 1971 verliehen wird und seit diesem Jahr auch den Namen Friedebert-Tuglas-Preis trägt, nachdem der hoch verehrte Autor 85-jährig im April des gleichen Jahres verstorben war. Das Besondere an diesem Preis ist, dass immer zwei Novellen des Vorjahres preisgekrönt werden müssen, denn Tuglas war der Meinung, dass Literatur kein dem Sport vergleichbarer Wettbewerb ist, bei dem es einen ersten Platz geben müsse. Neben seinem literarischen Werk (s. u.), seinen Übersetzungen aus dem Finnischen und Russischen und seiner organisatorischen Tätigkeit ist das umfangreiche literaturkritisch-essayistische Œuvre von Tuglas hervorzuheben. Hiermit übte er großen Einfluss auf die Gestaltung des literarischen Lebens in Estland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Er verfasste Monographien über zeitgenössische estnische Autoren wie Juhan Liiv, A.H. Tammsaare, Mait Metsanurk, Eduard Vilde oder Karl Rumor, Essays über Größen der Weltliteratur wie Ibsen oder Shakespeare, Gesamtdarstellungen der estnischen Literatur, einzelner Stile oder Epochen, und schließlich Literatur- und Kulturkritik aller Art. Bereits 1935–1936 erschien eine achtbändige Ausgabe seiner gesammelten Literaturkritiken. Die auf 15 Bände angelegten und von Tuglas noch selbst zusammengestellten Gesammelten Werke begannen ihr Erscheinen 1986 und sind 2006 bis zum 10. Band vorgedrungen. Kaum jemand in Estland hat die kritische Befassung mit Literatur dermaßen geprägt wie Friedebert Tuglas.

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Meister der Novelle Obwohl Tuglas während seines langen Lebens viel geschrieben hat, lässt sich der Kern seines belletristischen Werkes qua Genre und Entstehungszeit relativ gut eingrenzen. Es geht hier um seine Novellen aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Alles andere ist als marginal zu betrachten. Um bei Letzterem zu beginnen: Unter dem Titel Marginalia (1921, erweiterte Ausgabe 1966) publizierte Tuglas eine Sammlung von Kurzprosa, kleinen Essays, Miniaturen und Aphorismen, mit der er sein eigenes Genre begründete und ein kritischer Kommentator des Zeitgeists wurde. Hier ist eine Parallele zum dänischen Nobelpreisträger Johannes Vilhelm Jensen und dessen Mythen erkennbar. In sehr begrenztem Maße hat Tuglas auch Gedichte verfasst. Einen wichtigen Stellenwert innerhalb seines Werkes, aber auch der estnischen Literatur insgesamt, nehmen seine Reisebeschreibungen ein, in denen er seine Reiseeindrücke aus Spanien (1918, Neuauflagen 1923 und 1938), Nordafrika (drei Teile 1928–1930) und Norwegen (1939) mitteilte. Parallel dazu verfasste er auch schon frühzeitig memoirenartige Texte: 1930 erschien Toompea vanglas (Im Gefängnis des Dombergs), worin seine Erfahrungen aus der Haft von 1905/06 wiedergegeben werden, 1940 erschienen seine Noorusmälestused (Jugenderinnerungen), 1945 Esimene välisreis (Die erste Auslandsreise), wovon 1960 unter dem Titel Mälestused (Erinnerungen) eine erweiterte Neuauflage erschien. An der Schnittstelle zwischen Erinnerungen und Roman befindet sich auch sein Kindheitsroman Väike Illimar (Der kleine Illimar, 1937, Deutsch unter dem Titel Illimar, 1959), der manchmal sogar zur Kinderliteratur gerechnet wird (Tarrend 2005, 370). Hierin beschreibt der Autor das Leben eines etwa fünfjährigen Jungen über den Zeitraum von einem Jahr. Detailliert wird der normale Gang der Welt durch die Sinneswahrnehmungen des Kindes beschrieben, wobei es dem Autor gelingt, unter Einbeziehung von konkreten Kindheitserinnerungen und späterer Recherche aus dem spannungsarmen Sujet ein kompaktes Bild vom Leben auf dem Lande am Ende des 19. Jahrhunderts zu zeichnen. Innerhalb der nur relativ kurzen Zeitspanne von einem Jahr vollzieht sich in dem Jungen eine deutliche Entwicklung, so dass man das Werk einen Bildungsroman nennen kann, der sich durch die psychologische Betrachtungsweise und eine behutsame Abstraktion von der Ebene der bloßen Kindheits- oder Jugenderinnerungen abhebt. Über zwanzig Jahre vorher hatte Tuglas schon einmal ein scheinbar erinnerungsähnliches Werk geschrieben, nur handelte es sich hierbei um die Aufzeichnungen eines nicht einmal Dreißigjährigen, die in der künstlerisch kreativsten und politisch bewegtesten Zeit des Autors abgefasst worden sind:

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1915 war Felix Ormusson erschienen, ein psychologisch-philosophischer Tagebuchroman über einen individualistischen Schöngeist, der über den Sinn des Lebens nachdenkt. Vor dem Hintergrund misslingender Liebesbeziehungen, wobei sich der Protagonist nacheinander in zwei Schwestern verliebt und am Ende das Weite sucht, werden die ästhetischen Gedanken des Autors entwickelt, wodurch der Roman impressionistisch-essayistische Züge annimmt. Einen solchen »Weltschmerztypen« hatte es bis dato noch nicht in der estnischen Literatur gegeben, weswegen Tuglas’ Roman seinerzeit als etwas Neues sehr positiv aufgenommen, aber auch kontrovers diskutiert wurde. Das Novellenwerk von Tuglas umfasst ca. 40 Texte und ist in der Mehrheit in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden. Wie Suits debütierte auch Tuglas als 15-Jähriger mit der 1901 abgefassten und im gleichen Jahr in der Kinderzeitschrift Lasteleht erschienenen Novelle Siil (Der Igel). Seine ersten Novellen waren noch im dorfrealistischen Stil geschrieben, der zum damaligen Zeitpunkt in der estnischen Literatur die Oberhand gewonnen hatte. Bald aber nahmen die novellentypischen Elemente zu – auch wenn Tuglas selbst sich immer als Realist verstanden hat –, d. h. eine Konzentration auf ein ungewöhnliches Ereignis, gepaart mit einer stringenten, in keinem Fall weitschweifigen Erzählweise und mythisch-mystischen Einsprengseln. In der späteren estnischen Literaturwissenschaft ist der Begriff »Novelle« häufig ganz allgemein auf die kürzere Prosaform oder die Short story angewendet worden, aber zumindest bei Tuglas ist die klassische Definition der Novelle im obigen Sinne zutreffend. Sie variieren im Umfang von weniger als 1000 Wörtern bis zu gut 11000 Wörtern und sind gekennzeichnet durch eine sparsame, sorgsam ausgewählte und ausgefeilte Sprache. Tuglas war gegenüber seinen eigenen Texten äußerst anspruchsvoll und hat für spätere Ausgaben seine Texte immer wieder überarbeitet. Die Novellen lassen sich in drei Blöcke einteilen, wobei der erste zehn Novellen aus den Jahren 1901 bis 1908 umfasst, die größtenteils in der Presse oder in den Noor-Eesti-Alben erschienen sind. 1906 debütierte Tuglas in Buchform mit der Novelle Hingemaa (Seelenland), die ebenso wie die wenig später abgefasste Novelle Jumala saar (Die Gottesinsel) direkt die prägenden Erlebnisse der niedergeschlagenen Revolution von 1905 zum Thema hat. Während Hingemaa im realistischen Stil die bedrückende Lage der landlosen Bauern beschreibt, treten bei Jumala saar stärker die symbolistischen Elemente in den Vordergrund: die – freilich heidnische – Gottesinsel als vorgestellte bessere Welt, die aber Vision bleibt und sich in Wohlgefallen auflöst. Der zweite Block umfasst den Zeitraum von 1914 bis 1925, in denen sich Tuglas auf dem Höhepunkt seiner literarischen Produktion befand. In den

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drei Novellenbänden Saatus (Das Schicksal, 1917), Raskuse vaim (Der Geist der Schwere, 1920) und Hingede rändamine (Seelenwanderung, 1925) publizierte er ein gutes Dutzend Novellen. Sie alle waren zuvor in Zeitschriften oder Alben erschienen. In ihnen wird die Stimmung der Zeit beklemmend eingefangen, einer Zeit, die durch die Vorahnung und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs gekennzeichnet ist. Das führt zu einer pessimistischen Grundhaltung bis hin zur Weltuntergangsthematik. Am eindrücklichsten hat Tuglas dies in der Novelle Popi ja Huhuu (Popi und Huhuu, 1914) formuliert. Die beiden im Titel genannten Namen gehören einem Hund und einem Affen, die eines Tages von ihrem Herrn allein gelassen werden. Während der Hund Popi ängstlich und sehnsüchtig auf Herrchen wartet, begibt sich der Affe Huhuu, nachdem er seine Käfigtür aufgebrochen hat, zum Entsetzen Popis auf eine ausgelassene Entdeckungstour. Er schlüpft in die Rolle des ausbleibenden Hausherrn, zieht dessen Kleider an, trinkt dessen Wein, bringt aber dem Hund auch gelegentlich Fleisch. Das endet nach einigen Wochen nicht nur im Chaos, sondern in der totalen Auslöschung der beiden. Der Affe hatte einen rätselhaften Kasten entdeckt, den er nicht öffnen konnte, so dass er ihn auf den Boden schmettert, woraufhin das Haus in einer Explosion zusammenstürzt. In dieser Allegorie beschrieb Tuglas seine Vision von dem, was geschieht, wenn die »ordnende Hand« verschwindet, aber auch, wie sofort wieder neue Machtstrukturen entstehen. Tuglas selbst, der nicht schnell mit seinen eigenen Texten zufrieden war, äußerte sich zurückhaltend positiv über diese Novelle und hielt sie für einen seiner gelungensten Texte. Dabei ist es eine bittere Ironie des Schicksals, dass das hier beschriebene Chaos zu Tuglas’ Lebzeiten gleich zweimal eingetreten ist und dass der Autor, als er 1944 ins zerstörte Tartu zurückkam, im Garten seines bis auf die Grundmauern abgebrannten Hauses unter den Bäumen ein einziges Büchlein fand – Popi ja Huhuu, dessen Schlusssatz 1914 exakt beschrieb, was dreißig Jahre später mit dem Haus des Autors geschah: »Die Flamme stieg bis an die Decke. […] Und das Haus stürzte krachend zusammen.« (vgl. Tuglas 1997, 14). Als zweite charakteristische Novelle dieser Periode kann Vabadus ja surm (Freiheit und Tod, 1914) genannt werden. Hier wird das deprimierende Bild von einem Gefangenen gezeichnet, der aus seinem Zellenfenster heraus die Menschen in der Freiheit beobachtet, sich nach der Freiheit sehnt, sie durch mühselige Arbeit auch erlangt – und draußen angelangt nach wenigen Augenblicken tot zusammenbricht. Völlig ausgehungert hatte er noch einem Bettler im Zweikampf das Brot entrissen und es im Laufen in sich hineingestopft, das war alles. Diese pessimistische Einstellung – man kann nichts mit dem anfangen, wonach man sich lange gesehnt hat, oder gar: Freiheit ist Tod – findet sich in etlichen von Tuglas’ Novellen.

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Schließlich muss die Novelle Maailma lõpus (1915; dt. Am Rande der Welt, 1935) als Paradebeispiel der Tuglas’schen Novellistik angeführt werden. Tuglas entnahm das Motiv der Reise ans Ende der Welt dem Kalevipoeg (s. § 18) und beschreibt eine unwirkliche und phantastische Scheinwelt, in der die Hauptperson auf eine Insel verschlagen wird, auf der Riesen leben. In symbolträchtigen Bildern wird die Auseinandersetzung des Menschen mit den Urkräften der Natur dargestellt. Hierzu gehört auch die Liebe, die der Held in Gestalt einer begehrenswerten, rätselhaften und letztlich Unheil bringenden Riesin kennen lernt. Mit Müh und Not gelingt es ihm am Ende, sich aus ihrem Bann zu lösen und die Insel zu verlassen. Insgeheim sehnt er sich später aber nach jener anderen Welt zurück. Tuglas verschmolz in dieser Novelle Urängste mit extremen Erfahrungen zu einem atemberaubenden Ganzen. Die späteren Novellen sind nach einer längeren Pause, während der Tuglas sich der Literaturwissenschaft gewidmet und unter anderem den Roman Väike Illimar (s. o.) verfasst hatte, geschrieben worden. Aufgrund der politisch abermals wechselvollen Zeiten sind sie zum Teil erst später publiziert worden. Von ihnen verdient die Erzählung Viimne tervitus (Der letzte Gruß) besondere Erwähnung: Sie ist bereits 1941 verfasst worden, konnte jedoch erst 1957 erscheinen. Es ist eine waschechte Sciencefiction-Geschichte, die nach dem 4. Weltkrieg spielt, der alles vernichtet und die Menschheit in die Barbarei zurückkatapultiert hat. Unter Verwendung des beliebten Motivs eines »gefundenen Manuskripts« – im fraglichen Fall stammt es aus dem Simplontunnel – bringt Tuglas das Tagebuch eines Überlebenden, der sein Leben in den Trümmern fristet und plötzlich bemerkt, dass in seiner Umgebung, die bislang ausgestorben war, Menschen aufgetaucht sind. Es sind die »neuen Barbaren«, mit denen der Autor der Handschrift lieber den Kontakt vermeiden will. Er zieht es vor, das Weite zu suchen und sendet einen »letzten Gruß« in Gestalt des nachgelassenen Manuskripts. Das ist einerseits die Fortsetzung der »alten« Weltuntergangsthematik, die schon bei Popi ja Huhuu anklang, andererseits auch ein Aufgreifen der »neuen« Weltuntergangsthematik, wie sie nach der Erfindung der Atombombe allerorten entstand. Tuglas war mit seiner 1941 verfassten Novelle einer der Pioniere auf diesem Gebiet gewesen, nur hatte er das Pech, dass seine Novelle erst 1957 an die Öffentlichkeit gelangte, als die Thematik zwar noch nicht abgegriffen, aber schon lange nicht mehr so neu war. Mit seinem Novellenwerk, das in viele Sprachen übersetzt ist und wovon 1961 auch eine umfangreiche deutsche Ausgabe erschienen ist, lieferte Tuglas einen substanziellen Beitrag nicht nur zur modernen estnischen Prosa, sondern auch zur europäischen Geistesgeschichte insgesamt, denn in ihm lässt sich kaum Epigonales dingfest machen.

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Andere Prosa vom Beginn des 20. Jahrhunderts Wie bei den Novellen von Tuglas schon deutlich wurde, sind nicht alle Texte dieser Periode im strengen Sinne symbolistisch, und Suits und Tuglas hatten Zeitgenossen, die anders schrieben. Es ist gerade ein Kennzeichen der Diversifizierung, dass diese nicht nur in einer Vermehrung der Autoren, Texte und Genres besteht, sondern dass zeitgleich verschiedene Stilrichtungen und Generationen durcheinander publiziert werden. Und so sind im Fahrwasser von Vilde eine ganze Reihe von jungen Prosaisten an die Öffentlichkeit getreten, die sich teils im Bereich des Realismus bewegten, teils aber auch dessen Gegenströmungen, mögen sie nun als impressionistisch oder symbolistisch etikettiert werden, zuzuordnen waren. Als wichtigster Autor – sieht man von einigen weiter unten ausführlicher behandelten wie Tammsaare (§ 32), Gailit (§ 33), Metsanurk (§ 33) oder Luts (§ 27) ab – ist Jakob Mändmets zu nennen, dessen Debüt noch in das 19. Jahrhundert fällt. Damit formt er ein wichtiges Bindeglied zu den nur wenig älteren Autoren wie Eduard Vilde oder Ernst Peterson-Särgava. Mändmets ist 1871 auf Saaremaa geboren und erhielt als 17-Jähriger seine erste Stelle als Lehrer. Bis 1902 war er im Schuldienst tätig, 1903 wechselte er, als er sich bereits als Schriftsteller einen Namen gemacht hatte, in die Redaktion der radikalen Zeitung Uus Aeg (Neue Zeit) in Tallinn. Nach deren 1905 erfolgter Schließung war er bis zu seinem Tode 1930 in verschiedenen anderen Tallinner Zeitungsredaktionen angestellt. Seine ersten realistischen Dorfgeschichten waren seit 1897 in der Presse erschienen, 1899 erfolgte sein Buchdebüt, dem in den nächsten Jahren sehr schnell weitere Bände mit Erzählungen folgten. Zwischen 1900 und 1904 sind zehn Bücher von ihm erschienen. Hierunter befanden sich auch einige historische Erzählungen und spannende Unterhaltungsliteratur, den wichtigsten Bestandteil bildeten aber die exakten Beschreibungen des zeitgenössischen, ärmlichen Lebens auf dem flachen Lande, mit denen Mändmets einen bedeutenden Beitrag zum aufkommenden kritischen Realismus leistete. Berühmt geworden ist zum Beispiel seine 1900 erschienene Erzählung Juhisaare kiriku kellamees (Der Glöckner der Kirche von Juhisaare), worin die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem immer noch geltenden Patronatsrecht, das einzig dem Adel die Entscheidung über die Besetzung von Pfarrstellen zugestand, zum Ausdruck gebracht wird. Eine Folge hiervon war nämlich, dass Ende des 19. Jahrhunderts, als mehr und mehr estnische Theologen von der Tartuer Universität zur Verfügung standen, diese kaum Aussicht auf eine Pfarrstelle hatten, weil die örtliche Oberschicht alles daransetzte, ihre Kandidaten, die mitunter nicht einmal gut genug Estnisch konnten, auf die Posten

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zu bekommen. Die Erzählung kulminiert in der Konfrontation zwischen der Dorfbevölkerung und dem neuen Pastor bzw. dessen Gehilfen und endet tragisch mit Totschlag und anschließendem Selbstmord des Täters. Sie ist später unter dem Titel Uus õpetaja (Der neue Pfarrer) erschienen und regelmäßig neu aufgelegt worden. In seiner zweiten Schaffensphase ab 1911 verließ Mändmets gelegentlich die Bahn des Realismus zugunsten einer romantischen Darstellungsweise, was ihm besonders mit der geheimnisvoll-düsteren Sammlung Meri (Das Meer, 1914) gelang. In allen fünf hierin enthaltenen Novellen haftet dem Meer etwas Rätselhaftes und auch Gefährliches an, was darin gipfelt, dass die Helden jeweils im Meer den Tod finden. Mit seiner letzten Novellensammlung, Läbi rädi (Durchs Gestrüpp, 1927), brachte der Autor noch einmal detaillierte Milieubeschreibungen und vereinte auf diese Weise Realismus und Romantik. Mändmets ist ein gutes Beispiel für die Entfaltung der estnischen Literatur in der Anfangsphase des 20. Jahrhunderts, da er kein herausragender Autor mit einem sensationellen Werk war, sondern durch seine Beständigkeit ganz einfach für eine Verbreiterung des Fundaments sorgte. An dieser Verbreiterung beteiligten sich in der Folge immer mehr Autorinnen und Autoren. Jaan Lintrop publizierte 1909 und 1910 zwei Novellensammlungen, die von der Estnischen Literaturgesellschaft mit einem Trostpreis bedacht wurden und seinerzeit viel diskutiert wurden. Die prägnanten realistischen Beschreibungen aus dem Dorf- und Stadtleben waren damals schon lange nichts Neues mehr, und auch eine 1911 erschienene romantischsentimentale autobiographische Erzählung stieß auf harsche Kritik. Thematisch origineller war Kustas Kotsar, der im Zuge der Revolution von 1905 ins Gefängnis geriet und dort seine Erzählungen schrieb, die in zwei Sammlungen 1911 und 1913 erschienen. Die Beschreibung der Lebensumstände von politischen Gefangenen mit eingebauter Liebesgeschichte, den unter diesen Bedingungen erschwerten Kommunikationsmöglichkeiten und einem tragischen Ausgang war damals tatsächlich ein neues Thema. Immer wieder schlichen sich nun auch naturalistische Elemente in die Prosa ein. Bereits wesentlich früher, in den 1880er-Jahren, hatte Georg Eduard Luiga debütiert, aber erst seine späteren Erzählungen, die gebündelt 1912 in der Sammlung Vägivallamaal (Im Land der Gewalt) erschienen, verschafften dem Autor als Dokumentator des Elends in Sibirien und der unmenschlichen Bürokratie des Zarenreichs einen Namen. Das Elend armseliger Dorfbewohner ist häufig auch das Thema in den Erzählungen von Oskar Truu, die zwischen 1906 und 1910 entstanden sind. Gleiches gilt für Alide Ertel, die ein etwas umfangreicheres Werk vorzuweisen hat. Sie hatte bereits seit 1898 in der Presse publiziert und legte 1910 die Erzählung Rooste (Rost) vor, worin

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sie das erbärmliche Leben in einem Armenhaus, wo die Mittellosen ihren Lebensabend verbringen, schilderte. In ihren weiteren Werken behandelte Ertel memoirenhaft die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und widmete sich aktuellen sozialen Themen wie der Frauenfrage und den gesellschaftlichen Randgruppen. Hierin ist sie Marta Lepp (Pseudonym Sophia Vardi) vergleichbar, die 1914 und 1919 Prosasammlungen mit ähnlicher Thematik vorlegte. Was die Erweiterung des Themenspektrums anbetrifft, so kann an dieser Stelle noch Ansomardi genannt werden, der 1887 in die Armee eingetreten war und die Offizierslaufbahn eingeschlagen hatte. Ab 1897 schrieb er für den Postimees und andere Zeitungen. Neben erfolgreichen Kinderbüchern sind seine Erzählungsbände von 1909 und 1910 hervorzuheben, weil in ihnen das Armeeleben, und zwar kritisch und mit manchen Schattenseiten, beschrieben wurde. Damit hatte die estnische Literatur in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein Stadium erreicht, in dem verschiedene Strömungen miteinander wetteiferten und die Zahl der Autorinnen und Autoren sprunghaft angestiegen war. Überdies haben zusätzlich zu den Genannten noch weitere Personen in dieser Phase debütiert, die entweder in einem späteren Kapitel behandelt werden oder aber wegen ihrer zu geringen Bedeutung nicht separat erwähnt werden können. Denn die estnische Buchproduktion insgesamt war in diesen Jahren schier explodiert: 1911 und 1913 war beinahe täglich ein neues Buch erschienen, die Durchschnittsbuchproduktion in den Jahren 1901 bis 1917 betrug 235 Titel pro Jahr, in den ersten 18 Jahren des 20. Jahrhunderts wurden ebenso viele Bücher verlegt wie in den knapp vier Jahrhunderten davor zusammengenommen (Zahlen nach Antik 1936). Auch wenn die Belletristik nur einen Bruchteil davon ausmachte, ist klar, dass auch ihr Anteil erheblich gestiegen war.

§ 27 Die Geburt der »Klassiker« Kanonformung Wenn man berücksichtigt, dass die erste ausführliche Gesamtdarstellung der estnischen Literatur 1898 (Hermann) erschien, dass auch die beiden schmalen Bände von Sander (1899, 1901) in diese Periode fallen und dass die ersten beiden Bände von Kampmanns vierbändiger Literaturgeschichte ebenfalls im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts publiziert wurden, ist es angemessen, die allmähliche Herausbildung eines Kanons der estnischen Literatur gerade für diese Phase der Diversifizierung anzusetzen. Außerdem bestand 1918

§ 27 Die Geburt der »Klassiker«

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nach der Errichtung eines selbstständigen Staates mit eigenem Schulwesen und dem Fach »Estnisch« an der Universität der Bedarf an einer Zusammenstellung derjenigen Texte, die man fürderhin als »klassische« Texte der estnischen Literatur anzusehen gedachte. Dies geschah nicht unbedingt ex cathedra oder zentral geregelt, aber da nun in zunehmendem Maße Schulbücher und Lehrpläne entworfen werden mussten, brachte dies auf relativ organischem Wege eine Kanonformung mit sich. Es kommt hinzu, dass aufgrund der Diversifizierung zu Anfang des 20. Jahrhunderts mittlerweile so viele Texte vorlagen, dass im Rahmen einer späteren Gewichtung eine Sondierung stattfinden musste. Mit der Überschrift »Die Geburt der Klassiker« ist nicht gesagt, dass in dieser Periode alle später als »klassisch« in den Kanon eingegangenen Texte entstanden wären oder ihre Autorinnen und Autoren debütiert hätten. Koidula und Kreutzwald wurde ohne Diskussion ein Platz im Kanon eingeräumt. Tatsächlich aber sind in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erstaunlich viele Texte entstanden oder Debüts zu verzeichnen, die später einen Teil des Kanons ausmachten: Tammsaares Debüt fällt in das Jahr 1900, die »großen« Romane von Vilde, denkt man an seine historische Trilogie, erschienen 1902–1908, zwei wichtige Gedichtbände von Suits kamen 1905 und 1913 heraus, und auch das Debüt von Marie Under (in Buchform 1917) fällt in diese Periode, ebenso die Wiederentdeckung von Kristian Jaak Peterson und Juhan Liiv. Außerdem gibt es noch einen weiteren Grund, in diesem Kapitel einen Paragraphen mit diesem Titel einzuschieben. In dem Moment nämlich, in dem eine Gesamtdarstellung sich weitestgehend an Strömungen, Generationen oder Genres orientiert – was im Interesse der überschaubaren Anordnung des Materials unumgänglich ist –, gibt es immer einige Autorinnen oder Autoren, deren Werk sich nur schwer in diese Schablonen einpassen lässt. Wenn hierunter Personen sind, deren Werk dennoch unbestreitbar zum »klassischen« Kanon gerechnet werden muss – weil sie viel gelesen und interpretiert werden oder weil sie etwas Außergewöhnliches zu bieten haben –, so besteht die Gefahr, dass sie aufgrund der Uneinpassbarkeit in die gewählten Kategorien unter den Tisch fallen. Er soll damit noch einmal die Problematik explizit machen, die einschlägigen Periodisierungen und Kategorisierungen anhaftet, denn mit Oskar Luts’ Roman Kevade (Frühling, s.u.) ist genau dies passiert: Es handelt sich hierbei um das in Estland unangefochten bekannteste Buch der estnischen Literatur, aber in einer neueren Gesamtdarstellung der estnischen Literatur wurde es schlicht »vergessen«, d.h. es wird nur jeweils in einem Klammerzusatz zweimal am Rande erwähnt (Epp Annus et al. 2001, 162, 193), während

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der Autor durchaus mehrmals genannt wird. Das löste in der estnischen Öffentlichkeit und auch in der Literaturkritik einen Sturm der Entrüstung aus, ist aber leicht zu erklären, worauf Tiit Hennoste (2003b, 1064) bereits hinwies. Der Roman ist nämlich in einer Periode erschienen, die gemeinhin durch die Noor-Eesti-Gruppe charakterisiert und bestimmt worden ist, passt inhaltlich aber ganz und gar nicht in diese Phase der »Öffnung nach Europa«. Die zwangsläufige Folge war, dass er ganz übersehen wurde. Das aber macht eine Gesamtdarstellung der estnischen Literatur insofern unvollständig, als ein im Bewusstsein des größten Teils der estnischen Bevölkerung unstrittig vorhandener Text keine Berücksichtigung gefunden hat. Unbedarfte Leserinnen und Leser erhalten somit eine völlig falsche Vorstellung vom Stellenwert dieses Buches innerhalb der estnischen Kultur. (Es tut hier nichts zur Sache, dass diese Gruppe der »Unbedarften« zunächst rein hypothetisch ist, denn Epp Annus et al. 2001 ist auf Estnisch abgefasst, und wer das Buch lesen kann, hat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Luts’ Kevade längst gelesen. Es geht ums Prinzip: Man kann in einer Gesamtdarstellung nicht Dinge weglassen, »die ohnehin jeder kennt«, so wie man in einem englisch-deutschen Wörterbuch auch nicht den Eintrag für yes weglassen kann, weil »doch jeder weiß, was das bedeutet«!) August Kitzberg läuft zwar weit weniger Gefahr »vergessen« zu werden, aber seine Behandlung an dieser Stelle erschien vernünftig, da er sich aufgrund seines Werdegangs nur schwierig in die vorangegangenen Paragraphen einpassen ließ. Während es bei Luts wohl auch die Uneinheitlichkeit bei der Genrezuweisung seines Hauptwerks war, ist es bei Kitzberg die Schwierigkeit der Generationseinordnung, denn er war Mitte fünfzig, als er sein wichtigstes Werk schrieb und im Übrigen auch Schatzmeister der Noor-Eesti-Gruppe wurde, deren Mitglieder allesamt eine Generation jünger waren. Die beiden Genannten sind sicherlich nicht die Einzigen mit einer derartigen Problematik, aber da sie heute unstrittig zu den »Großen« der estnischen Literatur gezählt werden, ist ihnen hier ein eigener Paragraph zugewiesen worden. August Kitzberg August Kitzberg wurde 1855 auf dem Lande in Südestland, zwischen Pärnu und Viljandi unweit der Grenze zum lettischen Sprachgebiet, geboren und erhielt seine erste Schulbildung bei seinem Bruder, der Lehrer in einem nahe gelegenen Dorf war. 1871 folgte er seinem Bruder, der eine andere Stelle angetreten hatte, und half ihm in der Schule, gleichzeitig trat er seine erste Stellung als Gemeindeschreiber an. Er stieg auf zum Gerichtsschreibergehilfen, wurde danach Gerichtsschreiber und bald Notar. Verbunden mit diversen

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Ortswechseln war er bis 1891 in diesem Bereich tätig. Dann musste er das Amt niederlegen, da er nicht genügend Russisch konnte, was im Zuge der Russifizierung mittlerweile von Personen in seiner Position verlangt wurde. Nach einer Durststrecke mit schwankenden Einkommen oder auch ganz ohne Erwerbstätigkeit wurde er 1894 Büroangestellter in einer Fabrik im lettischsprachigen Gebiet, 1898 fand er eine vergleichbare Position in Riga. Dort besuchte er häufig das Deutsche Theater, lebte ansonsten aber relativ zurückgezogen. Erst 1901 fand Kitzberg wieder den Weg zurück nach Estland, wo er in Tartu Geschäftsführer beim Postimees wurde. Diese Stellung hatte er bis 1904 inne, danach wechselte er als Bankangestellter wieder in sein altes Metier und war hier bis 1920 tätig. In diese Phase seines Lebens fiel auch sein Engagement für die Noor-Eesti-Gruppe, deren Schatzmeister er nach der 1912 erfolgten offiziellen Registrierung wurde. Im neu gegründeten Staat erhielt der mittlerweile anerkannte Schriftsteller dann eine Pension und konnte sich seinen Memoiren widmen. Er starb 1927 in Tartu. Parallel zu diesem zwar wechselvollen, aber nicht gerade spannend anmutenden äußeren Lebenswandel entwickelte sich langsam und stetig auch der Schriftsteller Kitzberg. Ende der 1870er-Jahre war Kitzberg mit Übersetzungen für Zeitungen, darunter auch ein Schwank von Kotzebue, in Erscheinung getreten, aber eine intensivere Hinwendung zu eigenständigem Schaffen erfolgte erst in der zweiten Hälfte der 1880er-Jahre. Die historische Erzählung Maimu, die ganz der nationalromantischen Tradition verpflichtet ist und mit ihrem Erscheinungsjahr 1892 noch in den »Boom der historischen Prosa« (vgl. § 21) fällt, hatte Kitzberg 1887 abgeschlossen. Es war seine erste größere Arbeit (knapp 20000 Wörter), allerdings konnte er so schnell keinen Verlag dafür finden. Auch der Preis der Estnischen literärischen Gesellschaft von 1889 änderte nichts daran, erst einige Jahre später erschien die Erzählung im Postimees und bald danach auch als Buch. Dann aber wurde sie vom Publikum freundlich aufgenommen und regelmäßig neu aufgelegt. Die im Mittelalter angesiedelte Erzählung behandelt den Kampf der Esten gegen die fremden Eindringlinge. Die Titelheldin Maimu ist die Tochter von Lehte, die den Rittern in die Hände gefallen war und beim Bau des Ordensschlosses eingemauert worden ist, und Venda, der danach seine Tochter alleine aufzieht und als Ältester der Esten den Widerstand gegen die fremde Macht und fremde Religion verkörpert. Nach Vendas Tod lernt Maimu einen jungen Mönch kennen, der estnischer Herkunft ist und als Kind in ein Kloster geraten war. Bernhard, so sein Name, verliebt sich in Maimu, flieht aus der Burg und lebt mit ihr in ihrer Höhle, nachdem er nach einem eigenen Ritus mit ihr in den Stand der Ehe getreten war. Danach werden sie von den Esten, die den Bund einer der ihrigen mit einem Vertreter der fremden Herr-

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schaft nicht billigen, vor Gericht gestellt, nach Anhörung der beiden aber unbehelligt gelassen, weil Bernhard plausibel seine Herkunft und seine Beweggründe hat darlegen können. Kurz danach wird das zuvor bespitzelte Paar jedoch von den Rittern in seiner Höhle aufgespürt und in die Burg gebracht. Maimu lässt sich dort zwar noch von einem Jugendfreund heimlich taufen, wird aber schließlich als Hexe verbrannt. Kurz danach stirbt auch Bernhard, der in der Burg den Spitzel erkannt hatte und in einer Rauferei mit ihm von der Mauer stürzt. Die Erzählung reicht sicherlich nicht an das Niveau von Bornhöhe oder Saal heran: Die Darstellung des historischen Milieus ist wesentlich oberflächlicher, die Komposition ist weniger gelungen, hier und da sind folkloristische Elemente eingeflochten, die Authentizität erzeugen sollen, eher aber die Handlung durchkreuzen und wie Fremdkörper wirken. Aufs Ganze gesehen haften der Erzählung sentimentale Elemente an, die in der damaligen estnischen Literatur eigentlich schon als überwunden galten. Eine Besonderheit ist allerdings die stark antiklerikale Einstellung, die in der folgenden Aussage zum Ausdruck kommt: »Die Ritter nahmen ihnen wohl das Land, aber die Pfaffen nahmen alles, was dem Volk heilig war, das Land und den Glauben der Ahnen.« (Kitzberg 2002, 47). In der Folge schrieb Kitzberg mehrere Erzählungen, die in verschiedenen Zeitungen und Sammlungen publiziert wurden. Später erschienen sie unter dem Titel Dorfgeschichten in fünf Lieferungen (1915–1921) und sind danach immer wieder neu aufgelegt worden. In ihnen erweist sich der Autor als realistischer Erzähler, der die Verhältnisse auf dem Lande hingebungsvoll beschreibt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einer einfühlsamen und humorvollen Beschreibung, nicht so sehr auf der Kritik der sozialen Zustände. Auch wenn diese bisweilen zur Sprache kommen, unterscheidet sich Kitzbergs Prosa ganz klar von den Texten seiner Zeitgenossen, die durch ihre Fokussierung auf die sozialen Ungerechtigkeiten in der gleichen Zeit den kritischen Realismus in Estland begründeten. Kitzberg fährt hier auf einem Nebengleis und steht mit seiner Prosa am Übergang vom Sentimentalismus des 19. Jahrhunderts zum Realismus des 20. Jahrhunderts. Die Übergangssituation ist ferner daran ersichtlich, dass bei der Suche nach Konfliktstoffen die Wahl nicht mehr auf den nationalen Gegensatz zwischen Esten und Deutschen fiel, sondern die sozialen Gegensätze innerhalb der sich in mehrere Schichten aufzuspalten beginnenden Esten selbst thematisiert wurden. Nationale Fragen wurden allenfalls in Gestalt der Problematik der Wacholderdeutschen behandelt, wie es in den beiden auch als Doppelwerk aufgefassten Geschichten Veli Henn (Bruder Henn, 1901) und Hennu veli (Henns Bruder, 1904) geschah. Diese beiden längeren Erzählungen mit 25 000 bzw. 21 000 Wörtern, die im Postimees und erst 1915 in Buchform er-

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schienen, bilden den Höhepunkt von Kitzbergs Prosawerk. In locker miteinander verbundenen Episoden wird mit viel volkstümlichem Humor die Geschichte zweier Brüder erzählt, die auf ihrer Fahrt in den Hafen der Ehe allerlei Widrigkeiten umschiffen müssen. Dabei werden besonders anschaulich einige Wacholderdeutsche beschrieben und lächerlich gemacht, was dem Werk fortwährende Popularität garantiert hat. Hier finden sich auch die berühmtesten Beispiele vom Halbdeutsch, dessen sich die Aufsteiger bedienten: Ja, ja, see on sehr gut, kui härrad rauchivad, siis Mückid ei stechi (Kitzberg 2002, 288), lässt der Autor eine solche Wacholderdeutsche sagen. Man sieht, dass hier nicht nur die Wörter beider Sprachen vermischt werden, sondern auch morphologische Elemente wie das estnische Pluralzeichen -d oder die Endung für die dritte Person Plural -vad an die Lexeme der anderen Sprache gefügt werden. In reinem Deutsch würde der Satz folgendermaßen lauten: Ja, ja, das ist sehr gut, wenn die Herren rauchen, dann stechen die Mücken nicht. Zwei Dauerbrenner auf der estnischen Bühne Nach einigen ersten Fingerübungen auf dem Gebiet der Dramatik legte der 50-jährige Autor 1906 ein Drama vor, das auch hundert Jahre später noch gespielt wird und den Eintritt in die reifere Schaffensphase von Kitzberg markierte. Mit Tuulte pöörises (Im Wirbel der Winde) wurde im August 1906 das erste professionelle Theater in Estland, Vanemuine in Tartu, feierlich eröffnet. Das Stück spielt im Zeitraum 1905–1906 und hat oberflächlich betrachtet eine relativ einfache Handlung mit auch ziemlich wenig auftretenden Personen: Die Bauerntochter Leena steht vor der Wahl, die Ehe mit dem Knecht Jaan oder dem Nachbarsbauern Kaarel zu schließen. Dann wird eine soziale Komponente ins Spiel gebracht, indem Jaan sich als Nachfahre derjenigen entpuppt, die einige Generationen zuvor das Land urbar gemacht hatten, auf dem nun Leenas Vater Jaak – die Mutter ist längst verstorben – sitzt. Jaak hatte den Hof seinerzeit rechtmäßig gekauft, aber Jaan sieht in der gewünschten Ehe mit Leena eine Wiedergutmachung für ein zuvor – in seinen Augen – erlittenes Unrecht. Kaarel ist seinerseits ein aufstrebender Bauer, der allerdings die auch von Jaak gewünschte Heirat mit Leena hinauszögert, weil er erst noch andere Dinge unter Dach und Fach bringen will. Das führt zu Zweifeln und Schwankungen bei Leena, die in eine nur sehr indirekt angedeutete Schwangerschaft (von Jaan) bei Leena einmünden, was aber der Eheschließung mit Kaarel letztlich nicht im Wege steht. Denn Jaan hatte sich mittlerweile so stark den sozialdemokratischen und revolutionären Ideen verschrieben, dass Leena sich Kaarel zugeneigt fühlte. In einer tumultartigen

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Schlussszene stürmen Revolutionäre den Hof von Jaak und Leena, wobei Leena, die mittlerweile Jaans Kind zur Welt gebracht hat, zu Tode kommt. Und zwar durch eine Kugel von Jaan, der im Wirrwarr des revolutionären Handgemenges geschossen hatte. Damit endet das Drama und lässt ziemlich viele Fragen offen. Gerade diese Offenheit – welche Rolle spielt die Revolution von 1905? Welche Rolle spielen die sozialen Strukturen, in denen die ältere Generation über die Ehe der Jüngeren entscheidet? Welche Rolle spielt der eigene freie Wille des Individuums? – führte dazu, dass das Drama den verschiedensten Interpretationen auf der Bühne und in der Literaturkritik ausgesetzt war. Schon die zeitgenössische Kritik kam aus beiden politischen Lagern: Die Linken warfen dem Werk vor, es würde die Arbeiterklasse und die Revolution verleumden, was verständlich ist, denn die aufrührerischen Arbeiter und Knechte werden am Ende als Räuber und Mörder und nicht als edle Streiter für eine bessere Welt dargestellt. Konservativere Kreise wiederum beklagten sich darüber, dass hier der Klassenkampf propagiert würde, denn schließlich sagt Kaarel, der eigentlich »auf der anderen Seite«, d.h. sicherlich nicht auf der Seite der besitzlosen Aufständischen steht, im dritten Akt: »Wenn man die sozialdemokratische Lehre in ihrer reinsten Form betrachtet, so wollen das wohl alle, die dem Leid der Menschheit nicht kaltherzig gegenüberstehen.« Im Jahre 1906 auf einer Bühne des Russischen Reiches ausgesprochen, war so ein Satz wahrhaftig die reinste Propaganda bzw. konnte als solche anund ausgelegt werden. An diesen gegensätzlichen Meinungen sieht man, dass das Stück weit über den politischen Lagern steht und durch seine differenzierte Behandlung des Themas fast schon zeitlos ist, wenngleich die Problematik eng mit dem estnischen Dorfleben um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verbunden bleibt. Der dauerhafte Erfolg des Stückes kann dementsprechend dann auch nicht in der Thematik begründet sein, sondern muss anderswo seine Ursachen haben. Es ist dies zum einen sicherlich die souveräne Sprache mit ihren ebenso flüssig-volksnahen wie technisch meisterhaft komponierten Dialogen und die dramaturgische Komposition ganz allgemein. Zum anderen ist es die subtile, differenzierte und allem voran psychologische Behandlung gesellschaftlicher und politischer Probleme, die sich wenig in schablonenhaftes Denken einpassen lässt und daher auch immer wieder verschiedenen Interpretationen – auf der Bühne und in der Kritik – offen steht. Jede Zeit, jede Inszenierung kann ihre eigenen Schwerpunkte setzen. So wurde beispielsweise in der sozialistischen Periode die Revolutionsthematik besonders hervorgehoben, wobei freilich ein »positiver Held« (!) vermisst wurde und der Autor leider das Wesen des Klassenkampfs nicht begriffen hatte (Alttoa

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1960a, 34, identisch mit EKA III, 158–159). Infolge derselben Sichtweise wird in den meisten Zusammenfassungen Jaan als Hauptperson oder Held des Dramas bezeichnet, obwohl Leena in mehr Szenen vertreten ist und mindestens ebenso gut als Hauptperson bezeichnet werden könnte. Immerhin ringt sich eine spätere Literaturgeschichte dazu durch, Leenas Charakter als den »gelungensten« zu bezeichnen, »dessen kompliziertes Seelenleben überzeugend dargestellt ist« (Epp Annus et al. 2001, 154). Die psychologische Darstellung der im Mittelpunkt des Stücks stehenden Leena ist tatsächlich wesentlich komplexer als die aller anderen Figuren, wodurch das Drama neben der realistischen auch eine psychologische Komponente erhält. Und genau die ist mit verantwortlich für den bleibenden Erfolg des Stücks auf estnischen Bühnen, während im Ausland seinerzeit die Revolutionsthematik im Vordergrund stand: In den 1920er-Jahren wurde es von vielen finnischen Arbeitertheatern und auch in Lettland auf die Bühne gebracht. Einen noch größeren Erfolg landete Kitzberg mit seinem Drama Libahunt (Der Werwolf, 1912). Eine gleichnamige Erzählung hatte der Autor bereits 1891 verfasst, sie war 1891–1892 in der Zeitung Olevik erschienen. Bald nach der Premiere von Tuulte pöörises machte sich Kitzberg, nachdem er zwischendurch zwei weitere Dramen angefertigt hatte, an die Erstellung einer Bühnenversion, die 1911 bei der Einweihung des Theaters in Pärnu gegeben wurde. Allerdings waren weder diese Uraufführung noch die im gleichen Jahr in Tartu erfolgte Aufführung ein Publikumserfolg, aber nach der Publikation des Textes 1912 trat das Stück schnell seinen Siegeszug auf den estnischen Bühnen an, der bis heute nicht aufgehört hat. Es ist ähnlich wie Luts’ Kevade dermaßen tief im literarisch-kulturhistorischen Gedächtnis der Esten verankert, dass man seine Behandlung gelegentlich schon mal vergisst, wie ein neueres Schulbuch zeigt, wo das Drama lediglich in einem Abschnitt über Grundbegriffe des Dramas als Beispiel für eine Tragödie genannt wird, ansonsten aber im ganzen Buch, das eigentlich das gesamte 20. Jahrhundert behandeln will, fehlt (Riismaa et al. 2002, 113). Das Stück ist ungefähr am Beginn des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Noch auffälliger als bei Tuulte pöörises ist auch hier die Hauptperson eine Frau, Tiina. Ebenso ist die oberflächliche Handlung wieder ein Dreiecksverhältnis, nur mit umgekehrten Vorzeichen, denn waren es dort zwei Männer, die um eine Frau stritten, so sind es hier zwei Frauen, die um einen Mann werben. Im ersten Akt, der als Prolog angesehen werden kann, warten Großmutter, Mutter, Sohn Margus und Adoptivtochter Mari an einem stürmischen Winterabend in der Wohnstube auf die Rückkehr des Hausherrn, während draußen die Wölfe heulen. Der Vater war mit dem Knecht im Dorf gewesen und berichtet bei der Rückkehr von der Hinrichtung einer Hexe am Schandpfahl der

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Kirche. Kurz danach heulen erneut die Wölfe, und ein Kind stürzt zur Tür hinein. Es ist Tiina, die Tochter der zu Tode gefolterten Hexe. Sie wird etwas widerwillig, letztlich aber doch barmherzig in die Familie aufgenommen. Die drei folgenden Akte spielen zehn Jahre später, als die Mädchen herangewachsen sind. Tiina, die ausgelassen, ungestüm und freiheitsliebend ist, und Margus lieben einander, während auch Mari ein Auge auf den Sohn des Hauses geworfen hat. Sie ist die von den Eltern gewünschte Partie und versucht nun Tiina mit Gerüchten und Halbwahrheiten anzuschwärzen. Das Gerücht vom Werwolf macht die Runde. Margus steht zu Tiina, kann aber nicht verhindern, dass sie in der Johannisnacht in den Wald flieht, um den Hänseleien der Dorfjugend zu entkommen. Als sie danach erst nach geraumer Zeit wieder zurückkehrt, ist die Stimmung im Haus umgeschlagen. Tiina wird nun auch von ihren Adoptiveltern verdächtigt, ein Werwolf zu sein, und von dem sich als feige erweisenden Margus, der den Skandal scheut, fallen gelassen. Sie verschwindet wieder im Wald. Analog zum ersten Akt ist der fünfte Akt dann als Epilog zu lesen: Er spielt fünf Jahre später, Margus und Mari sind inzwischen verheiratet, die Adoptiveltern gestorben, nur die blinde Großmutter lebt immer noch. Wieder ist es ein kalter Winterabend, an dem die Wölfe heulen. Als Margus mit dem Gewehr zur Tür geht und schießt, ertönt ein menschlicher Aufschrei, wenig später wird Tiina verwundet in die Stube getragen, wo sie wenig später in den Armen ihres geliebten Margus stirbt. Der Grundkonflikt des Stückes liegt in dem Aufeinanderprallen zweier Welten, wie sie die lange Zeit der Unterdrückung hervorgebracht hat. Er wird verkörpert von den Hofbewohnern auf der einen Seite, deren Credo des Festklammerns an alten Traditionen von der Großmutter formuliert wird, und der nicht nur dem Neuen aufgeschlossenen, sondern nach Neuem und damit auch Unkonventionellem lechzenden Tiina auf der anderen Seite. Sie steht alleine, während die Mehrheit gekennzeichnet ist von der Sklavenmentalität, die nichts wagt, unterwürfig, ängstlich und angepasst ist. Erst am Ende sieht die Großmutter ein, dass sie alle gemeinsam Schuld am Elend Tiinas haben, und zeigt Reue. Für Tiina, die sich an diese Welt und diese Mentalität nicht hat anpassen wollen und aufbegehrte, ist es da schon zu spät. Sie verkörpert so ziemlich alles von Unkonventionalität über Unangepasstheit, Aufmüpfigkeit, Dickköpfigkeit, Widerspenstigkeit und Rebellion bis hin zur Freiheitsliebe schlechthin. Damit nicht genug, macht sie aus der Not auch eine Tugend, indem sie den ihr zugedachten Schimpfnamen annimmt und positiv interpretiert: »Was wollt ihr von mir! Als Menschen betrachtet ihr euch, aber ihr seid schlimmer als Raubtiere! Ihr nennt mich einen Werwolf? – Ja, das bin ich, ihr wollt es ja nicht anders! Lieber tausend Mal ein Wolf, ein Wolf im Wald unter Wölfen sein, wenn ein Mensch nichts besseres ist als ihr! Ein Wolf

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Tiina und Margus in einer Libahunt-Inszenierung von 1954

tötet nur aus Hunger – und ein Wolf tötet niemals einen Wolf, aber ihr?« (Ende des dritten Aktes). Zwischen diesen beiden Welten steht Margus, der Tiina zu verstehen und verteidigen sucht, letztlich aber seinem eigenen Ideengefängnis nicht entfliehen kann und bei der Konvention bleibt. Tiina wird im Stich gelassen und muss untergehen. Sie war angetreten gegen den herrschenden Zeitgeist der willenlosen Subordination und stirbt als Symbol der Menschenwürde und der Freiheit. Damit ist eine Symbolik gegeben, die zwar nach wie vor ihren konkreten Hintergrund in den Verhältnissen der estnischen Gesellschaft hat, die aber darüber hinausweist und universaler, damit zeitloser Art ist: Es geht schlichtweg um die Konfrontation zwischen Masse und Outsider, Konformismus und Nonkonformismus, Anpassung und Widerstand, Gesellschaft und Individuum – wie immer man es nennen will. Nicht zufällig und nicht zu Unrecht sind Vergleiche mit anderen Dramen der Weltliteratur bis hin zur Antigone des Sophokles gezogen worden. Libahunt wird regelmäßig neu inszeniert und ist 1968 auch verfilmt worden. Kitzberg hat noch ein knappes Dutzend weitere Theaterstücke geschrieben, von denen Kauka jumal (Gott Mammon, 1912) am meisten Wirkung erzielt hat. Hier behandelte Kitzberg wie in Tuulte pöörises wieder ein Pro-

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blem aus der Gegenwart, nämlich die Macht und vernichtende Wirkung des Geldes: Ein einst von einem Gutsherrn geschlagener Knecht schwört Rache und will so viel Geld sparen, bis er seinen Gegner damit vernichten kann. Sein ganzes Leben steht fortan im Zeichen des Geldscheffelns, dem alles andere untergeordnet wird, an dem die Hauptperson schließlich aber auch selbst zugrunde geht. Mit dieser Kritik einer kleinkapitalistischen Raffgier war der Autor wieder auf einen realistischen Kurs eingeschwenkt, den er mit Libahunt, das über eine viel stärkere und universellere Symbolik verfügt, verlassen hatte. Aber auch in diesem Stück kann man angesichts der offenkundigen Nutzlosigkeit des Anhäufens irdischer Werte noch genügend Symbolik und Allgemeingültigkeit finden. Wenn das Vanemuine-Theater, das nach wie vor die wichtigste estnische Bühne war, in den ersten zehn Jahren seines Bestehens über 15 Prozent der Vorstellungen mit estnischen Originalschauspielen bestreiten konnte (Rebane 1916, 272), so hat Kitzberg mit seinem Werk einen nicht unerheblichen Anteil daran. Wenn man ferner bedenkt, dass auch Vildes erfolgreiche Schauspiele (vgl. § 24) genau in diese Zeit fallen und dass mit Oskar Luts ein weiterer populärer Bühnenautor in dieser Periode debütierte, wird deutlich, dass man gerade auch im Hinblick auf die Bühnenliteratur die ersten zwei Jahrzehnte in Estland als wichtig für die Herausbildung eines »klassischen Kanons« ansehen kann. Der Best- und Longseller der estnischen Literatur Eine ganze Generation jünger als Kitzberg ist Oskar Luts, der 1887 im Dörfchen Järvepära, nördlich von Tartu, geboren wurde. Nach seiner Schulzeit an verschiedenen Orten, zuletzt von 1899 bis 1902 als Realschüler in Tartu, war er ab 1903 Apothekerlehrling in Tartu und Narva. Danach und während seiner Militärdienstzeit in St. Petersburg von 1909 bis 1911 arbeitete er als Apotheker, parallel dazu studierte er in Tartu Pharmazie. Während des Ersten Weltkriegs wurde er einberufen und leistete seinen Dienst an verschiedenen Orten als Militärapotheker. Nach dem Krieg war er wieder in seinem Beruf in Tartu aktiv, verlegte sich kurzzeitig auf das Bibliothekswesen und den Buchhandel, ehe er sich 1922 endgültig dafür entschied, es als freiberuflicher Schriftsteller zu versuchen. Als solcher lebte er die nächsten 30 Jahre in Tartu, wo er 1953 starb. Luts hatte 1907 mit Lyrikproben in der Presse debütiert und widmete sich danach dem Schreiben von Feuilletons. Parallel dazu hatte der 20-Jährige mit der Niederschrift seiner Erlebnisse aus der Schulzeit begonnen. Die Arbeit an dem Text setzte er auch während seiner Militärzeit in St. Petersburg

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fort, wo sich ein wachsamer Offizier für das Manuskript interessierte. Er ließ sich einige Passagen ins Russische übersetzen und konnte sich so von der Unschuld des Textes überzeugen. Die eigentliche Leidenschaft von Luts galt aber dem Theater. Seit seiner Tartuer Schulzeit hatte er sich dafür interessiert, und so beteiligte sich der Autor 1911 mit einem Text am Schauspielwettbewerb der Estnischen Literaturgesellschaft. Dieser groß angelegte Wettbewerb wurde für die Gesellschaft selbst zwar zu einer Enttäuschung, denn unter den 20 eingesendeten Manuskripten befand sich nach Meinung der Jury keine preiswürdige Arbeit, so dass die insgesamt 1000 Rubel, die an Preisgeldern zur Verfügung standen, weitgehend ungenutzt blieben und lediglich drei Trostpreise à 100 Rubel verteilt wurden. Hierunter aber befand sich auch das Schauspiel von Oskar Luts, der sich, von diesem Erfolg beflügelt, wieder seinen Erinnerungen an die Schulzeit zuwandte. Gleichzeitig begann er die Arbeit an einem weiteren Einakter. Im Spätherbst 1912 stellte sich mit der Uraufführung seines neuen Stücks und dem schnellen Verkauf seines Romans der Erfolg des Schriftstellers ein. Diesen Roman hatte Luts im Herbst 1912 fertig gestellt und unter dem Titel Kevade (Frühling) und mit dem Untertitel Bilder aus der Schulzeit diversen Verlagen angeboten, aber niemand wollte das Werk des unbekannten Autors verlegen. Angestachelt vom Trostpreis im Schauspielwettbewerb und vielleicht auch mit dem Mut der Verzweiflung nahm Luts einen Vorschuss auf sein Gehalt und ließ auf eigene Kosten 2100 Exemplare drucken. Seine Risikobereitschaft wurde belohnt: Allein am Weihnachtsabend wurden 200 Bücher verkauft, und fortan brauchte sich Luts keine Sorgen mehr um den Vertrieb seines Buches zu machen. Er schrieb schnell eine Fortsetzung, so dass der zweite Teil 1913, und nun schon im Noor-Eesti-Verlag, herauskam. Alle weiteren Auflagen – und das waren bis heute ca. zwanzig – vereinigten die beiden Teile in einem Band. In dieser Form ist der ca. 115000 Wörter umfassende Roman konkurrenzlos das populärste Buch der estnischen Belletristik aller Zeiten geworden. Ungestört von allen politischen Umwälzungen fand das Buch seinen Weg in praktisch jedes Haus, wo Estnisch gelesen wurde, wie die Druckorte der verschiedenen Auflagen beispielsweise in den 1940er-Jahren eindrucksvoll beweisen: Die sechste Auflage erschien 1943 im von den Nazis besetzten Tartu, die siebte Auflage wurde 1947 von der Exilgemeinschaft in Schweden veranstaltet, die achte Auflage geschah 1949 unter Stalin in Estland (Angaben nach K. Tohver 1986, in den Büchern selbst finden sich stellenweise andere Nummerierungen der Auflagen, was angesichts der Menge der Drucke nicht überrascht). In soziologischen Untersuchungen über die Verbreitung von Belletristik muss Oskar Luts – neben Tammsaare – weggelassen werden, weil sein Bekanntheitsgrad bei allen Altersgruppen und

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Bevölkerungsschichten nahezu hundert Prozent beträgt (Lauristin/Vihalemm 1985, 254). Der Roman ist nichts weiter als eine simple Schülergeschichte, die in flüssigem Stil und humorvollem Plauderton über die Erlebnisse des Arno Tali berichtet, der eines Tages als Neuer in die Klasse kommt und logischerweise allerlei erlebt. So plätschert die Handlung mit Schülerstreichen und Alltagsbeschreibungen scheinbar ohne einen ersichtlichen Spannungsbogen dahin. Den hat das Werk aber offenkundig gar nicht nötig, denn die spritzigen und komischen Dialoge sowie die mit viel Witz beschriebenen Szenen aus dem Schulalltag, wozu auch die Keilereien der Schuljungen mit den Jungen vom Pastorat gehören, sprechen für sich. Hinzu kommen die sorgfältigen und volksnahen Charakterzeichnungen nicht nur der Schülerinnen und Schüler, sondern auch der Erwachsenen wie etwa des Lehrers, des Küsters oder des Glöckners, die die Leserschaft bei der Stange halten. Es ist diese Mischung aus Humor, Komik, Melancholie und Realismus, die ein Gesamtbild entstehen lässt, das möglicherweise mehr über Land und Leute aussagt als so mancher Dokumentarfilm oder so manches Sachbuch. Einige der am anschaulichsten gezeichneten Typen, allen voran der Klassenkasper Joosep Toots, sind zu kulturellem Gemeingut der Esten geworden und haben beinahe den Status von real existierenden Personen erreicht. Das Phänomen des Romans liegt darin, dass er sich an der Grenze zwischen verschiedenen Genres und Zielgruppen befindet, weswegen sich die estnische Literaturwissenschaft bis heute schwer mit der Einordnung und Bewertung des Werkes tut. Wie bereits angedeutet, übergehen manche Abhandlungen das Werk gänzlich, neben Epp Annus et al. (2001) beispielsweise auch Riismaa et al. (2002). Dabei muss offen bleiben, ob es sich hier um eine bewusste Entscheidung oder um schlichtes Vergessen handelte. Andere erwähnen den Autor und sein Werk zwar, weil Luts als produktiver Verfasser anderer Texte unstrittig einen Platz in der estnischen Literaturgeschichte bekommen muss, weisen aber darauf hin, dass der Erfolg beim Publikum in einem reziproken Verhältnis zur Zustimmung bei der Literaturkritik steht. Tatsächlich findet fast jeder etwas auszusetzen an Luts’ Kevade, aber auch an seinem übrigen Werk, und Harald Peep (1987, 103) wies berechtigterweise darauf hin, dass man sich wundern müsse, dass überhaupt noch jemand Gefallen an Luts finden könne, wo man doch so viele Mängel an seinem Werk aufgezählt habe. Bezeichnend ist vielleicht auch die an gleicher Stelle erfolgte Ausflucht in Spitzfindigkeiten à la »ein guter Schriftsteller, aber ein schlechter Autor« (Peep 1987, 103). Sie zeigt die Unsicherheit beim Umgang mit einem Werk, das zwar jeder und jede gern gelesen hat, das aber nicht ein-

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passbar ist in die herkömmlichen Strukturen und daher auch nicht in die Kinder- und Jugendliteratur abgeschoben werden kann. Umgekehrt kann es von eben dieser Literatur vereinnahmt werden, was zum Teil auch geschehen ist: So stellte Reet Krusten in ihrer Monographie über die estnische Kinderliteratur im Kapitel über den Beginn des 20. Jahrhunderts fest, dass Luts Kevade »ursprünglich nicht für Kinder gedacht war und auf dem Gebiet [der Kinderliteratur, CH] zum Zeitpunkt seines Erscheinens nicht wesentlich mitzureden hatte.« (Krusten 1995, 86). In einem späteren Zusammenhang weist sie mit Recht darauf hin, dass Kevade in der Zwischenkriegszeit das am meisten verbreitete estnische Jugendbuch war und in dieser Phase in die Jugendliteratur aufgenommen ist (Krusten 1995, 133). Dennoch scheint hiermit und mit den beiden genannten Werken vom Beginn des 21. Jahrhunderts, die Kevade ignorieren, der Prozess keineswegs abgeschlossen zu sein, denn nach wie vor gibt es zahlreiche glühende Anhänger von Luts’ Roman, die nicht bereit sind, ihr Lieblingswerk einfach der Kinder- und Jugendliteratur zu überlassen. Und mit dem Hinweis auf Charles Dickens oder Mark Twain haben sie damit gar nicht einmal so Unrecht. Unumstritten ist jedenfalls die bis heute anhaltende Nachwirkung des Buches. Luts selbst schrieb noch einige Fortsetzungen, die folgerichtig die Titel Suvi (Sommer, zwei Teile 1918–19) und Sügis (Herbst, 1938) erhielten. Vorher waren zum gleichen Zyklus gehörend noch Tootsi pulm (Die Hochzeit von Toots, 1921) und Äripäev (Werktag, 1924) erschienen. Nach der Publikation von Sügis schrieb Luts sogar eine weitere Fortsetzung Talv (Winter), deren Fertigstellung sich infolge anderer Arbeiten jedoch verzögerte. Einige Passagen davon konnten während der deutschen Okkupation in der Presse erscheinen, der Rest blieb unter dem Titel Sügis II, wie der Autor das Manuskript inzwischen in Anlehnung an die beiden ersten Doppelbände genannt hatte, jahrzehntelang Manuskript und erschien nach einer Vorabpublikation in Looming zum 100. Geburtstag des Autors (1987) in Buchform erst 1988 gemeinsam mit Sügis I. Damit war aber die vierte Jahreszeit noch nicht abgedeckt, und es nimmt nicht Wunder, dass 1994 in vermeintlicher Nacherzählung oder Abschrift eines gewissen Arnold Karu Talve (Winter) als Werk von Oskar Luts auf den Markt gebracht wurde. Der Landwirt und Bibliophil Karu war zu jenem Zeitpunkt bereits verstorben und hatte das Manuskript angeblich von Luts’ Originalmanuskript, das später verloren gegangen sei (!), abgeschrieben, sein Sohn hatte den Nachlass ins Literaturmuseum gebracht. Die Urheberschaft ist bei diesem Werk bis heute nicht völlig geklärt, aber es liegt nahe anzunehmen, dass wir es hier mit einem postmodernen Scherz, kommerzieller Kaltblütigkeit, naiver Gutgläubigkeit oder einer Mischung von allem zu tun haben, denn es gibt keine Spur

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eines Manuskripts von Oskar Luts und auch sonst eigentlich keine Hinweise darauf, dass er das Werk geschrieben hätte (vgl. Kull 1994, vor allem aber Undusk 1994). Nach einhelliger Meinung der Kritik ist es mit der Qualität der Folgebände kontinuierlich bergab gegangen. Die Bedeutung des ersten Bandes, von dem auch mehrere Bühnenfassungen existieren und der 1969 verfilmt worden ist, steht außer Zweifel. Aber bei den weiteren Bänden nimmt die Beliebtheit linear ab, wenngleich auch die zum Teil noch auf die Bühne gebracht und verfilmt werden. Dennoch drängt sich der Gedanke auf, dass sie nur geschrieben sind, weil Kevade so erfolgreich war, und nicht etwa aus einem inneren Drang des Autors heraus. Kompliziert ist es auch mit der Wirkung im Ausland: Die russische Ausgabe ist ziemlich erfolgreich gewesen, aber die Tatsache, dass Kevade in dreizehn Sprachen übersetzt worden ist, weckt den falschen Eindruck einer großen Verbreitung. Die meisten Übersetzungen erschienen nach dem Zweiten Weltkrieg im Sozialistischen Lager und sind teilweise auf kulturpolitische Initiativen und nicht auf Neugier auf das Buch zurückzuführen. Nach dem gleichen Prinzip war schon in der Zwischenkriegszeit eine deutsche Übersetzung geplant, die aber infolge ausbleibender Subventionen nicht zustande kam (Teder 1987, 49). Ebenso ist die in Tallinn verlegte englische Ausgabe von 1983 als Pseudorezeption zu bezeichnen. Eine Ausnahme bildet die finnische Übersetzung (1973). Das weitere Werk von Oskar Luts Oskar Luts war ein sehr produktiver Schriftsteller, der stets mehrere Eisen im Feuer hatte. Parallel zu dem behandelten Kevade-Zyklus verfasste er unermüdlich feuilletonistische Beiträge für die Presse, eine Serie von Romanen über das Leben der kleinen Leute in der Stadt, ferner einige Romane über Jugendliche und ihr Erwachsenwerden, eine ganze Menge Schauspiele und eine ausufernde Serie von Erinnerungen oder auch autobiographischen Romanen, die auf 13 Bände anwuchs. Die Herausgabe seiner Gesammelten Werke gelangte bis zum 22. Band am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, danach sind nur noch Ausgewählte Werke und verschiedene Neudrucke erfolgt. Die Editionslage ist unübersichtlich, und die estnische Literaturwissenschaft verhält sich erwartungsgemäß ambivalent zu einem ihrer produktivsten Objekte. Einerseits ist Luts als Autor ständig präsent und wird auch immer wieder behandelt, besonders viel im Zusammenhang mit seinem 100. Geburtstag, andererseits gibt es keine umfangreiche monographische Darstellung von seinem Leben und Werk. Auch hier spiegelt sich wider, was die Behandlung in den verschiedenen Literaturgeschichten bereits angezeigt hat.

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Die meisten Prosawerke von Luts sind locker und elegant geschrieben, stets mit einer ordentlichen Portion Humor und gelegentlich auch Komik. Man kann sich fragen, ob Luts in seinen Werken eine Problemstellung kennt, um welche wichtigen Dinge des Lebens es ihm eigentlich geht oder was sein wahres Anliegen ist. Er ist der große Plauderer der estnischen Literatur, der unermüdlich sein Publikum bediente und ihm ein monumentales, ebenso humorvolles wie stellenweise melancholisches Gesamtwerk hinterließ. Wenn ihm 1945 als erstem Esten der sowjetische Ehrentitel des »Volksschriftstellers« zuerkannt wurde, so kann man das – bei allen Vorbehalten, die man gegenüber derlei sozialistischen Benennungen hegen kann und muss – vielleicht doch als treffende Ehrung ansehen. Er war tatsächlich ein Schriftsteller des Volkes, der für jeden und jede etwas bot und daher eine ungeheure Verbreitung fand. Die Kehrseite hiervon ist, dass man ihm in intellektuellen Kreisen mit einer gewissen Reserviertheit begegnet und dass es umgekehrt wohl kaum Personen gibt, die alles von ihm gelesen hätten. Von den anderen Werken von Luts ist der Roman Tagahoovis (Im Hinterhof, 1933) zu erwähnen, der ein geradezu naturalistisches Bild aus dem zeitgenössischen Vorstadtleben entwirft und u.a. den Konflikt zwischen Esten und Deutschen behandelt. Den Romantiker Luts finden wir in dem Roman Kirjutatud on … (Es steht geschrieben …, 1914), der in späteren Auflagen unter dem Titel Soo (Das Moor) herauskam. Besonders hervorzuheben ist aber das Bühnenwerk von Oskar Luts. Neben Kevade sind nämlich auch einige Schauspiele für den hohen Bekanntheitsgrad des Autors verantwortlich zu machen. Insgesamt verfasste Luts 19 Schauspiele (Teder 1987b), von denen sich gleich die ersten als sehr erfolgreich erwiesen. Seine Komödie Paunvere ([Ortsname]), die den erwähnten Trostpreis erhielt, behandelt den Streit um den Vorsitz bei einem Feuerwehrverein und gelangte erst nach kräftiger Bearbeitung unter der Federführung des damaligen Direktors des Vanemuine, Karl Menning, auf die Bühne. Menning hatte in dieser Funktion von 1906 bis 1914 entscheidenden Anteil am Aufbau des Theaters und auch am Zustandekommen vieler Bühnentexte, weswegen ihm schon allein deshalb nicht nur innerhalb der estnischen Theatergeschichte, sondern auch der reinen Textgeschichte eine wichtige Rolle zukommt. Gleich nach der erfolgreichen Fertigstellung von Paunvere schrieb Luts zwei weitere Theaterstücke, die beiden Einakter Ärimehed (Die Geschäftsmänner, 1912) und Kapsapea (Der Kohlkopf, 1912). Von ihnen gelangte Kapsapea, eine Satire über einen einfältigen und geizigen Bauern, sogar noch eine Woche vor Paunvere als erstes Stück von Luts im November 1912 zur Aufführung. Beide Stücke wurden vom Publikum begeistert aufgenommen, und auch die Kritik zeigte sich von der lebendigen, humorvollen und volks-

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nahen Sprache sehr beeindruckt. Als bald danach auch die Ärimehed und das vierte frühe Schauspiel, Pärijad (Die Erben, 1913), gespielt wurden, war Luts innerhalb eines Jahres zum gefeierten Bühnenautor geworden, dessen Stücke im ganzen Lande gespielt wurden und teilweise auch nach Finnland und Lettland gelangten. Ein Garant für den bleibenden Erfolg bei professionellen Theatern wie auch bei Laienspielgruppen war die lebensnahe und im besten Sinne volkstümliche Darstellung der Personen, die so noch keinem anderen Autor, keiner anderen Autorin gelungen war. Die weiteren Stücke von Luts, die eine stärker symbolistische und romantische Ausrichtung hatten, konnten nicht an diese Erfolge anknüpfen, aber für den Ruhm als humorvoller Dramatiker war das auch gar nicht mehr nötig.

§ 28 Avantgardistische Strömungen Modernismus Der Begriff der Moderne oder des Modernismus ist mehrdeutig und zeitgebundenen Definitionen ausgesetzt, so dass sein Nutzen als Terminus technicus in Frage gestellt werden kann. Im Falle Estlands kann festgestellt werden, dass der Begriff vergleichsweise sparsam Verwendung findet. Hierfür sind zwei Gründe auszumachen: Einerseits kann es daran liegen, dass es »eine ordentliche Avantgarde, einen ordentlichen Modernismus oder wie immer wir diese europäische Literaturerscheinung des 20. Jahrhunderts nennen wollen, in Estland gar nicht gegeben hat« (Hennoste 1991, 81), andererseits sind vergleichbare Erscheinungen möglicherweise nur anders bezeichnet worden. Letzteres suggeriert Ele Süvalep, die darauf hinwies, dass in der einschlägigen Literatur regelmäßig der Begriff »neo-« bzw. »neuromantisch« auftaucht, wo in Westeuropa von der Moderne geredet wird. Im estnischen Diskurs ist der aus Deutschland importierte Terminus bei näherer Betrachtung lediglich ein Gegenkonzept zum Realismus und Naturalismus. Wenn die beiden Letzteren die Romantik abgelöst haben, so wird die Strömung, die ihrerseits Realismus und den aus ihm hervorgegangenen Naturalismus ablöst, der Einfachheit halber als Neoromantik bezeichnet. Diesem Begriff lässt sich fast alles unterordnen, was nicht Realismus ist. So gesehen wäre die gesamte estnische Literaturgeschichte »eine Reihe von Wechseln zwischen Realismen und Neoromantiken« (Süvalep 1998, 221). Tatsächlich hat sich in der estnischen Literaturgeschichtsschreibung für die Strömungen Dekadenz, Symbolismus und Ästhetizismus statt »Moderne« der Oberbegriff »Neoromantik« eingebürgert. Er wurde von den Anhängern

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der Noor-Eesti-Gruppe als Synthese aus Romantik und Realismus aufgefasst und auf ihre eigene Stilrichtung angewendet, keineswegs als Abwendung von diesen beiden Richtungen (Hennoste 1996, 223, s.a. Undusk 1990). Tiit Hennoste (1996) dagegen geht von einem engeren Modernismusbegriff aus, der etwa mit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts einsetzt. Daraus folgt, dass die sich um den Import des französischen Symbolismus aus dem 19. Jahrhundert bemühende Noor-Eesti-Gruppe nicht zur Moderne zu zählen wäre. Wenn man aber den weiteren Modernismusbegriff anwendet, der ca. 20 Jahre früher einsetzt und somit den Symbolismus einschließt, wäre die Noor-Eesti-Gruppe zweifellos zur Moderne zu rechnen. In diesem Sinne soll der Begriff hier verwendet werden. Innerhalb des Modernismus, der nun also mit der Noor-Eesti-Gruppe und damit ziemlich exakt am Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt hat, möchte ich hier weitere Feineinteilungen vornehmen. Während in der britischen Tradition der Begriff der Avantgarde kaum verwendet wird und er in der deutschen Tradition die Moderne ablöst, soll hier – passend zur estnischen Entwicklung – Moderne als Oberbegriff dienen, der die Avantgarde mit einschließt. Nach dem Symbolismus (vgl. § 26) kämen dann diverse avantgardistische Strömungen, die neben der Noor-Eesti-Gruppe entstehen und allein deswegen schon nicht von Noor-Eesti zu trennen sind. Zudem wurden die meisten dieser Strömungen aus dem Ausland hereingeholt, und es war ja gerade diese Gruppe, die nach »mehr Europa« gerufen hatte. Dieses »mehr Europa« zeigte sich nun in Gestalt eines italienischen bzw. russischen Futurismus oder eines deutschen Expressionismus auch in Estland. Futurismus Als erste der klassischen avantgardistischen Strömungen ist der Futurismus zu nennen, der Estland von zwei Seiten erreichte (erschöpfend hierzu R. Kruus 1981): Von seinem Ursprungsland Italien ebenso wie von Russland aus. Hauptvermittler und Initiator war Johannes Semper, der 1892 in Südestland geboren war, 1910 das Gymnasium in Pärnu abgeschlossen hatte und danach zum Studium nach St. Petersburg gegangen war. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs studierte Semper zeitweilig in Moskau Architektur, dann wurde er mobilisiert und machte Karriere als Offizier. Nach Kriegsende war er kurzzeitig in Estland in der Sozialrevolutionären Partei und der verfassungsgebenden Versammlung politisch aktiv, reiste danach aber viel in Westeuropa und studierte weiter. Gleichzeitig publizierte Semper Lyrik, Prosa und Schauspiele, nebenher war er als Essayist, Kritiker und Übersetzer tätig. Damit wurde er zu einer der schillerndsten Persönlichkeiten und auch Gestalter des

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estnischen Kulturlebens mit allerlei Höhen und Tiefen, denn die Mischung aus politischer und literarischer Tätigkeit führte er durch alle Systemwechsel hindurch fort. So war er beispielsweise in der Zwischenkriegszeit Chefredakteur von Looming und Dozent an der Universität Tartu, nach dem Zweiten Weltkrieg aber Parteifunktionär und Präsidiumsmitglied des Obersten Sowjets der Estnischen SSR. Bei der Sowjetisierung Estlands 1940 war er einer der Ersten, der über den »Sozialistischen Realismus« schrieb. Im gleichen Jahr wurde Semper Minister, später war er Vorsitzender des Schriftstellerverbandes, was ihn freilich nicht davor bewahren konnte, 1950 des Kosmopolitismus verdächtigt und aus der Partei ausgeschlossen zu werden, so dass er sich fünf Jahre mühselig mit Übersetzungen über Wasser halten musste, ehe er rehabilitiert wurde. Johannes Semper starb 1970 in Tallinn (vgl. §§ 31, 38). 1910 ließ sich der angehende Student, neugierig geworden durch eine Anzeige in einer Literaturzeitschrift, Filippo Marinettis Poesia schicken. Zwei Jahre später schrieb Semper im vierten Album von Noor-Eesti über den Futurismus, der als Strömung in der bildenden Kunst kurz zuvor schon von Jaan Lintrop im Postimees behandelt worden war. Als Marinetti im Februar 1914 in St. Petersburg einen Vortrag über seine neue Kunst hielt, war Semper im Publikum. Zwei Wochen später hielt er in Tartu einen Vortrag über den Futurismus, den er im März in Tallinn wiederholte. Beide Male berichteten die Zeitungen ausführlich hierüber. Parallel dazu war im Februar 1914 von der Noor-Eesti-Gruppe eine Kunstausstellung organisiert worden, auf der Gemälde von Ado Vabbe ausgestellt wurden, die stark an Kandinskys Kubofuturismus erinnerten. Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung einer losen Gruppierung zu sehen, die man für das Jahr 1913 ansetzen kann. Die Gruppe Moment wurde gelegentlich mit dem Futurismus in Verbindung gebracht, doch kann man bei ihr nur sehr vage futuristische Züge ausfindig machen, eher ging es um einen allgemeinen Protest gegen die herrschende Kunstrichtung, die von Noor-Eesti verkörpert wurde. Die maßgeblich hieran beteiligten Autorinnen und Autoren waren Marie Heiberg, Richard Roht und Henrik Visnapuu (vgl. § 31). Sie publizierten 1913 ein erstes Sammelwerk und im folgenden Jahr das auf grünem Papier gedruckte Opus Roheline moment (Der grüne Moment), das eine Reaktion auf die negativen Kritiken des ersten Sammelwerks darstellte. Der ausschließlich von Roht und Visnapuu bestrittene Roheline moment endet mit einigen »Tagesbefehlen der Momentisten«, worin unter anderem Semper, Linde und Aavik verboten wurde, über den Futurismus zu reden und zu schreiben. Dies ist eine der wenigen konkreten Erwähnungen des Futurismus im Zusammenhang mit der Moment-Gruppe, allerdings

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macht sie das selbst noch nicht zu Futuristen. Allenfalls die Form des »Tagesbefehls« trägt futuristische Züge, ansonsten liegt der Schwerpunkt der Gruppe auf der Provokation und dem Versuch, einen Skandal zu erzeugen. Letzteres ist aber kaum gelungen, weswegen die ganze Bewegung als Misserfolg zu betrachten ist und Episode blieb. Einen direkteren Bezug zum Futurismus muss man in dem Roman Maailma sõda (Der Weltkrieg) sehen, der 1915 in einer Tallinner Zeitschrift unter dem Pseudonym Hirvi Ogar zu erscheinen begann, nach drei Lieferungen wegen der Kriegszensur aber abbrach. Er trug den Untertitel Futuristischer Experimentalroman und stammte aus der Feder von Jaan Lintrop. Aufgrund der wenigen publizierten Kapitel ist aber nicht viel mehr über diesen Roman zu sagen, als dass er Sciencefiction-Elemente enthält und in satirischer Form aus der Zukunft in die Gegenwart zurückblickt (R. Kruus 1981, 397). Nach dem Ersten Weltkrieg kann man in den neun im März und April 1919 plakatierten »Tagesbefehlen« von Erni Hiir und Albert Kivikas futuristische (Manifest-)Züge erblicken (vgl. hierzu Hennoste 2005a, 1359): Als poetische Diktatoren forderten sie u.a. zum Sturz der Siuru-Regierung auf, womit die vorherrschende Kunstkonzeption der Gruppe Siuru (s. § 29) gemeint war. Spielerei und Selbstzweck waren die Kennzeichen, mit dem sich einige Jüngere vom Establishment absetzen wollten. Im gleichen Jahr publizierte Hiir seine Gesammelten Werke I + II, die jeweils aus einem Gedicht bestanden. Gemeinsam verfassten Hiir und Visnapuu die Gedichtbroschüre Ohverdet konn (Der geopferte Frosch) mit futuristischen Prosastücken und Versen, darunter ein berühmt gewordenes dadaistisches Lautgedicht von Hiir, das nur wenige echte Wörter enthielt. Im selben Jahr 1919 erschien von Kivikas die Kurzprosasammlung Lendavad sead (Die fliegenden Schweine), die aufgrund ihrer technischen Ausführung – sie war gedruckt auf den Rückseiten von Druckbögen mit Bieretiketten einer Tartuer Brauerei – und des einprägsamen Titels als Paradebeispiel für die estnische Avantgarde in die Geschichte eingegangen ist (vgl. § 30). Denn Kivikas’ Werk ist allenfalls als allgemein avantgardistisch einzuordnen, während man bei Hiirs Gedichten deutliche futuristische Züge ausmachen kann. Hiir hatte sich unabhängig von Semper mit dem Futurismus russischer Prägung befasst und Marinetti vermutlich selbst über das Russische rezipiert (vgl. R. Kruus 1985, 408). Auch ist zu beachten, dass die Form der Tagesbefehle einerseits ihre direkten Vorbilder bei den Momentisten und konkret bei der deutschen Besatzung im Weltkrieg hat, andererseits aber auch in der russischen Avantgarde zu finden ist, wo Majakovski im Dezember 1918 seinen »Tagesbefehl an die Armee der Kunst« publiziert hatte.

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Eine besondere Verbindung zum russischen Futurismus bzw. zu einer Gegenform davon bestand in der Person Igor Severjanins, der nach der Oktoberrevolution Russland verlassen hatte und seit 1918 in Estland lebte. Der ˙ russische Dichter hatte 1911 mit seinem Versmanifest Prolog Egofuturizma (Prolog des Egofuturismus) zum ersten Mal das Wort »Futurismus« in Russland verwendet und es gleichzeitig mit einem neuen Inhalt versehen. Hinter dieser Version verbarg sich eine Art Egotrip, was mit dem italienischen Futurismus nicht viel zu tun hatte. Severjanin pries die individuelle Genialität und das friedliche Landleben, was kaum mit der durch und durch urbanistischen und martialischen Grundeinstellung der Futuristen vereinbar war. Mit dem eigentlichen russischen Futurismus, wie er etwas später unter Majakovski bekannt wurde, ist Severjanin nicht in Verbindung zu bringen (vgl. Adams 1966, 1978). Wie Severjanin, der später gemeinsam mir seiner estnischen Frau Felissa Kruut estnische Lyrik ins Russische übertragen hat, ist mit Axel Kallas auch ein anderer Vermittler estnischer Kultur oberflächlich mit dem Futurismus in Verbindung zu bringen. Kallas hatte 1911 die erste estnische Gedichtanthologie auf Deutsch herausgegeben und ist vornehmlich aufgrund dieser Publikation in die estnische Literaturgeschichte eingegangen. Weitgehend unbeachtet geblieben ist er als Dichter patriotisch-frömmelnder Lyrik, und völlig übersehen worden ist eine deutschsprachige Gedichtsammlung von ihm, die 1920 in Pärnu erschienen ist: Nervenvibrierungen im Tintengewande. FuturoKubistisches von Axel Kallas. Diese Sammlung trägt einerseits dadaistische Züge, enthält andererseits aber auch Spottgedichte auf die modernen Strömungen, wie der folgende Gedichtanfang zeigt: Fliegende Schweine, Hinkende Reime Fuseldämpfe Dichterkämpfe … (Axel Kallas 1920, 15)

Der direkte Hinweis auf Kivikas verrät, dass Kallas auf der Höhe der Zeit war, was die aktuelle estnische Literatur betraf, aber sein Kommentar blieb ein Kuriosum und wurde von niemandem registriert. Deutschsprachige Dichtungen von Esten waren zu jenem Zeitpunkt nur noch eine Randerscheinung, die von keiner Bevölkerungsgruppe in Estland ernsthaft beachtet wurde und daher zwischen die Stühle geriet. Als Fußnote sowohl zu den deutsch-estnischen Literaturbeziehungen als auch zu der (schein)futuristischen Strömung in Estland verdient das Büchlein aber allemal Erwähnung (vgl. Hasselblatt 2005a).

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Sozialismus Auf diese nicht unbedingt als literarische Strömung wahrgenommene Ideologie muss hier eingegangen werden, weil unbestreitbar ist, dass manche Sozialisten und Sozialistinnen auch ihre Spuren in der Literatur hinterlassen haben. Außerdem verstand sich kaum jemand anders so sehr wie sie als die Avantgarde der ganzen Menschheit. Und schließlich ist die Verbindung von Kunst und Ideologie eines der Charakteristika avantgardistischer Kunstströmungen, weswegen eine knappe Behandlung der sich als sozialistisch auffassenden Autorinnen und Autoren an dieser Stelle passend erscheint. Sozialistisches Gedankengut im weitesten Sinne war in Estland weit verbreitet, was in Kenntnis der historischen Situation nicht verwunderlich ist. Der Nährboden für eine Ideologie, die gegen Kirche und besitzende Oberschicht Position bezog, war vorhanden. Die meisten Anhänger des Sozialismus, die im literarisch-künstlerischen Bereich aktiv waren, trennten jedoch ihre berufliche Tätigkeit von ihrer persönlichen politischen Meinung. Das heißt, dass sie vielleicht Verfolgungen ausgesetzt waren, inhaftiert wurden oder ins Exil gehen mussten, dass ihre künstlerischen Auffassungen aber davon mehr oder weniger losgelöst waren. Tiit Hennoste hat in diesem Zusammenhang berechtigterweise von einem »sozialistischen Individualismus« (Hennoste 1996, 223) gesprochen und damit einen Begriff des Historikers und Politikers Hans Kruus aufgegriffen, der ihn 1918 zur Charakterisierung seiner ideologischen Position verwendet hatte (s. Undusk 2005, 12–13). Damit ist gemeint, dass die Kunst von Individualisten geschaffen und keiner Ideologie untergeordnet wurde. Das bezieht sich in erster Linie auf die Angehörigen der Noor-Eesti-Gruppe, trifft aber auch auf frühere Generationen zu, man denke nur an Eduard Vilde. Es gab aber auch eine kleine Gruppe von Personen, die ihr künstlerisches Schaffen eng mit der neuen Ideologie verknüpften und ihr sogar unterordneten. Allerdings waren sie im publizistischen Bereich tätig, und ihrem belletristischen Werk ist selbst in sozialistischen Darstellungen seinerzeit nur eine bescheidene Bedeutung zugemessen worden. Häufig sind sie im Zusammenhang mit der estnischen Kolonie in St. Petersburg zu betrachten, da viele – insbesondere nach den revolutionären Ereignissen von 1905 – sich dort niedergelassen hatten. Die auffälligste Erscheinung unter ihnen war Hans Pöögelmann. Er stammte aus Südestland, besuchte von 1888 bis 1892 die Alexanderschule in Põltsamaa und war anschließend Lehrer auf einer Gemeindeschule. 1896 wurde er Postbeamter in Viljandi und publizierte dort in Sakala noch Ende des 19. Jahrhunderts seine ersten Gedichte. 1899 begann seine publizistische

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Karriere mit dem Eintritt in die Redaktion des Postimees, aber Pöögelmann blieb ein unruhiger Geist und wanderte von einem Ort zum anderen, wobei ihn bald auch seine revolutionäre Tätigkeit dazu zwang. Anfang des 20. Jahrhunderts war er eine Zeit lang in Deutschland, von wo er als überzeugter Revolutionär zurückkehrte. Fortan stellte er sein Leben in den Dienst der Revolution, was 1909 zur Verbannung nach Sibirien führte. Von dort gelang ihm 1911 die Flucht über Tallinn nach New York, wo er die folgenden sechs Jahre die Zeitschrift Uus Ilm redigierte. 1917 kehrte Pöögelmann nach Estland zurück, 1918 floh er vor der deutschen Besatzung nach Sowjetrussland, wo er nach der Errichtung der selbstständigen Estlands auch blieb und einen ideologischen Propagandafeldzug gegen die bürgerliche Republik führte. Das verschonte ihn indes nicht vor den Stalin’schen Säuberungen, denen er 1938 zum Opfer fiel. Pöögelmanns Buchdebüt erfolgte 1910 mit dem Gedichtband Jämedad jooned (Dicke Striche). Hier und in seinen beiden weiteren Bänden von 1926 und 1936 überwiegt die revolutionäre Thematik, Klassenkampf und Gesellschaftskritik sind die beherrschenden Themen. Bedeutender war seine Tätigkeit als Publizist und Übersetzer, und wenn seine Worte heute noch irgendwo erklingen, dann dank der Tatsache, dass er die Marseillaise und die Internationale ins Estnische übersetzt hat. Ein vergleichbares Schicksal ereilte den knapp zehn Jahre jüngeren Jaan Anvelt, der unter dem Pseudonym Eessaare Aadu in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Auch er fiel 1937 in Moskau dem Stalin’schen Terror zum Opfer, nachdem er zuvor in der Sowjetunion Karriere gemacht hatte und es bis zum Sekretär der Internationalen Kontrollkommission der Komintern gebracht hatte. Er hatte Anfang des Jahrhunderts in St. Petersburg gearbeitet und später dort Jura studiert, was ihn mit revolutionären Kreisen in Berührung gebracht hatte. Unter seiner Herausgeberschaft von 1912 bis 1914 wurde die in Narva erscheinende Zeitung Kiir (Strahl) zum Sprachrohr der estnischen Bolschewisten. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Anvelt im Untergrund tätig, ebenso kurzzeitig im Estland der 1920er-Jahre. Sein literarisches Debüt erfolgte 1916 mit der Novellensammlung Räästaalused (Unter dem Dachvorsprung), ein Jahr später erschien die Erzählung Alasti (Nackt). Eessaare Aadus Prosa ist prinzipiell realistisch und beschreibt armselige Verhältnisse im Arbeitermilieu, was sicherlich nichts mit Avantgarde zu tun hat. Eine besondere Art der Vorhut stellte vielleicht sein 1922–23 in Teilen in einer Zeitung abgedruckter Roman Linnupriid (Die Vogelfreien) über die Untergrundtätigkeit der Kommunisten in Estland dar. Eine ideologiegebundene Literaturwissenschaft konnte dem Roman später attestieren, er sei der erste »nach der Methode des sozialistischen Realismus geschriebene Roman der estnischen Literatur« (Lias 1984, 193). Bemerkenswert mag zu-

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nächst erscheinen, dass es den Begriff Sozialistischer Realismus erst seit 1932 gibt, doch attestiert man auch früheren Romanen, allgemein beginnend mit Gor’kijs Mutter (1906), diesen Stil, der seinen Terminus technicus erst später verpasst bekommen hat. Eessaare Aadus unvollendet gebliebenes Werk – der zweite Teil konnte infolge der Schließung der Zeitung nicht mehr erscheinen und ging später verloren – war tatsächlich das erste, in dem die in Estland erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Doktrin erhobene Anleitung zum Verfassen von Literatur zur Anwendung kam (vgl. § 41). Eessaare Aadus Prosabücher von 1916 und 1917 waren im Verlag von Juhan Lilienbach herausgekommen, der ebenfalls als bescheidener Revolutionsdichter in Erscheinung getreten ist, ansonsten aber als Verleger für die estnische Literatur- und Geistesgeschichte von Interesse ist. In Lilienbachs Verlag erschien marxistische Fachliteratur, ebenso marxistisch orientierte Zeitungen und Belletristik. Es gab aber keine strenge ideologische Kontrolle, denn auch Vildes Mäeküla piimamees kam bei Lilienbach heraus. Am bedeutendsten waren die literarischen Alben und Sammelwerke aus Lilienbachs Verlag, der durch seine Tätigkeit bewies, dass die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nicht nur Noor-Eesti gehörten. Unter dem Titel Edasi (Vorwärts) erschienen zwischen 1905 und 1917 elf Almanache für die Arbeiterschaft, die häufig ein bestimmtes Thema hatten und sich vornehmlich gesellschaftspolitischen Fragen widmeten, die aber auch belletristische Texte enthielten. Zusätzlich verlegte Lilienbach weitere Sammelwerke, beispielsweise auch drei Almanache zur Frauenfrage, die 1915 und 1916 erschienen, wodurch er als Publizist weit über allein marxistische Kreise hinaus Bedeutung erlangte. Lilienbach publizierte auch einige sich explizit als proletarisch und revolutionär verstehende Dichter wie Villem Buk oder Vassili Mölder, deren Hauptbetätigungsfeld aber die Politik war. Ihre Biographie ähnelt denen von Pöögelmann und Anvelt mit der Ausnahme, dass sie von Stalins Säuberungen verschont blieben. Mölder kann dabei als lebendiger Beweis für die Vorzüge eines pluralistisch-demokratischen Rechtsstaates gegenüber einem totalitären Staatssystem angeführt werden: Wer sich als Kommunist 1918 nach Sowjetrussland absetzte, kam häufig unter Stalin um, während der daheim gebliebene Mölder zwar acht Jahre in Estland inhaftiert war, aber 1932 freikam und die nächsten Jahre unbehelligt auf dem Lande lebte. Er starb 1943 in der Sowjetunion, wohin er sich auf der Flucht vor den Nazis begeben hatte. Erwähnung verdient noch Otto Münther, der als Kritiker und Publizist wirksam war und dadurch auffiel, dass er zu den schärfsten Kritikern von Noor-Eesti gehörte. Seine belletristische Produktion beschränkte sich auf eine

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1906 erschienene Novellensammlung mit realistischen Kurzgeschichten über das Arbeiterleben im Vorstadtmilieu, die jedoch keinen besonderen Beitrag zu dieser Thematik darstellte. Expressionismus Für die avantgardistischen Strömungen kann das Jahr 1918 keine Grenze bilden, da insbesondere der Expressionismus weit in die dritte Dekade des 20. Jahrhunderts hineinreichte. Er hat seinen Beginn auch in Estland aber noch vor der Errichtung des eigenen Staates, weswegen schon an dieser Stelle darauf eingegangen wird. Denn wie für den Futurismus so kann man auch für den Expressionismus direkte Bezüge zur deutschen Besatzung des Landes von 1918 herstellen. Als Angehöriger der Besatzungsmacht hielt sich 1918 nämlich der deutsche expressionistische Schriftsteller Alfred Brust in Estland auf, wo er in literarischen Kreisen in Tartu verkehrte. Dort stellte er die neue Strömung innerhalb der deutschen Literatur vor, von der man wegen des Ersten Weltkriegs zuvor kaum Notiz hat nehmen können. Lediglich der Sozialist Mihkel Martna hatte 1915 in der Zeitschrift Vaba Sõna einen Artikel mit dem Titel »Die deutschen Dichter und der Krieg« verfasst (N. Andresen 1968a, 514). Nun war durch die Verschiebung der Front Estland plötzlich »auf der anderen Seite«, in den Buchläden tauchte wieder aktuelle deutsche Literatur auf, und im September 1918 war es abermals Johannes Semper, der in einem Artikel in der Beilage des Postimees über aktuelle Entwicklungen im Ausland, diesmal in der deutschen Literatur, berichtete. Zum ersten Mal konnte man in einer estnischen Zeitung die Namen Franz Werfel, Walter Hasenclever, Johannes R. Becher und Franz Kafka lesen (N. Andresen 1968a, 514). Es blieb nicht bei dieser Überblicksdarstellung, und Semper war auch nicht alleine. Schon ein gutes halbes Jahr später erschienen im dritten Siuru-Album (s. § 29) die ersten Übersetzungen dieser neuen deutschen Literatur. Marie Under hatte sie angefertigt, und sie wurde in der Folge zur Hauptvertreterin – als Vermittlerin und als Dichterin – des Expressionismus in Estland. 1920 veröffentlichte sie einen Artikel explizit über den deutschen Expressionismus in einer Tallinner Zeitung, im gleichen Jahr legte sie eine Anthologie mit knapp 100 Übersetzungen von 21 deutschen, in der Mehrzahl expressionistischen, Autorinnen und Autoren vor, und selbst schrieb sie auch Gedichte, die deutlich dieser Strömung verpflichtet waren. Neben Under kann man auch in Gedichten von August Alle, Johannes Semper, Gustav Suits, Henrik Visnapuu und Johannes Barbarus vom Beginn der 1920er-Jahre Spuren des Expressionismus ausfindig machen, der sich

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dann auch durch die eigenen Kriegserfahrungen in Estland zu einer eigenständigen Richtung entwickelt hatte. Im Bereich der Bühnenliteratur finden sich einige Beispiele, etwa die Dramen Läheb mööda (Geht vorbei, 1923) von Artur Adson und Painaja (Alpdrücken, 1925) von Rudolf Reiman sowie einige Dramen von Aleksander Antson. Antson war es auch, der gemeinsam mit Valter Kaaver zwischen 1926 und 1929 drei Almanache unter dem Titel Aktsioon herausgab. Dahinter stand eine größere Gruppe von politisch links stehenden Autoren, die in ihren Texten größtenteils expressionistische Züge aufweisen. Diese Texte stehen aber schon in einem gewissen Abstand zu den Anfangsimpulsen des Expressionismus und werden daher im Kapitel über die Zwischenkriegszeit noch einmal kurz zur Sprache kommen (s. § 31). Jaan Oks Wenn das Werk einer Person nahezu allen der in diesem Paragraphen genannten Strömungen zugeordnet worden ist, so muss dies entweder sehr umfangreich gewesen sein oder aber so einzigartig, vielschichtig und vielleicht auch rätselhaft, dass eine Zuordnung willkürlich wird. Oder das Werk ist bloß nicht bekannt genug. Bei Jaan Oks ist alles der Fall: Sein Werk ist relativ umfangreich, gleichzeitig aber nur lückenhaft bekannt und publiziert worden, weswegen die Literaturgeschichtsschreibung ihn »um die Wette einen Realisten, Naturalisten, Romantiker, Impressionisten, Expressionisten oder Futuristen« (EKA III, 552) nennen konnte. Wenigstens herrscht in den neueren Publikationen (Süvalep 1996, Heero 2005) soweit Einigkeit, dass Oks als Modernist zu bezeichnen ist. Dies kommt insbesondere in seinen scharfen Kritiken zum Ausdruck, in denen er die ältere Literatur angreift. Im Übrigen ist das eine – wenn auch umgekehrte – Bestätigung der eingangs gegebenen Modernismusdefinition, denn Oks ist insofern eindeutig zur Noor-EestiGeneration zu zählen, als er regelmäßig in den Alben und der Zeitschrift der Gruppe publizierte, auch wenn man ihn, allein schon wegen der räumlichen Entfernung, nicht zum engeren Kreis der Gruppe zählen kann. Jaan Oks ist 1884 auf Saaremaa geboren, absolvierte dort Schule und Lehrerseminar und war ab 1905 Lehrer in Westestland. Im Zuge der Revolution musste er kurzzeitig untertauchen. Danach geriet er in Konflikt mit den lokalen Autoritäten oder fühlte sich vielleicht auch einfach nicht wohl in seiner Haut, so dass er es Ende 1907 vorzog, eine Lehrerstelle im Gouvernement Samara bei estnischen Aussiedlerinnen und Aussiedlern in Innerrussland anzutreten. Hier führte Oks ein Leben als Bohemien und widmete sich so intensiv seiner Schriftstellerei, dass die Arbeit in der Schule darunter litt und er um die Jahreswende 1910/1911 wieder entlassen wurde. Danach versuchte er

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sich als wandernder Händler über Wasser zu halten, endete aber als obdachloser Landstreicher, der 1912 – physisch und psychisch krank und ohne Pass – unter Bewachung in seine Heimatgemeinde eskortiert wurde. Dort kam Oks bei seinen Geschwistern wieder ein wenig zu Kräften und wurde bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Militärdienst nach St. Petersburg eingezogen. Untauglich für den Kriegsdienst wurde er bald wieder zu Befestigungsarbeiten zurück nach Tallinn geschickt, wo sich sein Gesundheitszustand rasch verschlechterte und er im Mai 1917 mit Knochentuberkulose ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Neun Monate später starb Jaan Oks einen Tag nach der Ausrufung der estnischen Republik, noch bevor sein erstes Buch erschienen war. Bei seinem Begräbnis war außer dem Fuhrmann, der den Sarg transportiert hatte, dem Totengräber und einem Pastor niemand zugegen. Jaan Oks’ intensive schriftstellerische Tätigkeit fällt in die Jahre 1906 bis 1910, in denen er zahlreiche Novellen und Gedichte sowie Kritiken schrieb. 1908 teilte er mit, dass sein zweijähriges Jubiläum als Autor zusammenfalle mit dem Abschluss seiner hundertsten Novelle (EKA III, 548). Nur der weitaus geringere Teil seiner Produktion ist seinerzeit in der Presse erschienen, das meiste blieb Manuskript und ist später zum Großteil verloren gegangen. Auch sind vieler seiner Arbeiten schlicht in den Papierkörben diverser Zeitungsredaktionen gelandet, da ihr heftiger und provozierender Ton in den Redaktionen nicht immer auf Gegenliebe stieß. Und schließlich dürfte ein Teil seines publizistischen Werks unter bis heute unerkannten Pseudonymen oder anonym erschienen sein. Erst nach seinem Tode wurde sein Werk allmählich und nur bruchstückhaft rezipiert. Die ersten Novellensammlungen erschienen 1918 und 1920, herausgegeben von Tuglas bzw. Adson, und erhielten zusammen nur elf Novellen. Erst viel später sind die anderen erhaltenen und verstreut erschienenen Prosatexte und Gedichte publiziert worden, 1957 erschien eine repräsentative Ausgabe in einem Exilverlag, und in einer Ausgabe von 2003 sind laut Vorwort »mehr oder weniger« (Oks 2003, 9) alle Erzählungen und Gedichte beisammen. Hierbei handelt es sich um 34 Gedichte, den mit dem Untertitel Oratorium versehenen Zyklus Kannatamine (Passion) und 38 Prosatexte, die in ihrem Umfang zwischen nicht einmal 250 und über 15000 Wörtern variieren, d.h. neben essayistischen Gedankensplittern finden sich auch ausführliche Novellen oder Erzählungen. Die frühen Novellen sind noch ganz im für die zeitgenössische estnische Literatur typischen Stil des so genannten Dorfrealismus abgefasst, aber sie enthalten bereits Elemente, die in eine neue Richtung weisen. Das ist auch der Grund, weswegen man Oks mit allerlei verschiedenen Charakterisierungen belegt hat. Letztendlich ist das parallele Auftreten von symbolistischen

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und expressionistischen Elementen (Süvalep 1996, 798) nur ein Beweis für die Eigenständigkeit eines Schriftstellers, der die eingefahrenen Bahnen verlässt und sich auf die Suche nach Neuem begibt. Dabei lässt sich die Grundhaltung des Autors am einfachsten anhand der Titel seiner Bücher erläutern, die die jeweiligen Herausgeber treffend aus den ihnen zur Verfügung stehenden Novellentiteln ausgewählt haben: Die erste, von Tuglas herausgegebene, Sammlung trägt den Titel Tume inimeselaps (Dunkles Menschenkind, 1918), später finden wir Vaevade maa (Land der Sorgen, 1967), danach Hingemägede ääres (Am Rande der Seelenberge, 1989) und schließlich Otsija metsas (Der [Die] Suchende im Wald, 2003). Da gib es keine Fröhlichkeit, Klarheit oder Lebensbejahung; Finsternis, Sorge und Suche sind die vorherrschenden Themen. Lediglich Adsons Sammlung mit dem Titel Neljapäev (Donnerstag, 1920) fällt hier durch ihre neutrale Titelvergabe aus dem Rahmen. Nicht nur die Titelvergabe für seine Bücher musste Oks anderen überlassen, auch seine Erzählungen sind allem Anschein nach stark redigiert worden. In Ermangelung von Originalmanuskripten ist man hier jedoch über vage Vermutungen nicht hinausgekommen. Sicher ist, dass die in den Noor-Eesti-Alben publizierten Texte einer strengen Bearbeitung durch Tuglas und Suits ausgesetzt waren, wobei Tuglas später darauf hinwies, das manches allein schon deswegen geändert werden musste, weil es vorher unverständlich war. Im Übrigen habe sich Oks nicht sonderlich dafür interessiert, in welcher Form etwas erschien, und sich in seinen Briefen auch niemals irgendwie beklagt (Leht 1989, 170). In den Novellen von Oks kristallisieren sich zusehends klare Elemente des Expressionismus heraus: Die Sprache ist bildreich und metonymisch, Satzbau und Wortwahl sind unkonventionell, dem geschliffenen Satzgefüge wird die parataktische Anordnung vorgezogen, statt abgewogenen Formulierungen findet man drastische Wendungen und auffällig viele Reduplikationen. Auch in inhaltlicher Hinsicht lässt sich für den Expressionismus Typisches ausmachen: Gegenstand von Oks’ Novellen ist häufig die leidende, geknechtete Masse, Opfer und Verlierer, deren Situation in düsteren Tönen geschildert wird. Das erzeugte eine Art Weltuntergangsstimmung, Depression, Fatalismus und Perspektivlosigkeit waren bei Oks ein Vorgeschmack auf das, was kommen sollte. Dabei hat er nicht unbedingt direkte Einflüsse aus anderen Literaturen – er hat viel russische Literatur gelesen und konnte auch Deutsch – aufgenommen und verarbeitet, sondern seine Werke autonom geschaffen. Das machte ihm zum Erneuerer und damit Modernisten, aber auch zu einem Kosmopoliten, der »die Veränderungen, die in der Luft lagen«, spürte (Heero 2005, 208). Wie bei »extremen« Personen immer, so ist auch bei Oks auf die Nähe von Genie und Wahnsinn hingewiesen worden. Sicher-

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lich war Oks psychisch unausgeglichen und vielleicht auch labil, aber direkte Hinweise auf eine Geisteskrankheit wie etwa bei Juhan Liiv oder Marie Heiberg gibt es in seinem Falle nicht. Allerdings weisen einige seiner erotischen und stellenweise pornographischen Texte wie etwa Emased (Die Weibchen, 1908), die ihren Autor nicht nur als Misanthropen, sondern als direkten Misogyn ausweisen, auf erhebliche sexuelle Komplexe hin. Ein unvollständigeres Bild bleibt von der Dichtung von Oks. Auch das längere Gedicht Kannatamine (Passion) ist 1920 auf der Grundlage von zufällig bewahrten Teilen und keineswegs eines abgeschlossenen Manuskripts ediert worden. Unter Verwendung von biblischen und Kindheitsmotiven wird das Oratorium, wie der Titel nicht anders erwarten lässt, zu einer Leidensgeschichte, der in ihrer Betonung des assoziativ-subjektiven Gefühls expressionistische Elemente nicht fehlen. Dies charakterisiert auch die meisten anderen Gedichte, in denen anfangs allerdings noch eine romantische Grundstimmung ausgemacht werden kann, die später aber immer aufrührerischer und widerspenstiger werden. Damit wurde Oks insgesamt gesehen eigentlich zum besten Illustrator und Formulierer seiner Zeit – nur dauerte es, und hier drängt sich sogar eine Parallele zu Kristian Jaak Peterson auf, fast ein Jahrhundert, bis das erkannt und auch angemessen gewürdigt wurde.

§ 29 Marie Under Das Wunder von der Insel Marie Under ist im März 1883 zwar in Tallinn geboren, aber ihre Eltern stammten von der Insel Hiiumaa und waren erst zwei Jahre zuvor in die Hauptstadt gezogen. Unders erster Besuch auf der Insel als Neunjährige erfüllte sie mit einer Begeisterung, die ihr das ganze Leben in Erinnerung blieb und weswegen sie auch danach noch viele Male im Sommer auf die Insel fuhr. Eine Dichterin der Stadt ist die bedeutendste estnische Lyrikerin des 20. Jahrhunderts nie geworden, auch wenn sie den größten Teil ihres Lebens in Städten wie Tallinn, Moskau und Stockholm verbracht hat. Marie Under war eher eine Spätstarterin als ein Wunderkind, aber zu ihrem 50. Geburtstag, als sie aus dem ganzen Land Glückwunschtelegramme erhielt mit Texten wie »Alle Männer aus XY lieben sie und wünschen Ihnen alles Gute«, fühlte sich der Doyen der estnischen Literaturwissenschaft und Dichterkollege Gustav Suits bemüßigt, sie in seinem Glückwunschschreiben auf die der Empfängerin sicher bekannte Tatsache hinzuweisen, dass ihr Nachname im Schwedischen ›Wunder‹ bedeutet (Hinrikus et al. 2003, 13, 138).

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Unders Eltern waren strenggläubige Christen, die von Literatur nichts wissen wollten. Romane waren nach Meinung des Vaters Gift, gelesen wurde nur im Katechismus und in der Bibel, andere Lieder als Kirchenlieder kannte die Mutter nicht. So stellte sich das kleine Mädchen, das von 1891 an die deutsche Mädchenschule in Tallinn besuchte, seine eigene Bibliothek zusammen, indem es abschrieb, was es in die Hände kriegen konnte. Und das waren Gedichte von Goethe, Schiller und Heine. Obwohl ihre Eltern Mitglieder der estnischen Kirchengemeinde waren, absolvierte die Tochter gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen den Konfirmandenunterricht bei einer deutschen Gemeinde, so dass es nicht überraschend ist, dass die ersten dichterischen, freilich geheim gehaltenen, Versuche der Dreizehnjährigen auf Deutsch erfolgten. 1900 lernte Under durch die Vermittlung ihres Klavierlehrers, der zufällig auch für die Musikspalten des Eesti Postimees verantwortlich war und viele Verbindungen im gesellschaftlichen Leben Tallinns hatte, Eduard Vilde kennen und zeigte ihm einige ihrer Gedichte. Vilde, der sich vermutlich in die 18 Jahre jüngere Frau verliebt hatte, holte Under 1901 in die Redaktion des frisch gegründeten Teataja, wo sie für ein Jahr in der Administration angestellt war. Für die 18-Jährige, die zuvor kurzzeitig als Kindergärtnerin und Verkäuferin gearbeitet hatte und nun inmitten der Crème des Tallinner Intellektuellenlebens ihr Geld verdienen konnte, war dieses Jahr von besonderer Bedeutung. Marie Under verließ die Redaktion 1902 jedoch wieder, nachdem sie den Buchhalter Carl Hacker geheiratet hatte und ihr Mann es den damaligen Gepflogenheiten entsprechend nicht gerne sah, dass seine Frau arbeitete. Damit nicht genug, suchte er sich eine Stelle in Moskau, wo Marie Hacker dann vier Jahre lebte und ihre zwei Töchter gebar. Die Jahre in Moskau bzw. auf einem Gut in der Nähe Moskaus, wo Carl Hacker nach seiner Entlassung und vorübergehenden Arbeitslosigkeit 1903 eine neue Stelle angetreten hatte, waren einsam, arm an kulturellen Impulsen und streckenweise in materieller Hinsicht so kümmerlich, dass die Familie sogar Hunger litt. Auch kann die Ehe wohl kaum als glücklich bezeichnet werden: Von Anfang an war Under klar, dass ihr Mann ihr intellektuell nichts bot, und spätestens 1904, als Marie Under den Sommer in Estland verbrachte und unter anderem mit dem Künstler Ants Laikmaa, dem sie Modell saß, zusammentraf, zeigten sich erste Risse. Carl Hacker hat seine Frau auch bespuckt, geschlagen und an den Haaren gezogen, wie wir von einem postum veröffentlichten Brief von Under an Laikmaa wissen (Under 1997). Das Ende der Ehe nahte, nachdem die künftige Dichterin, die auf Andringen von Laikmaa mittlerweile auf Estnisch schrieb, 1913 auf dem Eröffnungsfest des Estonia-Theaters mit Artur Adson zusammengetroffen war.

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Seit 1906 lebten die Hackers wieder in Tallinn, wo ihre Wohnung – vor allem aber eben die Wohnung der angehenden Lyrikerin, deren Gedichte sporadisch in Zeitungen und Almanachen zu erscheinen begannen, vornehmlich aber noch in Manuskriptform zirkulierten – bald einem lebhaften literarischen Salon Heimstatt bot, in dem alles, was im estnischen Kulturleben Rang und Namen hatte, vorbeischaute. 1915 ernannte Under Adson zu ihrem persönlichen Sekretär, und die Ehe mit Hacker zerbrach völlig. Trotzdem willigte dieser nicht in die von Under 1916 eingereichte Scheidung ein, so dass das Gericht die Klage abwies. Erst 1920 zog Hacker aus und machte Adson Platz, mit dem Under von nun an in »wilder Ehe« lebte. 1921 und 1922 hielten sich die beiden längere Zeit in Berlin auf. 1923 wurden die Eheleute Hacker dann offiziell geschieden, und die im folgenden Jahr geschlossene Ehe mit Artur Adson führte Under allmählich aus den stürmischen Jahren in ruhigeres Fahrwasser. Stürmisch war die Zeit in mehrfacher Hinsicht gewesen: Nicht nur literarisch mit ihrem Debüt und der aktiven Zeit der Siuru-Gruppierung (s. u.) oder politisch mit Weltkrieg, Revolution und der Errichtung der estnischen Unabhängigkeit, sondern auch im persönlichen Bereich, denn so hatte es auch mit Friedebert Tuglas, der zeitweise heftig mit Adson um die Gunst der Dichterin wetteiferte, eine Romanze gegeben. In der Zwischenkriegszeit lebte Under, mit einem kurzen Intermezzo in Tartu, in der estnischen Hauptstadt bzw. einer Randgemeinde und war eine anerkannte poetische Autorität, obwohl sie sich von großen literarischen Auftritten lieber fernhielt. Als sich die sowjetischen Truppen im Herbst 1944 Tallinn näherten, entschied sie sich mit ihrer Familie für die Flucht nach Schweden. Auch im Exil blieb die Dichterin innerhalb der sich bald formenden Emigrationskultur aktiv. Bereits 1937 war sie zum Ehrenmitglied des Londoner PEN-Zentrums gewählt worden, nun folgten weitere Anerkennungen in Gestalt der Ehrenmitgliedschaft des Finnischen Schriftstellerverbandes (1963), der Ehrendoktorwürde der Freien Asiatischen Universität in Karachi (1968) oder der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1968). Durch ihr Werk und durch ihre Reisen, aber auch aufgrund der Übersetzungen ihrer Lyrik in westliche Sprachen, hat Under viel für die Verbreitung und Anerkennung der estnischen Literatur erreicht. Seit 1945 ist sie insgesamt achtmal, und zwar von jeweils verschiedenen Instanzen, als Kandidatin für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen worden. Doch blieb ihr diese höchste literarische Ehrung versagt. Marie Under dichtete bis in ihr achtes Lebensjahrzehnt hinein und kam in ihren 13 Sammlungen auf über 400 Gedichte. Erst in den 1970er-Jahren wurde es etwas ruhiger um sie. Seit 1975 lebte sie mit Artur Adson in einem Stockholmer Pflegeheim, wo der ehemalige persönliche Sekretär und treue

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Marie Under, Pastell von Ants Laikmaa, 1904 (Estnisches Kunstmuseum, Tallinn)

Lebensgefährte, der minutiös das Leben und Werk seiner Angebeteten dokumentiert hatte und mit dem die Dichterin weit über ein halbes Jahrhundert lang verbunden gewesen war, 1977 starb. Drei Jahre später folgte ihm Marie Under in ihrem 98. Lebensjahr. Die frühe Dichtung Marie Under war am Beginn ihrer Karriere vermutlich nicht sehr selbstbewusst oder zumindest nicht von ihrer eigenen Dichtung überzeugt, so dass es der Dreistigkeit eines verliebten Malers bedurfte, die ersten Gedichte von Under einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen: Ants Laikmaa schickte nämlich ohne Wissen Unders 1904 einige Gedichte an diverse Zeitungsredaktionen, und 1904 wurde unter dem Pseudonym Mutti, mit dem Laikmaa Unders Porträt betitelt hatte, im Postimees das erste Gedicht von ihr gedruckt. Natürlich sollte dieser äußere Impuls nicht überbewertet werden und der kulturell vielseitig interessierten jungen Dichterin, die neben Estnisch auch Deutsch, Französisch und Russisch las und beherrschte, die Fähigkeit abgesprochen werden, selbst für sich zu sorgen, aber in der bunten Reihe der Druckdebüts der estnischen Literatur ist die Form des hinterrücks

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eingereichten Manuskripts doch der Erwähnung wert. Es folgten weitere Publikationen in Zeitungen, und im zweiten Album von Noor-Eesti (1907) erschien auch die Autorin Under erstmalig, nachdem im ersten Album der Gruppierung 1905 bereits ein Gedicht unter dem von Laikmaa erdachten Pseudonym erschienen war. Auch damit war noch kein Durchbruch erfolgt, aber die Dichterin fand ihren Weg in Sammelwerke und Anthologien und stellte 1913 ihre erste Gedichtsammlung für den mittlerweile bestehenden Verlag Noor-Eesti zusammen. Der ist zwar nie erschienen, aber das Manuskript machte die Runde und die Dichterin wurde allmählich zu einem Begriff innerhalb der zeitgenössischen estnischen Literatur: Offenbar hatte hier jemand etwas zu bieten, was es bis dato noch nicht gegeben hatte. Als dann 1917 der erste Gedichtband mit dem schlichten Titel Sonetid (Sonette) erschien, war die Aufnahme stürmisch. Innerhalb von zwei Monaten war die erste Auflage vergriffen, so dass im selben Jahr noch ein Neudruck erfolgte, 1919 erschien die dritte Auflage. Dabei waren die Reaktionen gar nicht ausschließlich positiv, denn hier und da wurde an der überschäumenden Erotik Anstoß genommen. Die Liebe einer jungen Frau und die Natur sind die alles beherrschenden Themen dieser Sammlung. Dieselben Themen haben die beiden anderen Bände, die 1918 zwischen der zweiten und der dritten Auflage des Debütbands erschienen und gleichfalls kurz danach neu aufgelegt werden mussten: Eelõitseng (Vorblüte), mit den frühesten Gedichten von Under aus dem Zeitraum von 1904 bis 1913, und Sinine puri (Das blaue Segel), mit aktuellen Gedichten, die unmittelbar vor der Drucklegung entstanden waren. Diese drei Bände mit weit über hundert Gedichten formen eine Einheit und markieren die Frühphase in Marie Unders Werk. Was war das Aufsehen Erregende an einer Lyrik, die sich mit der Konzentration auf Natur und Liebe einer nicht sonderlich überraschenden Thematik annahm? Das Neue an Unders Gedichten war eine bis dahin ungekannte Vitalität und Lebensbejahung, ein geradezu kraftstrotzender Hedonismus und die Mitteilung von Gefühlen, die gleichermaßen tief wie echt waren. Das hatte niemand vor ihr so in Worte gekleidet. Zudem muss man den Kontext des Erscheinens der Sonetid berücksichtigen: Um Estland herum tobte der Erste Weltkrieg, und auch in Estland selbst war die Stimmung nicht rosig. Wenn dann eine vergleichsweise junge Frau, die andererseits kein Grünschnabel mehr ist und durch souveräne Beherrschung auch komplizierter Formen hervorsticht, in einem nach Revolution riechenden Herbst mit Gedichten an die Öffentlichkeit tritt, in denen in farbenfrohesten Tönen Frühling und Sommer geschildert werden und obendrein offenherzig mit erotischen und ekstatischen Färbungen ein hohes Lied auf die Liebe gesungen wird, dann war das hinreichend für die Klassifizierung von Unders Debüt als

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Literaturereignis ersten Ranges. Es entfachte einen Begeisterungssturm, der wenige unberührt ließ. Hervorgerufen wurde diese Begeisterung durch den Gefühlssturm der Dichterin selbst. Sie kam zwar erst kurz danach in Berührung mit dem deutschen Expressionismus, aber in ihren Gedichten kann man – auch wenn man sie immer wieder als romantisch oder impressionistisch eingestuft hat – schon vorher eindeutige Spuren von besonders ausdrucksstarken Formulierungen finden, die den Weg in den Expressionismus weisen. Das folgende Beispiel stammt aus dem Debütband Sonetid: Ekstaas Ah! Toredaim on elamine maine ja vägev vere surematu püüd! Mind võidab Rõõmu ihar, hõiskav hüüd, ma iial polnud kaaluv ega kaine. Ju jalgel maas kui kähar vahulaine mu kleidi valkjasroheline siid ja kahisedes langevad kõik rüüd, sest riidetult on siiski kaunim naine. Miks lõhnab ka nii helgelt heliotroop? Kas muutub täna minu elulugu? Ah, mina olen juba seda sugu, et iga meel mul iga ilu joob. Nii ahnelt tühjendan ma elulaeka kui surmamõistetu, kel vähe aega. (Under 1984, 33; Ekstase // Ach! Am großartigsten ist das irdische Leben / und stark der unsterbliche Drang des Bluts! / Mich bezwingt der jubelnde, lüsterne Ruf der Freude, / ich bin nie abwägend und nüchtern gewesen. // Schon auf die Knöchel gesunken wie ein schaumiges Wellenknäuel / ist die weißlich-grüne Seide meines Kleides / und raschelnd fallen alle Gewänder / denn ohne Kleidung ist die Frau doch am schönsten. // Warum duftet das Heliotrop auch so hell? / Wird sich heute meine Lebensgeschichte ändern? / Ach, ich bin halt von der Art, // dass jeder Sinn von mir nach jeder Schönheit lechzt. / So gierig leere ich die Lade des Lebens / wie eine zum Tode Verurteilte, die wenig Zeit hat.)

Das Gedicht erteilt der nüchtern-berechnenden Welt eine Absage und ist eine Huldigung an den freien Fall – mitten ins Leben hinein. Es ist direkt und offen und enthält erotische Anspielungen, die für die damalige Zeit ausreichend waren, um in gewissen Kreisen Anstoß zu erregen. Es spricht Wahrheiten aus, die eine ganze Generation ansprechen, und es strahlt Selbstbewusstsein aus. Und es ist gleichzeitig in die strenge Form des Sonetts gegossen. Das war genug für eine sofortige Aufnahme in den estnischen Parnass.

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Siuru Die Sonette von Under sind nicht ohne einen institutionellen Kontext erschienen, der für eine kurze, aber intensive Periode das estnische Kulturleben mitbestimmte und sogar prägte. Im Mai 1917 hatten sich fünf Personen zu einer Gruppe zusammengeschlossen, deren Ziel es war, die junge estnische Literatur voranzutreiben und auch zu verbreiten. Denn das Verlagswesen lag in den Kriegsjahren völlig am Boden. Neben Friedebert Tuglas, der aus dem Exil zurückgekehrt war und als Hauptinitiator Geschäftsführer wurde, und Marie Under, die kurz vor der Registrierung des Vereins im Juli 1917 zur Präsidentin gewählt worden war, gehörten Artur Adson, August Gailit, Henrik Visnapuu und – ab Juli 1917 als Sechster – Johannes Semper dazu. Adson wurde Schatzmeister der Vereinigung, die sich den Namen eines mythologischen Feuervogels, Siuru, der im 19. Gesang des Kalevipoeg vorkommt, gab, während die anderen drei gewöhnliche Mitglieder waren. Alle Mitglieder führten einen Spitznamen, von denen die sprechendsten Prinzessin (Under), Page (Adson) und Fürst (Visnapuu) waren. Ursprünglich war auch die Beteiligung von zwei Künstlern vorgesehen, aber die tauchten bei späteren Treffen nicht mehr auf, so dass die Vereinigung eine rein literarische Organisation wurde. Das tat sie so erfolgreich, dass das Frühjahr von 1917 gemeinhin als Siuru-Frühling in die estnische (Kultur-)Geschichte eingegangen ist. Die Vereinigung kann im weitesten Sinne als Fortsetzung von Noor-Eesti angesehen werden, womit sie schon rein personell durch Tuglas verbunden war. Aber auch Under und Semper hatten bereits in den Alben von Noor-Eesti Gedichte veröffentlicht, wenngleich zum Zeitpunkt der Gründung Tuglas der einzige wirklich bekannte Autor war. Eine weitere Verbindung zu NoorEesti bestand in der Person von Jaan Oks, der sich zu jener Zeit in einem Tallinner Krankenhaus aufhielt, von den Mitgliedern des Siuru-Kreises besucht wurde und dessen Manuskripte man gemeinsam las und für die Publikation sichtete. Denn die Herausgabe eines Literaturalmanachs, aber auch separater einzelner Bücher, stand von Anfang an auf dem Programm von Siuru. Dazu bedurfte es eines gewissen Startkapitals, das man sich auf einem mit großem Reklameaufwand angekündigten Literaturabend im Tallinner Estonia-Theater zu beschaffen hoffte. Der fand am 25. September (alten Stils) auch tatsächlich statt und wurde zu einem vollen Erfolg – ganz bestimmt in finanzieller Hinsicht. Das war das Hauptanliegen der Gruppierung gewesen, die explizit kein fest umrissenes ästhetisches Programm hatte, sondern sich nur die Freude am Schöpfungsprozess und die Verbreitung von Literatur auf die Fahnen geschrieben hatte.

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Mit dem Reingewinn von knapp 3000 Rubeln (exakte Zahlen in KK 1989, 626) waren alle Erwartungen übertroffen worden und eine hübsche Summe beisammen gekommen, mit der man die Verlagstätigkeit fortsetzen konnte. Angefangen hatte sie schon, denn genau an diesem Abend wurde mit den Sonetid von Marie Under das erste Buch des Verlags der Öffentlichkeit vorgestellt. Noch im Herbst bzw. frühen Winter desselben Jahes erschienen dann die weiteren Bücher: das erste Buch von Adson mit Lyrik im südestnischen Dialekt; das erste Album der Gruppe mit dem schlichten Titel Siuru I, worin Beiträge von allen Siuru-Mitgliedern sowie von Villem Ridala, Rudolf Reimann, Jaan Oks, August Alle, Aleksander Tassa, Richard Roht, Aino Kallas und Johannes Aavik aufgenommen waren; Henrik Visnapuus Buchdebüt Amores; August Gailits Novellensammlung Saatana karussell (Das Satanskarussell); und – zum Jahresanfang 1918 – auch noch Sempers Debüt Pierrot. Aus dem Stand heraus hatte die Vereinigung damit im Jahr 1917 für ein Sechstel der literarischen Produktion in Estland gesorgt. In den Folgejahren kamen noch zwei weitere Alben, einige Neuauflagen und neue Bücher heraus, aber eigentlich war die Verlagstätigkeit bereits 1918 an den neu gegründeten Verlag Odamees in Tartu abgegeben worden. Für die Belebung des Literaturmarkts war die Siuru-Initiative von eminenter Bedeutung. Erwartungsgemäß warf man den Mitgliedern der Siuru-Gruppe vor, sie würden sich in politisch turbulenten Zeiten auf eine Insel der Ästhetik zurückziehen und die Politik ignorieren. Diese Kritik war inhaltlich sogar korrekt, bloß zeigte der Erfolg von Siuru, dass trotz allem ein erheblicher Bedarf an einfach »schöner« Literatur vorhanden war. Und den gedeckt zu haben ist ein Verdienst von Siuru. Die weiteren Aktivitäten der Gruppe bestanden in Ausflügen ins Grüne und Literaturabenden in anderen Städten, wodurch sie schnell Bekanntheit erlangte. Aber es dauerte nicht lange, und es traten Misstöne auf, wie man es bei sehr individualistischen Personen, die sich zudem nicht durch ein Manifest oder ästhetisches Konzept eine gemeinsame Marschrichtung gegeben hatten, auch nicht anders erwarten kann. 1919 verließen Gailit und Visnapuu nach einem Skandal – Gailit hatte sich in einem feuilletonistischen Sammelband öffentlich über Adson, Tuglas und Under lustig gemacht – die Gruppe, die den Verlust durch die Aufnahme von Johannes Barbarus und August Alle ersetzte. Doch die Zeit war vorbei und die rasante literarische Entwicklung hatte die Gruppe überholt, so dass im Januar 1920 die offizielle Auflösung erfolgte. Es wäre falsch, die Siuru-Gruppe in eine ästhetisierende Ecke abzudrängen, die sich nicht darum kümmerte, was in der Welt um sie herum geschah. Schon die Illustrationen von Nikolai Triik im ersten Album wiesen in die

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Richtung eines Expressionismus im Sinne einer Anklage gegen die Unmenschlichkeit der Welt. Völlig zu Recht hat Nigol Andresen (1979, 124) Triiks Katastroof expressionistische Züge attestiert, und im dritten Siuru-Album finden sich Unders Übersetzungen von zeitgenössischen, eben expressionistischen, deutschen Dichtern. Deren neue Lyrik kann aber nicht alleine verantwortlich gemacht werden für den neuen Stil, der in den beiden folgenden Gedichtbänden von Under zum Ausdruck kam. Der Expressionismus in den Sammlungen Verivalla (Klaffende Wunde, 1920) und Pärisosa (Das Erbe, 1923) hat seine Wurzeln auch in der persönlichen Erfahrung ihrer Autorin und den weltgeschichtlichen Ereignissen. Plötzlich hatte sich Unders ursprünglich streng persönliche Lyrik gesellschaftlichen Strömungen geöffnet. Die Gedichte haben die Form des Sonetts verlassen und verwenden teilweise sogar den freien Vers, wenngleich ein Großteil nach wie vor gereimt ist. Das blieb bis an ihr Lebensende so, für reimlose Lyrik hat sich Marie Under nie so recht erwärmen können. Was aber besonders auffällt in diesen beiden Sammlungen, ist, dass das ursprünglich lauthals verkündete »Recht auf Glücklichsein« mit einem Mal in Frage gestellt wird. Keine Spur findet sich mehr von der überschäumenden Liebes- und Naturdichtung der ersten drei Sammlungen. Stattdessen fragt sich die Dichterin, wie man angesichts des Elends in der Welt noch glücklich sein könne, und wundert sich geradezu darüber, dass sie noch lebt: Wie sonderbar: ich lebe! Rechts und links Grab an Grab … schreibt sie 1920 im Gedicht Ma elan (Ich lebe). Hier wird ein greller Ton angeschlagen, wie schon die Titel einiger Gedichte aus dieser Zeit verraten: Klaffende Wunde, Hilferuf, Klagelied, Die Kriegsblinden. Mit den Klagen über den Krieg und den pazifistischen Elementen traf die Dichterin erneut den Nerv der Zeit, so dass von Verivalla noch 1920 die zweite Auflage erschien. Mit der 1921 herausgekommenen dritten Auflage von Sinine puri waren im Zeitraum von vier Jahren zehn Bücher von Marie Under auf den Markt gekommen. Spätere Dichtung Hervorgehend aus diesen beiden Extremen – überschwängliche Betonung des persönlichen Glücks und Leiden an der Welt – entwickelte sich die weitere Dichtung von Under in den 1920er-Jahren. Als Symbiose und Extrakt früherer Gefühlsstürme wird die Lyrik nun ruhiger und kontemplativer. Pärisosa war als fünfte Gedichtsammlung in dem Jahr erschienen, in dem die Dichterin vierzig wurde. Danach trat Marie Under in eine reife, intensive, fast souverän zu nennende Schaffensphase ein, die durch die mittlerweile geordneten Familienverhältnisse sicherlich noch begünstigt wurde. Zum Ende

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des Jahrzehnts erschienen vier Bücher: Hääl varjust (Stimme aus dem Schatten, 1927), Rõõm ühest ilusast päevast (Freude über einen schönen Tag, 1928), Õnnevarjutus (Glücksfinsternis, 1929) und Lageda taeva all (Unter freiem Himmel, 1930). Damit war die »Prinzessin« noch vor ihrem fünfzigsten Geburtstag unangefochten zur Königin der estnischen Dichtung aufgestiegen. Von den genannten Sammlungen beinhaltete Glücksfinsternis zwölf Balladen, in denen Motive aus der Bibel, estnischen Legenden und der estnischen Folklore verwendet wurden. Der Titel, ein Neologismus in Analogie zur Sonnenfinsternis, weist auf die neue, gespaltene Stimmungslage hin. So wie bei einer Sonnenfinsternis Licht und Dunkel am helllichten Tag vereint sind, so gibt es kein Glück ohne Schattenseiten. In den Balladen, die Under in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre verfasste, als sie parallel dazu an zwei Gedichtbänden arbeitete und Dramen der Weltliteratur übersetzte, zeigte sich die meisterhafte Stilbeherrschung der Autorin. Die gleichzeitige Beschäftigung mit mehreren Projekten, die überdies sekundiert wird von diversen Reisen in Europa, mag als weiterer Indikator für die Reife und die Erweiterung des Horizonts der Dichtern angesehen werden. Die beiden Sammlungen von 1927 und 1928 mit den konträren Titeln teilen den Titel der Balladensammlung auf zwei Bücher auf und sind daher als komplementär aufzufassen. Sie sollten ursprünglich auch innerhalb eines Bandes publiziert werden, sind dann aber doch kurz nacheinander erschienen. In den Gedichten dieser Sammlungen trat das persönlich-spontane Element in den Hintergrund. Allgemeinmenschliche Erfahrungen waren nun zentral, auf der negativen Seite behandelte Under so ziemlich alles, was das persönliche Glück des Menschen bedrohen kann: Der Tod bzw. seine Unausweichlichkeit, Schmerz, Armut, Einsamkeit, Heimatlosigkeit und enttäuschte Hoffnungen (Siirak 1987, 82); demgegenüber steht aber die Freude über einen schönen Tag, die Raum gibt für naturphilosophische Erörterungen und die Suche nach dem Glück zum Lebensinhalt macht. Nur einen Wermutstropfen gibt es: Diese Suche nach dem Glück muss in einer zutiefst unglücklichen Welt erfolgen. Die gleiche Stimmung herrscht auch in dem Folgeband vor, der 1930 erschien. In Unter freiem Himmel dominieren leisere Töne, gleichsam als hätte die Dichterin ein Jahrzehnt nach ihren expressionistischen Höhenflügen endgültig mehrere Gänge zurückgeschaltet. Dadurch erreichte sie aber eine neue Dimension in philosophischer Hinsicht. In den 1930er-Jahren verminderte sich die dichterische Produktivität von Under, wofür es mehrere Gründe gibt. Als wichtigste Ursache kann angenommen werden, dass die Dichterin eine erhebliche Entwicklung durchgemacht hatte und möglicherweise das Gefühl hatte, das Wichtigste erst einmal

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gesagt zu haben. Ferner war sie in diesen Jahren mit einigen Übersetzungen beschäftigt, außerdem bereitete sie ihre Gesammelten Werke vor, die 1940 in drei Bänden erschienen und wofür sie alle bislang erschienenen Gedichte redigierte. Und schließlich hatte sich die materielle Lage des Ehepaars AdsonUnder dank Stipendien und Literaturpreisen so weit gebessert, dass man ein wenig mehr reisen konnte, vor allen Dingen aber auch ein Grundstück kaufen und ein Haus bauen konnte. Trotz allem aber dichtete Under stetig weiter und legte 1935 mit Kivi südamelt (Ein Stein vom Herzen) ihre zehnte Gedichtsammlung vor. Wie die vorangegangenen spiegelt auch dieser Band den ewigen Konflikt zwischen Freud und Leid wider und behandelt ihn auf philosophischer Ebene. Mit ihm war die Dichterin auf dem Höhepunkt angelangt. Damit ist nicht gesagt, dass die noch folgenden Bände einen Rückschritt oder Abschied bedeuteten, aber sie bilden eine neue Periode und fallen auch in drastisch veränderte Lebensumstände. Die weltgeschichtlichen Ereignisse führten dazu, dass sich Under erneut der Politik zuwandte, wie sie es indirekt schon mit ihren expressionistischen Versen zwanzig Jahre früher getan hatte. Nun wurde sie aber wesentlich direkter, zumal die Bedrohung auch konkreter war. Ihre teilweise schon vorher in Periodika gedruckten Gedichte fasste Under 1942 in einem Band zusammen, den sie mit dem keinen weiteren Kommentar bedürfenden Titel Mureliku suuga (Mit sorgenvollem Mund) überschrieb. Als eine der wenigen Lyrikneuerscheinungen während der deutschen Besatzungszeit wurde die Sammlung begeistert aufgenommen. In ihr kommt all die Sorge zum Ausdruck, die man angesichts der weltpolitischen Lage haben musste, hier kamen auch Dinge zur Sprache wie die kurz zuvor erfolgten sowjetischen Deportationen, weswegen sich manche Gedichte tief im Gedächtnis der Bevölkerung eingeprägt haben und während der sowjetischen Periode ein mentaler Strohhalm waren, an dem man sich festklammern konnte. Eines dieser Gedichte ist der Weihnachtsgruß 1941, aus dem der folgende Ausschnitt stammt: Jõulutervitus 1941 Astun vaikset jõululumist rada üle kannatanud kodumaa. Igal lävel tahaks kummardada: ükski maja pole leinata. Vihasäde hõõgub muretuhas, nördimusest kalk ja valust hell on meel: ei saa mitte olla jõulupuhas sellel valgel jõulupuhtal teel. …

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Äkki tunnen, et ka täna nende pilgud tähtedesse tõstet, kust kuulen vangipõlves õdede ja vende valus-igatsevat tervitust. … (Under 1942, 15–17; Weihnachtsgruß 1941 // Ich schreite auf dem stillen, weihnachtlich beschneiten Weg / über das Heimatland, das gelitten hat. / Bei jeder Schwelle möchte ich mich verbeugen: / kein einziges Haus ist ohne Trauer. // Der Hassfunken glüht in der Sorgenasche, / von der Empörung hart und zerbrechlich vor Schmerz ist die Stimmung: / sie kann nicht weihnachtlich rein sein / auf diesem weihnachtlich reinen Weg. // … Plötzlich fühle ich, dass heute auch ihre / Blicke zu den Sternen gerichtet sind, von wo / ich der gefangenen Schwestern und Brüder / schmerzlich-sehnsuchtsvollen Gruß höre // …)

Die verehrte Dichterin, die man einst wegen ihrer ungestümen und gefühlsbetonten Direktheit bewunderte und später als tief schürfende Lebensphilosophin schätzen gelernt hatte, erwies sich hier als patriotisches Gewissen einer bedrohten Nation. Ihr Weihnachtsgruß gilt den Deportierten, die unter dem gleichen Himmel leben und deren Blicke in dieselbe Richtung gehen. Wie Under später mitgeteilt hat, ist ihr und ihren nächsten Angehörigen während des ersten sowjetischen Okkupationsjahres 1940/41 nichts zugestoßen. Es war das Mitleid mit denjenigen, denen Unrecht widerfahren war, das sie das besagte Gedicht hat schreiben lassen. Aus demselben Standpunkt heraus wählte sie 1944 den Weg ins Exil. Wenn man bedenkt, dass eine Exilierung immer ein erheblicher Einschnitt ist mit großen Folgen allein schon für die Organisation des Alltagslebens, und wenn man ferner berücksichtigt, dass das Tempo der Gedichtpublikationen von Under in den 1930er-Jahre schon erheblich gegenüber den stürmischen 1920ern und dem Siuru-Frühling nachgelassen hatte, dann ist Under im Exil eigentlich nicht schweigsamer geworden. Auch unter erschwerten Bedingungen dichtete sie weiter und publizierte noch zwei Gedichtsammlungen: Sädemed tuhas (Funken in der Asche, 1954) und Ääremail (In Grenzgefilden, 1963). Nur zu einem geringeren Teil handelt es sich hier um Gedichte, die den Verlust der Heimat beklagen, wenngleich es einige Zyklen gibt, die direkt gegen die sowjetische Okkupation ihres Vaterlandes gerichtet sind. Der Schmerz über den Verlust war groß und aufrichtig, und obwohl es Under in Schweden einigermaßen gut ging, ist sie dort auch in 36 Jahren nicht recht heimisch geworden. Der größte Teil dieser Dichtungen setzte aber nur das fort, was die Dichterin ein halbes Jahrhundert zuvor begonnen hatte, und wurde damit zum krönenden Abschluss ihres Werks. Sie kehrte hier teilweise zu schlichte-

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ren Formen zurück, blieb sich ihrer grundsätzlichen Thematik aber treu: Immer noch und immer wieder ging es um das Leben, das vor allem im Streben nach dem Glück besteht. Dass dieses Streben oft erfolglos ist, wird in diesen letzten Sammlungen möglicherweise etwas stärker betont, aber der Unterschied zu früheren Dichtungen ist nur gradueller, nicht prinzipieller Art. Mit ihrem lyrischen Werk hat Marie Under weite Kreise der Esten angesprochen, beeinflusst, zum Denken angeregt, zum Widerspruch herausgefordert, getröstet und geprägt. Die konstante Konsequenz der Dichterin, die zwar auch andere Interessen hatte und zum Beispiel relativ viel übersetzt hat, die sich aber immer als Dichterin verstanden hat und dieser Tätigkeit ihre größte Sorgfalt angedeihen ließ, mündete in ein Werk ein, von dem nicht nur hier und da einige Verse hervorstechen, wie es in der vorliegenden Darstellung notgedrungen der Fall ist, sondern das als Gesamtwerk von bleibendem Wert ist. Übersetzungen Bei Marie Under ist oft darauf hingewiesen worden, dass sie starke Impulse durch ihre Übersetzungstätigkeit bekommen habe. Auch wenn bezweifelt werden kann, ob diese Impulse in ihrem Falle stärker waren als bei den meisten anderen bislang behandelten Personen aus dem estnischen Literaturleben, und oben gezeigt werden konnte, dass man zum Beispiel die expressionistischen Elemente nicht allzu leichtfertig auf ihre Beschäftigung mit den entsprechenden deutschsprachigen Dichtungen zurückführen darf, ist nicht zu übersehen, dass die ausländische Literatur einen hohen Stellenwert bei Under einnahm. Das begann in der Schulzeit und endete in hohem Alter, als 1967 von ihr eine estnische Übersetzung von Anna Achmatovas Requiem erschien. Damit ist die Zeitspanne, innerhalb derer Übersetzungen von Marie Under erschienen sind, noch größer als die zwischen dem Erscheinen ihrer Gedichtbände, denn ihre erste Übersetzung eines Dramas von Maeterlinck war 1918 erschienen. Französisch, Deutsch und Russisch waren die Hauptsprachen, die Under in der Schule gelernt hatte und aus denen sie übersetzte. Von Maeterlinck erschienen noch zwei weitere Dramen, aus dem Französischen übertrug sie ferner Baudelaire, Claudel, Rimbaud und Rostand. Am größten war dennoch der deutsche Anteil. Neben der genannten Anthologie moderner deutscher Dichtung übertrug sie zahlreiche Dramen ins Estnische, so von Goethe, Grillparzer, Hasenclever, Hauptmann, Hofmannsthal und Schiller. Auch Gedichte von Goethe und Rilke gehörten dazu. Aus dem Russischen hat sie neben der genannten Achmatova noch Lermontov und gemeinsam mit Adson Pasternak übertragen. Schließlich sind noch die Skandinavier zu erwähnen: Hamsun, Ibsen und später Pär Lagerkvist.

§ 29 Marie Under

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Under hat auch versucht ins Deutsche zu übersetzen, was angesichts ihres schulischen Werdegangs weniger abwegig ist, als es zunächst klingen mag. Nach Errichtung des unabhängigen estnischen Staates war man um eine Verbreitung der estnischen Literatur bemüht und stellte eine Gedichtanthologie zusammen, die ins Deutsche und Französische übersetzt werden sollte. Für die deutsche Version war Under verantwortlich, die ihre Arbeit auch machte und redigieren ließ, aber später zerschlug sich das Projekt (vgl. P. Rummo 1977, 90–130). Es dauerte noch einige Zeit, bis die Rezeption der estnischen Literatur im Ausland begann. Unders eigenes Werk ist vor dem Zweiten Weltkrieg nur wenig in andere Sprachen übertragen worden. Sieht man von einer 1929 publizierten Übersetzung ins Esperanto einmal ab, ist lediglich eine russische Sammlung (1935) zu nennen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Rezeption aufgrund der internationalen Anerkennung und des Exilstatus der Dichterin dann besser in Gang gekommen. Neben den Übersetzungen in etliche Sprachen für Zeitschriften und Anthologien liegen eigene Gedichtbände von Marie Under auf Deutsch (1949), Englisch (1955), Schwedisch (1963), Französisch (1970), Italienisch (1971) und Finnisch (1978) vor. Damit war sie die am meisten im Ausland verbreitete estnische Dichterin, bis sie von Jaan Kaplinski (§ 43) eingeholt wurde.

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Kapitel VI: Literatur im eigenen Staat (1918–1940)

Kapitel VI Literatur im eigenen Staat (1918–1940) § 30 Institutionalisierung des Literaturbetriebs Neue Vorzeichen Die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie mit einem dem damaligen internationalen Standard entsprechenden Grundrechtskatalog in der Verfassung brachte als auffälligste und einschneidendste Veränderung für die Literatur den kompletten Wegfall der Zensur mit sich. Sieht man von zeitlich oder lokal sehr begrenzten früheren Zensurfreiheiten wie den kurzen Phasen im Zuge der Revolutionen oder dem Privileg von Peter Ernst Wildes Druckpresse in Põltsamaa (s. § 13) sowie den Schriften der Herrnhuter, die ohne Einholung einer Zensurgenehmigung gedruckt waren, ab, hatte es eine solche Situation vorher noch nie gegeben. Die Zensur war in ihrer Intensität schwankend gewesen, was von der Person der Zensoren und den jeweiligen zensierenden Instanzen abhing, sie war aber immer da gewesen. Nach der letzten strengen Zensur der deutschen Besatzung von 1918 war dieser Faktor der Literatursteuerung zur Jahreswende 1918/19 endlich gänzlich weggefallen. Die Bedeutung dieses Umstands wird noch größer, wenn man berücksichtigt, dass auch die nun angebrochene Phase zunächst einmal nur 15 Jahre andauerte, denn mit der Errichtung der autoritären Herrschaft von Päts im Frühjahr 1934 wurde auch die Zensur, wenn auch in abgeschwächter Form, wieder eingeführt: Statt der Vor zensur früherer Jahrhunderte, bei der man jeden Text im Vorfeld absegnen lassen musste, gab es dann die Nachzensur, bei der erschienene Texte im Nachhinein unter Umständen indiziert werden konnten. Die zugestandene Freiheit des Wortes war nicht das Einzige, was die Eigenstaatlichkeit an für das literarische Leben relevanten Veränderungen mit sich brachte. Das Ziel der Esten, »ein würdiges Mitglied in der Familie der Kulturvölker« zu werden, war bereits im Unabhängigkeitsmanifest von 1918 formuliert worden und zog nach sich, dass man sich auch konkret um die Förderung der Kultur bemühte. Es ist klar und logisch, dass hiermit in erster Linie die estnische Kultur gemeint war, denn erstens waren die Esten

§ 30 Institutionalisierung des Literaturbetriebs

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in einem annähernd homogenen Nationalstaat mit einem Bevölkerungsanteil von 88 Prozent zweifelsfrei die tragende Nation, deren Sprache auch folgerichtig als einzige Staatssprache in die Verfassung aufgenommen worden war, und zweitens bedurften die beiden quantitativ maßgeblichen Minderheitenkulturen – die russische und die deutsche – kaum besonderer Förderung, da es sich hierbei schließlich um die beiden größten Völker Europas handelte. Für deren Kulturpflege wurde, wenn das überhaupt notwendig war, andernorts gesorgt. Im Übrigen war die Minderheitenpolitik Estlands in der Zwischenkriegszeit vorbildlich und gewährte den nationalen Minderheiten eine weltweit beispiellose Kulturautonomie. Auch war die staatliche Kulturförderung nicht explizit auf eine einzige Staatssprache beschränkt, aber es ist verständlich, dass die Förderung der estnischen Kultur im Vordergrund stand. Schon im Dezember 1919, also noch bevor der Friede mit Sowjetrussland unter Dach und Fach oder die Verfassung verabschiedet war, hatte die verfassungsgebende Versammlung erste finanzielle Unterstützungen an Autorinnen und Autoren vergeben. Zwar war damit gleich wieder Streit verbunden, weil ein im September des gleichen Jahres zusammengerufener Schriftstellerkongress statt der Vergabe einmaliger Förderungssummen auf die Verleihung regelmäßiger Stipendien gepocht hatte und außerdem weil eine so wichtige Person wie Gustav Suits bei der Verteilung übergangen worden war, aber derlei Reibereien zwischen der Geld austeilenden öffentlichen Hand und der empfangenden Kunstgilde sind ein allseits bekanntes Phänomen. Vielleicht sind sie sogar ein Zeichen für eine Normalisierung des Literaturbetriebes. Gleiches gilt für ein Skandälchen im Zusammenhang mit einem Ausspruch des estnischen Bildungsministers von 1922: Vor dem Parlament hatte er in einer Debatte über die mögliche staatliche Unterstützung für Kunst und Literatur festgestellt, dass es auf diesem Gebiet in Estland keine förderungswürdigen Personen gebe, es gebe nur »fliegende Schweine« (vgl. § 28). Es folgte der obligatorische Sturm der Entrüstung von schriftstellerischer Seite (vgl. EKirj 1922, 140, auch Parve 1996, 190). Das Entscheidende ist jedoch, dass die Literaturförderung erstmals nicht abhängig von privatrechtlich organisierten Gesellschaften wie etwa der Estnischen Literaturgesellschaft war, sondern dass nun ein Teil der regulären Steuermittel dafür verwendet wurde. Dies wurde mit der nach langwierigen Vorbereitungen 1925 endlich erfolgten Verabschiedung des Gesetzes über das Kultuurkapital auf eine feste gesetzliche Grundlage gestellt. Nach diesem Gesetz wurde aus einer Sondersteuer auf Tabak und Alkohol ein Fonds gespeist, der in sechs Sparten mit eigenen Verwaltungen bzw. Entscheidungsgremien – Literatur, Theater, Mu-

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sik, Bildende Kunst, Körperkultur und Journalistik – Stipendien, Preise und Pensionen ausschütten sollte. Erste Initiativen zu einer derartigen Förderung hatte es bereits 1921 gegeben, doch war das Gesetz dann im Räderwerk des parlamentarischen Entscheidungsprozesses hängen geblieben – nicht aber eine im gleichen Jahr ergangene Verfügung des Finanzministeriums bezüglich der Sonderabgabe auf Alkohol, weswegen bereits eine erhebliche Summe zur Verfügung stand, als das Gesetz in Kraft trat. Dadurch erhielten die verschiedenen Verbände, die mittlerweile gegründet waren, einen gewissen Grundstock, mit dem sie sich später Immobilien aneignen konnten. So konnte sich die Estnische Literaturgesellschaft gemeinsam mit dem Schriftstellerverband ein Gebäude in Tartu kaufen, der Kunstbund errichtete ein Ausstellungsund Ateliergebäude in Tallinn, für die Musik wurde das Geld in den Bau des Konservatoriums investiert etc. (Ney 1969, 208) Der Literatur flossen in der Anfangsphase ca. 15 Prozent zu, später sank der Anteil auf neun Prozent (Uljas 2000, 58). Die Ausschüttungen für die Literatur bestanden in einer Unterstützung der literarischen Zeitschriften, die dadurch höhere Honorare zahlen konnten, in der Vergabe von Reisestipendien, in der Auslobung von Preisen für konkrete literarische Werke oder ganze Lebenswerke und in der Gewährung von regelmäßigen Monatsstipendien, die den Charakter von Gehältern annahmen. Diese variierten, konnten aber grob gesprochen den Umfang eines Lehrergehaltes annehmen, so dass man davon leben konnte. Bei der ersten Ausschüttung 1925 kamen die folgenden Personen in die erste Kategorie: Alle, Gailit, Kivikas, Kärner, Luts, Metsanurk, Raudsepp, Roht, Semper, Tammsaare, Under und Visnapuu. Nahezu alle der wichtigsten Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben später von dieser Förderungsart profitieren und dadurch freiberuflich leben – und eben schreiben – können. Lediglich voll berufstätige Autoren wie zum Beispiel der praktizierende Arzt Johannes Barbarus gingen leer aus. Dadurch konnte Barbarus sich aber seine völlige Unabhängigkeit bewahren, was ihn in manchen seiner Äußerungen radikaler als andere machte. Die Förderung durch das Kulturkapital konnte für einen kurzen Zeitraum gelten oder sich auf Jahre, möglicherweise sogar anderthalb Jahrzehnte ausdehnen. Wer in den Genuss des Letzteren kam, hatte zwar nicht formal, so aber doch finanziell betrachtet den Status eines Staatsautors bzw. einer Staatsautorin. An der Spitze der Tabelle der Empfängerinnen und Empfänger standen – in dieser Reihenfolge – Marie Under, Anton Tammsaare, Mait Metsanurk und Friedebert Tuglas (Uljas 2000, 60, s.a. O. Kruus 1991). Insgesamt gesehen hat das Kulturkapital bei der Förderung und Konsolidierung der estnischen Literaturlandschaft eine wichtige Rolle gespielt. Es ist als Instrument staatlicher Kulturförderung beispiellos. Selbstverständlich hat es gelegentlich

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Reibereien, Unmut und kleinere Skandale gegeben, aber alles andere wäre auch unerwartet, so dass man diesen Umstand wiederum nur als ein Zeichen für eine Normalisierung des Literaturbetriebs ansehen kann. Der Estnische Schriftstellerverband Verschiedene Zusammenschlüsse literaturinteressierter Personen hatte es bereits im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben, aber sie hatten sich – wie die Estnische literärische Gesellschaft oder die Estnische Literaturgesellschaft – im allgemeineren Sinne um die Förderung des Schrifttums und einer Schriftkultur bemüht, oder sie waren in den Ansätzen stecken geblieben, wie es bei der Gründung von Siuru (vgl. § 29) der Fall gewesen war: Da hatte man ursprünglich einen größeren Verband vor Augen gehabt, war aber über eine kleine Gruppierung mit vergleichbaren ästhetischen Überzeugungen nicht hinausgekommen. Mit der Erlangung der Eigenstaatlichkeit war die Zeit reif für die Schaffung eines echten Berufsverbandes der schreibenden Zunft. Einen ersten Ansatz hierzu hatte es bereits im September 1919 gegeben, als sich auf Initiative der seit Anfang des Jahres im Bildungsministerium angesiedelten Literaturkommission 16 Personen (Eelmäe 1982, 1421) zu einem ersten Schriftstellerkongress in den Räumen des Bildungsministeriums zusammenfanden. Dort diskutierte man über ideologische Gesichtspunkte und verfasste eine Grußadresse an die französische Vereinigung Clarté (Wortlaut bei P. Rummo 1977, 99–100). Ebenso befasste man sich mit der Möglichkeit staatlicher Förderung und erörterte, wer überhaupt als Schriftsteller oder Schriftstellerin anzusehen sei. Die vom Bildungsministerium in Aussicht gestellten Beträge wurden allgemein als zu kümmerlich angesehen, so dass ein fünfköpfiges Zentralkomitee gewählt wurde, das die Sache weiter vorantreiben sollte. Infolge der Streitigkeiten, die nach der im Dezember 1919 vom Bildungsministerium erfolgten Zuweisung der Gelder ausgebrochenen waren, verlief die ganze Sache aber im Sande. Auch der zweite Kongress von 1920 führte noch zu keinem konkreten Ergebnis; man diskutierte über den Gesetzesentwurf für das Kulturkapital und beschloss, für einen zu gründenden Verband eine Satzung ausarbeiten zu lassen. Das dauerte wiederum einige Zeit, während der sich wieder eine neue Gruppierung formierte, die vornehmlich ästhetische und ideologische Ziele verfolgte und sich unter einem Manifest und nicht unter einer Satzung zusammenschloss (Tarapita, s. § 31), aber nach zwei Jahren war man so weit. Der im August 1922 an die Regierung geschickte und im September von einem Gericht registrierte Satzungsentwurf konnte auf dem dritten Schrift-

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stellerkongress, der am 8. Oktober 1922 im Tallinner Rathaus stattfand und an dem 26 Personen teilnahmen, als Grundlage für die Schaffung eines alle Strömungen umfassenden Berufsverbandes dienen. Dabei ist die Reihenfolge der Schritte ein interessantes Detail, das anzeigt, dass der Verband von Anbeginn an nicht nur eine gewerkschaftsähnliche Interessengemeinschaft war, sondern auch eine semistaatliche Einrichtung mit einer gewissen Nähe zur Macht. Mindestens war er eine Lobbyistenvereinigung und damit eine ziemlich moderne Organisationsform. Denn die Schriftstellerinnen und Schriftsteller hatten schon Anfang der 1920er-Jahre begriffen, dass eine rein kommerzielle Ausrichtung ihrer Tätigkeit in einer so relativ kleinen Sprachgemeinschaft wenig Aussichten auf Erfolg haben würde, weswegen die Nähe zu den Geldtöpfen der Macht von vornherein ihr – legitimes – Bestreben war. Die geistige Unabhängigkeit der schöpferischen Personen hat das nicht beeinflusst – jedenfalls, soweit zu überblicken ist, nicht mehr als in anderen marktwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaften, in denen Menschen versuchten, mit dem Schreiben ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Es ist als ein typisches Spezifikum kleiner Staaten anzusehen, dass sich in einem frisch gegründeten Nationalstaat, der seine Lebensberechtigung zu einem Großteil aus einer sprachlich definierten Identität ableitete, diejenige Bevölkerungsgruppe, die sich explizit mit der Sprache und ihrer kunstvollen Pflege auseinandersetzte, um eine besondere Nähe zur Macht bemüht. Auch als sich der Verband in späteren Phasen im Schwitzkasten diverser totalitärer Systeme befand, war er in der Regel immer mehr Beschützer als Handlanger. Der neue Verband, dessen Gründung angesichts der zuvor konstatierten Streitigkeiten im Nachhinein betrachtet geradezu harmonisch verlaufen war (Eelmäe 1982, 1421), hatte sich verschiedene Ziele gesetzt. Man wollte sich um die Gründung einer eigenen Zeitschrift bemühen, literarische Veranstaltungen organisieren, die Verabschiedung des Gesetzes über das Kulturkapital in einer für die Autorinnen und Autoren annehmbaren Form vorantreiben und das Urheberrecht verteidigen (Raid 2002, 34). Hiervon ist die Gründung der Zeitschrift (s.u.) am schnellsten und mit nachhaltigem Erfolg gelungen, aber auch die anderen Satzungsziele sind, wenn nicht gleich erfüllt, so doch zumindest stetig im Auge behalten worden. An der Spitze des Verbandes stand Friedebert Tuglas, der zum Gründungszeitpunkt eine unumstrittene und anerkannte Autorität war. Bald ergaben sich dann infolge der in Intellektuellenkreisen üblichen Reibereien und Kämpfe, die teilweise damit zusammenhingen, dass der Verband zwar in Tallinn gegründet war, die führenden Mitglieder aber vorwiegend in Tartu lebten, personelle Veränderungen, aber letztendlich wahrten auch die jährlich neu gewählten Vorsitzenden Friedebert Tuglas, Mait Metsanurk, Henrik Visnapuu, Karl Rumor und

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zuletzt August Jakobson (Raid 2002, 180) die Kontinuität. So wurde der Verband vergleichsweise schnell zu einer alle Facetten des literarischen Lebens umfassenden Institution, die für das kulturelle Leben Estlands durch alle politischen Veränderungen hindurch eine bedeutende Rolle gespielt hat. Zeitschriften und Buchwesen Die allgemeine Aufbruchstimmung wirkte sich generell positiv auf das literarische Leben aus, was nach der Flaute während des Ersten Weltkriegs auch gar nicht anders zu erwarten war. Einen Anfang hatte hier Siuru mit seinen Literaturabenden, den Alben und der Verlagstätigkeit gemacht, und nach dem für Umbruchzeiten charakteristischen schnellen Zerfall der Gruppierung entstanden ebenso schnell wieder neue Initiativen und neue Zeitschriften. Häufig waren dieselben Personen für die einander ablösenden Publikationen verantwortlich. Bestes Beispiel hierfür ist die unermüdliche Aktivität von Friedebert Tuglas, der schon bei Noor-Eesti und Siuru federführend gewesen war und im Frühjahr 1919 eine Zeitschrift gründete. Von seinem Odamees (Der Läufer), der ebenso literarisch wertvoll wie allgemeinverständlich sein wollte, sind bis zum Juni des gleichen Jahres allerdings nur fünf Nummern erschienen, dann ging die Zeitschrift wieder ein. Sie wurde im August als Wochenschrift von August Alle fortgesetzt, der ihr einen humoristischen Anstrich verpasste und es bis zum Oktober auf neun Nummern, darunter eine Doppelnummer, brachte. Tuglas hatte sich inzwischen anderen Plänen zugewandt und wartete im November 1919 mit einer neuen, diesmal künstlerisch anspruchsvolleren Zeitschrift unter dem Namen Ilo (Schönheit) auf. Diese Zeitschrift versuchte schon, alle namhaften Autorinnen und Autoren für sich zu gewinnen, wie es Looming, als deren Vorgänger sie bezeichnet worden ist (Eelmäe 1993), später gelang, scheiterte in diesem Bestreben aber sowohl aufgrund der niedrigen Honorare als auch des unregelmäßigen Erscheinens. Dennoch brachte Tuglas es bis Ende 1921 auf zwölf Ausgaben. Parallel dazu war von Linde, Suits und Alle die Monatsschrift Murrang (Umbruch) gegründet worden, die vom März bis August 1921 auf vier Ausgaben, darunter zwei Doppelnummern, kam. Sie war, wie der Name schon vermuten lässt, deutlich politischer ausgerichtet und verwies inhaltlich bereits auf die wenig später erschienenen sieben Nummern von Tarapita (s. § 31), die abermals unter der Regie von Tuglas standen. Alle diese Unternehmungen litten an Geldmangel und waren aus diesem Grunde von so kurzer Lebensdauer. Deswegen galt das Hauptaugenmerk der Autorinnen und Autoren von Anfang an einer Bündelung der Kräfte und deswegen setzte sich der Schriftstellerverband für eine staatliche Förderung

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solcher Publikationen ein, denn allen Beteiligten musste klar sein, dass ein ausschließlich auf kommerzieller Basis laufender Literaturbetrieb bei einem Ein-Millionen-Volk unmöglich ist. Nur vor diesem Hintergrund ist die Gründung einer staatlich finanzierten bzw. zumindest bezuschussten Literaturzeitschrift zu verstehen. Ein halbes Jahr nach der Gründung des Schriftstellerverbandes konnte im April das erste Heft dieser neuen Zeitschrift erscheinen. Sie trug den schlichten Titel Looming (Schöpfung) und den Untertitel »Zeitschrift des Estnischen Schriftstellerverbandes«. Und das ist, sieht man von einigen kosmetischen Veränderungen beim Untertitel ab, bis heute so geblieben, denn abgesehen von einer dreieinhalbjährigen Unterbrechung während des Zweiten Weltkriegs ist die Zeitschrift durch alle politischen Wechsel hindurch kontinuierlich Monat für Monat erschienen, erst zehn-, später zwölfmal pro Jahr (vgl. für die Anfangsphase P. Rummo 1977, 7–89). Gründungsherausgeber war, wie sollte es anders sein, Friedebert Tuglas, der die Zeitschrift bis 1926 redigierte und den Grundstein für ihren Erfolg legte. Von Anfang an wollte die Zeitschrift ein Forum für alle Mitglieder des Schriftstellerverbandes sein, also über den Gruppierungen stehen. Und sie stand nicht nur für Verbandsmitglieder, sondern allen offen, die mit ihren Texten einen Beitrag zum literarischen Leben Estlands leisten wollten. Daher hat man die Zeitschrift wiederholt als »parlamentarisch« bezeichnet (Uibo 1998, 8), denn wie eine gewählte Volksvertretung sollte und wollte auch Looming das gesamte Spektrum abdecken und wie in der Politik musste jeder Chefredakteur – eine Chefredakteurin hat es bislang noch nie gegeben – von Looming immer zwischen den Intellektuellen und der Politik lavieren. Von 1927 bis 1929 saß Jaan Kärner auf dem Chefredakteurssessel, wo er eher durch zweifelhafte Finanzpraktiken als durch umsichtige Literaturpolitik auffiel und das Ansehen der Zeitschrift gefährdete. Von 1930 an führte Semper die Redaktion für die folgenden zehn Jahre, die man getrost als erste Blütezeit der Zeitschrift ansehen kann. Sie war nun das Organ für die aktuelle estnische Literatur. Der politische Umschwung sorgte 1940 für ein jähes Ende, an dem der amtierende Chefredakteur paradoxerweise nicht unbeteiligt war: Als Bildungsminister in der sowjetischen Marionettenregierung von 1940 musste er sozusagen seine eigene Zeitschrift, deren Chefredaktion er Tuglas überlassen hatte, gleichzuschalten versuchen. Der Schwerpunkt von Looming lag von Beginn an auf der Primärliteratur, die in der Regel die Mehrheit der Seiten einnahm gegenüber Essayistik, Kulturgeschichte, Literaturwissenschaft und Kritik. Die große Bedeutung der Zeitschrift bestand nicht allein in der überparteilichen Ausrichtung, sondern auch darin, dass sie es sich wegen der soliden Finanzierungsgrundlage leisten konnte, vergleichsweise hohe Honorare zu zahlen, so dass eine Publikation in

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Looming nicht nur für literarischen Status sorgte, sondern sich auch im Portmonee der Autorinnen und Autoren niederschlug. So hatte die Zeitschrift eine Art Monopolstellung, ohne dass sich diese jedoch negativ auf die literarische Vielfalt ausgewirkt hätte. Denn erstens gab es auch neben Looming noch andere Zeitschriften, vor allem in den 1930er-Jahren, die in literarischer und materieller Hinsicht vorsichtig als üppig bezeichnet werden können; und zweitens belebte die Konkurrenz das Geschäft: Looming selbst war dann vielleicht konkurrenzlos, aber die Konkurrenz bestand in Gestalt der wachsenden Zahl an Texten, die gar nicht alle in eine Zeitschrift passten. Also musste man sich schon einigermaßen anstrengen, wenn man bei Looming etwas unterbringen wollte, obgleich auch hier, wie überall, bei der Auswahl vielfach uneigentliche Kriterien eine Rolle spielten. Dennoch waren die Intrigen und Ungereimtheiten, die es im Zusammenhang mit den Redaktionen literarischer Zeitschriften immer gibt, im Falle von Looming vermutlich nicht schwerwiegend genug, um den Gewinn, den die Zeitschrift für die Literatur insgesamt bedeutete, zu schmälern. Die Konkurrenzlosigkeit der Zeitschrift, die im Laufe der Jahre dem Epitheton Solidität Platz gemacht hat, schlägt sich allenfalls darin nieder, dass die Umschlaggestaltung all die Jahrzehnte hindurch relativ spröde gewesen ist und nicht unbedingt den Blick auf sich zieht. Wie im Zusammenhang mit der Siuru-Gruppierung (s. § 29) bereits erwähnt, lag das Verlagswesen infolge des Weltkriegs am Boden, so dass die Buchproduktion auf den Stand von Mitte der 1870er-Jahre zurückgefallen war. Nach dem Krieg herrschte daher ein gewaltiges Nachholbedürfnis, und tatsächlich schossen die Verlage wie Pilze aus dem Boden. Neuauflagen vergriffener Bücher, Übersetzungen und neue Bücher erschienen um die Wette. Trotzdem kann man nicht von einer sofort eintretenden rasanten Entwicklung sprechen, da die entsprechende Kaufkraft im Lande noch fehlte und viele Verlage auf ihren Büchern sitzen blieben. Bisweilen ist sogar von einer Verlagskrise die Rede (EKirj 1922, 284 oder 1925, 293). Erst ab 1923 sind die Zahlen wieder deutlich höher als vor dem Krieg, um dann beinahe ununterbrochen bis zum Zweiten Weltkrieg weiter anzusteigen. Für das Jahr 1937 haben verschiedene Quellen für Estland die höchste Pro-Kopf-Buchproduktion Europas verzeichnet (Kolk 1958, 6; Salu 1961, 26). Einen besonderen Impuls hatte hier auch das 1935 ausgerufene Buchjahr gebracht. Alles in allem sind in den 22 Jahren der Unabhängigkeit weit über 1000 Buchtitel mehr gedruckt worden als in den vorangegangenen 383 Jahren zusammen, in denen estnische Bücher hergestellt worden waren. Die Belletristik wurde wie schon vor dem Krieg weiterhin mit Literaturpreisen und Wettbewerben stimuliert. Zu den staatlichen Preisen und Wettbewerben von Theatern oder literarischen Vereinigungen kamen nun auch

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Eigeninitiativen von Verlagen hinzu. Besondere Erwähnung verdient der seit 1927 vom Verlag Loodus durchgeführte Romanwettbewerb, da er zu einem Boom in der Prosaliteratur führte und dabei auch eindeutige literarische Begabungen ans Tageslicht förderte. Die Tradition der Romanwettbewerbe wird bis heute fortgeführt und ist in begrenztem Maße auch auf andere Genres ausgeweitet worden. Die Zahl der Öffentlichen Bibliotheken hat sich während der Zwischenkriegszeit vervierfacht und betrug 1939 736, allerdings waren diese Bibliotheken mit einem durchschnittlichen Bestand von gut 1000 Bänden nicht sonderlich groß und ihre Ressourcen beschränkt. Knapp zehn Prozent der Bevölkerung waren als Leserinnen und Leser registriert, was etwas mehr als in Finnland, aber weniger als in Dänemark war (EE 11, 558). Literaturwissenschaft Zu den zahlreichen Projekten, die bei der Errichtung der Eigenstaatlichkeit anstanden, gehörte auch die Umgestaltung der Tartuer Universität. Erstens musste ihr Status in der völlig anderen Staatsform neu definiert werden, zweitens bedurfte es auch neuer Fächer, die es in der Zarenzeit nicht gegeben hatte, und drittens sollte die einheimische Universität eine Lehranstalt werden, auf der in der Sprache des Mehrheit der Bevölkerung, die mittlerweile obendrein Staatssprache geworden war, gelehrt wird. Bei der Ausarbeitung der neuen Statuten orientierte man sich an den finnischen und schwedischen Universitäten (Ney 1969, 199), die von alters her als Vorbild gedient hatten. Und auch bei einigen der neuen Fächer musste man sich in diesen beiden Ländern bedienen, d.h. Professoren hierfür anwerben, da eigener Nachwuchs fehlte. Diese neuen Fächer waren die im weitesten Sinne als »national« aufzufassenden Wissenschaften wie Estnische Sprache und Literatur, Estnische Geschichte und Frühgeschichte, Estnische Volkskunde und Finnougristik. Damit nahm man notgedrungen in Kauf, dass nicht alle Vorlesungen gleich auf Estnisch stattfinden konnten, aber wie auch heute noch im internationalen Wissenschaftsbetrieb üblich wurde den ausländischen Lehrkräften eine Übergangszeit gewährt. Außerdem muss man im Auge behalten, dass die gesamte Intellektuellengeneration der 1918 gegründeten Republik infolge der Russifizierungspolitik im Zarenreich des ausgehenden 19. Jh. nicht einmal über eine estnischsprachige Schul- geschweige denn Hochschulbildung verfügte. So war nicht verwunderlich, dass 1919 noch über die Hälfte der Lehrveranstaltungen auf Russisch abgehalten wurde, etwas über vierzig Prozent auf Estnisch und 5,4 % auf Deutsch. Sechs Jahre später hatte sich das Bild gewandelt, nun wurden über sechzig Prozent auf Estnisch abgehalten, etwa ein

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Viertel auf Deutsch und ganze 8,2 % auf Russisch. Weitere fünf Jahre später fanden über neunzig Prozent des Unterrichts auf Estnisch statt, der Rest verteilte sich auf Deutsch und Russisch (Siilivask/Palamets 1982, 54). Die Literaturwissenschaft, die bislang vornehmlich als Literaturgeschichte und Literaturkritik betrieben worden war, erhielt mit dem Amtsantritt von Gustav Suits 1921 auch an der Tartuer Universität ein festes Standbein. Aus seiner über zwanzigjährigen Tätigkeit ist eine eigene Schule von Tartuer Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern hervorgegangen, die bis weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinein die Erforschung der estnischen Literatur gestaltet hat. Auch Suits war an der Literatur in historischer Perspektive interessiert, wie aus seinen zahlreichen Publikationen beispielsweise in der Zeitschrift Eesti Kirjandus hervorgeht. Diese Zeitschrift war in der Zwischenkriegszeit unangefochten die wichtigste Publikation zur estnischen Literaturgeschichte, in den 1930er-Jahren war sie besonders umfangreich. Da gleichzeitig seit 1922 die Zeitschrift Eesti Keel (Estnische Sprache) bestand, war in Eesti Kirjandus noch mehr Raum für Literatur, weil linguistische Fragen nun andernorts behandelt wurden. Suits hatte darüber hinaus aber ein ebenso großes Interesse an theoretischen Fragen, das auf sein Studium in Helsinki und den frühen Kontakt mit dem dänischen Literaturwissenschaftler Georg Brandes zurückzuführen ist. 1923 hatte Suits noch vor, der Universität eine Doktorarbeit – aus Helsinki hatte er nur den Kandidatentitel mitgenommen, der 1919 in einen Magister umgewandelt wurde – zu »Hauptproblemen in der Methodologie der Literaturgeschichte« vorzulegen (Taev 1983, 605), doch ist es nie zur Abfassung dieser Arbeit gekommen. Aber auch unabhängig davon hielt Suits seit 1926 Vorlesungen über literaturtheoretische Fragestellungen, wobei er immer besonderen Wert auf eine als pluralistisch oder auch synthetisch bezeichnete Herangehensweise gelegt hat. Das bedeutet, dass man sehr wohl verschiedene Methoden und Prinzipien anwenden kann und muss, sie aber immer zu einer begründeten Synthese zusammenfügen muss. Im konkreten Fall der estnischen Literatur hieß das für Suits auch, dass man sich mit dem Entstehungsgebiet der estnischen Literatur befassen musste und dann auch die in Estland verfasste deutsche Literatur zu berücksichtigen hatte. Folgerichtig hielt er von 1930 bis 1932 Vorlesungen zum Thema »Deutschbaltische und estnische Literatur«. Suits begnügte sich aber nicht mit dieser vielleicht als Regionalismus zu bezeichnenden Richtung, sondern wies auch den Weg in die moderne Komparatistik, indem er sich nicht nur auf die Suche nach den fremden Einflüssen in der estnischen Literatur machte, sondern auch intensiv andere Literaturen wie die russische oder die finnische studierte und ohnehin im Austausch mit zahlreichen ausländischen Fachkollegen stand (vgl. Taev 1983).

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Ebenfalls nicht zu trennen von Gustav Suits ist die Akademische Literaturvereinigung (Akadeemiline Kirjandusühing), deren Gründung auf seine Initiative hin 1924 erfolgte und der er bis zu ihrer Auflösung 1941 vorstand. Sie vereinigte Studierende und Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in dem Bestreben, die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur zu fördern. Dazu wurden Vorlesungen organisiert, auch mit ausländischen Vortragenden, und eine Publikationsreihe ins Leben gerufen, innerhalb derer 16 Titel erschienen sind. Die Vereinigung warb auch Gelder ein, die sie dann in Form von Forschungsstipendien vergab, und war somit ein weiterer Baustein für die Herausbildung einer eigenständigen und vielseitigen estnischen Literaturwissenschaft, worauf schon die starke Mitgliederzahl hinweist: Sie hatte 130 aktive und ca. 85 Förderungsmitglieder (Undla-Põldmäe 1981, 335, s. a. L. Tohver 1934). Weniger im Zusammenhang mit der Literaturwissenschaft im engeren Sinne, sondern zur Illustrierung der Entwicklung in den Wissenschaften generell ist die Gründung der Estnischen Akademie der Wissenschaften zu nennen, die nach einer längeren Planungsphase im Januar 1938 erfolgte. Zu den ersten zwölf ernannten Mitgliedern zählte erwartungsgemäß auch Gustav Suits. Die Gründung der Akademie, die zwar nur zweieinhalb Jahre tätig sein konnte, ehe sie aufgelöst und nach dem Zweiten Weltkrieg nach sowjetischem Muster wiedererrichtet wurde, war so etwas wie der Schlussstein im Gebäude der estnischen Wissenschaft, das in den zwei Jahrzehnten der Eigenstaatlichkeit mit vereinten Kräften aufgebaut worden ist. Symbolisiert wird dies dadurch, dass neben Fachbüchern und Nachschlagewerken aus den verschiedensten Disziplinen in den Jahren 1932–1937 auch die erste vollständige estnische Enzyklopädie in acht Bänden mit rund 5600 Seiten erschienen ist. Ebenso symbolisch für das abrupte Ende dieser Entwicklung ist, dass von dem geplanten Ergänzungsband 1940 nur noch vier Lieferungen erscheinen konnten und er dann mitten im Buchstaben K, ungefähr auf der Hälfte, abbrach.

§ 31 Europäische Verflechtungen Reisefreiheit Spätestens seit den erzwungenen Auslandsaufenthalten vieler literarisch aktiver Personen im Zusammenhang mit den Revolutionen im russischen Reich ist deutlich geworden, dass Eindrücke aus dem Ausland bei der sich herausbildenden estnischen Literatur eine große Rolle gespielt haben. Diese Entwicklung setzte sich nach der Erlangung der Eigenstaatlichkeit nahtlos fort,

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nun aber unter anderen Vorzeichen: Viele Autorinnen und Autoren begaben sich freiwillig auf Studienreisen ins Ausland, was unter den Bedingungen im Zarenreich aus politischen oder finanziellen Gründen die Ausnahme gewesen war. Die größte Anziehungskraft übte nach wie vor Deutschland aus, weil die Beziehungen zur deutschen Kultur von alters her eng waren und weil man die Sprache beherrschte. Die andere Sprache, die man ebenfalls konnte, Russisch, war dagegen weniger attraktiv, weil Russland sich noch im Chaos des Bürgerkriegs und bald danach im unsicheren Aufbau eines neuen Systems befand. Außerdem hatte man sich gerade in einem Freiheitskrieg von Russland getrennt, so dass Reisen dorthin – Visnapuu hielt sich 1921 längere Zeit in Moskau auf, ebenso stattete Gailit dem Land einen Besuch ab – die Ausnahme waren. Deutschland aber war wie Estland eine frisch gegründete Demokratie, in der es brodelte, und dahin, nach Westen und in erster Linie nach Berlin, war der Blick der Esten gerichtet. Allein in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre hielten sich – neben all den anderen Nationalitäten, man denke nur an die hohe Zahl der Russen (vgl. Mierau 1988) – zahlreiche Esten in Berlin auf. In der Hauptstadt Deutschlands konnte man dank der Inflation billiger leben als zu Hause. Eduard Vilde war von 1919 bis 1923 hier; Artur Adson und Marie Under unternahmen zwei längere Reisen nach Berlin; im Herbst 1921 kam Mait Metsanurk; Albert Kivikas hielt sich 1922/23 hier auf und betätigte sich journalistisch; dasselbe tat Roht in den Jahren 1921 bis 1923; Henrik Visnapuu kam 1922 zum Studium hierher und kehrte 1923 nach Estland zurück; August Gailit lebte 1922/1923 ein gutes Jahr hier; von April bis Juni 1922 hielt sich auch Friedebert Tuglas in Deutschland auf; Johannes Barbarus war 1923 ebenfalls in Deutschland; und Johannes Semper studierte gar von 1921 bis 1925 in Berlin. Einige ließen selbst ihre Bücher hier drucken (Siirak 1969, 94), wenngleich als Erscheinungsort in der Regel Tartu verzeichnet wurde. Die große Anzahl der Esten, aber auch die günstigeren und technisch auf einem höheren Niveau stehenden Druckmöglichkeiten führten dazu, dass in jenen Jahren in Berlin sogar einige estnische Zeitschriften erschienen. Dennoch blieben sie Episode, sie spielten kaum eine Rolle im literarischen Diskurs der Zeit. Sehr lückenhaft überliefert ist die Eesti Heal (Estnische Stimme), von der 1918 34 Nummern publiziert worden sein sollen. Bekannt sind derzeit nur zwei Nummern, und über eine mögliche Beilage dieser Publikation mit dem Titel Meie Aeg (Unsere Zeit) gibt es ebenfalls nur indirekte Informationen (Annus/Loogväli 2002, 160–162). 1922 wurden 9 Hefte der Zeitschrift Aeg (Zeit) gedruckt, die sich laut Untertitel mit Politik, Literatur und Kunst befasste. Verbunden wird diese Zeitschrift meistens mit Richard Roht, zum Umkreis der Zeitschrift wurden allerdings auch Gai-

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lit und Visnapuu gerechnet (Haug 1983, 65). Roht war nur bei den ersten drei Nummern verantwortlicher Redakteur. Danach war Jaan Järve Chefredakteur, der vorher schon Herausgeber gewesen war. Järve studierte zu jenem Zeitpunkt in Berlin Theologie, verfügte aber bereits über einige journalistische Erfahrung: 1917–18 hatte er den Uus Pärnu Postimees (Neuer Pärnuer Postbote) redigiert, 1920 war er für ein gutes halbes Jahr verantwortlicher Redakteur beim Postimees in Tartu, und 1921 bei einer Tallinner Zeitung. Roht produzierte danach noch drei Nummern der Zeitschrift Euroopa Elu (Das Leben Europas), die zur Jahreswende 1922/1923 herauskamen. Albert Kivikas brachte 1922 eine 16-seitige Ausgabe eines Berliini Kaja (Berliner Echo) zustande, aber bei dieser einen Nummer ist es auch geblieben. Erfolgreicher war sein Engagement für den Odamees, der seinen dritten Anlauf (vgl. § 30) 1922 in Berlin machte. Hier war Kivikas bis 1923 für fünf Nummern verantwortlich, danach zog die Redaktion wieder nach Tartu, wie die Zeitschrift unregelmäßig und mit wechselnden Redaktionen bis 1929 erschien. Anders als in früheren Perioden bedeuteten diese Berliner Publikationen und die Auslandsaufenthalte keine Verlagerung des intellektuellen Lebens ins Ausland, zumal man die Sommer häufig in Estland verbrachte. Sie waren eine Ergänzung und Horizonterweiterung, während auch in Estland selbst das literarische Leben auf vollen Touren an- und weiterlief. Hierbei spielten, wie gezeigt werden konnte (§ 28), auch die Impulse aus dem Ausland eine Rolle, die durch den massiven Auslandsaufenthalt vieler Intellektueller eben nicht geringer wurden. Eindruckvollstes Beispiel hierfür ist die Tätigkeit von Johannes Semper, der nicht nur lange in Berlin studiert hatte, sondern von dort aus auch eine zweimonatige Reise nach Italien unternahm und anschließend zwei Jahre in Paris lebte. Er war auf allen denkbaren literarischen Gebieten tätig: als Dichter, Prosaist, Dramatiker, Kritiker, Essayist und Übersetzer. Obwohl Semper als Dichter der Siuru-Gruppe durchaus bedeutend war, ist seine Vermittlertätigkeit vielleicht noch höher einzuschätzen. Das liegt mit daran, dass er sein besonderes Augenmerk auf die romanischen Sprachen richtete und hier sein Spezialgebiet fand. Berlin war für ihn nur das Sprungbrett nach Rom und Paris gewesen. Französisch war zwar eine verbreitete Fremdsprache unter den Intellektuellen Estlands, aber niemand beschäftigte sich dermaßen intensiv damit wie Semper, und kaum jemand schenkte damals dem Italienischen und Spanischen so viel Aufmerksamkeit. Er hatte sich erst mit dem deutschen Expressionismus und mit Walt Whitman, dem er eine Gedichtauswahl und einen längeren Essay widmete und dessen Spuren er in der deutschen und französischen Dichtung ausfindig machte, befasst. Bald danach verlegte er

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sich ganz auf die romanischen Sprachen und publizierte in Looming Übersetzungen aus dem Französischen und Italienischen. Insbesondere Emile Verhaeren hatte es Semper angetan, die jahrelange Beschäftigung mit ihm mündete 1929 in einen separaten Band mit 85 Gedichtübersetzungen ein. Intensiv befasste er sich auch mit André Gide, dessen Stil er 1929 in seiner als Monographie publizierten Magisterarbeit analysierte, und sehr einflussreich war seine 1934 erschienene Essaysammlung über den »Französischen Geist«. Damit wurde Semper selbst zum Sinnbild des Französischen in der estnischen Kultur. Seine Übersetzungstätigkeit beschränkte sich dabei nicht auf die Lyrik, er übertrug auch Romane von Hugo, Stendhal und Zola. Und er begnügte sich keineswegs mit den anerkannten Klassikern, sondern stellte bereits 1938 Sartre in Estland mit einer Übersetzung in Looming und einer Nachbemerkung vor. Regelrechtes Neuland betrat Semper mit seiner Hinwendung zu den anderen romanischen Sprachen, wobei er sogar Europa verließ und in den 1930er-Jahren nach Südamerika reiste. Es folgte ein Essay über die argentinische Literatur, eine Reisereportage in Buchform, und 1953 eine Gedichtauswahl von Pablo Neruda. Im Bereich der italienischen Literatur trat er mit einer Würdigung des Nobelpreisträgers von 1934, Pirandello, einigen Auszügen von Dantes Divina Commedia und – dies dürfte Sempers bedeutendste Leistung auf diesem Gebiet sein – mit einer vollständigen Übersetzung von Boccaccios Decamerone an die Öffentlichkeit (vgl. N. Andresen 1962). Semper war nicht der Einzige, der in der Zwischenkriegszeit intensiv reiste und seine Eindrücke schriftliche fixierte, aber er war vergleichsweise lange im Ausland und brachte besonders viel von dort mit. Reisen und Reportagen schreiben wurde für die estnischen Autorinnen und Autoren von nun an zu einem festen Genre, das aus der Literatur nicht mehr wegzudenken ist. Wichtig für die Zwischenkriegszeit ist, dass es praktisch keinerlei Beschränkungen außer solchen finanzieller Art gab; die meisten Reisenden hielten weiterhin Verbindung mit Estland, ganz deutlich war das wiederum im Falle Sempers, der mit seinen estnischen Kollegen korrespondierte und sich an der Entwicklung in Estland beteiligte. Ferner gilt zu bedenken, dass, was hier mit »Europäischer Verflechtung« überschrieben worden ist, nicht nur in den Reisen der estnischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller in westliche Länder zum Ausdruck kommt, sondern dass eine Art der Verflechtung auch mit dem Osten, also Sowjetrussland bzw. ab 1922 der Sowjetunion, bestand, wo eine nicht unerhebliche Anzahl estnischer Bücher gedruckt worden ist (s. Antik 1939, vgl. § 36). Und andererseits gab es in Estland selbst nach der Umkehrung der politischen Vorzeichen und der Erhebung der estnischen Kultur zur Staatskultur diverse Minderheitenkulturen, die sich im Rahmen der ihnen garantierten Kultur-

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autonomie auch gut entfalten konnten. So verfügten die Deutschen über ein gut funktionierendes Theater, das man auf estnischer Seite sehr wohl wahrnahm und rezipierte (vgl. Aunin 2002), und über eine blühende Presse und Verlagslandschaft (vgl. Fernengel 1996). Tarapita Der Zerfall von Siuru lässt sich mit dadurch erklären, dass die vagen ästhetischen Gemeinsamkeiten in einer von ideologischen Auseinandersetzungen gekennzeichneten Zeit als zusammenschweißende Grundlage zu wenig waren. Obwohl auch bei Siuru, wie oben erwähnt (§ 29), ein politisches Engagement auszumachen war, wurde der Gruppe ihre unpolitische Haltung noch nach ihrer Auflösung vorgeworfen. Im März 1920 veröffentlichten Henrik Visnapuu, der Siuru vorzeitig verlassen hatte, Richard Roht, der bislang mit dem Futurismus in Verbindung gebracht worden war (s. § 28), und Johannes Barbarus, der seinerzeit an Stelle von Visnapuu bei Siuru eingestiegen war, ein Album unter dem Titel Looming I (Schöpfung – eine zweite Ausgabe ist nie gefolgt), das als politisch-literarisches Manifest angesehen werden kann: Hier formulierte Visnapuu sein Credo, das mindestens ebenso zum geflügelten Wort der estnischen Literaturgeschichte geworden ist wie die fliegenden Schweine von Kivikas, denn da hieß es unter anderem: Es lebe der frische Misthaufen! Das war die Verabschiedung von den Blumendüften der Siuru-Gedichte, nun sollte man sich endlich wieder dem wahren Leben zuwenden. Auch Kivikas schlug mit seinem Pamphlet Maha lüüriline shokolaad! (Nieder mit der lyrischen Schokolade) vom Sommer 1920 in die gleiche Kerbe bzw. machte sie noch breiter: Er setzte hiermit seine futuristischen Manifestationen (vgl. § 28) fort und machte praktisch jede andere Person des literarischen Lebens mit einer persönlich gemünzten Losung nieder, Visnapuu nicht ausgeschlossen. Alles in allem lautete seine Botschaft, dass er genug von der seichten Kost hatte und es ihn nach einem anständigen Stück Fleisch verlangte. Auch dies war der Ruf nach mehr Engagement. Dieses Engagement ließ nicht lange auf sich warten. Schon die kurzlebige Zeitschrift Murrang (s. § 30) hatte in ihrem programmatischen Vorwort explizit Bezug auf die französische Zeitschrift Clarté und den dahinter stehenden politisch links stehenden Antikriegskreis um Henri Barbusse genommen. Im gleichen Sommer 1921, in dem die letzte Doppelnummer von Murrang erschienen war, erfolgte die Gründung einer neuerlichen, umfassenderen und mit einer klaren politischen Botschaft ausgestatteten literarischen Gruppierung: Tarapita, die sich ihren Namen nach einem aus der Chronik Heinrichs von Lettland überlieferten Kriegsruf der von den Kreuzrittern bedrängten

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Esten gab. Deren Tarapita ist interpretiert worden als Taara avita bzw. Taara aita, was die Anrufung der obersten Gottheit beinhaltet und so viel bedeutet wie ›Taara, hilf!‹ (vgl. § 6). Um Hilfe gerufen wurde hier, weil sich die Mitglieder dem Druck des sich entfaltenden Kapitalismus mit seinem Spekulantentum, seiner Kommerzialisierung und seiner Raffgiermentalität ausgesetzt fühlten und in mehr oder weniger starker Opposition zum herrschenden System standen. Dem sollte politisch engagierte Literatur entgegengestellt werden, weswegen man eine größere und schlagkräftige Gruppierung im Blick hatte als nur einen ausgewählten kleinen Kreis. Prinzipiell waren die bekannteren Autorinnen und Autoren hier auch einer Meinung, nur gab es zu große Animositäten aus früherer Zeit zwischen einigen Personen, so dass Gailit und Visnapuu, die ursprünglich wohl nichts gegen eine Neuauflage von Siuru unter anderen Vorzeichen gehabt hätten, dem Kreis schließlich fern blieben. Sie konnten sich partout nicht mit Adson und Under anfreunden. Die aber wollten, und sollten nach Meinung anderer, auf jeden Fall dabei sein. Der Schwerpunkt lag bei Tarapita auf der Literatur, d. h. man wollte einen Zusammenschluss der im literarischen Bereich aktiven und bekannten Personen, so dass eine vage Kontinuität eher zu Siuru als zu Murrang besteht: Letztere war nur eine Zeitschrift und keine Gruppierung, und sie hatte sich explizit an die französische Clarté-Bewegung angelehnt, während die Bezüge zwischen Tarapita und Clarté oberflächlicherer Natur waren. Inhaltlich gab es neben Berührungspunkten im Pazifismus sicherlich auch erhebliche Differenzen, wenn man bedenkt, dass Clarté voll und ganz hinter den Beschlüssen der III. Kommunistischen Internationale stand, was man von den Mitgliedern von Tarapita kaum behaupten konnte. Von ihnen war Barbarus vermutlich der Einzige, der sich explizit mit den Zielen von Clarté identifizierte, und er war es auch, der begeistert »mit beiden Händen und der Feder seines Herzens« (Peep 1958, 644) seinen Namen unter das Manifest der neuen Gruppe setzte. Denn ein eigenes Manifest hatte Tarapita, Johannes Semper hatte es aufgesetzt, und da zum Diskutieren des Entwurfs keine Zeit mehr blieb, trägt es auch weitgehend Sempers Handschrift, was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass Semper später nur noch bedingt in der Gruppe aktiv war, da er ja in Berlin weilte. In seinem Manifest prangerte Semper die erwähnten Missstände des Kapitalismus an und wies auf die um sich greifende geistige Verarmung, weil die kleinbürgerlichen Hirne nur Platz für Aktienkurse und nichts anderes haben. Statt der Jugend geistige Werte zu vermitteln, betäube man sie mit Sport und Pfadfinderei. Es sei an der Zeit sich einzumischen und ein Tribunal des Geistes über die Korruption zu veranstalten.

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Zehn Personen hatte ihren Namen darunter gesetzt: Adson, Alle, Barbarus, Kivikas, Kärner, Semper, Suits, Tassa, Tuglas, Under – also bis auf die genannten Gailit und Visnapuu tatsächlich die meisten bekannteren Mitglieder der jüngeren Generation, obwohl man nicht übersehen darf, dass die estnische Literatur zu jenem Zeitpunkt schon aus viel mehr Namen bestand. Manche, nicht unbedingt viel Ältere, hielten sich von allen möglichen Gruppierungen fern. Das war beispielsweise bei Metsanurk, Raudsepp, Luts oder Tammsaare der Fall. Und die ältere Generation – zu denken wäre hier etwa an Haava, Sööt oder Kitzberg – beteiligte sich nicht an solchen Unternehmungen. Bei einer Betrachtung der auffällig an die Öffentlichkeit tretenden Gruppierungen ist immer im Hinterkopf zu behalten, dass damit nur ein (Bruch-)Teil der literarischen Gemeinschaft abgedeckt wird. Die Aktivität der Gruppe sollte, wie bei Siuru, zu einem Großteil in Rundreisen und Auftritten in der Provinz bestehen, und gleich im Herbst 1921 begab man sich nach Viljandi, Pärnu, Tallinn und Võru. Allerdings waren niemals alle zehn Mitglieder auf der Bühne, man begann zum Beispiel zu viert in Viljandi, in Pärnu stieß Barbarus hinzu, in Tallinn Adson und Under etc. Anfangs wurden literarische Texte gelesen, bald aber richtete sich die Konzentration auf Publizistisches, also etwa programmatische Reden von Alle, Semper und Tuglas. Auch hier war der Elan aber begrenzt, denn die ursprünglich für 1922 geplanten Reisen wurden schon nicht mehr verwirklicht, und vielen Städten, die die Gruppe eingeladen hatten, musste eine Absage erteilt werden. Das Wichtigste, was die Gruppe erreichte, war abermals eine Zeitschrift gleichen Namens, die unter der Redaktion von Tuglas im September 1921 ihr Erscheinen begann und es auf sieben Nummern brachte. Drei Nummern im Herbst 1921 folgten in relativer Regelmäßigkeit drei Nummern im Februar, April und Juni 1922, danach aber stagnierte die Zeitschrift, und eine letzte Nummer kam noch im Dezember 1922 auf den Markt. Dann gab es aber auch schon den Schriftstellerverband und einige Monate später Looming, so dass für Tuglas die Tarapita-Phase streng genommen als eine Art Überbrückung von seiner Ilo, die er anfangs auch noch parallel zu Tarapita redigierte, und Looming angesehen werden kann. Anders ausgedrückt: »Die Zeitumstände bedingten die Entstehung und den Tod der ›rein-künstlerischen‹ Ilo, um mit dem kriegerischen Tarapita-Ruf weiterhin für die Ilo-Ideen und gegen den andringenden rohen Materialismus, die geistige Verflachung und die gesellschaftliche Barbarei zu kämpfen. Um auf diesem Weg einst zu einer soliden, ausgeglichenen Schöpfung, zu Looming zu gelangen.« (Eelmäe 1993, 537). Inhaltlich betrachtet lag der Schwerpunkt bei der Zeitschrift Tarapita auf der Publizistik, wobei manchmal streng mit der staatlichen Kulturpolitik ins

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Gericht gegangen wurde. Die übergroße Mehrheit der Beiträge stammte von Mitgliedern der Gruppe, Tuglas selbst, der über die zögerliche Mitarbeit klagte, steuerte dreizehn Artikel bei. An Außenstehenden kann Aavik genannt werden, dem der im Geiste der Spracherneuerung gehaltene Stil der Zeitschrift gefiel und der zwei Beiträge lieferte. Andererseits hatte Aavik sich inhaltlich zu weit von der Literatur entfernt und sich durch seine Sprachkritik darüber hinaus Feinde geschaffen, so dass eine direkte Mitgliedschaft bei Tarapita für ihn nicht in Frage kam. Die Mitarbeit einiger Mitglieder beschränkte sich auf ein paar Artikel, etwa bei Tassa und Suits, wobei man bei Letzterem schon dankbar dafür war, dass er seinen Namen unter das Manifest gesetzt hatte. Für längere literarische Texte fehlte der Zeitschrift der Raum, weswegen neben den vielfach politisch ausgerichteten Essays und der Literaturkritik, die sich aber in Grenzen hielt, da im fraglichen Jahr nicht viel erschienen war, nur noch der Lyrik eine gewisse Bedeutung zukommt. Hier fanden sich immerhin Epigramme von Alle und Gedichte von Adson, Barbarus, Kärner, Semper und Under. Es ging dabei jeweils nur um kleine Proben, die wenig später noch einmal in den jeweiligen Sammlungen der Autoren bzw. der Autorin publiziert wurden, aber immerhin gaben sie einen Eindruck von der lyrischen Entwicklung in jener Zeit, die nach wie vor das führende Genre war. In der Rückschau erscheint die Tarapita-Phase (vgl. zu Tarapita erschöpfend Haug 1983) als eine Überbrückungs- und Abschlussphase: Abgeschlossen wird mit ihr die Zeit der Manifestationen, überbrückt wurden die wirtschaftlich schwierigen Jahre des Aufbaus nach dem Ersten Weltkrieg. Ketzerisch-wehmütig resümiert Hennoste (2005a, 1373): »Irgendwie kommt man von dem Gedanken nicht los, dass für das Einschlafen [der stürmischen literarischen Bewegungen, CH] die Tatsache mitverantwortlich gemacht werden kann, dass man an die Fleischtöpfe gelangte, so böse das vom Standpunkt des Idealismus des estnischen Autors / der estnischen Autorin auch klingt.« Denn, darauf zielt Hennoste ab, 1922 wurde der Schriftstellerverband gegründet, 1923 kam die Zeitschrift (nämlich Looming), 1925 das Geld in Form des Kulturkapitals (vgl. § 30). Bei aller Liebe zu abrupten und auffälligen Veränderungen sei aber an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass das laute Klappern der stürmischen Gruppierungen über eines nicht hinwegtäuschen darf: Die meisten Texte, die im Umfeld dieser Gruppierungen entstanden sind, haben dem Zahn der Zeit nicht standgehalten und sind heute weitgehend vergessen. Die Texte, die auch heute noch gelesen werden und also unbestreitbar eine größere Bedeutung für die estnische Literatur in ihrer Gesamtheit haben, sind am Rande oder außerhalb der Manifestationen und Zeitschriften ent-

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standen. Und zu einem geringen Teil sogar im Schutze der begehrten Fleischtöpfe, die dem Idealismus der Autorinnen und Autoren zur Materialgrundlage werden konnten. Zeitdichtung Die Dichtung ist in politisch bewegten Zeiten das beliebteste Ausdrucksmittel, da man mit ihr schnell auf die gesellschaftlichen Zustände und Veränderungen reagieren kann. Es bedurfte nicht nur internationaler Impulse (vgl. § 28), auch die im eigenen Land gewonnen Eindrücke waren intensiv genug, um ihren Widerhall in der Lyrik zu finden. Innerhalb der estnischen Literaturgeschichtsschreibung hat sich für diese Phase der Terminus der Ajalaulud (Zeitlieder) oder der Ajaluule (Zeitdichtung) eingebürgert, was dem deutschen Terminus »Zeitdichtung« entlehnt ist. Der Begriff ist nicht ganz synonym mit dem des Expressionismus, obwohl er viele gemeinsame Züge bezeichnet und mehr oder weniger zeitgleich auftaucht. Gemeint ist eine Dichtung, die unmittelbar auf die Zeitumstände eingeht und sie kommentiert. Anstelle kontemplativer Liebes- oder Naturlyrik finden wir eine Bezugnahme auf die direkte Umgebung und vielfach auch politisches Engagement. Der estnische Name dieser Strömung geht möglicherweise auf Jaan Kärner zurück, der 1921 seinen dritten Gedichtband mit dem Titel Aja laulud (Lieder der Zeit) veröffentlichte. Nach seinem weitgehend epigonalen Debüt von 1913 und einem zweiten Gedichtband mit traditioneller Natur- und Liebeslyrik von 1919 war diese Sammlung geprägt vom expressionistischen, sozial engagierten Zeitgeist. Die weiteren Gedichtbände von Kärner wandten sich dann aber wieder der Naturthematik zu, so dass seine »Zeitlieder« wohl einer ganzen Strömung Ausdruck verleihen konnte, im Werke des Autors selbst aber punktuell blieben. Kärner ist bekannt als Naturlyriker und als solcher in die Geschichte eingegangen (s. Muru 1963), hier liegen seine größten Verdienste, obwohl er auch anderweitig deutliche Spuren in der estnischen Literaturgeschichte hinterlassen hat. Die waren jedoch nicht immer ruhmreicher Art, zu denken ist hier etwa an sein Zwischenspiel als Looming-Chefredakteur oder sein bereitwilliges Einschwenken auf staatliche Ideologie egal welcher politischen Couleur (vgl. §§ 33, 36). Jaan Kärner war 1891 in Südestland geboren und seit 1910 in verschiedenen Zeitungsredaktionen tätig gewesen. Zwischendurch studierte er auch kurzzeitig in Moskau, seit 1917 war er für einige Jahre in der Politik aktiv, danach lebte er seit 1921 als freier Schriftsteller in Elva. In dieser Phase war er überaus produktiv und verfasste neben sieben weiteren Gedichtbänden, worunter sich mit Bianka ja Ruth (B. und R., 1923) auch der erste estnische Vers-

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roman im Stil des Eugen Onegin von Puˇskin befand, mit dessen Übersetzung er begonnen hatte, eine Reihe von Romanen und machte sich als Literaturkritiker einen Namen (Kalda 1964). Außerdem erschien 1934 eine Sammlung von Heinrich Heines Gedichten in Kärners Übertragung. Nach der sowjetischen Besetzung von 1940 wurde Kärner ein begeisterter Anhänger der neuen Machthaber, nach dem Zweiten Weltkrieg war er für eine kurze Periode abermals Chefredakteur von Looming, bald danach erlahmten seine Kräfte aber, und Mitte der 1940er-Jahre fiel Kärner in eine geistige Umnachtung, in der er 1958 in Tartu starb. Trotz seines umfangreichen Werkes von über 30 Büchern spielt er innerhalb der estnischen Literatur eine untergeordnete Rolle. Wesentlich auffälliger und wichtiger war Johannes Vares, der sich als Dichter den Namen Barbarus gab. Er war 1890 im Landkreis Viljandi geboren und hatte von 1910 bis 1914 in Kiew Medizin studiert. Im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg war er eine Zeit lang Militärarzt, ehe er sich 1921 in Pärnu mit einer Arztpraxis niederließ. Hier lebte, arbeitete und dichtete er die gesamte Unabhängigkeitsperiode hindurch, wenn er sich nicht auf einer seiner zahlreichen Auslandsreisen befand, die ihn nach Belgien, Deutschland, Frankreich, Spanien, Ungarn, in die Sowjetunion, in die Schweiz und auf den Balkan führten. Bei der Okkupation 1940 wurde er im Juni Ministerpräsident der sowjetischen Marionettenregierung und im August Präsident des Obersten Sowjets der ESSR. Als solcher zog er sich während der deutschen Besatzung des Zweiten Weltkriegs ins sowjetische Hinterland zurück, von wo er 1944 mit den sowjetischen Truppen zurückkehrte. Alsbald wurde er vom sowjetischen System dermaßen enttäuscht, dass er 1946 – höchstwahrscheinlich – Selbstmord verübte. Die genauen Umstände seines Todes sind nie geklärt worden, auch ein Mord wird nicht ausgeschlossen. Barbarus debütierte 1918 mit der noch symbolistisch angehauchten Gedichtsammlung Fata Morgana und legte danach bis 1922 jährlich einen neuen Gedichtband vor. Hierin wandte er sich immer stärker dem Expressionismus zu und wurde neben Marie Under zu einem der wichtigsten Vertreter dieser Strömung. Eine Rolle spielten hierbei auch die eigenen Erfahrungen, die er als Arzt an der Front gemacht hatte. Durch den gleichen Beruf ergeben sich Parallelen zu Gottfried Benn. Mitte der 1920er-Jahre erreichte seine Dichtung insofern einen Höhepunkt, als Barbarus sich vom Expressionismus entfernt hatte und eine eigenständige, wenngleich durch zeitgenössische französische Dichtungen beeinflusste Richtung gefunden hatte, die sich in den Sammlungen Geomeetriline inimene (Der geometrische Mensch, 1924) und Multiplitseerit inimene (Der multiplizierte Mensch, 1927) schon im Titel niederschlägt. Man kann diese Gedichte als kubistisch oder konstruktivistisch bezeichnen, bei ihnen ist die graphische Darstellung des Gedichts von großer

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Bedeutung. In den 1930er-Jahren erhielten seine Gedichte vor dem Hintergrund des aufkommenden Faschismus wieder einen engagierteren, politischen Ton. Der ergriff dann völlig Besitz von dem Dichter nach dem politischen Umschwung von 1940, als er seine Wortkunst vornehmlich in den Dienst der Propaganda stellte. Dennoch bleibt Barbarus für die Zwischenkriegszeit mit seinen zwölf Gedichtbänden eine wichtige Stimme im Chor der estnischen Lyrik. Das trifft unumstritten auch auf Johannes Semper zu, der 1917 als SiuruMitglied mit der Sammlung Pierrot debütiert hatte und 1920 seinen zweiten Gedichtband, Jäljed liival (Spuren auf dem Sand), vorlegte. Der ähnelte noch dem Symbolismus seines ersten Bandes, aber in der dritten Sammlung, die 1922 unter dem Titel Maa ja mereveersed rytmid (Rhythmen vom Rande des Landes und der See) herauskam, fand man auch bei Semper expressionistische Einschläge. In den weiteren Gedichtbänden traten eine intellektuelle Lebenseinstellung und philosophische Elemente in den Vordergrund, wobei der in der europäischen Dichtung belesene Autor nach wie vor großen Wert auf die Form legte. Wie bei Barbarus, mit dem ihm in einigen Zügen auch das spätere politische Schicksal verband, zeigten sich Ende der 1930er-Jahre auch bei Semper gesellschaftskritische und antifaschistische Elemente. Und wie der Pärnuer Arzt ließ sich auch der Tartuer Looming-Chefredakteur nach dem sowjetischen Umschwung dazu herab, die neuen Machthaber zu hofieren und ihnen eine Nationalhymne für die Estnische Sozialistische Sowjetrepublik zu schreiben. Darin wird in der ersten Zeile zwar noch das »zähe Volk der Kaleviden« beschworen, im Weiteren ist aber bloß noch die Rede davon, dass Estland zu einem blühenden sozialistischen Land aufgestiegen sei und in erster Reihe gemeinsam mit den anderen Völkern des Bundes unter der Lenin’schen Flagge marschiere. Als vierter wichtiger Dichter des Tarapita-Kreises muss August Alle genannt werden, der in mancherlei Hinsicht Übereinstimmungen zu den Vorgenannten in Leben und Werk aufweist. Auch er war 1890 in Südestland, in Viljandi, geboren und hatte mit seinem Gedichtdebüt von 1918 zunächst noch nicht viel Aufsehen erregt. Auch er schrieb in den 1930er-Jahren antifaschistische Verse. Und auch er war vom sowjetischen Umschwung 1940 angetan und bekleidete diverse, wenn auch nicht ganz so exponierte – dadurch aber nicht weniger unrühmliche, wenn man seine Rolle bei der Büchervernichtung bedenkt (vgl. § 35) – Ämter unter den neuen Machthabern. Sein Bildungsweg war jedoch ziemlich kurvenreich und schloss neben einem als Externer 1915 in Russland abgelegtem Abitur auch eine begonnene Apothekerlehre, einige Jahre eines Medizinstudiums in Saratov und ein sich letztlich über fünfzehn Jahre hinziehendes Jurastudium in Tartu ein. Das hat er 1937

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auch tatsächlich abgeschlossen, so dass er danach einige Jahre als Gehilfe in einer Rechtsanwaltskanzlei gearbeitet hat, nachdem er vorher journalistisch tätig und freiberuflicher Schriftsteller war. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb er dagegen kaum noch, sondern war von 1946 bis zu seinem Tode 1952 Chefredakteur von Looming. Alle ist gelegentlich als Enfant terrible der estnischen Literatur bezeichnet worden, was mit seinem ausschweifenden Lebenswandel, wo noch 1926 ein Duell hineinpasste, zusammenhängen mag, hauptsächlich aber wohl seiner scharfen Zunge, seinen Satiren, Kritiken und Feuilletons sowie seinen Epigrammen zu verdanken sein dürfte. Als Dichter erregte er mit seinem zweiten Band, den 1921 erschienenen Carmina barbata, Aufsehen. Sie fügten sich nicht nur problemlos in die aktuelle Zeitdichtung ein, sondern wurden zu einem ihrer exponiertesten Vertreter. Die Gedichte dieses Bandes sind gekennzeichnet von einer gewissen derben Ungehobeltheit, die einerseits expressionistische Elemente aufweist, andererseits auch als naturalistisch bezeichnet werden kann. Auch fehlen satirische oder sarkastische Züge nicht, so dass eine eigenartige Mischung entsteht, die Alle von den anderen Dichtungen der Zeit abhebt und ihm einen besonderen individuellen Anstrich gibt. In den folgenden Jahren hat Alle seinem lyrischen Werk mit zwei Büchern (1925, 1930) nicht mehr allzu viel hinzugefügt, erst seine letzte Sammlung, die 1934 erschienenen Karmid rütmid (Harte Rhythmen), erlangte wieder Bedeutung. Sie war, wie bei Barbarus und Semper, eine weitere Warnung vor drohendem Unheil und damit wie zu Beginn der 1920er-Jahre ganz dem Geist der Zeit verpflichtet. Nach der Zusammenballung von lyrischen Publikationen zu Beginn der Unabhängigkeitsperiode trat eine etwas ruhigere Phase ein, in der sich die Prosa zusehends in den Vordergrund schob (s. §§ 32, 33), in der es aber nach wie vor noch kurze Beben gab, die von den nachrückenden Generation erzeugt wurden. So war der Expressionismus zwar in einer großen Welle in dem Sinne über Estland hinweggegangen, dass viele sich danach schnell wieder anderen Themen und Ausdrucksweisen zuwandten, aber damit war er noch lange nicht vorbei. Die Welle erfasste bloß andere, jüngere Personen, die sich beispielsweise zu einer lockeren Gruppierung mit dem Namen Aktsioon zusammenfanden. Sie bezogen eine deutliche politische Position, die durch soziales Engagement und Pazifismus gekennzeichnet war und somit Bezüge zum Expressionismus aufweist. Die führenden Gestalten waren Valter Kaaver und Aleksander Antson, die schon 1923 in Võru gemeinsame eine radikale Zeitschrift gemacht hatten und seit 1924 Pläne zur Herausgabe eines Almanachs schmiedeten. Die drei Almanache unter dem Titel Aktsioon sind dann 1926, 1927 und 1929 erschienen. Der expressionistische Anteil in ihnen ist

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allerdings nicht vorherrschend und liegt nur in den Gedichten von Kaaver und Ralf Rond und den Schauspielen von Antson (vgl. § 33). Ralf Rond (d.i. Jaan Kurn) war 1923 mit seinem Debütband 27 aufgefallen, weil er mit seinem rauen, futuristisch-expressionistischen Stil die Gemüter so weit erregt hatte, das die Christliche Volkspartei Anklage wegen Unsittlichkeit erhob und der Klage stattgegeben wurde. Das Buch wurde verboten und teilweise eingestampft, Autor und Verlag wurden mit einer Geldbuße belegt. Rond publizierte danach noch zwei Gedichtbände, konnte für seinen vierten Band aber keinen Verlag mehr finden. Heute ist seine Dichtung weitgehend vergessen. Rond ist nur wegen des Skandals und allenfalls als Übersetzer von Majakovski bekannt. Andere Autorinnen und Autoren der Aktsioon-Alben pflegten völlig andere Stile, und so war die verbindende Klammer eher eine prinzipiell gesellschaftskritische Einstellung als eine künstlerische Plattform. Darauf weist auch der Umstand hin, dass Aktsioon nicht auf jugendliche Newcomer beschränkt war, sondern auch Autoren veröffentlichte, die schon einige Bücher aufzuweisen hatten wie die Prosaisten August Jakobson, August Mälk und Rudolf Sirge. Die Gruppe veranstaltete auch Literaturabende und war ein gutes Beispiel für die große Vielfalt der estnischen Literatur in den 1920er-Jahren (s. Tavel 1965). Weniger politisch motiviert, sondern aus einer allgemeinen diffusen Protesthaltung heraus hatte sich 1925 noch eine andere Kleingruppe zusammengefunden, die zwei Alben mit den Titeln Sang (Griff ) und Bumerang herausbrachte. Das waren Eintagsfliegen, die über keine inhaltliche Konzeption verfügten und deren drei Autoren – Mihkel Jürna, Erni Hiir und Johannes Schütz – nur eine gegen das literarische Establishment gerichtete Grundeinstellung verband. Von ihnen war Hiir in gewisser Weise schon als Futurist der ersten Stunde etabliert (vgl. § 28), während Jürna lediglich Auszüge von einem expressionistischen Drama in Ilo veröffentlicht und Schütz einige Gedichte in Murrang publiziert hatte. Jürna ist später in bescheidenem Umfang als Autor von Novellen in Erscheinung getreten, während Schütz, der sich ab 1936 Juhan Sütiste nannte, ein wichtiger Dichter der Zwischenkriegszeit wurde (vgl. § 34). Erni Hiir blieb nach seinen frühen futuristischen Manifestationen seiner avantgardistischen Grundtendenz treu und veröffentlichte 1924 zwei weitere Gedichtbände mit futuristischen Einschlägen. In den späteren Gedichtbänden, von denen bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs noch neun herauskamen, wurde er aber zusehends »zahmer« und scheute auch vor klassischer Liebesdichtung nicht zurück. Weiterhin war aber ein politisches Engagement spürbar, was auch an einer gewissen Nähe zur Aktsioon-Gruppe zu sehen ist. Mehr und mehr schlichen sich dann Sozialkritik und allgemeine

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Sympathie für die Schwachen und Benachteiligten der Gesellschaft in seine Gedichte ein. So ist nicht verwunderlich, dass Hiir zu jenen Dichtern gehörte, die der Sowjetisierung positiv gegenüber eingestellt waren, wobei meist geflissentlich übergangen wird, dass der Autor in den der sowjetischen Besetzung unmittelbar vorausgehenden Jahren auch von der herrschenden Ideologie des autoritären Regimes unter Päts mitnichten unberührt geblieben war. Ganz offenbar fühlte sich Hiir mit zunehmendem Alter zur Obrigkeit hingezogen, weswegen er nach dem Zweiten Weltkrieg unbekümmert das sozialistische Lied singen konnte und noch einmal vier Sammlungen im nun angesagten Stil vorlegte. Der Aufsehen erregende Futurist war ein langweiliger Konformist geworden. Henrik Visnapuu Die wiederholte Erwähnung von Henrik Visnapuu in den vorangegangenen Abschnitten ließ bereits die besondere Rolle vermuten, die dieser Autor in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts spielte, und tatsächlich ist er neben Marie Under die wichtigste Dichterpersönlichkeit aus jener Zeit. Henrik Visnapuu ist 1890 im Landkreis Viljandi geboren und ging an verschiedenen Orten zur Schule, bis er 1907 am Gymnasium von Narva das Grundschullehrerexamen absolvierte. Danach war er einige Jahre im Schuldienst, von 1912 bis 1917 als Estnischlehrer am Mädchenprogymnasium in Tartu, wo er sich gleichzeitig selber fortbildete und 1916 das Abitur machen konnte, was ihm die Immatrikulation an der Universität Tartu ermöglichte. So konnte er seinen lang gehegten Wunsch, klassische Philologie zu studieren, verwirklichen. Aus dem Studium wurde allerdings nicht viel, da sich der junge Poet, dessen erste Gedichte bereits 1908 gedruckt worden waren, kopfüber in das Kulturleben stürzte und 1917 eine Redakteursstelle beim Tallinna Teataja (Tallinner Bote) antrat. Im gleichen Jahr schloss er sich der Siuru-Gruppierung an und publizierte seinen ersten Gedichtband, der ihn schnell bekannt, beliebt und bald auch berühmt machte. Er ging dann wieder nach Tartu zurück, widmete sich seiner Dichtung und nahm nach dem Krieg 1920 sein Studium auf, das er in Berlin fortsetzte. Nach seiner Rückkehr 1923 lebte er hauptsächlich als freiberuflicher Schriftsteller in Tartu. 1935 trat er eine Beamtenstelle in der Kulturabteilung der staatlichen Propagandaabteilung an, wurde 1937 leitender Kulturredakteur bei der Zeitung Uus Eesti (Neues Estland) und gründete am Ende des gleichen Jahres die Kulturzeitschrift Varamu (Schatzkammer), deren erste Nummer zur Jahreswende 1937/1938 herauskam. Diese Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kultur war als direktes Gegenstück zu Looming ins Leben gerufen worden und sollte ein Gegengewicht zur kritisch

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zum autoritären Regime eingestellten Intelligenz bilden. Während der deutschen Besatzung war Visnapuu am Estnischen Dramatheater tätig und gab nebenher zweimal den Almanach Ammukaar (vgl. § 37) heraus. 1944 entschied sich der Dichter für die Flucht in den Westen und lebte in den folgenden Jahren unter teilweise erbärmlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern in Deutschland und Österreich, wo er sich dennoch um eine Koordinierung der Flüchtlingsgemeinschaft und den Aufbau eines literarischen Lebens im Exil kümmerte. 1949 konnte er in die USA übersiedeln, wo er aber bereits zwei Jahre später in New York verstarb. In seiner Frühphase war Visnapuu eine der maßgeblichen Stimmen in den futuristischen Gruppierungen (vgl. § 28), innerhalb derer er verschiedene Formen ausprobierte, dann aber bald zu seiner ureigenen persönlichen Ausdrucksweise fand. Die war in ihrer Grundstimmung romantisch und fand folgerichtig im Rahmen von Siuru statt, wo 1917 sein Debütband Amores erschien, der auch einige bereits in den vorangegangenen Almanachen publizierte Gedichte enthielt. Wie der von Ovidius entlehnte Titel vermuten lässt, handelte es sich hier um Liebeslyrik, doch wäre es richtiger von einer wahren Explosion von Liebesgedichten zu sprechen, die sich in den rasch folgenden Gedichtbänden nur noch vertiefte: 1918 kam Jumalaga, Ene! (Lebwohl, Ene), 1919 drei Neuauflagen von Amores, die ebenso viel Aufsehen erregten wie Unders Sonetid, und 1920 wiederum drei Gedichtsammlungen mit den Titeln Käoorvik (Stiefmütterchen), Hõbedased kuljused (Silberne Schellen) und Talihari (Winterwende). Innerhalb weniger Jahre waren fünf Gedichtsammlungen mit über 150 Gedichten erschienen, die den Dreißigjährigen zu einem gefeierten Dichter machten. Der Variantenreichtum bei der Beschreibung der verschiedenen mit der Liebe verbundenen Gefühle und die besondere Musikalität vieler Gedichte, in denen Visnapuu Wortspiele und südestnische Dialektelemente geschickt einzuflechten wusste, waren in der damaligen estnischen Lyrik unerreicht. Wenn man will, bildete Visnapuu das maskuline Gegenstück zu Unders zeitgleich erschienener Lyrik, denn bei beiden schimmerte das Geschlecht der Person, die die Gedichte abgefasst hatte, immer wieder durch. So waren die Siuru-Mitglieder Under und Visnapuu in der Lyriklandschaft des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts gewissermaßen ein komplementäres Paar – nicht aber im richtigen Leben, wo es innerhalb von Siuru bald zum Bruch kam. Mit Under gemeinsam hatte Visnapuu, wie viele andere auch (s.o.), ferner eine zeitweilige Hinwendung zu aktuellen Themen, da man seine Gedichte in Talihari der Zeitdichtung zuordnen kann. Für Visnapuu war dies aber nur ein kurzer Ausflug in die Welt des Schrecklichen und Banalen, was auch daran zu sehen ist, dass im gleichen Jahr zwei weitere Bände von ihm er-

§ 32 Anton Hansen Tammsaare

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schienen, die die Thematik der früheren ungehindert fortsetzten und vertieften. Im Grunde genommen blieb er auch in dieser Zeit seiner eigenen, ganz intimen Auseinandersetzung mit der Liebe, aber auch mit der Natur, treu. In den 1920er-Jahren gelangte der Dichter in Analogie zu den Zeitumständen in ruhigere Gefilde und vertiefte seine philosophische und analytische Sichtweise. Die unmittelbar individualistische Thematik der frühen Lyrik wich nun globaleren Themen wie Volk und Vaterland in den Sammlungen Ränikivi (Der Kieselstein, 1925), Maarjamaa laulud (Lieder vom Marienland, 1927), Puuslikud (Die Götzen, 1929), Tuulesõel (Das Windsieb, 1931) und Päike ja jõgi (Sonne und Fluss, 1932). Allmählich wurden gesellschaftskritische Töne hörbar, Sorge um das Schicksal des Vaterlandes machte sich breit. In den 1930er-Jahren verfasste Visnapuu auch Balladen und Legenden, die er in den Sammlungen Põhjavalgus (Nordlicht, 1937) und Tuuleema (Windmutter, 1942) publizierte. Parallel dazu versuchte er sich auf dem Gebiet des Dramas und schrieb einige Komödien, die jedoch bei weitem nicht an die Qualität seiner Dichtungen heranreichten. Eine neue, letzte Phase trat im Exil ein. Der Dichter, der sich schon früher mit dem Schicksal seines Volkes im Ersten Weltkrieg befasst hatte, nahm sich der tragischen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs an und beklagte den Verlust der Heimat. Nach wie vor war er dabei erstaunlich produktiv und legte in den ersten fünf Nachkriegsjahren fünf Gedichtbände vor, deren Erscheinungsorte Stockholm, Geislingen und New York ihre eigene Sprache sprechen. In diesen Sammlungen befanden sich auch ältere Gedichte, aber immerhin sind im Exil noch über 100 neue Gedichte hinzugekommen. Von großem kulturgeschichtlichem Wert sind seine Memoiren, die 1951 unter dem Titel einer seiner früheren Gedichtsammlungen, Päike ja jõgi (Sonne und Fluss), erschienen sind. Mit seinem umfangreichen Gedichtœuvre war Visnapuu neben Marie Under und Gustav Suits die dritte wichtige Dichterpersönlichkeit am Beginn des 20. Jahrhunderts, die tief im estnischen kulturellen Gedächtnis verankert ist.

§ 32 Anton Hansen Tammsaare Ein Bauernsohn Anton Hansen kam 1878 auf dem Hof Tammsaare in Nordestland als viertes Kind und vierter Sohn von Ann und Peeter Hansen, die 1872 aus Südestland gekommen waren und den Hof vom örtlichen Gutsbesitzer erworben hatten, zur Welt. Seine Eltern bekamen danach noch vier Töchter und vier weitere

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Söhne, von denen bis auf zwei alle erwachsen wurden. Die Kindheit auf dem Bauernhof und die in einer so kinderreichen Familie notgedrungen begrenzten finanziellen Möglichkeiten haben den jungen Anton geprägt. In einem nachgelassenen handgeschriebenen Heft mit Gedichten hat der Schriftsteller, der als Dichter weiter nicht in Erscheinung getreten ist, wenngleich seine ersten schriftstellerischen Versuche als Dreizehnjähriger erwartungsgemäß im Verseschmieden bestanden, den folgenden Vierzeiler vermerkt: Mu kodu ümbrus mulle meeldib. / Miks meeldib ta – ei tea ma. / Ta ümbruses mu mõte selgib / Nii lahkeks, rõõmsaks korraga. (Siimisker/Palm 1978, 7; Meine Umgebung zu Hause gefällt mir. / Warum das so ist – ich weiß es nicht. / In der Umgebung klären sich meine Gedanken / So freundlich, so fröhlich mit einem Mal.) Lesen lernte Anton damals wie üblich zu Hause, ab 1886 war er auf verschiedenen Volksschulen, von 1892 auf der Kirchspielschule in VäikeMaarja, wo später Jakob Tamm (vgl. § 22) sein Estnischlehrer war. Aus vorgeschobenen gesundheitlichen Gründen – tatsächlich konnte sein Vater den Sohn wohl auf dem Hof gut gebrauchen und wollte Geld sparen – unterbrach Anton seine Ausbildung jedoch für zwei Jahre und schloss die Schule in Väike-Maarja erst 1897 ab. Sein Bildungshunger war damit noch nicht befriedigt, sondern im Gegenteil erst richtig geweckt, so dass er nach Überwindung einiger elterlicher Widerstände 1898 nach Tartu ging, um auf Treffners Gymnasium weiterzulernen. In den folgenden fünf Jahren wandelte sich der Bauernjunge, der hin und wieder Gedichte schrieb, zu einem belesenen und gebildeten realistischen Prosaisten, der im September 1900 seine ersten Erzählungen im Postimees gedruckt sah. 1903 legte Anton Hansen am Gymnasium von Narva die Reifeprüfung ab, so dass der Weg zur Universität frei war. Bevor er jedoch 1907 das Jurastudium in Tartu aufnahm, verdiente er sich einige Jahre bei Tallinner Zeitungen als Journalist sein Brot. Er begann beim Teataja, wo er mit Vilde zusammenkam, und war nach dessen Schließung bei diversen anderen neu gegründeten Blättern. Die Revolution von 1905 verfolgte der Autor mit Interesse und Sympathie, ohne selbst allzu aktiv zu werden. Immerhin war er aber so weit ins Blickfeld der Behörden geraten, dass auch bei ihm eine Hausdurchsuchung stattfand, die allerdings keine weiteren negativen Folgen hatte. Seit seinem Debüt veröffentlichte Anton Hansen Kurzgeschichten in verschiedenen Periodika, unter anderem auch in den Kiired von Suits. Immer häufiger verwendete er dabei in Anlehnung an seine Herkunft das Pseudonym A.H. Tamsaare, woraus nach aktueller Orthographie dann später sein Schriftstellername A.H. Tammsaare wurde. Sein Debüt in Buchform erfolgte erst 1907, aber dann auch gleich mit zwei Büchern, und es ging Schlag auf Schlag weiter, so dass 1917 schon zehn Bücher, vorwiegend mit Novellen

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und Erzählungen, erschienen waren. Das Studium hatte Tammsaare 1911 wegen einer Tuberkulose-Erkrankung abbrechen müssen; er zog sich aufs Land zu seinem Bruder zurück und begab sich vom März 1912 bis zum Mai 1913 zur Kur in verschiedene Orte im Kaukasus, was sein einziger Aufenthalt außerhalb der Grenzen Estlands blieb. Nach der Rückkehr blieb er noch insgesamt sechs Jahre bei seinem Bruder auf dem Lande, wo er schrieb, übersetzte und seine angeschlagene Gesundheit pflegte. Zwar hatte er die Tuberkolose weitgehend überwunden, aber er hatte sich einer schweren Magenoperation unterziehen müssen, von der er nur langsam und bei Einhaltung einer strengen Diät, die ihn bis zum Ende seines Lebens begleiten sollte, wieder genas. 1919 heiratete Tammsaare Käthe Veltman und übersiedelte nach Tallinn, wo er eine Familie gründete und die nächsten gut zwei Jahrzehnte, die ihm noch gegeben waren, wohnen blieb. In der Tallinner Zeit widmete er sich, abgesichert durch das Kulturkapital und die allmählich häufiger und regelmäßiger eintreffenden Honorarzahlungen, einzig und allein dem Schreiben und hielt sich dem öffentlichen literarischen Leben weitgehend fern. Alles, was er in den ersten vierzig Jahren seines Lebens gesehen, erlebt und gelesen hatte, wurde nun in Literatur verwandelt. Neun Romane, zwei Schauspiele und zahlreiche essayistisch-philosophische Wortmeldungen sind die Früchte dieser arbeitsintensivsten Phase im Leben des Schriftstellers, der dadurch schnell zur unangefochtenen intellektuellen Autorität Estlands aufgestiegen war. Als Tammsaare am 1. März 1940 überraschend starb – er war nach einem normalen Arbeitstag, an dem er sich mit der Bühnenfassung eines seiner Romane befasst und am Nachmittag noch einige Geschäfte aufgesucht hatte, leicht erschöpft aus der Buchhandlung nach Hause gekommen und hatte sich zum Ausruhen kurz an seinem Schreibtisch gesetzt –, unterbrach der Rundfunk seine Sendung und trauerte das ganze Land. Die Esten hatten ihrem größten Autoren bereits zu Lebzeiten, 1936, in seiner Heimatgemeinde ein Denkmal gesetzt und defilierten nun zu Tausenden an seinem Sarg. Für den Tag der Beerdigung hatte der Bildungsminister angeordnet, dass in den Schulen die allmorgendliche Zusammenkunft oder die letzte Stunde dem Andenken Tammsaares gewidmet werden solle (Simisker 1962, 233). Danach ist der Ruhm nur noch gewachsen, und der Autor wurde schnell zu dem estnischen Schriftsteller par excellence, d.h. unangefochten zum ersten Namen, der in Estland mit Literatur assoziiert wird. Der weltweite Ruhm ist dem Autor zu Lebzeiten nur knapp versagt geblieben, denn kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als Teile seines Hauptwerks bereits ins Finnische, Lettische und Deutsche übertragen worden waren, galt er als aussichtsreicher Kandidat für den Literaturnobelpreis.

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A.H. Tammsaare 1923. Foto: J. u. P. Parikas

Dennoch sollte es bis zum 100. Geburtstag des Autors dauern, ehe ihm die vollständige internationale Anerkennung zuteil wurde: 1978 wurde der 100. Geburtstag von Tammsaare unter der offiziellen Schirmherrschaft der UNESCO gefeiert. Mittlerweile sind Tammsaares Werke in über 30 Sprachen übersetzt worden, so dass der Autor weit über die Grenzen seines Landes hinaus bekannt ist. Umgekehrt hat auch Tammsaare selbst, wie so viele seine Kolleginnen und Kollegen, als Übersetzer beim Import der Weltliteratur ins Estnische mitgewirkt. Von ihm stammen Übersetzungen einiger eng-

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lischer und russischer Klassiker wie Galsworthy (The white monkey), Scott (Ivanhoe), Wilde (The Picture of Dorian Gray), Dostoevskij (Verbrechen und Strafe) und Gonˇcarov (Oblomov). Kurzprosa Trotz seines beeindruckenden Umfangs kann das in einer 18-bändigen Gesamtausgabe mit beinahe 7400 Seiten (1978–1993) gut erschlossene Werk von Tammsaare grob in drei Phasen eingeteilt werden: in eine Frühphase mit vorwiegend Kurzprosa, d.h. Novellen und Erzählungen, die mit einem Roman abgeschlossen wird, und eine Spätphase mit drei Romanen, während der auch einige Novellen verfasst worden sind. Dazwischen liegt das alles überragende Hauptwerk, das aus einer zwischen 1926 und 1933 publizierten Pentalogie besteht. Zusätzlich finden sich noch zwei bemerkenswerte Dramen aus der ersten und dritten Phase und über das ganze Leben des Autors verteilt Publizistik und Essayistik, womit Tammsaare immer wieder in gesellschaftliche Diskussionen eingegriffen hat. Die ersten Novellen von Tammsaare sind unter dem Eindruck des kritischen Realismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden und fallen im weitesten Sinne unter die zu jenem Zeitpunkt in der estnischen Prosa Ton angebende so genannte Dorfprosa (vgl. § 26). Dabei ist bereits einer der ersten veröffentlichten Texte, die 1901 erschienene kurze Erzählung Kuresaare vanad (Die Alten von Kuresaare, später bekannt geworden unter dem Titel Mäetaguse vanad, also unter Verwendung eines anderen Ortsnamens), ein Paradebeispiel für Tammsaares später häufig gerühmte gelungene Verknüpfung von Mensch und Natur und die bei deren Interaktion zutage tretenden Empfindungen mit all ihren positiven und negativen Elementen, wobei das Ganze auch bei einer möglicherweise unübersehbaren Tragik niemals ohne Humor beschrieben wird. Sucht man bei Tammsaare nach einem Generalthema, so ist das vielleicht die Rolle und Selbstbehauptung des Individuums in der Auseinandersetzung mit den auf das Individuum einwirkenden äußeren Kräften. Dabei steht der freie Wille des eigenverantwortlich und selbstbestimmt handelnden Menschen im Mittelpunkt, für metaphysische Spekulationen hat der durch und durch rationalistische Autor wenig übrig. Insgesamt umfasst das Kurzprosawerk über vierzig Kurzgeschichten oder Novellen, etwa zehn längere Erzählungen und ein Dutzend so genannter Miniaturen, d.h. Texte von einem Umfang zwischen gut 50 und ca. 850 Wörtern. Da diese Texte über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden sind, ändern sie sich dementsprechend und begleiten den Autor gewissermaßen auf seinem Lebensweg. So wandte sich Tammsaare nach seinen ersten erfolg-

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reichen Kurzgeschichten, die fein gezeichnete Milieustudien überwiegend aus dem Landleben darstellen – wie zum Beispiel das reifste Werk der frühen Phase, die Erzählung Vanad ja noored (Die Alten und die Jungen, 1903), die auch den Titel für sein Buchdebüt stellten –, den revolutionären Ereignissen von 1905 zu und eröffnete damit die lange Reihe der literarischen Behandlungen dieses für die estnische Geschichte so bedeutenden Ereignisses (vgl. Hasselblatt 2005b). Die Novelle Päästmisel (Bei der Erlösung, 1905) beschreibt das traurige Schicksal eines jungen Paares, das sich in dem Maße, in dem sich der Mann der revolutionären Bewegung anschließt, immer mehr auseinander lebt und am Ende durch den Tod ganz getrennt wird: Der Mann wurde Opfer eines Massakers, das Soldaten an den Streikenden verübten. Dieses düster-realistische Bild von der Revolution verdeutlicht auch die nicht unbedingt ablehnende, aber doch sicher skeptische Einstellung des Autors gegenüber einer allzu gewaltsamen Bewegung, die tief in das menschliche Privatleben eingreift. Die Perspektive des Autors ist dabei die der Frau, die als Kontinuitätswahrerin den Kindern vom Schicksal ihres Vaters berichten muss. In einer zweiten, wesentlich längeren Erzählung (24000 Wörter) mit dem Titel Raha-auk (Die Goldgrube, 1907) bettete Tammsaare die Revolutionsereignisse in einen größeren Kontext ein. Er beschreibt hier einen alten Bauern, der unermüdlich nach einem Schatz gräbt, von dessen Existenz er geträumt hat. Die Arbeit nimmt dabei sisyphotische Gestalt an, da das Loch immer wieder vollregnet. Seine Frau und Tochter haben sich religiösen Fanatikern, wie es sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Genüge in Estland gab, angeschlossen und gehen regelmäßig ins Bethaus. Sie missbilligen das ständige Graben des Alten, das von anderen belächelt wird. Das revolutionäre Element wird von Hans, dem Sohn des Hauses, verkörpert, der sich schon in früheren Jahren gegenüber der örtlichen Herrschaft aufmüpfig gezeigt hatte, zwischenzeitlich nach Tallinn gegangen war und nach der Ausweisung aus der Stadt wieder auf dem heimatlichen Hof gelandet ist. Dort widmet er sich aber nicht seinen aufrührerischen Aktivitäten, sondern verfolgt neugierig das Leben seiner Familie, macht sich über Pastor und Betbrüder gleichermaßen lustig, sucht Gleichgesinnte, mit denen er seine Erlebnisse aus der Stadt austauschen könnte und bahnt als Fürsprecher eines verschüchterten jungen Bauern nebenbei die Heirat seiner Schwester an. Die willigt in die Ehe ein, obwohl sie zum fraglichen Zeitpunkt bereits von jemand anderem – dem scheinheiligen Schulmeister, der sie ins Bethaus gelockt hat und bei Gelegenheit verführt hat – unfreiwillig schwanger ist. Als die Sache trotz aller Verschleierungsversuche doch ruchbar wird, wählt sie den Freitod, und zwar in dem wieder einmal voll gelaufenen Loch, das ihr Vater gräbt. Gleichzeitig

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wird auf dem Lande, wo man anhand von Zeitungen die revolutionäre Entwicklung in der Stadt und den Verlauf des russisch-japanischen Krieges aufmerksam verfolgt, über Plünderungen berichtet. Als die Strafbataillone eintreffen, wird Hans festgenommen und zu dreihundert Stockschlägen verurteilt, an denen er jämmerlich zugrunde geht. Durch die gelungene Verknüpfung einer nüchternen Beschreibung der ebenso tragischen wie bitteren Revolutionsereignisse mit der nicht weniger tragischen und gleichfalls realistischen Liebesgeschichte und den verschiedenen Formen religiösen Eifers, der sowohl von Herrnhuter- als auch von lutherischer Seite kommt, erreichte Tammsaare mit dieser Geschichte einen ersten Höhepunkt seiner frühen Prosa. Gleichzeitig kommt hier schon der nüchterne Rationalismus zum Ausdruck, der für das gesamte spätere Werk des Autors kennzeichnend ist. Die Erzählung bildete ferner den Abschluss der eigentlichen realistischen Periode von Tammsaare. In der Folgezeit wandte er sich stärker impressionistischen, im weitesten Sinne symbolistischen Ausdrucksweisen zu. Am deutlichsten wird dies in seinen so genannten »Studentennovellen«, mit denen drei Prosatexte bezeichnet werden, die während Tammsaares Studienzeit entstanden und die thematisch locker miteinander verbunden sind: Pikad sammud (Lange Schritte, 1908), Noored hinged (Die jungen Seelen, 1909) und Üle piiri (Über die Grenze, 1910). Im Mittelpunkt dieser Novellen, die von ihrem Umfang her (24500–27500 Wörter) ebenso als Erzählungen bezeichnet werden könnten, stehen junge Frauen, die sich emanzipieren wollen und dabei erwartungsgemäß Probleme mit den althergebrachten Vorstellungen in der Gesellschaft bekommen. Das ermuntert sie nicht sonderlich, so dass sie bei dem Versuch, ihre Ideale zu erreichen, auch mit sich selbst zu kämpfen haben. In diesen Milieubeschreibungen aus dem studentischen Bereich stehen die Gefühle und Ideen der behandelten Personen im Vordergrund. Die offene Behandlung moralischer Fragen und die Überwindung zeitgenössischer Moralkonventionen sorgten in konservativen Kreisen für heftige Reaktionen und verhalfen dem Autor dadurch nur zu noch größerer Bekanntheit. Das Interesse an moralisch-gesellschaftlichen Fragen gerade im Zusammenhang mit Liebesbeziehungen hat Tammsaare noch jahrelang beschäftigt. Immer wieder, so auch in den Erzählungen aus der Studentenzeit, kommt die freidenkerisch-rationalistische Einstellung des Autors zum Ausdruck. Tammsaare schrieb noch weitere Erzählungen, von denen neben der philosophisch-melancholischen Lebensabendnovelle Vanaisa surm (Der Tod des Großvaters, 1939) zwei besondere Beachtung verdienen: In Varjundid (Schattierungen, 1917) behandelte er die kurze, zur Tragik verdammte Liebe in einer Lungenheilanstalt, die einen direktem Kontrast zu den Studenten-

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novellen bildet, wo physisch gesunde Menschen mit psychischen Schwierigkeiten im Mittelpunkt standen, während es hier um dem Tod geweihte Personen geht, die psychisch unbeschwert lieben können. In der Erzählung Kärbes (Die Fliege, 1917) steht eine Studentin im Mittelpunkt, die auf der Suche nach dem richtigen Mann ist und ihn erst findet, als sie sich auch über die Erfüllung ihrer eigenen Weiblichkeit klar geworden ist: Die besteht nämlich im Kinderkriegen. Tammsaares Weiblichkeitsideal, das auch in späteren Werken anzutreffen ist, kommt hier erstmals zum Ausdruck. Obwohl diese Erzählung abermals im studentischen Milieu spielt, stellt sie doch einen Übergang zur folgenden Phase dar, in der der Autor zur längeren Form übergeht. Dieser Übergang ist fließend und willkürlich, wie die Umfänge der einander ablösenden Prosawerke zeigen: Die Erzählung Kärbes umfasst 41 000 Wörter, während der folgende Text mit 43 000 nur unwesentlich mehr hat, aber vom Autor selbst und infolgedessen auch von der weiteren Literaturgeschichtsschreibung stets als Roman bezeichnet worden ist. Dieser Text war der kurze Roman Kõrboja peremees (1922; dt. Der Bauer von Körboja, 1958), dessen harmloser, geradezu nichts sagender Titel wenig vom tatsächlichen Inhalt des Romans preisgibt. Es geht formal gesehen um zwei Bauernhöfe, einen reichen mit dem sprechenden Namen Kõrboja (Wüstenbach) und einen in unmittelbarer Nähe gelegenen kümmerlichen mit dem ebenso sprechenden Namen Katku (Pest). Der wohlhabende Kõrboja-Hof wird vom verwitweten Bauern seiner ledigen Tochter übergeben, die zuvor einige Jahre in der Stadt ihr Glück versucht hatte und aufs Land zurückgekehrt war. Dort führt sie nun elanvoll den elterlichen Hof. Auf dem erbärmlichen Katku-Hof wohnen zwei knurrige Alte mit einem durch einen Kindheitsunfall halbblinden und auch charakterlich missratenen Sohn. Er kehrt am Beginn des Romans gerade aus der Haft zurück. Zwischen diesem KatkuVillu genannten Tunichtgut und der energischen Anna vom Kõrboja-Hof besteht aber eine alte Jugendbekanntschaft und -freundschaft. Diese alte Beziehung weitet sich nun ganz allmählich zu einer Liebesbeziehung aus, die aber nur sparsam angedeutet wird und nicht recht entflammen will. Im Wege steht dabei indirekt auch eine gewisse Eevi, die von Katku-Villu ein uneheliches Kind hat und deswegen seinerzeit vom Kõrboja-Hof fortgejagt worden war. Sie fristet mit ihrer alten Mutter und ihrem Sohn ihr Dasein in einer armseligen Sauna in der Nähe. Villu, der von Anna aufgefordert wird, als Bauer auf ihren Hof zu kommen, hält sich der Liebe Annas nicht für würdig. Ebenso wenig traut er, der zwar vage Ideen von einer Bodenmelioriation hat, sich aber zusätzlich zu seinen früheren Versehrungen bei einem Spiel in der Johannisnacht auch noch den Arm verstümmelt hat, sich zu, einen Hofbauern abzugeben. Stattdessen will er Eevi, die Mutter seines Kindes, heiraten und

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sich gegebenenfalls von ihr pflegen lassen. Anna fordert ihn aber inständig auf, nach Kõrboja zu kommen. Diesem Druck ausgesetzt und sich seiner Zuneigung zu Anna bewusst, setzt Katku-Villu verzweifelt seinem Leben ein Ende. Kaum weniger verzweifelt ist Anna, die ihre Pläne durchkreuzt und ihre Liebe verloren sieht. Als sie sich auf den Weg in die Stadt macht, sieht sie am Wegesrand Eevi mit ihrem Sohn. Sie hatte nach dem Tod der Mutter das Wohnrecht in ihrer Sauna verloren. Anna besinnt sich, nimmt sich der beiden an und kehrt mit ihnen nach Kõrboja zurück. Ihrem Vater stellt sie den Sohn des toten Villu und der ehemaligen Magd Eevi als künftigen Herrn von Kõrboja vor. Mit diesem Roman kehrte Tammsaare nur scheinbar zur ländlichen Thematik zurück. Hauptsächlich konzentrierte er sich auf die psychologische Beschreibung und gab einen Vorgeschmack auf die Einblicke in die menschliche Seele, deren Beschreibung in seinem späteren Werk immer deutlicher in den Vordergrund tritt. Erneut steht dabei eine Frau im Mittelpunkt, so dass Tammsaare mit diesem Roman eigentlich der Bäuerin von Kõrboja, allgemeiner gesprochen der estnischen Frau als solcher, ein Denkmal gesetzt hat. Die Frau schaltet und waltet, sie ist es, die die Entscheidungen herbeiführt und für produktive Kontinuität sorgt. Die Tatkraft der Männer ist, sofern von einer solchen die Rede sein kann, dagegen destruktiv. Der Titel des Romans ist streng genommen irreführend, denn der Bauer von Kõrboja tritt erst als Kleinkind auf den letzten Seiten in Erscheinung, das ganze Buch handelt allenfalls von der Suche nach dem Bauern, und es ist überhaupt die Frage, ob der auf den letzten Seiten vorgestellte Knirps jemals Bauer werden wird. Darum geht es auch gar nicht. Es geht um die Liebe, um die Kommunikation darüber und um vertane Chancen. Tammsaare hat dies universelle Thema nur oberflächlich in dem Milieu angesiedelt, in dem er sich am besten auskannte. Aber vielleicht erhält der Roman nicht zuletzt durch die Titelwahl des Autors seinen besonderen poetischen Einschlag, da man auf die falsche Fährte gebracht wird und am Ende merkt, dass man genasführt ist. Zwei Schauspiele Der Übergang in eine zweite Phase wurde bei Tammsaare nicht nur durch das langsame Hinübergleiten in die längere Prosaform markiert, sondern auch durch einen Genrewechsel. 1921 publizierte er das Drama Juudit, dessen erste Fassung bereits 1917 fertig war und das 1921 in Tallinn uraufgeführt wurde. Den Anstoß hierzu hatte er von Friedrich Hebbels gleichnamigem Drama bekommen, das er in seiner Studienzeit gelesen hatte (vgl. Ambur 1938). Anders als im klassischen Stoff aus der Bibel, wo die patriotische, gottergebene und schöne Witwe Judith sich aus der belagerten Stadt Bethulia in

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das Lager von Holofernes, dem Heerführer von Nebukadnezar, begibt, um jenem nach ihrer vermeintlichen Annäherung den Kopf abzuschlagen und durch diese Demoralisierung der feindlichen Truppen ihre Stadt zu retten, ist Tammsaares Titelfigur eine Frau bar jedweder hehrer Beweggründe, die ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil aus ist. Seine Juudit ist eine völlige »Dekonstruktion des biblischen Mythos« (Epp Annus et al. 2001, 276). Die Triebfedern ihres Handels sind sexuelle Leidenschaft und Machtgier, sie glaubt nicht an Gott und sucht die Enttäuschung in ihrem bisherigen Leben durch die Erlangung von Macht zu kompensieren. Als sie von Holofernes, der seinerseits gar nicht mehr an der Macht interessiert ist, jedoch zurückgestoßen wird, bringt sie ihn wegen dieser unendlichen Erniedrigung aus Rache um. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat will sie von dortigen Ehrungen für den vollbrachten Mord nichts wissen, sondern bekennt sich zu ihrer Liebe zu dem verhassten Holofernes und verlangt ihre Bestrafung. Aber diese Gnade wird ihr nicht zuteil, ihr egoistisches Handeln wird nicht mit dem Tod belohnt, und sie muss weiterleben. Mit diesem philosophischen und psychologischen Drama erreichte Tammsaare nicht nur innerhalb seines eigenen Werkes eine neue Qualität; auch die estnische Dramaliteratur erhielt hiermit eine wertvolle Bereicherung, die von der Kritik anerkennend aufgenommen wurde. Zu Recht wurde angemerkt, dass der Autor mit diesem Text die engen Grenzen der Heimat gesprengt hatte und ein universelles Thema behandelte. Es war das erste estnische Originalschauspiel mit biblischer Thematik. Nur aus kirchlichen Kreisen war erwartungsgemäß harsche Kritik zu vernehmen (H. Puhvel 1966, 324), weil die – für Tammsaare aber generell charakteristische – antireligiöse Tendenz des Schauspiels allzu offenkundig war. Das konnte dem Siegeszug des Dramas, das bald in das kanonische Repertoire estnischer Bühnen aufgenommen wurde, freilich keinen Abbruch tun. Tammsaare ging sparsam mit diesem für ihn neuen Genre um und schrieb nur ein einziges weiteres Drama. Fünfzehn Jahre später erschien seine satirische Komödie Kuningal on külm (Dem König ist kalt, 1936), die in die Spätphase des Autors gehört. Obwohl die Grundidee des Stücks ebenfalls aus der Bibel stammt, wo im ersten Satz des ersten Buchs der Könige der alternde und fröstelnde David erwähnt wird, dem eine Jungfrau zum Wärmen gesucht wird, weist dieses Drama im Gegensatz zu Juudit viel nachdrücklichere Bezüge zum aktuellen politischen Geschehen auf. Es ist im Kontext der Situation nicht nur in Estland, sondern in ganz Europa als eine antitotalitaristische Allegorie anzusehen, die dem Publikum die Absurdität und den Schrecken von totalitären Systemen gleich welcher Couleur vor Augen führen sollte. Mit den klassischen Mitteln der Satire wie Überhöhung und unerwarteten

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Wendungen wird ein ironisches Spiel – als solches hat der Autor bewusst sein Stück im Untertitel bezeichnet, und man kann in dem Drama bereits Elemente des absurden Theaters entdecken – dargeboten, in dessen Mittelpunkt der frierende König steht. Er kann sich nur mit Hilfe seines behänden Hofnarrs an der Macht halten und ist unfähig, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. So verfällt das Volk zum Beispiel hemmungslos einem neuen Glauben, der in der Anbetung eines zweiköpfigen Kalbes besteht, das von dem Bergbauern Karlo zur Volksbelustigung herumgezeigt worden war. Karlo war Angela, dem Mädchen, das man zur Erwärmung des Königs aus den Bergen geholt hatte, aus Liebe gefolgt. Als der König am Ende stirbt, eröffnet sich für Angela und Karlo doch noch die Möglichkeit zu einem gemeinsamen Glück. Daneben treten zahlreiche Hofschranzen und Bergbewohner auf, die die Komödie tatsächlich zu einem bunten und vielschichtigen Spektakel werden lassen, das vielen Interpretationen offen steht. Das spiegelte sich auch in der unmittelbaren Reaktion der Kritik wider, die nicht viel mit dem Stück anzufangen wusste. Obwohl Tammsaares eigener Aussage zufolge, die er in einem Brief an den in den USA lebenden Journalisten und Übersetzer Andres Pranspill äußerte (Treier 1981, 42), in dem Stück weniger die Lage in Estland als vielmehr das Führertum in einigen großen Ländern Europas wie Deutschland oder Italien auf die Schippe genommen werden sollte, war auch die estnische Kritik ein wenig in der Zwickmühle, weil sie manch offenkundige Parallele zu estnischen Verhältnissen entweder nicht beim Namen zu nennen wagte oder aber nicht sehen wollte. Auf jeden Fall hat Tammsaare auch mit seinem zweiten Bühnenstück etwas Ureigenes und Authentisches geschaffen, das sich in seiner Zeitlosigkeit mühelos ins Standardrepertoire der estnischen Bühnen einpassen ließ und auch außerhalb Estlands – in Litauen (1973) und Finnland (1981) – inszeniert worden ist. Wahrheit und Recht Das wichtigste Werk Tammsaares und eines der Hauptwerke der estnischen Literatur bildete die zwischen 1926 und 1933 publizierte Pentalogie Tõde ja õigus (Wahrheit und Recht). Dieser Romanzyklus, der aufgrund seines inneren Zusammenhalts aber als ein Roman aufzufassen ist, ist nach wie vor gut für die meisten Superlative innerhalb der estnischen Literatur. Mit seinen ca. 675 000 Wörtern erreicht er einen Umfang, der auch im Weltmaßstab nicht häufig anzutreffen ist, so enthält beispielsweise Tolstojs Krieg und Frieden laut Vollmann (1997) »nur« 660000 Wörter. Auch in der Zahl der auftretenden Personen braucht die Romanserie keinen Vergleich zu scheuen, denn man hat insgesamt 170 Figuren gezählt (EKA IV,1, 323).

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Der Roman ist entsprechend dem allumfassenden Titel ein groß angelegtes Gemälde von der Genese der estnischen Gesellschaft und so gesehen als klassischer Bildungsroman aufzufassen. Er umspannt den Zeitraum von gut einem halben Jahrhundert, indem er »am Ende des dritten Viertels des vergangenen Jahrhunderts« – so der Eröffnungssatz des ersten Bandes, der tief im Gedächtnis eines jeden estnischen Schulkindes verankert ist – einsetzt und bis in die aktuelle Gegenwart, d. h. die Zeit der Abfassung des Romans Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre hineinreicht. Er hat eine eindeutige Hauptperson, deren Geschicke durch alle Bände hindurch – allenfalls im ersten Band spielen die Eltern eine größere Rolle – verfolgt werden und anhand deren Schicksal der Werdegang der ganzen Nation exemplifiziert wird: Indrek Paas, der mehr oder weniger genau so alt wie sein Schöpfer sein dürfte und in den ersten beiden Bänden auch durchaus autobiographische Züge aufweist. Die lassen später jedoch nach, und man kann das Werk besser als philosophischen Panorama- oder Gesellschaftsroman bezeichnen als als Familiensaga oder psychologischen Entwicklungsroman. Dafür spricht auch der Umstand, dass hier kein Chronist am Werke war, der minutiös eine Entwicklung nachzeichnen wollte, sondern ein philosophischer Autor, der sich seine Themen selbst sucht und sich zum Beispiel beim Übergang vom dritten zum vierten Band einen Sprung von ca. zwanzig Jahren gestattet. Das komplexe Werk ist der Schlüsselroman für Estland schlechthin. Die gesamte estnische Literaturwissenschaft ist Tammsaare dafür dankbar, dass er in seinen Briefwechseln selbst eine grobe inhaltliche Charakterisierung oder auch philosophische Deutung der fünf Bände gegeben hat, die wenige Monate nach seinem Tod in einer estnischen Tageszeitung publiziert worden ist und seitdem immer wieder zitiert wird. Zum ersten Mal erwähnte Tammsaare diese Charakterisierung in einem Brief an seinen finnischen Übersetzer vom 19. Februar 1933, als der fünfte Band noch nicht erschienen war: »Ich bemühte mich in meinem Werk darum, den Menschen einmal in seinem Streit mit dem Land zu sehen, einmal mit Gott (was heutzutage ja beinahe eine Lachnummer ist), einmal mit der Gesellschaft, einmal mit seinem Privatleben und seinen Tugenden (welchselbiger Streit normalerweise der schwierigste und erschütterndste ist). Aus dieser Phase der Entwicklung oder der Kämpfe muss der Mensch entweder zur Verzweiflung oder zur Resignation gelangen (d.h. natürlich für den Fall, dass der Mensch das Leben und seine Fragen ernst nimmt), und dieses letzte Ergebnis (Verzweiflung oder Resignation) muss die fünfte Lieferung des Romans darstellen, die auch das natürliche Ende des Romans sein muss.« (Teder/Treier 1978, 56.) Damit hat Tammsaare freiheraus gesagt, dass es in seinem Roman schlicht um alle Grundfragen menschlicher Existenz geht, die er unter den vier Nennern Na-

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tur, Metaphysik, Gesellschaft und Individuum und anhand der persönlichen Entwicklung von Indrek Paas betrachtet. Zwar sind die vier Bereiche selten streng voneinander zu trennen und schon gar nicht in braver zeitlicher Abfolge abzuhandeln, aber eine deutliche Schwerpunktsetzung pro Band findet in der Tat statt und ist als gelungen zu betrachten. Der erste Band (1926; dt. unter dem Titel Wargamäe, 1938, erneut 1970) beginnt mit der Ankunft von Andres und Krõõt auf dem neu erworbenen Bauernhof und schildert den mühseligen Aufbau einer eigenen Existenz. Dazu gehören Knochenarbeiten wie die Trockenlegung eines Sumpfes ebenso wie ständige Streitigkeiten mit dem Nachbarn, der nicht so arbeitsam, gottesfürchtig und pflichtbewusst wie die Neuankömmlinge ist, sondern faul, verschlagen und voller Missgunst. Dieser Pearu ist eine der schillerndsten und berühmtesten Figuren aus der estnischen Literatur und später das Sinnbild für neidende Nachbarn geworden. Er hatte einen eindeutigen Prototyp wie auch der Bauer Andres, hinter dem leicht Tammsaares Vater, der tatsächlich viel Ärger mit seinem Nachbarn gehabt hat, zu erkennen ist. Auch die Kindheit des Sohnes Indrek, die in diesem Band beschrieben wird, dürfte viele Übereinstimmungen mit der Kindheit des Autors aufweisen. Indrek war als Sohn von Mari, der zweiten Frau von Andres, zur Welt gekommen, nachdem Krõõt bei der Geburt ihres vierten Kindes und ersten Sohnes gestorben war. Neben der ausführlichen Beschreibung des Kampfes mit dem kargen Boden nimmt die Schilderung der vielen persönlichen Einzelschicksale – Krankheit und Tod, Verzweiflung und Selbstmord, Zerwürfnisse und Gottesstrafen – viel Raum ein. Am Ende haben alle Kinder den Hof verlassen, und Andres und Mari sind alleine. Da die Verstädterung in Estland erst relativ spät einsetzte, haben fast alle Esten auch heute noch ihre »Wurzeln« auf dem Lande, wodurch dieser erste Teil des Romans einen besonderen Identifikationswert hat: Viele wissen Vergleichbares aus ihrer Familiengeschichte zu berichten. Der zweite Band (1929; dt. unter dem Titel Indrek, 1939, erneut 1980) konzentriert sich ganz auf Indrek und dessen schulischen und persönlichen Werdegang. Auf der Privatschule des Herrn Maurus in der Stadt – hier sind wiederum Parallelen zu Tammsaares eigenem Werdegang auf Treffners Gymnasium in Tartu erkennbar – kommt er mit der »großen, weiten Welt« in Berührung. Hier tummeln sich andere Nationalitäten wie Deutsche, Russen und Letten, hier taucht er ein in die Welt des Wissens, hier lernt er auch Frauen kennen, sowohl begehrenswerte und unerreichbare als auch bemitleidenswerte wie das kleine gelähmte Mädchen Tiina, das er mit einem vagen Heiratsversprechen zu trösten versucht. In materiell kümmerlichen Verhältnissen stürzt sich der Schüler auf alles, was es zu lesen gibt, beschäftigt sich

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mit existenziellen Fragen und verliert schließlich den ihm vom Elternhaus mitgegebenen Glauben an Gott. Auch dieser Band symbolisiert insofern die Geschichte Estlands, als sich das kleine und karge Land, das arm an Bodenschätzen ist, in erster Linie durch Bildung um eine rosigere Zukunft bemühen will. Der dritte Band (1931; dt. als zweiter Teil in Indrek enthalten, erneut 1983 unter dem Titel Wenn der Sturm schweigt) zieht den Kreis noch größer und führt Indrek im Jahre 1905 in die Hauptstadt, wo er sich mit Privatstunden und gelegentlichen Beiträgen für die Presse über Wasser hält. Er gerät in Kontakt mit revolutionären Kreisen, liest sozialistische Literatur und engagiert sich politisch. Er ist berauscht vom Freiheitsgedanken und setzt sich ganz für eine Beseitigung des herrschenden Unrechts ein, wendet sich aber bald enttäuscht von den Revolutionären ab, als er sieht, dass diese sich nicht von rachsüchtiger Brandstiftung auf den deutschen Gütern abhalten lassen, worin Indrek nur Zerstörungswut statt konstruktiver Aufbauarbeit erblicken kann. So geht er vorübergehend zurück auf den elterlichen Hof, wo ebenfalls die Nachwirkungen der Revolution zu spüren waren – sein Bruder wird von einem Strafbataillon erschossen, sein Vater ausgepeitscht – und wo seine todkranke Mutter ihn anfleht, ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Mit Hilfe eines befreundeten Apothekers aus der Stadt erfüllt er ihr mit einer Überdosis Medizin diesen letzten Wunsch. Von diesem Band bestehen übrigens zwei Versionen, da Tammsaare für die lettische und deutsche Übersetzung eine gekürzte Fassung anfertigte. Sie wurde später für alle Neuauflagen des Romans verwendet, obwohl der Autor zu Lebzeiten keine autorisierte Neufassung publiziert hatte (vgl. Hasselblatt 2005b, 328–329). Der vierte Band (1932; dt. unter dem Titel Karins Liebe, 1940, erneut 1988) spielt nach einem Zeitsprung von zwei Jahrzehnten erneut in der Stadt und zeigt Indrek, der mittlerweile Lehrer ist, in den Anfangsjahren der estnischen Republik. Der materiell abgesicherten Position steht aber ein unerfülltes Privatleben gegenüber, das von seiner zerrütteten Ehe mit Karin überschattet wird. Das unerfüllte private Glück steht in gewissem Einklang mit den Nebenerscheinungen der neuen Gesellschaft wie Wirtschaftskrise, Spekulantentum und Sensationspresse. Das Geflecht aus Intrigen, Klatsch und Eifersüchteleien, worin auch die aus dem zweiten Band bekannte Tiina, die mittlerweile genesen und unerkannt bei Indrek als Hausmädchen angestellt ist, eine Rolle spielt, führt zur Eskalation: Indrek schießt im Affekt auf seine Frau, trifft sie aber nicht tödlich und wird im darauf folgenden Prozess zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Versuche, die Ehe doch noch zu kitten, scheitern, am Ende kommt Karin unter einer Straßenbahn zu Tode, Indrek flieht aufs Land.

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Der fünfte Band (1933; dt. unter dem Titel Rückkehr nach Wargamäe, 1941, erneut 1989) sieht den vom Leben enttäuschten Indrek zurück auf dem elterlichen Hof, wo sein alter Vater noch lebt, den Hof aber seiner Tochter und deren Mann überlassen hat. Indrek findet eine neue Sinngebung für sein Leben in der körperlichen Arbeit, er setzt die ursprünglich vom Vater geschmiedeten Entwässerungspläne in großem Stil fort und erlangt dadurch wieder einen intimeren Kontakt zu seinem Vater, mit dem er lange philosophische Gespräche führt und der dann beruhigt sterben kann. Gleichzeitig taucht Tiina auf dem Lande auf und erhält eine Anstellung bei Indreks Schwester, dann aber gibt sie sich zu erkennen, und Indrek löst sein über ein Vierteljahrhundert zurückliegendes Heiratsversprechen ein. Tiina und Indrek beschließen, gemeinsam ihre Zukunft zu gestalten. Es versteht sich von selbst, dass ein Werk von dieser epischen Breite vielfältig und nachhaltig gedeutet worden ist. Es gibt, wie bei der Bibel, praktisch nichts, was es in diesem Roman nicht gibt, weswegen Parallenen zwischen Wahrheit und Recht und der Bibel (Epp Annus et al. 2001, 286) gezogen worden sind. Diese Assoziation ist insofern nicht falsch, als der Roman für die Esten eine Art Bibel geworden ist, und so kann man ihn auch lesen: Als Informationsquelle für alles, was mit Land und Leuten in diesem Zipfel Nordosteuropas zu tun hat. Dabei weist gleichzeitig schon die ebenso schlichte wie viel sagende Titelgebung darauf hin, dass es hier um universelle Probleme geht, die keineswegs auf ein kleines Ländchen beschränkt sind. Bedauerlicherweise kommt dies in der deutschen Übersetzung – und in Anlehnung an diese auch in einigen anderen Sprachen – nicht zum Tragen, wo völlig nichtssagende Orts- und Personennamen dem Roman als Titel verpasst worden sind. Das hatte kommerzielle Gründe: Der Verleger wollte sich mit einem denkbaren Titel Wahrheit und Recht I nicht unter Zugzwang setzen, sondern den Absatz des ersten Bandes abwarten, ehe er die weiteren in Auftrag nahm. Aber es ist trotzdem eine verpasste Chance, was die Weltrezeption des Romans betrifft. Denn ein Buch mit einem opaken Ortsnamen im Titel kann man viel leichter als zeitgebundenen »Bauernroman«, der zudem noch das Pech hatte, in Deutschland in der Zeit der »Blut-und-Boden«-Ideologie zu erscheinen, zu den Akten legen, als ein Werk mit einem zeitlosen Titel, der etwas von der elementaren Wahrheitssuche des Autors verrät. Interessanterweise kam aber auch die Rezeption innerhalb Estlands erst schleppend in Gang, die Aufnahme war nicht unbedingt stürmisch. Erst allmählich hat der Roman seine alles überragende Position erhalten. Ein Indiz für die große Wirkung sind die zahlreichen Bühnenfassungen, die von verschiedenen Teilen des Werkes existieren, und die größte Adelung hat das Werk wohl durch eine perfekte Verschmelzung von Fiktion und Realität er-

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halten, die zeigt, wie sehr auch Literatur die Welt verändern kann: Da die ersten Teile des Romans unzweideutig auf gewisse Vorlagen in der Realität verweisen – der Bauernhof von Tammsaares Eltern, Treffners Gymnasium, die Revolutionsereignisse von 1905 –, war es für die Esten gewissermaßen unerträglich, dass die von Indrek im letzten Band vorgenommene Flussregulierung nicht real stattgefunden hat, sondern lediglich der Phantasie des Autors entstammte. Folglich gab es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Pläne zur Regulierung des Flusses auf Tammsaares Geburtshof, die in den 1960er-Jahren tatsächlich in die Tat umgesetzt worden sind. So sind später die im Roman beschriebenen Regulierungen noch vorgenommen und Roman und Realität wieder in Einklang gebracht worden! Die späten Romane Tammsaare war nun in Fahrt und dachte nach Abschluss dieser monumentalen Pentalogie nicht daran, eine Ruhepause einzulegen, sondern machte sich gleich an seinen nächsten Roman, dessen Thematik Überschneidungen mit dem vierten Teil von Wahrheit und Recht aufweist und wozu er schon genügend Material und Ideen hatte: 1934 erschien der mit 120000 Wörtern wiederum recht umfangreiche Roman Elu ja armastus (Leben und Lieben). Dieser Roman steht unverdientermaßen im Schatten des übrigen Werks von Tammsaare – es ist beispielsweise der einzige seiner Romane, der bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden ist –, was mit dem Zeitpunkt seines Erscheinens und der etwas zurückhaltenderen Kritik zusammenhängen mag. Tatsächlich erreichte Tammsaare hier in der Beschreibung einer tragisch scheiternden Liebe ein Höchstmaß an psychologischer Darstellung. Hauptperson ist Irma Vainu, ein Mädchen vom Lande, das nach seinem Schulabschluss in die Stadt geht, um dort sein Glück zu versuchen. Irma findet eine Anstellung als Haushälterin bei einem allein stehenden Herrn, der sie jedoch zu seiner Geliebten machen will. Sie trifft Vorsichtsmaßregeln und vereinbart mit Rudolf Ikka, so der Name des wohlhabenden Geschäftsmannes, strengste Distanz. Das geht eine Weile gut, obwohl Rudolf systematische Annäherungsversuche unternimmt, die von Irma jeweils im Keim erstickt werden. Aber allmählich fühlt sich auch Irma von Rudolf angezogen, so dass sie seinen nach einem abermaligen heftigen Streit erfolgten Heiratsantrag annimmt. Es folgt eine glückliche Zeit, die für Irma die Erfüllung eines Traumes ist und für Rudolf die Heilung von seiner Bindungsunfähigkeit sein soll. Doch bald merkt Rudolf, dass er sich von seinem alten Leben nicht lösen und Seitensprünge nicht vermeiden kann. Er versucht sogar, Irma in Kontakt mit anderen jungen Männern zu bringen und sie dadurch von ihm zu entwöh-

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nen, aber Irmas Liebe zu Rudolf wird immer totaler. Auch Rudolf liebt Irma auf seine Weise, aber er erkennt, dass er sie nicht glücklich machen kann, und entscheidet sich schließlich zur Trennung. Irma willigt nicht ein und ist zu allen Zugeständnissen bereit: Verzicht auf Kinder – Rudolf kann keine Kinder zeugen –, Verzicht auf Treue des Mannes, sogar Verzicht auf die Bekundung der eigenen Liebe ihm gegenüber. Doch Rudolfs Entscheidung ist unumstößlich, er glaubt, Irma könne nur ohne ihn glücklich werden, während Irma das Umgekehrte denkt und nach der letzten Verabschiedung ihrem Leben ein Ende setzen will. Der Selbstmordversuch scheitert, weil ein Jugendfreund Irmas inzwischen in der Stadt aufgetaucht und rechtzeitig zur Stelle ist. Dieser Freund macht Rudolf für Irmas Unglück verantwortlich und erschießt ihn daraufhin. Es geht in dem Roman um die sich als unmöglich erweisende Liebe zweier unwiderstehlich zueinander hingezogenen Menschen. Das wird vorwiegend aus der Perspektive Irmas, aber mit ausgesprochen langen philosophischen Monologen Rudolfs, in starker psychologischer Vertiefung dargestellt. Beide Hauptpersonen suchen nach dem Sinn des Lebens und der Erfüllung des Lebens in der Liebe. »Jenseits der Liebe gibt es kein Leben« – so lautet das Credo von Rudolf, das sich auch Irma zueigen macht. Das geht gut, bis sich herausstellt, dass die Erwartungshaltungen zu verschieden sind und das Glück der Einen nicht ausreichend ist für das Glück des anderen. In dieser Inkongruenz liegt die Tragik der Liebe der beiden Hauptpersonen des Romans, kann aber eben auch die Tragik des Lebens allgemein liegen. Tammsaare hat dies mitreißend und atemberaubend beschrieben und seinem Roman mit Recht diesen schlichten und universellen Titel gegeben: Es geht hier um Leben und Liebe und alles, was damit zusammenhängt. Das Thema war für den Autor damit aber noch nicht erschöpft. Ein Jahr später legte er seinen nächsten Roman vor, Ma armastasin sakslast (1935; dt. Ich liebte eine Deutsche, 1977). Auch dieser Roman handelt von einer unglücklichen Liebe, diesmal zwischen einem estnischen Studenten und einer deutschen Baronesse. Der Roman ist im Tagebuchstil aus der Perspektive des Studenten verfasst worden, wobei der Autor einen beliebten Kunstgriff verwendet, indem er den Text in einer Vorbemerkung als aufgefundenes bzw. nachgelassenes Manuskript ausgibt. Das Verhältnis scheitert an den Standesunterschieden – aber nicht etwa, weil eine vermeintlich hochnäsige Adlige sich nicht auf einen Bauernsohn vom Lande einlassen will, sondern weil der Este seinen Minderwertigkeitskomplex nicht überwinden kann und sich in den entscheidenden Momenten selbst im Wege steht. Angeprangert werden mit diesem Roman das mangelnde Selbstvertrauen einer Generation, die eine andere, einst als höher empfundene bzw. als solche dargestellte Kultur lediglich

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nachahmt. Diese Haltung wird in die Hauptfigur hineinprojiziert und der zeitgenössischen estnischen Gesellschaft insgesamt vorgeworfen. Dabei waren Tammsaare besonders die estnischen Studentenverbindungen ein Dorn im Auge, in denen er nur eine lächerliche Nachahmung der deutschen Burschenschaftlerherrlichkeit sah, die ihrerseits aus nicht viel mehr als der umsichtigen Pflege verschiedener Trinksitten bestand. Obwohl schon die zeitgenössische Kritik darauf hinwies, dass es so schlecht nicht bestellt sei um das Selbstwertgefühl der Esten und dass diese Situation und Mentalität wohl eher für den Anfang des 20. Jahrhunderts, also eine Generation früher, zutreffend gewesen seien, hat der Autor mit diesem Roman eine wichtige Thematik aufgegriffen, die bis dahin noch nicht auf der Tagesordnung gewesen war. In der Kette der literarischen Behandlungen des schwierigen deutsch-estnischen Verhältnisses formt Tammsaares vorletzter Roman ein wichtiges Glied. Der letzte Roman des Autors wandte sich dann einem völlig anderen Thema zu und ist der geniale Schlussakkord unter ein vielseitiges und zutiefst philosophisches Gesamtwerk. Põrgupõhja uus Vanapagan (Der neue Teufel aus dem Höllengrund, 1939; dt. unter dem Titel Satan mit gefälschtem Pass, 1959) ist eine Allegorie auf die Unzulänglichkeit menschlichen Handelns schlechthin, aber ebenso auf die Absurdität metaphysischer Verklärungen desselben. Dem Roman liegt ein simpler Gedankengang zugrunde, den der Autor sicherheitshalber in einem Prolog und Epilog formuliert hat, die er aber der Erstausgabe nicht beigefügt hat. Sie sind erst in spätere Ausgaben aufgenommen worden. Dem zufolge geht der Teufel beim alljährlichen Verteilen der Seelen eines Tages leer aus, nachdem Petrus ihm die neue Politik verkündet hat: Es sei fraglich, ob die Menschen auf der Erde überhaupt die Seligkeit erringen könnten. Wenn das nämlich nicht der Fall sei und die ganze Schöpfung damit misslungen sei, dann würde der Gedanke an die Hölle ja hinfällig, weil man Menschen schließlich nicht für etwas bestrafen könnte, was sie nicht selbst verschuldet hätten. Nur wenn bewiesen werden könne, dass der Mensch auf Erden sehr wohl selig werden könne, habe der Teufel weiterhin ein Recht auf seine jährliche Seelenration, die dann wie gehabt aus demjenigen Teil der Menschheit bestünde, der sich während seines irdischen Daseins allerlei Verfehlungen zu Schulden hat kommen lassen. Um diesen Beweis zu erbringen, wird der Teufel in Menschengestalt als Bauer Jürka auf die Erde geschickt. Dort rackert er sich ab, schuftet wie ein Berserker und kompensiert alle Gemeinheiten seiner Widersacher, vor allem seines Nachbarn Ants, mit erhöhtem Arbeitseinsatz. Doch es hilft alles nichts, er wird übervorteilt, ausgenommen, von Schicksalsschlägen getroffen und nach und nach zugrunde gerichtet. Am Ende ist er nicht mehr Eigen-

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tümer von Haus und Hof, sondern hat alles an Ants verloren, der ihn noch als Pächter duldet. Als Ants aber einen besser zahlenden Pächter gefunden hat und Jürka von seinem Hofe verjagen will, ist das Maß voll und Jürka zündet alles an. Er selbst kommt dabei in den Flammen um, während Ants nur seinen Vorteil daraus zieht, weil alles gut versichert war. Damit endet der irdische Aufenthalt des Teufels, der allerdings keine Klarheit gebracht hat. Folglich hütet sich Tammsaare in seinem Epilog davor, eine endgültige Entscheidung zu treffen, auf die der zurückgekehrte Teufel drängt. Petrus vertröstet ihn ein ums andere Mal mit dem Hinweis darauf, dass noch keine Entscheidung hinsichtlich der Seligkeit von Jürka getroffen worden sei und noch weiteres Material gesammelt werden müsse. Dem Teufel gehen aber allmählich die Seelen aus, und er droht verzweifelt damit, dass bei einem Verfall der Hölle auch die Tage des Paradieses gezählt seien, weil die Menschheit dorthin nur strebe, wenn sie das deutliche Schreckensbild der Hölle vor sich habe. Doch er bleibt mit seinem Paradox alleine: Als Mensch musste er nach der Seligkeit streben, um sich als Teufel seine Zukunft zu sichern. Diese umgekehrte Heilsgeschichte (vgl. Lehiste 1973) veranschaulicht in ihrer Paradoxalität noch einmal Tammsaares Lebensphilosophie, die in diesem Punkte völlig korrekt in die Nähe des Existenzialismus gerückt worden ist (Scholz 1980, 158). Das Ganze mit äußerst spritzigen Dialogen, grotesken und absurden Szenen und viel Humor in einen Roman gekleidet zu haben, ist Tammsaare mit diesem tiefsinnigen und hintergründigen Buch, »in dem schonungslos mit Gott und der Welt und all ihren Übeln und Schwächen zu Gericht gegangen wird« (Scholz 1980, 165), meisterlich gelungen. Rezeption Tammsaare ist der estnische Romancier par excellence und auf einer Hitliste von estnischen Romanen, wo Wahrheit und Recht unangefochten den ersten Platz einnimmt, mit noch zwei weitere Romanen unter den ersten zehn vertreten (Langemets 1998). Ebenso begreiflich ist, dass Tammsaare bei soziologischen Untersuchungen über die Verbreitung von Belletristik – wie Oskar Luts – stets ausgeklammert werden muss, weil sein Bekanntheitsgrad bei allen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten nahezu hundert Prozent beträgt (Lauristin/Vihalemm 1985, 254). Bemerkenswert ist ferner, dass Tammsaare als erster estnischer Autor auch über die Grenzen Estlands hinaus zum Objekt der Forschung geworden ist und die estnische Literaturwissenschaft diese ausländischen Forschungen aus deutscher, finnischer und tschechischer Feder mittlerweile auch rezipiert (Treier 2001).

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Tammsaare-Denkmal von Jaak Soans in Tallinn, Foto: Valdur Vahi

Ohne Übersetzungen ist so etwas in der Regel nicht möglich, und tatsächlich gehört Tammsaare zu den meistübersetzten Autorinnen und Autoren der estnischen Literatur. Schon sein Debütroman Kõrboja peremees ist in beinahe zehn Sprachen übersetzt worden, sein Hauptwerk liegt komplett auf Deutsch, Französisch, Lettisch, Russisch und Tschechisch vor, Teile davon in einem halben Dutzend weiterer Sprachen, und es kommen nach wie vor neue hinzu: Die komplette finnische Übersetzung – in den 1930er-Jahren kam man über die Übersetzung des ersten und des fünften Bandes nicht hinaus – entsteht momentan. Von seinen späteren Romanen sind ebenfalls Übersetzungen in diversen Sprachen erschienen, wobei das Schlusswerk Põrgupõhja uus Vanapagan in einem Dutzend Sprachen vorliegt. Darüber hinaus sind in vielen Sprachen Auswahlen von Tammsaares Erzählungen oder Novellen erschienen. Für seine lebhafte Aufnahme in Deutschland spricht die große Anzahl von Rezensionen aus deutschen Zeitungen, die Tammsaare sorgfältig sammelte und die heute in seinem Archiv einzusehen sind (teilweise verzeichnet bei Hasselblatt 2004, 137–138). Sie betreffen die ersten beiden Bände, danach unterbrach der Krieg den Kontakt, vermutlich sank danach auch die Anzahl der Rezensionen. Der Zweite Weltkrieg, den mitzuerleben dem Autor größtenteils erspart blieb, wirkte sich nachhaltig negativ auf die Rezeption

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von Wahrheit und Recht aus, viele geplante und vorbereitete Ausgaben konnten nicht verwirklicht werden, schon begonnene Übersetzungen blieben nach einigen Bänden stecken. Wie das finnische Beispiel zeigt, ist der Rezeptionsprozess aber noch keineswegs abgeschlossen, so dass man gespannt auf die weitere Entwicklung sein darf (für einen Überblick über die Rezeption in einigen Sprachen vgl. H. Puhvel 1977).

§ 33 Prosa und Drama der Zwischenkriegszeit Die fetten Jahre Nach den schwierigen Anfangsjahren der estnischen Republik und der allmählichen Überwindung der Weltwirtschaftkrise Anfang der 1930er-Jahre kann man in den 1930er-Jahren von einer Konsolidierung und einem gewissen Wohlstand sprechen. Der wirkte sich auch auf die Literatur aus, die in dieser Phase eine ungekannte Blüte erlebte. Das lag zum einen am funktionierenden Förderungssystem und der Stimulanz durch Wettbewerbe und Preise, zum anderen aber auch an der Wirtschaftslage, die mehr Personen das Wagnis auf sich nehmen ließ, eine Karriere im schriftstellerischen Beruf auszuprobieren. Es ist so betrachtet vielleicht auch kein Zufall, dass ein qualitativer Höhepunkt wie Tammsaares Wahrheit und Recht zeitlich ungefähr zusammenfiel mit einem quantitativen Höhepunkt Mitte der 1930er-Jahre, als jährlich 20–25 neue Romane herauskamen. Zudem hatte Tammsaares Erfolg einen Mitziehereffekt, das Schreiben von Romanen wurde regelrecht populär. Eine weitere Rolle spielte hier der seit 1927 veranstaltete Romanwettbewerb des Verlags Loodus, der bis 1939 neunmal ausgeschrieben wurde und jedes Mal für zahlreiche neue Manuskripte sorgte (vgl. R. Põldmäe 1967). Das wiederum hatte zur Folge, auch wenn man den kommerziellen Grundsatz »Konkurrenz belebt das Geschäft« nicht vorbehaltlos auf die Literatur übertragen sollte, dass unter der stets größer werdenden Auswahl immer mehr lesenswerte Texte waren. Jedes Jahr erschien in der Zeitschrift Eesti Kirjandus ein Überblick über die Literatur des vorangegangen Jahres, häufig nach Genres getrennt, wobei es sich oft um Vorträge von der Jahresversammlung der Estnischen Literaturgesellschaft handelte, und diese Überblicke wurden zusehends länger. Gleichzeitig sah die Kritik, dass die enorm angewachsene Literaturmenge auch viel Minderwertiges mit sich bringt, weswegen schon 1931 Arthur Adson in einem solchen Jahresüberblick den Vorschlag machte, die führenden Verlage mögen doch lieber ein wenig mehr Geld für ein vernünftiges Lektorat ausgeben, die Kosten würde man durch die dann dünne-

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ren, aber eben besseren, Bücher schon wieder hereinbekommen (Adson 1931, 330). Während zu Beginn der Zwischenkriegszeit analog zur Dynamik der Aufbaujahre die Lyrik dominiert hatte, trat nun in den weniger hektischen Zeiten die Prosa in den Vordergrund. Nach wie vor wurde aber auch viel Lyrik verlegt, ferner boomten die Theater, und so entstand eine vielschichtige Mischung verschiedener Textsorten und Altersgruppen. Dabei hatten die Ältesten schon zu Beginn des Jahrhunderts debütiert, während die Jüngeren erst im ersten oder zweiten Jahrzehnt desselben Jahrhunderts zur Welt gekommen waren und dreißig Jahre später ihr erstes Buch vorlegten. Zu den Älteren zählte Mait Metsanurk, der nur knapp zwei Jahre jünger als Tammsaare war und seit 1904 in Zeitungen Kurzprosa veröffentlicht hatte. Eduard Hubel, so Metsanurks bürgerlicher Name, den er als Kritiker und Publizist weiterhin verwendete, war nach seiner aus Geldmangel gelegentlich unterbrochenen Ausbildung im Schuldienst gelandet und seit 1906 dann als Journalist in Tallinn tätig. Von 1910 bis 1920 war er in der Redaktion des Tallinna Teataja, in den letzten Jahren als einer von zwei Chefredakteuren. Danach war er nur noch kurzzeitig Redakteur bei einer Zeitschrift und lebte vorwiegend als freier Schriftsteller in Tallinn. Dort wurde er einer der Hauptgestalter des literarischen Lebens, das er in verschiedenen Funktionen und Positionen mitprägte. Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahm er zwar den Versuch, sich der neuen Ideologie anzupassen (vgl. § 38), geriet 1950 aber trotz allem in Misskredit und wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Seinen Unterhalt musste er sich fortan als Nachtwächter verdienen. 1957 starb er in Tallinn. Mait Metsanurk war einer der produktivsten Autoren der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und stand an Popularität Tammsaare nicht viel nach. Er hatte mit kurzen Geschichten, die häufig einen humoristischen Einschlag hatten, begonnen und 1909 seinen ersten Roman, Vahesaare Villem (Villem aus Vahesaare) vorgelegt. In diesem realistischen oder auch naturalistischen Roman, der auf wahren Begebenheiten aus der Kindheit bzw. Jugend des Autors beruht, wird der Niedergang eines Bauernhofes beschrieben, den der Eigentümer trotz äußersten Einsatzes und hoher moralischer Werte nicht verhindern kann. Auch der zweite Roman des Autors, Orjad (Sklaven, 1912), in dem die Sklavenmentalität der Gegenwartsgesellschaft behandelt wird, legt den Schwerpunkt auf moralische Fragen, und so ist es nicht falsch, Metsanurk als den Moralisten der estnischen Literatur zu bezeichnen. Er näherte sich vielen Fragestellungen nicht nur häufig vom Standpunkt der Moral aus an, sondern er fällte mitunter auch moralische Urteile. Diese Einstellung änderte sich auch kaum, als er später Romane schrieb, die eine stärkere psycho-

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logische Ausrichtung hatten wie etwas Ennäe inimest! (Siehe, welch ein Mensch!, 1918), der von der Sinnsuche eines Geschäftsmannes handelt, oder Kutsutud ja seatud (Berufen und eingesetzt, 1937), der in Tagebuchform von einer ebensolchen Sinnsuche eines Pfarrers handelt. Mit diesem Roman rief der Autor in kirchlichen Kreisen wütende Kritiken hervor. In den meisten seiner Prosawerke behandelte Metsanurk konkrete individuelle und gesellschaftliche Probleme aus der Gegenwart, was ihm die Bezeichnung »Problemschriftsteller« (EKL 335) bzw. Begründer des Genres »Problemroman« (EKA III, 436) eingebracht hat. Außer den genannten Romanen und einigen Kurzgeschichten gehören noch Taavet Soovere elu ja surm (Taavet Sooveres Leben und Tod, 1922), wo in einem mit humoristischen Elementen versehenen Charakterroman das Aufeinanderprallen von Träumen und Realität behandelt wird, Jäljetu haud (Das spurlose Grab, 1926), worin die Sinnsuche eines kommunistischen Untergrundkämpfers thematisiert wird, und der Doppelroman Valge pilv (Die weiße Wolke, 1925) und Punane tuul (Der rote Wind, 1928) hierher. In den beiden Letztgenannten wird wiederum in realistischem Stil die Zeit der Revolution und des Freiheitskrieges behandelt. In manchen Werken Metsanurks finden sich expressionistische Anklänge, aber das zugrunde liegende Prinzip ist im Grunde genommen immer eine realistische Sichtweise. Metsanurk hat ferner Erzählungen, einige Schauspiele und zwei sehr erfolgreiche historische Romane verfasst (s.u.). Eine Eigenart von Metsanurks Romanen ist, dass er sie für die Neuauflagen stets gründlich überarbeitete und häufig auch kürzte, was die Befassung mit der Rezeption seiner Werke nicht gerade einfacher macht. Das mag anzeigen, wie intensiv sich der Autor mit seinen Texten befasste und dabei auch die Kritik verarbeiten wollte, ist andererseits aber genauso gut ein Beweis dessen, dass die ganz große Klasse dem Autor schlicht fehlte. In der Sowjetzeit konnte das dann aus anderen Gründen zu aberwitzigen Verrenkungen führen (s. § 38). Ebenfalls zur älteren Generation ist Karl August Hindrey zu zählen, der den in der literarischen Welt unüblichen Weg wählte und im Alter von über 50 Jahren mit seinen Memoiren debütierte und sich danach ans Prosaschreiben machte. Zuvor war der 1875 geborene Autor, der nach seinen Lehr- und Wanderjahren in Viljandi, Pärnu und Tartu, später dann in St. Petersburg, München und Paris, seit 1904 beim Postimees angestellt war, ausschließlich als Kritiker, Feuilletonist, Karikaturist, Buchillustrator und Kinderbuchautor in Erscheinung getreten. Gerade in letzterem Genre hatte er große Popularität erlangt und mit seinen Bildergeschichten im Stile eines Wilhelm Busch, die er 1906 publiziert hatte, die estnische Comicliteratur begründet. Auch in den 1920er-Jahren arbeitete er in einer Zeitungsredaktion, redigierte eine sa-

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tirische Zeitschrift und schrieb vorwiegend Kinder- und Reiseliteratur. 1928 ließ er sich als freier Schriftsteller in Tartu nieder und legte danach in schneller Folge Romane und Novellen vor, während er weiterhin auch Jugendbücher im Stile des Abenteuerromans schrieb. 1940 kämpfte er im bewaffneten Untergrund gegen die Sowjetisierung, eine Tätigkeit, die er während der folgenden deutschen Besatzung mit der Feder fortführte, indem er in der Presse über die Gräueltaten der sowjetischen Besatzer schrieb. Gleichzeitig war er als Schriftsteller produktiv. Als 1944 ein Fluchtversuch gescheitert war, musste er sich verständlicherweise vor den zurückkehrenden sowjetischen Besatzern verbergen und quartierte sich unter falschem Namen in einem Altersheim ein, wo er 1947 zwar in kümmerlichen Verhältnissen, aber unbehelligt starb. Neben den historischen Romanen und den psychologischen Novellen (s. u.) sind in Hindreys umfangreichem Werk noch einige Romane hervorzuheben, die durch eine gewisse Unkonventionalität aus der Reihe tanzen: In Sündmusteta suvi (Ein ereignisloser Sommer, 1937) wird tatsächlich nur beschrieben, wie ein angehender Schriftsteller in mittleren Jahren sich in einer Sommerfrische überlegt, wie er am besten seinen ersten Roman schreibt. Dabei wird er zwar leicht gestört, da unerwartet eine junge Frau in der Sommerfrische auftaucht und die allsommerlich zusammenkommende Gesellschaft ein wenig aufmischt, aber letztendlich geschieht nichts Aufsehen Erregendes. Damit haben wir es mit einem relativ modernistischen, wenn nicht gar postmodernen Thema zu tun, da hier der Schreibprozess als solcher thematisiert wurde. Ja ilma ja inimesi ma tundsin viimati ka (Und die Welt und die Menschen erkannte ich endlich auch, 1939) ist eine Liebesgeschichte zwischen einem estnischen kriegsversehrten Offizier mittleren Alters und einer aus verarmtem Adel stammenden jungen Deutschen. Schon etwas konventioneller, deswegen aber nicht weniger elegant geschrieben ist der letzte zu Lebzeiten erschienene Roman von Hindrey, Taaniel Tümmi tähelend (Taaniel Tümms Höhenflug, 1942). Er handelt von einem Aufsteiger, der sich aus kleinen Verhältnissen zum erfolgreichen Kaufmann emporarbeitet, dabei seine positiven menschlichen Eigenschaften aber nicht verliert. Hindrey konnte in seinen Feuilletons ein scharfzüngiger Satiriker sein, erwies sich in seinen Romanen aber als geradezu kontemplativer Plauderer. Der Schelm der estnischen Literatur Mit August Gailit war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Person am estnischen Literaturhimmel erschienen, die schon von ihrer Herkunft her aus dem Rahmen fiel und sich auch in ihrem schriftstellerischen Handeln darin treu blieb. Er war 1891 in Südestland geboren, sein Vater war Lette oder ein let-

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tisierter Live, seine Mutter war eine Estin, deren Eltern aber weitgehend germanisiert waren und in deren Adern möglicherweise auch niederländisches Blut floss (Kangro 1961, 82), so dass er als Kind alle vier örtlichen Sprachen mitbekam: Zu Hause wurde Lettisch gesprochen, mit den Großeltern zum Teil Deutsch, außer Hause aber Estnisch, und in der Schule kam bald Russisch hinzu. Dass der 18-Jährige 1909 seine erste Novelle auf Estnisch veröffentlichte und alsbald unstrittig zur estnischen Literatur gehörte, hängt nicht bloß damit zusammen, dass er in jenen Jahren in Tartu lebte und sich im estnischen Milieu fortbildete, sondern war auch eine bewusste Entscheidung des Jünglings, dem seiner eigenen Aussage zufolge Estland schlicht besser gefiel und der sich von der estnischen Kultur mehr als von anderen Kulturen angezogen fühlte (Kangro 1961, 84). So war ein estnischer Schriftsteller geboren, der zwar Zeit seines Lebens – als einer der wenigen Esten – die lettische Literatur verfolgte, aber nie Zweifel daran hatte, wohin er gehörte. Nach einer nicht anders als unvollständig zu nennenden Ausbildung ging Gailit 1911 nach Riga, wo er in einer Zeitungsredaktion arbeitete und gleichzeitig estnische und russische Zeitungen mit Artikeln versorgte. Im Laufe des Ersten Weltkriegs wich er vor der nahenden Front nach Tallinn aus und fand 1916 eine Anstellung beim Tallinna Teataja, wo er u.a. mit Visnapuu zusammentraf. Es folgte die kurze Siuru-Periode, danach war Gailit wieder in Tartu, nahm als Kriegsberichterstatter am Freiheitskrieg teil und trat 1920 für ein paar Jahre in den diplomatischen Dienst, indem er Presseattaché an der Estnischen Botschaft in Riga war. Hier quittierte er 1922 den Dienst und begab sich auf eine längere Auslandsreise, die ihn nach Deutschland, Frankreich und Italien führte. Nach seiner Rückkehr lebte er ab 1924 freiberuflich in Tartu und war dort von 1932 bis 1934 Direktor des Vanemuine. Seit 1934 lebte er in Tallinn, von wo er 1944 ins schwedische Exil ging. Er starb 1960 in der Nähe von Örebro. Gailit debütierte in Buchform 1910 mit der Erzählung Kui päike läheb looja (Wenn die Sonne untergeht), einer romantisch-tragischen Dreiecksgeschichte, die von der Kritik heute als schwacher Auftakt oder Vorspann zu seinem Werk betrachtet wird und die der Autor später selbst lieber vergessen wollte (Epp Annus et al. 2001, 299). Danach trat eine kleine Pause ein, Gailit verlegte sich erneut auf das Publizieren in Zeitungen und hatte sein eigentliches, »echtes« Buchdebüt erst im Siuru-Jahr 1917. Trotzdem war schon im ersten Text eine im Grundsatz romantische Ausrichtung festzustellen, die den Autor nie verlassen hat. Während die Kolleginnen und Kollegen um ihn herum sich vorwiegend mit realistischen Darstellungsweisen beschäftigten, blieb Gailit seiner mal symbolistisch, mal expressionistisch und allenfalls vielleicht naturalistisch genannten Stilrichtung treu und konnte sich für eine

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nüchterne oder detailgetreue Abbildung der Realität nicht erwärmen. Immer wieder steht das Groteske, Überraschende, Unerwartete und Unkonventionelle im Zentrum des Geschehens. Da kann schon mal ein Autor aus dem Jenseits über den eigenen Tod berichten oder eine Nonne sich mit dem Teufel zusammentun und anschließend fünf Ferkel gebären. Als ihm ein Schriftstellerkollege Letzteres als Geschmacklosigkeit ankreidete, antwortete Gailit ihm ganz lakonisch auf die ihm ureigene Weise: Henker und Dichter, Idioten und Intellektuelle – alle würden sie von Frauen geboren, »Warum soll eine Frau dann nicht auch fünf Ferkel gebären, vor allem wenn man berücksichtigt, dass ihr Mann ein Schelm und von Berufs wegen Satan war? Was sind in einem solchen Fall fünf Ferkel neben einem Napoleon oder einem Ivan dem Schrecklichen?« (zit. nach Vaiksoo 1995, 25). Gailit schrieb immer mit einem Augenzwinkern, auch wenn er dabei das Schwergewicht häufig auf die Schattenseiten des Lebens legte, denn schon früh brach sich neben der provozierenden Satire auch ein melancholischer Grundton Bahn. Gailit bevorzugte anfangs die Novelle und schrieb später Romane. In seinen ersten zehn Jahren als Schriftsteller veröffentlichte er sechs Bücher mit Sammlungen oder einzelnen Novellen: Saatana karussell (Das Satanskarussell, 1917), Rändavad rüütlid (Die wandernden Ritter, 1919), August Gailiti surm (A.G.s Tod, 1919), Idioot (Der Idiot, 1924), Vastu hommikut (Dem Morgen entgegen, 1926) und Ristisõitjad (Die Kreuzzügler, 1927). Damit hatte der Journalist und Feuilletonist schnell eine Position als wichtiger Prosaist im literarischen Leben Estlands erobert, zumal er darüber hinaus mit Muinasmaa (Das Märchenland, 1918), das vom Leben eines Bohemiens handelt, und Purpurne surm (Der purpurne Tod, 1924), worin eine Untergangsvision im Stile Oswald Spenglers entworfen wird, auch noch zwei Romane vorgelegt hatte. Damit nicht genug, war der scharfzüngige und schlagfertige Autor weiterhin als Feuilletonist aktiv und legte im gleichen Zeitraum zwei Sammlungen mit seinen journalistischen Produkten vor: Klounid ja faunid (Clowns und Faune, 1919) und Aja grimassid (Grimassen der Zeit, 1926). Die erste Sammlung enthielt unter anderem das bekannte Pamphlet, in dem sich Gailit über Unders Gedichte lustig machte und womit das Ende von Siuru eingeleitet wurde (vgl. § 29), aber auch andere Kollegen wurden hier von Gailit aufs Korn genommen. Der Mittdreißiger hatte über zehn Bücher publiziert und war nicht nur aufgrund seiner Körpergröße eine auffällige Erscheinung im Tartuer Stadtbild, sondern auch aufgrund seiner Texte eine auffällige Stimme in der estnischen Literatur, als er mit dem Roman Toomas Nipernaadi (1928; dt. unter dem Titel Nippernaht und die Jahreszeiten, 1931) seinen größten Wurf landete. Streng genommen ist der Autor hier seinem Lieblingsgenre treu geblie-

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ben, denn der Roman besteht aus sieben durch die gleiche Hauptperson zusammengehaltenen Novellen, von denen einige bereits 1925 und 1926 in Looming erschienen waren. Das Buch ist aber unstrittig als Roman rezipiert worden, in die estnische Literaturgeschichte eingegangen und als solcher in beinahe zehn Sprachen übersetzt worden. Es ist die Geschichte von einem Schriftsteller, genannt Toomas Nipernaadi, der sich jeden Sommer auf die Wanderschaft begibt und mit seiner Kannel – einem kleinen, harfenartigen Instrument, dem estnischen Äquivalent zur Gitarre – durch Wälder und Dörfer streift. Die Wanderschaft beginnt im Frühjahr mit der Schneeschmelze und wird im Spätherbst abgebrochen, sobald der erste Schnee das Land bedeckt. Im Sommer zieht Nipernaadi scheinbar auf der Suche nach Gelegenheitsarbeiten, in Wahrheit aber auf der Suche nach Abenteuern und Inspiration für die dunklen Winterwochen, in denen er zu Hause sitzt und schreibt, von einem Hof zum anderen. In den einzelnen Novellen ergibt es sich dabei fast ausnahmslos so, dass das Abenteuer ein zutiefst romantisches Liebesabenteuer ist. Nipernaadi lernt junge Frauen kennen und bringt es durch seinen Charme, seine Phantasie, seine Fabulierlust oder ganz einfach seine Flunkerei jedes Mal soweit, dass sie sich in ihn verlieben. Dabei bedarf es schon einiger Anstrengung und Überredungskunst, während der er sich mal als Archäologe, mal als Großbauer, mal als reicher Erbe ausgeben muss und den Frauen allerlei Luftschlösser, versunkene Schätze und romantische Erdenwinkel vorflunkern muss, ehe er sie soweit hat. Er kriegt sie aber immer herum, weil die Frauen selbst meistens in einer unglücklichen Lage sind und nach einem Ausweg suchen. Sie sind einsam, oder sie sollen mit einem wenig geliebten Mann verheiratet werden, oder sie sind aus anderen Gründen einfach unglücklich. Durch Nipernaadi kommt ein Glanz und ein Hoffnungsstrahl in ihr Leben, der sie zu verändern scheint. Ehe es jedoch zu einer konkreten Tat – wie etwa eine gemeinsame Flucht – kommen kann, flüchtet Nipernaadi selbst und lässt die düpierten Frauen zurück. Wenn man Gailits Roman so betrachtet, hätte man es in der Person von Nipernaadi also bloß mit einem herumstreunenden Hochstapler zu tun, der Illusionen weckt und nur Enttäuschung hinterlässt – aber das Faszinierende an dem Roman ist, dass man ihn aus der Hand legt und Nipernaadi trotz allem lieben muss. Denn wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass die Frauen nicht die eigentlich Düpierten sind. Der schwärmerische Dichter hinterlässt nämlich keine gebrochenen Herzen, sondern er öffnet ihre Herzen. Er öffnet ihnen damit auch den Blick für anderes, für Alternativen, für Phantasien und Träume, kurz für eine andere Welt hinter – oder über – der banalen Welt des Alltäglichen, in der man sich nur abrackert, nach Reichtum strebt

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und sich seinem Schicksal ergibt. Auf diese Weise macht er seine »Opfer« eigentlich wirklich glücklich, was in manchen Novellen auch explizit wird, in anderen unterschwellig zu vermuten ist. Der Träumer, Luftikus und Schwärmer ist am Ende selbst der Melancholiker, wenn er zum Wintereinbruch wieder zurück in die Stadt muss. Damit war der erste echte estnische Schelmenroman geboren, und als solcher hat der Roman bis heute seine besondere Stellung im estnischen kulturellen Bewusstsein. Der Name des Helden wurde zum Sinnbild für eine romantische Lebensweise, man hat sogar ein Verb – nipernaaditsema – hiervon gebildet, und das Adjektiv nipernaadilik ›nach Art eines Nipernaadi‹ hat Eingang in das moderne einsprachige estnische Wörterbuch gefunden. 1983 wurde der Roman nach dem Drehbuch von Juhan Viiding (s. § 43) erfolgreich verfilmt. Neben Tammsaares Wahrheit und Recht und Luts’ Frühling ist Gailits Nipernaadi einer der am meisten verbreiteten estnischen Romane aller Zeiten. Das Buch erlebte in Estland drei Auflagen und wurde auch im Exil rasch (1947) wieder ediert, die einzige während der Sowjetzeit veranstaltete Neuauflage (1967) war im Handumdrehen vergriffen. Nicht zufällig wurde mit seiner Übersetzung ins Deutsche (1931) eine neue Phase der Rezeption estnischer Literatur in Deutschland eingeleitet, denn dies war das erste Werk, das auf das Interesse eines Verlags in Deutschland gestoßen war. Gailit hat danach noch eine ganze Reihe anderer Bücher geschrieben, ohne den überwältigenden Erfolg des Nipernaadi wiederholen zu können. 1935 erschien der Roman Isade maa (Das Land der Väter; dt. unter dem Titel Lied der Freiheit, 1938), der wie viele zeitgenössische Werke den Freiheitskrieg von 1918/19 behandelte, 1938 folgte Karge meri (dt. unter dem Titel Die Insel der Seehundsjäger, 1939; erneut 1985 mit dem wörtlich übersetzten Titel Das rauhe Meer), worin das harte Leben auf einer einsamen Insel und die dortigen zwischenmenschlichen Beziehungen geschildert werden. Mit den letzten Werken wandte sich der Autor endgültig von seinem lockeren, feuilletonistischen und humorvollen Ton ab und näherte sich beinahe der von ihm eigentlich verschmähten realistischen Schreibweise an. Ganz sicher war dies bei Üle rahutu vee (Über unruhiges Wasser, 1951) der Fall, das die 1944 erfolgte Flucht über die Ostsee beschreibt und bereits im Exil erschien. Ebenfalls im Exil erschien der Roman Leegitsev süda (Flammendes Herz, 1945), der allerdings noch in Estland abgefasst worden war und im weitesten Sinne das Verhältnis zwischen Realität und Kunst behandelt. Damit vergleichbar ist auch der ein paar Jahre vorher fertig gewordene Roman Ekke Moor ([Personenname], 1941), der andererseits auch Parallelen zu Nipernaadi nicht verhehlen kann, da die Titelfigur hier wie Nipernaadi umherzieht und auf die merkwürdigsten Personen und Situationen stößt. Abge-

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schlossen hat Gailit sein Werk mit einer dreiteiligen Kombination aus einigen Novellen und einem Roman, die er unter dem Titel Kas mäletad, mu arm? (Erinnerst du dich, mein Liebes?) 1951, 1955 und 1959 herausbrachte. Trotz des Titels handelt es sich hierbei nicht um die Memoiren des Autors, sondern um Novellen, die die Vergangenheit in Estland zum Gegenstand haben. Es sind düster gestimmte Erinnerungen seiner Protagonisten, die allesamt Flüchtlinge in Schweden sind. Am Ende seines Lebens hatte die pessimistische Melancholie endgültig von dem fröhlichen Picaro Besitz ergriffen. Stadt, Land und Meer Noch immer war das Landleben der Dreh- und Angelpunkt einer estnischen Kultur und eines estnischen Bewusstseins, wie die identitätsstiftenden Romane von Tammsaare gezeigt hatten. Aber in Gailits Nipernaadi kann man einen Wendepunkt sehen, denn da kommt jemand aufs Land, um etwas Besonderes zu erleben oder anzustellen, es besteht ein deutlicher Kontrast zur Stadt. In der Stadt kann man offenbar auch leben, und man kann auch aus der Stadt aufs Land kommen, nicht nur vom Lande in die Stadt gehen, wie es bislang üblich war. Tatsächlich entstand ungefähr zeitgleich zu Gailits Werk eine neorealistische oder auch naturalistische Unterströmung in der estnischen Literatur, die als »Vorstadtroman« (Aguliromaan) oder Vorstadtrealismus (Jänes 1965, 121) bezeichnet worden ist. Prosa über das nicht immer rosige Leben in der Stadt hatte es auch vorher schon hin und wieder gegeben (vgl. § 26), aber richtig in Mode kam diese Literatur erst, als auch zusehends mehr Menschen in den Städten wohnten und mitreden konnten. Den Anfang damit machte ein Debütant, der mit einem dicken Romanmanuskript 1927 den ersten Preis beim Wettbewerb des Loodus-Verlags erhalten hatte und die Fachwelt in allgemeines Erstaunen versetzte: August Jakobsons stark naturalistisch geprägte realistische Darstellung der ärmlichen Verhältnisse und sich weitenden sozialen Schere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, die unter dem Titel Vaeste-Patuste alev (Der Flecken V.-P., ein sprechender Name mit der Bedeutung ›Ort der armen Sünder‹, 1927) in zwei Teilen erschien. Mit seinen gut 150000 Wörtern hatte der Roman für einen Erstling einen beträchtlichen Umfang, der einen Vorgeschmack auf Künftiges geben sollte. August Jakobson wurde hernach einer der produktivsten estnischen Autoren, was zu einem Teil auch an den späteren politischen Umwälzungen lag. Denn der 1904 im Pärnuer Arbeitermilieu geborene Jakobson war 1940 schnell auf der Seite der neuen Machthaber, denen er bis zu seinem 1963 erfolgten Tode treu ergeben blieb und denen er u.a. als Abgeordneter des Obersten Sowjets nicht nur in Tallinn, sondern auch in Moskau diente.

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Von 1950 bis 1958 war er überdies Präsident des Obersten Sowjets der Estnischen SSR. Bevor Jakobson im sozialistischen Staat Karriere machte, hatte er 1926 das Gymnasium in Pärnu absolviert und danach sporadisch an verschiedenen Fakultäten in Tartu studiert, inhaltlich war er seit 1927 aber eigentlich hauptberuflich Schriftsteller. Gleich im Anschluss an seinen Erstlingserfolg begann Jakobson mit einem vierteiligen Romanzyklus unter dem Obertitel Tuhkur hobune (Das fahle Pferd), dessen einzelne Bände mit jeweils eigenen Überschriften zwischen 1928 und 1933 erschienen. Dieser Roman spielt im gleichen Ort, nur ein paar Jahre früher, indem die Zeit während des Ersten Weltkriegs samt Revolutionen und deutscher Besatzung behandelt wird. Parallel dazu schrieb Jakobson noch das Ehedrama Kolme Vaeva Tee (Der Weg der drei Sorgen, 1930) und fertigte als Ergänzung zu seinen städtischen Romanen eine Trilogie über das Landleben an, die unter dem Obertitel Andruksonide suguvõsa (Das Geschlecht der Andruksons) zwischen 1931 und 1934, abermals mit separaten Einzeltiteln versehen, herauskam. Jakobsons ungebremste Produktivität führte ferner zu sage und schreibe sieben Novellensammlungen in den 1930er-Jahren und noch einem halben Dutzend weiterer Romane, in denen er sich, teilweise von seinen eigenen Universitätserfahrungen ausgehend, mit der jungen Intellektuellengeneration in Estland befasste, wobei er sich einer stärker psychologisch ausgerichteten Darstellung annäherte (vgl. M. Neithal 1984, zu Jakobson ferner §§ 36, 38). Im gleichen Jahr wie Jakobson debütierte Artur Roose mit dem Roman Võhrupesa (Das Rattennest, 1927). Er blieb das einzige Werk des jung verstorben Autors, der darüber hinaus nur einige Novellen veröffentlichte und als Kritiker in Erscheinung getreten war, ansonsten aber weitgehend vergessen ist. Der Roman ist, wie der Titel bereits vermuten lässt, ebenfalls dem Vorstadtrealismus zuzuordnen und flicht in die Beschreibung eines alternden Junggesellen, der von Fabrikarbeiterinnen umschwärmt wird, auch nihilistische Elemente ein. Damit eröffnete er eine weitere Perspektive, die Roose in einer neuen Version noch ausarbeiten wollte, nur ist es dazu nicht mehr gekommen (vgl. Haug 2001). Ein gewisses Potenzial in Roose hatte auch Rudolf Sirge gesehen, der einer seiner besten Freunde war und in dessen Person ein weiterer wichtiger Debütant des Jahres 1927 und Vertreter des Vorstadtromans auf den Plan trat. Rudolf Sirge ist 1904 in Tartu geboren und später an verschiedenen Orten in Südestland aufgewachsen. Sein Bildungsweg blieb lückenhaft und führte erst 1928 zum Abitur auf dem Tartuer Abendgymnasium, woran sich ein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität anschließen sollte, doch kam Sirge hier über ein Semester nicht hinaus. Inzwischen hatte

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er mit dem Schreiben begonnen, war eine Zeit lang reisender Reporter und arbeitete bei verschiedenen Zeitungen. Im Herbst trat er eine Weltreise an, die er nach einem halben Jahr in Westafrika aber abbrach. Danach arbeitete er wieder als Reporter, hielt sich 1935 ein knappes halbes Jahr mit einem Stipendium in Polen auf und war ab 1937 Pressereferent im estnischen Außenministerium. In dieser Stellung konnte er sich 1940 auch in die Marionettenregierung von Vares hinüberretten, der ihn zum Leiter der Pressestelle und bald darauf zum Direktor der Estnischen Telegrafenagentur ernannte. Die schon für seinen früheren Lebensweg charakteristischen Holprigkeiten hörten damit aber nicht auf: Als nach dem Überfall von Hitler auf die Sowjetunion die meisten führenden Köpfe ins sowjetische Hinterland evakuiert wurden (s. § 36), kam Sirge zu spät und wurde von seiner Familie getrennt. Während der deutschen Besatzung kam er indes mit einer achtmonatigen Inhaftierung davon und konnte die Kriegsjahre zurückgezogen auf dem Lande verbringen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Sirge in verschiedenen literarischen Institutionen sowie als Abgeordneter des Obersten Sowjets der ESSR tätig. Er starb 1970. Sirge hatte 1927 mit den beiden Prosasammlungen Võõras võim (Die fremde Macht) und Maanteel (Auf der Landstraße), die bereits sein großes soziales Engagement verrieten und naturalistische Einflüsse aufwiesen, debütiert, ehe er 1929 seinen ersten Roman vorlegte. Rahu! Leiba! Maad! (Frieden! Brot! Land!) erhielt beim Loodus-Wettbewerb von 1929 den zweiten Preis und wurde gleich in zwei Bänden auf den Markt gebracht. Der gut 170 000 Wörter umfassende Roman wird immer wieder in einem Atemzug mit dem zwei Jahre zuvor erfolgten Debüt von Jakobson als typisches Beispiel für einen Vorstadtroman genannt, weist aber einen entscheidenden Unterschied auf: Hier geht es nicht um die direkte Gegenwart, sondern um eine zehn Jahre zurückliegende Periode, denn Sirge beschreibt die Revolutionen von 1917 aus dem Blickwinkel des Tartuer Vorstadtmilieus. Dennoch sind die beiden Romane in ihrem anklagenden Naturalismus durchaus vergleichbar, nur ist Sirge plakativer, wie schon der Titel verrät, der ursprünglich sogar noch theatralischer als Suure jumala nimel (Im Namen des Großen Gottes) geplant war, wobei der »Große Gott« in diesem Fall der Hunger wäre, der über alles herrscht. Und er war es ja auch, so Sirges Botschaft, der die Arbeiterschaft zur Revolution trieb, nicht etwa ein irgendwie politisch geschultes Klassenbewusstsein. Von den weiteren Vorkriegsarbeiten Sirges, die alle einen starken gesellschaftskritischen Einschlag haben, ist besonders der Roman Must suvi (Der schwarze Sommer, 1936) hervorzuheben, der die deutsche Besetzung Estlands im Sommer 1918 behandelte. Den Anstoß zu diesem Roman hatten die

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Ereignisse von 1933 in Deutschland gegeben, die nach Ansicht des Autors bei einigen Deutschen in Estland auf Zustimmung stießen. Vor solchen Tendenzen wollte er warnen, indem er das wenig rühmliche Beispiel der deutschen Besetzung von 1918 erneut ins Gedächtnis rief. Damit traf er einen empfindlichen Nerv bei den Deutschen, die sich an höchster Stelle beschwerten, für eine Absetzung der Bühnenfassung sorgten – was nur möglich war, weil die Aufführung im Deutschen Theater in Tallinn stattfand, das seine Räume an eine estnische Truppe, die keine eigene Bühne hatte, vermietete – und sogar eine Übersetzung in Auftrag gaben. Sie erschien, freilich nur für den Dienstgebrauch (!), 1937 maschinengeschrieben als Ausgabe der Publikationsstelle des Preußischen Geheimen Staatsarchivs in Berlin (ausführlich hierzu Hasselblatt 2003). Sirge blieb auch in sowjetischer Zeit ein unbequemer und wichtiger Autor (s. § 41) und ist derzeit unverdientermaßen in Vergessenheit geraten. Aus anderer Perspektive wird die graue Vorstadt bei Leida Kibuvits (s.u.) beschrieben: In ihrem Roman Soomustüdruk (Das Panzermädchen, 1932), der beim Loodus-Romanwettbewerb zwar nicht für preiswürdig erachtet, als bester Text aber dennoch publiziert wurde, wird der Entwicklungsweg eines Mädchens beschrieben, das in ärmlichen Verhältnissen aufwächst und es letztendlich schafft, an den schwierigen Umständen nicht zugrunde zu gehen, sondern durch sie eher gestählt zu werden. Der Roman erschien in gekürzter Fassung, da er den Standardumfang der Verlagsserie nicht sprengen durfte, und wurde 1957 in umgearbeiteter und erweiterter Form erneut veröffentlicht. Schließlich wäre als Darsteller der Stadt Karl Ristikivi zu nennen, der 1938 mit Tuli ja raud (Feuer und Eisen) den ersten Roman seiner später als Tallinner Trilogie bezeichneten Serie vorlegte; da die anderen Teile aber schon in die Umbruchszeit fallen und der Roman wenig Gemeinsames mit den genannten Vorstadtromanen aufweist, wird Ristikivi als einer der wichtigsten Autoren des estnischen Exils an anderer Stelle behandelt (s. §§ 37, 39). Immer noch war aber für viele das Land das »eigentliche« Estland, das von einem zweitrangigen Autor wie Mats Mõtslane, der schon 1902 im Postimees mit Dorfgeschichten debütiert hatte und sich weitgehend an Ernst Peterson-Särgava orientierte, beispielsweise in zahlreichen Romanen idealisiert und der »bösen« Stadt gegenübergestellt wurde. Seine neun Romane, die zwischen 1927 und 1933 erschienen sind, lassen jedoch jegliche Differenzierung vermissen und sind heute größtenteils vergessen. Ähnliches trifft auf Yri Naelapea zu, der einiges zu dieser Thematik schrieb und später als Verfasser von Kriminal- oder phantastischer Literatur in Erscheinung trat. Ein starker Stadt-Land-Gegensatz wird auch in Alma Ostras Debütroman Aino (1923)

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explizit gemacht, der ansonsten eine tragische Liebesgeschichte ist, die mit dem Freitod der Titelheldin, die zum Studium nach St. Petersburg gekommen war, endet. Alma Ostra ist in erster Linie als Sozialistin und Frauenrechtlerin bekannt und hat nur noch einen weiteren Roman über das Landleben im 19. Jahrhundert geschrieben, aber sie verdient auch als Schriftstellerin Beachtung (vgl. Haug 1987). Interessant ist allein schon die Tatsache, dass in ihrem Erstling drei aktuelle Themen, die in den nächsten Jahren in der einen oder anderen Form immer wieder behandelt wurden, in einem Buch vereint sind: Stadt-Land-Gegensatz, Frauenrechte und -studium, Freitod. Der StadtLand-Gegensatz blieb während der gesamten Zwischenkriegszeit ein Thema und war auch im Debütroman Kentaurid (Die Zentauren, 1939) von Minni Nurme (Raudsepp) eines der beherrschenden Themen. Einen Schwerpunkt auf das idyllische Landleben setzte auch Richard Roht, der in mehreren Romanen – z. B. See, millest avalikult ei räägita (Wovon öffentlich nicht gesprochen wird, 1928), Nauding (Genuss, 1929) oder Ummiktänav (Die Sackgasse, 1937) – die Stadt direkt als Hort allen Lasters darstellte. Richard Roht ist 1891 in Südestland auf einem Bauernhof geboren und war von der Bandbreite seiner Aktivitäten und dem Umfang seines Werks her einer der auffälligeren Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er hatte nach Abbruch der Schule vor dem Ersten Weltkrieg mit futuristischen Texten debütiert (vgl. § 28), war nach dem Krieg zeitweise in Berlin (vgl. § 31) gewesen und lebte anschließend eine Weile in Tartu. 1928 zog er aufs Land und bemühte sich um den Aufbau eines Neusiedlerhofs, was ihn aber in den Bankrott führte und obendrein wegen Wechselfälschung Anfang der 1930er-Jahre für gut anderthalb Jahre hinter Gitter brachte. Immerhin konnte er hier aber als Gehilfe in der Gefängnisbibliothek arbeiten, die von seinem Kollegen Mart Raud, der wegen eines ähnlichen Delikts saß, geleitet wurde (O. Kruus 1991a, 690). Danach lebte er – unterbrochen durch einen kurzen Haftaufenthalt zu Beginn der deutschen Okkupation – bis zu seinem Tode 1950 als freier Autor in Tallinn. Roht kam in seinem ausufernden Werk – zwischen 1913 und 1930 veröffentlichte er 25 Bücher, nach seinem Gefängnisaufenthalt kamen mehr als noch einmal so viele hinzu – nicht über das Mittelmaß hinaus. Am bemerkenswertesten ist die so genannte Tuulemäe-Serie, die aus vier zwischen 1922 und 1929 erschienenen Romanen und zwei Novellen besteht und ihren Namen dem Ort der Handlung verdankt. Hier wird ein umfangreiches Bild des estnischen Dorfes in den 1920er-Jahren entworfen. Dabei überwiegt eine realistische Darstellung, der aber sentimental-verklärende Schilderungen des Landlebens beigemischt worden sind. Dieses Landleben konnte auch deswegen zu einem so beliebten Thema werden, weil hier infolge der Landreform von 1919 einschneidende Verände-

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rungen stattgefunden hatten. Das enteignete und zerstückelte Land musste von so genannten »Neusiedlern« wieder aufgebaut werden, was ein mühseliger Prozess mit großen wirtschaftlichen Risiken war. Teils aus eigener Erfahrung, teils unter Aufgreifung eines aktuellen Themas verfassten viele Autorinnen und Autoren in den 1920er-Jahren Romane zur »Neusiedler-Problematik«. Einer der bekanntesten von ihnen war Albert Kivikas mit seinen drei Romanen Jüripäev (St. Georgstag, 1921), Jaanipäev (St. Johannistag, 1924), und Mihklipäev (St. Michaelistag, 1925). Wie Roht war der 1898 in Suure-Jaani geborene Kivikas zunächst mit avantgardistischen und provozierenden Texten in Erscheinung getreten (s. § 28), ehe er sich nach seiner Beteiligung am Freiheitskrieg der Kurzprosa zuwandte und hier mit teilweise expressionistischen Texten auffiel. Nach seinem längeren Berlinaufenthalt (s. § 31) lebte er als freier Schriftsteller, Journalist und später Dramaturg in Tartu und Tallinn; hier war er auch während der deutschen Besatzung Chefredakteur der estnischen Zeitung Eesti Sõna, was ihm später im Exil – er war 1944 nach Schweden geflohen – als Kollaboration angerechnet wurde und weshalb man ihn zum Beispiel vom Exilestnischen Schriftstellerverband ausschloss (Vinkel 1998, 1236). Dennoch engagierte er sich auch in Schweden u.a. für eine Exilzeitung. Er starb 1978 in Lund. Kivikas’ Romanserie ist von Anfang an wegen offenkundiger Schwächen kritisiert worden und überdies zu Unrecht als Trilogie bezeichnet worden, da die drei Teile an verschiedenen Orten spielen und außer der verbindenden Klammer des Landlebens nicht viel miteinander zu tun haben (O. Kruus 1999, 625). Der Eindruck der Trilogie konnte entstehen, weil Kivikas Jüripäev 1925 in überarbeiteter Form unter dem Titel Murrang (Umbruch) herausbrachte und als ersten Teil einer Trilogie ankündigte, dem die anderen beiden Teile allerdings nie gefolgt sind, da der Autor sich inzwischen anderen Themen zugewandt hatte. So blieb die Neusiedlerthematik bei Kivikas doch Episode. An anderen Autoren, die sich des Themas annahmen, wären neben den erwähnten Roht und Mõtslane etwa Mart Raud mit Uued inimesed (Neue Menschen, 1925 im Päevaleht, als Buch nicht erschienen) und Helene Ranna mit Keha ja vaim (Körper und Geist, 1930) zu nennen. Darüber hinaus ist auch im Bereich der Kurzprosa das eine oder andere zum Thema zu registrieren. Neben Stadt und Land gibt es aber im Falle Estlands noch einen dritten Faktor, der das Leben eines Menschen bestimmen und zum Ausgangspunkt literarischen Schaffens machen kann, das Meer. Während bei den vorangegangenen Autoren die See nur am Rande erwähnt wurde, weil sie in einzelnen Werken vorkommt – man denke hier etwa an Jakob Mändmets (s. § 26) oder August Gailit (s.o.) –, wird sie bei August Mälk zum beherrschenden Thema.

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Denn das Werk dieses recht produktiven Schriftstellers wird meistens mit der See in Zusammenhang gebracht, obwohl der Autor auch andere Bücher, die fern des Wassers spielen, verfasst hat. Seine so genannte Küstentrilogie ist jedoch am bekanntesten und, zumindest was einige Teile davon betrifft, auch der beste Teil seines Werks. August Mälk wurde 1900 auf Saaremaa geboren und erhielt dort auch seine Schulbildung. Schon frühzeitig war er als Lehrer tätig, und diesen Beruf übte er nach den notwendigen Examina an verschiedenen Ort auf Saaremaa bis 1935 aus. Danach war er freiberuflicher Schriftsteller, der 1937 als Staatspreis einen als »Schloss« titulierten neu gebauten und möblierten Bauernhof am Stadtrand von Tallinn erhielt. Darüber wunderte sich die zeitgenössische Presse einigermaßen, da man allgemein Tammsaare als einzig berechtigten Anwärter auf diesen damals höchsten vom Staat ausgelobten Preis – Vilde bekam zu seinem 60. Geburtstag ja »nur« eine Wohnung (s. § 24) – ansah. Bis heute ereifert sich die Literaturwissenschaft über den Vorgang (s. Epp Annus et al. 2001, 314). Dass die Wahl auf Mälk fiel, dürfte mit der Tatsache zusammenhängen, dass er eine gewisse Affinität zur Staatsführung an den Tag legte, die man bei Tammsaare gewiss nicht erwarten konnte. Mälk war mit der politisch aktiven Linda Eenpalu, der Frau von Kaarel Eenpalu, der einer der Strategen von Päts’ autoritärer Regierung war, persönlich bekannt und der einzige namhafte Schriftsteller, der einen Sitz in der undemokratisch zustande gekommenen Volkskammer innehatte. Und so weist die seltsame Metamorphose, die der Ausschreibungstext für den Preis durchgemacht hat – ursprünglich war er ausgelobt für eine Person, die in hervorragender Weise das Leben auf dem Land geschildert hatte, während er im November plötzlich für gelungene Darstellungen des Küsten- und Landlebens vergeben werden sollte (vgl. Vinkel 1997, 133f.) –, wohl auf gewisse Mauscheleien hin. Mälk nahm den Preis jedenfalls gerne an, auch wenn es ihn nicht davon abhielt, sich darüber zu mokieren, dass man auf dem nicht einmal dreieinhalb Hektar umfassenden Hof gar nicht anständig wirtschaften könne (Vinkel 1997, 136). Dazu ist es allerdings sowieso kaum noch gekommen, denn der in den letzten Jahren politisch aktive Schriftsteller zog es 1944 vor, das Land zu verlassen. Im schwedischen Exil arbeitete er als Archivar und Bibliothekar und war weiterhin schriftstellerisch und organisatorisch aktiv, so war er von 1945 bis 1982 Vorsitzender des Exilestnischen Schriftstellerverbandes und bis zu seinem Tode 1987 dessen Ehrenvorsitzender. Nach seinem Romandebüt mit Kesaliblik (Der Wiesenschmetterling, 1926), einer intimen Liebesgeschichte über einen jungen Mann, der zwei Frauen liebt, und weiteren Romanen in den 1920er-Jahren, die nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregten, landete Mälk seinen ersten Erfolg mit dem

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1935 publizierten Roman Õitsev meri (dt. Das blühende Meer, 1949), der später als der erste Roman der Küstentrilogie bezeichnet wird. Hier beschreibt Mälk die Geschicke eines heranwachsenden jungen Mannes, Hannes, in einem Fischerdorf, der sich fragt, wie es im Leben weitergehen soll. Seine Geschwister sind in die Welt gezogen, nur der älteste Bruder ist als künftiger Erbe zu Hause geblieben. Hannes schwankt zwischen diversen Verliebtheiten hin und her, fährt gelegentlich zum Fischen aufs Meer hinaus und sammelt seine ersten Erfahrungen, ohne dass eine konkrete Entscheidung getroffen würde. Schließlich entflieht er den armseligen Verhältnissen kurzzeitig, indem er zur See geht, aber nach der Rückkehr gehört seine Braut einem anderen, einem »Städter«, und so tritt Hannes erst einmal seine Militärzeit an. Während eines Heimaturlaubs lernt er in einem weiter im Inneren Saaremaas gelegenen Dorf das dortige Leben und ein Mädchen kennen, und dessen Eltern locken ihn als Schwiegersohn auf den Hof. Er bleibt aber in engem Kontakt mit seinem Heimatdorf und fühlt sich an dem neuen Ort nicht recht wohl, so dass er, nachdem sein Bruder auf See umgekommen ist und sein Vater einen Schlaganfall erlitten hat, sich scheiden lässt und wieder zurückkehrt. Hier tut er sich mit einer alten Liebe, die überdies ein Kind von ihm hat, zusammen. Der Ausbruchsversuch ist zwar misslungen, aber nun hat er seinen Frieden. Der Roman ist ziemlich bedächtig, aber nicht langatmig und in seiner Kontemplativität überzeugend. Er ist realistisch, wartet stellenweise unkonventionell mit überraschenden Wendungen auf und wirkt dank der Thematisierung der Scheidung auch modern. So wird ein nüchternes, einfühlsames und abgerundetes Bild der 1930er-Jahre mit dem Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne gegeben, wie es bis dahin in der estnischen Literatur noch nicht allzu oft präsentiert worden war. Der zweite Roman der Serie erschien 1937. Taeva palge all (dt. Im Angesicht des Himmels, 1940, mit vier Neuauflagen 1941–1943) ist nur durch das vergleichbare Milieu mit dem vorangegangenen verbunden, nicht durch die auftretenden Personen. In diesem Roman wird die Entwicklung von Tuisu Kustas beschrieben. Er war zur See gefahren und fragt sich nach der Rückkehr – wie Hannes in Õitsev meri –, wie es eigentlich weitergehen soll. Seine alte Freundin Hilde hat einen anderen, und einstweilen vertreibt der heimgekehrte Seemann sich die Zeit damit, mit seiner Ziehharmonika gelegentlich zum Tanz aufzuspielen. Nebenbei wird ausführlich das Leben im Küstendorf mit allen seinen Facetten beschrieben, ebenso gelegentliche Ausflüge zum Robbenfang, wobei nicht ausbleiben kann, dass man dabei in schwere Seenot gerät. Dabei gelingen Mälk eindrucksvolle und atemberaubende, naturalistische Beschreibungen, deren Tragik nicht überzogen, sondern authentisch wirkt. Ein Freund kommt um, Kustas’ Bruder überlebt mit Mühe, stirbt aber

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später doch und hinterlässt seine Witwe, Tooni, samt Kind. Schließlich ringt sich Kustas dazu durch, einen benachbarten Hof zu übernehmen, wo es keinen Erben gab, aber auch das bringt noch keine Ruhe in sein Leben, obwohl er erfolgreich wirtschaftet und beinahe zu Wohlstand kommt. Im Privatleben wird eine Entscheidung erst herbeigeführt, nachdem Kustas erneut in Seenot geraten und anschließend in einem Krankenhaus gelandet war. Hier erhält er einen Brief von Hilde und Besuch von Tooni, für die er sich nach längerem Hin und Her letztlich entscheidet. Damit endet der Roman friedlich. Auch er beschreibt mit viel Lokalkolorit das zögernde Heranwachsen eines Jünglings, weist aber nicht die überzeugende Stringenz von Õitsev meri auf und ist insofern etwas zurückhaltender zu bewerten. Der dritte Roman der Serie erschien erst 1942 und fällt hinter die beiden ersten zurück. Hea sadam (dt. Der gute Hafen, 1947, erneut 1949) behandelt die Geschichte eines Jungen, der nach dem Tode der Mutter von seinem Vater weggegeben wird und in einer Pflegefamilie auf Saaremaa heranwächst. Es folgt eine nüchterne und realistische, bisweilen naturalistisch zu nennende Schilderung des harten Lebens auf der Insel mit Seefahrt, Fischerei, Bootsbau, kleinen Handwerksarbeiten und allem, was dazugehört. Daneben wird auch der Schulbesuch, Streit mit Mitschülern und eine keimende Liebe zum Nachbarmädchen beschrieben. Gegen Ende unternimmt der Junge eine Tour nach Tallinn, wo er seinen Vater aufsucht und überredet, mit zur Insel zurückzukommen. Dort leben sie dann leidlich gemeinsam mit der Schwester, die inzwischen auch zurückgekehrt ist, und schlagen sich so mühselig durch, dass der Junge doch noch beschließt, den Sprung in die große weite Welt zu wagen, und auf einem Schiff anheuert. Im letzten Moment kehrt er jedoch um und lässt sich auf einem Fischkutter zurück an Land bringen, »zum guten Hafen«, wo er sich doch zu Hause fühlt und wo er auch seine Liebe weiß. Damit endet der Roman, der damit ein einziges Plädoyer für Sesshaftigkeit und Bodenständigkeit wird. Auch in diesem Entwicklungsroman sind manche Charakterzeichnungen recht gut gelungen, aber aufs Ganze gesehen ist der Autor nicht frei von Wiederholungen, und der Grundgedanke – Sicherheit ist der Ungewissheit vorziehen, statt Abenteuerlust ist Geborgenheit das höchste Ziel – erweist sich als nicht tragfähig genug. Trotzdem war Mälks Küstentrilogie in ihrer Gesamtheit eine wertvolle Bereicherung für die Prosa der 1930er-Jahre, die der Autor auch in der kürzeren Form gepflegt hatte. So war bereits 1926 mit Surnu surm (Tod eines Toten) eine Geschichte über die Lepra erschienen, die Anfang des Jahrhunderts in einigen Orten auf Saaremaa eine ernst zu nehmende Bedrohung war und beinahe zum Lokalkolorit der Insel gehörte. Denn ein weiterer Autor

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von der Insel, Aadu Hint (s. § 38), hatte diesem traumatisch erfahrenen Thema seine beiden ersten Romane gewidmet: Pidalitõbi (Die Leprakrankheit) erschien 1934, Vatku tõbilas (Im Leprosorium von Vatku) zwei Jahre später. Der historische Roman Im umfangreichen Œuvre von Mälk fand sich auch historische Prosa. Am gelungensten ist der Roman Surnud majad (Die toten Häuser, 1934), in dem die Hungersnot am Ende des 17. Jahrhunderts und der Beginn des Nordischen Krieges in epischer Breite (130000 Wörter) dargestellt werden. Weniger überzeugend war Läänemere isandad (Die Herren der Ostsee, 1936), ein Roman über die Zerstörung von Sigtuna durch die Inselesten (1187), bei dem man zu sehr den patriotischen Geist der Zeit spürt. Denn es war nicht nur das allmählich gewachsene Selbstbewusstsein der jungen Republik, sondern vor allem die stark patriotisch gefärbte Atmosphäre in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre, die das Genre des historischen Romans wieder zu Ehren kommen ließ. Heroische Darstellungen aus der estnischen Geschichte konnte man jetzt gut gebrauchen. Es ist daher kaum zufällig, dass nach dem ersten Boom zur Zeit der nationalen Emanzipationsbewegung (vgl. § 21) eine neue Welle historischer Prosa mit dem autoritären Regime von Konstantin Päts einhergeht. Gemeinsam mit Mälk machte Mait Metsanurk 1934 den Auftakt. Allerdings war Metsanurk schon länger mit dem Roman beschäftigt, weswegen das Erscheinen seines Ümera jõel (Am Fluss Ümera) in diesem Jahr sicherlich nicht als Folge der politischen Veränderungen angesehen werden kann. Aber der Roman, der eine kurze Episode aus dem Kampf der Esten gegen die Kreuzritter zu Beginn des 13. Jahrhunderts zum Inhalt hat, passte nur allzu gut in die politische Großwetterlage und wirkte insbesondere nach seiner Auszeichnung mit dem höchsten Staatspreis stimulierend. Zudem war die historisch belegte Schlacht an dem genannten Ort im heutigen Lettland, die 1210 stattfand und den Kulminationspunkt des Romans bildet, der selbst auch nur den Zeitraum von 1208 bis 1210 behandelt und anstelle eines großen Geschichtsgemäldes durch detaillierte Charakterzeichnungen einzelner Personen seine Wirkung erlangt, vom psychologischen Standpunkt her wichtig: Die Esten haben sie seinerzeit nämlich gewonnen. Damit ist auch die große Popularität des Romans zu erklären, der 1935 in einer geringfügig veränderten zweiten Auflage erschien. Die Kritik hatte auf einige Ungenauigkeiten bei den historischen Fakten hingewiesen, außerdem hatten sich kirchliche Kreise beschwert, weil der Roman, was in der Natur der Sache liegt, wenig Gutes über die ins Land eingefallenen Christen zu sagen hatte und gelegent-

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lich recht grobe Ausdrücke verwendete. Einige dieser Stellen schwächte Metsanurk etwas ab (Käosaar 1936). Bis heute sind von dem Roman acht Auflagen erschienen, 1936 kam zudem eine lettische, 1939 eine finnische Übersetzung heraus. Einen zweiten historischen Roman legte Metsanurk 1939 vor: Tuli tuha all (Feuer unter der Asche) behandelte, wie Mälk, die Zeit der großen Hungersnot am Ende des 17. Jahrhunderts. Dabei ging es Metsanurk vermutlich weniger um das Heraufbeschwören einer vergangenen Glorie, sondern vielleicht sollte das realistisch abgefasste Werk, das sich treu an einer kurz zuvor erschienenen historischen Monographie orientierte, auch vor nahendem Unheil warnen (vgl. Kalda 1996). Da dies bald eintrat und der Roman auch kompositorische Schwächen aufwies, ist ihm ein größerer Erfolg versagt geblieben. Der zweite wichtige Autor historischer Romane und Novellen war Karl August Hindrey. In Sigtuna häving (Die Zerstörung von Sigtuna, 1937) beschrieben einige Novellen die mittelalterlichen Heldentaten der Inselesten. Auch seine Romane sind tief im Mittelalter angesiedelt. Urmas ja Merike (Urmas und Merike, 2 Bände, 1935–1936) spielt an der Wende vom 1. zum 2. Jahrtausend, der ebenfalls zweiteilige Roman Loojak (Sonnenuntergang, 1938) mit den beiden Teilen Nõid (Der Zauberer) und Lembitu (Name eines berühmten estnischen Heerführers) behandelt das Ende des frühen Freiheitskampfes im 13. Jahrhundert. Dabei ging es Hindrey nicht um ein historisches Panorama, sondern im Vordergrund stand die teils psychologische Darstellung einzelner Individuen. Das Eindringen in die Seele und die Beweggründe der Akteure waren wichtiger als historisch nachprüfbare Fakten. Die hat man über die Zeit von Urmas ja Merike auch gar nicht, Hindreys Text ist eine visionäre Spekulation, die Toomas Haug (2001a, 259) in die Nähe des Schamanismus gerückt hat. Damit bot Hindrey trotz einer stellenweise nicht zu übersehenden Heroisierung einen völlig neuen Aspekt bei der Betrachtung der estnischen Frühgeschichte. Das direkte Gegenstück zu Hindrey war Enn Kippel, dessen historische Romane stark in die Unterhaltungsliteratur abglitten. Kippel hatte mit dem im weitesten Sinne der Vorstadtthematik zuzuordnenden Roman Ahnitsejad I-II (Die Raffgierigen, 1935) debütiert und sich danach auf das historische Genre verlegt. Suure nutu ajal I-II (Zur Zeit der großen Wehklage, 1936) spielt während des Livländischen Kriegs im 16. Jahrhundert, Kui Raudpea tuli I-II (Als der Eisenkopf kam, 1937) handelt vom Nordischen Krieg und läuft auf eine Heroisierung Karls XII. hinaus, Issanda koerad I-II (Die Hunde des Herrn, 1938) thematisiert den Freiheitskrieg im 13. Jahrhundert, und Jüriöö (St. Georgsnacht, 1939) behandelt den gleichnamigen Aufstand von 1343. Wenn man genauer hinsieht, sind diese Romane nur Kriegsromane,

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die in der Vergangenheit spielen, weiter nichts. Dem Berufssoldaten und Waffenfanatiker Kippel waren militärische Details offenbar eine Herzensangelegenheit. Dadurch und besonders mit seiner Jugenderzählung Meelis (1940), die von Lembitus Sohn handelt, erlangte er eine gewisse Popularität beim Publikum. Aber die höheren literarischen Weihen blieben dem vor keinem Klischee zurückschreckenden Autor – die Russen sind dumm, die Deutschen niederträchtig, die Schweden gut – versagt (vgl. Haug 2001a). Dasselbe trifft auf Edgar Valter Saks zu, der mit seinem Roman Hannibali rahvas (Hannibals Volk, 1936) ebenfalls den Livländischen Krieg behandelte, aber kaum über eine plumpe Glorifizierung eines estnischen Kriegshelden hinauskommt. Wenn man den Begriff des historischen Romans weiter fasst und nicht auf vergangene Jahrhunderte beschränkt, sondern auch die von den Autorinnen und Autoren selbst erlebte, aber etwas zurückliegende Zeit mit einbezieht, kann man auch einige in den 1930er-Jahren erschienene Texte, deren erzählte Zeit am Anfang des Jahrhunderts angesiedelt ist, hier einordnen. Dabei erfreuten sich die Revolution von 1905 und der Freiheitskrieg von 1918/19 einer gewissen Beliebtheit. Das Jahr 1905 ist in der Literatur immer wieder behandelt worden, wobei die Darstellungen von direkt im Anschluss an die Ereignisse niedergeschriebenen Erzählungen langsam hinübergleiten in historische und manchmal mystifizierende Bearbeitungen. Letzteres ist bei dem im Untertitel als Roman bezeichneten zweibändigen Tõusev rahvas (Das sich erhebende Volk, 1936–1937) von Jaan Kärner der Fall. In Wirklichkeit handelt es sich hier um eine Mischung aus Reportage – viele Personennamen sind authentisch – und Belletristik, die im Laufe der Entwicklung zu einem peinlichen Lobgesang auf Konstantin Päts entartet. In zäher Langatmigkeit (160 000 Wörter) und plakativer Schwarzweißmalerei beschreibt der Autor die Ereignisse von 1904 und 1905, als die guten Esten in Tallinn die Kommunalwahlen gewannen und sich anschickten, einen eigenen Staat aufzubauen, woran die bösen Deutschen sie zu hindern versuchten. Das Buch ist berechtigterweise völlig vergessen, weil die sowjetische Literaturgeschichtsschreibung wegen der exponierten Stellung von Päts im Buch ohnehin nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte; als ein frühes Beispiel panegyrischer Literatur verdient Kärners Machwerk jedoch unbedingt Erwähnung (vgl. Hasselblatt 2005b, hier auch ein vorläufiger Überblick über die Literatur zum Thema 1905). Der Freiheitskrieg von 1918/19 ist mehrfach in Romanen behandelt worden, wie bei Gailit und Metsanurk bereits gesehen werden konnte (s.o.). Die berühmteste Behandlung des Themas stammt von Kivikas, der 1935 in einer Zeitung seinen Roman Nimed marmortahvlil (Namen auf der Marmor-

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tafel, 1936 als Buch) publizierte. Darin geht es nicht allein um die Kampfhandlungen, sondern Kivikas bemüht sich auch um eine differenzierte Darstellung der Gedanken, die in den Köpfen der jungen Männer vorgehen, eine Widerspiegelung des politischen Konflikts im Kleinen. Denn ein jeder musste die Entscheidung für sich treffen, auf welcher Seite er stand, woraus sich angesichts der konkreten Situation dann zwangsläufig ergab, welche es zu bekämpfen galt. Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Roman in der Sowjetzeit im Giftschrank verschwand, denn gewisse Fragen eigneten sich prinzipiell, d.h. aus der sowjetischen Staatsdoktrin heraus, nicht für eine differenzierte Behandlung. In Estland ist erst 1991 wieder eine Neuauflage erschienen, 2002 wurde der Roman erfolgreich verfilmt. Kivikas hatte im Exil noch drei Fortsetzungen geschrieben und das Schicksal seiner Hauptpersonen bis ins Jahr 1924 hinein verfolgt, wobei der Text jedoch ins Memoirenhafte und Dokumentarische abglitt und mit mehr oder weniger abgewandelten Namen einen Kommentar zum damaligen Kulturleben abgab (vgl. Kalda 1998, 110 für eine Auflösung der Pseudonyme). An die Konfliktpolarisierung des ersten Bandes reichte der Autor nicht mehr heran. Die moderne Gesellschaft Es gab in dieser fruchtbaren Phase der estnischen Literatur noch eine ganze Reihe anderer Romane, die zeitgenössische Probleme behandelten. Sie werden hier unter der vagen Bezeichnung »moderne Gesellschaft« subsumiert, weil eine Begleiterscheinung von Modernisierung und Verstädterung immer auch die Individualisierung ist, und bei vielen der im Folgenden kurz angesprochenen Romane stand die psychologischen Betrachtung des Individuums im Mittelpunkt. Eine weitere Begleiterscheinung ist, dass Freud und Nietzsche eifrig gelesen wurden und auch dadurch ein neuer Blickwinkel entstand. Zwei der wichtigsten Beiträge in diesem Bereich kamen von Reed Morn (d.i. Frida Johanna Dreverk), die 1898 in Tallinn geboren war und 1924 ihr Romanistik- und Literaturstudium in Tartu mit dem Magister abgeschlossen hatte. Danach war sie im Schuldienst, hielt sich später zu Studienzwecken an der Sorbonne und in Spanien auf und lebte anschließend als freie Schriftstellerin in Tallinn. 1944 emigrierte sie und lebte bis zu ihrem Tod 1978 in den USA, wo sie nur noch einen weiteren, stark autobiographischen, Roman, Tee ja tõde (Weg und Wahrheit, 1956), publizierte. Aber auch in der Zwischenkriegszeit war die Autorin sparsam mit ihren Publikationen umgegangen und hatte neben einigen Novellen nur zwei Romane vorgelegt. 1927 debütierte sie mit Andekas parasiit (Die begabte Parasitin), der im Loodus-Wettbewerb

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von 1927 nach Jakobson den zweiten Preis erhalten hatte. Dieser Entwicklungsroman beschreibt eine junge Frau mit proletarischem Hintergrund, die in die Bildungsschicht aufsteigt, aber im Alltagsleben letztlich keinen Platz findet und mit 23 Jahren Selbstmord begeht. Durch seine tiefschürfende psychologische Darstellungsweise mit vielen inneren Monologen hob sich der Roman deutlich von den Vertretern des Vorstadtrealismus ab und begründete quasi eine eigene Richtung, den psychologischen Roman. Auch in Morns zweitem Roman, Kastreerit elu (Das kastrierte Leben, 1929), geht es um die psychologische Darstellung eines »überflüssigen« Intellektuellen, diesmal eines Mannes, der alles Kleinbürgerliche hasst und in einem Wutanfall einen Hotelbesitzer totschlägt, als der seine Frau quält. Damit war Morn, deren Debüt viel Beachtung fand und 25-mal in der Presse rezensiert oder zumindest vorgestellt wurde (Hinrikus 1998, 136), maßgeblich mitverantwortlich für eine philosophisch-psychologische Strömung in der estnischen Literatur, die sich mehr und mehr Bahn brach. Reed Morn ist heute relativ vergessen, was an ihrem schmalen Werk, ihrem Gang ins Exil und dem bekannten Phänomen, dass Frauen leicht aus dem Kanon herauskatapultiert werden, liegt, aber sie war unbestritten »eine geistige Wegweiserin« (Hinrikus 1998a, 634). Die psychologische Linie wurde mitinitiiert bzw. fortgeführt von Betti Alvers (s. § 34) Debütroman Tuulearmuke (Geliebte des Windes, 1927), Leo Anvelts Viirastusi valges öös (Trugbilder in heller Nacht, 1928), Johannes Sempers Armukadedus (Eifersucht, 1934), Aadu Hints (s. § 38) Kuldne värav (Das goldene Tor, 1937), Erni Krustens (s. §§ 38, 41) Org Mägedi armastus (Die Liebe des O.M., 1939), Pedro Krustens Kalle Jaanuse kättemaks (Die Rache des K.J., 1939), und auch einige Romane von Leida Kibuvits und Marta Sillaots gehören hierher. Leida Kibuvits legte nach ihrem Debüt mit dem Panzermädchen (s. o.) noch vier weitere Romane vor, ehe sie in das Genre der Kurzprosa wechselte. Sie ist 1907 in der Nähe von Tartu geboren und lernte ab 1913 auf verschiedenen Schulen in Tartu, wo sie 1927 ihr Abitur machte. Parallel dazu hatte sie von 1922 bis 1924 auch Kurse an der Kunstschule Pallas belegt. Danach war sie einige Jahre Büroangestellte und später freie Schriftstellerin. Nach der Sowjetisierung war sie als Journalistin tätig, wurde 1950 aber inhaftiert und nach Sibirien verbannt. Von dort konnte sie 1954 zurückkehren und bis zu ihrem Tode 1976 in Tallinn leben und schreiben. Im Mittelpunkt ihres Romans Rahusõit (Friedensfahrt, 1933) steht eine Frau aus dem Kunstmilieu, die in sich gekehrt lebt und ihren Kleinkrieg mit Mann und Schwiegermutter führt, schließlich aber die Geduld verliert und ihren betrunkenen Gatten vor einen Zug stößt. Die Darstellung ist weitgehend psychologisch, wie auch im folgenden Roman, Paradiisi pärisperenaine (Die Herrin des Paradieses, 1934),

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der die Gegenüberstellung von zwei Charakteren – einem künstlerischen, über den Dingen schwebenden und einem praktischen, mit beiden Beinen auf der Erde stehenden – zum Gegenstand hat. Dabei diente als konkretes Vorbild des Ersteren die Schauspielerin Liina Reiman, mit der die Autorin befreundet war. Der nächste Roman, Manglus Sepapoeg ([Personenname], 1936), hatte einen allegorischen Einschlag und kommentierte unter anderem unter Verwendung des bekannten Kunstgriffs, dass jemand eines Morgens ohne Erinnerung aufwacht, die aktuelle politische Lage. Einen Übergang zum kürzeren Genre stellte der im gleichen Jahr publizierte Roman Kass arvab, et … (Die Katze meint, dass …) dar. Er besteht aus zehn einzelnen Novellen, die durch eine Katze miteinander verknüpft sind, die von Haus zu Haus zieht und ihre teils erschreckenden, teils ernüchternden Beobachtungen und Erfahrungen mitteilt. Mit ihrem späteren Novellenwerk rundete Kibuvits ihr Werk ab. Marta Sillaots behandelte in Neli saatust (Vier Schicksale, 1938) vier Frauenschicksale im Lichte von Ehe, Liebe und Emanzipation. Dieses Themas hatte sie sich schon in ihrem Roman Anna Holm (1913) angenommen, und streng genommen beschäftigte sich die 1887 geborene Autorin seit ihrem Debüt von 1912 mit nichts anderem. Das führte dazu, dass man sie fortan aus der gehobenen Literatur aussonderte. Eine Rolle spielte hier auch, dass Sillaots, die nach diversen Anstellungen als Lehrerin und im journalistischen Bereich seit 1922 freiberuflich in Tallinn lebte, als Kritikerin, Literaturwissenschaftlerin, Kinderbuchautorin und Übersetzerin viel produktiver war. Neben zahlreichen Rezensionen liegen von ihr Essays zu Vilde, Kitzberg und Tammsaare vor, ferner ca. 60 Übersetzungen aus dem Deutschen, Englischen, Französischen und Russischen, wobei sie sich meistens der »Großen« annahm: Von ihr stammen einschlägige estnische Übersetzungen von Dickens, Dostoevskij, Flaubert, Galsworthy, Thomas Mann, Tolstoj und Turgenev, um nur die Bekanntesten zu nennen. Nach dem Krieg fiel die verdiente Übersetzerin wie so viele in Ungnade und wurde inhaftiert und verbannt; seit 1955 lebte sie wieder in Tallinn, wo sie 1969 starb (vgl. Saluäär 1987). Das Thema der Frauenemanzipation, das immer wieder angeklungen war, wurde nun verstärkt aufgegriffen. Helmi Mäelo hatte 1928 mit dem Roman Isata (Vaterlos) debütiert, in dem sie die Mäßigkeitsbewegung propagierte. Danach folgten drei Romane, die die ungerechte Behandlung von Frauen durch die Gesetzgebung und allgemeine soziale Schwierigkeiten von Frauen zum Thema hatten: Tänapäeva lapsed (Kinder von heute, 1933), Vallaslaps (Das uneheliche Kind, 1934) und Eevi Altma abielu (Die Ehe der Eevi Altma, 1935). Auch Jaan Kärner versuchte sich mit einigen Romanen an dem Thema, ohne hier allerdings einen substanziellen Beitrag zu leisten.

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Marta Lepp (Pseudonym Sophia Vardi) ist als Wiederbeleberin des alten estnischen Naturglaubens und aufgrund ihrer politischen und publizistischen Aktivität bekannt, hervorzuheben sind ihre dreibändigen Erinnerungen (1922–1927), die das Dokument einer Zeitzeugin von der Revolution von 1905 sind. Unsterblich gemacht hat sich die Autorin vermutlich durch den Umstand, dass es ihr zweimal (1906 und 1910) geglückt war, aus Tobolsk nach St. Petersburg zu fliehen. Lepp hatte schon in ihren ersten Novellenbänden von 1914 und 1919 frauenemanzipatorische Fragen behandelt. In ihrem Roman Haabvere ([Ortsname], 1926) verknüpfte sie diese Fragen allgemein mit dem Schicksal einer gebildeten Frau. Eine konkret mit der Situation von Frauen verbundene Sozialkritik findet sich auch in dem Debütroman von Eduard Männik: In seinem Hall maja (Das graue Haus, 1930) werden die Bewohnerinnen eines Bordells beschrieben, die der Autor als Opfer der gesellschaftlichen Zustände und der Ungleichheit ansieht. Dazu passen zwei humoristische Kurzromane von Leida Tigane, die als leichte Lektüre die Gegenwart parodierten. Palun seda härrat … (Bitte diesen Herrn … 1935) handelt von Kontaktanzeigen in Zeitungen, die damals gerade Mode geworden waren, während Marga müüb mehi (M. verkauft Männer, 1937) den Handel im Zusammenhang mit Eheschließungen lächerlich macht. In ihren weiteren Büchern behandelte die Autorin, die auch Kinder- und Jugendbücher geschrieben hat, den Stadt-Land-Kontrast, wenn zum Beispiel in Sõber meriröövel (Freund Seeräuber, 1939) eine Studentin im Sommerurlaub auf dem in ihren Augen hinterwäldlerischen Land nicht zurechtkommt. Das Studentenleben ist in dieser Zeit wiederholt Gegenstand der Literatur geworden. Jaan Pert schilderte es in Punane liilia (Die rote Lilie, 1927) und Sirp õites (Die Sichel in Blüte, 1928). Besonders viel Wirbel verursachte August Kirsimägi mit seinem Roman Puhastustuli (Fegefeuer, 1929) über das ausgelassene Leben eines Corpsstudenten, was später zu entsprechenden Mystifizierungen führte, da Kirsimägi sich 1933 das Leben genommen hat. Richard Janno schließlich behandelte in Metsmees (Der Waldmann, 1929) das Tartuer Studentenleben mit Hilfe der Geschichte, wie ein vom Gedanken der gemeinsamen Urverwandtschaft begeisterter Este einen Mordwinen an die Universität holt, um ihn dort zu einem in seinen Augen zivilisierten Menschen zu machen. Der Roman erschien 1930 sogar in finnischer Übersetzung und hatte einigen Erfolg. Das Wirtschaftsleben war ein weiteres Thema, das gerne behandelt wurde, wenngleich es hier keine so drastischen Veränderungen gegeben hatte, denn auch im Zarenreich hatte eine kapitalistische Marktwirtschaft geherrscht. Nun wurde allerdings eine Aufsteiger- und Schachermentalität festgestellt, die manchem missfiel. So spottete Erni Krusten in seinem Roman

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Mineviku jahil (Auf der Jagd nach der Vergangenheit, 1929) über die Neureichen, andere griffen konkrete Fälle auf wie Albert Kivikas in seinem Vekslivõltsija (Der Wechselfälscher, 1931), der übrigens ziemlich genau zu dem Zeitpunkt erschien, als es zwei seiner Kollegen, Mart Raud und Richard Roht (s. o.), gerade erwischt hatte. Kurzprosa Auch in einer Zeit der dicken Romane blieb noch genügend Raum für die kürzere epische Form, wie das Beispiel von Tuglas, dessen Novellen zum Teil in der Zwischenkriegszeit geschrieben sind, zeigt (s. § 26). Die meisten der Prosaistinnen und Prosaisten schrieben Texte verschiedener Länge, wobei – wie bei Tammsaare gesehen wurde – die Übergänge fließend sein konnten. Von den Personen, die sich nahezu ausschließlich der kürzeren Form bedienten und hierin Meisterschaft erlangten, ist an erster Stelle Peet Vallak zu nennen. Peeter Pedajas, so Vallaks bürgerlicher Name, ist 1893 in Südwestestland geboren und schloss 1911 in Pärnu das Progymnasium ab. Schon während seiner Schulzeit hatte er erste schriftstellerische Versuche unternommen, aber auch gezeichnet; er wandte sich dann der Kunst zu und belegte in Tartu und St. Petersburg Kunstkurse. In der Hauptstadt musste er infolge des Ersten Weltkriegs 1915 seine Studien abbrechen, und die kommenden Jahre pendelte er zwischen einer journalistischen Betätigung in Estland und der Pflege seiner künstlerischen Interessen in Petrograd hin und her. Dabei waren auch die journalistischen Anstellungen teilweise künstlerischer Art, da er u.a. als Karikaturist für estnische Zeitungen tätig war. Nach dem Freiheitskrieg, an dem er sich aktiv als Soldat beteiligt hatte, nahm er noch einmal bei Pallas in Tartu seine Kunststudien auf, fing aber gleichzeitig wieder mit dem Schreiben an. 1922 brach er seine Studien ab und konzentrierte sich ausschließlich auf das Schreiben. Er nahm später einige Funktionen im Schriftstellerverband wahr und arbeitete von 1938 bis 1940 am Tartuer Vanemuine-Theater als Dramaturg. Seit dem Zweiten Weltkrieg erlahmte seine Schaffenskraft jedoch und er beschäftigte sich nur noch mit der Herausgabe seiner Werke. Er starb, nachdem er sein Gedächtnis teilweise verloren hatte, 1959 in Tartu. Vallak war kein junger Debütant, er begann zögerlich. Sobald er aber seine erste Novellensammlung vorgelegt hatte, ging es Schlag auf Schlag, und der Autor wurde, von Anbeginn begleitet von lobenden Rezensionen, schnell zum führenden Vertreter des Genres. Dabei war sein Druckdebüt unter dem Pseudonym Egon Närep mit der – bis heute von keinem Theater inszenierten – Komödie Luupainajad (Alpträume, 1924) erfolgt, noch bevor seine Novellen, die zum Teil bereits verstreut in der Presse erschienen waren, in Buch-

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form herauskamen: Must rist (Das schwarze Kreuz, 1925), Epp Pillarpardi Punjaba potitehas (Die Töpferei der Epp Pillarpart in Punjaba, 1925), Ajude mäss (Aufruhr der Gehirne, 1926), Relvad vastamisi (Aufeinander gerichtete Waffen, 1929), Omakohus (Selbstjustiz, 1932), Neli tuult jalge all (Vier Winde unter den Füßen, 1934), Teod pahurpidi (Umgekehrte Taten, 1935), Armuleib (Das Gnadenbrot, 1936) und Lambavarga Näpsi lorijutte (Geschwätz des Schafdiebs Näps, 1938). Innerhalb von einem Dutzend Jahren – denn die letzte Sammlung von 1938 fällt mit ihren märchenhaft-phantastischen Elementen schon aus dem Rahmen des Kernwerks – hatte Vallak in acht Sammlungen mit knapp 50 Novellen sein Werk publiziert und sich unauslöschlich in die estnische Literaturgeschichte hineingeschrieben. Der Hauptunterschied zu Tuglas’ etwas älterem Novellenwerk liegt darin, dass Vallak weniger symbolistische oder phantastische Elemente verwendet. Vallak schöpfte seine Stoffe und Ideen aus seiner unmittelbaren Umgebung und eigenen Erfahrung, wozu auch der Erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise gehörten. Meistens geht es ihm um die einfachen Leute, die er in detailreichen und exakten Beschreibungen auf eine Weise einfängt, die man als psychologisch-realistisch bezeichnen könnte. Der Mensch, ein bestimmter Typ, ein eigenartiger Charakter steht immer im Mittelpunkt. Treu dem Genre verpflichtet, geht es stets um ein besonderes Ereignis, eine überraschende Wendung, ein unerwartetes Ende. Dabei bewahrt sich Vallak fast immer auch Raum für etwas Groteskes, ohne jemals in die Oberflächlichkeit abzugleiten. Der Grundton ist und bleibt ernst und ein wenig traurig. Vallak ist nie verurteilend oder gar moralisierend, er ist nur ein relativ nüchterner, höchstens gelegentlich schmunzelnder, Beobachter, der aus wenigen Ingredienzien ein kompaktes Ganzes schafft. Damit hat er – ähnlich wie Tuglas, aber mit anderen Stilmitteln – das Genre perfektioniert und eine Art Schule geschaffen, auch wenn sich die wenigsten der nach Vallak in diesem Genre Aktiven direkt als Nachfolgerinnen oder Nachfolger bezeichnen würden. Trotzdem wurde er doch eine heimliche Autorität. Als Teilnehmer am Freiheitskrieg, was sich in Teilen seines Werks auch niederschlug, hatte es Vallak in Sowjetzeiten nicht ganz leicht. Seine Novellen konnten nur unvollständig herausgegeben werden, und nach einer Edition von 1983, in die eine »falsche« Novelle aufgenommen worden war, musste der Herausgeber der Buchreihe seinen Hut nehmen (Ojamaa 1993). Der Roman Hulgus (Der Vagabund, 1927), der zwar im Schatten seines Novellenwerks steht, aber mit seiner Frage nach den Beweggründen für menschliche Verbrechen einem damals viel behandelten psychologischen Problem nachgeht, war in Sowjetzeiten unzugänglich. Schließlich ist hier ein Kommunist, der im Freiheitskrieg ein Verbrechen begangen hatte, die Hauptperson. Val-

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lak hatte seinerzeit eine Fortsetzung dieses Romans geplant, aber das Material dazu ist während des Zweiten Weltkriegs vernichtet worden. Ein weiterer auf dem Gebiet der Novellistik produktiver Autor war Pedro Krusten. Er gehörte in den 1930er-Jahren zu den meistpublizierten Novellisten in Looming, dem nach wie vor wichtigsten Organ für aktuelle Originalliteratur. Seine psychologischen Novellen, die anfangs noch leicht feuilletonistische Züge aufwiesen, sind in den Sammlungen Vasema käega (Mit der linken Hand, 1934), Hädaohtlik tee (Der gefährliche Weg, 1937) und Purustatud pesa (Das zerstörte Nest, 1940) herausgekommen. In ihnen erkannte die zeitgenössische Kritik bald Parallelen zu Vallak, was bereits das höchste Lob war. Neben Gailit, dessen romantisch ausgerichtete Novellen Tuglas näher standen als Vallak und der eigentlich schon seine eigene Stilrichtung war, waren die beiden wichtigsten älteren Verfasser von Kurzprosa Karl Rumor und Karl August Hindrey. Der Sozialdemokrat Rumor war wie Tuglas in der Revolution von 1905 aktiv und später lange Zeit politisch als Abgeordneter und Minister tätig. Danach machte er als Geschäftsmann weite Reisen, ging 1939 als Presseattaché nach Stockholm und war von 1941 an Konsul in Brasilien. Hier blieb er bis 1959, die letzten zwölf Jahre seines Lebens verbrachte er nach einem kurzen Zwischenspiel in Kanada in den USA, wo er 1971 in New York starb. Neben seinem einzigen Roman Krutsifiks (Das Kruzifix, 1960), der Religionsunruhen in Brasilien zum Inhalt hat, verfasste Rumor hauptsächlich Kurzprosa, die in einem halben Dutzend Bänden vorwiegend in den 1920er-Jahren erschienen ist. Sein Debüt war 1911 mit dem Band Sääsed tormis (Mücken im Sturm) erfolgt. Hierin waren neun, größtenteils in Gefangenschaft abgefasste Novellen enthalten, die zum Teil die Lage der Intellektuellen nach der Niederschlagung der Revolution von 1905 behandelten. In seinen weiteren Sammlungen dominierte eine psychologische Darstellung, zu der sich in der Sammlung Kui Saara naerab (Wenn Saara lacht, 1929) erotische Elemente gesellten, die Teilen der zeitgenössischen Kritik zufolge die Grenzen des Anstandes überschritten. Hindreys Kurzprosa ist zusätzlich zu den oben erwähnten historischen Novellen in den Sammlungen Välkvalgus (Blitzlicht, 1932), Armastuskiri (Der Liebesbrief, 1933), Südamed (Herzen, 1938) und Hukatus Mälaril (Der Untergang auf dem Mälarsee, 1939) publiziert worden. Die Novellen zeichnen sich durch eine große Beobachtungsgabe aus und spielen, im Gegensatz zu Vallaks Texten, häufig im Intellektuellenmilieu. Nicht selten machte er die Liebe zum Kernproblem einer Erzählung, im Gegensatz zu Rumor gab es dort aber ganz sicher keine erotischen »Entgleisungen«: Hindrey war von der

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Geisteshaltung her ein durch und durch konservativer Traditionalist und allein schon dadurch eine vervollständigende Ergänzung zu den Vorgenannten. Es gab noch andere Personen, die Kurzprosa verfassten, doch erlangten sie nicht die Bedeutung wie die oben Behandelten. Erwähnenswert sind Marta Sillaots’ Kodukäijad (Die Wiedergänger, 1921) mit Novellen über verschrobene Außenseiter, Albert Kivikas’ zum Teil kafkaesk anmutende Sammlung Punane ja valge (Rot und Weiß, 1927), Johannes Ruvens naturalistisch-morbide Szenen aus der Vorstadt, Juhan Jaiks Sammlungen mit ihrem besonders mystischen und südestnischen Einschlag, Liisa Perandis zwei Novellensammlungen über Frauenschicksale und Eheprobleme oder Mihkel Jürnas teilweise expressionistisch gefärbte Novellen. Einen Sonderfall stellte Jüri Parijõgis Sammlung Semendivabrik (Die Zementfabrik, 1926) dar, die thematisch ganz in die Nähe von Jakobsons Vaeste-Patuste alev zu rücken ist, ab der zweiten, leicht veränderten Auflage jedoch einmütig der Kinderliteratur zugeschlagen wird, wohl weil Parijõgis übriges Werk dort anzusiedeln ist (Kalda 1992). Bühnenliteratur In dieser Zeit des Aufschwungs machte auch die Bühnenliteratur einen erheblichen Sprung nach vorne. Nach Tartu, Tallinn und Pärnu leisteten sich nun auch andere Städte ein eigenes Theater, so dass der Bedarf an einheimischen Originalstücken entsprechend gestiegen war. Professionelle Theater entstanden in Viljandi und Narva; semiprofessionelle Bühnen, bei denen nur ein Teil der Schauspielerinnen und Schauspieler fest angestellt war, kamen bis 1940 in Kuressaare, Rakvere, Võru und Valga hinzu. Außerdem gab es in Tallinn seit 1926 als dritte Bühne – neben dem Estonia und dem Draamastuudio bzw. Draamateater – ein Arbeitertheater, so dass sich in der Zwischenkriegszeit ein reichhaltiges Theaterleben entfalten konnte. Diese Entwicklung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in jenen Jahren viele minderwertige und epigonale Stücke geschrieben wurden, die heute völlig vergessen sind. Trotzdem stammen aus dieser Periode auch Texte, die den Weg in das Standardrepertoire estnischer Bühnen fanden. Mit den beiden Dramen von Tammsaare (s. § 32) fallen schon zwei estnische Klassiker in diese Periode, die ansonsten von einem Namen dominiert wird, der die Bühnen am beständigsten mit neuen frischen Stücken versah und sich in das Standardrepertoire der estnischen Bühnen hineinschrieb: Hugo Raudsepp. Auch wenn man sich fragen kann, ob unter seinen Stücken etwas Kitzberg oder Tammsaare Vergleichbares war, zählt Raudsepp, der auch als Kulturkritiker aktiv gewesen ist, zu den wichtigsten Bühnenautoren der estnischen Literatur.

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Raudsepp ist 1883 im Landkreis Tartu geboren und war nach seinem Schulabschluss 1900 Büro- und kaufmännischer Angestellter in Rakke, 1906 sogar kurzzeitig selbst Ladenbesitzer. Ab 1907 war er bei verschiedenen Zeitungen tätig und unternahm in dieser Zeit im Spätwinter 1913 eine Theaterreise nach Berlin. Während und nach der Revolution von 1917 war er zeitweise politisch aktiv als stellvertretender Bürgermeister von Viljandi und im Sekretariat der verfassungsgebenden Versammlung. 1920 zog er sich wieder aus dem politischen Leben zurück und arbeitete bis 1924 als Kritiker bei der Zeitung Vaba Maa (Freies Land). Als 1924 bei Raudsepp Tuberkolose diagnostiziert wurde, musste er sich für ein Jahr ins Sanatorium begeben. Danach lebte er zehn Jahre als freier Schriftsteller in Elva, ab 1936 in Tartu. In dieser Zeit entstand sein einziger Roman, Viimne eurooplane (Der letzte Europäer, 1941), der die persönliche Krise eines Intellektuellen mit Reflexionen über das estnische Kulturleben und der Krise der Welt verknüpfte (vgl. Hasselblatt 1995a). Während der deutschen Okkupation musste er sich wieder nach Elva zurückziehen, nach Kriegsende lebte er in Tallinn, wo er 1951 von den sowjetischen Organen festgenommen wurde. Ein gutes halbes Jahr später wurde er mit einer zehnjährigen Verbannungsstrafe nach Sibirien geschickt, wo er aber bereits im September 1952 starb. Raudsepp hat über 20 Schauspiele verfasst, deren durchdachte Komposition und spritzige Dialoge die estnische Bühnensprache kultivierten. Von Kitzberg und Tammsaare trennte ihn die fehlende philosophische Dimension, denn Raudsepps Dramen sind durchweg Komödien. Das schließt nicht aus, dass der Autor Stellung zu aktuellen politischen Problemen bezog, die er dann – häufig mit einem satirischen Einschlag – kommentierte. Dies betraf besonders seine ersten Stücke: Demobiliseeritud perekonnaisa (Der demobilisierte Familienvater, 1923), Ameerika Kristus (Der amerikanische Christus, 1926) und Kikerpilli linnapead (Die Bürgermeister von Kikerpilli, 1926). Anhand von biblischen Motiven problematisierte er in Kohtumõistja Simson (Richter Simson, 1927) und Siinai tähistel (An den Wegweisern Sinais) ebenfalls aktuelle Gegenwartsthemen. Das Gleiche tat er mit der Allegorie Sinimandria (1927), wo die Handlung auf einer unterirdischen Insel der Träume spielt, so dass das Stück eine phantastische Komponente enthält und schon in Richtung des Absurden Theaters weist. Den größten Erfolg erzielte Raudsepp mit der Komödie Mikumärdi ([Ortsname],1929), die ihn endgültig allgemein bekannt machte. Sie wurde auch international beachtet, da sich finnische und lettische Bühnen dafür interessierten. Das Stück ist eine Dorfkomödie mit den üblichen Liebesintrigen, die sich nach diversen Kunstgriffen zum Guten wenden, so dass man am Ende eine Doppelhochzeit feiern kann. Das treffend arrangierte Auf-

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einanderprallen verschiedener Charaktere führt im Verein mit geistreichen Dialogen und einer satirischen Bloßlegung dörflicher Sitten zu einem Gesamtspektakel, das für alle etwas bot – und zwar mehr als nur oberflächliches Vergnügen. Deswegen wird das Stück bis heute immer wieder inszeniert, wenngleich der Start etwas mühselig war: Wegen vermeintlicher erotischer Szenen lehnten die großen Bühnen Vanemuine und Estonia das Stück ab, so dass die Uraufführung am 3. November 1929 in einem Pärnuer Arbeitertheater erfolgte. Aber bereits im Dezember gelangte es auch in Tallinn auf die Bühne und wurde dort zu einem Kassenschlager. Auch das folgende Stück, Põrunud aru õnnistus (Segen des Schwachsinns, 1931), das Raudsepps Befassung mit aktuellen geistesgeschichtlichen Strömungen bezeugt und philosophisch angelegt ist, wurde sehr populär. Einen zweiten großen Erfolg konnte Raudsepp mit dem Stück Vedelvorst (Der Faulpelz, 1932) landen, das ebenfalls den Weg nach Finnland und Lettland fand. Die Komödie ist im dörflichen Milieu am Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelt und hat einen Faulpelz zur Hauptperson, der sein Nichtstun zum Lebensinhalt gemacht hat und dadurch Oblomov’sche Züge aufweist. Um ein Erbe antreten zu können, muss er jedoch eine Bedingung erfüllen: Er muss heiraten, was eine gewisse Aktivität erfordert. Die Besonderheit dieses Stückes liegt in der ausgefeilten, hochstilisierten und nuancierten Sprache, die volkstümliche Elemente mit Manierismen des ausgehenden 19. Jahrhunderts vermengt und dadurch die komische Wirkung erhöht. Danach wandte sich der Autor stärker einer tagespolitischen Thematik zu, beispielsweise in Salongis ja kongis (Im Salon und in der Zelle, 1933), wo am Ende alle Politiker in der Gefängniszelle landen, oder Mees, kelle käes on trumbid (Der Mann, der die Trümpfe in der Hand hat, 1938), der einen gewissenlosen Karrieristen zeigt, der sein Fähnchen nach dem Winde hängt. Raudsepp war nun ein gefeierter Autor, der auch in den folgenden Jahren versuchte, die politische Entwicklung mit seinen Stücken zu kommentieren, was aber zusehends weniger gelang, da er sein Fähnchen nicht so leichtfertig in den Wind hängen wollte und ihm die bald über Estland hereinbrechenden Totalitarismen zum Verhängnis wurden. Der zweite wichtige Autor dieser Periode war Aleksander Antson. Er war 1899 auf Saaremaa geboren und nach seiner Ausbildung zum Lehrer 1919/20 Estnisch- und Sportlehrer in Kuressaare. 1920 lernte er August Mälk und durch ihn literarische Kreise kennen. Gleichzeitig wurde er politisch aktiv und plante gemeinsam mit Valter Kaaver die Zeitschrift Aktsioon, die aber erst 1926 zustande kam (vgl. § 31). Vorher war Antson noch als aktiver Sportler – er schied im Vorlauf über 1500 m mit einem fünften Platz aus – und Korrespondent zu den Olympischen Spielen nach Paris gereist, und auch

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später engagierte er sich jahrelang in der Arbeitersportbewegung. Zwischen 1927 und 1930 reiste er viermal in die Sowjetunion, einmal davon mit Rudolf Sirge, mit dem gemeinsam er einen Reisebericht verfasste. In der meisten Zeit war er in einer Zeitungsredaktion angestellt, ab 1934 war er Geschäftsführender Direktor der Vereinigung für Urheberrecht (Autorikaitse Ühing). Die deutsche Okkupation verbrachte er im Gefängnis. Er starb 1945 bei einem Autounfall. Antsons Stücke, häufig nur Einakter, sind politisch ausgerichtet und haben oft einen pazifistischen Grundton. Nicht alle sind auf die Bühne gelangt, manche blieben unvollendet. In ihrer Gesamtheit haben sie den Expressionismus, der in den 1920er-Jahren auf den estnischen Bühnen wenn nicht tonangebend, so doch recht beliebt wurde, entscheidend mitgestaltet. Zu nennen wären hier Lapsed (Kinder, 1923), Vangid (Die Gefangenen, 1927) und Surmatants (Der Totentanz, 1929). Vennad (Die Brüder, 1926) blieb unvollendet, mehr als drei Bilder sind hiervon nicht erschienen. Die Dramen sind plakativ und stellenweise drastisch, es kann schon mal vorkommen, dass jemand aus Versehen Frau und Schwager erschießt, nur weil sie eine falsche Uniform anhaben. Der streng politischen Ausrichtung blieb Antson auch in den folgenden Stücken treu: 147 (1926) behandelt einen Prozess gegen 147 Kommunisten, der im November 1924 in Tallinn stattgefunden hatte; Kolgata (Golgatha, 1927) handelt vom Schicksal eines Revolutionärs; Töölise tütar (Die Arbeitertocher, 1931), stellt den politischen Konflikt anhand einer Dreiecksgeschichte dar. Auch in späteren Komödien kommentierte Antson die politischen Zeitumstände, etwa in Orduaja lõpp (Parun kolib ära) (Das Ende der Ordenszeit [Der Baron zieht weg], 1940), das den Exodus der deutschen Bevölkerungsgruppe und der Esten, die sich ihnen angeschlossen hatten, zum Inhalt hat. Ferner gab es von Antson auch einige Versuche auf dem Gebiet der Prosa, aber am nachhaltigsten sind seine satirischen und scharfzüngigen Epigramme, die in vier Sammlungen (1927, 1930, 1933, 1946) publiziert worden sind, in Erinnerung geblieben. Zur expressionistischen Strömung gehören ferner einige Dramen von Artur Adson und Rudolf Reiman sowie Mait Metsanurks Kindrali poeg (Der Sohn des Generals, 1925), das einen Konflikt zwischen kommunistischer Ideologie und christlicher Ethik behandelt und so starke aktuelle gesellschaftliche Bezüge aufwies, dass es für einen der in der Theaterwelt obligatorischen Skandale sorgte: Nach der Uraufführung wurde das Stück aus Angst vor einem einflussreichen General aus dem Repertoire genommen. Von den weiteren Personen, die Bühnentexte verfassten, seien Evald Tammlaan, Tõnis Braks, Agnes Taar, Jaan Metua und Enn Vaigur genannt. In Tammlaans Raudne kodu (Das eiserne Heim, 1938), das auf einem Schiff

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mit einer Waffenladung für das faschistische Spanien spielt und in Meuterei und Untergang endet, kann man einige Parallelen zu Brecht erkennen. Braks, ein bekannter Feuilletonist, wandte sich historischen Themen wie der Revolution von 1905 oder der deutschen Besetzung von 1918 zu. Taar, die hauptsächlich als Kinderbuchautorin bekannt war, behandelte in ihren Stücken aktuelle politische Fragen wie das Landleben oder die Frauenemanzipation. Metua und Vaigur verfassten zahlreiche Volksstücke. Alles in allem hat trotz der dem Genre anhaftenden Klagen auch die Bühnenliteratur in der Zwischenkriegszeit eine Vielfalt erreicht, die mit der früherer Perioden nicht im Entferntesten zu vergleichen war.

§ 34 Dichtung, Geist und Macht Die Rückkehr der Zensur Das von Konstantin Päts am 12. März 1934 installierte Regime führte de facto zur Herrschaft eines Triumvirats: Es bestand aus dem amtierenden Staatsältesten Päts, dem am gleichen Tag zum Oberbefehlshaber der Truppen ernannten Johan Laidoner und dem letzten Parlamentspräsidenten und langjährigen Innenminister Kaarel Eenpalu. Von der Geschichtsschreibung hat das Regime verschiedene Bezeichnungen erhalten, die auf einer Skala von »faschistisch« oder »profaschistisch« bis hin zur »gemäßigten Demokratie« reichen (vgl. die Auflistung bei Karjahärm/Sirk 2001, 284). Die beiden genannten Extreme sind mit Sicherheit unzutreffend. Man kann dem Regime allenfalls faschistoide Züge attestieren, seine Gesamtklassifizierung als »faschistisch« ist nur der notorisch unscharfen und bekannt fahrlässigen Verwendung dieses Wortes im sowjetischen Sprachgebrauch zu danken. Die demokratischen Züge hielten sich andererseits dermaßen in Grenzen, dass die Klassifizierung als »gemäßigte Demokratie« – was immer man darunter zu verstehen hätte – nur als Euphemismus bezeichnet werden kann. Auch der verbreitete Begriff der »gelenkten Demokratie« ist ein Euphemismus. Gerade für die Literatur bietet sich die Beibehaltung der metaphorischen Bezeichnung »Schweigende Periode« an. Eine andere passende Bezeichnung ist die des »Verteidigungszustands«, weil der ausgerufen war und dieser Umstand treffend andeutet, dass das Militär einiges zu sagen hatte. Das aber kann für die kulturelle Entfaltung nicht förderlich sein. Ursache für die verschiedenen Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache sind nicht nur die unterschiedlichen politischen Blickwinkel, sondern auch die Tatsache, dass das Regime von Päts selbst über keine fest umrissene Ideo-

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logie oder einen theoretischen Unterbau verfügte. Auch die später errichtete Sammlungsbewegung »Vaterlandsbund« – Parteien waren verboten – hatte kein Programm im engeren Sinne, lediglich ein »starkes Estland« stand ihr vor Augen. Hier gab es selbstverständlich Bezüge zu den totalitären Regimen anderswo in Europa, ebenso in der Ausschaltung des Parlaments und dem Versuch, die Gesellschaft in Korporationen und Kammern zu organisieren. Das Rechtssystem blieb aber weitgehend erhalten, es gab keine Willkür, von Terror ganz zu schweigen. Aber es gab etwas, das den Namen Propaganda verdiente – zu denken wäre hier etwa an den Aufruf zur Estisierung der fremden Nachnamen, der von ca. 200000 Menschen befolgt wurde – und zu dessen Zweck die Regierung 1934 auch eigens eine Institution ins Leben gerufen hatte: Die staatliche Propagandaverwaltung, die diesen Namen erst 1935 erhielt, nachdem sie bescheidener als Informations- und Propagandaverwaltung der Regierung (Valitsuse Informatsiooni ja Propaganda Talitus) gegründet worden war. Sie war dem Innenministerium unterstellt und sollte das Volk über die Tätigkeit der Regierung und der staatlichen Einrichtungen informieren sowie die staatliche und nationale Propaganda organisieren (Vaan 2005, 44). Nach verschiedenen Umstrukturierungen des schnell wachsenden Apparats wurde sie im Januar 1939 in den Rang eines Ministeriums erhoben, an dessen Spitze folglich ein Propagandaminister stand. Kurze Zeit später folgte eine abermalige Umbenennung in Informationszentrum, die aber nur kosmetischer Art war. Zu den konkreten Aufgaben der Propagandaverwaltung gehörte die Kontrolle und Steuerung der heimischen Presse. Ferner war ein so genannter Filminspektor angestellt, der darüber zu wachen hatte, dass keine unliebsamen Filme in die Kinos gelangten. Mit anderen Worten: Es fand wieder eine Zensur statt. Die hatte es für die Presse zwar schon 1933 für gut zwei Monate gegeben, als zur Wahrung von Recht und Ordnung schon einmal der Verteidigungszustand ausgerufen worden war (11. August bis 17. Oktober 1933), nun aber begann eine viel längere Periode. Presse und Literatur wurden von verschiedenen Beamten, die einen Schnellkurs in Zensur gemacht hatten, gesichtet und gegebenenfalls im Nachhinein gerüffelt. Für die Filme war seit 1935 Artur Adson zuständig, mit Henrik Visnapuu war ein zweites ehemaliges Glied der Siuru-Gruppe, der einst ein Rückzug auf die »Insel der Ästhetik« (s. § 29) vorgeworfen worden war, seit 1935 als Rat in der Propagandaverwaltung angestellt. Damit war das schwierige Verhältnis zwischen Geist (vaim) und Macht (võim), was in Estland infolge des geringen klanglichen Unterschieds der beiden Wörter generell gerne als Begriffspaar diskutiert und problematisiert wird, wieder einmal Gesprächsthema geworden. Und das sollte über ein halbes Jahrhundert andauern.

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Der prinzipielle Unterschied zu vorangegangenen und auch späteren Zensuren bestand darin, dass Texte nicht vorab an entsprechender Stelle vorgelegt werden mussten, sondern dass sie bei Bedarf im Nachhinein indiziert werden konnten. Damit unterschied sich diese Art der Zensur nicht so sehr von den früheren und auch heute in freien Gesellschaften üblichen Praktiken: Auch da konnte und kann ein Text nach Erscheinen verboten oder gekürzt werden, bloß bedarf es dazu einer gesetzlichen Grundlage und eines Gerichtsverfahrens. Derlei Verfahren sind auch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg z.B. aus Deutschland (Günter Wallraff ), Großbritannien (D. H. Lawrence) oder Finnland (Hannu Salama) zur Genüge bekannt, und mit dem erwähnten Beispiel von Ralf Rond (§ 31) hatte es so etwas in den 1920er-Jahren auch in Estland gegeben. Nun aber konnte ein Buch sang- und klanglos in den Makulaturmühlen der Behörden verschwinden, wie es mit dem Debüt von Edgar Sein geschehen ist: Sein Roman Purjus väärjumalad (Märatseja ja kokott) (Die betrunkenen Abgötter [Der Rasende und die Kokotte]) ist unter dem Pseudonym Edgar Hiiesaar 1934 erschienen. Er spielt in der Tallinner Halbwelt und lässt die Hauptfigur am Ende schließlich enttäuscht der lasterhaften Stadt den Rücken kehren und sein Glück auf dem Lande versuchen. Diese kurze Beschreibung zeigt, dass sich der Roman sehr gut in die damalige Literaturlandschaft einpasste. Kurz nach seinem Erscheinen wurde das Buch jedoch wegen seines vermeintlich schädlichen Einflusses auf die Jugend und der Gefahr für die staatliche Ordnung kurzerhand wieder eingesammelt, teilweise direkt aus der Druckerei, teilweise aus dem Buchhandel, wobei nur einige wenige Exemplare für wissenschaftliche Bibliotheken gerettet werden konnten. Dahinter stand der Oberbefehlshaber, der für die innere Sicherheit verantwortlich war und mit dieser Aktion erneut die ungute Verbindung von Militär und Kultur unter Beweis stellte (zum Vorgang Uuet 2000). Im Großen und Ganzen blieben die Strukturen des literarischen Lebens aber erhalten. Das Kulturkapital funktionierte weiterhin, hier war allenfalls eine etwas stärkere Einmischung staatlicherseits spürbar. Der Schriftstellerverband ließ sich nicht vereinnahmen und blieb seiner demokratischen Tradition verpflichtet. Dazu gehörten verschiedene Strömungen und Streit zwischen den Generationen, wie es um die Wende von den 1920er- zu den 1930er-Jahren etwa zwischen der recht losen Vereinigung Kirjanduslik Orbiit (Literarischer Orbit), worin jüngere Autoren die Forderung nach mehr »Lebensnähe« aufstellten und gegen in ihren Augen weltfremde Ästhetisierungen zu Felde zogen, und den älteren Vertretern der Noor-Eesti-Generation der Fall war. Schon Ende April 1933 verabschiedete der Schriftstellerverband auf einer außerordentlichen Vollversammlung eine Resolution gegen die Einschränkung

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der geistigen Freiheit in Deutschland und sendete ein Grußtelegramm an den kurz zuvor emigrierten Heinrich Mann. Nach der Ausrufung des Ausnahmezustandes durch Päts begrüßte der Verband dieses zwar, weil damit einigen undemokratischen Strömungen ein Riegel vorgeschoben wurde, pochte aber gleichzeitig auf der Unabdingbarkeit der Gedankenfreiheit und lehnte jede Gleichschaltung ab (Raid 1997, 103). Eine 1933 ins Leben gerufene Vereinigung von Volksschriftstellern, die der von Päts verbotenen Freiheitskämpferbewegung nahe gestanden hatte, bestand ausschließlich aus relativ unbekannten Anfängerinnen und Anfängern und hat trotz einiger Polemiken und des Versuchs, sich zu etablieren, keinen Widerhall gefunden. Sie ging 1935 wieder ein. Die im Bildungsministerium angedachte Gründung einer Kammer für alle Kulturschaffenden in Anlehnung an die deutsche Reichskulturkammer verlief ebenfalls im Sande, da sich führende Kulturpersönlichkeiten und die bestehenden Berufsverbände in corpore dagegen ausgesprochen hatten. Auch Looming konnte weiterhin mit Förderung vom Kulturkapital erscheinen. Das Einzige, was in diesem Bereich passierte, war, dass die Zeitschrift Konkurrenz bekam. Die hatte es zwar schon vorher gegeben – 1930 hatte Yri Naelapea, der später an der Spitze der Volksschriftsteller stand, die Zeitschrift Olion gegründet –, nun aber erfolgte eine staatliche »Gegengründung« mit der Ende 1937 ins Leben gerufenen Zeitschrift Varamu. Umgekehrt kamen auch von den demokratischen, antiautoritären Kreisen Neugründungen hinzu, allen voran die Tartuer Kulturzeitschrift Akadeemia (1937–1940) und die Zeitschrift Tänapäev (Die Gegenwart, 1935–1940), die beide mit Argusaugen beobachtet wurden. Während Akadeemia vorwiegend den Intellektuellen aus dem Umfeld der Tartuer Universität als Forum diente und unbehelligt blieb, wurde Tänapäev, zu dessen namhaftesten Autoren auch Tammsaare, Tuglas und Suits zählten, mehrmals geschlossen. Zwischenzeitlich versuchte die Zeitschrift unter anderem Namen weiter zu existieren. Das alles bedeutete aber im Endeffekt, dass anstelle einer Gleichschaltung, wie sie sich manche vielleicht gewünscht hatten und wie sie in zahlreichen totalitären Staaten in jener Zeit praktiziert wurde, eine noch größere Vielfalt erzeugt wurde, die paradoxerweise für eine kulturelle Blüte auch unter einem autoritären Regime sorgte. Poesie im Schatten der Prosa Die Lyrik war in den Jahren unmittelbar während und nach der Errichtung der Eigenstaatlichkeit das Ton angebende Genre gewesen, wie an den verschiedenen Gruppierungen zu sehen ist, die vorwiegend aus Lyrikern und Lyrikerinnen bestanden. Wenn sie danach ein wenig ins Hintertreffen gera-

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ten ist, liegt das mehr am Aufschwung der Prosa, die viel Aufmerksamkeit für sich beanspruchte (vgl. §§ 32, 33), als daran, dass weniger gedichtet worden wäre. Suits, Under, Visnapuu und Semper – um nur einige zu nennen – haben kontinuierlich weitergedichtet, ihnen gesellten sich Jüngere hinzu, so dass die jährlich in der Zeitschrift Eesti Kirjandus publizierten Überblicke über die Vorjahrsdichtung kaum kürzer sind als die entsprechenden Artikel über die Prosa. Nach Tarapita (s. § 31) entwickelte sich die Lyrik auch ohne konkrete oder lautstarke Gruppierungen weiter und lieferte beständig neue Gedichtsammlungen und neue Namen. Sie behauptete sich neben der Prosa und erlangte gegen Ende der 1930er-Jahre vielleicht sogar wieder die Oberhand. Einer der wichtigsten Dichter dieser Periode war – neben den Etablierten – Juhan Sütiste. Johannes Schütz, wie er bis 1936 hieß, ist 1899 am Rande von Tartu geboren und war nach seiner Schulausbildung sechs Jahre Uhrmacherlehrling und -geselle. Nach seiner Teilnahme am Freiheitskrieg arbeitete er erneut bei einem Uhrmacher und belegte gleichzeitig Vorlesungen an der Universität Tartu, ohne jedoch einen Abschluss zu machen. Außerdem war er sportlich aktiv, mehrmals estnischer Meister im Speerwerfen und 1927 Goldmedaillengewinner in dieser Disziplin bei den Studentenspielen in Rom. In den 1930er-Jahren unternahm er viele Reisen, war in Tartu beim Theater angestellt und schrieb zahlreiche Kritiken für Zeitungen. 1938 ging er nach Tallinn, wo er ebenfalls beim Theater angestellt war. 1941 wurde er mobilisiert, verwundet und von den Deutschen ein knappes Jahr in Tallinn inhaftiert. Aufgrund einer Intervention seiner Schriftstellerkollegen ließen ihn die Deutschen 1942 frei, so dass er die restliche Zeit der deutschen Besatzung am Theater weiterarbeiten konnte. Nach Kriegsende wurde er hin und wieder von den zurückgekehrten sowjetischen Machthabern verhört, die argwöhnisch waren, weil Sütiste von den Deutschen aus dem Gefängnis entlassen worden war. Kurz nach einem solchen Verhör ist der Dichter im Februar 1945 an einer Herzattacke gestorben. Sütiste hat insgesamt zehn Gedichtbände vorgelegt – der letzte Band erschien postum – und darüber hinaus einige Schauspiele und Kindergedichte verfasst. Er war ein weitgehend eigenständiger Dichter, der sich keiner Gruppierung zuordnen ließ und als Bindeglied zwischen der älteren Siuru-Generation und der bald folgenden, jüngeren Arbujad-Generation (s.u.) aufgefasst werden kann. Nach ersten Veröffentlichungen in Murrang und den beiden Alben Sang und Bumerang (vgl. § 31) debütierte Sütiste 1928 mit dem Gedichtband Rahutus (Unruhe), der von starkem sozialem Engagement geprägt ist und expressionistische Färbungen aufweist. In den folgenden Gedichtbänden Peipsist mereni (Vom Peipsisee bis zum Meer, 1930), Maha rahu! (Nieder

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mit dem Frieden!, 1932) und Kaks leeri (Zwei Lager, 1933) dominierte dann analog zur Prosa der gleichen Zeit ein gesellschaftskritischer und realistischer Ton, so dass Sütiste, der einer der Hauptvertreter der oben genannten Propagierer der »Lebensnähe« war, zu Recht als der »führende realistische Dichter der 1930er-Jahre« (Epp Annus et al. 2001, 251) bezeichnet worden ist. Dazu passt, dass man eine romantische oder gar erotisierende Liebesdichtung, wie sie aus den Siuru-Tagen bekannt war, bei Sütiste lange Zeit vergeblich suchte. Erst nach seinem Tode erschien ein Zyklus von Sonetten, den man als Liebesdichtung bezeichnen konnte. Seine Verse waren hauptsächlich Beschreibungen des Alltagslebens, vielfach auch des sozialen Elends um ihn herum. Sütiste stammte selbst aus ärmlichen Verhältnissen und wusste, wovon er dichtete. Dabei war er aber weder wehleidig-sentimental noch besonders kämpferisch oder anklagend. Er konnte fröhliche Alltagsbilder zeichnen, die neben Mitleid auch Hoffnung ausstrahlten und nie in die Depression abglitten. In der Mitte der 1930er-Jahre trat bei Sütistes Dichtung die soziale Komponente in den Hintergrund. In den Sammlungen Südasuvel (Im Mittsommer, 1934) und Päikese ootel (In Erwartung der Sonne, 1935) rückten Natur und Landleben in den Vordergrund, das proletarische Milieu war verschwunden. Noch größere Kreise zog der Dichter mit den beiden nächsten Bänden, die er nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner zahlreichen Reisen verfasste: Sadamad ja saared (Häfen und Inseln, 1936) und Ringkäik (Kreislauf, 1937) enthalten größtenteils Reisebilder und verraten – wie fast alle Sammlungen von Sütiste – bereits durch die Titelgebung, wo der Schwerpunkt liegt. Das trifft auch für die letzte zu seinen Lebzeiten erschienene Sammlung, Valgus ja varjud (Licht und Schatten, 1939), zu, in der Lebensfreude und Optimismus verflogen sind. Sütiste legte in seiner Dichtung den Schwerpunkt mehr auf den Inhalt als auf die Form, an der man bei Anlegung strenger Maßstäbe das eine oder andere aussetzen konnte, weil es sich hier um ein stilistisches Potpourri handelte: Teilweise wird der freie Vers verwendet, manchmal hat man es mit eigenartigen Mischungen von Gereimtem und Ungereimtem zu tun, und auffällig ist, dass im Gegensatz zu den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen bei Sütiste, der auch mehrere Poeme geschrieben hat, die Gedichte häufig ziemlich lang sind und sich über mehrere Seiten erstrecken können. Mehr als andere hat Sütiste sich darum bemüht, sich auf die politischen Gegebenheiten einzustellen oder direkt auf sie einzugehen, wobei er sich in Augen mancher kompromittiert haben mag. Jedoch ist sein Versuch, sich 1934 mit einem Gedicht über den Freiheitskrieg lieb Kind zu machen, als gescheitert zu betrachten, denn dieser wurde eher belächelt und ist heute nahezu vergessen. Nachhaltiger blieb sein als »Versmontage« bezeichnetes Poem

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Maakera pöördub itta (Der Erdball dreht sich nach Osten, 1940) in Erinnerung, weil hier die Juniereignisse von 1940 beschrieben wurden und der Autor diese eindeutig begrüßte. Das konnte von den sowjetischen Machthabern entsprechend ausgeschlachtet werden, so dass ein »roter Autor« geboren war und die Literaturgeschichtsschreibung ihn in diese Kategorie einsortieren konnte. Dabei wird übersehen, dass Sütiste sich schon bald enttäuscht von den neuen Machthabern abwandte, dass er sich eben nicht für Lobpreisungen auf Stalin hergab (H. Puhvel 2001, 281) und dass sein Tod möglicherweise sogar direkt von seinen vermeintlichen Gesinnungsgenossen verursacht worden ist. Juhan Sütiste war kein Hofpoet. Er war auch kein Salondichter und kein lyrisches Genie. Er war der Dichter der kleinen Leute und des Alltags und hat als solcher eine eigene und gesicherte Position zwischen den »Großen« der Zeit – den großen Strömungen wie den großen Persönlichkeiten der estnischen Lyrik. Alle anderen, die im fraglichen Zeitraum mit Gedichten an die Öffentlichkeit traten, taten dies entweder wesentlich sporadischer als Sütiste, oder sie debütierten erst in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre und gehören damit in eine andere Periode (s.u.). Erwähnt sei aber, dass auch viele »Alte« in jenen Jahren immer noch dichteten, so erschien 1933 eine neue Sammlung von Jakob Liiv, 1935 eine solche von Anna Haava, 1937 eine von Karl Eduard Sööt (s. § 22). Eine besondere Erscheinung war Valmar Adams, der aus St. Petersburg stammte, in Tartu das russische Gymnasium absolviert hatte und nach ersten Versuchen auf Deutsch und Russisch 1924 mit dem estnischen Gedichtband Suudlus lumme (Kuss in den Schnee) debütierte. Diesem ließ er bis 1939 vier weitere Gedichtbände folgen, und auch nach dem Zweiten Weltkrieg kamen noch Lyrik- und Prosabücher hinzu. Damit hatte der Literaturwissenschaftler, der in Tartu russische Literatur dozierte und an der Volkshochschule Rhetorikkurse gab, auch einen Platz in der estnischen Literatur ergattert. Er war keiner Strömung zuzuordnen und bastelte sich seine eigene Schule, in der er mit theoretischen Schriften und mit seinen Gedichten den so genannten »ungenauen Reim« (irdriim) zu propagieren versuchte, denn der saubere Reim war in seinen Augen keine Kunst mehr. Seine Gedichte waren stark beeinflusst von der russischen vorrevolutionären Dichtung, auch findet sich in ihnen ein starker urbanistischer Einschlag, der zum damaligen Zeitpunkt in der estnischen Lyrik neu war. Denn da wurde noch vorwiegend das Lied von der Natur gesungen, wie die Beispiele einiger weiterer Dichter in dieser Periode bezeugen. Zu den fähigeren Naturlyrikern gehörte Julius Oengo, in dessen vier Gedichtbänden aus den 1920er-Jahren – weiter ist er in erster Linie unter dem Pseudonym J. Oro als Kinderbuchautor bekannt geworden – seine Balladen über das

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Meer hervorstechen. Auch mit Hen(d)rik Adamson trat ein Sänger des Dorfes und der Natur an die Öffentlichkeit. Er gehörte zur älteren Generation und hatte sporadisch schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Presse publiziert, 1919 und 1925 legte er zwei Bände in südwestestnischer Mundart vor, die aus Naturimpressionen und intimen Kontemplationen bestanden. Dem folgten noch vier weitere Bände in den 1930er-Jahren, wobei der Dichter gelegentlich die Hochsprache verwandte, doch bleibt der größte Wert der Dichtungen in der Kultivierung des Dialekts. Außerdem war Adamson ein eifriger Esperantist und dichtete auch in dieser Sprache. Die Mundartdichtung war auch das eigentliche Betätigungsfeld von Artur Adson, der neben seiner vielfältigen organisatorischen Tätigkeit, seinen kritischen Arbeiten und seinem Einsatz für das Theater eben auch sieben Gedichtbände zwischen 1917 und 1937 veröffentlicht hat. Er schrieb sie in seinem südestnischen Heimatdialekt und erzielte mit den beiden ersten Sammlungen, von denen sein Debüt in den Siuru-Frühling fiel, die größte Wirkung. Wie bei Adamson erhalten die mundartlichen Naturbeschreibungen eine humoristische Note, und auch die Liebesdichtung der zweiten Sammlung erhält dadurch einen besonderen Beiklang. Aufs Ganze gesehen darf die literarische Rolle von Adson jedoch nicht überschätzt werden: Er war immer »der Mann von«, und zwar der Mann von Marie Under, und allein schon deswegen überall dabei. Seine Hauptrolle lag im Organisatorischen, er war von Beruf schließlich Landvermesser. Aufbäumung gegen den Untergang In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre war in Estland eine Kultursituation entstanden, die sich in einem entscheidenden Punkt von allem Bisherigen unterschied: Wer in diesen Jahren die Schule verließ, hatte nicht nur ein estnisches Abschlusszeugnis in der Tasche, sondern den größten Teil der Schulbildung auf Estnisch absolviert. Je jünger die Personen waren, desto weniger Unterricht in einer anderen Sprache hatten sie über sich ergehen lassen müssen, und die Jüngsten hatten ihr bewusstes oder vielleicht sogar ihr ganzes Leben schon ausschließlich in der Republik Estland verbracht. So ist es verständlich, dass man angesichts einer Ende der 1930er-Jahre geballt an die Öffentlichkeit drängenden neuen Lyrikwelle schnell von einer »neuen Generation« sprach. Nach Noor-Eesti, Siuru, Tarapita und vielleicht auch Orbiit hatte man nun endlich wieder etwas Kompaktes vorzuweisen. Es ist dabei sekundär, dass die im Folgenden behandelten acht Personen sich gar nicht als Gruppierung verstanden haben und auch nie gemeinsam als Gruppe in Erscheinung getreten sind. Ihren Namen haben sie, und in der Folge dann

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eine ganze Phase in der estnischen Literatur, nur von einem gemeinsamen Sammelband erhalten. Er erschien 1938 – als alle bis auf eine im Übrigen schon längst mit eigenen Büchern debütiert hatten – und erhielt vom Herausgeber auf Vorschlag eines der acht den Titel Arbujad (Die Beschwörer). Damit war die neue Gruppe geboren. Herausgeber der Sammlung war Ants Oras, ein Literaturwissenschaftler, Kritiker und Übersetzer, der in Tartu, Leipzig und Oxford studiert hatte und seit 1934 dem Lehrstuhl für englische Philologie in Tartu vorstand. Er hat sich, obwohl er Anglist war, auch um die Verbreitung der estnischen Literatur, nicht zuletzt nach seinem Gang ins Exil, verdient gemacht (s. Lange 2004). Seine folgenreichste »Tat« bestand hingegen in der Zusammenstellung dieser Anthologie und in dem programmatischen Nachwort. Denn hier spricht er in einem kurzen historischen Rückblick von den verschiedenen Generationen der estnischen Literatur und behauptet dann frei heraus, in dieser Sammlung eine neue Generation vorzustellen. Als dann ein anderer junger Kritiker, der Romanist Aleksander Aspel, alsbald in einer Rezension des Buches in Looming verkündete, dass eine neue Dichtergeneration geboren sei, war die Sache beinahe gelaufen. Den Rest tat die Geschichte, d.h. die bald über Estland hereinbrechende Katastrophe: Erstens erfolgt immer eine Glorifizierung der Zeit vor der Katastrophe; und zweitens war mit Juhan Sütiste einer der schärfsten Kritiker der Arbujad ein den neuen Machthabern genehmer Dichter. Sütistes polemischer Essay von 1940, den man als Gegenmanifest zu Oras’ Nachwort betrachten kann, wurde nun als Instrument zur Verteufelung der ArbujadDichtung verwendet. In einer Trotzreaktion oppositioneller und Exilkreise wurde die Besonderheit und Heiligkeit der Arbujad-Dichtung dann noch stärker betont. Damit soll nicht behauptet werden, diese Gruppen- oder Epochebezeichnung sei völlig aus der Luft gegriffen. Sie hat durchaus ihre Berechtigung, aber es musste der guten Ordnung halber darauf hingewiesen werden, dass auch immer ein Stück Mythenbildung dabei ist. Denn die acht Personen, die in diesem Band vereint waren, waren trotz einiger Gemeinsamkeiten sechs Dichter und zwei Dichterinnen von ganz eigener Individualität. Der Älteste von ihnen war Mart Raud, der bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg debütiert hatte und dessen erste Gedichtsammlung 1924 erschienen war. Als Oras ihn in seine Arbujad aufnahm, lagen bereits vier Gedichtsammlungen von ihm vor, ebenso hatte er einige Romane publiziert (vgl. § 33). Seine romantisch ausgerichtete Naturlyrik weist kaum Berührungspunkte mit den anderen Gedichten der Anthologie auf, und Raud hatte mit den anderen sieben auch nichts zu tun. Er distanzierte sich 1940 schnell von ihnen – wie sie sich freilich auch von ihm –, als er sich anschickte, das Lied der neuen Machthaber zu singen. Die sowjetischen Besetzer konnten

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eine der Freiheit und Eigenverantwortlichkeit verpflichtete Generation nicht gebrauchen und versuchten sich ihrer auf die ihnen eigene Weise zu entledigen, indem sie sie nämlich nach Sibirien schickten oder anderweitig zum Schweigen verurteilten. Nur Bernard Kangro, der 1944 ins Exil gegangen war, hat sich derlei Nachstellungen entziehen können. Warum Raud, dessen Anteil mit zehn Gedichten auch am kleinsten ausfällt, überhaupt in der Arbujad-Anthologie vertreten ist, erscheint in der Rückschau etwas rätselhaft. Als Kopf der Gruppe ist Heiti Talvik angesehen worden, wenngleich es sich auch hier um eine spätere Inauguration handeln könnte: Als Einziger der Gruppe wurde er 1945 inhaftiert, er starb 1947 in Sibirien. Damit wurde er zum Märtyrer und Symbol für eine unterdrückte Geisteshaltung. Talvik ist in Tartu geboren, machte nach einem Abstecher in die Arbeitswelt 1926 sein Abitur auf dem Abendgymnasium in Pärnu und studierte danach acht Jahre in Tartu estnische Philologie, ohne jedoch einen Abschluss zu machen. Anschließend war er freier Schriftsteller. Er hatte 1924 seine ersten Gedichte veröffentlicht und mit seinem Debütband Palavik (Fieber, 1934) großes Aufsehen erregt. Zu Lebzeiten kam nur ein weiterer Band des mit seinen Worten haushaltenden Dichters heraus, 1937 erschien Kohtupäev (Gerichtstag), einige weitere Gedichte sind in postumen Sammlungen publiziert worden. Heiti Talviks Dichtung weist stellenweise Bezüge zu Baudelaire oder Rilke auf, die er zu seinen Lieblingsdichtern zählte, auch kann man expressionistische Elemente erkennen. Die Dichtung ist häufig düster und voller Verzweifelung angesichts der ausweglosen Lage der Welt, in seiner zweiten Sammlung wird nachdrücklich vor den Gefahren von Faschismus und Totalitarismus gewarnt. Talviks Lyrik ist sorgfältig und sparsam, formal ausgereift, prägnant, erfindungsreich und rhythmisch. Sie ist ein Plädoyer für geistige Freiheit und Selbstbestimmtheit. Die sah der Dichter in Gefahr, er lehnte alle Dogmen ab, die die Freiheit beeinträchtigen konnten, und machte sich Sorgen um die Zukunft der Kultur. In den Schlusszeilen seines Zyklus Dies irae hat er sein Programm formuliert: Meie kohus on sundida saledasse stroofi elementide pime raev. (Talvik 2004, 91; Unsere Pflicht ist es, die blinde Wut der Elemente in eine schlanke Strophe zu zwängen.)

Damit wurde er zum Symbol für die Unabhängigkeit des Geistes und für »den dritten Weg« zwischen Faschismus und Kommunismus, der für einen kleinen Staat wie Estland die einzige Überlebenschance bedeutete. Oder eben zwischen russischer und deutscher Kultur, zwischen denen sich die eigene estnische Kultur zu behaupten hatte.

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Betti Alver

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Talvik stand nicht allein an der Spitze der Gruppe, sondern bildete zusammen mit Betti Alver, mit der er seit 1937 verheiratet war, den Kern der Gruppe. Alver ist 1906 in Jõgeva geboren und ging in Tartu zur Schule. Von 1924 bis 1927 studierte sie estnische Philologie, danach lebte sie über sechzig Jahre bis zu ihrem Tode als freie Schriftstellerin in Tartu, zwischenzeitlich zwar geächtet und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, aber im Gegensatz zu Talvik wenigstens physisch unbehelligt geblieben. Sie hatte mit Novellen begonnen und 1927 und 1930 mit zwei Romanen debütiert; erst danach verlegte sie sich auf das Schreiben von Gedichten. Seit Anfang der 1930er-Jahre veröffentlichte sie Poeme und hatte sich schon damit einen Namen gemacht, aber der wahre Durchbuch erfolgte mit der 1936 erschienenen Gedichtsammlung Tolm ja tuli (Staub und Feuer). Anders als bei dem viel düstereren Talvik wird hier das Hohe Lied der Freiheit und ein Loblied auf die Kunst als die höchste menschliche Ausdrucksform gesungen. Dichtung ist ein Rezept gegen die Widrigkeiten des Lebens. Die Dichterin will, und hierin ähnelt sie Talvik, in formal ausgereiften Versen der drohenden Düsternis entgegentreten. Sie protestiert damit gegen die Übermacht der Materie über den Geist, an dessen Unsterblichkeit sie glaubt. 1939 formulierte sie in einem Gedicht das Credo einer ganzen Generation, wie es Jaan Kross (1992, 5) später gesehen hat. Von ihm stammt auch die deutsche Nachdichtung ihres titellosen Gedichts (Vaim, kandes kord triumfipärgi …): Belorbeert einst der Geist am Feuer, geehrt, geschätzt den Ochsen briet am Spieß. Und heuer? Und jetzt? Es schweigen andachtsvoll die Spießer und – paradox: der Geist, der Geist steckt jetzt am Spieße, doch dreht der Ochs.

Das Gedicht erschien 1940 kurz vor dem Ende der Eigenstaatlichkeit. Betti Alver hat nach den dramatischen Kriegsereignissen lange Zeit geschwiegen und sich mit Übersetzungen über Wasser gehalten, ehe sie in den 1960er-Jahren wieder mit neuen Gedichten an die Öffentlichkeit trat (s. § 40). Als dritte zum Kern der Arbujad gehörende Person kann der eng mit Talvik befreundete Paul Viiding genannt werden. Er war 1904 in Valga geboren, hatte in Tartu Mathematik studiert und einige Zeit bei einer Versicherung gearbeitet, ehe er sich als freiberuflicher Schriftsteller in Tartu niederließ. Ende der 1930er-Jahre ging er nach Tallinn und arbeitete beim Radio und beim Theater. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Sekretär des Schriftstellerver-

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bandes, fiel dann in Ungnade und musste sich als Buchhändler durchschlagen. Ab 1953 war er wieder freiberuflich tätig, ab 1956 auch wieder Mitglied des Schriftstellerverbands. Er starb 1962. Paul Viiding hat nur einen einzigen Gedichtband veröffentlicht und ansonsten vorwiegend Prosa verfasst, darunter auch Literatur für Kinder, Essays und Sciencefiction. Seine Gedichte in Traataed (Drahtzaun, 1935) sind von der Stimmung her denen Talviks vergleichbar, nur vielleicht noch auswegloser und finsterer. Hier dichtete ein skeptischer Pessimist, der eigentlich auch nicht so recht an die Kraft des Geistes, ganz zu schweigen an ein übernatürliches Wesen glauben konnte. Damit bildete er das Gegenstück zu Uku Masing. Der war, falls man die Arbujad in zwei Altersgruppen einteilen möchte, der Älteste der Jüngeren und 1909 in Raikküla in Nordestland geboren. Von 1926 bis 1930 hatte er in Tartu Theologie und semitische Philologie studiert, danach bildete er sich u. a. in Deutschland fort und war ab 1933 Dozent an der theologischen Fakultät in Tartu. Nicht ausschließlich die politischen Umwälzungen, die die Schließung der theologischen Fakultät mit sich brachten, sondern auch die geistige Unabhängigkeit des intellektuellen und gebildeten Masing führten dazu, dass er über die Hälfte seines Lebens im Verborgenen wirkte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er beim Konsistorium der Estnischen Evangelisch-lutherischen Kirche angestellt und für die Pastorenausbildung mitverantwortlich, aber seine Abweichungen von den herrschenden lutherischen Dogmen führten 1964 zu seiner Entlassung. Fortan lebte er freiberuflich und mehr geduldet als gefördert in Tartu und war hauptsächlich wissenschaftlich tätig. Uku Masing hatte großen Einfluss auf die jüngeren Intellektuellen in Tartu durch eine Art inoffiziellen literarischen Salon, zu dem sein Haus wurde. Dabei spielten seine Bildung, Belesenheit und unkonventionelle Denkweise eine herausragende Rolle, weniger vielleicht seine Dichtung. Für Masing persönlich trifft ganz sicher zu, was cum grano salis auf die Esten allgemein zutrifft und von ihm selbst in einem Essay 1940 formuliert worden ist: »Kleine Völker haben schon deswegen einen weiteren Horizont, weil sie an der Existenz der anderen nicht vorbeikönnen.« (Masing 1989, 144) Das Gros von Masings Werk ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden (s. § 43), aber auch die einzige in den 1930er-Jahren publizierte Gedichtsammlung rechtfertigte seine besondere Stellung und Aufnahme in den Arbujad-Kreis, obwohl er inhaltlich nicht allzu viele Übereinstimmungen mit den anderen Mitgliedern der Gruppe aufwies. Als besondere und neue Dichtung – immerhin lautete der Untertitel der Anthologie »Auswahl neuester estnischer Dichtung« – verdiente sie jedoch unbedingt der Erwähnung. Nach frühen Gedichtproben in den 1920er-Jahren erschien 1935 Masings Debütband Neemed vihmade lahte (Landzungen in der Regenbucht). Hier ist die Dich-

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tung insofern religiös, als metaphysische Kräfte angesprochen werden oder ein Gott ganz deutlich vorhanden ist, ohne dass es sich dabei um den christlichen Gott im engeren Sinne handeln müsste. Bei Masing findet man auch pantheistische Züge und Bezüge zur fernöstlichen Gedankenwelt. Kompositorisch waren seine Gedichte ebenfalls neuartig, sie verwendeten teils den freien Vers, waren teils gereimt und zeichneten sich durch einen reichen Wortschatz aus; in ihrer komplizierten Komposition haben sie aber auch etwas Schwerfälliges. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die einzelnen Gedichte keine eigenen Überschriften haben und man das ganze Buch auch als ein langes Poem lesen könnte. Bernard Kangro ist 1910 in Südestland geboren und studierte von 1929 bis 1937 in Tartu estnische Philologie, allgemeine Literaturwissenschaft, Philosophie und Folkloristik. Er debütierte im gleichen Jahr wie Masing mit dem Band Sonetid (Sonette) und veröffentlichte vor Kriegsausbruch noch zwei weitere Gedichtbände. Während der deutschen Besatzung war Kangro an der Universität, später am Theater tätig, 1944 setzte er sich über Finnland nach Schweden ab, wo er zum Motor der estnischen Exilgemeinschaft, zumindest was die Literatur betrifft, wurde. Der Hauptteil seines Werkes ist dementsprechend im Exil erschienen, weswegen er an anderer Stelle ausführlicher behandelt wird (s. § 39). Seine frühen Sonette waren intensive Naturbilder, geradezu Idyllen, die durch Prägnanz und Stilsicherheit bestachen. Nicht zufällig hatte der angehende Magister seine Abschlussarbeit über die Geschichte des estnischen Sonetts geschrieben. Obwohl bei Kangro das »beschwörende« Element im engeren Sinne, wie es vielleicht am besten bei Alver und Talvik dingfest gemacht werden kann, fehlte, war seine Aufnahme als eine wichtige jüngere Stimme bestimmt berechtigt. Durch die späteren Ereignisse wurde Kangro dann zu einem Kontinuitätswahrer, als die anderen »Beschwörer« zum Schweigen verurteilt waren. Die beiden »Nesthäkchen« der Achtergruppe bildeten wiederum ein Paar, Kersti Merilaas und August Sang. Von ihnen war Merilaas, die 1913 in Narva geboren war, nach ihrem Schulabschluss einige Jahre gearbeitet und sich 1936 nach der Eheschließung mit Sang in Tartu niedergelassen hatte, die Einzige, die zwar schon in Looming publiziert hatte, von der es aber noch kein Buch gab, als die Arbujad-Anthologie Anfang 1938 erschien. Ihr Debüt Maantee tuuled (Winde der Landstraße) erfolgte erst im Dezember des gleichen Jahres, dann aber gleich bei einem angesehenen Verlag (Kiin 1989, 63). Die Aufnahme dieses Buchs war ausgesprochen positiv, stellenweise sogar begeistert. Hervorgehoben wurde die überwiegend optimistische Grundstimmung der Liebes- und Naturlyrik, ein anderes Kennzeichen ist die besondere Musikalität der Gedichte, die später zu zahlreichen Vertonungen führte. Al-

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lerdings musste die Dichterin erst eine Zwangspause einlegen, während der sie sich auf das Abfassen von Kinderliteratur beschränkte. Anfang der 1960erJahre trat sie erneut an die Öffentlichkeit (s. § 40). August Sang ist 1914 in Pärnu geboren und trat 1934 sein Studium in Tartu an, das er aber mehrmals unterbrechen musste, um Geld zu verdienen, und das er 1942 schließlich abbrach. Nach dem Krieg war er freiberuflicher Dichter und Übersetzer, zwischenzeitlich von 1950 bis 1956 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Er hatte 1933 in einer Jugendzeitschrift sein erstes Gedicht veröffentlicht, ein Jahr später auch in Looming, und 1936 erfolgte das Buchdebüt mit der Sammlung Üks noormees otsib õnne (Ein junger Mann sucht das Glück). Hier sagt der Titel schon alles: Wie Viiding und Talvik gehörte auch Sang zu den Suchenden, und dabei ging es nicht nur um das Glück, sondern auch um die Wahrheit, die Begriffe sind synonym. Auch in seinem zweiten Gedichtband, Müürid (Mauern, 1939), dominiert diese idealistische Suche, wobei die pessimistischen Zwischentöne leicht zugenommen haben. Gleichzeitig ist die Liebesthematik, die im ersten Band noch vorhanden war, geschwunden. Danach verlegte sich Sang aufs Übersetzen und hat 45 Bücher vorwiegend aus dem Deutschen, Französischen, Russischen und Tschechischen übersetzt. Gemeinsam mit Alver und Merilaas trat er in einem zweiten Frühling Anfang der 1960er-Jahre wieder in Erscheinung (s. § 40). Die acht in der Arbujad-Anthologie vertretenen Personen weisen zwar Gemeinsamkeiten auf, aber sie bildeten keine homogene Gruppe mit einem fest umrissenen Programm. Ihr gemeinsamer Nenner war jedoch die Ablehnung von Ismen und die Betonung der Dominanz des Geistes gegenüber der Materie. Diese Haltung kommt nicht von ungefähr und ist vor dem Hintergrund der historischen und kulturellen Entwicklung Estlands zu sehen. Durch den geringen Altersunterschied verfügten sie über einen vergleichbaren Erfahrungs- und Bildungshorizont, was die Einteilung in eine eigene Generation zulässig macht. Wenn fortan von der Arbujad-Generation gesprochen wird, ist im weiteren Sinne die Altersgruppe der bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ca. 20- bis 30-Jährigen gemeint, nicht nur die acht in Oras’ Anthologie vertretenen Personen. Sie hatten den Aufbau der eigenen Republik miterlebt und begannen sie mitzugestalten; und folgerichtig wollten sie einen eigenen Weg zwischen den Blöcken, zwischen Links und Rechts, zwischen Russland und Deutschland, zwischen der deutschen und der russischen Kultur gehen.

§ 35 Der Zusammenbruch des literarischen Lebens

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Kapitel VII Schreiben in literaturfeindlicher Zeit: Sowjetisierung, Krieg, Besetzung und Exil (1940–1953) § 35 Der Zusammenbruch des literarischen Lebens Zdanovs Mission Mit dem Politbüromitglied Andrei Zdanov hatte Stalin 1940 einen seiner engsten Vertrauten als Sonderbeauftragten nach Estland geschickt, der auf eine steile Karriere als Parteifunktionär und Säuberer zurückschauen konnte. Er traf zwei Tage nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Tallinn ein und sollte vor Ort dafür sorgen, dass die Sowjetisierung zügig und reibungslos verlief. Als Erstes nahm er sich die Bildung einer neuen Regierung vor, die bereits am 21. Juni 1940 vom amtierenden Präsidenten Päts ernannt wurde. Die elfköpfige Regierung bestand aus Parteilosen oder Angehörigen von Linksparteien, sie enthielt kein Mitglied der damals verbotenen Kommunistischen Partei, denn der demokratische Schein sollte gewahrt bleiben. Durch die Auswahl von zum Teil bekannten Intellektuellen sollte ein gewisser Rückhalt in der Bevölkerung erreicht werden. Drei Regierungsmitglieder kamen aus dem literarischen Leben: Ministerpräsident wurde Johannes Vares (Barbarus), Außenminister Nigol Andresen, der sich als Kritiker und Übersetzer der einschlägigen Werke von Marx und Engels einen Namen gemacht hatte, und als Bildungsminister wurde Johannes Semper eingesetzt. Ferner kann man den stellvertretenden Ministerpräsidenten Hans Kruus, der Geschichtsprofessor in Tartu war, zu diesem Kreis zählen. Der Spielraum dieser Regierung war bekanntlich sehr begrenzt, obendrein endete ihre Tätigkeit schon sechs Wochen später mit der Aufnahme Estlands in die Sowjetunion am 6. August 1940. Einen Tag vorher waren in Estland die Uhren eine Stunde vorgestellt worden – man befand sich in der Moskauer Zeitzone. Vares wurde nun Vorsitzender des Obersten Sowjets der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik, Andresen Volkskommissar für Bildungsangelegenheiten, Semper dessen Stellvertreter und später Direktor

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Kapitel VII: Schreiben in literaturfeindlicher Zeit

der Staatlichen Kunstverwaltung, Kruus wurde als Rektor der Tartuer Universität eingesetzt. Die Politik der neuen Machthaber konzentrierte sich auf die Auswechslung der politischen Eliten, was für viele Inhaftierung und Deportation bedeutete, und die Änderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, d.h. die Umstellung auf die Planwirtschaft, was Enteignungen und Vergesellschaftungen und im November den Übergang von der Estnischen Krone zum Rubel mit sich brachte. Die Intellektuellen hatte man in dieser Phase noch nicht unbedingt im Visier. Jedoch konnte nicht ausbleiben, dass in einer Situation, in der nächtliche Besuche vom Geheimdienst an der Tagesordnung waren, auch der eine oder andere Schriftsteller betroffen war. Exponiertestes Beispiel ist der Pädagoge und Kinderbuchschriftsteller Jüri Parijõgi, der von Andresen im September 1940 gegen seinen Willen zum Direktor des Lehrerseminars in Tartu ernannt worden war und dort nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion noch im Juli 1941 zu Befestigungsarbeiten abkommandiert wurde. Kurz darauf wurde er abgeholt und in einem Blutbad, das die abziehenden sowjetischen Truppen im Juli 1941 im Tartuer Zentralgefängnis anrichteten, gemeinsam mit knapp 200 Mitgefangenen ermordet. Ein ähnliches Schicksal ereilte Julius Oengo, der im August 1941 kurz vor dem Eintreffen der deutschen Truppen in Westestland von den Sowjets inhaftiert und wenig später vermutlich umgebracht worden ist. Und auch Johannes Hiiemets, der Pfarrer war und einige Erzählungen über die Herrnhuter publiziert hatte, wurde 1941 vom sowjetischen Geheimdienst abgeholt und starb 1942 in einem Straflager. Nicht besser erging es dem Dramatiker und Kritiker Karl Ferdinand Karlson und dem Verleger und Schulbuchautor Jaan Ainelo, die 1941 inhaftiert wurden und wenig später in Sibirien starben. Andere, wie der 1940 inhaftierte Journalist und Feuilletonist Evald-Abram Jalak, überlebten die Haft und konnten später nach Estland zurückkehren. (Vgl. den Überblick bei O. Kruus 1990) Getroffen wurde das Literaturleben auch durch die Umstrukturierungen im wirtschaftlichen Bereich. Die Verlage wurden verstaatlicht, wobei es auch hier zu Verhaftungen kommen konnte: Hans Männik, Mitbegründer und Direktor des Loodus-Verlags, wurde festgenommen und in ein sowjetisches Straflager überführt, wo sich seine Spur verlor. Anstelle der ca. 100 Verlage traten fünf zentrale Staatsverlage, von denen jeder sein eigenes Fachgebiet hatte: Politische Literatur, pädagogische Literatur, wissenschaftliche Literatur, Belletristik und Kunst sowie Periodika. Ebenso wurden die Druckereien verstaatlicht und zu größeren Einheiten zusammengefügt, so dass von den dreißig Tallinner Druckereien 1941 noch etwa ein Drittel übrig war. Die totale Kontrolle über eine in zwanzig Jahren gewachsene pluralistische und marktwirtschaftliche Gesellschaft war natürlich nicht über Nacht zu

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erlangen, aber viele laufende Projekte wurden sehr schnell gestoppt. Vom Ergänzungsband der Estnischen Enzyklopädie konnte nur noch die erste Hälfte erscheinen, auch andere mehrbändige Titel brachen abrupt ab (Liivaku 1989, 462), und die meisten für ein literarisches Leben essenziellen Zeitungen und Zeitschriften mussten ihr Erscheinen einstellen. Die letzte Nummer von Varamu erschien im Juni 1940, die letzte Ausgabe der Zeitschrift Eesti Kirjandus kam im August 1940, der Postimees schaffte es noch bis Ende September – um nur einige wenige zu nennen: Insgesamt wurden in den ersten zwei bis drei Monaten unter Zdanov, der später mit Blick auf seine Aktivitäten in der Sowjetunion allgemein als »Stalinscher Oberaufseher über das Geistesleben« (Hildermeier 1998, 397) bezeichnet worden ist, 212 Publikationen eingestellt (Medijainen 1991, 27). Nur Looming konnte weiterhin unter gleichem Namen erscheinen, denn schließlich war der amtierende Chefredakteur Semper Minister geworden. Naturgemäß war in einer solchen Situation die literarische Produktion außerordentlich niedrig. Im ersten sowjetischen Jahr sind gerade einmal zehn neue belletristische Werke erschienen, die freilich zum größeren Teil noch vor der Annexion geschrieben worden waren und sich daher nicht für eine separate literaturhistorische Betrachtung eignen. Die meisten von ihnen sind im Kontext eines umfangreicheren Werkes oder anderer Perioden zu sehen. Ein Grund für die niedrige Produktion ist nicht nur das abwartende und vorsichtige Schweigen vieler Autorinnen und Autoren, sondern auch die erneute strenge Zensur, die allgemeine Regulierung des Lebens und der Bedarf an anderen Druckschriften, der die Kapazitäten der Druckereien in Anspruch nahm. So wurde bereits im Oktober 1940 in einer Auflage von 25 000 Exemplaren ein Schnellkurs in der Geschichte der bolschewistischen Partei gedruckt (Kaup 2005, 82), da blieb verständlicherweise nicht mehr viel Raum für Belletristisches. Außerdem waren im Zuge der Verstaatlichungen Hunderte von Büchern, die sich im Prozess der Herstellung befanden, nicht erschienen (vgl. Veskimägi 1996, 87). Den grausamen Abschluss des ersten sowjetischen Jahres bildete gut eine Woche vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion die Massendeportation von ca. 10000 estnischen Männern, Frauen und Kindern. Sie wurden am 14. Juni 1941 in Viehwaggons in sowjetische Straflager oder die sibirische Verbannung abtransportiert. Darunter befanden sich auch wieder Personen des literarischen Lebens wie etwa der Übersetzer und Literaturwissenschaftler Georg Meri oder der Journalist und Dramatiker Elmo Ellor. Andere entgingen diesem Schicksal durch Zufall oder das Glück, dass sie vorerst nicht für eine Deportation vorgesehen waren. Sie waren danach aber so verschreckt, dass sie nachts nicht mehr zu Hause schliefen und sich tagsüber im Schoße

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der Natur verborgen hielten wie beispielsweise August Mälk (Vinkel 2000, 1551). Mit dieser letzten großen Einschüchterung hatte Zdanov seinen Auftrag vorerst erfüllt. Die Axt in der Bibliothek Das Problem bei der plötzlichen Aufoktroyierung einer neuen Ideologie ist indes, dass diese weder in ein geistiges noch in ein materielles Vakuum kommt, sondern in dem fraglichen Raum schon das eine oder andere vorhanden ist. Die Übernahme der Verlage und Druckereien und die Verbannung unliebsamer Elemente konnten nicht rückwirkend stattfinden, d.h. sie änderte nichts an dem Umstand, dass die Bevölkerung die letzten zwanzig Jahre hindurch in einer relativ freien Gesellschaft gelebt und dementsprechend zum Beispiel auch umfangreiche Buchbestände aufgebaut hatte. Oder auch nur Telefonbücher besaß. Die aber waren gefährlich, da sie auch die Anschlüsse der ausländischen Vertretungen in Tallinn enthielten, also wurden als eine der ersten Maßnahmen in allen öffentlichen Einrichtungen aus den Telefonbüchern die entsprechenden Seiten herausgerissen. Die Bibliotheken stellten ein viel gefährlicheres Potenzial dar, das es entweder zu beseitigen oder wenigstens unter Verschluss zu halten galt. Den Anfang machte man mit dem, was die neuen Machthaber für Trivialliteratur hielten. Eine Liste mit 29 solcher schädlichen Bücher, wozu zum Beispiel auch Dumas’ Der Graf von Monte Christo gehörte, wurde bereits am 29. Juli 1940 erstellt. Die zum Teil noch lieferbaren Titel sollten eingesammelt und vernichtet werden. Was man kriegen konnte, wurde verbrannt, in Tallinn zum Beispiel im Kessel eine Rangierlok (Medijainen 1991, 28). In der Folgezeit wurden immer wieder einzelne Bücher herausgegriffen und verboten, bis man dazu überging komplette Listen von zu vernichtender Literatur zu erstellen. Dazu wurde eine Kommission ins Leben gerufen, die am 23. August 1940 unter dem Vorsitz von August Alle zum ersten Mal zusammentrat. Andere Mitglieder waren August Jakobson, Rudolf Sirge, Mihkel Jürna und der damals schon mit einigen Kinderbüchern in Erscheinung getretene Paul Rummo. Diese Kommission tagte bis zum 19. November zehnmal und stellte vier – auch publizierte – Listen mit Büchern zusammen, die verboten und aus den Bibliotheken entfernt werden sollten. Zusätzlich gab es Listen mit Büchern, die nur zum Teil verboten waren, d. h. aus denen einige Seiten herausgerissen werden mussten (Medijainen 1991, 35). Die Gesamtzahl der von dieser ersten Kommission verbotenen Bücher beläuft sich auf 1552 Titel, von denen etwa ein Drittel auf Russisch war. Das Schwergewicht lag auf politischen,

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d. h. allen von der Parteilinie abweichenden und im weitesten Sinne als sowjetfeindlich oder antikommunistisch interpretierbaren Werken, auf religiösen oder philosophischen Schriften (Krischnamurti, Freud, Steiner) und auf historischen Darstellungen wie etwa Büchern über den estnischen Freiheitskrieg. Belletristische Werke waren weit weniger betroffen. Aber auch die kamen bald an die Reihe, von Personen wie Johannes Aavik, Artur Adson, Jaan Lattik, Jüri Parijõgi, Gustav Suits oder Marie Under wurde jedes Werk auf den Index gesetzt, von anderen nur einzelne Titel. Die Aussortierung und Vernichtung betraf den Buchhandel und die öffentlichen Bibliotheken, Sammlungen von Privatpersonen wurden nicht in großem Maßstab vernichtet. Hier kam man über Aufforderungen, gewisse Bücher abzugeben, nicht hinaus, und diesen Aufforderungen kamen die meisten Esten nicht nach, wenngleich es hier und dort übereifrige Pioniere gab, die zu Hause bei ihren Eltern und Großeltern Bibeln aufspürten und diese im Ofen verbrannten (Saard 2004, 845). Die Gründung der estnischen Abteilung der allmächtigen sowjetischen Hauptverwaltung für Literatur- und Verlagsangelegenheiten, Glavlit (Glavnoe upravlenie po delam literatury i izdatel’stva), erfolgte am 23. Oktober 1940 und führte zu einer Perfektionierung der Literaturvernichtung. Gleichzeitig war eine Organisation ins Leben gerufen worden, die für fast ein halbes Jahrhundert das Symbol für Fremdherrschaft, Zensur und Unfreiheit wurde und deren bloße Existenz schon ein Staatsgeheimnis war. Die erste Aufgabe der Glavlit bestand in der Koordinierung und Ausführung der Büchervernichtung. Dazu wurden alle indizierten Titel zu zwei Sammelstellen beordert, der Staatsbibliothek in Tallinn und der Tartuer Universitätsbibliothek. Dort wurden sie zunächst gelagert, mit der physischen Vernichtung wurde erst im Juni 1941 begonnen, so dass der Direktor der Tartuer Universitätsbibliothek noch das eine oder andere Exemplar retten konnte. In Tallinn geriet man dermaßen in Verzug, dass der Kriegsausbruch die komplette Durchführung verhinderte. Auch hier konnten einige Tausend Bände gerettet werden. Die konkrete Vernichtung der Bücher war ausgesprochen roh: Sie wurden mit der bloßen Hand zerrissen, mit großen Messern zerschnitten oder auf einen Hackklotz gelegt und mit Äxten zertrümmert. Hilfsarbeiter, die anderthalb Rubel Stundenlohn bekamen, hatten über zwei Wochen lang alle Hände voll zu tun, und die russischen Papierfabriken wurden mit großen Mengen Altpapier versorgt (A. Lõhmus 2002, 16). Die Gesamtzahl der in diesem ersten sowjetischen Jahr vernichteten Bücher ist kaum zu ermitteln, sie wird auf etwa 200000 Bände geschätzt (Medijainen 1991, 42). Letztendlich war dies aber nur ein Vorspiel. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wurden zahlreiche Sammlungen vernichtet und während der deut-

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schen Besetzung kamen ca. 400 Titel auf den Index (A. Lõhmus 2002, 17). Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten die sowjetischen Behörden ihren Vernichtungsfeldzug gegen schädliche Literatur in großem Stile fort. Nun wurden Bücher der Einfachheit halber auch wieder verbrannt (Liivaku 1989, 464). Spätere Schätzungen kommen zu extrem hohen Zahlenangaben, was den Gesamtverlust an estnischen Druckwerken in diesen Jahren anbetrifft. Bei Glavlit hatte man nun nämlich ein neues Niveau erreicht: Anstelle von Listen mit verbotener Literatur erstellte man jetzt Listen mit erlaubter Literatur, was die Vernichtung merklich erleichterte (Lotman 1991, 105). Einer vagen Schätzung des Literaturwissenschaftlers und Bibliophilen Jaan Roos zufolge, der selbst über eine der größten estnischen Privatbibliotheken verfügte und diese in die Tartuer Universitätsbibliothek und das Literaturmuseum retten konnte, waren von den ca. zwölf Millionen Bänden estnischer Druckwerke, die 1939 existiert hätten, fünfzehn Jahre später nur noch zwei Millionen vorhanden (J. Roos 1988, 673), andere Schätzungen hinsichtlich der Gesamtzahl der vernichteten estnischen Druckwerke sprechen von 20–26 Millionen (A. Lõhmus 2002, 20) oder 25–30 Millionen (Liivaku 198, 466). Für die Entwicklung der Literatur sind solche Zahlen keineswegs irrelevant, da sie ein deutliches Bild von den kulturellen Verwüstungen der Zeit geben und gleichzeitig eine Vorstellung davon, in welchem Umfeld die Nachkriegsgeneration in Estland aufwuchs. Aivo Lõhmus, der im Januar 1988 als Erster diesen Teil der estnischen Buchgeschichte in einem Zeitungsartikel einer breiteren Öffentlichkeit vorstellte, gab seinem Artikel damals den treffenden Titel »Jedes Buch ist ein Wunder« (A. Lõhmus 2002, 12–21). Gleichschaltung Die meisten gesellschaftlichen Organisationen, Verbände und Vereinigungen wurden nach der sowjetischen Okkupation aufgelöst. Auch der Schriftstellerverband konnte sich seine Unabhängigkeit nicht bewahren und musste sich mit dem gesamtsowjetischen Verband vereinigen. Nachdem hierzu die notwendigen Maßnahmen ergriffen worden waren, wurde der alte Verband am 19. Oktober 1940 offiziell für aufgelöst erklärt. Auch für eine zutiefst kapitalistische Institution wie das Kulturkapital hatte man keine Verwendung mehr, es wurde zwar noch mit einem neuen Vorsitzenden (August Jakobson) versehen, schlief aber bald ein und wurde im Frühjahr 1941 offiziell aufgelöst. Was nicht vertilgt werden konnte, machte man sich auf andere Weise gefügig. Die den alten Regierungskreisen nahe stehende Zeitung Uus Eesti (Neues Estland), die zeitweise direkt unter der Ägide des Propagandaminis-

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ters gestanden hatte, erschien ab dem 22. Juni 1940 unter dem neuen Namen Rahva Hääl (Volksstimme), nachdem dem Chefredakteur der Revolver auf den Schreibtisch gelegt worden war (Veskimägi 1996, 83). Wie hastig die Übernahme war, zeigen allerdings die abgebrochenen Sätze und leeren Stellen jener ersten Nummer: Zwischen Satz und Druck hatte die Zensur noch einige Sätze inkrimiert, für einen Neusatz reichte aber die Zeit nicht mehr, so dass die Spuren der Zensur eindeutig sichtbar sind (Veskimägi 1996, Abbildung 12). Schrittweise wurden auch die anderen Zeitungen, die nicht eingestellt wurden, neu ausgerichtet. Zunächst nur inhaltlich, indem die Redaktionen instruiert bzw. umbesetzt wurden, nach und nach dann auch im Titel, dem neben einer gnädigerweise weiterhin zugestandenen Ortsbezeichnung unbedingt das Adjektiv »rot« oder Beinamen wie »Kommunist« oder »Bolschewist« beigefügt werden musste. So wurde der Postimees am 28. September zum Tartu Kommunist, die Zeitung Lõuna-Eesti (Südestland) hieß ab dem 2. Oktober Valga Enamlane (Der Bolschewist von Valga), und der Virumaa Teataja (Bote von Virumaa) wurde am 11. Oktober zum Punane Virumaa (Rotes Virumaa). Daneben gab es Neugründungen wie die kulturelle Wochenzeitung Sirp ja Vasar (Hammer und Sichel), deren erste Nummer im Oktober 1940 erschien. Der Volksmund hat diesen Umbenennungsrausch später um eine imaginäre Variante bereichert und die Legende in die Welt gesetzt, es habe in dem Städtchen Tapa kurzfristig eine Zeitung mit dem Namen Tapa kommunist gegeben: Da der Name dieses Eisenbahnknotenpunktes unglücklicherweise homonym mit dem Imperativ des estnischen Verbs für ›töten‹ (tapma) ist, hätte man den Zeitungsnamen dann als ›Töte den Kommunisten‹ statt ›Kommunist von Tapa‹ übersetzen können, und die wenig später lancierte Version Tapa edasi bedeutete leider auch ›Töte weiter‹ statt ›Tapaer Vorwärts‹. Tatsächlich hieß die Zeitung in dem Provinzstädtchen aber Edasi Kommunismile (Vorwärts im Kommunismus), und sie wurde erst 1951 gegründet. Selbst bei literarischen Zeitschriften wurde mitunter dasselbe Verfahren angewandt. Die letzte Ausgabe der von Visnapuu herausgegebenen dicken Kultur- und Literaturzeitschrift Varamu (Schatzkammer) war am 14. Juni 1940 gedruckt worden, zwei Monate später erschien im selben Format und in nahezu gleicher Aufmachung, in der selben Druckerei gedruckt und mit dem gleichen Untertitel Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kultur versehen, die Zeitschrift Viisnurk (Sowjetstern). Selbst die Architekturbeilage war beibehalten worden, nur hieß sie nicht mehr Eesti arhitektuur, sondern bloß Arhitektuur. Statt dem Grundriss eines Pärnuer Strandcafés oder der Fassade eines Blockhauses aus Südostestland konnte man jetzt die Pavillons der einzelnen Sowjetrepubliken auf der allsowjetischen Landwirtschaftsausstellung

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bewundern. Der Redakteur dieser Architekturbeilage war die einzige Person aus der alten Varamu-Redaktion, alle anderen waren ausgewechselt worden, anstelle Visnapuus wurde Aadu Hint neuer Chefredakteur. Inhaltlich konzentrierte man sich erwartungsgemäß ganz auf die neue Linie, wo 1938 noch ein Frontispiz mit Konstantin Päts prangte, strahlten einem nun Lenin und Stalin entgegen, und eine Autorität wie Maxim Gor’kij durfte den Sozialistischen Realismus erklären. Aber es gab auch noch Spuren vergangener Zeiten, indem hier Novellen von zwei alten Bekannten, Peet Vallak und Pedro Krusten, erschienen. Zumindest die Novelle von Krusten hat nicht die geringsten Bezüge zum Juni-Umschwung oder dem Geist der neuen Zeit, während Vallaks Kurzgeschichte einen erkennbaren sozialistischen Anstrich hat und einen angepassten Eindruck erweckt. Bei Looming war die Anpassung an die neue Ideologie im Namen nicht sichtbar, und auch die Einsetzung von Tuglas als Chefredakteur – Semper hatte bekanntlich anderes zu tun – weist nicht unbedingt auf eine Kehrtwende. Trotzdem war dies inhaltlich sehr wohl der Fall, Tuglas waren die Hände gebunden. Statt Gor’kij musste in der ersten sowjetischen Nummer Mait Metsanurk der Leserschaft den Sozialistischen Realismus erklären, und Semper ließ sich in einem Artikel Der große Oktober und unsere Intellektuellen über die Segnungen und das Verständnis der Russischen Revolution von 1917 aus. In der zum ersten Jahrestag des Juni-Umschwungs als Jubiläumsausgabe erschienenen Doppelnummer vom Mai/Juni 1941 wollen manche sogar in dem dick aufgetragenen sowjetischen Ton in Beiträgen von Tuglas, Sang oder Suits eine Ironisierung der herrschenden Verhältnisse gesehen haben (Eelmäe 2003, 574), festzuhalten bleibt auf jeden Fall, dass unterm Strich die Anpassung an die herrschenden Verhältnisse bei Looming im Rahmen der Möglichkeiten weniger stark als bei den meisten anderen Publikationen ausfiel. Es war kein Zufall, dass dies auch die einzige Publikation war, deren Name nicht geändert wurde. 1950 stand es noch einmal auf des Messers Schneide, als ein paar brave Sozialisten den Namen der Zeitschrift zu unpolitisch fanden und sich für eine Änderung einsetzten, aber letztlich blieb es beim alten Namen (s. Olesk 2000, 165). Im Weiteren war die völlig neue, um 180 Grad gedrehte kulturelle Ausrichtung ein entscheidender Faktor bei der Sowjetisierung der Gesellschaft: Die einstigen Europäisierungsbestrebungen der Noor-Eesti-Generation, die immer noch einen Teil der Kulturelite bildete, wurden beinahe im buchstäblichen Sinne abgeändert in Asiatisierungsbestrebungen, wenn man bedenkt, dass der größere Teil der Sowjetunion in Asien lag und dass der Kulturimport nun von hier erfolgte. Der war für die neuen Machthaber allein schon deswegen viel leichter und sicherer, weil man dann aus einer Kultur importierte, die

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über zwei Jahrzehnte mit Zensur und Totalitarismus vertraut war, und man sich über ideologische Abweichungen keine Gedanken zu machen brauchte. So stieg in diesen Jahren auch der reine Textimport aus der russischen und anderen sowjetischen Kulturen enorm (vgl. Liivaku 1989), was im Zusammenspiel mit der Axt die Abtrennung Estlands von der westeuropäischen Kultur befördern sollte. Diese 1940 eingeleitete Politik, wie auch die Zensur (vgl. als ausführlichen Überblick, auch für spätere Zeiten Veskimägi 1996), hielt – mit der Unterbrechung durch die Nazizeit, die ihre eigenen Gräuel mit sich brachte – bis weit in 1980er-Jahre hinein an und war nicht nur für die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägend, sondern ist dies im Grunde genommen bis auf den heutigen Tag. Die große gesellschaftliche Verunsicherung, aber auch die tatsächliche Unsicherheit hinsichtlich dessen, was noch möglich war und was nicht, kann abschließend durch das folgende Beispiel aus studentischen Kreisen illustriert werden. Solche Kreise sind weltweit stets (mit)verantwortlich für Unangepasstheiten und ein Schwimmen gegen den Strom, im Falle Estlands trifft das für die Jahre 1940/41 ganz besonders zu, weil es sich hier praktisch um die erste Generation an der Universität handelte, die ihr ganzes Leben in relativer geistiger Freiheit verbracht hatte. Sie war gegenüber dem Regime von Päts kritisch eingestellt gewesen, deswegen aber noch lange nicht Befürworter des Juni-Umschwungs. Nun gab es eine studentische Gruppe, die ausprobieren wollte, wie weit man unter den neuen Machthabern gehen könne. Ihr ging es dabei um die Betonung der estnischen Eigenständigkeit, konkret fragten sie sich, wie »national« man in dieser Stimmung von Internationalismus und Sozialismus wohl noch schreiben könnte. Diesen Drahtseilakt auszuprobieren erklärte sich Jaan Kross (s. § 46) im Frühjahr 1941 bereit; er war damals ein literarisch interessierter Jurastudent, der in Schüleralmanachen und Zeitschriften auch schon kleinere Arbeiten publiziert hatte. Nun verfasste er einen Essay über Kristian Jaak Peterson (vgl. § 16), den er mutig übertitelte mit Über den ersten estnischen Kulturrevolutionär. In ihm stellte der Autor einige der bekannten Details aus Petersons Leben in einen etwas anderen Kontext, beleuchtete sie von einer etwas anderen Perspektive aus und zog etwas andere als die bislang vielleicht üblichen Schlussfolgerungen. Er wollte sehen, wie weit man den Bogen spannen konnte oder musste. Gegen Ende des Artikels heißt es: »Unsere heutige Gesellschaft ist kürzlich über die Schwelle der Revolution getreten und sieht sich damit neuen Perspektiven und neuen Verpflichtungen ausgesetzt. Das ist der Moment, in dem man neben aktuellen Vorbildern nach den revolutionären Traditionen unserer eigenen Geschichte zu suchen beginnt. Eine solche Sichtweise wird bald konstatieren müssen, dass Kristian Jaak Peterson, dieser erste Dichter

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von uns, der erste Philosoph, der erste Nationalist [estn. rahvuslane, was eine weniger negative Konnotation hat, CH] – dass er auch gleichzeitig unser erster Revolutionär war.« (Kross 1976, 16). Der Versuch schlug damals fehl, d. h. der Artikel wurde nicht publiziert. Aber es gab auch keine negativen Konsequenzen. Der Essay erschien erst 1976 in einer Essaysammlung von Kross, ohne viel Aufsehen zu erregen. Wenn man den Artikel heute liest, kann man sich des Eindrucks einer giftigen Realsatire nicht erwehren, aber damals war es bitterer Ernst und nicht ohne Risiko. Schlusspunkt Die ersten vierzehn Monate unter sowjetischer Besetzung waren nur der Anfang in einer Kette von Ereignissen, die berechtigt, von einem völligen Zusammenbruch des literarischen Lebens zu sprechen. Das nächste einschneidende Ereignis war die Ausweitung des Zweiten Weltkriegs auf estnisches Territorium, was die schreibende Zunft vorerst für drei Jahre auseinander riss, da ein Teil in die sowjetische Emigration ging (s. § 36). Als sich gegen Ende des Krieges und nach einer über dreijährigen deutschen Besatzung eine Rückeroberung durch sowjetische Truppen mitsamt einer Wiederherstellung der Sowjetmacht abzeichnete, verließ abermals ein erheblicher Teil der Schriftstellerinnen und Schriftsteller das Land, diesmal in die andere Richtung (s. § 37). Die Daheimgebliebenen sahen sich mit einer Kulturpolitik stalinistischer Prägung konfrontiert, die – vorsichtig formuliert – der Entfaltung eines blühenden literarischen Lebens nicht gerade dienlich war. Außerdem entledigte sich die Staatsmacht auf die übliche Weise unliebsamer Elemente: Kurz nach der Rückkehr der sowjetischen Truppen wurde mit Enn Uibo, der in Zeitungen viele Gedichte und Prosa publiziert hatte, im Herbst 1944 der erste Dichter verhaftet und nach Sibirien geschickt. 1945 ereilte ein ähnliches Schicksal Boris Kabur, Raimond Kaugver, Helmut(h) Tarand und Heiti Talvik sowie die Literaturwissenschaftler August Annist, Mart Lepik, August Palm, Rudolf Põldmäe und die Literaturwissenschaftlerin Aino Undla-Põldmäe, auch einige Übersetzerinnen und Übersetzer wurden nicht verschont. In den späteren 1940er-Jahren traf es noch Jaan Kross und den Dichter Juhan Sinimäe. Nicht alle von ihnen wurden für längere Zeit nach Sibirien verschickt, bei einigen beschränkte sich die Haft auch auf einige Monate, aber die demoralisierende Auswirkung auf das literarische Leben war groß genug. Zum Instrumentarium Stalin’scher Politik gehörte neben Einschüchterung, Denunziation und Verfolgung auch die Verbannung größerer Bevölkerungsgruppen nach Sibirien. Zdanovs Aktion von 1941 wurde nun – auch

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ohne Zdanov – fortgesetzt. Um das Rückgrat des Volkes zu brechen, wurde im März 1949 eine neuerliche Massendeportation durchgeführt, der diesmal doppelt so viele Menschen zum Opfer fielen. Die überwiegende Mehrheit der ungefähr 20000 Verbannten waren Frauen (ca. die Hälfte) und Kinder (ca. 30 %). Diese Aktion war gegen die Landbevölkerung gerichtet und betraf daher weniger konkret das Literaturleben, aber für die estnische Kultur allgemein war es ein einschneidendes Ereignis. Eines der verbannten Kinder war der später sehr bekannte Schriftsteller Arvo Valton (s. §§ 45, 47). Zum vorerst letzten großen Schlag gegen das Kulturleben wurde Ende 1949 ausgeholt, als die Revolution ihre eigenen Kinder zu verschlingen begann. Mit dem nahezu tödlichen Vorwurf des »Bürgerlichen Nationalismus« wurden zahlreiche Personen aus dem öffentlichen Kulturleben verbannt und ihrer Ämter beraubt, teilweise auch inhaftiert und deportiert. Dies betraf sowohl Personen, die sich bis dahin zurückhaltend behauptet hatten wie Leida Kibuvits, Bernhard Linde, Hugo Raudsepp, Marta Sillaots oder Friedebert Tuglas oder die daheim gebliebenen und im Gegensatz zu Talvik nicht inhaftierten Arbujad wie Betti Alver, Kersti Merilaas, August Sang und Paul Viiding, als auch jene aktiven Sowjetisierer der etwas älteren Generation, die in den Augen der strammen Stalinisten offenbar zu lange in der bürgerlichen Republik gelebt hatten: Andresen, Kruus und Semper verschwanden auf diesem Wege für eine Zeit völlig aus dem öffentlichen Leben. Aber auch ein vermeintlich linientreuer Nachkriegsdebütant wie Osvald Tooming entging der Treibjagd nicht und musste für fünf Jahre hinter Schloss und Riegel. In welcher ständigen Angst die Menschen damals lebten, illustriert das Beispiel von Tuglas, der in seinen Tagebuchaufzeichnungen mitteilt, dass er nach dem Beginn der Hetzkampagne 1950/51 anderthalb Jahre lang niemals vor zwei Uhr ins Bett gegangen ist, weil erst um diese Stunde die nächtlichen Verhaftungen aufhörten (Tuglas 1997, 52). Die meisten Fälle von Inhaftierungen und Verbannungen sind mittlerweile gut dokumentiert worden (O. Kruus 1990), auch die desaströsen ersten Jahre unter Stalins Herrschaft sind detailliert analysiert worden (vgl. Olesk 2000, A. Raudsepp 2000). Wenn man alle Einzelfälle, die im Vorangegangenen nur angedeutet worden sind, zusammennimmt, wird das Ausmaß der ungeheuren Zerrüttung, der das estnische literarische Leben in diesen anderthalb Jahrzehnten ausgesetzt worden ist, deutlich. Ebenso klar dürfte sein, dass deren Nachwirkungen bis ins 21. Jahrhundert hinein andauern.

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§ 36 Kampfdichtung aus dem Hinterland Evakuierung Den neuen Machthabern blieb nicht viel Zeit für die Umstrukturierung der Gesellschaft, da gut ein Jahr nach dem Juni-Umschwung Hitlers Überfall auf die Sowjetunion erfolgte und ganz andere Probleme dräuten. Im Vorfeld hatte es nicht nur die erste Massendeportation gegeben, sondern analog dazu war auch die so genannte »Nachumsiedlung« erfolgt, im Rahmen derer diejenigen Deutschen, die sich 1939 aus verschiedenen Gründen nicht zum Weggang entschlossen hatten, doch noch dem Land den Rücken kehrten. Die Erlaubnis hierzu war in zähen Verhandlungen erreicht worden, die im Januar 1941 in eine deutsch-sowjetische Vereinbarung einmündeten. Insgesamt verließen bis kurz vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 7000 Personen das Land Richtung Deutschland, wobei es sich aber allenfalls um 4300 Deutsche gehandelt haben dürfte, den Rest machten Esten aus, die sich daruntergeschmuggelt hatten. Aus welchen Beweggründen auch immer zogen sie einem Verbleib in der unsicheren und gefährdeten Heimat den Gang in eine ähnlich ungewisse Zukunft nach Nazideutschland vor und hatten sich dazu auf legale – durch Heirat etwa – oder weniger legale Weise die notwendigen Papiere verschafft. Ein anderer Zug setzte sich bald in entgegengesetzter Richtung in Bewegung. Viele Personen, die aktiv an der Umgestaltung der Gesellschaft mitgewirkt hatten, mussten um ihr Leben fürchten, als abzusehen war, dass der deutsche Vormarsch so schnell nicht gestoppt werden würde. Gleichzeitig war auch der Sowjetmacht wenig daran gelegen, diejenigen Eliten, die zur Sicherung und Umstrukturierung ihrer neuen Gebiete eingesetzt worden waren, den Nazis ans Messer zu liefern. Also wurde eine groß angelegte Evakuierung ins so genannte »sowjetische Hinterland« organisiert, der sich anzuschließen allen Personen empfohlen worden war, die sich am sowjetischen Aufbau beteiligt hatten. Ungefähr 25000 Zivilpersonen, zusätzlich noch einmal ca. 40000 Männer, die für die Sowjetarmee mobilisiert worden waren, wurden im Spätsommer und frühen Herbst des Jahres 1941 ins sowjetische Hinterland evakuiert. Hierbei ging es nicht ganz so geordnet zu, wie der Begriff suggeriert, denn die Flucht aus Tallinn, das Ende August 1941 von den Truppen der Deutschen Wehrmacht eingenommen wurde, verlief Hals über Kopf und unter heftigem Beschuss, so dass über ein Viertel der knapp 200 dafür eingesetzten Schiffe versenkt wurde und 5000 Menschen umkamen. Auch verpassten manche den Anschluss und mussten versuchen, die Zeit der deutschen Besetzung zu überleben, wie es mit Rudolf Sirge geschah, der von seiner Familie getrennt wurde.

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Dennoch fand sich ein beträchtlicher Teil der schriftstellerischen Elite des Juni-Umschwungs alsbald auf der östlichen Seite der Front. Von diesem Personenkreis können als die Namhaftesten die Folgenden genannt werden: August Alle, Nigol Andresen, Johannes Barbarus, Erni Hiir, Aadu Hint, August Jakobsen, Mihkel Jürna, Aira Kaal, die neben Gedichten und Publizistik bisher einen Roman publiziert hatte, Jaan Kärner, Enn Kippel, Max Laosson, der als Ideologiewächter und Publizist in Erscheinung getreten war, August Lukin, ein recht unbekannter Dichter, der lange in der Sowjetunion gelebt hatte und zum Juni-Umschwung nach Estland gekommen war, Minni Nurme, die Journalistin Lilli Promet, Mart Raud, Paul Rummo, Johannes Semper und Anton Vaarandi. Er war Chefredakteur der neu gegründeten Kulturzeitung Sirp ja Vasar, die wenig später von seiner damaligen Frau Debora Vaarandi übernommen wurde, die sich ebenfalls unter den Evakuierten befand. Manche angehende oder spätere Schriftsteller gehörten als Mobilisierte oder Freiwillige der sowjetischen Armee an wie zum Beispiel Paul Kuusberg, Juhan Smuul oder Ralf Parve. Dazu kamen noch einige Kritiker und Publizisten, ebenso Literaturwissenschaftler und Übersetzer. Der größte Teil der für die Gestaltung des literarischen Lebens verantwortlichen Persönlichkeiten war in Estland geblieben, dennoch befand sich eine beträchtliche Anzahl in einer fremdsprachigen Umgebung und im Exil. Organisierung des literarischen Lebens Der Verlauf des Krieges und die Größe der Sowjetunion brachten es mit sich, dass diese Exilgemeinschaft nicht kompakt an einem Ort zu finden war. Sie waren über mehrere Orte verteilt, manche wechselten ihren Aufenthaltsort während des Krieges mehrmals. Eines der Zentren war am Anfang Leningrad, das am nächsten lag und für alle, die per Schiff von Tallinn aus evakuiert worden waren, der natürliche erste Anlaufhafen gewesen war. Hier hatte es zudem schon früher ein literarisches Leben gegeben, an das man anknüpfen konnte. Während der Großteil der Evakuierten ins tiefere Hinterland weiterzog, blieb eine kleinere Gruppe um Anton Vaarandi, Lukin und Kippel zurück, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, weiterhin eine estnische Zeitung herauszugeben und diese nach Möglichkeit in die besetzte Heimat zu schmuggeln bzw. mit Flugzeugen abzuwerfen. Trotz der Blockade bestand noch Briefkontakt mit den Autorinnen und Autoren im Inneren der Sowjetunion, so dass die Zeitung ein- bis zweimal im Monat mit Beiträgen, die nicht nur von den Redaktionsmitgliedern stammten, gefüllt werden konnte. Als die Redaktion aufgrund der erbärmlichen Lage in der Stadt mehrere Mitglieder – u. a. Kippel und Lukin – durch Unterernährung verloren hatte,

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schien das Ende nahe, jedoch trafen u.a. Lembit Remmelgas und Max Laosson als Verstärkung ein, so dass die Herausgabe der Zeitung noch bis Ende 1942 fortgesetzt wurde. Dann wurde sie doch nach Moskau verlegt (s. Vaarandi 1962). In Leningrad hatte es ferner den ganzen Krieg hindurch einige Stunden pro Tag estnische Rundfunksendungen gegeben (s. Uusman 1984, 1083); gegen Kriegsende sind hier auch einige estnische Bücher erschienen. Die anderen Orte, in denen sich estnische Gemeinschaften zeitweise konzentrierten, waren Tscheljabinsk im südlichen Ural und das knapp 250 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegene Jaroslavl. Hier hatte es bereits 1942 eine Zusammenkunft von verschiedenen Personen aus dem Kulturleben gegeben, die zu einem losen Verbund geführt hatte. Am wichtigsten war aber Moskau. In der Hauptstadt der Sowjetunion befand sich die größte Gruppe der evakuierten Autorinnen und Autoren, und hier kam man 1943 auch zusammen, um einen sowjetestnischen Schriftstellerverband zu gründen. Schließlich hatte man drei Jahre zuvor hier auch den Grundstein für die Auflösung des alten »bürgerlichen« Verbandes gelegt und eine Kommission zur Ausarbeitung einer neuen, »zeitgemäßen« Satzung eingesetzt, aber die unsicheren politischen Zeiten hatten die Sache verzögert, der Krieg und die Schwerfälligkeit der sowjetischen Bürokratie taten ein Übriges. Nun war es nach langwierigen Vorbereitungen und den notwendigen Absegnungen seitens der Partei (s. Päll 1983) aber soweit, außerdem eignete sich das Jahr besonders, weil man den 600. Jahrestag des St.-Georgsnacht-Aufstands und den 100. Geburtstag von Koidula begehen konnte. Inzwischen waren nämlich Barbarus, Jakobson, Semper und der Kritiker und Übersetzer Oskar Urgart in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen worden, was für die notwendige Einbettung in die gesamtsowjetischen Strukturen sorgte. Diese vier wurden mit der Ausarbeitung einer neuen Satzung beauftragt. Welche Stoßrichtung die neue Vereinigung bekommen sollte, wurde nach dem Referat, das Jakobson am zweiten Tag der Gründungsversammlung im Oktober 1943 hielt, schnell klar: »Anstelle des bisherigen apolitischen Berufsverbandes sollte ein wahrhaft sowjetisches, auf der marxistischen Ideologie basierendes, aktives, mit Leib und Seele sich am sozialistischen Aufbau beteiligendes Kampfinstrument geschaffen werden; anstelle der bisherigen chaotischen, bequemen, sozialen Problemen aus dem Weg gehenden Gruppe, die sich nur auf der Grundlage von Berufsmerkmalen zusammengefunden hatte, sollte ein einheitliches, starkes Kollektiv geformt werden, das mit vollem Bewusstsein auf seinem Weg voranschreitet und die Politik der Partei und der sowjetischen Institutionen propagiert und anwendet.« (zit. nach Päll 1983, 1254). Auf dieser Plattform schlossen sich die anwesenden 20 Personen zum Sowjetestnischen Schriftstellerverband zu-

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sammen und wählten aus ihrer Mitte ein fünfköpfiges Präsidium, das aus Barbarus als Vorsitzendem sowie Jakobson, Kärner, Semper und Urgart bestand. Die Aktivitäten der Mitglieder des Verbandes bestanden in der Versorgung der Radioprogramme, die außer in Leningrad auch in Moskau und einigen anderen Städten gesendet wurden und einen nicht geringen Literaturanteil hatten, und der Erstellung von Almanachen und Zeitschriften, die u.a. die Hebung der Kampfmoral zum Gegenstand ihrer Bemühungen machten. Damit waren sie ganz dem von Jakobson formulierten Programm verpflichtet. Linke Wiedervereinigung? Eigentlich hätten die Evakuierten keine Tabula rasa vorfinden müssen, denn es gab in den 1920er- und 1930er-Jahren ein bescheidenes estnisches literarisches Leben in der Sowjetunion. Immerhin lebten dort schätzungsweise über 150000 Esten, teilweise in kompakten ländlichen Siedlerkolonien bis hin nach Sibirien, teilweise verstreut in den Städten, aber auch hier zum Beispiel in Leningrad in einer starken Konzentration von ca. 50000 (Antik 1939, 172). Überhaupt lebte weit über die Hälfte der 150000 im Leningrader Gebiet und in Karelien. Wenn man bedenkt, dass damit vielleicht ein Siebtel aller des Estnischen mächtigen Menschen in der Sowjetunion lebte, könnte man erwarten, dass sich dazu eine gewisse literarische Infrastruktur herausgebildet hätte. Das war auch durchaus der Fall, aber es gab drei Faktoren, die im Verbunde mit einem vierten endgültigen Todesstoß die Bedeutung dieser Literatur minimierten. Erstens war das Gebiet sehr groß, man befand sich trotz sporadisch kompakter Siedlungsweise aufs Ganze gesehen in einem fremdsprachigen Umfeld in der Diaspora; zweitens lebte man in einem totalitären System Stalin’scher Prägung mit strengen ideologischen Vorgaben, was der Entfaltung von Eigeninitiative nicht gerade förderlich war; drittens war die soziale Zusammensetzung unausgewogen und nicht vergleichbar mit der Diversifizierung in Estland: Einer sehr kleinen Gruppe Linksintellektueller, die nach dem Ersten Weltkrieg der Übersiedlung nach Estland den Verbleib im gelobten sozialistischen Lager vorgezogen hatten, stand eine überwältigende Mehrheit von bäuerlicher und proletarischer Bevölkerung zur Seite. Und viertens: 1937, im Zenit der Stalin’schen Säuberungen und paranoiden Unterdrückungen, als beispielsweise auch etliche Alphabetisierungskampagnen für kleinere Völker und Völkerschaften abgebrochen wurden, erfolgte die Schließung aller estnischen Publikationen und Verlage – aber auch der estnischen Schulen, Theater und Clubs, die es in verschiedenen Städten gegeben hatte –, was neben der

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physischen Vernichtung der exponiertesten Personen auch den völligen Stillstand des literarischen Lebens bedeutete. 1938 ist vermutlich kein einziges estnisches Druckwerk innerhalb der Sowjetunion erschienen (Antik 1939, 169). Als dann drei Jahre später eine größere Gruppe estnischer Autorinnen und Autoren in die Sowjetunion kam, traf sie wohl die eine oder andere literarisch aktive Person an, aber von einer Einbettung in vorhandene Strukturen oder gar einem Anschluss an eine wie auch immer geartete Tradition konnte keine Rede sein. Tabula rasa. Diese Tradition hatte es jedoch gegeben. Die Zahl der in der Zwischenkriegszeit in der Sowjetunion erschienenen estnischen Druckwerke kann man auf gut 1000 ansetzen (EE 11, 549), frühere Quellen nennen 800 (Antik 1939, 169). Der relativ große Unterschied in den Zahlenangaben liegt an der komplizierten bibliographischen Situation und der notorisch schwierigen Abgrenzung gegenüber Flugblatt und Broschüre, die gelegentlich bei Angaben über die Zahl der Druckerzeugnisse miteinbezogen werden. Der Anteil der Drucke, die der Belletristik zuzuordnen wären, ist recht klein und beläuft sich auf etwa ein Siebtel. Den Löwenanteil, ca. die Hälfte machten gesellschaftspolitische oder im weitesten Sinne Propagandaschriften aus, ein gutes Drittel betraf Schulliteratur (Antik 1939, 226). In der Rückschau muss auch deshalb von einem relativ kümmerlichen literarischen Leben gesprochen werden, weil wir es hier mit zwei großen Einschränkungen zu tun haben: Die Publikationen beschränkten sich weitgehend auf Periodika, denn die beiden 1922 und 1923 in Leningrad gegründeten Verlage brachten kaum belletristische Monographien heraus; und zweitens lag das Schwergewicht ganz klar auf der Lyrik; Veröffentlichungen im Bereich von Prosa oder Drama lassen sich fast an den Fingern einer Hand abzählen. Dies sagt auch etwas über den Entstehungshintergrund und -horizont der Literatur aus: In einer Zeit engagierten politischen Kampfes – und darin befand man sich in der Optik der estnischen Autorinnen und Autoren, die sich in jener Zeit in der Sowjetunion aufhielten – hat die mehr Kontemplation und Vertiefung erfordernde Prosa keinen Platz. So ist die Entwicklung der sowjetestnischen Literatur in den 1920er- und 1930er-Jahren eigentlich eine Wiederholung der Genese der estnischen Literatur mit einer zeitlichen Verschiebung von sechzig Jahren. Die Presse war vergleichsweise stabil und erschien seit 1917 kontinuierlich, allen voran die Zeitung Edasi (Vorwärts), die von 1917 bis 1937 in Leningrad (bzw. Petrograd) publiziert wurde, zusätzlich gab es diverse andere Zeitungen. Im Umfeld dieser Zeitungen erschienen dann literarische Beilagen und allmählich auch literarische Zeitschriften. Schließlich gesellten sich belletristische Monographien hinzu, so dass von einer vorsichtigen Auffächerung des literari-

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schen Lebens die Rede sein konnte, der 1937 dann ein Riegel vorgeschoben wurde. Die erste literarische Zeitschrift wurde im September 1920 in Petrograd ins Leben gerufen und brachte es auf zwei Jahrgänge. Trotz ihres Namens Noored Kommunaarid (Junge Kommunarden) war sie nicht auf die Jugend beschränkt, sondern entwickelte sich bald zur allgemeinen Tribüne für die estnische Revolutionsdichtung. Hier debütierten Autoren wie Ain Rannaleet und Oskar Kullerkupp mit ihren Gedichten, die in romantisch-pathetischem Ton das Hohe Lied der Revolution anstimmten. Von Rannaleet sind später auch eigenständige Gedichtsammlungen erschienen, während Kullerkupp über Publikationen in Zeitschriften und Sammelwerken nicht hinauskam. Beide fielen den Säuberungen zum Opfer und starben 1943 im Straflager. Die weiteren in Leningrad erschienenen Zeitschriften waren Oras (Die Saat, 1923–1927) und Säde (Der Funken, 1924–1926). Ihr Schwerpunkt lag ebenfalls auf der Lyrik, bei der Prosa musste man sich mit Übersetzungen und einigen kurzen Originalerzählungen begnügen. Ferner verfügten die Zeitschriften über einen Kritikteil, und es verdient Erwähnung, dass sie sich anfangs noch als Teil einer gesamtestnischen Literatur betrachteten, denn hier wurden auch in Estland erschienene Publikationen rezensiert, ferner erschien 1925 in Oras ein Artikel zum 60. Geburtstag von Eduard Vilde, und auch literaturhistorische Aufsätze konnte man finden. 1927 erhielt Zeitung Edasi die Beilage Leegid (Flammen). Diese Beilage kam bis 1936 heraus und entwickelte sich zum wichtigsten Publikationsorgan der sowjetestnischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, von denen sechs sich mittlerweile zu einer Estnischen Proletarischen Schriftstellerassoziation zusammengeschlossen hatten. Sie bildeten eine Sektion der Leningrader Proletarischen Schriftstellerassoziation. Diese Assoziation bestand bis 1932 und wurde dann vom Estnischen Organisationsbüro beim Gesamtsowjetischen Schriftstellerverband abgelöst, das bis 1937 existierte. In den Leegid hat die schwärmerische Revolutionslyrik dem optimistischen Aufbaupathos Platz gemacht. Hier wird die Bildung der Kolchosen besungen, hier findet man eine balladenartige Hymne auf den Traktor. Für Natur- oder Gefühlslyrik bleibt, wie auch der Chronist der sowjetestnischen Literatur Eduard Päll (1958, 327) eingestehen muss, wenig Raum. Dabei ist das Poem Traktor von Villem Buk, der zur älteren Generation gehörte und bereits vor dem Ersten Weltkrieg einige Bücher in Estland publiziert hatte, tatsächlich eine gelungene Komposition, deren Urheber man eine gewisse Begabung nicht absprechen kann: Im Metrum der estnischen Volksdichtung wird hier in gut 270 Zeilen beschrieben, mit welcher Skepsis die Bauern dem Neuen gegenüberstehen, am Ende aber die Vorzüge der Maschine einsehen

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und nicht mehr ohne Traktor leben wollen. Man kann sich gut vorstellen, das man während der Arbeit auf der Kolchose gemeinsam dieses Gedicht skandierte, so wie es die Ahnen Jahrhunderte zuvor mit der alten estnischen Volksdichtung getan haben. Den Abschluss der Leningrader Publikationen bildete die 1936 und 1937 erschienene Zeitschrift Kommunismi teel (Auf dem Weg des Kommunismus), die als Fusion verschiedener, und nicht nur literarischer, Zeitschriften entstanden ist. Wie man aufgrund des Namens der Zeitschrift schon vermuten kann, ist hierin der belletristische Anteil zurückgegangen, während man im kritischen oder literaturwissenschaftlichen Bereich von einer gewissen Belebung sprechen kann (Päll 1958, 332). Die einzige wichtige literarische Publikation außerhalb Leningrads war eine Beilage des Siberi Teataja (Sibirischer Bote), die in Novosibirsk hergestellt wurde. Hier erschienen zwischen 1926 und 1930 fünf Jahrgänge der Zeitschrift Uus Küla (Das neue Dorf ) mit insgesamt 139 Ausgaben. Erneut ist die Parallele zur Situation in Estland um die Mitte des 19. Jahrhunderts augenfällig: Hauptsächlich wurde hier landwirtschaftliche Aufklärungsliteratur geboten, was dann durch belletristische Einsprengsel – erst Lyrik, allmählich auch ein wenig Kurzprosa – aufgelockert und angereichert wurde. Hier debütierte der Dichter Felix Kotta, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Estland noch fünf Gedichtbände publizierte und auch als Kinderbuchautor hervorgetreten ist. Die ersten eigenständigen Gedichtbände begannen Mitte der 1920erJahre in Leningrad zu erscheinen. Den Auftakt machte 1925 ein Buch von Lukin, dessen Gedichte größtenteils vorher schon in den genannten Periodika erschienen waren, es folgten Gedichtbände von Pöögelmann, Buk, Rannaleet und Peno Alnovo, einem der zahlreichen Terroropfer, dessen genaues Todesdatum im Jahre 1938 unbekannt ist. Auch die drei Prosaisten, die Anfang der 1930er-Jahre mit mehr oder weniger realistischen Erzählungen aus dem Arbeiter- und Kolchosmilieu an die Öffentlichkeit traten, haben das Jahr 1937 nicht überlebt: Peeter Meisel, der vier Bücher veröffentlicht hat, darunter auch einen Roman über die Kollektivierung der Landwirtschaft; Karl Trein mit zwei Büchern über die Arbeiterschaft und den russischen Bürgerkrieg; und Arnold Terijõe, der zwei Bücher über das Leben auf dem Lande und die entsprechenden ideologischen Auseinandersetzungen verfasste. Ihrer Prosa ist ein kämpferischer Ton gemeinsam, und die Prioritäten und Vorlieben sind so eindeutig verteilt, dass die Autoren den engen Leserkreis Gleichgesinnter kaum verlassen haben dürften. Das trifft auch auf die Werke von Valter Leopold Juhkum zu, der sich in zweierlei Hinsicht von den Vorgenannten unterscheidet: Von ihm stammt auch ein Schauspiel, das 1934 erschienene Peetro

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tuli tagasi (Peetro kam zurück) über das Leben auf einer Kolchose, und er starb als Einziger eines natürlichen Todes, nämlich bereits 1934 an Tuberkolose. Als marginale Erscheinung kann an dieser Stelle noch Valter Kaaver genannt werden, der im Zusammenhang mit dem Expressionismus (§§ 28, 31) bereits kurz zur Sprache gekommen ist, dessen Beitrag zur estnischen Literatur aber episodisch blieb. Er hatte sich 1930 in die Sowjetunion abgesetzt, wo er umgehend verhaftet wurde, 1934 wieder freikam und 1937 abermals und diesmal endgültig verhaftet wurde. Er starb 1946 in Gefangenschaft. Einen Sonderfall stellt Johannes Lauristin dar, der unter dem Pseudonym Juhan Madarik zwei Romane veröffentlichte bzw. genauer gesagt veröffentlichen ließ. Er war 1899 in Tallinn geboren und seit 1917 aktives Mitglied der kommunistischen Partei. Infolge seiner politischen Tätigkeit wurde er 1923 in Estland inhaftiert. Die folgenden 15 Jahre verbrachte er mit einer einmonatigen Unterbrechung (1931) in Gefangenschaft, ehe er 1938 amnestiert wurde. Die nächsten beiden Jahre arbeitete er bei einer Krankenversicherung, 1940 nahm er begeistert am Juni-Umschwung teil. Er war einer der oben genannten 5000, die 1941 bei der Evakuierung aus Tallinn umkamen. Juhan Madarik hatte im Gefängnis einen Roman geschrieben und nach Leningrad schmuggeln können, wo ihn Jaan Anvelt 1929 unter dem Titel Riigikukutajad (Die Umstürzler) herausgab. Ursprünglich war der Titel Punased pilved (Rote Wolken) vorgesehen, aber Anvelt hatte aus konspirativen Erwägungen heraus den Titel geändert und noch andere Änderungen vorgenommen. Der Roman handelt vom Beginn der 1920er-Jahre in Estland, als einige kommunistische Untergrundkämpfer sich auf einen bewaffneten Aufstand vorbereiten, und ist einer der »Klassiker« der frühen proletarisch-sozialistischen Prosa. Madarik setzte seine schriftstellerische Karriere im Gefängnis fort und schrieb weitere Erzählungen über den Arbeiter- und Klassenkampf. 1936 begann er mit der Arbeit an dem Roman Vabariik (Die Republik). Hierbei handelte es sich um einen groß angelegten Entwicklungsroman über einen armen jungen Mann vom Lande, der in der Stadt mit sozialistischem Gedankengut in Berührung kommt und sich mit seinesgleichen im politischen und sozialen Kampf vereinigt. Das Werk trägt unverhüllt autobiographische Züge, wie schon am Namen der Hauptperson deutlich wird: Die heißt Ants Vasak, was man mit Hans Links übersetzen kann, und Madariks Vater Hans war tatsächlich Ende des 19. Jahrhunderts als Fabrikarbeiter nach Tallinn gekommen. In der späteren sowjetischen Literaturgeschichtsschreibung ist dieser Roman sowohl mythologisiert als auch mystifiziert worden: Zum Mythos wurde das Werk aufgrund der tragischen Biographie seines Autors und der brav sozialistischen, legendären Thematik; das Mysterium besteht darin, dass verschiedene Quellen frei heraus behaupten, das Werk sei ursprünglich als Pen-

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talogie angelegt worden, obwohl es bis auf Aussagen von Mitgefangenen, denen gegenüber der Autor angeblich von einem geplanten fünften Teil gesprochen habe (EKA IV, 2, 469), keinerlei weiteren Hinweis darauf zu geben scheint. Weil eine Pentalogie seit Tammsaare etwas Heiliges in der estnischen Literatur ist, wollten manche auch Juhan Madarik die Aura eines großen Romanciers verpassen. Was vorliegt, sind jedoch nur drei Teile. Den ersten vollendete der Autor 1938 nach der Haftentlassung, er erschien 1941, wurde aber kurz darauf ein Opfer der deutschen Besetzung und vernichtet. 1947 wurde er dann neu aufgelegt. Das Manuskript des zweiten Teils ist unvollendet, der dritte Teil fehlt völlig. Teil vier ist wieder erhalten und wurde 1953 gemeinsam mit dem fragmentarischen zweiten Teil und dem ersten in einer Gesamtausgabe veröffentlicht. Damit liegt immerhin ein recht umfangreicher Roman von 180000 Wörtern vor, der aber auch bei wohlwollendster Betrachtung nicht als »verhinderte Pentalogie« in einem Atemzug mit anderen großen Romanen der estnischen Literatur genannt werden kann. Dazu ist das Werk zu fragmentarisch und vor allem auch zu plakativ. Es verdient nur als Bindeglied zwischen Estland und der estnischen Literatur in der Sowjetunion Erwähnung. Bei der Beurteilung der in der Sowjetunion gedruckten estnischen Literatur kann man Eduard Päll, der selbst unter dem Pseudonym Hugo Angervaks ein Vertreter dieser Literatur war und nach einigen Novellensammlungen aus den 1930er-Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Gedichtbände vorgelegt hat, nur zustimmen: Im Schlusswort seines 1958 in Estland erschienenen informativen Überblicksartikels über die Entwicklung dieser Literatur betont er, dass die »sowjetestnische Literatur jenseits des Stacheldrahts Hand in Hand mit der hiesigen estnischen progressiven Literatur für keinen Moment das Kampfbanner des estnischen arbeitenden Volkes aus der Hand gegeben hat« (Päll 1958, 338). Denn durch diese Reduzierung auf ein einziges Thema hat sich die sowjetestnische Literatur die Möglichkeit benommen, einen eigenen Ast am Baum der estnischen Literatur zu bilden. Sie war nur ein dünner Zweig. Das Wort als Waffe Vor diesem Hintergrund ist sehr zu bezweifeln, dass die Gruppe der 1941 aus Estland evakuierten Personen Versuche unternahm, mit dem in der Sowjetunion möglicherweise vorhandenen Potenzial in Kontakt zu treten. Was sich hier nun entwickelte, war eine eigene und völlig neue Exilliteratur, die auf der Basis der frischen Kriegserfahrungen und der Bedrohung durch den Nationalsozialismus entstanden war. Vom sowjetischen Hinterland aus bemühten

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sich die estnischen Intellektuellen nun um eine moralische Unterstützung ihres Volkes und, wenn möglich, um eine Demoralisierung des Feindes. Dieser Feind war insofern ein »dankbares« Opfer, als er ein alter Bekannter und in den Augen mancher Esten der Erzfeind ihres Volkes war, der nun wieder einmal ihr Land besetzt hatte. Es war also nicht schwer, Parallelen zu früheren Zeiten zu finden und diese publizistisch entsprechend auszuschlachten. Und genau darauf lag der Schwerpunkt der literarischen Tätigkeit: Viel mehr als publizistische und feuilletonistische Wortmeldungen kann man nicht ausmachen, wenn man die literarische Produktion jener Jahre genauer unter die Lupe nimmt. Die verschiedenen Überblicke aus sowjetischen Zeiten – neuere Untersuchungen liegen nicht vor, da sich niemand mehr für das Thema interessiert – verweisen meist stolz auf eine Anzahl von über 200 Titeln, die im Zeitraum von 1941 bis 1944 im sowjetischen Hinterland gedruckt worden seien. Das schließt traditionellerweise auch Broschüren und Schulbücher mit ein, und sobald man alles Nichtliterarische sowie Neuauflagen von literarischen Titeln abgezogen hat, behält man eine Gesamtmenge von etwa einem Dutzend an Erstdrucken übrig. Der größere Teil sind Gedichtsammlungen, und zwar durchweg von Dichtern, die schon eine gewisse Erfahrung hatten und ihre Kunst nun vor den Karren der Politik spannten, was schon den Titeln der Sammlungen abzulesen ist. Von Barbarus erschien die Sammlung Relvastatud värsid (Bewaffnete Verse, 1943), von Semper Ei vaikida saa (Man kann nicht schweigen, 1943), von Raud Sõjasõna (Kriegswort, 1943) und von Kärner gleich zwei Sammlungen, Kodumaa käsk (Der Befehl der Heimat, 1943) und Viha, ainult viha (Hass, nur Hass, 1944). Gerade bei Kärner wird deutlich, wie sehr die Dichtung nicht nur in den Dienst des heroischen Kampfes gestellt wurde, sondern dass auch ein neues Element in Gestalt der Verherrlichung der Sowjetunion und der Völkerfreundschaft hinzugekommen ist. Im Band Viha, ainult viha findet sich das Gedicht Leningrad – Uural – Moskva, dessen Titel offenbar die Stationen des Dichters im Exil wiedergeben soll. Da heißt es in dem hymnischen Beginn über Leningrad u.a.: »Hier spricht bei jedem Schritt die berühmte Geschichte«, was im Munde eines Dichters aus Estland, dessen Hauptstadt um etliche Jahrhunderte älter ist als Peters Gründung aus dem 18. Jahrhundert, etwas Groteskes und Rührendes an sich hat. Die weiteren Gedichtbände aus dieser Zeit stammten von Alle (Epigramme, 1944) und Hiir (Võidule, Zum Sieg, 1944). Andere im sowjetischen Hinterland zusammengestellte Gedichtbände, die teilweise von Nachwuchsautorinnen und -autoren stammten, konnten dann schon nach der Rückeroberung Estlands durch die Sowjetunion im Herbst 1944 in Tallinn erscheinen.

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Die Ausbeute bei der Prosa war noch magerer und betraf nur zwei Novellenbände von Jakobson und ein Buch von Paul Keerdo, der ein ähnliches Schicksal wie Juhan Madarik erlitten hatte: Während der Republikszeit war er lange in Estland im Gefängnis und kam erst 1938 frei. Einige seiner Erzählungen waren während seiner Haft erschienen, nun veröffentlichte er 1943 in Moskau die an Eduard Bornhöhe erinnernde (s. § 21) Sammlung Tasuja (Der Rächer) mit Partisanen- und Fronterzählungen. Von Paul Rummo schließlich erschien 1943 ein Jugendbuch. Wichtiger als diese sporadischen Büchlein waren die Periodika. In den estnischen Zeitungen, die zum Teil auch kleinere literarischen Beilagen hatten, wurden immer wieder Gedichte abgedruckt. Hier finden sich viele Verse von Ralf Parve, der schon Ende der 1930er-Jahre in Zeitungen debütiert hatte, sein erstes Buch aber erst nach dem Krieg vorlegte. Und in einer Zeitung wurde 1943 auch das erste Gedicht von Juhan Smuul gedruckt, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer der wichtigsten Figuren des literarischen Lebens aufstieg (s. § 38). Weitere Gedichte von Smuul sind in der Zeitschrift Sõjasarv (Das Kriegshorn) gedruckt worden, die mit ihren sechs Ausgaben zwischen 1943 und 1944 die bedeutendste Publikation des sowjetischen Exils während des Zweiten Weltkriegs war. Sie erinnerte mit ihrem Umfang zwischen 112 und 144 Seiten noch am ehesten an eine echte literarische Zeitschrift und weckte diesen Eindruck auch durch ihr vergleichsweise regelmäßiges Erscheinen und die Mischung aus Originalliteratur – in der Mehrheit Lyrik, aber auch Prosa –, Übersetzungen, Essayistik und Kritik. Auch hier überwog der martialisch-heroische Ton, eine andere als die Kriegsthematik lässt sich kaum ausfindig machen. Von den Vignetten, die häufig am Ende eines Textes abgedruckt sind, enthält nahezu jede einen Stahlhelm, ein Gewehr, einen Soldaten, eine Kriegsszene oder die Sowjetfahne, die im Übrigen auch schon auf dem Einbanddeckeln prangt. Ohne derlei Attribute ging es in jenen Jahren nicht. Wichtig war aber, dass hier ein Forum bestand, in dem zahlreiche Autorinnen und Autoren ihre Texte publizieren konnten. Zu ihnen gehörte auch Debora Vaarandi, die zwar bereits in den 1930er-Jahren in der Presse debütiert hatte, ihren nach dem Krieg erfolgten Durchbruch als Dichterin aber u.a. mit ihren Gedichten in Sõjasarv vorbereitete. In der Rückschau lassen einen das triefende Pathos und die an Schlachtrufe gemahnende Plakativität die Gedichte schnell aus der Hand legen. Sicherlich war diese Lyrik zeitgebundener als irgendeine andere Art von Zeitdichtung (vgl. § 28), die es je in der estnischen Literatur gegeben hat. Dennoch ist unübersehbar, dass es viele ernst meinten und mit ihren Versen einen Beitrag zur Überwindung des Elends leisten wollten. Dass dieses Elend

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zu einem nicht geringen Teil auch von dem mitverschuldet war, den einige nun in ihren Gedichten mit Lobpreisungen überschütteten – Stalin höchstpersönlich –, wurde dabei stillschweigend übergangen. Aber etwas anderes als grobe Schwarzweißmalerei war in diesen Zeiten nicht möglich. Der schwarze Part fiel dabei in der Hauptsache Hitlerdeutschland und den Besetzern in Estland zu, nur zu einem geringeren Teil den daheim gebliebenen Kolleginnen und Kollegen. Allerdings hat es gegen Kriegsende Flugblätter gegeben, in denen Kivikas, Mälk und Gailit als Quislings verurteilt wurden (Vinkel 1998, 1237), und Alle hat dieselben drei in seinen Epigrammen, die ebenfalls aus dem Flugzeug über Estland abgeworfen wurden, als »Handlanger der Gestapo« bezeichnet (Vinkel 2000, 1560). Für das Gesamtbild der estnischen Literatur ist diese an literarischen Ereignissen an sich arme Periode aus zwei Gründen wichtig: Erstens gehören die hier entstandenen Texte unbestreitbar zum Gesamtkorpus der estnischen Literatur, und zweitens braucht man sie für ein Verständnis der Nachkriegszeit, die zum Teil durch eine Zweiteilung der estnischen Literatur und eine starke Polarisierung gekennzeichnet ist.

§ 37 Exodus Literatur unter deutscher Besetzung In Estland waren die Rahmenbedingungen für die Literatur nicht viel besser als im sowjetischen Hinterland, wenngleich den Daheimgebliebenen der Flüchtlingsstatus und das Gefühl, in der Diaspora zu leben, fehlten. Aber der innerhalb eines Jahres durcheinander gewirbelte Literaturbetrieb, die Besetzung durch Truppen eines totalitär organisierten Staates und die Tatsache, dass man sich im Krieg befand, schufen eine vergleichbare Situation. So war die Druckproduktion mit knapp 950 Titeln (Tomingas 1997, 20) wohl viel größer als innerhalb der Exilgemeinschaft in der Sowjetunion, aber man muss berücksichtigen, dass nach Vollständigkeit strebende Bibliographien auch Kleinstschriften ab vier Seiten Umfang (z.B. Nr. 334 bei Tomingas 1997), Reiseführer für Soldaten (Nrr. 390–394) und sogar private Vervielfältigungen (Nr. 536) anführen. Das Gros der Publikationen fiel zudem unter die Rubrik Schulbücher, da hier aufgrund der plötzlichen ideologischen Kehrtwendungen Nachholbedarf bestand. Wenn man den Blick auf die belletristischen Neuerscheinungen reduziert, ist die Ausbeute recht mager. Mehr als knapp 20 Titel sind im fraglichen Zeitraum kaum auszumachen. Erschwerend kam hinzu, dass es bei

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den Zeitungen und Zeitschriften nicht viel besser aussah, beispielsweise konnte vom Sommer 1941 bis Ende 1944 auch Looming nicht erscheinen. Als Ersatz hierfür bemühte sich Visnapuu um die Herausgabe eines Almanachs Ammukaar (Armbrustbogen), was ihm zweimal (1942, 1943) glückte. Hier wurde anhand von Gedichten und Novellen ein Querschnitt durch die zeitgenössische Literatur geboten, während der Anteil der Literaturkritik gering blieb, Rezensionen fehlten völlig. Damit waren diese Almanache entfernt dem auf der anderen Seite der Frontlinie erscheinenden Sõjasarv vergleichbar, das es in seinen sechs Nummern allerdings auf 784 Seiten brachte, während die beiden Ammukaar-Hefte zusammen lediglich 369 Seiten hatten. Dem steht gegenüber, dass die strikte ideologische Ausrichtung des Sõjasarv keine analoge Widerspiegelung in den unter der Naziherrschaft publizierten Almanachen fand. Es gab zwar eine strenge Zensur, und was erschien, durfte das braune Regime in keiner Weise in Frage stellen, aber diese Anpassung an die äußeren Zwänge führte nicht dazu, dass die Esten plötzlich das Loblied auf die germanische Rasse oder dergleichen angestimmt hätten. Es gab nahezu keine nationalsozialistische estnische Literatur. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden literarischen Lagern liegt darin, dass die Mehrheit des sowjetischen Exils der Lyrik verpflichtet war, während die Daheimgebliebenen sich hauptsächlich mit Prosa und Bühnenliteratur befassten. An Lyrikbänden sind während der deutschen Besatzung gerade einmal zwei erschienen: Von Marie Under (vgl. § 29) und Henrik Visnapuu (vgl. § 31). Dazu kann man allenfalls noch einen Band mit Kindergedichten von Kersti Merilaas rechnen sowie Betti Alvers Versuch einer Veröffentlichung: Sie erhielt von den Zensurbehörden jedoch keine Genehmigung für ihren geplanten Band Elupuu (Lebensbaum), so dass dessen Gedichte erst in ihren späteren Nachkriegssammlungen verstreut publiziert worden sind. Immerhin erschienen in den Kriegsjahren sieben Romane, von denen einige auch heute noch zum Stammrepertoire der estnischen Prosa gehören. Sie markieren damit eine Kontinuitätslinie, die es so betrachtet bei der Kampfdichtung aus dem Hinterland, die ein zeitlich begrenztes Phänomen blieb, nicht gab. Im Einzelnen waren das die folgenden Werke: August Gailits Ekke Moor, der gleich drei Auflagen erlebte, und Romane von Mälk und Hindrey, die oben (§ 33) bereits behandelt worden sind; eine überarbeitete Version von Kivikas’ Nimed marmortahvlil (s. § 33) sowie einen realistischen Roman über das Landleben aus der Feder desselben Autors (Karuskose, 1943); ein Roman von Ain Kalmus (s. § 39), und schließlich der dritte Roman von Karl Ristikivis so genannter Tallinn-Trilogie (s.u.). Im Bereich der Kurzprosa fanden sich Publikationen von etablierten Schriftstellern wie Tuglas, Mälk, Raudsepp und Pedro Krusten. Naturgemäß sind in dieser Phase auch Werke

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entstanden, die erst viel später publiziert wurden, weil die Zensurumstände eine Veröffentlichung nicht zuließen oder weil die Genehmigungsprozedur so langwierig war, dass die Autoren von einer Veröffentlichung absahen und ihre Texte erst einmal in der Schublade ließen. Hierzu gehört beispielsweise Tuglas’ Viimne tervitus (s. § 26), was erst 1957 erschien. Was an neuen dramatischen Texten auf die Bühne kam – etwa Stücke von Mälk, Raudsepp und Visnapuu –, wurde gar nicht gedruckt, sondern blieb Manuskript und ist später teilweise verloren gegangen. Ein allegorisches Stück über estnische Unabhängigkeitsbestrebungen von Hugo Raudsepp, das 1943 nach kurzer Zeit von den deutschen Behörden verboten worden war, wurde erst 1988 erneut inszeniert und erschien danach im Druck (Vaheliku vapustused, ›Vaheliks Erschütterungen‹, 2003). Der lastende Zensurdruck der Besatzungsmacht und die Papierknappheit eines Krieg führenden Landes wirkten sich lähmend auf das literarische Leben aus. Erst Ende 1943 wurde die Erlaubnis zur Wiederaufnahme der Tätigkeit des Schriftstellerverbandes beantragt, nachdem nichtpolitische Vereinigungen in den besetzten Gebieten zugelassen worden waren. Im Dezember 1943 konnte aus den 35 aktiven Schriftstellerinnen und Schriftstellern ein fünfköpfiger Vorstand mit Gustav Suits an der Spitze gewählt werden. Die übrigen Vorstandsmitglieder waren Pedro Krusten, Heiti Talvik, Friedebert Tuglas und Peet Vallak. Ziel des Verbandes waren die Pflege der literarischen Kultur und die Wahrung der Interessen der Mitglieder, aber die konkreten Gestaltungsmöglichkeiten waren begrenzt. Von einer direkten kollaborationistischen Tätigkeit der Schriftsteller kann schwerlich gesprochen werden, wenn man August Mälks Theaterstücke Lõunatuul (Südwind) und Ellen Paas, die erfolgreich während der deutschen Besatzung inszeniert worden sind und nachdrücklich gegen die sowjetische Besetzung Estlands Stellung bezogen, nicht dazurechnen will. Solche Texte wurden nach dem Zweiten Weltkrieg und der Rückkehr der sowjetischen Besatzungsmacht – völlig korrekt – als »antisowjetisch« abgestempelt und ihre Urheber verteufelt. Antikommunismus ist indes noch nicht zwangsläufig Kollaborationismus mit den Nazis. Eher könnte man schon Mälks Aufrufe an Estlands junge Männer, in die so genannte Estnische Legion (Eesti legioon) einzutreten, so interpretieren, denn diese Estnische Legion operierte seit dem Sommer 1942 im Rahmen der Waffen-SS und war kein unschuldiger Zusammenschluss freiheitsliebender Esten.

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Karl Ristikivis erste Romantrilogie Einer der wichtigsten Autoren der Übergangszeit, der aufgrund seiner gebrochenen Biographie – er debütierte Ende der 1930er-Jahre, schrieb auch unter der Nazibesatzung weiter und ging danach ins Exil – einer widrigen Rezeptionssituation ausgesetzt war und erst mit erheblicher Verzögerung angemessen ins Bewusstsein des Lesepublikums gelangte, war Karl Ristikivi. Er war 1912 in Westestland als Sohn einer ledigen Dienstmagd geboren und hatte nach einem mühseligen Bildungsweg erst die Handelsschule in Tallinn und 1932 das Tallinner College absolviert. Für ein Studium reichte das Geld nicht, stattdessen arbeitete Ristikivi in verschiedenen Anstellungen und verdiente sich sein Geld auch mit Stundengeben. Nebenher schrieb er die eine oder andere Kindergeschichte, mit denen er 1935 und 1936 so viel Preisgeld bei Literaturwettbewerben einheimste, dass er sich seinen Studientraum doch noch verwirklichen konnte. 1936 begann er mit dem Geographiestudium in Tartu, das er 1942 cum laude abschloss. Zu jenem Zeitpunkt war Ristikivi schon ein anerkannter Nachwuchsschriftsteller. 1943 trat er freiwillig in die Wehrmacht ein und arbeitete dort einige Monate als Übersetzer, ehe er sich im November des gleichen Jahres nach Helsinki absetzte. Hier arbeitete er kurze Zeit im so genannten Eesti Büroo, das zur Unterstützung der nach Finnland geflohenen Esten ins Leben gerufen worden war. 1944 zog Ristikivi weiter nach Schweden, wo er als Angestellter bei einer Versicherung und später bei einer Krankenkasse ein Auskommen fand, sich ansonsten aber ausschließlich dem Schreiben widmete und über ein Dutzend Romane, dazu eine Gedichtsammlung, kürzere Prosa und literaturkritische Essays verfasste. Er starb 1977 in Stockholm. Die so genannte Tallinn-Trilogie von Karl Ristikivi ist keine Trilogie im engeren Sinne, denn die drei Bücher weisen lediglich inhaltliche Übereinstimmungen auf, sind ansonsten aber nicht durch bestimmte Personen miteinander verknüpft. Ihre Erscheinungsjahre verdeutlichen bereits, warum die Rezeption unter einem ungünstigen Stern stand: 1938 kam Tuli ja raud (Feuer und Eisen) heraus, das den ersten Preis im Loodus-Wettbewerb erhielt und von der Kritik sehr gelobt wurde. Ende 1940, ein halbes Jahr nach dem Juni-Umschwung, kam Võõras majas (In fremdem Hause) heraus, dessen Titel Ristikivi auf Drängen der sowjetischen Zensur abgeändert hatte. Ansonsten hatte die Zensur aber keine weiteren Beanstandungen – vermutlich, weil man durch die kritische Darstellung eines Emporkömmlings dem Roman sogar antikapitalistische Züge abgewinnen konnte. Spätere Auflagen erhielten den ursprünglich vorgesehenen Titel Õige mehe koda (Das Haus des rechtschaffenen Mannes), was der sowjetischen Zensur zu bürgerlich bzw. biblisch

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geklungen hatte. Unter wieder ganz anderen politischen Umständen erschien 1942 dann das dritte Buch, Rohtaed (Der Kräutergarten). Tuli ja raud kann sowohl als Arbeiter- als auch als Bildungsroman bezeichnet werden, ebenso wird durch die große Zeitspanne, die abgedeckt wird, ein umfassendes Bild von den gesellschaftlichen Entwicklungen in Estland gezeichnet. Im Zentrum stehen die Geschicke des Arbeiters Jüri Säävel und seiner Familie im Zeitraum zwischen 1885 und 1936. Säävel war vom Lande in die Stadt gekommen und lebte dort ein unspektakuläres Leben, das ohne Extreme auskommt. Weder verelendet seine Familie noch kommt sie so recht auf einen grünen Zweig, stattdessen werden die kleinen und großen Begebenheiten, Veränderungen und Entwicklungen im Stile einer Familienchronik beschrieben. Wenn die Ansiedlung im Arbeitermilieu die Parallele zu früheren Prosawerken aus den 1920er-Jahren etwa von Jakobson oder Sirge nahe legt, so unterscheidet sich Ristikivis Darstellung von diesen jedoch durch eine viel größere Abstraktion, Abgeklärtheit und auch Nüchternheit in der Beschreibung. Der Roman, in dem Schlüsselszenen der estnischen Geschichte wie die Revolution von 1905 oder der Freiheitskrieg zur Sprache kommen, ist frei von jeder eindeutigen Ausrichtung oder Bewertung und neigt zum Philosophischen, wie es bei Tammsaare der Fall ist. Mit ihm ist Ristikivi auch am häufigsten verglichen worden, was nicht zuletzt daran liegt, dass Tammsaare seinerzeit eine lobende Rezension zu Tuli ja raud verfasst hatte. Der zweite Roman behandelt ein völlig anderes Milieu und spielt in der Kaufmannsschicht. Im Zentrum steht hier Jakob Kadarik, der sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet hat und seinen Reichtum in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zu bewahren versucht. Der Titel In fremdem Hause ist daher nicht völlig abwegig, da sich der Neureiche am Ende auf etwas obskure Art ein Kaufhaus angeeignet hat, das er ehrlicherweise eigentlich nicht sein eigen nennen kann. Risitkivis ursprüngliche Titelvergabe zielte aber darauf ab, dass sich der emporarbeitende Unternehmer als rechtschaffen und ehrlich versteht – ohne Rücksicht darauf, was die Umgebung von ihm denkt und mit welchen Mitteln das Ziel erreicht worden ist. Die Spannweite ist bei diesem Roman noch größer als bei Tuli ja raud, stellenweise werden bis zu fünf Generationen behandelt. Darüber hinaus ist der Roman reich an dramatischen Ereignissen und meisterhaften Milieudarstellungen, weswegen ihn die Kritik gerne mit Thomas Manns Buddenbrooks verglichen hat. Der dritte Roman spielt wie die vorangegangenen ungefähr im gleichen Zeitraum, d.h. ca. dem letzten halben Jahrhundert vor seinem Erscheinen, und hat diesmal einen Vertreter der städtischen Intelligenz zur Hauptperson. Von diesem Juulius Kilimit, der ebenfalls seinerzeit vom Lande in die Stadt

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übergesiedelt ist, werden drei Lebensabschnitte dargestellt, die man als Lehrjahre, Reifezeit und Lebensabend bezeichnen könnte. Kilimit ist wie Säävel ein Mann des Durchschnitts, dem keine Katastrophen widerfahren, der aber auch nicht besonders glücklich wird, in einer faden Ehe lebt und relativ erfolglos Gedichte schreibt. So wird auch hier ein Bild des kleinen Mannes, der höher hinaus will, gezeichnet, ohne dass verkannt würde, das er durchaus einiges erreicht hat. Aufgrund des vergleichbaren Sujets und der verbindenden Klammer des Schauplatzes Tallinn ist die Romanserie zu Recht als Trilogie bezeichnet worden. Sie zeigt – in souveräner Stilsicherheit und nicht ohne Humor geschrieben, dabei in der Grundstimmung leicht pessimistisch –, wie vor dem Hintergrund des beherrschenden deutschen Bürgertums zwischen den 1880er- und den 1930er-Jahren ein estnisches (Klein)Bürgertum entstand. Durch ihre kompakte Erscheinungsweise innerhalb von vier Jahren und einen Gesamtumfang von 380 000 Wörtern hätte das Werk eigentlich von späteren Generationen unmittelbar in einem Atemzug mit Tammsaares Wahrheit und Recht genannt werden müssen, doch haben der Zeitpunkt des Erscheinens und der spätere Exilstatus von Ristikivi dies zu verhindern gewusst. Tatsächlich ist es wohl auch im weltgeschichtlichen Maßstab ungewöhnlich, dass eine dreiteilige Romanserie unter drei extrem verschiedenen politischen System erscheint: 1938 in einer autoritären Demokratie, 1940 in einem sowjetisch besetzten Gebiet, 1942 unter Nazibesatzung während des Krieges. Das alles hat die angemessene Rezeption des Werkes verhindert, es gelangt erst allmählich ins tiefere Bewusstsein der estnischen Leserschaft. Brauner Terror Die von vielen als traumatisch erlebten 14 sowjetischen Monate wurden von einer dreijährigen Naziherrschaft abgelöst, die nicht weniger traumatisch war. Gleich nach der Einsetzung der nationalsozialistischen Verwaltung wurden abermals Listen mit aus den Bibliotheken zu entfernender Literatur erstellt. Diesmal betraf es jüdische Autorinnen und Autoren, Deutsche, die ins Exil gegangen waren, und Personen, die als sozialistisch oder kommunistisch eingestuft wurde. Hier fanden sich Vicky Baum, Heinrich Heine und Franz Kafka ebenso wie August Jakobson, Aadu Hint und Evald Tammlaan sowie selbstredend die Werke von Lenin, Marx und Stalin, um nur einige der 200 Namen zu nennen, die auf der ersten, 1941 erstellten Liste stehen (Faksimile bei Veskimägi 1996, Tafel 17). Der Rückgang der Buchproduktion und des Buchbestandes, der 1940 eingesetzt hatte, setzte sich unter der deutschen Besatzung mit unvermindertem Tempo fort.

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Parallel dazu fand auch die Verfolgung von Personen statt. Der Kinderbuchautor Edur Tasa wurde im Juli 1941 von den Deutschen erschossen, nicht besser erging es dem Prosaisten Kaster Kaselo, der im September von estnischen Mitläufern gemeinsam mit seiner Frau ermordet wurde. Von den Nazis inhaftiert wurden Valmar Adams, Aleksander Antson, Richard Roht, der Kinderbuchautor Jaan Rummo, Johannes Ruven, Rudolf Sirge, Juhan Sütiste, Evald Tammlaan und Osvald Tooming. Die Begründungen hierfür waren, sofern es derer bedurfte, verschieden, und die meisten von ihnen wurden nach kürzeren oder längeren Haftstrafen noch vor Ende der deutschen Besatzung wieder freigelassen. Für Ruven galt das nicht, er wurde im April 1942 erschossen, und auch für Tammlaan gab es keine Rettung, er geriet ins Konzentrationslager Stutthof, wo er im März 1945 starb. Auch einige Jüngere wie Herta Laipaik oder Jaan Kross, der sich der Einberufung (s.u.) zunächst mit viel Geschick entziehen konnte, letztlich aber statt in der Armee im Gefängnis der Nazis landete, entgingen den Nationalsozialisten nicht. Ferner wurden zahlreiche weitere mit dem literarischen Leben verbundene Personen auf verschiedene Art und Weise von den Besatzern drangsaliert (vgl. O. Kruus 1990, 478–480). 1944 nahm die deutsche Besatzung für die männliche Bevölkerung bedrohliche Züge an, denn am 1. Februar erfolgte die Mobilmachung aller Jahrgänge von 1904 bis 1923. Bei Nichtbefolgung drohte das Todesurteil. Junge Männer waren schon längst im Visier der Nazis gewesen, und seit 1943 flohen mehr und mehr von ihnen nach Finnland. Insgesamt geht man von ca. 5000 jungen Esten aus, die in dieser Zeit nach Finnland entkommen sind. Zum Teil traten sie dort in die Armee ein, die Hauptsache war für sie, dass sie nicht in einer deutschen Uniform kämpften mussten. Von den schon bekannteren Autoren waren Kangro, Talvik und Sang von der Mobilmachung betroffen, aber sie konnten sich durch einen befreundeten Arzt ein Attest beschaffen und waren vorerst aus dem Schneider (M. Orav 1988, 54). Viele hatten nicht solche guten Beziehungen und mussten dem Gestellungsbefehl Folge leisten, wenn sie nicht das Risiko der Illegalität eingehen wollten. Letzteres taten zum Beispiel der später als Dichter und Komponist bekannt gewordene Ottniell Jürissaar, der untertauchte, sich nach Finnland abzusetzen wusste und dadurch die letzten Monate der deutschen Besatzung über die Runden brachte, und Paul Haavaoks, der sich als Knecht auf Bauernhöfen verdingte; andere wie Kalju Ahven, Kalju Lepik oder Rein Sepp traten in die Wehrmacht ein und gingen ihrem ungewissen Schicksal entgegen. Manche von ihnen schlossen sich den abziehenden Truppen an und fanden sich nach dem Zweiten Weltkrieg dann zwangsläufig im Exil wieder, aus dem es so schnell keine Rückkehr gab.

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Flucht Wer in der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetarmee gekämpft hatte, setzte alles daran, den vorrückenden sowjetischen Truppen nicht in die Hände zu fallen. Aber es gab noch viel mehr Menschen, die schon während der deutschen Besatzungszeit, verstärkt dann in den Monaten, als sich die deutsche Niederlage immer deutlicher abzeichnete, Versuche unternommen und Vorbereitungen getroffen hatten, das Land zu verlassen. Dies geschah aus verschiedenen Beweggründen heraus: Gewiss hatten einige Personen aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht von den sowjetischen Besetzern nichts Gutes zu erwarten. Andere sahen ihre künftige persönliche Freiheit unter dem nun erneut drohenden System zu sehr bedroht. Den meisten jedoch steckte der Schrecken des ersten sowjetischen Jahres noch so tief in den Knochen, dass sie es nicht auf eine zweite Begegnung mit den Sowjets ankommen lassen wollten. Dabei dachten die meisten übrigens, dass sie sich nur für kurze Zeit ins Exil begeben würden, um zurückzukehren, sobald sich die Verhältnisse beruhigt hätten und die Vorkriegsordnung wiederhergestellt worden sei. Dass dies beinahe ein halbes Jahrhundert dauern sollte, ließen sich die wenigsten träumen. Eine Flucht ist selten etwas Organisiertes und Geordnetes. Daher wird die exakte Zahl der Esten nie zu bestimmen sein, die im Laufe des Jahres 1943 und verstärkt dann im Sommer und Herbst 1944 mit Boten über die Ostsee nach Finnland und Schweden flohen oder im Schlepptau der deutschen Wehrmacht dem Land den Rücken gekehrt haben. Schätzungsweise 20 000 bis 25000 flohen direkt nach Schweden oder Finnland, ca. 50000 nach Deutschland. Die Flucht war zudem gefährlich, so manches Boot hat das andere Ufer nicht erreicht, viele wurden auch beim Fluchtversuch aufgegriffen und zurückgeschickt. Die Zahl der Verluste wird dabei auf 5000, die der Zurückgeschickten auf 10000 geschätzt (Taagepera 1989, 61). Alles in allem kann man von ca. 70000 Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg ausgehen, die im Westen angekommen sind (EE 11, 314, vgl. auch R. Raag 1999a, 62). Ein weiteres dem Phänomen Flucht eigenes Element ist, dass ein so einschneidender Ortswechsel gewisser intellektueller und materieller Voraussetzungen bedarf: Man musste einiges organisieren und über das nötige Kleingeld verfügen, um beispielsweise einen Fährmann zu bezahlen. Sicherlich kann man die zahllosen Einzelschicksale nicht über einen Kamm scheren; neben gut vorbereiteten und finanzierten, dennoch gescheiterten Versuchen wird es ebenso glückliche Zufälle eines Entkommens gegeben haben, das schlecht geplant war und völlig mittellos erfolgte. Trotzdem ist unterm Strich

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die soziale Struktur der erfolgreichen Flüchtlinge keine exakte Widerspiegelung der estnischen Gesellschaft. Mit anderen Worten: Der Prozentsatz der Intellektuellen und anderweitig den Eliten zuzurechnenden Personen war unter den Flüchtlingen überproportional hoch. Das ist neben dem starken Zusammengehörigkeitsgefühl als Schicksalsgemeinschaft eine zweite Erklärung für die lange Zeit relativ vitale estnische Exilgemeinschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Schweden, den USA, Kanada und Australien formiert hat. Da es für die Bewertung von Literatur keine objektive Skala gibt, waren die Angaben über den Prozentsatz der »bedeutendsten« Autorinnen und Autoren, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Exil wieder fanden, von der Optik des Kalten Krieges bestimmt. Jede Seite legte ihre eigenen Maßstäbe an, so dass man in Exilkreisen mitunter Formulierungen finden konnte wie »the majority of Estonian writers and critics, who had not cast their lot with the Communists, fled to the West« (Kurman 1978, 248) oder »rund 75 % der namhaften Schriftsteller [verließen] Estland« (Purga 1977, 57). Wenn man zu neutraleren Berechnungen kommen will, muss man nach Vorkriegsquellen greifen und nachschauen, welche von den dort genannten Personen nach dem Zweiten Weltkrieg im Ausland waren. Als letzte solche neutrale Quelle, die vor der Aufspaltung der estnischen Literatur in zwei Lager angefertigt worden ist, bietet sich die Literaturgeschichte von Tuglas, und zwar die finnische Version von 1939, an. Von den 44 relevanten, d.h. nach dem Zweiten Weltkrieg noch lebenden, estnischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die der Autor in seine Monographie aufgenommen hat, befanden sich nach dem Krieg 14 im Exil, während 30 in Estland waren. Man kann somit mit Recht behaupten, dass ein knappes Drittel der schon etwas bekannteren estnischen Autorinnen und Autoren sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Exil befand. Diese Zahl korrespondiert auch mit dem Mitgliederstand des Schriftstellerverbandes, von dessen 53 Mitgliedern (Stand 1940) fünfzehn ins Exil gegangen waren. Um beim Kanon zu bleiben: Bei den in Tuglas’ Monographie genannten 14 Namen handelte es sich um Johannes Aavik, Artur Adson, August Gailit, Juhan Jaik, Bernard Kangro, Albert Kivikas, Pedro Krusten, August Mälk, Reed Morn, Karl Rumor, Edgar V. Saks, Gustav Suits, Marie Under und Henrik Visnapuu. Selbstverständlich ist auch diese auf der Nennung bei Tuglas basierende Auswahl kein absolutes Kriterium, aber trotzdem kann sie einen Eindruck vom Ausmaß der Fluchtbewegung vermitteln. Unter den Flüchtlingen befanden sich auch Personen, die am Anfang ihrer Karriere standen und vielleicht schon das eine oder andere in Periodika veröffentlicht hatten, wie etwa Ilmar Laaban oder Arvo Mägi, oder die in Tuglas’ Augen ein-

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fach noch nicht gut oder wichtig genug waren, wie Valev Uibopuu oder sogar Karl Ristikivi – sie alle hatten sich bereits 1943 nach Finnland abgesetzt. Jedenfalls entwickelte sich im Exil rasch ein vielfältiges literarisches Leben, während die sich im Würgegriff des Stalinismus befindende einheimische Literatur für eine Zeit ins Hintertreffen geriet (vgl. §§ 38, 39). Schließlich ist mit dem Begriff der Flucht der Umstand verbunden, dass so ein riskantes Unternehmen misslingen konnte. Das brauchte nicht den direkten Tod der fraglichen Personen zu bedeuten, manchmal wurde die Flucht auch einfach abgeblasen, weil die Erfolgsaussichten gering erschienen oder weil die erforderlichen Mittel nicht zu beschaffen oder nicht mehr da waren. So ist die Zahl der Fluchtwilligen fraglos um einiges höher gewesen als die Zahl der tatsächlichen Flüchtlinge, aber hier ist die Dunkelziffer ziemlich hoch, zumal man in Sowjetzeiten ein solches landesverräterisches Thema ohnehin nicht ansprechen konnte. Von einigen Personen ist später bekannt geworden, dass sie 1944 über eine Flucht nachdachten, diese aus verschiedenen Gründen aber nicht in die Tat umsetzten oder umsetzen konnten, weil beispielsweise nicht genügend Boote vorhanden waren. Friedebert Tuglas hegte im Herbst 1944 Fluchtpläne und traf auch Vorbereitungen, aber er kam zu spät und musste das Unternehmen abblasen, weil es keine Möglichkeit mehr gab (Tuglas 1997, 10–13). Auch Uku Masing hat keinen Platz mehr auf einem Schiff bekommen. August Sang und Kersti Merilaas hielten sich Ende September mit Fluchtgedanken an der Küste auf, entschieden sich im letzten Moment aber um (Grabbi 2004, 1373). Dasselbe gilt für Jaan Kross, der angesichts der Flüchtlingsmassen beschloss, lieber wieder umzukehren (Kross 2003, 142–145). Thematisch gehören auch die Repatriierungsbestrebungen der Sowjetunion hierher. In den Nachkriegsjahren wurde beim Rat der Volkskommissariate der Estnischen SSR eine Abteilung für Repatriierungsangelegenheiten eingerichtet, die sich darum bemühte, den Flüchtlingen die Rückkehr nach Estland schmackhaft zu machen. Denn man war sich der umfangreichen Intelligenzabwanderung bewusst. Aufs Ganze gesehen blieb die Zahl der erfolgreichen Repatriierungen aber außerordentlich niedrig (vgl. Vseviov 2002); für die Literaturgeschichte ist diese Frage gänzlich irrelevant.

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§ 38 Gehversuche auf neuem Terrain Schreiben im Dienste der Partei Die beklemmende kulturelle Situation in der Nachkriegszeit in Estland, als zweimal die Front über das Land hinweggezogen war, ca. ein Drittel der intellektuellen Elite das Land verlassen hatte und die Schaltstellen der Macht von Stalinisten kontrolliert wurden, führte zu einem historischen Tiefstand in der Buchproduktion. Da sich gleichzeitig die estnische Exilgemeinschaft zu ihrer Konsolidierung elanvoll auf das Verlegen von Büchern konzentrierte, entstand ein so deutliches Übergewicht an im Ausland verlegten estnischen Büchern, dass man in den 1950er-Jahren berechtigterweise von einem Alleinvertretungsanspruch der Exilliteratur sprechen konnte: »The history of Soviet-Estonian literature seems to be equal to the history of the destruction of Estonian literature«, konnte Ristikivi (1955, 64) in einem Essay feststellen. Besonders drastisch ist dies an den Zahlen für das erste Nachkriegsjahrzehnt abzulesen, als im Exil 194 Buchtitel erschienen, denen magere 87 in Sowjetestland gegenüberstanden (Kangro 1957, 3). Aber auch noch für die Periode von zwanzig Jahren nach dem Krieg fällt der Vergleich zugunsten der Exilgemeinschaft aus, die lediglich ca. sechs Prozent aller Esten umfasste, aber für mehr als die Hälfte der aktuellen Literatur verantwortlich war: 366 Büchern im Exil standen 353 in Sowjetestland gegenüber (Kangro 1965, 238; vgl. § 39). Dieses »historische Loch«, wie die Periode bis zum Einsetzen des Tauwetters in Exilkreisen bezeichnet wurde (vgl. Taagepera 1980), war den sowjetischen Machthabern, die argwöhnisch und ängstlich die gegen sie gerichtete Agitation der Exilkreise beobachteten, ein Dorn im Auge. So setzten sie alles daran, die einheimischen Autorinnen und Autoren zum Schreiben zu stimulieren, damit wenigstens in quantitativer Hinsicht dem Klassenfeind die Argumentationsgrundlage entzogen würde. Da das System aber gleichzeitig für eine völlige ideologische Neuorientierung einstand, zu der eine ganz im Geiste dieser Ideologie verfasste Literatur zu gehören hatte, stieß man hier auf gewaltige Probleme. Denn wo sollte man die »neuen« Autorinnen und Autoren so plötzlich hernehmen? Zum Teil konnte man auf Personen zurückgreifen, die schon seit geraumer Zeit Erfahrungen mit dem neuen Stil hatten, d. h. man konzentrierte sich auf diejenigen, die in der Zwischenkriegszeit in der Sowjetunion gelebt hatten und nun nach Estland übergesiedelt waren, oder man übersetzte einfach reichlich aus dem Russischen; aber man wollte auch Eigenständiges aus Estland haben, denn andernfalls konnte das neue System allzu einfach als fremdbestimmt erfahren werden.

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Andererseits war selbst bei den Esten mit sowjetischer Erfahrung noch lange nicht sichergestellt, dass sie dem neuen Geist entsprechend zu dichten in der Lage waren. Ein Beispiel hierfür ist der Russlandeste Felix Kotta, von dem im April 1947 im Postimees ein Gedicht erschien, das vom Zentralkomitee der Estnischen KP als schwerer ideologischer Irrtum eingestuft wurde (A. Raudsepp 2000, 139). Derlei Gängelungen und Bevormundungen waren nun an der Tagesordnung und konnten für die betroffenen Personen bedrohliche Formen annehmen, auch wenn sie sich mit dem heutigen Abstand von einem halben Jahrhundert wie schlechte Satiren lesen: 1950 wurde in einer internen Besprechung bei einem Gedicht von Ellen Niit bemängelt, dass der sowjetische Mensch Freude an der Arbeit erfahre, dass man das im betreffenden Gedicht aber nicht sähe; bei Debora Vaarandi wurde kritisiert, dass sie in ihrem Gedicht über die Leninbibliothek nur ein Auge für die estnischen Klassiker, nicht aber für Lenins Werke hatte; und Minni Nurme wurde vorgehalten, dass sie auf der Insel Muhu nichts Sowjetisches habe entdecken können (A. Raudsepp 2000, 145). Insgesamt stand das literarische Leben im Zeichen von Schulungen, Richtlinien, Anleitungen, Beratungen, ideologischen Fingerzeigen und dergleichen mehr. Das gesamte estnische literarische Erbe wurde neu gesichtet und notfalls mit der Brechstange uminterpretiert, wie die Anthologie Tasuja teedel (Auf den Spuren des Rächers, 1945) von Jaan Kärner zeigt, die den Untertitel Die Widerspiegelung des antideutschen Kampfes in der estnischen Literatur trägt und einen Querschnitt durch den Jahrhunderte langen Kampf der Esten gegen die Deutschen geben soll. Sie beginnt mit Texten aus der Volksdichtung – wo es freilich nicht schwer war, gegen die Obrigkeit, die nun einmal deutsch war, gerichtete Verse zu finden – und führt über Kristian Jaak Petersons Gedicht Der Mond (s. § 16) und Gedichte von Koidula und zahlreichen anderen Autorinnen und Autoren bis hin zu einem Gedicht von Juhan Smuul aus dem Jahre 1944 (Kärner 1945). Die Zensur arbeitete vor, während und nach dem Erscheinen der (wenigen) Bücher auf vollen Touren, was dazu führte, dass bei einer Gesamtausgabe von Barbarus’ Gedichten beispielsweise der Herausgeber Semper im Nachhinein getilgt werden musste, nachdem dieser in Ungnade gefallen war (Barbarus 1948). Es fand exakt das statt, was George Orwell in seinem 1949 erschienenen Roman Nineteen Eighty-Four beschrieb. Eine wichtige Rolle kam dem Schriftstellerverband zu, der bei seiner Rückkehr aus dem Hinterland 17 Mitglieder zählte und im ersten halben Jahr nach Kriegsende 25 Autorinnen und Autoren aufgenommen hatte, die während des Krieges in Estland geblieben waren. Ihnen folgten im Dezember 1945 noch die bekannteren der Daheimgebliebenen wie zum Beispiel Betti

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Alver, Anna Haava, Leida Kibuvits, Oskar Luts, Karl Eduard Sööt, Friedebert Tuglas oder Paul Viiding. Die Rolle des Verbandes bestand nicht ausschließlich in der willenlosen Vollstreckung der Parteidirektiven, zumal der Verband selbst kein Monolith war und auch noch über eine eigene Parteiunterorganisation verfügte (vgl. Olesk 2003c). Wenn all die Jahre hindurch Estnisch weiterhin mit lateinischen Buchstaben geschrieben worden ist, die Schul- und Hochschulbildung estnischsprachig blieb und russische Filme mit estnischen Untertiteln gezeigt wurden, so war dies nicht zuletzt dem Einsatz des Verbandes – gemeinsam mit anderen schöpferischen Verbänden und der Sowjetestnischen Akademie der Wissenschaften – zu verdanken, der hinter den Kulissen zäh für den Erhalt der estnischen Kultur stritt. Daneben hatte der Verband auch eine soziale Funktion. Wer Mitglied war, kam in den Genuss der einen oder anderen Dienstleistung und vielleicht auch leichter an eine Wohnung, denn Anfang der 1960er-Jahre errichtete der Verband im Herzen Tallinns ein eigenes Gebäude. Dieses Kirjanike Maja (Schriftstellerhaus) mit seinen Wohnungen, Büroräumen, der Redaktion von Looming, einem Veranstaltungssaal und einer Gästewohnung für ausländische Besucherinnen und Besucher ist bis heute das Zentrum des literarischen Lebens in Tallinn. Inhaltlich kümmerte sich der Verband aktiv um die Förderung der Literatur. In Umfragen wurden die Mitglieder gebeten, über den Stand ihrer Arbeiten zu berichten und ihre Zukunftspläne darzulegen. Wenn jemand nicht produktiv genug war, wurde hierfür eine Erklärung verlangt. Unter den genannten Ursachen für die ausbleibende Literatur fanden sich dann sowohl gesundheitliche Probleme wie chronische Kopfschmerzen, Augenkrankheiten, allgemeine Müdigkeit oder Gedächtnisverlust als auch eine unbefriedigende Wohnsituation: Der eine lebte in einem Durchgangszimmer, ein anderer hatte keine Küche, eine Dritte hatte überhaupt keine Wohnung (A. Raudsepp 2000, 142). Hilfestellung bei der Suche nach dem richtigen Weg gab es in Gestalt von politischen Schulungen und Exkursionen in Kolchosen, deren Leben man nach Wunsch der Partei zum Gegenstand der Literatur machen sollte. Wie detailliert man sich um die Erzeugung von Literatur kümmerte, geben die Protokolle der Versammlungen wieder, die zum Teil veröffentlicht worden sind (s. Tuulik 1997, für einen Auszug auf Deutsch s. Amurski 1998). Das alles war indes nicht ausreichend, in der zweiten Hälfte der 1940erJahre sank die literarische Produktion kontinuierlich und erreichte Anfang der 1950er-Jahre einen Tiefstand. Dieser Niedergang wurde noch beschleunigt durch den Umstand, dass selbst die starre ideologische Ausrichtung keine Sicherheit bot, denn mit der dem sowjetischen System inhärenten Paranoia wurde fortwährend nach Abweichlern gesucht und die ideologische

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Leitlinie neu bestimmt. Am berüchtigtsten war hier das achte Plenum der estnischen KP vom März 1950 (vgl. Olesk 2002a), auf dem eine ganze Reihe von »bürgerlichen Nationalisten« ausgemacht wurde, die in der Folge ihrer Ämter enthoben, mundtot gemacht und teilweise sogar inhaftiert wurden. Inhaltlich ging es hier auch um einen Machtkampf zwischen den so genannten Juni-Kommunisten, d.h. einheimischen Esten, die den Umschwung vom Juni 1940 mitgemacht und mitgestaltet hatten, und den Russland-Esten, die in der Zwischenkriegszeit in der Sowjetunion gelebt hatten und 1944 gemeinsam mit der sowjetischen Armee nach Estland zurückgekehrt waren. Sie sprachen häufig besser Russisch als Estnisch und wurden wegen ihres russischen Akzents im Estnischen als »Jesten« (jeestlased) bezeichnet, da sie ein langes anlautendes ›e‹ ohne vorangestelltes ›j‹ nicht aussprechen konnten. Nach diesem Plenum wurden die meisten führenden Personen des Juni-Umschwungs entmachtet, Hans Kruus, Nigol Andresen und Johannes Semper waren nun nicht mehr gelitten und verloren ihre Posten. Am 4. Mai 1950 wurden Betti Alver, Leo Anvelt, Kersti Merilaas, Mait Metsanurk, Hugo Raudsepp, August Sang, Johannes Semper, Agnes Taar, Aleksander Tassa und Paul Viiding aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen; Friedebert Tuglas ereilte das gleiche Schicksal im Dezember desselben Jahres (Olesk 2000). Angesichts dieser Zustände konnte die literarische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg nur stockend sein. Dabei hatte man sich unmittelbar nach Kriegsende schnell wieder – und auch gemeinsam, d.h. die aus dem sowjetischen Hinterland Zurückgekehrten und die Daheimgebliebenen – der Literatur zugewandt. Schon drei Wochen nach der Befreiung Tallinns war die erste Ausgabe der Wochenzeitung Sirp ja Vasar erschienen, in der der Rückkehrer Semper zur kulturellen Aufbauarbeit aufrief und der daheim gebliebene Tuglas gemäßigt optimistisch das Wort ergriff: »Ihr kommt mit der Deutlichkeit eurer Ideologie, eurer Willenskraft und eurer kampferprobten Energie. Wir werden versuchen, uns dem anzuschließen. Und gemeinsam ist uns der Hass auf die Vergangenheit und die Liebe zur Zukunft.« (zit. nach EKA V, 1, 47). 1946 war die Asche von Lydia Koidula von Kronstadt nach Tallinn gebracht worden, 1947 wurde das 12. Liederfest organisiert, und bereits 1945 hatten die Staatliche Kunstverwaltung und Sirp ja Vasar verschiedene Wettbewerbe zu Schauspielen, Liedertexten, Novellen und Gedichten ausgeschrieben. Das Ergebnis war jedoch mager, was auch daran lag, dass eigentlich niemand wusste, wie man die aktuellen Tagesprobleme ideologisch korrekt beschreiben sollte. Daher war die Aufforderung zur Teilnahme auch verbunden mit der Empfehlung, sich für ideologische und formale Beratung an die Redaktion der Zeitung zu wenden (Eelmäe 1984a, 1270). 1945 hatte auch die Zeitschrift Looming wieder einen Anfang gemacht, die unter

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dem Chefredakteur Kärner allerdings nicht sonderlich erfolgreich wurde und auch unter Mart Raud, der nach Kärners Erkrankung 1946 für ein halbes Jahr Interimschefredakteur war, nicht recht in Schwung kam. Letztendlich war diese Phase zu kurz, als dass es hier zu einer wie auch immer gearteten Entfaltung des literarischen Lebens kommen konnte. Keine zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde der ideologische Krieg im Inneren eröffnet und die ohnehin mühselige Entwicklung noch mehr gebremst (vgl. A. Raudsepp 2000). Junger Wein in alten Schläuchen Für die Literatur gibt es in einer solchen Situation verschiedene Möglichkeiten. Neben dem Import fremder, aber ideologisch korrekter Literatur und der Heranzüchtung einer neuen, jungen literarischen Garde, der man die entsprechende Hilfestellung bei der Suche nach der ideologisch korrekten Behandlung der ideologisch korrekten Probleme leistet, ist auch ein Verfahren denkbar, bei dem alte Texte umgeschrieben werden. Zu diesem Verfahren könnte man auf einem abstrahierteren Niveau auch diejenigen etwas älteren Autorinnen und Autoren zählen, die bereits über eine gewisse Erfahrung verfügten und sich nun darum bemühten, in ihren neuen Texten ganz andere ästhetische und philosophisch-ideologische Prinzipien walten zu lassen, als sie es bislang gewohnt waren, d.h. Stil und Themenwahl den neuen ideologischen Vorgaben anzupassen. Beide letztgenannten Verfahren sind mit dem biblischen Gleichnis vom jungen Wein, den man nicht in alte Schläuche füllen sollte, weil diese sonst zerreißen, zu charakterisieren: Die neue Ideologie wäre dabei der junge Wein, dem die alten Texte, in größerem Maßstab aber vielleicht auch das gesamte ältere literarische Leben, nicht gewachsen sind. Folglich zerreißen die Schläuche, der Wein wird verschüttet, und am Ende behält man nichts übrig. Genau ins Bild passt hier August Jakobson, der seinen erfolgreichen Roman Vaeste-Patuste alev nach dem Krieg sozialistisch – und weniger naturalistisch – machen wollte, dabei aber über den ersten Band nicht hinauskam. Eine Neuauflage ist dann im Interesse der Einheit des Werkes in der vor dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Form erfolgt, aber erst 1979/1980, als der Autor längst tot und die ideologische Engstirnigkeit des Stalinismus teilweise überwunden war. Ein anderes Beispiel wäre Mait Metsanurk, der als erfahrener Romancier angesehen werden kann und nach der ideologischen Wende versuchte, seine Begabung in den Dienst der neuen Ideologie zu stellen. Seiner eigenen Aussage zufolge hatte er bereits im Herbst 1940 mit der Abfassung des Romans Suvine pööripäev (Sommersonnenwende) begonnen und

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eine erste Version 1942 abgeschlossen. Danach irrte das Romanmanuskript 15 Jahre zwischen dem Autor, den Zensurbehörden und verschiedenen Beratungsinstanzen hin und her, ehe das Buch 1957, kurz vor dem Tode des Autors, endlich erscheinen konnte. Aber auch dann herrschte in der Kritik Einigkeit darüber, dass der Roman, der die vermeintliche Revolution des Jahres 1940 zum Gegenstand hatte, völlig misslungen war. Schließlich ist an dieser Stelle noch Johannes Semper zu nennen, der bekanntlich über eine breite literarische Bildung verfügte und zur führenden Intellektuellenschicht der Zwischenkriegszeit gehörte. Nun hatte er, der 1940 gemeinsam mit Metsanurk zu den Ersten gehört hatte, die über das Konzept des Sozialistischen Realismus (s. § 41) publizierten, sich zum Ziel gesetzt, einen Roman im neuen Geist zu schreiben. Bereits 1941 hatte ihn der Gedanke beschäftigt, 1947 war ein erstes Konzept entwickelt, und 1950 war die erste Variante fertig. Dann aber verschwand Semper im Zuge der Kampagne gegen die bürgerlichen Nationalisten erst einmal von der Bildfläche, so dass der Roman Punased nelgid (dt. Rote Nelken, 1960) erst 1955 erscheinen konnte, als Semper wieder rehabilitiert war. Wie Metsanurks Werk handelte auch dieser Roman vom Juni-Umschwung 1940, der hier ganz im Sinne der herrschenden Ideologie dargestellt wurde. Das geschah auf eine dermaßen platte Weise, dass der Titel im Volksmund bald in Punased nolgid (Die roten Grünschnäbel) abgewandelt wurde und die spätere Literaturgeschichtsschreibung »dieses peinliche Werk lieber übersehen hat« (Olesk 2002b, 98). Tatsächlich bleibt der Roman innerhalb des Gesamtwerks von Semper relativ rätselhaft und ein nur psychologisch zu erklärendes Phänomen, denn für eine derartige Schwarzweißmalerei, in der alle Bösen dekadent und dem Alkohol verfallen sind, während die Guten brav und hart arbeiten und selbstredend immer nüchtern sind, konnten sich selbst hart gesottene Ideologiewächter nicht erwärmen. Schon 1969 wurde das Werk als ein blutleerer und konstruierter Roman bezeichnet, bei dem man gleich am Anfang wisse, worauf er hinausläuft (Siirak 1969, 221). Interessanter sind zwei andere Versuche, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, obwohl auch sie letztlich gescheitert sind. In Gestalt zweier Romane von Erni Krusten und Aadu Hint liegen jedoch Texte vor, die die realistisch-psychologische Tradition der Zwischenkriegszeit unverkennbar fortsetzten und erst durch sozialistische Überstülpungen aus dem Gleichgewicht gebracht worden sind. Erni Krusten war 1900 als Sohn eines Gärtners in Nordestland geboren und übte nach sechs Jahren Schule ab 1915 unter der Ägide seines Vaters denselben Beruf aus. In der Zwischenkriegszeit versuchte er sich, der 1927 mit einer Sammlung Kurzprosa debütiert hatte, als freiberuflicher Schriftsteller,

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musste nebenher aber immer wieder arbeiten. Nach dem Juni-Umschwung war er dem neuen Regime gegenüber positiv eingestellt und arbeitete seit Januar 1941 in der Redaktion von Viisnurk. Allerdings ging er bei Kriegsausbruch nicht ins sowjetische Hinterland, sondern zog sich aufs Land zurück. Während der deutschen Besatzung saß Krusten in der Redaktion der Kulturbeilage einer in Rakvere erscheinenden Zeitung und publizierte dort sowie auch in einer Kuressaarer Zeitung den Roman Meelita tuleb tagasi (Meelita kommt zurück), der sich als Vorarbeit zu dem 1946 erschienenen Roman Pekside raamat (Das Buch der Peksis) entpuppte. Nach dem Krieg war er wieder als Gärtner tätig, ab 1950 lebte er als freier Schriftsteller in Rakvere. 1957 übersiedelte er nach Tallinn, wo er 1984 starb. Den Roman Pekside raamat könnte man als eine Familiensaga charakterisieren, die den Zeitraum vom Ende der 1920er-Jahre bis zum Zweiten Weltkrieg umfasst. Im Zentrum steht das Leben einfacher Leute vom Land, die politischen Zustände werden nur gestreift; erst am Ende wird plötzlich ausführlich über die Ereignisse vom Juni 1940 berichtet, und in diesem letzten Sechstel kippt der Roman um und mündet in das stereotype Revolutionsgefasel ein, wie es die Literaturleitfäden der Zeit einforderten. Vorher geht es in dem Roman aber nur um die verschiedenen Schicksale und Entwicklungswege der Kinder des Hofes, die sich alle irgendwie durchschlagen. Dabei verdient das Schicksal der Jüngsten, Meelita, besondere Aufmerksamkeit: Sie ist als Verkäuferin in der Stadt, als bei ihr eine gutartige Geschwulst im Unterleib entdeckt und operativ entfernt wird. Der Arzt erläutert ihr danach, dass ein Eierstock entfernt werden musste und der zweite in ein paar Jahren vermutlich auch an der Reihe sei. Meelita, die bislang niemals einen Kinderwunsch verspürt hat, bekommt nun Torschlusspanik und hofft, dass ihr Freund, der Bescheid weiß, die entsprechenden Konsequenzen zieht. Anstelle eines Heiratsantrags ist von ihm jedoch nur Mitleid zu erhalten, so dass das Verhältnis schließlich zerbricht. Meelitas Kinderwunsch hingegen ist so stark, dass sie sich nun eines alten Verehrers entsinnt. Sie trifft ihn, lässt ihn zu dessen eigener Überraschung für eine Nacht an sich heran und jagt ihn dann wieder fort. Sie hat, was sie wollte, und bringt neun Monate später ein Kind zur Welt, das sie alleine aufziehen will. Diese Episode, die zwar gegen Ende noch ins Kitschige abgleitet, weil der Verehrer und Meelita doch noch zueinander finden, passte nicht ins sozialistische Muster und die damit einhergehende prüde Gedankenwelt, weswegen der Roman von der Kritik zerrissen wurde und heute völlig vergessen ist. Das liegt auch an dem politischplakativen Ende, dennoch dient der Roman als perfekte Illustration für die literarische Situation in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre: Ein vergleichsweise erfahrener Schriftsteller nimmt einen Stoff, den er schon vorher – und

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unter völlig anderen politischen Vorzeichen! – teilweise veröffentlicht hat, weitet ihn zu einem Roman nach seinem eigenen Geschmack und mit »seiner« Thematik aus und fügt am Ende einen ordentlichen roten Farbtupfer hinzu, der das Ganze den Machthabern und Zensurbehörden genehm machen soll. Die Rechnung mag insofern aufgegangen sein, als das Buch erscheinen konnte, aber das ist auch alles, sieht man von der Entdeckungsfreude der späteren Literaturwissenschaft ab. Aufgrund der zerstörten Komposition kann Krustens Roman nur als misslungen angesehen werden, weswegen der Erfolg bei der Leserschaft auch ausblieb. Noch bemerkenswerter ist der Fall von Aadu Hint, der ebenfalls vor dem Krieg debütiert und sich mit vier Romanen bereits einen Namen gemacht hatte (vgl. § 33). Hint war 1910 auf Muhu geboren und verbrachte seine Schulzeit auf Saaremaa, wo er anschließend auch als Dorfschullehrer tätig war. Er sympathisierte mit marxistischen Kreisen und übernahm nach dem Juni-Umschwung die Redaktion der Zeitschrift Viisnurk (vgl. § 35). 1941 ging er ins sowjetische Hinterland und engagierte sich dort u. a. im Fischereiwesen, ehe er für einige Zeit in die Armee eingezogen wurde. Nach der Rückkehr nach Estland war er kurzzeitig erneut in der Fischereiwirtschaft aktiv, ehe er ab 1945 als freiberuflicher Schriftsteller in Tallinn lebte, wo er 1989 starb. Hints Hauptwerk ist die monumentale Tetralogie Tuuline rand (Die windige Küste, vgl. § 41), deren erster Band 1951 erschien. Hierauf reagierte die Kritik mit scharfen Vorwürfen, weil der Autor die proletarische Revolution in Tallinn nicht behandelt und die Herausstreichung der russisch-estnischen Freundschaft vernachlässigt habe. Ganz abgesehen davon, dass es bemerkenswert ist, dass die Kritik auf etwas hinweist, was im Roman nicht vorhanden ist, sind beide Kritikpunkte inhaltlich vollkommen berechtigt: In einem historischen Roman über das Leben der armen Inselbewohner hatte die Beschreibung der Tallinner Arbeiterschaft ebenso wenig verloren wie eine Betonung der Völkerfreundschaft, weswegen Hint diese Themen folgerichtig nicht behandelt hatte. Da Hints Roman aber am Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt und in die Ereignisse von 1905, die bekanntlich auf dem Lande zu besonders heftigen Konfrontationen führten, einmündet, vermissten die Ideologiewächter die Verbindung zur proletarischen Revolution in Tallinn. Weiterhin ist entlarvend, dass die russisch-estnische Freundschaft explizit genannt wurde, weil die nicht unbedingt als Merkmal des Sozialistischen Realismus bezeichnet werden kann. Hier zeigte sich, dass die sowjetische Okkupation eben nicht nur unter sozialistischen Vorzeichen oder in Erwartung der Weltrevolution erfolgte, sondern dass es schlicht um großrussische Territorialwünsche gegangen war, die nur mühselig ideolo-

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gisch verbrämt gewesen waren. Was den Roman, der eigentlich ganz im Stile des kritischen Realismus geschrieben ist und nur am Ende ein paar sozialistische Einsprengsel hat, die aber mit der vorangegangenen Beschreibung harmonieren und auch in ihrem Pathos nicht überzogen sind, zu einem Sonderfall innerhalb der estnischen Literatur macht, ist der Umstand, dass Hint ein Jahr später eine Neufassung vorlegte. Die alte Version wurde jedoch nicht eingezogen oder gar vernichtet, aber für alle späteren Neuauflagen wurde – bis heute – nur die Neuauflage, die die bemängelten Defizite der Erstauflage beheben sollte, herangezogen. Diese zweite Auflage ist um zehn Kapitel erweitert und über die Hälfte dicker: Den 77 000 Wörtern der ersten Auflage stehen 120000 Wörter bei der zweiten Auflage gegenüber. Viel störender ist, dass sich die zehn neuen Kapitel nicht in die alte Struktur einfügen. Sie behandeln tatsächlich, wie eingefordert, das Arbeiterleben und die Revolution in Tallinn und sind nur mühselig durch ein paar Personen mit dem alten Teil des Romans verwoben. Der postulierten russisch-estnischen Freundschaft wird Tribut gezollt, indem einer der Protagonisten in einem der neuen Kapitel eine Nacht lang Tolstoj liest und der russische Revolutionär Kalinin, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts länger in Tallinn aufgehalten hatte, siebenmal häufiger als in der Erstausgabe vorkommt (Lilja 1980, 107). Das Resultat dieses gewaltsamen Eingriffs war, dass die Handlungslinie zerstört und der Roman aus dem Gleichgewicht geraten war. Damit hatte der Autor zwar die Kritiker befriedigt, seiner Leserschaft und der estnischen Literatur aber einen Bärendienst erwiesen, denn fortan wurde der Roman als »sozialistisch« und damit künstlerisch minderwertig abgestempelt, was er in der ersten Auflage noch keineswegs gewesen war. Da die weltweit übliche Editionspraxis immer von der Ausgabe letzter Hand ausgeht, ist auch in jüngster Zeit keine Neuauflage der ersten Fassung erschienen, so dass der Roman allmählich in Vergessenheit gerät. Damit geht der estnischen Literatur ein sprachlich reicher, farbenfroher, vielschichtiger und mit viel Humor geschriebener Text verloren, der allenfalls die Chance zu haben scheint, später vielleicht einmal als Geheimtipp eine Leserschaft zu finden (zum Vorgang einschließlich Textvergleich s. Hasselblatt 2005). Das Beispiel Hints zeigt noch einmal die Problematik der Implementierung einer neuen Ideologie. Der Autor selbst, der sozialistischem Gedankengut nicht gerade ablehnend gegenüberstand, hatte schon in der ersten Auflage versucht, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und hier und da ein wenig sozialistisches Pathos durchschimmern lassen. Das konnte man als lästige und innerhalb eines künstlerisch-ästhetischen Diskurses prinzipiell abzulehnende Färbung bemängeln, aber der Roman als Ganzes war damit noch nicht

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disqualifiziert. Erst die Überarbeitung muss als gescheiterter Versuch angesehen werden, der dazu führte, dass am Ende nichts mehr übrig bleibt: Weder der neue Wein noch die alten Schläuche. Junger Wein in neuen Schläuchen Es stellt sich sodann die Frage, ob es nicht »unbeschriebene Blätter« gab, die sich um die »neue« Literatur bemühten und dabei nicht durch ihre früheren Erfahrungen vom rechten Weg in die sozialistische Zukunft abgelenkt wurden. Im Bereich der Prosa war die Ausbeute wirklich mager, so dass das Schwergewicht auf dem Import lag. Massenweise wurde aus dem Russischen übersetzt, allein für den Zeitraum 1940–1954 kann man 280 übersetzte russische Titel ausmachen, denen 226 estnische Originaltitel gegenüberstanden (NER 1956, 343–381). Zwar sind in dieser Bibliographie auch russische Klassiker vertreten, die nichts mit dem Sozialismus zu tun hatten, aber in den analogen estnischen Zahlen finden sich ebenfalls die Neudrucke der klassischen Werke, so dass der Vergleich aussagekräftig ist. Obendrein zeigen die Zahlen erneut, dass bei der ideologischen Umgestaltung der Schwerpunkt mindestens ebenso stark auf dem Russischen wie auf dem Sozialistischen lag. Ein Autor, der diese beiden Eigenschaften vereinte und der zu einem Kuriosum der estnischen Literaturgeschichte wurde, war Hans Leberecht. Ein Kuriosum ist dieser 1910 in St. Petersburg als Sohn estnischer Einwanderer geborene Leberecht deshalb, weil er Russisch schrieb und so betrachtet gar nicht zur estnischen Literatur gehört. Er hatte einige Sommer seiner Kindheit jedoch in Estland verbracht und eine gewisse Affinität zum Land seiner Vorfahren. Entscheidend für seine Behandlung an dieser Stelle ist, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg als »estnischer« Autor vermarktet wurde, wodurch er in der fraglichen Periode eine gewisse Rolle innerhalb des estnischen literarischen Lebens spielte. Er war 1945 mit den siegreichen Sowjettruppen nach Estland gekommen und dann Sonderkorrespondent der russischen Zei˙ tung Sovetskaja Estonija (Sowjetestland) gewesen. Ab 1951 lebte er als freier Schriftsteller in Tallinn, wo er 1960 starb. Mit dem Schreiben von Kurzgeschichten hatte Leberecht bereits in den 1930er-Jahren begonnen, während des Krieges setzte er diese Tätigkeit mit Frontberichten fort, und nach dem Krieg verlegte er sich auf das Abfassen von längerer Prosa. Dabei kam ihm zugute, dass er ein aktuelles Thema wählte, die plakative und grob simplifizierende Technik des Sozialistischen Realismus offenkundig beherrschte und in der Sprache schrieb, die die maßgeblichen Ideologen verstanden. 1948 erschien in der Leningrader Zeitschrift Zvezda (Stern) die Erzählung Svet v Koordi (Licht in Koordi), worin das Le-

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ben in einem estnischen Dorf beschrieben wird, wo sich die Bewohner fröhlich zu einer Kolchose zusammenschließen. Das Buch zeugte von wenig Sachkenntnis, was die Zustände in Estland betraf, und war so schlecht, dass es bei der Jury des im gleichen Jahr ausgelobten Romanwettbewerbes keine Beachtung fand. Stalin persönlich hatte die Erzählung aber gelesen und seinem estnischen Satrapen ans Herz gelegt, der nun dafür zu sorgen hatte, dass die Hymne auf das Kolchosleben auch angemessen gewürdigt wurde. Denn der Aufbau der Kolchosen stockte in Estland, da konnte man ein wenig literarische Unterstützung gebrauchen. Also wurde die Jury, der u.a. Paul Rummo und Paul Viiding angehörten, kurzerhand aufgelöst und eine neue, der u. a. Johannes Semper und Paul Kuusberg (s. § 41) angehören, gebildet, die pflichtbewusst Leberecht den ersten Preis verlieh. Die Erzählung wurde umgehend ins Estnische übersetzt und erhielt 1949 den Stalinpreis dritter Klasse. Damit war der Erfolg im sozialistischen Lager programmiert, das Buch wurde in über 20 Sprachen übersetzt, 1951 verfilmt und 1955 als Oper aufgeführt. Sogar auf Deutsch erlebte es vier Auflagen in Berlin und Moskau. Von diesem Erfolg beflügelt, verfasste Leberecht in den 1950er-Jahren noch einige weitere Romane über den Krieg und das Kolchosleben. Sie wurden umgehend ins Estnische übersetzt und fanden auch schnell den Weg in andere Sprachen, haben aber den – zweifelhaften – Stellenwert des Erstlings nicht erlangen können. Denn inzwischen war die Textauswahl in Estland größer geworden und der Einäugige schon lange kein König mehr. Allenfalls der letzte Roman, Dvorcy Vassarov (1960, dt. Die Paläste der Wassars, 1961), verdient Beachtung, da er das Leben der Petersburger Esten am Vorabend von Revolution und Weltkrieg beschreibt. Aber ein Werk der estnischen Literatur wird das Buch dadurch natürlich nicht. Die Tragik von Leberecht kann man darin sehen, dass er auch als russischer Autor nicht wahrgenommen wird und in keine Kategorie passt. Er kann als ein Autor der »internationalen stalinistischen Literatur« bezeichnet werden. Als einzigen estnischen Autor der ersten Stunde kann man Osvald Tooming bezeichnen. Er ist 1914 geboren und war seit seinem 20. Lebensjahr journalistisch tätig. Während der deutschen Besatzung war er in Haft, was ihm später auch unter den Sowjets eine fünfjährige Verbannung bescherte, da er im Zweiten Weltkrieg auf der falschen Seite der Front war und auch noch sporadisch für Zeitungen geschrieben hatte, was einer Kollaboration mit dem Feind gleichkam. Nach seiner Entlassung 1955 lebte er als freiberuflicher Schriftsteller an verschiedenen Orten und starb 1992 in Tartu. Tooming publizierte nach dem Krieg zwei Sammlungen mit Kurzprosa, 1950 erschien sein erster Roman Pruuni katku aastail (In den Jahren der braunen Pest), der das Leben als Gefangener der Gestapo im besetzten Estland zum Inhalt hat.

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Die Hauptfigur Ilmar Maamets wird auf den ersten Seiten des Romans inhaftiert und bleibt den Rest des ca. 110000 Wörter umfassenden Werks in Gefangenschaft. Detailliert wird mit einigen Rückblenden und Nebenlinien der Leidensweg in einem Nazigefängnis beschrieben, wobei der Held allmählich von einem politisch zwar nicht uninteressierten, aber weitgehend unbedarften Jüngling zum überzeugten kommunistischen Kämpfer heranreift. In platter Schwarzweißdarstellung – die deutschen Besatzer und ihre estnischen Handlanger sind durchweg roh, sadistisch, ungebildet und bisweilen betrunken, die estnischen Arbeiter und Gefangenen dagegen ehrlich, optimistisch und moralisch integer – wird ein positiver Held aufgebaut. Überraschende Wendungen oder auch nur Gedanken fehlen völlig, stattdessen werden melodramatische Passagen mit sterbenden Helden und bedeutungsschweren Stalinzitaten aufgetischt, so dass das Buch mit Recht als einer der ersten Vertreter des Sozialistischen Realismus in Estland bezeichnet worden ist (Lias 1985, 65; EKA V, 1, 291; vgl. die ausgezeichnete Analyse von Lilja 1980, 150–180). Das hat vermutlich auch dazu geführt, dass Toomings Roman für die weitere Entwicklung der estnischen Literatur bedeutungslos geblieben ist, was für die Mehrheit der in diesen mühseligen Jahren erschienenen Prosawerke gilt (vgl. Hasselblatt 2003a). Klassenkampf auf der Bühne Es ist daher verständlich, dass in dieser Phase der Umgestaltung andere Genres die Führungsrolle übernahmen. Dabei bot sich das Theater besonders an, weil man auf der Bühne viel direkter propagandistisch tätig sein konnte. Große Bedeutung kommt hier August Jakobson zu, dem »der Weg in die sozialistische Gesellschaft und die Reifung zum Sowjetschriftsteller leichter fiel als vielen anderen«, wie es in der letzten sozialistischen Literaturgeschichte heißt (EKA V, 1, 162). Jakobson hatte während des Krieges im sowjetischen Hinterland einige Erzählungen publiziert, in denen es um die Stählung und Reifung des sowjetischen Menschen ging, nach seiner Rückkehr nach Tallinn konzentrierte er sich neben seiner politischen Tätigkeit ganz auf das Theater, das er zwischen 1946 und 1953 mit zehn Stücken versorgte. Alle Stücke, die der Autor zum Teil mit dem Untertitel »Dramatische Erzählung« versehen hatte, zeichnen sich aus durch eine klare Zweiteilung der handelnden Personen in Gute und Böse und lassen wenig Spielraum für Interpretationen. Im ersten Stück, Elu tsitadellis (1946, Ein Leben in der Zitadelle), soll die Ausweglosigkeit eines apolitischen Individualismus anhand eines zurückgezogen lebenden Professors und seiner beiden Kinder, die in verschiedenen politischen Lagern stehen, dargestellt werden. Welche Seite die richtige ist, erklärt

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schließlich ein überzeugt auftretender Major der Sowjetarmee. Im zweiten Stück, Võitlus (1947, Kampf, später unter dem Titel Võitlus rindejooneta, Kampf ohne Front, dt. Die Brüder Kondor (Kampf ohne Fronten), 1948) geht es um den Gegensatz zwischen Bürgertum und Proletariat, Hauptfiguren sind hier Zwillinge, von denen der eine Kommunist, der andere Kapitalist ist. Beide Schauspiele wurden mit dem Stalinpreis ausgezeichnet und auf zahlreichen anderen Bühnen der Sowjetunion inszeniert. Die Brüder Kondor gelangten im Herbst 1948 auch ins Berliner Theater am Schiffbauerdamm und wurden anschließend in etlichen Tageszeitungen rezensiert. Die weiteren Schauspiele von Jakobson behandelten den Klassenkampf und die Kollektivierung der Landwirtschaft in Estland sowie – in den späteren Stücken Anfang der 1950er-Jahre – globalere politische Themen wie den internationalen Kapitalismus, die Friedensbewegung oder den Imperialismus. Jakobson erwies sich damit als wortgewandter Akteur auf dem Feld des Agitproptheaters und war das Aushängeschild der jungen stalinistischen estnischen Kultur. Auf die estnischen Bühnen gelangten in diesen ersten Jahren noch andere Stücke mehr oder weniger gleicher Machart. So versuchte Mai Talvest mit gut zwei Dutzend Komödien und Einaktern ihr Scherflein zum Aufbau des Sozialismus beizutragen, was ihr insofern gelang, als ihre simplen und plakativen Stücke gerne von Laienschauspielbühnen genommen wurden und große Verbreitung auch und gerade in Russland erlangten. Gleichfalls für Amateurtheater schrieb Osvald Tooming zwei Stücke, ebenso versuchte sich Semper mit einigen Schauspielen, ferner fallen die Debüts von Egon Rannet und Villem Gross in diese Periode. Alles in allem war die Ausbeute an Bühnentexten also relativ groß, andererseits war das Themenspektrum aufgrund der politischen Rahmenbedingungen ziemlich beschränkt – und das im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Über das Niveau des Melodramas, in dem beispielsweise ein abgefangener Brief eine entscheidende Rolle spielen konnte, kamen die Stücke nicht hinaus (vgl. Jüriado 1973). Bei allem sozialistischen Inhalt darf man jedoch nicht vergessen, dass die wirtschaftliche Grundlage der Theater in weiten Teilen noch – bzw. nach 1948 wieder – weitgehend von kapitalistisch funktionierenden Mechanismen abhängig war. 1940 waren die sofort verstaatlichten Theater mit reichlichen Finanzmitteln ausgestattet worden, da man in ihnen ein wichtiges Propagandainstrument zur Durchsetzung der neuen Ideologie sah. Aber als nach dem Zweiten Weltkrieg die Mittel allgemein knapper wurden und die Besucherzahlen dramatisch zurückgegangen waren (Hion 2002, 93), erfolgte 1948 eine Änderung der staatlichen Politik, die zu quasi-marktwirtschaftlichen Bedingungen führte. Auf einem ansonsten von sozialistischer Mangelwirtschaft bestimmten Markt musste das für viele Theater langsam aber sicher den Ruin

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bedeuten, wie die folgenden haarsträubenden Beispiele aus der unmittelbaren Nachkriegszeit veranschaulichen (vgl. Hion 2002a): Manchmal musste eine Inszenierung abgeblasen werden, weil die für die Requisite verantwortliche Dienststelle sich weigerte, Material zur Verfügung zu stellen, ehe das Theater seine Schulden beglichen hatte; im Kampf um die Gunst des Publikums bei Gastspielen auf dem Lande vernichteten Vertreter des einen Theaters die Plakate des anderen; weil es keinen Bus für den Transport der Truppe gab, wurde sie – im Winter – auf der offenen Pritsche eines Lastwagens zur Aufführung gebracht, wofür bei der zuständigen Stelle 25 Paar Filzstiefel und Pelze beantragt wurden; und aus Saaremaa kam die Klage, dass die örtliche Tankstelle sich weigere, Benzin auszugeben, weswegen man sich das Benzin aus Tallinn besorgen müsse, was jedes Mal 100 Liter verbrauche. Es verwundert daher nicht, dass 1948 in den kleineren Städten wie Paide, Võru, Valga und Kingissepa, wie Saaremaas Hauptstadt Kuressaare von 1952 bis 1988 hieß, die Bühnen geschlossen wurden. Panegyrische Dichtung Neben dem Theater war die Lyrik ein geeignetes Mittel, mit dem man schnell auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse und neuen Anforderungen reagieren konnte. Hier musste man nicht mühselig ein altes Konzept oder eine eingefahrene Methode abstreifen, sondern konnte sich viel leichter an den angebotenen Vorbildern orientieren. Dabei war nicht alle neue Dichtung panegyrischer Art, aber wie im Mittelalter und der Frühen Neuzeit jeder Philosoph einen Gottesbeweis zu erbringen hatte, bevor er ernst genommen wurde, so glaubten nun viele Dichter und Dichterinnen, dass die Eintrittskarte in den sozialistischen Parnass in einem Gedicht, besser noch einem Poem, auf die neuen Machthaber bestünde. An vorderster Front stand hier Juhan Smuul. Er war 1922 auf Muhu geboren worden und dort auch zur Schule gegangen. Nach einer kurzen Periode auf der Landwirtschaftsschule wurde er 1941 in die Sowjetarmee mobilisiert. Während des Kriegs begann er mit dem Dichten, nach Kriegsende bekleidete er verschiedene Positionen im literarischen Leben Estlands und stieg schnell zur Galionsfigur der Literaturnomenklatur Sowjetestlands auf. Von 1953 bis zu seinem Tode 1971 war er Vorsitzender des Sowjetestnischen Schriftstellerverbandes. Smuul legte nach seinem Debüt in Periodika des sowjetischen Hinterlands 1946 seinen ersten Gedichtband, Karm noorus (Harte Jugend), vor. Dem folgten die – teilweise sehr langen – Poeme Tormi Poeg (Sohn des Sturms, 1947) und Järvesuu poiste brigaad (Die Jungenbrigade aus Järvesuu, 1948), bevor

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zum 70. Geburtstag des Diktators 1949 sein Poeem Stalinile (Poem auf Stalin) erschien. In die Frühphase des Dichters, der später zur Prosa wechselte und dort eine nachhaltigere Wirkung erzielte, gehören ferner der Gedichtband Et õunapuud õitseksid (Dass die Apfelbäume blühen mögen, 1951) und das Poem Mina – kommunistlik noor (Ich, der Komsomolze, 1953). Wie die Überschriften zum Teil schon enthüllen, handelt es sich hierbei größtenteils um eine Fortsetzung der Kampfdichtung, die im Hinterland begonnen hatte. Smuul war geprägt von den Erfahrungen des Krieges und ein glühender Anhänger der neuen Ordnung geworden, weswegen er auch in einer Jahrzehnte später geschriebenen autobiographischen Skizze keinerlei Anstoß an seinen panegyrischen Versen auf Stalin nimmt: »Ich glaube nicht, dass man einen Schriftsteller zwingen kann, etwas zu schreiben, woran er selbst nicht glaubt, obwohl es derlei scheinbar selbstkritische Stimmen nach der Entzauberung des Personenkults von rechter wie von linker Seite gegeben hat. Für viele von uns, deren Persönlichkeit sich […] in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges herausgebildet hat, […] war Stalins Name nicht ein Deckmantel für billige konjunkturelle Schleimerei, sondern Banner und Faust. So auch für mich. Deswegen enthält das Poem neben dem unbestreitbaren Tribut an den Stalinkult auch Abschnitte, unter die ich ohne Bedauern keinen Schlussstrich ziehen kann.« (Smuul 1990, 304). Wenigstens kann man Smuul hier die Ehrlichkeit nicht absprechen, auch wäre es falsch, ihn als unbegabten Hofdichter abzutun. Man kann in seinen Gedichten, die im Übrigen nicht ausnahmslos von Heldentaten im Krieg, kommunistischen Wohltaten oder Fingerzeigen des großen Anführers handeln, sondern auch Bilder aus seiner Kindheit und aus der Natur enthalten, eine gewisse Kunstfertigkeit und Begabung sehr wohl erkennen. Außerdem ist schon hier bei allem Ernst eine Spur des humanen Humors auszumachen, der später die Prosa von Smuul auszeichnet und ihn vom Gros des grauen sozialistischen Mittelmaßes abhebt. Mit seiner Dichtung stand Smuul stärker als erwartet in der gesamteuropäischen Tradition der mystifizierenden panegyrischen Dichtung, wie Jaan Undusk (1994a) in seiner überzeugenden Analyse des Stalinpoems aufzeigt, worin deutliche Parallelen zur christlichen Symbolik bloßgelegt werden. Smuul war nicht der Einzige, der seine Dichtung in diesen Jahren ganz in den Dienst der neuen Ideologie stellte, und ebenso wenig war Stalin der Einzige, der in den Genuss solcher glorifizierenden Widmungen kam. Explizite Nennungen seines Namens, aber auch von Lenin oder ganz allgemein der Partei, finden sich in den Versen von Aira Kaal, Jaan Kärner, Ralf Parve, Mart Raud, Paul Rummo und Debora Vaarandi aus jenen Jahren. Selbst die berühmte Setu-Dichterin Anne Vabarna (vgl. § 7) hat nach dem Umschwung ein paar Loblieder auf Stalin und die Kolchosen zum Besten gegeben. Den-

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noch sollte noch einmal auf Smuuls oben zitierte und sicherlich korrekte Aussage hingewiesen werden: Gezwungen zu solchen Texten wurde niemand; wie auch immer man die Bedeutung der Zeitumstände einschätzt, letztendlich war es der freie Wille der Betroffenen, diese Texte zu verfassen. Wer sich nicht darauf einlassen konnte oder wollte, schwieg und versuchte anderweitig über die Runden zu kommen. Das konnte auch das Abtauchen in die Illegalität mit sich bringen, wie es der Literaturwissenschaftler Jaan Roos tat, der sich 1945 dem Zugriff der Geheimpolizei entziehen konnte und annähernd zehn Jahre untergetaucht war. Er führte jahrelang ein Tagebuch, das in vier Bänden zwischen 1997 und 2004 publiziert worden ist und eine bedrückende Chronik der Stalinzeit darstellt.

§ 39 Die Konsolidierung der Exilgemeinschaft Aufbau neuer Strukturen Was die Möglichkeiten der Kontinuitätswahrung der estnischen Literatur anbetraf, ging es den verstreut im Exil eintreffenden estnischen Autorinnen und Autoren zunächst kaum besser als den Daheimgebliebenen. Statt Terror, Verbannung und Zensur waren es hier allerdings materielle Beschränkungen, da die wenigsten mit größeren Geldbeträgen in der Tasche geflohen waren, die Diaspora und die anfängliche Internierung, die sich nachteilig auf die Literatur auswirkten. Dennoch war der Wille, sich den verschiedenen totalitären Regimen zu widersetzen und eine eigenständige Kultur zu bewahren, außerordentlich stark, und bereits in der zweiten Julihälfte 1944 konnte in Helsinki das Sammelwerk Eesti Looming erscheinen, das die Tradition der unter der deutschen Besatzung eingestellten Looming fortsetzen sollte. Die Redaktion wurde von Ants Oras, Karl Ristikivi, Gustav Suits, Valev Uibopuu und Edgar V. Saks gebildet, wobei Letztgenannter hauptsächlich für die finanzielle Seite verantwortlich war. Eine zweite Ausgabe erschien im November des gleichen Jahres, ebenfalls noch in Helsinki. Danach verlagerte sich das literarische Leben der entstehenden Exilgemeinschaft nach Schweden, wohin sich die Mehrheit der in Finnland eingetroffenen Flüchtlinge nach dem Waffenstillstand zwischen Finnland und der Sowjetunion begeben hatte. Die dritte Ausgabe von Eesti Looming erschien 1945 in Stockholm, wo 1946 auch die vierte und letzte Lieferung erschien. Parallel dazu entstanden in den Flüchtlingslagern in Deutschland erste Zusammenschlüsse. Anders als in Schweden, wo es im Mai 1945 schon keine Lager mehr gab und die meisten Flüchtlinge ein Auskommen gefunden hat-

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ten, waren die nach Deutschland geflohenen Esten für einige Jahre gezwungen, in Lagern zu leben. Sie wurden hier schnell publizistisch aktiv und gaben bereits im Juni 1945 in Kempten ihr erstes Bulletin heraus – das in einer Auflage von 200–250 Exemplaren erstellte Blatt Kauge Kodu (Ferne Heimat). Sehr rasch erschienen danach auch in anderen Lagern Publikationen, so dass in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre in Deutschland eine geradezu vielfältige Exilkultur entstand, wenngleich infolge der politischen Lage keine allzu intensiven Kontakte untereinander bestanden. Dennoch war diese Publikationstätigkeit als Vorbereitung für die spätere Exilkultur von großer Bedeutung (s. Valmas 1998). Diese Exilkultur entfaltete sich in den 1950er-Jahren in Schweden und nach der Öffnung der klassischen Einwanderungsländer für Flüchtlinge in Nordamerika und Australien. Auch mit der Verlagstätigkeit wurde relativ früh begonnen. Die Zahl der von den Flüchtlingen mitgenommenen Bücher war niedrig, von den Flüchtlingen in Deutschland weiß man, dass nur ein Buch auf elf Personen kam (Valmas 1999, 480). Ebenso klagte man in Finnland darüber, dass die in den Lazaretten liegenden Esten nichts zu lesen hätten. In den Lagern in Deutschland bemühte man sich alsbald um die Herstellung von Schulbüchern, ebenso wurden Klassiker der Literatur wie Luts, Tammsaare oder Metsanurk verlegt. Der erste Teil von Tammsaares Tõde ja õigus erschien 1946 sogar zweimal im Exil, einmal in Deutschland und einmal in Schweden. Hier in Vadstena, bzw. streng genommen ursprünglich in Helsinki, wo im Juli 1944 eine Besprechung zwischen Ristikivi, Uibopuu und dem Geschäftsmann Andres Laur stattgefunden hatte, war der erste exilestnische Verlag, Orto, gegründet worden. Das kommerziell erfolgreiche Unternehmen, das nach alter estnischer Tradition auch Romanwettbewerbe veranstalte, wuchs schnell zu einem der führenden Verlage heran und hatte in der Anfangsphase eine Monopolstellung. Nicht zuletzt deswegen und weil die Honorare, die Laur zahlte, relativ niedrig waren, wurde im Dezember 1950 in Lund eine Verlagsgenossenschaft gegründet, die unter dem Namen Eesti Kirjanike Kooperatiiv (Estnische Schriftstellergenossenschaft) 1951 mit dem Memoirenband Päike ja jõgi (Sonne und Fluss) von Visnapuu ihr erstes Buch herausbrachte. Die beiden Verlage befehdeten sich zeitweise, obwohl sie sich andererseits den Markt aufgeteilt hatten und, wie sich herausstellte, auch lange Zeit nebeneinander erfolgreich existieren konnten. Orto konzentrierte sich stärker auf die ins Estnische übersetzte Literatur und operierte nach strengen kommerziellen Gesichtspunkten; seit 1951 befand sich der Hauptsitz des Verlags in Toronto, während im schwedischen Göteborg nur noch eine Vertretung bestand. Mit dem Tod von Anders Laur 1973 stellte der Verlag seine Tätigkeit ein. Das Eesti Kirjanike Kooperatiiv (EEK), das ebenfalls mit dem Tod seiner treiben-

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den Kraft, Bernard Kangro, 1994 seine Tätigkeit einstellte, konzentrierte sich stärker auf die Originalliteratur und war im Stile eines Buchclubs organisiert, d. h. man konnte mit einer festen Abnehmerzahl rechnen (s. Kronberg 2002). Die beiden Verlage waren nicht die einzigen, aber gemeinsam waren sie für ca. 50 % der belletristischen und gut 20 % der gesamten Exilproduktion, die sich auf 4070 Titel beläuft (Valmas 2003, II, 7 bzw. 306), verantwortlich. Das EEK kam auf 415 Titel, Orto auf 405, alle anderen Verlage hatten weniger als 100 Titel. Nach Schweden, wo über die Hälfte aller Bücher erschien, und Kanada waren die USA, Deutschland, Australien, Großbritannien und Finnland die Länder, in denen exilestnische Literatur verlegt wurde. In Deutschland sind in der unmittelbaren Nachkriegszeit knapp 300 Titel erschienen (Valmas 1999, 484), die Hälfte davon zwischen 1946 und 1948 in Geislingen, wo sich ein Flüchtlingslager befand, in dem viele Esten waren. Darüber hinaus ist die Tätigkeit der so genannten »Baltischen Universität«, die von 1946 bis 1949 in Pinneberg bei Hamburg auf Initiative von geflohenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitäten von Tartu, Riga und Kaunas gegründet worden war, zu erwähnen, wenngleich die hier erschienenen Druckwerke nicht belletristischer Art und auch nicht estnischsprachig waren. Insgesamt belief sich der Anteil der Belletristik an der Exilproduktion auf ein gutes Drittel aller Bücher; zieht man hiervon die Übersetzungen ab, so bleibt mit 960 Titeln ein knappes Viertel, das der estnischen Originalliteratur zuzurechnen ist (Valmas 2005, 130). Noch bevor das Verlagswesen in Schwung gekommen war, war schon am 6. Dezember 1945 in Stockholm der Exilestnische Schriftstellerverband gegründet worden. Diesem Verband gehörten über die Jahre hinweg zusammengenommen 70 Mitglieder an, und er spielte eine wichtige Rolle bei der Förderung und Bewahrung der estnischen Exilliteratur. Auch nach der Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit, als das Exil schon seine Daseinsnotwendigkeit eingebüßt hatte, bestand der Verband noch einige Jahre weiter, ehe er 2000 mit dem einheimischen Schriftstellerverband fusionierte. Das wichtigste Mittel für die Kommunikation innerhalb der Diaspora waren aber die Zeitungen und Zeitschriften, die ebenfalls recht schnell ins Leben gerufen wurden. Als Vorläufer der beiden später wichtig gewordenen Zeitschriften können 13 Nummern einer auf Matrize vervielfältigten Zeitschrift Sõna (Das Wort) genannt werden, die zwischen 1948 und 1950, mit einem Nachzügler von 1956, erschienen sind. Am 20. Juni 1950 kam dann im schwedischen Lund in einer Auflage von 4500 Exemplaren die erste Nummer der Zeitschrift Tulimuld (Feuererde) heraus. Im ersten Jahr erschienen drei Hefte, danach bis 1958 sechs Hefte pro Jahr, von 1959 bis 1993 war Tulimuld eine Quartalszeitschrift. Die während ihres gesamten Erscheinens von

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Bernard Kangro redigierte Zeitschrift, deren Auflagenhöhe gegen Ende der Periode auf etwas unter 1000 gesunken war, wurde das wichtigste Publikationsorgan der estnischen Exilgemeinschaft und veröffentlichte Lyrik, Prosa, Erinnerungen, Essays und Kritiken. Die Zeitschrift war vergleichsweise konservativ, wobei sie sich aber wenig mit der aktuellen politischen Situation befasste, sondern den Schwerpunkt auf die Pflege der estnischen Kultur und Literatur legte. Eine etwas liberalere Ausrichtung, die u.a. in einer stärkeren Berücksichtigung moderner westlicher Kulturströmungen und der frühzeitigen Rezension auch in Estland erschienener Literatur zum Ausdruck kam, hatte die Zeitschrift Mana (Zauber), deren erstes Heft 1957 herauskam. Sie begann unter der Herausgeberschaft von Ivar Grünthal als Quartalszeitschrift in Schweden und erschien ab 1965, nachdem Hellar Grabbi die Redaktion übernommen hatte, in Toronto. Hier wurde die vierteljährliche Erscheinungsweise fortgesetzt, ab Heft 4/1965 ging man jedoch mit Nummer 28 zur Einzelnummerierung über, der bald darauf eine unregelmäßige Erscheinungsweise folgte. 1975 und 1980 sind gar keine Hefte erschienen, und als in Estland die politischen Veränderungen begonnen hatten, wurde der Rhythmus völlig unüberschaubar, da ein fertiges Heft manchmal in Ermangelung der notwendigen Finanzierung jahrelang in der Druckerei liegen konnte: Auf Nr. 56 von 1987 folgte ein Jahr später Nr. 58 und 1992, schon in Estland gedruckt, die Abschlussnummer 61–62. Ebenfalls in Estland erschien ein Gesamtregister mit der Ordnungsnummer 60 und dem Hinweis, dass die fehlenden, aber bereits zusammengestellten Nummern 57 und 59 nicht erschienen seien. Sie wurden mit großer Verspätung dennoch gedruckt, so dass die Reihe mit den Heften 57 (1995) und 59 (1999) doch noch zu einem Abschluss geführt werden konnte. Tulimuld und Mana schufen im Verbunde mit den zahlreichen anderen Publikationen eine hinreichende Infrastruktur, die die Voraussetzungen für ein über Jahrzehnte vielfältiges und lebendiges literarisches Leben im Exil bildeten. Die ältere Generation des Exils Man kann die Autorinnen und Autoren des Exils grob in drei Gruppen aufteilen, wobei als Kriterium neben dem Alter der Umfang des im Ausland erschienenen Werks dient: Zur älteren Generation gehören dann jene Personen, die über eine reiche schriftstellerische Erfahrung verfügten und den Großteil ihres Œuvres in Estland veröffentlicht hatten. Sie fügten ihrem Werk nur relativ wenig Neues hinzu. Eine zweite Gruppe bilden diejenigen, die zwar in Estland schon einige Bücher publiziert oder wenigstens in Zeit-

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schriften debütiert hatten, deren Hauptwerk aber erst im Exil erschienen ist. Die dritte Gruppe wird von Personen gebildet, die gleichfalls in Estland geboren sind, aber als Kinder oder Jugendliche ins Exil gelangt sind und dort mit dem Schreiben begonnen haben. Eine denkbare vierte Gruppe, die aus Personen bestünde, die erst im Exil geboren ist, stellt bereits eine Randgruppe oder Übergangserscheinung dar, da hier in der Regel ein Sprachwechsel stattgefunden hat: Sie schreiben in der Sprache des Gastlandes – vornehmlich Schwedisch oder Englisch – und sind nur noch durch die Herkunft ihrer Eltern oder eines Elternteils, vage vielleicht auch durch die Themenwahl, mit Estland verbunden. Sie gehören nach der hier vertretenen Auffassung (s. § 1) nicht mehr in den Bereich der estnischen Literatur. Die ältere Generation wird in der Lyrik durch Suits, Under und Visnapuu verkörpert. Diese drei Klassiker der estnischen Lyrik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts debütiert hatten und in der Zwischenkriegszeit anerkannte poetische Autoritäten waren, veröffentlichten noch einige Gedichtbände, in denen zum Teil auch die einschneidenden Ereignisse von Weltkrieg und Flucht ihren Widerhall fanden. Im Großen und Ganzen blieben sie aber ihrem Stil treu und symbolisierten die kulturelle Kontinuität, die im gleichen Zeitraum in Estland selbst unterbrochen schien. Zu dieser Generation sind noch Artur Adson und von den Prosaisten Karl Rumor, Juhan Jaik, Reed Morn und August Gailit zu rechnen, wobei Letzterer aber immerhin noch fünf Bücher im Exil veröffentlichte (vgl. § 33); andererseits ist auch in seinem Falle sein Hauptwerk unbestreitbar vor dem Krieg in Estland erschienen. Das Gleiche trifft mit Abstrichen auch auf August Mälk zu, der allerdings eine noch größere Anzahl neuerer Werke im Exil vorlegte. Er veröffentlichte als erstes zwei Romane über die Flucht und die ersten Jahre des Exils und legte danach den zweiteiligen Roman Tee kaevule (Der Weg zum Brunnen, 1952–1953) vor. Hierin beschrieb er die Sinnsuche eines vom Schuldienst suspendierten Lehrers in Estland, d.h. der Autor setzte in gewisser Hinsicht die Thematik der Küstentrilogie fort. In vier weiteren Romanen behandelte Mälk Themen aus der Vergangenheit und – in Kevadine maa (Das frühlingshafte Land, 1963) – aus der zeitgenössischen schwedischen Gesellschaft. Der produktive Autor legte ferner einige Sammlungen mit Novellen und Erzählungen vor, zwei Bände mit Memoiren und als Spätwerk eine Serie von Novellen, die sich im Sciencefiction-Stil mit aktuellen Gegenwartsproblemen befasst (Projekt Victoria, 1978). Pedro Krusten kann ebenfalls als ein Autor genannt werden, der sein reichhaltiges Vorkriegswerk nach dem Kriege noch wesentlich ergänzen konnte. Er begann mit einer Trilogie über die dramatischen Ereignisse von Flucht und Internierung, der eine weitere Trilogie folgte, die diesmal aber die

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gesellschaftlichen Veränderungen in Estland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend der Unabhängigkeit behandelte: Torn üle metsa (Sturm über dem Wald, 1959), Laul kõrgel kaldal (Lied am hohen Ufer, 1962) und Neiuke läks roosiaeda (Das Mägdelein ging in den Rosengarten, 1963) bilden eine ruhig dahinfließende Familiensaga, die das Bild über die Genese der estnischen Nation bereichert. Die meisten anderen der Etablierten erweiterten ihr Vorkriegswerk nur unwesentlich. Albert Kivikas setzte seinen Roman Nimed marmortahvlil (s. § 33) fort, wobei er jedoch ins Memoirenhafte abglitt, und schloss sein Werk 1963 mit dem Roman Kodukäija (Der Wiedergänger) ab. Hierin kehrt ein Exileste im Traum nach Estland zurück – ein an sich originelles und ausbaufähiges Sujet, das auch bei Bernard Kangro und Enn Nõu (s.u.) auftaucht. Bei Kivikas gerät der Text indessen zu sehr in die Nähe eines politischen Pamphlets und büßt an Überzeugungskraft ein. Nicht zufällig ist der Roman auch als fünfter Teil von Nimed marmortahvlil bezeichnet worden, da auch hier die zum Ideal stilisierte Estnische Republik im Mittelpunkt steht und die Hauptperson auffällige Übereinstimmungen mit der früheren Romanserie von Kivikas aufweist. Der Roman war eher Anlass und Gegenstand martialischer Wortgefechte zwischen dem estnischen Exil und den einheimischen Sowjetideologen als ein künstlerisches Ereignis. Bernard Kangro, Karl Ristikivi, Valev Uibopuu Die mittlere Generation wird am deutlichsten von Bernard Kangro, Karl Ristikivi und Valev Uibopuu verkörpert. Sie alle waren relativ kurz vor dem Ersten Weltkrieg geboren und hatten in den 1930er-Jahren in Estland debütiert, Kangro mit drei Gedichtbänden, Ristikivi mit Kinderliteratur und einer Aufsehen erregenden Trilogie (s. § 37), Uibopuu mit Novellen. Von ihnen war Bernard Kangro der produktivste Schriftsteller und hinsichtlich der Organisation des literarischen Lebens die wichtigste Persönlichkeit: Er war alle 44 Jahrgänge (1950–1993) hindurch der Chefredakteur von Tulimuld, er war die treibende Kraft hinter dem Eesti Kirjanike Kooperatiiv, und er war ebenso ein fruchtbarer Dichter wie ein eifriger Romancier. So betrachtet erscheint es nicht als Zufall, dass Kangros Gedichtband Põlenud puu (Der verbrannte Baum) vom Juni 1945 die erste im Exil erschienene Gedichtsammlung dieses nun entstehenden Zweigs der estnischen Literatur war. In diesem Band, der zum Großteil noch in Estland abgefasst worden war, dominierten melancholische Naturbilder und Eindrücke vom Krieg. Das Erscheinen des Buches hatte auch symbolische Bedeutung, zeigte es doch, dass die Möglichkeit zur Literatur offenbar auch im Exil bestand.

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Von Anfang an war Bernard Kangro jemand, der der Exilgemeinschaft Mut und Selbstvertrauen einflößte. Mit seinen vierzehn zwischen 1945 und 1988 im Exil erschienenen Gedichtbänden setzte er diese Tätigkeit unermüdlich fort, wobei das Schreiben auch Selbstzweck gewesen sein mag, wie Kangro in einem Interview enthüllte: »Ein anderer hätte gesagt: schreib doch ein sehr gutes Gedicht anstelle von fünf befriedigenden oder halbwegs guten. Ich glaube nicht daran. Hätte ich statt dieser fünf bloß eines geschrieben, wäre das vielleicht viel schlechter ausgefallen. Denn der innere geistige Prozeß, dessen Ausdrucksform das Gedicht ist, ist ja doch ein sehr kleiner Teil des Menschen, seiner Phantasie oder seines Willens, wenn man das irgendwie auseinanderhalten kann. Das ist ein kleiner Teil, der in Wortform gegossen worden ist … Warum sollte ich also weniger schreiben? Ob sie wertvoll sind oder nicht, ist unwichtig, der Prozeß selbst ist das Leben …« (Bereczki 1995, 19–20). So liegen uns heute über 1200 Gedichte aus einem Zeitraum von über sechzig Jahren vor, die der Autor selbst 1990/1991 in einer zweibändigen Gesamtausgabe herausgegeben, kommentiert und mit einer detaillierten Entstehungsgeschichte versehen hat. Zum Großteil kann man diese Gedichte der Naturlyrik zuordnen; sie ist in ihrem Grundton komtemplativ, wobei es eine ganze Reihe von Nuancierungen gibt, die man als pathetisch, elegisch, melancholisch, nostalgisch oder philosophisch bezeichnen mag. Die Variation in der Form ist gering, anfänglich gereimte Verse weichen später dem freien Vers. Noch produktiver war Kangro im Bereich der Prosa, wo er insgesamt 18 Romane, von denen einer postum erschien, vorlegte; darüber hinaus publizierte er noch einige Bände mit Kurzgeschichten und Essays, ganz zu schweigen von seiner literaturhistorischen und -wissenschaftlichen Aktivität. Das Romandebüt erfolgte 1949 mit Igatsetud maa (Das ersehnte Land), worin wie im Folgeroman Kuma taevarannal (Schimmer am Himmelsrand, 1950) die vorrevolutionäre Entwicklung in Südestland und die Ereignisse von 1905 beschrieben werden. Von seinen weiteren Romanen verdient die Doppeltrilogie über die Tartuer Intellektuellen in den 1930er-Jahren und deren Schicksal im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs Erwähnung. Diese Romane enthielten auch Erinnerungen des Autors und zeichneten ein vielschichtiges Bild vom Tartuer Leben jener Zeit, weswegen sie auch als so genannte TartuSerie in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Im Einzelnen geht es dabei um die Romane Jäälätted (Die Eisquellen, 1958), Emajõgi ([Name des durch Tartu strömenden Flusses], 1961), Tartu (1962), Kivisild (Die Steinbrücke [eine 1944 zerstörte Brücke über den Fluss in Tartu], 1963), Must raamat (Das schwarze Buch, 1965) und Keeristuli (Der Feuerwirbel, 1969). Im Anschluss daran verfasste Kangro eine weitere Trilogie, die nach der Hauptfigur

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des ersten und dritten Bandes als Joonatan-Trilogie bekannt geworden ist und das bereits bei Kivikas auftretende Motiv der traumhaft-fiktiven Rückkehr in die Heimat verwendete: Joonatan, kadunud veli (Joonatan, der verlorene Bruder, 1971), Öö astmes x (Die Nacht in Stufe x, 1973) und Puu saarel on alles (Der Baum auf der Insel steht noch, 1973) erwiesen sich als literarische Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus, ohne jedoch in die banale Rhetorik des Kalten Kriegs abzugleiten. Schließlich verfasste Kangro auch noch einige historische und autobiographische Romane sowie fünf Kurzschauspiele. Angesichts der erstaunlichen Produktivität Kangros muss darauf hingewiesen werden, dass praktisch alle seine Bücher im Selbstverlag erschienen sind: Schon sein Debüt von 1935 war in einem von Heiti Talvik ins Leben gerufenen Selbstverlag gedruckt worden, was bedeutete, dass die Kosten selbst getragen wurden und eigenhändig für den Vertrieb gesorgt werden musste. Auch seine nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Werke hat der Autor notgedrungen auf eigene Rechnung drucken lassen und selbst vertrieben. Später geschah das dann im Rahmen seines eigenen Verlags oder seiner eigenen Zeitschrift. Mit anderen Worten: Der unangefochten zur Literaturinstanz des Exil aufgestiegene Kangro hatte keinerlei »Kontroll-« oder »Bewertungsinstanz«, die sich in irgendeiner Weise zu seinen Werken geäußert hätte. Das soll sein Werk nicht schmälern, muss aber bei einer Gesamtbewertung mitberücksichtigt werden. Wenn Kangro in dem oben erwähnten Interview suggeriert hat, dass manche der Meinung seien, weniger wäre mehr gewesen, so könnte man als schlagendes Argument dafür Karl Ristikivi anführen. Er hat mit einem einzigen Gedichtband, der 40 Gedichte enthält, mehr Wirkung in der estnischen Lyrikgeschichte erzielt als viele vor und nach ihm, die ein umfangreicheres Gedichtwerk vorzuweisen haben. Die aus mehreren Zyklen lose zusammengefügte Sammlung Inimese teekond (Der Weg des Menschen) kam erst 1972 als Buch heraus, nachdem die meisten Teile vorher schon in Zeitschriften erschienen waren, der erste zum Beispiel gleich in der Eröffnungsnummer von Tulimuld 1950. Vermutlich sind alle Gedichte Ristikivis in den 1950er-Jahren entstanden. In ihnen spiegelt sich zum Teil die Erfahrung des Exils wider, wenn Ristikivi Land, Volk und Sprache thematisiert, aber in Wirklichkeit handelt es sich hier um universelle und philosophische Lyrik, die zeit- und raumlos ist. Die Gedichte sind relativ schlicht, nur teilweise gereimt, von starker Symbolik durchzogen und haben die Neigung zu aphoristischer Kürze. Fast immer regen sie zum Nachdenken an und hinterlassen nicht selten den Eindruck von Wahrheitsverkündungen:

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Ka sisaliku tee kivil jätab jälje, kuigi me seda ei näe. Iga mõte, mis tuleb ja läheb, jääb kuhugi alles. See, mis sa naeratades kinkisid, võib kunagi otsa saada, aga naeratus jääb. Rõõm, mida sa kinni püüda ei teadnud, jääb igavesti ootama. Isegi ütlemata jäänud sõnad on mõttes öeldud ja kuhugi tallele pandud. Kuidas muidu meie lühikeste päevade arv saab täita aja ääretud salved. Kuidas muidu üksainus silmapilk võib kivi paigalt veeretada. See, kellele on vähe antud, kannab seda oma südame kohal. See, kellele on palju antud, pillab kõik käest maha. Kõigi teede pikkus ajas on võrdne. (Ristikivi 1990, 11; Auch die Spur der Eidechse auf dem Stein ist da, / selbst wenn wir sie nicht sehen. / Jeder Gedanke, der kommt und der geht, / bleibt irgendwo bewahrt. / Das, was du einst lächelnd als Geschenk gabst, / kann irgendwann aufgebraucht sein, / aber das Lächeln bleibt. / Die Freude, die du nicht zu fassen wusstest, / verharrt in ewigem Warten. / Auch Wörter, die nicht ausgesprochen wurden, / sind im Geist gesagt / und dann irgendwo abgespeichert. / Wie sonst könnte die Anzahl unserer kurzen Tage / die grenzenlosen Speicher der Zeit füllen. / Wie sonst kann ein einziger Augenblick / einen Stein von seinem Platz wälzen. // Der, dem nur wenig gegeben ist, / wird’s darum in seinem Herzen bewahren. / Der aber, dem viel gegeben ist, / lässt’s zu Boden fallen. // Aller Wege Länge in der Zeit ist gleich.)

Ristikivi veröffentlichte im Exil zwei Romane über die letzten Jahre der Republik und überraschte die Leserschaft nach einer längeren Pause 1953 mit dem Roman Hingede öö (Die Nacht der Seelen). Mit diesem visionären Text, in dem die Hauptperson in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen in der Neujahrsnacht in einem labyrinthischen Haus umherirrt, schlug der Autor in der estnischen Literatur eine neue Seite auf, die mit den verschiedensten Ismen assoziiert worden ist: Surrealismus, Existenzialismus, Irrationalismus. Wahr an all dem ist, dass dieser Roman einen Gegenentwurf zum lange vorherrschen Realismus darstellte und die tragisch-düsteren Begeben-

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Karl Ristikivi, Foto Postimees/Scanpix

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heiten des Romans etwas Beklemmendes und Unwirkliches haben. Der Roman ist mit vielen großen europäischen Namen wie Spengler, Kafka oder Beckett in Verbindung gebracht worden, wobei Erwähnung verdient, dass das Erscheinungsjahr von Hingede öö auch das Jahr der Erstaufführung von Becketts ein Jahr zuvor erschienenem En attendant Godot ist. Ristikivis Pech war, dass er in einer wenig verbreiteten Sprache schrieb und auch das noch in einer Exilsituation tat, in der sein Text von der Mehrheit der potenziellen Leserschaft nicht normal rezipiert werden konnte. Zwar wurde Ristikivi auch in Estland relativ viel gelesen, aber zu voller Geltung ist er erst nach seinem Tode gekommen. Danach trat wieder ein Pause in Ristikivis Werk ein. Ab den 1960er-Jahren publizierte er dann eine große Anzahl meist historischer Romane, die in verschiedenen Trilogien zusammengefasst worden sind. Ihnen ist gemeinsam, dass sie alle fern der Heimat des Autors spielen und mit Estland abgesehen von der Sprache, in der sie geschrieben sind, nichts zu tun haben. In den drei Romanen Põlev lipp (Die brennende Flagge, 1961), Viimne linn (Die letzte Burg, 1962) und Surma ratsanikud (Die Todesreiter, 1963) befasste sich Ristikivi mit den Kreuzzügen und dem Mittelmeergebiet. Danach folgten drei historische Biographien über Personen aus dem Mittelalter, denen abermals drei Bücher über historische Ereignisse in West- und Südeuropa folgten, bei denen allerdings der Bezug zur Gegenwart hergestellt wurde. Auch fand sich hierunter ein historischer Kriminalroman, der in Dänemark spielt, ebenso ein auf Schwedisch abgefasster aktueller Kriminalroman, der erst viel später in estnischer Übersetzung erschien. Außerhalb der Trilogien standen ferner die Novellensammlung Sigtuna väravad (Die Tore Sigtunas, 1968) mit historischen Novellen, sein letzter Roman Rooma päevik (Römisches Tagebuch, 1976, vgl. hierzu Hinrikus 2005) und der Roman Imede saar (Die Insel der Wunder, 1964). Dieser Roman ist eine Antiutopie, in der Personen aus dem Mittelalter auf eine einsame Insel im Atlantischen Ozean des 20. Jahrhunderts verpflanzt worden sind. Schon der Name der Insel, Allotria, verweist auf das Satirische und Allegorische. Tatsächlich überwiegen hier aber, bei allem Humor, die pessimistischen und zum Teil sogar elegischen Töne. Auch mit diesem Roman hat Ristikivi seine singuläre Position unter Beweis gestellt, da ein solches Thema – wie im Falle von Hingede öö – bislang in der estnischen Literatur nicht zur Sprache gekommen war. Aber derlei Themen lagen in der Luft, und bei dem zwei Jahre später in Estland erschienenen Drama von Artur Alliksaar (vgl. § 44), das einige Parallelen zu Ristikivis Roman aufweist, braucht es sich nicht um direkten Einfluss oder gar Plagiat zu handeln (vgl. Sarapik 2002a, 225). Vom verdienten Ruhm hat Ristikivi zu Lebzeiten außerhalb der Exilgemeinschaft nur wenig mitbekommen. Sein Werk blieb in Estland selbst relativ

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unzugänglich, obwohl es nicht völlig unbekannt war und viele etwas von Ristikivi gelesen hatten. Aber im offiziellen Literaturbetrieb durfte ein Exilautor halt keine Rolle spielen. Erst im Dezember 1987 konnte anlässlich des 75. Geburtstags des längst verstorbenen Autors in Tallinn eine wissenschaftliche Konferenz veranstaltet werden. Im Ausland ist Ristikivi ebenso wenig registriert worden, da sein Werk zu Lebzeiten nicht in andere Sprachen übersetzt wurde (vgl. Dickens 1995, 18), erst allmählich kommt hier eine angemessene Rezeption in Gang. Der Autor war sich darüber im Klaren und hat nicht von ungefähr das Leben auf der Insel der Wunder folgendermaßen organisiert: Ein jeder darf dort schreiben, was er oder sie will, nur gibt es dabei eine wichtige Bedingung – »niemand darf das Geschriebene zu Lebzeiten in irgendeiner Weise veröffentlichen. […] So vermeiden wir alle mit dem Schreiben zusammenhängenden negativen Eigenschaften. Niemand schreibt, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder Ruhm zu erlangen.« (Ristikivi 1964, 186 bzw. 1966, 142). Ristikivi hat sein Werk glücklicherweise schon zu Lebzeiten veröffentlicht, aber seinen Unterhalt konnte er sich damit nie verdienen. Valev Uibopuu ist 1913 in Südestland geboren und hatte erst wenig publiziert, als er dreißigjährig ins Exil ging. Er war als Journalist tätig gewesen und hatte einige Kurzgeschichten veröffentlicht. Auch im schwedischen Exil arbeitete er bei einer Zeitung, holte das Abitur nach und studierte in den 1950er-Jahren in Helsinki und Lund Finnougristik. Bis zu seiner Promotion 1970 arbeitete er beim Eesti Kirjanike Kooperatiiv in Lund, danach als Dozent an der dortigen Universität bis zu seiner Pensionierung 1980. Er starb 1997 in Lund. Im Exil veröffentlichte Uibopuu als erstes eine Novellensammlung, die noch in Estland abgefasst war, und schrieb weiterhin Novellen, in denen teilweise Stoffe aus Estland verwendet wurden, zusehends aber auch die neue Umgebung thematisiert wurde. Es folgten vier weitere Bände mit Kurzprosa. 1948 kam Uibopuus erster Roman heraus, Keegi ei kuule meid (dt. Keiner hört uns, 1993), worin die Ereignisse der Jahre 1939 bis 1941 in einer südestnischen Kleinstadt beschrieben werden. Wie der Titel ist der ganze Roman Anklage und Hilferuf zugleich. Uibopuus zweiter Roman, Neli tuld (Vier Feuer, 1951), ähnelt kompositorisch einer Novellensammlung, in der die 18 einzelnen Schicksale einer Schiffsbesatzung beschrieben werden. Es geht hier um entwurzelte Männer und Flüchtlinge, die miteinander streiten und zu überleben versuchen, bis ihr Schiff auf eine Mine fährt und sinkt. Die Wendung zum psychologischen Roman wurde endgültig vollzogen mit Janu (Durst, 1957), der Beschreibung der Gedankenwelt eines an Knochentuberkulose erkrankten Mädchens, und Markuse muutumised (Markus’ Veränderungen, 1961), worin die Anpassung eines idealistischen Jünglings an die Realität be-

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schrieben wird. In drei weiteren Romanen konzentrierte sich Uibopuu auf die Behandlung der Flüchtlingsproblematik, die in seinem Werk damit einen viel größeren Raum einnimmt als etwa bei Ristikivi. Anders als dieser ist Uibopuu jedoch sowohl in die Sprache seines Gastlandes als auch in andere Sprachen übersetzt und – nicht zuletzt auch durch seine berufliche Tätigkeit – neben Kangro deutlicher als Repräsentant der estnischen Exilliteratur wahrgenommen worden. Neue Strömungen in der Dichtung 1946 erschienen in Stockholm gleich drei Gedichtbände, womit sich wieder einmal erwies, dass die Lyrik in Umbruchphasen schneller reagiert. Die Autoren waren Ilmar Laaban, Raimond Kolk und Kalju Lepik, die allesamt schon Ende der 1930er- bzw. Anfang der 1940er-Jahre in Estland in Almanachen oder Zeitschriften einzelne Gedichte oder Essays veröffentlicht hatten, mit ihrem Buchdebüt aber erst im Exil aufwarten konnten. Von ihnen war Laaban die auffälligste Erscheinung, wenngleich sein Werk mit nur zwei publizierten Gedichtsammlungen recht begrenzt blieb. Laaban hatte schon 1944 für die zweite Ausgabe des Eesti Looming einen Essay über »Perspektiven des Surrealismus« verfasst, und seine Sammlung Ankruketi lõpp on laulu algus (Das Ende der Ankerkette ist der Anfang des Liedes), mehr aber noch die zweite Sammlung Rroosi Selaviste (1957), markierte den Eintritt des Surrealismus in die estnischen Dichtung. Hier begegnet uns ein virtuoser Sprachspieler, der in konsequent freiem Vers und lockerer Gedankenassoziation die Grenzen der Sprache auslotet. Das tritt in reinster Form in der zweiten Sammlung zu Tage, deren Titelfigur die estnische Version der erstmals beim Dadaisten Marcel Duchamp auftretenden New Yorker Dame Rrose Sélavy (nach dem französischen c’est la vie) ist (vgl. Aspel 1985). Hier überschreitet der polyglotte Autor, der ebenso fließend auf Schwedisch und Deutsch dichten konnte, die Grenzen der Sprache im buchstäblichen Sinne und flicht in seine Aphorismen beispielsweise auch deutsche Texte ein, die den Vergleich mit Ernst Jandl nicht zu scheuen brauchen: Greise Kaiser geisseln Geiseln in kreissenden Geisern (Laaban 1990, 125; hier verhilft obendrein der Umstand, dass in ausländischen Setzkästen im Allgemeinen das Graphem ß fehlt, zu besserer graphischer Wirkung.)

Eine endgültige Verabschiedung von lyrischen Konventionen bedeuteten Laabans so genannte häälutused: Mit diesem von ihm selbst geschaffenen Neologismus (hääl ›Stimme‹ + luuletus ›Gedicht‹) bezeichnete er Lautgedichte oder auditive Gedichte, die im Vortrag des Autors bestanden und nur selten

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auf Schallplatte gelangten. Sie sind begrenzt schriftlich überliefert und mit dem Tode des Autors untergegangen. Innerhalb der estnischen Literatur nehmen die Gedichte die gleiche Stellung ein wie die Ursonate von Kurt Schwitters in der deutschen Literatur. Laaban war auch als Übersetzer und Essayist aktiv, hat aber mit seinen beiden Gedichtbänden zweifelsfrei die größte Wirkung erzielt (s. Jänicke 2000). Freilich wurde seine Dichtung in Exilkreisen überhaupt nicht positiv aufgenommen, weil man sich dort auf die Wahrung des Status quo und die Bewahrung der estnischen Literatur konzentrierte, da hatten neuartige Strömungen keinen Platz (Olesk 2002b, 115). Außerdem stand Laaban politisch links, was im Exil nicht gerade opportun war. Raimond Kolks Debütband setzte die Tradition der Dialektdichtung fort, auch sein zweiter Band von 1952 ist noch größtenteils in südestnischer Mundart verfasst, während deren Anteil in den beiden folgenden Bänden zurückging. 1955 veröffentlichte Kolk seinen ersten Roman, dem noch sieben weitere folgten. In ihnen wird zum Teil das Schicksal der Flüchtlinge thematisiert, andererseits aber auch die politische Entwicklung im Estland der Zwischenkriegszeit. Kalju Lepik entpuppte sich von den drei Debütanten als der beständigste Dichter. Anders als Laaban, der mit seinem schmalen Œuvre eine kleine besondere Nische füllte, reihte sich Lepik mit seinen insgesamt 13 zwischen 1946 und 1997 veröffentlichten Gedichtbänden ganz in die Tradition der estnischen Lyrik ein. Anfangs stand er den Arbujad (s. § 34) nahe und hatte noch in Estland unter dem Namen Tuulisui (Mit dem Mund des Windes) eine Vereinigung jüngerer Autorinnen und Autoren gegründet, die er nun im schwedischen Exil weiterzuführen suchte. Einige Mitglieder waren aber in Estland geblieben, so dass Lepik neue suchte und auf diese Weise Raimond Kolk und Ilmar Talve hinzugewann. Die Gruppe richtete sich gegen den Surrealismus und war mit einigen Almanachen und Büchern in der Anfangsphase der Exilliteratur eine wichtige Institution. Sie war auch für die oben erwähnte Zeitschrift Sõna verantwortlich. Als 1950 mit den erwähnten Publikationen von Kangro die professionellere Pflege der estnischen Literatur beginnen konnte, stellte die Gruppe ihre Tätigkeit ein. Kalju Lepiks Dichtung ist in den ersten Sammlungen Nägu koduaknas (Das Gesicht im heimischen Fenster, 1946) und Mängumees (Der Spielmann, 1948) im weitesten Sinne bedächtig und traditionell zu nennen, erst in den späteren Sammlungen der 1950er-Jahre kommen auch modernere Einsprengsel hinzu. Wie für Jaan Kross (vgl. §§ 40, 46) war für den ebenfalls 1920 geborenen Lepik die Dichtung der Arbujad der Ausgangspunkt. Schnell befreite er sich aber von dieser Tradition und schuf eigenständige, von der Form her moderne Dichtung. Proben hiervon sind auf verschiedenen Wegen

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nach Estland geraten, so dass man dort über die aktuellen Entwicklungen in der exilestnischen Dichtung informiert war. Die in Estland ungefähr zeitgleich stattfindende Erneuerung ist vermutlich nicht vom Rezeptionsprozess dieser Dichtung zu trennen. Bestimmendes Thema in Lepiks Lyrik sind metaphysische und religiöse Fragen, außerdem immer wieder auch Politisches, da das Flüchtlingsdasein ein wiederkehrendes Motiv ist. Als Wahrer der estnischen poetischen Tradition hat sich Lepik viel mit der estnischen Volksdichtung befasst und Elemente von ihr in seine Dichtung eingeflochten. Auffällig ist schließlich auch sein besonderes Engagement im Bereich der klassischen Gelegenheitsdichtung: Als aktiver Teilnehmer am kulturellen und literarischen Leben der exilestnischen Gemeinschaft ergriff er immer wieder in poetischer Form das Wort zu bestimmten feierlichen Anlässen. Mit seinen dreizehn Gedichtbänden, die im Laufe eines halben Jahrhunderts in Schweden und Estland – die beiden letzten Sammlungen Öötüdruk (Das Mädchen der Nacht, 1992) und Pihlakamarja rist (Das Kreuz der Vogelbeere, 1997) erschienen in Tallinn und Tartu – publiziert worden sind, gehört Kalju Lepik zu den wichtigen Kontinuitätswahrern des freien estnischen Worts. Auch nach diesen drei wichtigen Debüts von 1946 traten noch weitere Dichterinnen und Dichter der mittleren Generation an die Öffentlichkeit: Arno Vihalemm mit sechs Bänden zwischen 1954 und 1986, deren häufig ironisch-groteske Verse der auch als Graphiker und Künstler aktive Dichter selbst als »Antidichtung« bezeichnet hat; Ivar Grünthal, der neben seinen seit 1951 erschienenen sechs Gedichtbänden auch einige längere Poeme publizierte und als Gründungsherausgeber von Mana und Kritiker wichtig war; Salme Ekbaum, die sich auch als Prosaistin einen Namen machte, mit sieben Gedichtbänden, die vorwiegend Naturlyrik enthalten; Ivar Ivask, der später mit seinem englischen Gedichtzyklus Baltic Elegies bekannt wurde, mit philosophischer Lyrik; und schließlich Aleksis Rannit, der 1937 mit einem in Kaunas erschienenen Band debütiert hatte und nun noch sieben Bände seiner hochintellektuell-ästhetisierenden Lyrik vorlegte. Damit war relativ schnell eine breite Lyrikpalette entstanden, die den Vergleich mit der einheimischen Produktion nicht zu scheuen brauchte und der beste Beweis für die Vitalität und den Überlebenswillen der Exilgemeinschaft war. Entwicklung in der Prosa Der Schwerpunkt in der Exilprosa lag thematisch verständlicherweise auf der jüngsten Vergangenheit. Vielen Prosaistinnen und Prosaisten war es ein Bedürfnis, der nachfolgenden Generation ein Bild von den dramatischen Ereig-

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nissen in Estland zu geben. Mitunter spielte auch der Wunsch eine Rolle, der neuen gesellschaftlichen Umgebung, in der sie lebten, bzw. dem Rest der Welt vom Schicksal Estlands zu berichten. Letzteres ist sicherlich bei Arved Viirlaid der Fall, der sich selbst tatkräftig dafür einsetzte, dass sein Roman Ristideta hauad (Gräber ohne Kreuze, 2 Bde., 1952) in andere Sprachen übersetzt wurde. Mittlerweile ist der Roman auf Chinesisch, Englisch, Finnisch, Französisch, Lettisch, Litauisch, Spanisch und Schwedisch erschienen. Er behandelt den militärischen Widerstand der Esten nach dem Zweiten Weltkrieg im Partisanenkrieg gegen die sowjetischen Besatzer. In fast allen Werken von Viirlaid steht der estnische Soldat im Mittelpunkt, so dass der Autor sich praktisch sein eigenes Genre der Kriegs- und Widerstandsliteratur geschaffen hat. Erst in späteren Werken fand er auch zu anderen Themen wie etwa zur Behandlung spezifischer Probleme der estnischen Exilgemeinschaft in Kanada. Weitgehend auf das Militär konzentriert waren auch die Werke von Arvi Kork und Peeter Lindsaar. Auch ohne sich auf den militärischen Aspekt zu beschränken, beschäftigte sich etwa die Hälfte aller im Exil erschienenen Bücher auf die eine oder andere Weise mit der Geschichte Estlands und der Esten (Kangur et al. 1991, 39). Eine große Anzahl Bücher hat Arvo Mägi vorgelegt. Er hatte 1939 in Tartu sein Literaturstudium mit einer Magisterarbeit zu Friedebert Tuglas abgeschlossen und während des Krieges beim Postimees gearbeitet. Im Exil verfasste er seit 1949 zahlreiche Romane, Novellen, Gedichte und Schauspiele und war – wie Kangro – durch seine literaturwissenschaftliche und publizistische Tätigkeit einer der Motoren der Exilliteratur. Sein monumentalstes Werk ist die vierbändige Familienchronik Karvikute kroonika (Die Chronik der Karviks, 1970–1973), die vom Hochmittelalter bis in den Zweiten Weltkrieg hineinreicht und einen Zeitraum von 750 Jahren und 30 Generationen umspannt. In seinen anderen Romanen behandelte er verschiedene Perioden aus der estnischen Geschichte, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf Tartu liegt, dem er ebenso viel Aufmerksamkeit wie Kangro schenkte; aber auch aktuelle Probleme, die nicht unbedingt auf Estland beschränkt zu sein brauchen, fanden in seinen insgesamt 17 Romanen Behandlung. In ihnen und knapp einem Dutzend Novellensammlungen schuf der bis ins hohe Alter aktive Autor ein Gesamtwerk, das – sicherlich im Verbunde mit den anderen belletristischen Genres und dem ausgedehnten literatur- und kulturhistorischen Schrifttum – zu den umfangreichsten Œuvres der estnischen Literatur im 20. Jahrhundert zählt. Drei weitere Personen waren für die Prosa des Exils wichtig: Gert Helbemäe, Asta Willmann und der etwas jüngere Ilmar Jaks. Helbemäe, der als einer der wenigen in England lebte und dort das estnische literarische Leben

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organisierte, indem er u.a. das exilestnische PEN-Zentrum ins Leben rief, stammte aus Tallinn und hatte dort als Journalist erst für die Presse, später fürs Radio gearbeitet. Hier wurde das Hörspiel zu seinem bevorzugten Genre, in dem er annähernd 30 Stücke schrieb. Häufig behandelte er historische Themen oder Biographien von Künstlern aus der europäischen Geistesgeschichte. In seiner späteren Prosa war oft die estnische Geschichte das zentrale Thema, wobei es ihm weniger um große, blutige Ereignisse, sondern mehr um das Schicksal der kleinen, unscheinbaren Leute ging. So zeichnet sein erster größerer Roman, Sellest mustast mungast (Über diesen schwarzen Mönch, 2 Bde., 1957–1958), ein Bild vom durch Pest und Glaubenskämpfe bestimmten 16. Jahrhundert in Tallinn. Andere, teils psychologische Romane wandten sich Gegenwartsproblemen zu, während der Autor in Ohvrilaev (Das Opferschiff, 1960) anhand eines antiken griechischen Mythos eine zur Tragik verdammte Liebesgeschichte beschreibt. Zwei Romane über das Leben der estnischen Exilgemeinschaft in London rundeten das Werk von Helbemäe ab. Asta Willmann ist ebenfalls in Tallinn geboren und hatte kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit einem Theaterstück debütiert, als sie selbst Schauspielerin am Pärnuer Theater war. Das Theater ist neben dem Schreiben ihr Leben lang ihr wichtigstes Betätigungsfeld geblieben, sei es als Schauspielerin, Dramaturgin oder Dramatikerin. Im Exil, das sie in allen drei Hauptexilländern der Esten – Schweden, Kanada, USA – erlebte, publizierte sie einen Gedichtband und eine Novellensammlung; ihr Hauptwerk besteht jedoch in der zwischen 1961 und 1968 erschienenen Pentalogie Peotäis tuhka, teine mulda (Eine Handvoll Asche, eine zweite voll Erde), die allein schon wegen Form und Umfang (430000 Wörter) gelegentlich mit Tammsaares Tõde ja õigus verglichen worden ist. Auch inhaltlich weist der Roman in seiner allumfassenden und philosophischen Ausrichtung, die in dem Untertitel Eine lange Geschichte über Freude, Liebe und Hoffnung bereits zum Ausdruck kommt, Analogien zu Tammsaares Hauptwerk auf. Es ist eine weitere Saga vom Schicksal des estnischen Volkes, die sich auf die Zwischenkriegszeit und das Ende der estnischen Unabhängigkeit konzentriert und anhand der Lebensgeschichte der Hauptperson, Iia Mets, dargestellt wird. Ilmar Jaks schrieb Kurzgeschichten, Romane und Memoiren. Von seinen früheren Werken ist neben den vier zwischen 1958 und 1977 publizierten Novellenbänden der Roman Eikellegi maal (Im Niemandsland, 1963) hervorzuheben, der dem Autor den Ruf eines Modernisten einbrachte, was in den Rezensionen durch die Nennung von Namen wie Kafka oder Joyce zum Ausdruck kam. In dem Roman wird in stellenweise rhythmischer und experimenteller Sprache im Stile einer Collage eine Flut von Gedankenassoziationen präsentiert, die in ihrer Wirkung Ristikivis Hingede öö vergleichbar ist. Der Roman,

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dessen Titel man als Sinnbild für die Irrungen der Hauptperson im Chaos von Krieg, Okkupation und Flucht, denn auch darum geht es in dem Buch, ansehen kann, ist gerade wegen seiner sprachlichen Virtuosität gelobt worden (vgl. Oras 1964) und war als solcher ein weiteres wichtiges Zeugnis für die Lebensfähigkeit des Exils. Ilmar Jaks hat beständig weiter geschrieben und nach dem politischen Umschwung seine Bücher auch in Estland publiziert. Im Bereich der Novelle, zuletzt erschien der Band Pimedus (Die Dunkelheit, 2003), hat er es dabei zu großer stilistischer Perfektion gebracht, die den Vergleich mit den großen Namen der estnischen Novellistik nicht zu scheuen braucht. Eine besondere Rolle nahm Ain Kalmus ein, der als baptistischer Geistlicher ausgebildet war und den man mit seinen religiösen Texten und Predigtsammlungen ganz in der Tradition des 18. Jahrhunderts zu sehen geneigt ist. Er hatte aber bereits in den 1920er-Jahren einige Gedichtbände weltlichen Inhalts publiziert und 1944 seinen ersten Roman, Soolased tuuled (Salzige Winde), vorgelegt, der detailgetreu und darin streckenweise mit Hint und Mälk vergleichbar das Leben der Fischer und Seehundsjäger von Hiiumaa im ausgehenden 19. Jahrhundert beschreibt. In weiteren Romanen befasste sich der Autor mit der unmittelbaren Vergangenheit Estlands, ehe er sich mit Prohvet (1950, dt. Die Ehe des Propheten, 1957) wieder einer biblischen Thematik zuwandte. Hierin wird das Leben des Propheten Hosea behandelt, der in einem wachsenden Konflikt mit den Priestern allmählich alles verliert, aber seine moralische Integrität bewahren kann. Kalmus, der im Übrigen auch einige Werke auf Englisch verfasst hat, hat später diesen Roman selbst ins Englische übersetzt. Er erschien unter seinem bürgerlichen Namen, der in den USA Ewald Mand (pro Evald Mänd) lautete, mit dem Titel The Unfaithful 1954 in Philadelphia. Hiervon wiederum ist 1957 die deutsche Ausgabe angefertigt worden, die folgerichtig außer dem Hinweis auf dem Klappentext, dass der Autor in Estland geboren sei, keinerlei Bezüge mehr zu Estland oder der estnischen Literatur vermuten lässt, zumal auch der Inhalt diesbezügliche Hinweise nicht gibt. Es hängt vom Blickwinkel und von der Schwerpunktsetzung ab, ob man dies als einen Verlust oder einen Gewinn für die estnische Literatur anzusehen hat: Ein Verlust, weil ein estnischer Autor in der großen Masse der amorphen Weltliteratur verschwindet, oder eben ein Gewinn, weil ein ursprünglich auf Estnisch gedachter und abgefasster Text die Grenzen seines Sprachgebiets überwunden hat. Es konnte bislang noch nicht geklärt werden, inwieweit hier der Autor selbst durch fortschreitende Assimilierung verantwortlich gemacht werden kann, oder ob Marketingerwägungen von Seiten des Verlags eine Rolle gespielt haben. In zwei weiteren Romanen behandelte Kalmus biblische Themen, wobei der Roman Juudas (Judas, 1969) als eine neue und differenzierte Behand-

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lung des klassischen Stoffes, die über das bloße Motiv des Verrats hinausgeht, Hervorhebung verdient (vgl. T. Liiv 1987). In seinem Hauptwerk wandte sich Kalmus einem der beliebtesten historischen Themen der Esten zu, dem Freiheitskampf im 13. Jahrhundert. Die Trilogie Jumalad lahkuvad maalt (Die Götter verlassen das Land, 1956), Toone tuuled üle maa (Todeswinde über dem Land, 1958) und Koju enne õhtut (Vor dem Abend nach Hause, 1964) legt den Schwerpunkt aber nicht auf dem militärischen Kampf, wie es frühere Autoren bevorzugten, sondern auf die Darstellung des einfachen Volkes; außerdem weicht der Autor bewusst von historischen Stereotypen ab und fragt: Könnte es in jener Zeit nicht auch Esten gegeben haben, die bereits in Kontakt mit dem Christentum gestanden hatten und eine Möglichkeit zur friedlichen Unterwerfung mit Wahrung gewisser Rechte suchten? Die Frage bleibt hypothetisch, da der Kampf letztlich im Untergang endet, aber Kalmus hat mit diesem Werk einen wichtigen Beitrag zur differenzierten Betrachtung der estnischen Geschichte geleistet. Die jüngere(n) Generation(en) Bei den Personen, die in den 1930er-Jahren in Estland geboren sind und den größten Teil ihrer Schulbildung im Exil genossen haben, war es schon nicht mehr selbstverständlich, dass sie Estnisch schrieben. Bei vielen von ihnen ist dann auch feststellbar, dass sie parallel auch auf Schwedisch oder Englisch schrieben oder ihre eigenen Werke in die Sprache des Gastlandes übersetzten. Als wichtigste neuere Stimmen im Bereich der Lyrik können Ilona Laaman mit vier Gedichtbänden und Urve Karuks genannt werden. Bei Karuks, die in Kanada lebt, sind auch formal Parallelen zur amerikanischen 68er-Bewegung erkennbar, während bei Laaman, deren Dichtung ebenfalls als Protest gegen die herrschenden Normen ausgelegt werden kann, der Schwerpunkt auf dem sozialen Engagement liegt. In der Prosa sind das Ehepaar Enn Nõu und Helga Nõu sowie Elin Toona die auffälligsten Gestalten. Enn Nõu ist 1933 in Tallinn geboren und war nach seinem Medizinstudium in Uppsala lange Zeit als Arzt tätig. Er debütierte 1968 mit dem phantastischen, aber ebenso politischen Roman Pidulik marss (Der feierliche Marsch). Der Roman handelt vom Dritten Weltkrieg, dem Untergang der Sowjetunion und der Befreiung Estlands, was den Autor verständlicherweise umgehend zur persona non grata in ebendieser Sowjetunion machte (Haug 2003a). In seinen weiteren Novellen und Romanen wurde vielfach, aber nicht ausschließlich, die estnische Exilgemeinschaft oder allgemeiner die jüngere estnische Vergangenheit behandelt. In späteren Werken wandte der Autor sich universelleren Problemen wie zum Beispiel der Be-

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handlung der Midlife-Crisis in dem Roman Nelikümmend viis (Fünfundvierzig, 1984) zu. Eine politische Thematik, in der die aktuelle Entwicklung und die Erfahrung des Exils miteinander verwoben werden, findet sich in Presidendi kojutulek (Die Heimkehr des Präsidenten, 1996). Helga Nõu ist 1934 in Tartu geboren und seit den 1950er-Jahren als Autorin in Erscheinung getreten. Seit ihrem Debütroman Kass sööb rohtu (Die Katze frisst Gras, 1965), der die Identitätskrise der exilestnischen Studentengeneration beschrieb und eine heftige Debatte innerhalb der Exilgemeinschaft auslöste, weil hier der Generationenkonflikt angesprochen wurde, hat sie auch Kinder- und Jugendliteratur verfasst. Im Roman Tiiger, tiiger (Tiger, Tiger, 1969) wird die Generationsthematik noch vertieft, indem der politische Konflikt hinzugefügt wird und die Haupthandlung in der Reise zweier Exilesten besteht, die im Sommer 1968 Estland einen Besuch abstatten. Ohne in eine platte Schwarzweißmalerei abzugleiten, gelingt der Autorin hier eine komplexe und einfühlsame Darstellung, mit der sie die Stimmung ihrer Generation treffend einfängt. Helga Nõu verfasste danach Novellen und einige Romane, die nach dem politischen Umschwung auch in Estland verlegt worden sind. 2006 erschien ihr psychologischer Roman Ood lastud rebasele (Ode an einen geschossenen Fuchs) über eine Frau, die ihre Mutter beim Untergang der Autofähre Estonia vom September 1994, als über 850 Menschen ertranken, verloren hatte. Im Großen und Ganzen ist Helga Nõu sparsam mit ihren Worten umgegangen. Das lag nicht nur an ihrer beruflichen Tätigkeit u.a. als Lehrerin, Dolmetscherin und Redakteurin, sondern auch daran, dass sie »nicht schreibt, wenn sie nichts zu sagen hat« (Hinrikus 1994, 533). Elin Toona bildet schon den Übergang zur abschließenden Gruppe, da die 1937 in Tallinn geborene Autorin, die seit 1948 in England lebte und 1970 in die USA übersiedelte, sowohl Estnisch als auch Englisch schreibt. Von ihren vier estnischen Romanen sind die beiden ersten stark autobiographisch gefärbt und behandeln die Exilerfahrung in der Nachkriegszeit, während die beiden folgenden allgemeiner auf die Erfahrung des Heimatverlusts eingingen. Die Autorin hat auch Hörspiele und Novellen verfasst. Die jüngste Generation bilden jene Personen, die als Kleinkinder ins Exil gelangt sind oder dort geboren sind. Sie schreiben nur in Ausnahmefällen noch auf Estnisch, wie es etwa bei dem 1952 in London geborenen Elmar Maripuu der Fall ist, der sowohl auf Englisch als auch auf Estnisch Theaterstücke verfasste (Kolk/Mägi 1987, 72). Der wesentlich ältere Peeter Puide dagegen, der 1938 in Pärnu geboren ist und 1945 über Deutschland nach Schweden gelangt war, schreibt ausschließlich auf Schwedisch und ist mit der estnischen Literatur allenfalls durch seine Thematik und die Rezeption estnischer Texte verbunden.

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Kapitel VIII: Neue Vorzeichen

Kapitel VIII Neue Vorzeichen: Literarische Aufbäumung und Selbstbehauptung (1953–1991) § 40 Tauwetter? 5.3.53 So wie für die Erwachsenen des frühen 21. Jahrhunderts die Zahlenkombination 11. 9. 2001 unweigerlich Assoziationen hervorruft, weil sie mit unmittelbaren politischen Folgen verknüpft ist, so ist der ein knappes halbes Jahrhundert älteren Generation unauslöschlich das Todesdatum Stalins im Gedächtnis geblieben, denn auch dieser Tag zog konkrete Folgen nach sich. Jahrzehnte später, als sich schon ein endgültiges Auftauen des ideologischen Eises ankündigte, hat Rein Saluri sogar eine Erzählung, in der er die beklemmende Situation vom Ende der Stalinzeit eindrücklich beschrieb, mit diesem schlichten Titel versehen (Saluri 1987). Für die Bezeichnung der nun einsetzenden Periode der politischen Veränderungen, die sich am stärksten im kulturellen Bereich niederschlugen, hat sich der Begriff Tauwetter eingebürgert. Mit dieser sich anbietenden Metapher wurde erstmals ein Gedicht des russischen Dichters Nikolaj Zabolockij ˙ (Ottepel’, 1953) übertitelt, der eigentliche Namensgeber war aber Il’ja Erenburgs zweiteiliger gleichnamiger Roman aus den Jahren 1954 und 1956. Bei aller Berechtigung dieser Charakterisierung der poststalinistischen Ära muss freilich auf eines hingewiesen werden: Dem spürbaren Rückgang der eisigen Kulturkälte folgte – um im Bild zu bleiben – kein Sommer, dazu war der Frühling zu kurz. Er endete praktisch 1964 mit dem Amtsantritt von Leonid Breˇznev als Generalsekretär der Partei, spätestens 1968 mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei. Überdies darf man nicht vergessen, dass im gleichen Jahr von Chruˇscˇevs Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU, worin im Februar 1956 der Personenkult Stalins angeprangert wurde, im November die blutige Niederschlagung des Ungarnaufstands stattfand. Analog zu dieser Relativität der Liberalisierung muss auch der literarische Prozess betrachtet werden: Es fand keine Kehrtwendung

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mit einem Paukenschlag statt, es fand nur eine vorsichtige Lockerung statt. Jeder Versuch, etwas Neues zu machen, blieb ein gewagter Schritt, mit dem man sich auf unsicheres Terrain begab. Eine prinzipielle positive Veränderung war, dass man über einige Dinge wieder reden konnte und wieder kontrovers debattieren durfte. So war das ganze Jahr 1954 gekennzeichnet durch eine heftige Diskussion über einige gerade erschienene Literaturlehrbücher für die Schulen: Wie sollte man mit dem literarischen Erbe der Zwischenkriegszeit umgehen, was müsse man mit den Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf ihre ideologische Einordnung tun, und welchen Stellenwert habe man der proletarischen Literatur einzuräumen? Im Zusammenhang mit Letzterem konnte sogar geschehen, dass ein vermeintlich linientreuer Dichter wie Felix Kotta dafür plädierte, man solle der proletarischen Literatur im Unterricht nur eine Stunde widmen, denn hierbei handele es sich nicht um Literatur, sondern lediglich um eine literarische Erscheinung (Kuuli 2001, 86). Gleichzeitig war es auf dem Schriftstellerkongress von 1954 an der Zeit, in aller Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass Estland über einen Schriftsteller namens Friedebert Tuglas verfüge und dass der auch noch lebe. Langsam lüftete sich damit der sozialistische Grauschleier, der sich über viele gelegt hatte bzw. – schlimmer noch – wegen dessen viele in den Gefängnissen und Straflagern Stalins verschwunden waren. Nun konnten große Gruppen von Inhaftierten und Verbannten nach Estland zurückkehren. Die erste Amnestie wurde drei Wochen nach Stalins Tod von dessen kurzzeitigem Nachfolger Berija erlassen, ehe auch dieser in Ungnade fiel und hingerichtet wurde. Immerhin konnten aber dadurch schon 1953 fast 10000 Esten nach Estland zurückkehren (Tannberg 2004). Hierbei handelte es sich vorwiegend um so genannten »Kriminelle«, die »Politischen« wollte Berija in einer zweiten Welle amnestieren. Er selbst wurde aufgrund des internen Machtkampfs im Kreml dann zwar daran gehindert, aber ein Jahr später konnte auch ein Großteil der aufgrund »politischer« Paragraphen Verurteilten Sibirien den Rücken kehren. Hierunter befanden sich zahlreiche Intellektuelle, so dass das estnische Kulturleben auch durch diesen Rückstrom einen neuen Energieschub bekam. Einen großen symbolischen Wert hatte auch die Freilassung von Nigol Andresen (1955) und Hans Kruus (1954), die beide zu den Marionetten des Juni-Umschwungs gehört hatten und Ende der 1940er-Jahre im Zusammenhang mit der Diskussion um die so genannten »bürgerlichen Nationalisten« in Ungnade gefallen waren. Als Kritiker bzw. Literaturwissenschaftler und Historiker waren die beiden weniger direkt mit der Belletristik verbunden, aber innerhalb der allgemeinen gesellschaftlichen Diskussion, die sich viel

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um den Umgang mit dem historischen Erbe drehte, spielten sie eine wichtige Rolle. Für eine Vergrößerung der Publikationsmöglichkeiten und wichtige Horizonterweiterung sorgte die 1957 ins Leben gerufene Buchreihe »Loomingu« Raamatukogu (Bibliothek von Looming), die offiziell als Wochenzeitschrift erschien und dadurch für eine schnellere Verbreitung der Literatur sorgte. Dies wurde noch dadurch begünstigt, dass die jeweiligen Nummern nicht im Buchhandel, sondern über die Zeitungskioske vertrieben wurden, was viel schneller ging und in manchen Fällen dazu führte, dass durch ein spätes Aufwachen der Zensur eingeleitete Rückrufaktionen, wie es bei Büchern geschehen konnte, zwecklos waren, da die meisten Exemplare schon verkauft waren (Hiedel 1995, 82). Inhaltlich betrachtet war »Loomingu« Raamatukogu eine gewöhnliche Taschenbuchreihe, wie es sie vielerorts gab; der offizielle Status als Zeitschrift hatte nur den Vorteil, dass die Veröffentlichungspläne nicht vorab von Kontrollinstanzen in Moskau oder anderswo bestätigt zu werden brauchten (Hiedel 1995, 142). Damit war die nach wie vor herrschende Zensur zwar keineswegs übergangen, aber solche formalen Kleinigkeiten wirkten sich positiv auf die Möglichkeiten der Buchreihe aus. Die Mehrheit der in diese Serie aufgenommenen Titel bestand aus übersetzter Literatur, wodurch die Reihe zu einem wichtigen Arbeitgeber für die Übersetzerinnen und Übersetzer und Vermittler westlicher Literatur wurde. Denn ein Großteil der in die Reihe aufgenommenen Texte entstammte Literaturen des westlichen Auslands, wenngleich auch Übersetzungen aus dem Russischen eine große Rolle spielten. Daneben wurden jährlich einige Titel estnischer Originalliteratur in die Reihe aufgenommen. Da auch umfangreichere Texte als Doppel-, Dreifach- oder Vierfachnummern – in Ausnahmefällen auch eine Sechsfachnummer wie der Neudruck von Willmann 1975 – erschienen, belief sich die Anzahl der jährlichen Lieferungen nicht auf 52, sondern auf durchschnittlich 29 Titel (Gesamtverzeichnis s. »Loomingu Raamatukogu« 40 aastat). Ab 1958 erschien die neue Zeitschrift Keel ja Kirjandus (Sprache und Literatur), die die Tradition der beiden Vorkriegspublikationen Eesti Keel (Estnische Sprache) und Eesti Kirjandus (Estnische Literatur) fortsetzte. Auch wenn das Adjektiv Eesti im Titel nicht auftauchen durfte, inhaltlich konzentrierte sich die Zeitschrift ganz auf Estland und die estnische Kultur und wurde damit ein wichtiges sprach- und literaturwissenschaftliches Forum. Im gleichen Jahr kamen zwei weitere neue Zeitschriften auf den Markt, die sich vorwiegend estnischen Fragen widmeten und dadurch ein Gegengewicht zur gleichgeschalteten Zentralpresse bildeten: die populärwissenschaftliche Zeitschrift Eesti Loodus (Estlands Natur), die es schon von 1933 bis 1941 gegeben

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hatte, und Kultuur ja Elu (Kultur und Leben), das sich mit allgemeinen kulturellen und kulturhistorischen Fragen befasste. Sogar eine 12-bändige estnische Enzyklopädie war für die Jahre 1958–1965 vorgesehen, dieser Plan wurde jedoch vom Moskauer ZK der KPdSU gestoppt (EE 12, 50). Eine sowjetestnische Enzyklopädie konnte erst 1968 bis 1978 erscheinen (9 Bände incl. Ergänzungsband, der durch sein ausführliches Register besonderen Wert erlangte). Bei all dem blieb die Zensur als wichtigstes Steuerungs- und Einschüchterungsinstrument bestehen. Es kam auch immer noch zu gelegentlichen Büchervernichtungen, zum Beispiel was aus dem Ausland geschickte Sendungen betraf (vgl. Veskimägi 1993). Aber auch hier gab es Nuancierungen und Nischen, die im Nachhinein geradezu grotesk anmuten: Von Egon Rannet war 1958 in der »Loomingu« Raamatukogu ein Schauspiel erschienen, das die Zeile »Sibirien, Hölle der Zwangsarbeit« enthielt. Als der Text ein Jahr später im normalen Literaturverlag als Buch erscheinen sollte, beanstandete die Zensur diese Zeile, die der Autor daraufhin bereitwillig abänderte in »Sibirien, Paradies der Zwangsarbeiter«, wogegen die Zensur keine Einwände mehr hatte (Hiedel 1995, 68). Dichterisches Aufatmen Nicht alle Dichtung bis 1953 war panegyrisch gewesen. Ganz allmählich hatten sich in den Jahren des Stalinismus schon jüngere Begabungen an die Öffentlichkeit gewagt. 1949 war zum ersten Mal der Almanach Võitlev sõna (Das kämpfende Wort) erschienen, in dem zahlreiche Dichter debütierten, die in den folgenden Jahrzehnten beständig weiter schrieben und so etwas wie den mittelmäßigen Unterbau der 1950er- und 1960er-Jahre bildeten: Keiner von ihnen schuf Werke, die größeres Aufsehen erregten oder von bleibendem Wert waren, wenngleich sie kurzzeitig in der nach wie vor schütteren Kulturlandschaft auf einigen Widerhall gestoßen sein mögen. Zu dieser Gruppe sind Vladimir Beekman, Paul Haavaoks, Manivald Kesamaa, Ants Saar, Harald Suislepp und Villem Gross zu zählen. Ein anderer Wind wehte in den Gedichten von Paul Rummo, die er seit 1953 in der Presse veröffentlicht hatte und die 1955 in dem Band Veerev kivi (Der rollende Stein) vereinigt worden waren. Hier waren eindeutig die Schablonen des Stalinismus verlassen worden, Dichtung erwies sich wieder als »normal« und stand in viel direkterem Kontakt zur Realität und das bedeutete auch zu den aktuellen gesellschaftlichen Prozessen. Noch deutlicher war dies in der Sammlung Piimahambad (Milchzähne, 1954) von Uno Laht der Fall. Die Sammlung wirbelte einigen Staub auf, und dies nicht nur aufgrund

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der Tatsache, dass dies der einzige 1954 erschienene Gedichtband war – was im Übrigen eine viel sagende Charakterisierung der damaligen Zeit ist. Lahts Gedichte waren spritzig, satirisch und unkonventionell – alles Eigenschaften, die man in der zeitgenössischen estnischen Dichtung ungefähr 15 Jahre lang vermisst hatte. Seinem Debüt ließ der Autor 1956 eine erweiterte Auflage mit dem Zusatz »(plombeeritud)« (plombiert) folgen, womit er seinen Ruf als unerschrockener Kritiker der jüngsten politischen Vergangenheit festigte. Dabei spielte es keine Rolle, dass er selbst – wie auch Paul Rummo – in der Stalinzeit keineswegs im politischen Abseits gestanden, sondern sich aktiv an der Stalin’schen Politik beteiligt hatte: Von 1944 bis 1946 war Laht Angehöriger der Spezialtruppen des Geheimdienstes gewesen, die gegen die estnischen Waldbrüder vorgingen, während Rummo seinerzeit an der Reduzierung des estnischen Buchbestandes beteiligt war (s. § 35). Es ist für ein Verständnis der verzwickten kulturellen Situation wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass die ersten befreienden Töne nach Stalins Tod nicht von Dichterinnen oder Dichtern kamen, die bis dahin im Verborgenen gelebt hatten, sondern von Personen, die selbst ein Rädchen im System gewesen waren. Viel ist über die damalige Kultursituation gesagt, wenn die Tatsache, dass 1957 sechs Lyrik-Debüts in Buchform erschienen, als ein »Literaturereignis« (EKA V, 2, 91) bezeichnet werden konnte. In jenem Jahr kamen neue Bücher von Paul Haavaoks, Lehte Hainsalu, Kalju Kangur, Adolf Rammo, Valeeria Villandi und Ilmi Kolla heraus – unauffällige Dichterpersönlichkeiten, die teilweise bereits in Periodika publiziert hatten und deren Buchdebüt sich bei einigen lediglich infolge der restriktiven Verlagspolitik hinausgezögert hatte. Sie sind für die Lyrikgeschichte Estlands insgesamt nicht von Bedeutung. Allein Ilmi Kolla ist hervorzuheben, da der Band der 1954 jung an Tuberkolose gestorbenen Dichterin postum erschien, nachdem zu Lebzeiten nur verstreut einige Gedichte gedruckt worden waren. Ihre Dichtung passte aber so gar nicht in das ideologische Strickmuster der Zeit, weswegen sie auch kräftig kritisiert wurde – beispielsweise vom damals sehr linientreuen Vladimir Beekman (s. Annuk 2005, 66–68), der den Individualismus der Dichterin bemängelte – und nur wenige ihrer Gedichte erscheinen konnten. Manche ihrer Gedichte wurden von Hand zu Hand weitergegeben, und ihr Gedicht Nukrad hetked (Traurige Augenblicke), das sie gut ein Jahr vor ihrem Tod geschrieben hat, erlangte durch seine spätere Vertonung allgemeine Bekanntheit. Gewiss spielt hier auch die Analogie zu Kristian Jaak Peterson eine Rolle, der dieselbe Krankheit hatte und über 130 Jahre früher ein vergleichbares, ebenso eindrückliches und von Todesahnung gekennzeichnetes Gedicht geschrieben hatte (s. Veidemann 2000, 44), aber unübersehbar ist auch bei den anderen Versen der Dichterin, dass hier eine neue und unabhängige

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Lyrik im Entstehen begriffen war, die selbst mit den krampfhaftesten ideologischen Verrenkungen nicht mehr der herrschenden Staatsdoktrin untergeordnet werden konnte. Die Dreigroschenoper Solcherlei Dichtung nahm in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre stetig zu, und sie hat trotz aller ideologischen Rückschläge nie wieder aufgehört. Selbst wenn es in späteren Phasen, in denen die Zügel wieder strenger angezogen wurden, bisweilen begrenztere Möglichkeiten gegeben hat, bleibt festzuhalten, dass der Geist, der nach Stalins Tod aus der Flasche gelassen worden war, nicht wieder gänzlich eingefangen werden konnte. Insofern ist es durchaus berechtigt, von einem Tauwetter zu sprechen, auch wenn das eben nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass die Entwicklung nicht allzu schnell und gradlinig verlief und dass es eines langen Atems bedurfte. Den hatten drei der wichtigsten Personen, die Ende der 1950er-Jahre auf den Plan traten und ein halbes Jahrhundert später im wieder unabhängig gewordenen Estland noch immer zu den anerkanntesten Autoritäten der estnischen Literatur gehören: Ain Kaalep, Jaan Kross und Ellen Niit. Sie bzw. der Trubel, der nun aufgrund ihrer poetischen Erneuerungen entstand, werden scherzhaft-liebevoll als Dreigroschenoper bezeichnet, weil sie zu dritt gemeinsam für eine ganze Reihe von literarischen Manifestationen verantwortlich waren – Dichtungen, Übersetzungen, Dramen, Essayistik, später Kinderliteratur und dann bei Kross die Prosa –, weil der Name Kross ›Groschen‹ bedeutet und Ellen Niit seit 1958 mit Jaan Kross verheiratet ist und bürgerlich auch diesen Namen trägt, und weil Kross Anfang der 1960er-Jahre tatsächlich Bertolt Brechts gleichnamiges Bühnenwerk ins Estnische übertragen hat. Jaan Kross (zur Vita s. § 46) hatte bereits vor dem Krieg als Gymnasiast erste Schritte auf schriftstellerischem Terrain unternommen und das eine oder andere Gedicht publiziert. Ein stärkeres Bedürfnis, sich der Dichtung zuzuwenden, entstand in der Zeit seiner Inhaftierung und Verbannung. Der geisttötenden körperlichen Arbeit wollte der angehende Autor ein Gegengewicht verschaffen. Nach seiner Rückkehr aus Sibirien konnten 1955 die ersten Verse in Looming erscheinen, ein Jahr später war seine erste Gedichtsammlung fertig, doch konnte sie infolge der sich an ihr entfesselnden Diskussionen innerhalb des Schriftstellerverbandes erst mit einer Verspätung von zwei Jahren erscheinen: Kross’ Buchdebüt mit dem Band Söerikastaja (Der Kohleanreicherer) erfolgte 1958. Der Titel – auch im Estnischen ein ungewöhnlicher, wenngleich leicht verständlicher Neologismus – bezeichnete die Tätigkeit, die Kross mehrere Jahre lang ausübte, nämlich das Anrei-

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chern von Kohle in einem Bergwerk bzw. Zwangsarbeitslager. Die meisten der 47 Gedichte dieses Bandes sind zwar nach der Entlassung aus der Gefangenschaft entstanden oder aufgezeichnet worden, jedoch stehen die persönlichen Erfahrungen der 1940er- und frühen 1950er-Jahre deutlich im Vordergrund. In formaler Hinsicht ist die Lyrik in diesem Band noch weitgehend konventionell und der estnischen Vorkriegstradition, insbesondere der Generation der Arbujad, verpflichtet, inhaltlich betrachtet könnte man sie als intellektuell bezeichnen. Auch charakterisieren Begriffe wie humanistisch oder philosophisch treffend die Grundeinstellung und die Grundthematik einer Dichtung, die sich nur marginal um die Hauptthemen der Lyrik – Liebe und Natur – zu scheren scheint. Damit war sie paradoxerweise sogar ganz im Zeichen der Zeit politisch ausgerichtet, nur war es eine Ausrichtung, die gegen den Strom gerichtet war. Sie drückt eine engagierte Aufbruchstimmung aus, die man auch als Läuterung, als ein Reinwaschen von der »schwarzen Kohle der Vergangenheit« interpretieren kann. In den folgenden Bänden wurde die Dichtung von Kross zunehmend ungezwungener, ungebundener und in Ansätzen experimenteller. Die in der estnischen Dichtung relativ fest verankerte Tradition des metrischen und gereimten Verses – von der es freilich immer wieder Abweichungen gegeben hat, wie die Beispiele von Sööt, Enno, Sütiste und Masing, um nur einige zu nennen, zeigen – wurde von Kross nun komplett zugunsten des freien Verses aufgegeben. Damit stieß er bei den sowjetischen Kunstwächtern auf Kritik, denn reimlose Verse waren auch im vermeintlich mildesten Tauwetter nichts anderes als ein Zeichen westlicher Dekadenz, von der man sich nach wie vor fernzuhalten hatte. Die Wende von den 1950er- zu den 1960er-Jahren ist gekennzeichnet von einer breiten Polemik um die Möglichkeiten und Grenzen, aber auch die Zulässigkeit oder eben Schädlichkeit dieser freieren poetischen Form. Dabei fehlte es weder an Torheiten à la »Es ist klar, dass man nicht gut dichten kann, […] wenn man nicht die kommunistische Weltanschauung vertritt« eines Lembit Remmelgas (zitiert nach Oleski 2001, 1385) noch an bissigen Spottgedichten eines Endel Nirk, der zu jenem Zeitpunkt eine wichtige Stellung innerhalb des literarischen Diskurses einnahm. Seine Gedichtparodie auf die »Dreigroschenoper« von 1960 verschärfte die Debatte. Aber immerhin musste man für ein »falsches« Gedicht nicht mehr nach Sibirien. Kross blieb trotz aller Kritik und Diskussion unbeirrt bei »seiner« neuen Form. Nach Tuule-Juku« (Wind-Juku, 1963) kamen noch die Sammlungen Kivist viiulid (Violinen aus Stein, 1964), Lauljad laevavööridel (Sänger am Schiffsbug, 1966) und Vihm teeb toredaid asju (Der Regen macht tolle Dinge, 1969). In diesem letzten Band verwendete der Autor graphisch variable Formen und erreichte damit den Höhepunkt einer Dichtung, die phasenweise

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Übereinstimmungen mit der konkreten Poesie aufwies und sich nicht von dem unterschied, was sich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs tat. 1971 schloss der Dichter sein lyrisches Werk einstweilen ab, indem er mit Voog ja kolmpii (Welle und Dreizack) einen Auswahlband vorlegte, in den auch einige zuvor noch nicht publizierte Gedichte aus den späten 1930erJahren aufgenommen worden waren. Das dichterische Werk von Kross mit gut 200 Gedichten war richtungweisend für die estnische Lyrikgeschichte, nur gerät es aufgrund der Bedeutung des späteren Prosawerks bei der Beurteilung von Kross manchmal unverdientermaßen in Vergessenheit. Ellen Niit stand noch stärker im Mittelpunkt der Kritik (vgl. schon § 38), was möglicherweise auch daran lag, dass die Ideologiewächter sich sie als Frau und damit vermeintlich schwächstes Glied ausgesucht hatten. Aber es kann auch der Inhalt ihrer Gedichte gewesen sein, die so fern von jeder Politik waren, dass sie in den Augen mancher schon wieder politisch waren. Ellen Niit ist 1928 in Tallinn geboren und veröffentlichte bereits als Schülerin 1945 ihre ersten Gedichte in einer Tageszeitung. Bald aber stießen ihre Verse auf allerlei Widerstände, so dass als ihr erstes Buch 1954 eine Sammlung mit Kindergedichten erschien. Diesem Genre ist die Dichterin nicht nur treu geblieben, sondern sie hat es sogar zu ihrem Hauptbetätigungsfeld gemacht, auf dem sie weit über die Grenzen Estlands hinaus Berühmtheit erlangt hat. Von ihren annähernd drei Dutzend Kinderbüchern sind Ausgaben oder wenigstens Auszüge in über 25 Sprachen erschienen, was der Autorin den Beinamen der »estnischen Astrid Lindgren« eingetragen hat. Dass ihr eigentlicher Debütband erst 1960 erscheinen konnte, zeigt, dass auch in dieser Zeit noch bei weitem nicht alles reibungslos ging. In einer internen Besprechung im Schriftstellerverband wurde u. a. der Titel ihrer Sammlung als nicht optimistisch genug angesehen und musste abgeändert werden. Statt Metsviinapuu (Wilder Wein), dem Titel eines Gedichtes, in dem zu allem Überfluss auch noch eine graue Mauer vorkam, wurde dem Buch daraufhin der Titel Maa on täis leidmist (Das Land ist voller Entdeckungen) gegeben (Hiedel 1995, 80). Tatsächlich ist die Dichtung in diesem Band vorwiegend positiv und optimistisch, aber keineswegs in dem Sinne, wie es eine gekünstelte Parteidiktion hervorbringt. Es gelang der Dichterin, ihre Stimmungen und Gefühle ehrlich und damit überzeugend in eine relativ schlichte, schnörkellose Form zu gießen, die ihre Tiefe durch eine reiche Metaphorik erhält. Im Vordergrund stehen Liebe und Natur und die Bewahrung und Pflege derselben. Diese Thematik spielt auch in ihrer Lyrik für Kinder eine große Rolle, der man eine philosophische Dimension daher nicht absprechen kann. Im Folgejahrzehnt standen die Kinder auch wieder im Vordergrund, erst 1970 erschien ihre zweite Sammlung, Linnuvoolija (Die Vo-

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gelschnitzerin), der noch zwei weitere (1977, 1978) folgten. Damit war Niit weniger auffällig als Kross, dessen kompaktes lyrisches Gesamtwerk in das Jahrzehnt der estnischen lyrischen Erneuerung fällt (s. § 43) bzw. diese vorbereitete und einleitete, während Niits zweite Sammlung in einer Phase erschien, als die estnische Gedichtlandschaft tatsächlich reich und vielfältig genannt werden konnte. Dennoch erlangte sie in den 1950er-Jahren große Bedeutung, und sei es nur durch die Gedichte von ihr, die nicht erscheinen konnten, oder durch die Diskussionen, die sie auslöste und deren Leidtragende sie vielleicht mehr als andere war. Ain Kaalep ist 1926 in Tartu geboren und immatrikulierte sich bereits 1943 an der dortigen Universität. Der deutschen Mobilmachung entzog sich der 17-Jährige durch die Flucht nach Finnland, wo er in die finnische Armee eintrat. Hier debütierte er zwar als Dichter in einem eigens für die estnische Einheit der finnischen Armee publizierten Blatt, aber ansonsten brachte ihm das Finnlandabenteuer hauptsächlich Scherereien: Nach seiner Rückkehr nach Estland nahm er das Studium in Tartu wieder auf, wurde 1945 jedoch für ein Jahr inhaftiert und 1949 endgültig der Universität verwiesen. Er musste sich seinen Lebensunterhalt als Erzieher in einem Kinderheim und Altstoffsammler verdienen und konnte erst 1956 als Externer seinen Universitätsabschluss in Finnougristik machen. Danach lebte er als freiberuflicher Schriftsteller und Übersetzer in Elva, wo sein Haus zu einem Treffpunkt von jungen Intellektuellen wurde. Auch wenn Kaalep später zeitweise Stellungen an der Universität innehatte, waren ihm höhere akademische Weihen doch vorenthalten, so dass er als ein »unsichtbarer Professor« gleichsam im »Schatten der gleichgeschalteten Universität« lebte (M. Unt 1998, 47). Erst 1989 erhielt er als Chefredakteur der wieder gegründeten Zeitschrift Akadeemia (vgl. § 47) eine ihm angemessene Position, in der seine ganze Erudition zum Tragen kommen konnte. Denn Kaalep hatte verschiedene Philologien studiert und zahlreiche Sprachen gelernt, aus denen er seit den frühen 1950er-Jahren übersetzte. Die Beschäftigung mit den verschiedensten klassischen und zeitgenössischen Literaturen – aber auch und nicht zuletzt mit dem Estnischen – hatte ihn zum freien Vers geführt, über den er 1959 einen programmatischen Essay in Keel ja Kirjandus veröffentlichte. Hier kommt er, nachdem er reichhaltig Beispiele aus der internationalen Dichtung bemüht hatte, zu dem überzeugenden Schluss, dass »die Entstehung des freien Verses verbunden ist mit der inneren Demokratisierung der Dichtung. Sicherlich besteht ein eigener logischer Zusammenhang darin, dass Klopstock in seinen Oden die französische Revolution begrüßte und Whitmans Dichtung das ideologische Sprachrohr von Lincolns gegen die Sklaverei gerichteter Demokratie war.« (Kaalep 1959,

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268). Der Satz illustriert perfekt die damaligen Zeitumstände: Ohne einen wie auch immer gearteten Bezug zu Politik und Gesellschaft waren ästhetische Erörterungen immer noch nicht möglich, und das wusste Kaalep nur allzu gut. Also fuhr er in vorauseilendem Gehorsam, den man indes bloß als Trick zur Erhöhung der Publikationschancen des Essays einstufen muss, fort: Wenn es auch zeitgenössische dekadente Autoren gebe, die sich des freien Verses bedienten – Kaalep ist zu klug, um Namen zu nennen, er wusste, dass hier allein die Erwähnung des Adjektivs dekadent ausreichte, um den Ideologiewächtern zu zeigen, dass er »auf der richtigen Seite« war –, so könnten diese die ganze Unternehmung nicht in Misskredit bringen, da es ja eine Reihe von progressiven Dichtern gebe, die auch den freien Vers benutzten. Und es folgte eine Aufzählung der damals auch in der Sowjetunion wohl gelittenen Dichter: Pablo Neruda, Paul Éluard, Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Federico García Lorca, Nazım Hikmet. Der Essay veranschaulicht noch einmal, wie damals literarisch-ästhetische Diskussionen zu führen waren: immer noch streng innerhalb des vorgegebenen Rahmens, den es zu respektieren galt. Nur war die Bewegungsfreiheit innerhalb dieses Rahmens etwas größer geworden. Ain Kaalep ist in erster Linie denn auch als Übersetzer aus dem Deutschen, Französischen, Spanischen, Portugiesischen, dem klassischen Latein und Griechisch und noch ca. zwanzig anderen Sprachen für die estnische Literatur von Bedeutung gewesen. »Meine einzige Begabung, an der ich nicht zweifle, ist die, Lyrik zu übersetzen«, hat er ebenso bescheiden wie selbstbewusst einmal in einem Interview gesagt (Kaalep 2003, 117). Seine eigenen Gedichte erschienen erstmals 1962 in den beiden Sammlungen Samarkandi vihik (Das Samarkander Heft) und Aomaastikud (Landschaften der Morgenröte) herausgekommen. Dabei lag das innovatorische Element von Kaaleps Dichtung nicht nur im freien Vers, der hier zur Anwendung kam, sondern – im Gegenteil – auch in anderen, teils strengen Formen, die der Autor perfekt beherrschte. Von ihm stammten die ersten Haikus und Tankas in der estnischen Lyrik, auch andere klassische Formen wie das Gasel wurden von ihm eingeführt oder wiederbelebt. Für Letztere, in der üblicherweise der Name des Urhebers in der vorletzten Zeile genannt wird, legte er sich das arabische Pseudonym Ain al-Qalb zu. Ain Kaaleps Werk und Tätigkeit wird der fließende Übergang von Original und Übersetzung deutlich, es ist der beste Beweis für die Verwobenheit verschiedener Sprachen und Kulturen. Überspitzt formuliert: Kaalep war postmodern, als es das Wort noch gar nicht gab.

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Rückkehr und Umkehr der Älteren Als der 1920 geborene Kross sich Ende der 1930er-Jahre mit Dichtung zu befassen begann, hatte er ein klares Vorbild vor Augen: Die Arbujad, deren glühender Anhänger er in seiner Jugend gewesen war. Die Unterbrechung durch Krieg und Verbannung hat nicht verhindern können, dass der Haupterneuerer der Dichtung in den 1950er-Jahren dort anschloss, wo er – bzw. die estnische Kultur insgesamt – 15 Jahre zuvor aufgehört hatte, und das war die Dichtung der Arbujad (vgl. § 34). Sie wurde jedoch nicht kopiert, sondern diente als Basis und Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung. Die Kontinuität wurde noch greifbarer in Gestalt einiger Personen, die nun wieder an die Öffentlichkeit treten konnten: Drei der acht in jener berühmten Anthologie vertretenen Personen legten neue Gedichtsammlungen vor, nachdem sie anderthalb Jahrzehnte geschwiegen hatten bzw. zum Schweigen verurteilt gewesen waren. Sie waren aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen gewesen und hatten sich in jenen Jahren vorwiegend mit Übersetzungen über Wasser gehalten. Als Erste hatte Kersti Merilaas 1958 einen Band mit neuen Gedichten fertig. Schon 1955 konnten von ihr wieder Gedichte in einer Anthologie erscheinen, und nach den ermunternden politischen Signalen machte sie sich wieder verstärkt ans Dichten und publizierte in verschiedenen Zeitschriften. Ihre 1958 zusammengestellte neue Sammlung konnte allerdings erst vier Jahre später herauskommen, nachdem die Mehrheit der Gedichte schon verstreut erschienen war. Trotzdem war der Band Rannapääsuke (Die Uferschwalbe, 1962) ein wichtiges literarisches Ereignis, da er einer Rehabilitation gleichkam. Wie der Vogel im Titel ankündigt, werden hier das Aufbrechen des Eises, der Beginn eines neuen Frühlings und die bleibenden menschlichen Werte besungen. In den Band waren auch frühere Gedichte aufgenommen, so dass Merilaas’ die Lücke zu ihrem vor dem Krieg erschienenen Debütband schloss. Ihre naturbezogene, aber auch patriotische Dichtung setzte sie in dem Folgeband, Kevadised koplid (Frühlingsweiden, 1966), fort, womit sie sich nahtlos in die wiederbelebte neue, alte Dichtung einreihte. Im selben Jahr von Merilaas’ Comeback kam nach langer Pause auch wieder ein Buch von Betti Alver auf den Markt, eine Sammlung mit sechs schon früher geschriebenen Poemen, die vorher verstreut erschienen waren (Mõrane peegel, ›Der gesprungene Spiegel‹, 1962). Neuere Gedichte von der Autorin kamen dann ab Mitte der 1960er-Jahre, sie sind teilweise in den Bänden Tähetund (Sternstunde, 1966) und Eluhelbed (Lebensflocken, 1971) neben einer Auswahl früherer Dichtungen erschienen. Betti Alver rundete

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ihr Werk 1986 mit dem Band Korallid Emajões (Korallen im Emajõgi) ab. Hier wird noch einmal ein Querschnitt durch ihre philosophische Dichtung, in deren Zentrum stets der Mensch als schöpfendes Wesen steht, gegeben. Dieses Alterswerk hatte nichts von der Frische früherer Sammlungen eingebüßt und dokumentierte die beharrliche Kontinuität einer Dichterin, die 50 Jahre zuvor mit einer Gedichtsammlung Aufsehen erregt hatte und die estnische Dichtung ein halbes Jahrhundert begleitet und mitgestaltet hatte. Mit Übersetzungen hatte sich auch August Sang all die Jahre beschäftigt, und in diesem Bereich lag seine größte Bedeutung für die estnische Literatur. Seine Hauptsprachen waren Deutsch, Französisch und Russisch, 1956 legte er eine Anthologie mit Gedichten von Heinrich Heine vor, die gleichzeitig eine Übersetzungsgeschichte von Heine darstellte, da hier alle estnischen Heine-Übersetzerinnen und -Übersetzer vertreten waren. 1967 kam Sangs vollständige Übersetzung von Goethes Faust heraus – die erste komplette Übersetzung in Estland, nachdem zuvor Ants Oras im Exil ebenfalls eine Faust-Übersetzung angefertigt hatte (1955, 1962). Darüber hinaus war Sang als Organisator und Initiator wichtig. Auf ihn ging eine kleinformatige (10,5 × 13 cm) Serie mit Auswahlbänden bedeutender Lyrikerinnen und Lyriker zurück (Väike luuleraamat, ›Das kleine Gedichtbuch‹). Innerhalb dieser Reihe erschien 1966 auch ein ins Exil gegangener Dichter wie Henrik Visnapuu, desgleichen wurde 1968 nach langer Pause wieder ein Buch von Heiti Talvik publiziert. Mit seiner eigenen Dichtung ging Sang recht sparsam um, eine einzige weitere Sammlung erschien 1963 unter dem Titel Võileib suudlusega (Butterbrot mit Kuss). Die hierin enthaltenen 39 Gedichte sind gesellschaftsorientiert und können – bzw. wollen – die Freude über das Ende des Stalinismus nicht verhehlen. Und sie treiben ganz still ihren Spott mit der Zeit: So ist das Gedicht Laul O. W. Masingust, mehest, kes andis eesti keelele õ-tähe (Lied über O. W. Masing, den Mann, der der estnischen Sprache den Buchstaben õ gab) nicht nur eine Hommage an den Genannten und an die estnische Sprache, sondern auch eine Persiflage auf frühere und zeitgenössische Lobpreisungen auf sowjetische Politiker. Auf die tumbe Zensur ließ sich Sang nicht ein, er machte sie stattdessen explizit: In dem Gedicht Tee (Der Weg), das von einem Gespräch zwischen zwei Freunden handelt, die in einem Auto durch die Allee eines ehemaligen Guts fahren und über Vergangenheit und Gegenwart philosophieren, fand sich ursprünglich die folgende Strophe:

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Ja seal, kus kartes kupja keppi kord ori seisis, hinges vimm, seal uhkelt härrasmaja treppi nüüd tuisata võib minu ZIM. (Und dort, wo den Stab des Aufsehers fürchtend / einst der Sklave stand, Groll in der Seele, / dort stolz vor die Treppe des Herrenhauses / kann jetzt mein ZIM sausen).

Ein ZIM war eine sowjetische Automarke, die bevorzugterweise von Parteibonzen gefahren wurde, und die Verwendung dieser Abkürzung konnte hier als Kritik an der Partei verstanden werden, weswegen die Zensur eine Änderung einforderte. Dem kam Sang nach, indem er das inkriminierte Wort durch das unschuldige tõld ›Kutsche‹, das schon vorher im Gedicht vorgekommen war, ersetzte: Ja seal, kus kartes kupja keppi kord ori seisis, hinges vimm, seal uhkelt härrasmaja treppi nüüd tuisata võib minu tõld. (Sang 1963, 13)

Damit war der Reim des ansonsten perfekt durchkomponierten Gedichts an dieser Stelle zerstört, so dass jeder die Spur der Zensur deutlich sah (Hiedel 1995, 68)! Lediglich der vierte Dichter der Arbujad, der ebenfalls in Estland weilte und im Besitz seiner vollen Schaffenskräfte war, Uku Masing, war weiterhin zum Schweigen verurteilt. Er lebte offiziell zurückgezogen in Tartu, wo er inoffiziell aber der Dreh- und Angelpunkt des lyrischen Lebens in den 1960erJahren wurde. Dies entwickelte sich dann stürmisch im Zusammenspiel dreier Generationen: den Arbujad, der Dreigroschenoper und den »jungen Wilden« (s. § 43). Die anderen vier aus dem Arbujad-Band von 1938 kamen in dem Sinne nicht mehr zum Zuge. Sie waren gestorben (Talvik, 1962 auch Viiding), im Exil (Kangro) oder hatten sich inhaltlich völlig von der Gruppe entfernt (Raud). Neben der Rückkehr gab es bei manchen Personen insofern auch eine Umkehr, als sie sich sichtbar von den ideologischen Fesseln des Stalinismus befreien und einen neuen, eigenständigen Weg in der Dichtung finden konnten. Hier ist an erster Stelle Debora Vaarandi (vgl. §§ 36, 38) zu nennen, die nach diversen panegyrischen Exkursen Ende der 1950er-Jahre einen Neustart versuchte, was ihr mit dem Band Unistaja aknal (Die Träumerin am Fenster, 1959) auch wirklich gelang. Hier ist in jeder Zeile ein Aufatmen und eine Befreiung von alten Dogmen spürbar, mit ihrer gefühlsbetonten Lyrik gelang

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der Dichterin eine naturgetreue Widerspiegelung der gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit. Das setzte sich fort in der zweiten neuen Sammlung der Dichterin, die 1965 unter dem Titel Rannalageda leib (Das Brot des flachen Strandes) erschien und relativ viel Dichtung im freien Versmaß enthielt. Die einst glühende Anhängerin von Stalin hatte sich zu einer bedächtigeren Philosophin gewandelt, die dabei ihren einstigen Idealen nicht unbedingt untreu wurde. Nur war der Ton anders geworden, die kämpferische Diktion hatte einem viel milderen Humanismus Platz gemacht. Von einer Umkehr kann man bei Minni Nurme weniger sprechen, da man die Gedichte ihres Debütbandes Sünnimuld (Geburtserde, 1945) kaum der pflichtgemäßen Panegyrik zuordnen konnte. In den vergleichsweise intimen Gedichten wird ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit Volk und Heimat ausgedrückt, das allein aufgrund seiner lebensbejahenden Grundhaltung noch nicht stalinistisch genannt werden kann. Auch die zweite Sammlung von Nurme, Pikalt teelt (Vom langen Weg, 1947), weist die gleiche Stimmung auf, aber inzwischen waren die ideologischen Zügel straffer geworden, so dass der Dichterin heftige Kritik zuteil wurde. Die Folge war, dass sie zehn Jahre schwieg und erst 1957 wieder einen neuen Band mit Gedichten vorlegte, der unumwunden das Thema der vorangegangenen Sammlungen wieder aufnahm, wie die Überschrift bereits verrät: Juured mullas (Die Wurzeln in der Erde) erschien 1957 und stellte abermals Motive wie Natur, Liebe und Zusammengehörigkeit mit der nächsten Umgebung in den Vordergrund. Nurme hat kontinuierlich weitergedichtet, wobei ihr größerer Ruhm versagt worden ist, weil sie weitgehend traditionell blieb und nichts Aufsehen erregend Neues geschaffen hat. In ihrer Beständigkeit war sie jedoch ein wichtiges Element der estnischen Nachkriegslyrik. Von einem Umschwung kann man in beschränktem Maße auch bei Vladimir Beekman und Ralf Parve sprechen. Parve verwendete in seiner Gedichtsammlung Avatud värav (Das geöffnete Tor, 1958) beispielsweise zum Teil den freien Vers und hatte somit seinen Anteil an der Erneuerung, die im Übrigen auch inhaltlich stattfand, wie der Titel des Bandes vermuten lässt. Das sowjetische Pathos, das Parves Dichtung bislang gekennzeichnet hatte, war nun einer allgemeinen humanistischen Haltung gewichen. Beekman war während des Zweiten Weltkriegs im sowjetischen Hinterland gewesen und hatte seine ersten Verse auf Russisch veröffentlicht. Nach dem Krieg war er zunächst im staatlichen Verlag tätig, ab 1956 dann freiberuflich, wobei er schnell Karriere in Partei und Schriftstellerverband machte. Seinen ersten Gedichtbänden – Laul noorusest (Lied von der Jugend, 1952) und Tee ellu (Der Weg ins Leben, 1955) – ist der pathetische Stempel der Zeit noch anzusehen, während die folgenden Bände – Tuul kanarbikus (Wind im Heidekraut,

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1958) und Linnutee (Milchstraße, 1960) – anstelle des von der Partei verordneten Optimismus eine persönliche Note enthalten und authentischer wirken. Abschied von Stalin nahm auch Juhan Smuul, und zwar mit seiner Prosasammlung Kirjad Sõgedate külast (Briefe aus dem Dorf der Einfältigen, 1955). Hiermit hatte er bereits 1951 angefangen, als die ersten der später insgesamt neun Briefe in Looming erschienen. Es geht hier um ein »klassisches« sozialistisches Thema, das gleichzeitig ein ewig wiederkehrendes Universalthema der Menschheitsgeschichte ist, nämlich das Aufeinanderprallen der Generationen. Im sozialistischen Kontext ist der Konflikt zwischen Jung und Alt nichts anderes als der Konflikt zwischen Alt und Neu, und das heißt: zwischen kapitalistischer und sozialistischer Denkweise. Das Ganze ist in einer Fischereikolchose angesiedelt, die erkennbare Übereinstimmungen mit Smuuls Heimatdorf aufweist. Durch diese Platzierung in ein bekanntes Milieu gelang Smuul eine farbenfrohe, einfühlsame und stellenweise humorvolle Beschreibung der tatsächlichen Zustände, was ihn vor einem schablonenhaften Herunterbeten von Parteiweisheiten bewahrt hat. Letztendlich werden hier allgemeine soziale und ethische Probleme behandelt, deren Ansiedlung im sozialistischen Kontext nachgerade sekundär erscheint. Damit leistete auch ein Autor wie Smuul einen nicht unerheblichen Beitrag zum Tauwetter. Als einer der Ersten tat er dieses auf dem Gebiet der Prosa. In seinen späteren Werken – Muhulaste imelikud juhtumised Tallinna juubelilaulupeol (Die erstaunlichen Abenteuer der Muhumer auf dem Tallinner Jubiläumsliederfest, 1957) und Muhu monoloogid; Polkovniku lesk (1968; dt. Die Witwe und andere komische Monologe, 1972) – entpuppte er sich als begabter Humorist, dessen Werke immer wieder aufgelegt wurden. Seinen größten Erfolg landete Smuul mit seinem Reisebuch Jäine raamat (1959, dt. Das Eisbuch, 1962), in dem er seine Reise in die Antarktis beschreibt. Es wurde mit dem Leninpreis für Publizistik ausgezeichnet und in knapp 25 Sprachen übersetzt. Mit seinem Reisetagebuch Jaapani meri, detsember (Japanisches Meer, Dezember, 1963) publizierte Smuul ein weiteres Werk in diesem Genre. Nicht zu vernachlässigen ist schließlich seine Rolle bei der Wiederbelebung des estnischen Theaters (s. § 44).

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§ 41 Realismus – sozialistisch oder nicht Literatur nach Schablone? Da die Konzeption des Sozialistischen Realismus innerhalb der herrschenden Sowjetideologie im Hinblick auf die Künste einen Alleinvertretungsanspruch angenommen hatte (s. § 38), muss an dieser Stelle noch einmal kurz auf den Begriff eingegangen werden. Fast alle Definitionen des Sozialistischen Realismus betonen, dass hiermit eine bestimmte Methode zur Erzeugung von Kunstwerken gemeint ist, nicht etwa eine Bewegung oder Epoche. Diese Methode wurde 1934 in der Satzung des allsowjetischen Schriftstellerverbandes festgeschrieben und diente seitdem als Leitfaden für alle, die in den Machtbereich des Verbandes fielen. Demnach wurde eine »wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung« gefordert. »Dabei müssen Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung mit der Aufgabe der ideologischen Umbildung und Erziehung der Werktätigen im Geist des Sozialismus verbunden werden.« (zit. nach Städtke 2002, 322). Die Realität musste also vom Standpunkt des Determinismus her betrachtet werden, dabei musste uneingeschränkt der Ideologie der Partei gefolgt werden. Das Instrument zur Erreichung dieser Ziele war der so genannte positive Held – weit seltener eine positive Heldin –, der unermüdlich das Böse bekämpft und die ihm Anvertrauten in eine glückliche Zukunft geleitet. Er hatte vier Eigenschaften, wie sie Pekka Lilja in seiner »Anatomie des Heros« überzeugend herausgearbeitet hat: Entschlossenheit, Parteilichkeit, Optimismus, moralische Unbeflecktheit (Lilja 1980, 55–62). Das setzte voraus, dass die Trennung zwischen Gut und Böse immer eindeutig ist, was auch der Fall war und ein weiteres Kennzeichen des Sozialistischen Realismus ist. Damit verbunden war schließlich noch die Forderung nach einem glücklichen Ausgang (Lilja 1980, 174), was letztendlich dazu führt, dass eine solche Literatur an Spannung einbüßt, d.h. in hohem Maße vorhersagbar ist und der Kinderliteratur oder dem Märchen vergleichbar ist (s. Hasselblatt 2003a). Literaturwissenschaft interessiert sich jedoch nicht dafür, wie Literatur sein sollte, sondern wie sie ist. Dementsprechend wird in neueren Abhandlungen das Phänomen des Sozialistischen Realismus auch nicht mehr als Methode, sondern als Epoche betrachtet, wie es Veiko Märka tut, der konsequenterweise zu einer ganz anderen Schlussfolgerung kam als die noch linientreue Literaturgeschichte von 1987 (EKA V, 1, 67–69) in ihrer Einleitung: Dort war die Rede davon gewesen, dass in der Periode zwischen 1945

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bis 1953 die gemäß den Erfordernissen des Sozialistischen Realismus abgefasste Literatur noch mancherlei Mängel und Fehler aufwies, während es nach 1956 besser geworden sei. Märka behauptet das Gegenteil: »Gerade 1945–53 war die Zeit, in der sich der Sozialistische Realismus am vollkommensten und auf höchstem Niveau äußerte.« (Märka 1998, 81). Es handelt sich hierbei nur um einen scheinbaren Widerspruch. Systemimmanent betrachtet war alle Literatur, die nach 1944 innerhalb der Grenzen Estlands entstanden war, nach dem Prinzip des Sozialistischen Realismus abgefasst worden, und da es deutliche Entwicklungen und auch Qualitätsschwankungen zwischen dem Ende der 1940er- und beispielsweise dem Ende der 1970er-Jahre gab, mussten die früheren Werke als unvollständig oder unbefriedigend eingestuft werden. Noch Mitte der 1980er-Jahre findet man ideologische Verrenkungen wie die folgende: »Die Herausbildung des sowjetestnischen Romans markiert die Durchsetzung des Sozialistischen Realismus, die fortschreitende Diversifizierung aber spricht für die Lebenskraft dieser Methode als eines offenen ästhetischen Systems.« (Lias 1985, 6). Damit wird nur im Stile eines Lippenbekenntnisses dem ideologischen Totalitarismus Tribut gezollt, inhaltlich deutete Lias mit Worten wie »Vielfalt« oder »Offenheit des ästhetischen Systems« an, dass hier von einer einförmigen und gleichgeschalteten, nach einem einheitlichen Prinzip verfassten Literatur schon lange nicht mehr die Rede sein konnte. Mehr noch: Die Verwendung der Begriffe »geöffnetes ästhetisches System« und »Sozialistischer Realismus« in einem Satz sind ein Paradox, das einer Negierung des Letzteren gleichkommt (vgl. Veidemann 2001, 454). So betrachtet ist Märkas Position, derzufolge allenfalls die Jahre zwischen 1945 und 1953 als Jahre des »reinen« Sozialistischen Realismus bezeichnet werden könnten, völlig einleuchtend. Denn nur dann hat die Verwendung der Bezeichnung »Sozialistischer Realismus« überhaupt noch eine Berechtigung. Hiermit wird nicht mehr die Methode als solche bezeichnet, wie es die Ideologie forderte und wie es jede systemimmanente Darstellung tun musste, sondern nur noch die Epoche, innerhalb derer eine Reihe von Autorinnen und Autoren ganz konkret versuchte, Literatur nach dieser Methode anzufertigen. Wenn man dieser Betrachtungsweise folgt, muss man unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass der Anteil der estnischen Texte, die man ohne Einschränkungen einem schablonenhaften Sozialistischen Realismus zuordnen kann, doch eher gering ist. Die meisten relevanten Texte sind bereits an der entsprechenden Stelle (§ 38) behandelt worden. Dabei leiteten sie ihre Relevanz allein von der geringen Anzahl der in jener Epoche zur Verfügung stehenden Texte her; für spätere Zeiten mag zwar gelten, dass es noch Versu-

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che gab, nach der vorgefertigten Schablone Texte zu erstellen, nur werden diese Texte insofern irrelevant für eine Betrachtung innerhalb der Literaturgeschichte, weil sie neben den anderen Texten völlig verblassen und im literarischen Leben nicht mehr die geringste Rolle spielen. Allein in den ersten zehn Jahren nach der Sowjetisierung konnte die Rede davon sein, dass diese Methode sich in den Vordergrund drängte. Aber auch hier handelte es sich vielfach um Wunschdenken und im Nachhinein verpasste Interpretationen, wie eine eingehendere Analyse einiger Werke zeigte (s. Hasselblatt 2003a). Mit anderen Worten: Wenn man sich die Mühe macht und nur auf die Texte konzentriert, ohne den systemimmanenten Deutungsversuchen zu viel Aufmerksamkeit zu schenken – Märka weist zu Recht darauf hin, dass ein Kennzeichen des Sozialistischen Realismus die besondere Rolle der Kritik ist: »Literatur war ein Echo auf die Kritik, nicht umgekehrt, wie es normalerweise der Fall ist« (Märka 1998, 102) –, wird man feststellen, dass der vielfach herbeizitierte Sozialistische Realismus eine untergeordnete Rolle spielte. Er hat nicht die Aufmerksamkeit verdient, die ihm von welcher Seite auch immer zuteil geworden ist. Im Vordergrund stand allenfalls ein Realismus, wie er seit dem Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb der estnischen Literatur Fuß gefasst hatte, der gegebenenfalls ein wenig sozialistisch übertüncht wurde. Drei alte Meister Während die Lyrik vergleichsweise schnell auf die veränderte politische Lage zu reagieren versuchte, tat sich die Prosa etwas schwerer. Dies ist auch daran abzulesen, dass die Anpassung an die neuen Gegebenheiten nach dem Zweiten Weltkrieg mühselig verlaufen war und in dem einen oder anderen Fall zu direkten Fehlschlägen geführt hatte (vgl. § 38). Bezeichnenderweise war es nun in den 1950er-Jahren wiederum die ältere Generation der Debütanten aus der Zwischenkriegszeit, die im Bereich des Romans mit den ersten nennenswerten Resultaten aufwarten konnte: Aadu Hint, Erni Krusten und Rudolf Sirge nahmen sich alle eines Themas an, von dem sie erwarten konnten, dass es von den Ideologiewächtern wohl gelitten war, nämlich der revolutionären Umgestaltung der estnischen Gesellschaft an den historischen Wendepunkten des frühen 20. Jahrhunderts. Inwieweit sie damit auch inhaltlich den ideologischen Forderungen Rechnung trugen, ist dann schon eine andere Frage. Von ihnen hatte Aadu Hint sich mit dem ersten Teil seiner Tetralogie Tuuline rand (Die windige Küste, 1951) die heftigste Kritik eingehandelt, der er in einer erweiterten Neuauflage von 1952 gerecht zu werden versuchte – erfolglos, was den Text betraf (s. § 38), aber vielleicht erfolgreich im Hinblick

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auf seine Rezeption und weitere Position. Jedenfalls machte sich Hint danach unbeirrt an die Abfassung der folgenden Bände, die in den Jahren 1954, 1960 und 1966 herauskamen. In diesem breit angelegten Werk mit einem Umfang von ca. 486000 Wörtern (bzw. 443 000, legt man beim ersten Teil die unverfälschte Erstauflage zu Grunde) wird das Schicksal einzelner Mitglieder der weit verzweigten Familie Tihu im Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs dargestellt. Dabei wird keine kontinuierliche Beschreibung gegeben, sondern es werden einzelne Epochen und einzelne Personen herausgegriffen. Im ersten Band war dies die Zeit der Revolution von 1905 und ihre unmittelbare Vorgeschichte, die Hauptpersonen waren der blinde Sänger Kaarli, die Brüder Tõnis und Matis Tihu sowie der Sohn des Letzteren, Peeter. Während dieser sich zum Sozialisten entwickelt und auch sein Vater ein eingefleischter Feind der Obrigkeit ist, kristallisiert sich der Kapitän Tõnis allmählich zum Kapitalisten heraus, dem sein wirtschaftliches Wohlergehen über alles geht. Heimliche Hauptfigur des Romans ist aber das Schiff Kaugatoma, das sich die armen Dorfbewohner in Gemeinschaftsarbeit bauen, um so ein Stück wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen. Der Roman ist eine farbenfrohe, nuancierte und lebendige Schilderung des Lebens an der Küste am Vorabend der Revolution von 1905 und wurde erst in seiner erzwungenen zweiten Auflage zu einem inkohärenten Machwerk über die Revolution, das dem Geist der Zeit entsprechen sollte (vgl. § 38). Der zweite Teil behandelt den Zeitraum von 1910 bis 1914 und hat als Hauptperson eindeutig Mare. Sie ist die Frau von Sander, einem weiteren Sohn von Matis Tihu, Bruder von Peeter und damit Neffe von Tõnis. Die Bezüge zum ersten Band sind jedoch relativ lose und bestehen am deutlichsten in der Person des Tõnis Tihu, dessen Entfernung vom Volk und Aufstieg zum Großbürger bzw. Kapitalisten ausführlich dargestellt wird. Eingeflochten werden verschiedene Episoden aus Mares Umfeld wie Furcht einflößende Besuche der Geheimpolizei, der tragische Tod ihres Bruders, die Erkrankung ihres Sohnes oder die Einlieferung einer entfernten Verwandten ins Leprosorium – hier taucht erneut die Lepra-Thematik auf, die in Hints Werk zentral steht. Der Roman gipfelt in den Machenschaften von Tõnis, der die Kaugatoma inzwischen in seinen Besitz gebracht hat und die Vertreter der Genossenschaft übervorteilen will, was aber misslingt. Zwar werden zusehends auch die politischen Zustände vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschrieben, aber eine kompositorisch-zwingende Verdichtung gelingt dem Autor nicht, so dass der Roman am Ende etwas ausfranst und nicht mehr die Konsistenz des ersten Teils aufweist. Trotzdem sind immer noch viele Passagen eine lesenswerte und naturnahe Schilderung der Zeit. Der Autor hat mit diesem

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Buch der estnischen Frau als kontinuitätswahrendem Element ein Denkmal gesetzt. Der dritte Teil spielt im Zeitraum zwischen März 1915 und Februar 1918 und ist durch das Auftreten von Mare und Tõnis locker mit dem vorangegangenen verbunden. Hauptperson ist Joonas Tihu, ein entfernter Verwandter, der den Namen Tihu als uneheliches Kind nach seiner Mutter erhalten hat, während der Vater ein unbekannter Finne ist. Ganz anders als in den beiden ersten Teilen wird hier das persönliche Schicksal eines unentschlossenen, aber auch unangepassten Charakters im Wirbel des Ersten Weltkriegs dargestellt. Er reift durch Gefangenschaften, Liebschaften, Rückschläge und körperliche wie psychische Versehrungen zum Revolutionär und kommt 1918 beim Sturmangriff gegen die deutschen Truppen als namenloser Soldat um. Obwohl hier oberflächlich und mit dem nötigen Pathos versehen ein positiver Held stilisiert wird, ist das Werk keine stereotype Konstruktion, sondern vorwiegend eine psychologische Darstellung. Eine gewisse Unkonventionalität liegt darin, dass der Roman das Jahr 1917 mit einschließt, aber des ungeachtet nicht zu einem Lobgesang auf die glorreiche Revolution desselben Jahres mutiert. Die zeitgenössische Kritik konnte ihre Enttäuschung darüber denn auch nicht verhehlen (Remmelgas 1960). Andererseits sagt der Umstand, dass eine solche Kritik als »normale« Rezension in einer Zeitschrift erschien – und der Roman weder wegzensiert noch zur Umarbeitung empfohlen wurde –, einiges über die Zeitumstände aus: Anfang der 1960er-Jahre hatte der ideologische Druck erheblich nachgelassen und sich auf die Spalten literarischer Zeitschriften zurückgezogen. Der vierte Teil spielt in den Jahren der Estnischen Republik von 1922 bis 1939 und hat Enn Tihu zur Hauptperson, den Sohn von Mare und Sander. Beschrieben wird sein Lebensweg vom Schüler und Abiturienten zum Lehrer und Schriftsteller. Großen Raum nehmen abermals Erörterungen über die Lepra ein, die – als bloße Vermutung oder als Diagnose – bei einigen Personen auftaucht. Auch politische Betrachtungen über die Zustände in Estland und in Sowjetrussland werden eingeflochten. Dabei wird nichts Beschönigendes über die 1930er-Jahre in der Sowjetunion gesagt, im Gegenteil, Peeter Tihu, Enns Onkel, ist dort offenbar in Ungnade gefallen und befindet sich im Straflager. Ebenso werden die Schauprozesse in Moskau erwähnt. Eine zweite Handlungslinie wird eröffnet mit Enns jüngerem Bruder Joonas, über dessen Werdegang sich seine Mutter Mare Sorgen macht. Er führt ein liederliches Studentenleben in Tartu und verkehrt in homosexuellen Kreisen. Das war nicht nur in bürgerlichen Kreisen, sondern auch in sowjetischen Augen eine unerträgliche Angelegenheit. Mare geht hieran indirekt sogar zugrunde. Im Schlusskapitel kippt der Roman ins Kitschig-Pathetische: Lehrer Enn muss

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miterleben, wie einer seiner Schüler im Frühjahr 1939 von der Politischen Polizei verhört und des Kommunismus verdächtigt wird, woraufhin er sich am nächsten Tag das Kommunistische Manifest ausleiht, um nachzulesen, worum es eigentlich geht. Dann gehen ihm die Augen auf, und er ist völlig einer Meinung mit dem Text. Diese letzten beiden Seiten sind so platt und simplifiziert, dass man sich fragt, ob der Autor der Zensur einen Streich spielen wollte und ihr das Märchen von einem sich zum Kommunismus bekehrenden Protagonisten bescherte, um das Buch als Ganzes zu retten. Denn es hatte, nicht zuletzt wegen der angedeuteten Homosexualität, große Schwierigkeiten mit der Zensur gegeben. Die haben Hint im Übrigen dermaßen entmutigt, dass er von einem ursprünglich geplanten fünften Band absah. Und nicht nur das: Hint soll sich Ende der 1960er-Jahre sogar auf eine Flucht nach Schweden vorbereitet haben (Tamm 2003, 606). Insgesamt betrachtet, hat diese Tetralogie manche Schwächen: zu viele Längen, ein gelegentlich zu dick aufgetragenes Pathos und hin und wieder deplatziert wirkende »rote« Einsprengsel. Aber sie enthält auch viel Ehrliches und Aufrichtiges und gibt passagenweise ein gutes Bild der Zeit. Und da Hint fraglos ein begabter Erzähler war, erfüllte sein Werk eine wichtige Funktion innerhalb der gleichgeschalteten Sowjetkultur: Es sorgte dafür, dass es estnische Originalliteratur in reicher und humorvoller Sprache zu lesen gab, und nicht nur drittklassige Übersetzungen aus dem Russischen, wie in einem Nekrolog betont wurde (Remsu 1990). Wie Hint wählte auch Erni Krusten, der vor dem Krieg bereits fünf Bücher publiziert hatte, für seinen ersten großen Roman (227000 Wörter) – sieht man von dem eher misslungenen Versuch von 1946 ab (s. § 38) – als Thema die Revolution von 1905. Und ähnlich wie bei Hint liegt das Schwergewicht auf der Vorgeschichte der Revolution: Der erste Teil des zweibändigen Romans Noorte südamed (Die Herzen der jungen Leute, 1954, 1956) spielt in den Jahren 1903 und 1904 auf dem Lande in Nordostestland, in der Umgebung von Rakvere, der zweite Teil 1905. Es geht in dem sprachlich reichen, im Novellenstil verfassten Roman, der viele einzelne, nur lose miteinander verwobene Episoden und eine beinahe unüberschaubar große Zahl von Charakteren und Personen beinhaltet, um den Konflikt zwischen der älteren (gemäßigteren) und jüngeren (radikaleren) Generation. Hauptthema sind die Träume und Sehnsüchte der jungen Menschen, die einen Ausweg aus der beklemmenden Situation, die durch Gutsherrnwillkür und Zarenmacht gekennzeichnet wird, suchen. Dabei entstehen auch Konflikte innerhalb der Familien, ebenso wird der Kontrast zwischen Stadt und Land thematisiert: Aus der Stadt kommt ein politischer Agitator, die Stadt ist aber auch ein Sündenpfuhl, in dem eine junge Frau von einem lüsternen Uhrmacher geschwän-

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gert wird und anschließend an einer stümperhaft durchgeführten Abtreibung stirbt. Ferner wird alles geboten, was zu einem breiten historischen Panorama gehört, wobei auch viele historische Tatsachen angeführt werden: die Studentenstreiks in Tartu, der russisch-japanische Krieg, die Inhaftierung von Aufständischen und deren Verschickung nach Sibirien, der Mord an einem Pastor, brennende Scheunen und ein brennendes Gut, die Festsetzung des Gutsherrn und am Ende das Eintreffen der Kosaken. Deutlicher als bei Hint wird hier das Motiv der Konfrontation in den Vordergrund gestellt, wobei Gegner der Landbevölkerung Zar und Gutsbesitzer gleichermaßen sind. Beide stehen in unversöhnlicher Gegnerschaft zu den einfachen Leuten und stehen einander hinsichtlich ihrer Grausamkeit oder Verabscheuungswürdigkeit in nichts nach. Trotz stellenweise plakativer Schilderungen ist der Roman keine einseitige Schwarzweißmalerei. In diesem Zusammenhang verdient die Figur eines (neu)reichen russischen Gutsbesitzers Erwähnung, der außerhalb der verkrusteten Strukturen steht und für manche zum Hoffnungsträger wird. Jedoch weist Krusten ihm innerhalb des Machtdreiecks Landbevölkerung-Gutsherr-Zentralregierung keine eindeutige Rolle zu, was als Indikator dafür angesehen werden kann, dass der Autor gerade die Vielschichtigkeit der damaligen Gesellschaft herausstreichen wollte: Patentlösungen hatte auch er nicht. Damit ist der Roman, dessen Entstehungszeit eindeutig vor Stalins Tod liegt, alles andere als ein Musterbeispiel für Sozialistischen Realismus. Wir haben es mit ganz normalem Realismus zu tun, den allein die Thematik und ein stellenweise auftretendes Pathos noch nicht zur schablonenhaften Literatur verkommen lassen. Krusten veröffentlichte weiterhin zahlreiche Sammlungen mit Kurzprosa und 1962 den psychologischen Roman Nagu piisake meres (Wie ein Tropfen im Meer), der die innere Entwicklung einer Person behandelt. Sie beginnt vor dem Ersten Weltkrieg und endet mit dem sang- und klanglosen Untergang im Zweiten Weltkrieg, während der deutschen Okkupation. Krusten knüpfte hier an die Tradition der 1930er-Jahre an und eröffnete der psychologischen Behandlung aktueller gesellschaftlicher Themen neue Möglichkeiten. Gleichzeitig fügte er sich nahtlos in die jüngere Generation ein, die ungefähr im gleichen Zeitraum zu publizieren begann (s. § 45). Rudolf Sirge veröffentlichte nach dem Zweiten Weltkrieg einige Prosasammlungen und Reiseberichte, ferner überarbeitete er sein Frühwerk Rahu! Leiba! Maad! (s. § 33) und gab es 1961 unter dem Titel Tulukesed luhal (Flämmchen auf der Aue) neu heraus. Seinen größten Wurf landete er mit dem Roman Maa ja rahvas (Land und Volk, 1956), der ein ca. 195000 Wörter umfassendes Gemälde der Ereignisse auf dem flachen Lande in den Jahren 1940/1941 ist. Sirge griff in diesem Roman ein brisantes Thema aus der un-

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mittelbaren Vergangenheit auf, das bislang allenfalls im Stil eines Hans Leberecht behandelt worden war. Was Sirge tat, war das genaue Gegenteil. Er beschreibt detailliert und ohne Beschönigungen die Zustände, Stimmungen und Ereignisse auf dem Land. Dabei müssen auch die sowjetischen Deportationen vom Juni 1941 zur Sprache kommen, wobei der Autor keineswegs seine negative Einstellung dazu verhehlt. In dem spannenden und ebenso vielseitigen wie vielschichtigen Roman ist die Sympathie des Autors ganz klar auf der Seite des Bauern, der sein Land liebt und dieses Land nun verliert, nicht etwa auf der Seite derjenigen, die die Gesellschaft neu ordnen wollen. Der überwältigende Erfolg des Buches mit knapp 100000 verkauften Exemplaren in vier Auflagen zwischen 1956 und 1976 gab dem Autor Recht, daran konnten weder die Diskussionen im Schriftstellerverband, die der Publikation vorausgegangen waren (Tonts 1973, 2082), noch das Verbot einer Theaterversion (Tonts 1994) noch die Verhinderung der Verleihung des Leninpreises in letzter Minute (Kuusik 1965, 208) etwas ändern. Sirges Roman führte die estnische Prosa, sollte sie sich jemals im Würgegriff des Sozialistischen Realismus befunden haben, wieder hinaus in freieres Fahrwasser, wo die Intention der Urheber im Vordergrund stand – nicht eine von der kunstund realitätsfernen Politik verordnete Schreibmethode. In neuem Fahrwasser Dieses neue Fahrwasser kann man mit einem gemächlich dahinfließenden Strom vergleichen, der immer breiter wird und gegen Ende der 1980er-Jahre seine einengenden Ufer in Gestalt der Zensur völlig verliert, um ins Meer der Weltliteratur einzumünden. Das Bild stimmt insofern, als die Anzahl der veröffentlichten Prosatexte tatsächlich fortwährend anstieg – in den 1980er-Jahren wurde Prosa von über hundert verschiedenen Personen verlegt (Lias 1996, 101) – und zum Ende der Sowjetzeit die Fesseln abgestreift werden konnten und eine Art Internationalisierung eintrat (s. § 47); aber das Bild ist falsch, wenn man es als einziges zur Charakterisierung der estnischen Nachkriegsprosa heranzieht, denn nur ein Teil davon bewegte sich in dieser mehr oder weniger vorgefertigten Bahn. Es gab eine deutliche Nebenlinie, sozusagen einen Nebenfluss mit Stromschnellen und Normabweichungen, die das Prosabild auch in den vermeintlich grauen Jahren von Okkupation und Stagnation immer wieder auflockerten. Diese Werke, die dem Zahn der Zeit Paroli geboten haben und auch in der Rückschau des 21. Jahrhunderts unbestritten zum Kanon der estnischen Literatur gerechnet werden müssen, werden an anderer Stelle behandelt (§§ 45, 46), während hier eine knappe Erwähnung all jener Prosaistinnen und Prosaisten erfolgt, deren Wirkung begrenzter blieb.

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Dabei ist die Grenze zwischen diesen beiden Registern nicht scharf, und sie verläuft nicht unbedingt zwischen Personen, sondern zwischen Texten, d. h. es kann Personen gegeben haben, die sowohl das eine wie auch das andere geschrieben haben. Auch erscheint fraglich, ob man eine solche Zweiteilung chronologisch vornehmen kann, wie es Hennoste (2003b, 1158–1164) tut: Er unterscheidet zwischen »sowjetischer« und »engagierter« Literatur und will eine Grenze irgendwo in den 1970er-Jahren sehen. Sinnvoller erscheint jedoch, eine kontinuierliche Koexistenz dieser beiden Linien anzusetzen, die streng genommen bis in die heutige Zeit andauert und die es in allen Literaturen gibt. »Sowjetisch« hieße dann lediglich »dem Zeitgeist entsprechend«, also angepasst, nicht aneckend, wenig experimentierfreudig und verkäuflich; dem stünde eine unangepasste, wenig vorhersagbare, experimentierfreudige und im Prinzip unverkäufliche Literatur gegenüber. In Estland hat sich für eine solche im weitesten Sinne auch als »populär« zu bezeichnende Literatur der Begriff der Alltagsliteratur (olmekirjandus) eingebürgert. Damit wird eine Textsorte bezeichnet, die die normalen Lebensumstände der Durchschnittsmenschen im Hier und Jetzt beschreibt – »die kleine Welt der kleinen Menschen« (Veidemann 1980, 131). Die meisten Zusätze, die im Zusammenhang mit dieser Literatur verwendet werden, sind denn auch nicht gerade schmeichelhaft: schematisch, nicht vollwertig, primitiv, wenig psychologisch (Veidemann 1980, 130). Mehr als eine grobe Charakterisierung kann hiermit allerdings nicht gegeben werden, und die Unbeholfenheit der Grenzziehung möge andeuten, dass nicht alle der im Folgenden genannten Werke in den Bereich der Alltagsliteratur fallen. Der Begriff kann allenfalls als kleinster gemeinsamer Nenner herhalten. Einer der wichtigsten Autoren, der – wie etwas Juhan Smuul – erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben begann, war der 1916 geborene Paul Kuusberg. Mit Smuul und auch dem jüngeren Vladimir Beekman verbindet Kuusberg, dass er lange Zeit hohe Funktionärsposten bis ins Zentralkomitee der Estnischen KP hinein innehatte. Außerdem war er zweimal Chefredakteur von Looming und langjähriger Vorsitzender des Schriftstellerverbandes. Kuusberg hatte als Kritiker begonnen und legte 1957 seinen ersten Roman, Müürid (Die Mauern), vor. Während dieser im Bauarbeitermilieu am Ende der 1930er-Jahre und in der sowjetischen Umbruchszeit angesiedelte Roman noch weitgehend den Schablonen des Sozialistischen Realismus verhaftet ist, waren die beiden folgenden Romane von einer stärkeren Psychologisierung und Konfliktformulierung gekennzeichnet. Enn Kalmu kaks mina (Die beiden Ichs des Enn Kalm, 1961) behandelt die inneren Konflikte eines 1941 zum Militärdienst eingezogenen jungen Soldaten, der sich zwischen zwei Weltanschauungen entscheiden muss. In der

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Schlüsselszene will ein Kamerad die Hauptperson überreden, zu den Deutschen überzulaufen, was diese jedoch nicht tut. Darauf schießt der Kamerad auf Kalm und verwundet ihn – tödlich in der ersten Version, die 1960 in Looming erschien, aber »nur« schwer in der Buchversion, die damit die Grundaussage korrigiert: Nun hat das zweite Ich, weil es am Leben bleibt, eindeutig gewonnen, während in der ersten Fassung noch (zu viel) Spielraum für Interpretationen blieb. Der Vorgang zeigt einmal mehr, welche Säuberungsmechanismen – egal ob hier von äußerem Druck oder »Selbstläuterung« die Sprache ist – in der Literatur immer noch virulent waren. Der folgende Roman von Paul Kuusberg, Andres Lapeteuse juhtum (Der Fall A. L., 1963), ist dagegen ein reiner psychologischer Roman, in dem die Sinnsuche eines in die Midlife-Crisis geratenen Karrieristen dargestellt wird, der sich im System hochgearbeitet hat und dabei alles erreicht hat, letztlich aber unzufrieden ist. Der Versuch einer Sinngebung durch die Einladung alter Kriegsgenossen scheitert, am Ende steht eine geistige Leere, die in der Katastrophe endet: Ein selbst verschuldeter Autounfall führt zum Tod eines der Kriegskameraden und eigenem langen Krankenhausaufenthalt, während dessen Lapeteus sein Leben Revue passieren lässt. Eine vergleichbare Thematik griff Kuusberg in Vihmapiisad (1976, dt. Regentropfen, 1980) auf: Auch hier legt sich jemand im Krankenhaus Rechenschaft über sein Leben ab und fragt sich, ob er alles richtig gemacht hat. Im Nachbarbett liegt ein ehemaliger Jugendfreund, der später ein erbitterter Gegner der Hauptperson geworden ist, und so streiten die beiden darüber, wer den richtigen Weg gegangen ist. Die weiteren Romane von Kuusberg – etwa Südasuvel (1966, dt. Bitterer Sommer, 1973) oder Üks öö (Eine Nacht, 1972) – und auch viele seiner Erzählungen behandelten häufig den Zweiten Weltkrieg, weswegen der Autor auch als »Gewissen, Chronist und Apologet der Generation des [Großen] Vaterländischen Krieges« (EKA V, 2, 284) bezeichnet worden ist. Die Prosa von Vladimir Beekman (vgl. § 40) ist der von Kuusberg in ihrer politischen Ausrichtung stellenweise vergleichbar. So treffen sich in Transiitreisija (1967, dt. Der Transitreisende, 1975), zwei Kindheitsfreunde, von denen der eine ins Exil gegangen ist, auf einem internationalen Flughafen und diskutieren über die beiden verschiedenen politischen Systeme. In Öölendurid (Die Nachtpiloten, 1975) fliegen Piloten, die das Kriegsende nicht mitbekommen haben, weiterhin ihre Einsätze, so dass der Roman als Warnung vor totalitären Systemen gelesen werden kann. Ein phantastisches Element enthält auch Eesli aasta (Das Jahr des Esels, 1979), das auf einer fiktiven Insel spielt, die infolge des allgemeinen Werteverfalls völlig vernichtet wird. Die Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg bzw. den Kriegsaus-

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bruch behandeln Ja sada surma (Und hundert Tode, 1978) sowie Koridor (Der Korridor, 1982). Im letztgenannten Roman wurde der Auszug der deutschen Bevölkerungsgruppe von 1939 im Stile eines Briefromans behandelt. Damit zeigte der Autor, dass er sich auch vor brisanten Themen nicht scheute, denn die so genannte Umsiedlung der Deutschbalten war zu sowjetischen Zeiten einer differenzierteren Betrachtung eigentlich nicht zugänglich. Die weitere Bedeutung von Beekman liegt in seinen zahlreichen Reisebüchern, von denen er eines – wie auch ein Drehbuch und ein Drama – gemeinsam mit seiner Frau Aimée (s.u.) geschrieben hat, und in seinen Kinder- und Jugendbüchern. In diesem Bereich ist seine Übersetzungstätigkeit hervorzuheben: Wenn estnische Kinder heute Astrid Lindgren, Otfried Preußler oder Annie M.G. Schmidt lesen, so tun sie das in der Übersetzung von Vladimir Beekman. Das Motiv der verschiedenen politischen Lager kommt ebenfalls bei Villem Gross vor. Sein Roman Pinginaabrid (Banknachbarn, 1965) behandelt zwei junge Männer, die im Krieg auf verschiedenen Seiten gestanden haben, und sorgte schon wie Gross’ erster Roman für viel Diskussion. Dieser Roman, Müüa pooleliolev individuaal-elumaja (Halbfertiges Eigenheim zu verkaufen, 1962), spielt in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre und beschreibt, wie ein Kriegsheimkehrer und eine Frau sich ein gemeinsames Leben aufbauen wollen, was aber in der Scheidung endet, so dass das in Bau befindliche Haus am Ende verkauft werden muss. Für Aufsehen hatte dieses Buch gesorgt, weil hier die Nachkriegszeit in einem düster-realistischen Licht beschrieben worden war, was bis dahin noch niemand gewagt hatte. Auch in einigen weiteren Romanen behandelte Gross Gegenwartsprobleme, für die die Lösung zum Teil in der Vergangenheit gesucht wird. Die Kurzprosa wurde in dieser Phase am intensivsten von Lilli Promet gepflegt, die aufgrund ihrer Themenwahl und relativ großen Verbreitung in Übersetzungen als internationale Schriftstellerin bezeichnet worden ist. Sie hatte im sowjetischen Hinterland beim estnischen Radio gearbeitet und dort in der Presse debütiert, 1958 legte sie ihre ersten Bücher vor. In ihren Erzählungen dominieren Bilder des Stadtlebens und aus dem Künstlermilieu, wobei Kunst und Ästhetik häufig im Zentrum ihres Interesses stehen. Ein weiterer Bezug zur Kunst wird durch die Verwendung einer Collagetechnik, wozu auch Miniaturen gehören, hergestellt. Promets Texte stehen in der Nähe zur Reisebeschreibung, einem Genre, in dem sie gemeinsam mit Ralf Parve ebenfalls einige Bücher vorgelegt hat. Ferner hat sie drei Romane geschrieben, die alle mehr oder weniger direkt mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben. Meesteta küla (Das Dorf ohne Männer, 1962) spielt in Tatarstan, wohin Esten während des Zweiten Weltkriegs evakuiert worden waren; Pri-

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mavera (1971) erzählt von vier estnischen Intellektuellen, die sich während einer Zugfahrt in Italien über die Vergangenheit unterhalten und dabei schmerzliche Probleme des Krieges berühren. Dieser Roman wurde 1975 in der DDR übersetzt und auch gedruckt – sogar zwei (Vorab)Rezensionen konnten noch erscheinen (Burmeister 1990, A63) –, eine Auslieferung ist aber in letzter Minute verhindert worden, da das Buch offenbar als zu brisant angesehen wurde. Eine Rolle dürfte hierbei neben der Schilderung Italiens auch die zu negative Darstellung einer schlichten Russin gespielt haben (Burmeister 1990, 125–126). Das einzige auf Deutsch vorliegende Buch von Promet bleibt damit die Kurzprosasammlung Ruhender Tiger (1975). Es haben in diesen Jahrzehnten noch weitere Personen Prosa verfasst, die sich im weitesten Sinne mit dem Gegenwartsalltag auseinandersetzte. An wichtigsten Namen sind hier etwa Väino Ilus, Einar Maasik, Veera Saar, Endel Tennov oder Luise Vaher zu erwähnen. Etwas anders von ihrer Thematik her waren Leo Metsar und Herman Sergo. Metsar, der als Übersetzer aus dem Tschechischen und Slowakischen bekannt ist, hat eine bis jetzt aus vier Teilen bestehende Romanfolge über den römischen Kaiser Julianus vorgelegt, womit er sich als Erster innerhalb der estnischen Belletristik der antiken römischen Geschichte zuwandte. Es geht dem Autor in diesem Zyklus um den Konflikt zwischen der antiken Kultur und dem aufkommenden Christentum. Herman Sergo dagegen befasste sich mit der estnischen Geschichte. In seinem Roman Põgenike laev (Das Schiff der Flüchtlinge, 1966) wurde erstmals das Thema der Flucht vieler Esten im Herbst 1944 aufgegriffen. In der Trilogie Näkimadalad (Neckmannsgrund [Ortsname an der schwedisch besiedelten Westküste], 1984) wurde die Zeit des Übergangs von der schwedischen zur russischen Herrschaft im 17./18. Jahrhundert, wobei die schwedischen Bauern ihre Freiheit verloren, behandelt; Randröövel (Der Strandräuber, 1988) schließlich bemüht eine historisch belegte Person, einen deutschen Baron aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert, und dessen illegale Machenschaften und hätte den Stoff zu einem spannendem historischen Roman gehabt, aber das ist dem Autor nicht gelungen. Deutlich aus dem Alltagstrott ausbrechende und mitunter sogar als modernistisch (Tonts 2003) bezeichnete Themen hat Aimée Beekman in ihrem 15 Romane umfassenden Werk aufgegriffen. Sie debütierte mit Kurzprosa, publizierte ein Reisebuch und legte 1964 mit Väikesed inimesed (Kleine Menschen) ihren ersten Roman vor. Es handelt sich hierbei um Kindheitserinnerungen, die in einem Tallinner Arbeiterviertel der 1930er-Jahre spielen und dadurch auffielen, dass sie das Milieu gar nicht als so erbärmlichen Hort des Elends beschrieben, wie dies bislang in der estnischen Literatur an der Tages-

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ordnung war. Auch ihr zweiter (Kaevupeegel, Der Brunnenspiegel, 1966) und siebter (Vanad lapsed, Alte Kinder, 1972) Roman spielen im gleichen Milieu. Die drei Romane sind später als Mirjami triloogia (Mirjams Trilogie) neu herausgegeben worden. In Keeluala (Verbotszone, 1971) beschreibt Aimée Beekman die innere Krise einer jungen Frau nach zehn Jahren Ehe. Dieses Thema wird in Valikuvõimalus (1978, dt. Partnerwahl, 1983) vertieft, wo eine ca. 30-jährige Frau einen Trunkenbold zum Zwecke der Familiengründung heiratet, ihre Kinder aber mit anderen Männern zeugt. Der Roman enthält feministische Züge in einer Zeit, in der Feminismus in der Sowjetunion eine westliche Dekadenzerscheinung war, die mit der vermeintlich glücklichen Realität der Frau in der sowjetischen Gesellschaft nichts gemein haben konnte. Auch einige andere Romane sind dieser Problematik gewidmet. Der Vergangenheit wandte sich Aimée Beekman mit dem Roman Kartulikuljused (1968, dt. Kartoffelschellen oder Die letzten Ehetage von Benita und Joss, 1973) zu, worin drei Tage im September 1944 beschrieben werden, als die Kriegsfront über einen Bauernhof hinwegzieht und sich zahlreiche Flüchtlinge an der Westküste Estlands eingefunden hatten. Als »Warnerin« wurde die Autorin nach der Publikation des Romans Väntorel (Die Drehorgel, 1970) apostrophiert, weil hier in einer Antiutopie die Gegenwart aus der Zukunft heraus betrachtet wird und die Konflikte der modernen Gesellschaft unbeschönigt, aber auch humorvoll, dargestellt werden. Außerhalb des Fahrwassers Man kann zweifellos auch bei den bisher genannten Autorinnen und Autoren bei genauer Lektüre die eine oder andere Unangepasstheit und Aufmüpfigkeit ausmachen. Bei Hint sind einige Passagen, in denen die zaristische Geheimpolizei beschrieben wird, ohne weiteres auf die sowjetischen Geheimdienste zu übertragen, bei Kuusbergs Andres Lapeteuse juhtum lässt die Darstellung des stalinistischen Parteifunktionärs Jürven wenig Raum für Illusionen hinsichtlich der Realität des (gerade überwundenen) Stalinismus, und auch bei Promet und den beiden Beekmans lassen sich Passagen finden, die eine kritische Haltung durchblicken lassen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Art und Weise mit der Zensur umzugehen und versteckt vielleicht doch etwas zu verbalisieren, was nicht im Einklang mit der Parteilinie stand, ist in ihrer Ganzheit bislang noch nicht erfasst worden und harrt der detaillierten Erforschung. Es gab aber einige Autoren, deren Werk sich auffälliger vom sowjetischen Mainstream abhob, und stellvertretend für diese seien hier Juhan Peegel, Raimond Kaugver und Heino Kiik genannt.

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Juhan Peegel ist als Sprachwissenschaftler und Professor für Journalistik bekannt (vgl. § 42) und hat auch einige Feuilletons und Novellensammlungen veröffentlicht. Ein regelrechtes Literaturereignis wurde jedoch sein Roman Ma langesin esimesel sõjasuvel (1979, dt. Ich fiel im ersten Kriegssommer, 1982), an dem er seit 1966 geschrieben hatte. In diesem Roman, der Peegels Kriegserfahrungen im Stile eines Heinrich Böll widerspiegelt, abstrahiert und generalisiert, wird das kurze Leben des einfachen Soldaten Jaan Tamm beschrieben. Das beginnt mit der zwangsweisen Inkorporierung in die sowjetische Armee und endet bald nach Kriegsbeginn in einem Massengrab in der Sowjetunion. Zum ersten Mal erfasste Peegel hier die Problematik und Sinnlosigkeit des Krieges mit den Augen eines einfachen Soldaten, der sich abgesehen vom Krieg selbst auch noch einer fremdsprachigen Umgebung und dem stalinistischen System ausgesetzt sah. Ohne Pathos und Glorifizierungen wird hier nüchtern, aber nicht humorlos, das persönliche Schicksal, das letztlich das Schicksal einer ganzen Nation wurde, seziert. Allein schon der Umstand, dass Peegel den Krieg, der in Stalins Diktion als der »Große vaterländische Krieg« bezeichnet werden musste und bis heute von der russischen Geschichtsschreibung so genannt wird, kein einziges Mal beim Namen nannte, war ein Novum. Peegel war weder der Erste noch der Einzige, der diese Thematik behandelte – zu denken ist hier etwa an Vladimir Beekman oder Paul Kuusberg –, aber eine derartig aufrichtige Unmittelbarkeit war bis dato noch keinem Autor gelungen. Peegels Mut ist noch 2004 vom finnischen Literaturwissenschaftler Pekka Lilja bewundert worden (Lilja 2004, 757). Dass das Werk, das in den 1980er-Jahren in acht Sprachen übersetzt worden ist – wobei die mäßige deutsche Übersetzung in den Bereich der Pseudorezeption fällt, da sie in Tallinn erschienen und in Deutschland nicht wahrgenommen worden ist –, überhaupt gedruckt worden ist, ist das eigentlich Interessante, zeigt es doch, dass es im vermeintlich starren Sowjetsystem immer wieder Schlupflöcher gab. Ein früheres Beispiel hierfür war die Publikation des Romans Tondiöömaja (Die Gespensterherberge, 1970) von Heino Kiik. Das umfangreiche (187 000 Wörter) Panorama vom Landleben in der Zeit zwischen 1949 und 1955 hatte 1967 den ersten Preis beim Romanwettbewerb gewonnen, konnte aber nicht veröffentlicht werden, da es zu stark die Probleme, die im Zusammenhang mit der Kollektivierung der Landwirtschaft aufgetreten waren, kritisierte. Denn nichts anderes war der Roman: Ein bitteres Bild vom mühsamen, am Ende aber misslingenden Aufbau einer Kolchose. Die Beschreibung der Personen und Zustände war farbenfroh, lebendig und humorvoll, streckenweise sogar bis ins Groteske hinein verzerrt, und ließ bei näherer Betrachtung kein gutes Haar an der kommunistischen Politik jener Zeit. Die

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Sympathie des Autors ist eindeutig auf der Seite derer, die ihr Land und ihr Material der Kolchose zur Verfügung stellen (müssen) und nicht wissen, wozu das Ganze gut sein soll und wie es nun weitergehen soll. Erst auf erheblichen Druck der lesenden Öffentlichkeit, die über die Ergebnisse des Romanwettbewerbs informiert war und einiges über den Roman gehört hatte, und einflussreicher Kreise der Landwirtschaft, mit denen Kiik eng verbunden war, konnte der Roman 1970 ohne ideologische Eingriffe oder Verzerrungen gedruckt und ausgeliefert werden. Damit das Volk aber nicht vom Pfad der Tugend abkam, war dem Roman sicherheitshalber das Nachwort eines altstalinistischen Funktionärs beigegeben worden. Harald Ilves, ein Held der sozialistischen Arbeit und Mitglied des Zentralkomitees der Estnischen KP, verstand von Literatur vermutlich nicht allzu viel und glaubte die Leserschaft folgendermaßen belehren zu müssen: Obwohl H. Kiiks Roman kein vollständiges Bild von unserer landwirtschaftlichen Entwicklung zur damaligen Zeit gibt, – weder sind die mannigfachen gefährlichen Formen, in denen sich der Klassenkampf offenbart, aufgezeigt, noch ist die Rede von den objektiven Gründen für die Notwendigkeit der Kollektivierung usw. –, liegt seine Stärke in der Darstellung der Entwicklung vieler interessanter Menschen. (Kiik 1970, 596) Angesichts solcher Perlen aus dem reichen Fundus der amtlichen Phrasendrescherei fragt man sich, wer hier wen hintergangen hat bzw. wer zuletzt lacht. Glaubte Ilves an seine Worte und benutzten Verlag und Zensur ihn, um die Publikation des Buches zu ermöglichen? War er also literarisch dermaßen ungebildet, dass er nicht merkte, dass ein solches Nachwort die Rezeption des Textes kaum beeinflussen würde? Oder war es umgekehrt Ilves, der den Text über die wahre Geschichte der Kollektivierung unbedingt einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen wollte und daher mit Hilfe seines aufgedrängten Nachworts die entsprechenden Instanzen in Zugzwang setzte? Wahr ist, dass der Verlag das Nachwort in Auftrag gegeben hatte, um sich gegen böse Überraschungen abzusichern. Das Publikum bedankte sich und hat ganz sicher schon 1970 über das Nachwort geschmunzelt. Heino Kiik wird der »Landwirt« der estnischen Literatur genannt, weil er zahlreiche, auch nicht belletristische Publikationen in diesem Bereich vorzuweisen hat. Er hob sich aber auch mit anderen Texten vom Gros seiner Zeitgenossen ab, denn bei ihm war die Zeitspanne zwischen Entstehung und Veröffentlichung häufig ungewöhnlich groß. Das lag an der Brisanz seiner Bücher, die sich weigerten, dem sowjetischen Muster Folge zu leisten. Sein zweiteiliger erotischer Roman Mind armastab jaapanlanna (Mich liebt eine Japanerin, 1987, 1990) war Ende der 1970er-Jahre entstanden und wiederum bei einem Romanwettbewerb aufgefallen, konnte aber erst nach dem politischen Umbruch Ende der 1980er-Jahre erscheinen; das Gleiche traf auf

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seinen Roman Maria Siberimaal (Maria in Sibirien, 1988) zu, der das Schicksal einer 1949 Deportierten beschreibt und erst zehn Jahre nach seiner Entstehung, und nachdem er als Manuskript zirkuliert war, erscheinen konnte. Damit war Heino Kiik einer der relativ wenigen Autoren, die zeitweise für die Schublade geschrieben haben (vgl. §§ 47, 49). Raimond Kaugver schließlich war eine Person, die allein schon deswegen auf politische Probleme stieß, weil er – wie Ain Kaalep – 1943 nach Finnland gegangen war und dort gegen die Sowjetunion gekämpft hatte. Nach dem Krieg war er fünf Jahre verbannt, ehe er sich – u.a. als Straßenbahnschaffner – sein Brot wieder in der Heimat verdienen konnte. Kaugver schrieb ziemlich viel für die Schublade, manche Texte konnten erst Ende der 1980er-Jahre oder noch später erscheinen (vgl. § 49), andere sind bis heute nicht gedruckt. Wichtig war sein Roman Nelikümmend küünalt (Vierzig Kerzen, 1966), in dem die Hauptperson, deren autobiographische Züge unübersehbar sind, an ihrem 40. Geburtstag Rückschau hält und ein Resümee zieht, das nicht gerade günstig ausfällt: Früheres Engagement hat infolge der vielen Schicksalsschläge lähmender Gleichgültigkeit Platz gemacht. In dem Roman wurde erstmals recht offen über den Zweiten Weltkrieg, das Eingezogenwerden in die Wehrmacht, die Flucht nach Finnland, die Rückkehr nach Estland und den anschließenden Aufenthalt im Straflager berichtet. Diese relativ direkte Darstellung war in der damaligen estnischen Literatur neu und wurde dementsprechend begrüßt und viel diskutiert. Kaugver griff in seinem umfangreichen Werk noch so manches Mal ungewöhnliche Themen auf, so behandelte er beispielsweise in dem Roman Meie pole süüdi (1984, dt. Was heißt hier schuldig?, 1990) jugendliche Kriminelle und damit eine Problematik, deren sich jeder bewusst war, von der offiziell aber nicht gesprochen werden durfte. Damit war er ein unbequemer Autor, der sich allerdings mit dem, was er veröffentlichen konnte, beim Lesepublikum einer außergewöhnlichen Popularität erfreute, da seine Texte flott geschrieben und nicht allzu kompliziert waren.

§ 42 Öffnung und Stillstand in den 1960er-Jahren Finnland Die Bedeutung Finnlands für Estland allgemein und die Entwicklung der estnischen Kultur im Besonderen ist bereits mehrfach zur Sprache gekommen. In der nun angebrochenen Zeit des Kalten Krieges und des Ost-West-Konflikts wurde Finnland erneut zum Rettungsanker für die unter starken Druck geratene estnische Kultur. Hierbei hat der Umstand geholfen, dass Finnland

§ 42 Öffnung und Stillstand in den 1960er-Jahren

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sich im Kalten Krieg neutral zu behaupten wusste, denn das bedeutete, dass ein Umgang mit »dem anderen Lager« prinzipiell leichter war. Diese Neutralität hatte ihren Preis in Form der Ablehnung der Marshallplan-Hilfe und einer gewissen Rücksichtnahme auf sowjetische Empfindlichkeiten und Interessen, aber der aufgrund des Letzteren geprägte und eindeutig negativ belegte Begriff der »Finnlandisierung« verkennt eines: Die Bundesrepublik Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg in einem weit höheren Maße von den USA abhängig, als Finnland es jemals von der Sowjetunion gewesen war. Immerhin standen seit 1956 keine sowjetischen Truppen mehr im Land, die finnische Gesellschaft entfaltete sich völlig ungehindert zu einer pluralistischen Demokratie westlicher Prägung mit einem blühenden Kapitalismus, und sowjetische Einmischungsversuche wurden von finnischer Seite immer wieder erfolgreich abgewehrt. Nicht zufällig ist der europäische Friedensprozess untrennbar mit dem Namen der finnischen Hauptstadt verbunden, wo von 1973 bis 1975 bekanntlich die erste Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) stattfand. In den Bereich der finnischen Zugeständnisse fällt die Bereitschaft, eventuellen sowjetischen Flüchtlingen kein Asyl zu gewähren, sondern sie in der Regel in die Sowjetunion zurückzuschicken. Das wussten die Esten aber natürlich, und wer sich über Finnland absetzen konnte, beantragte das Asyl erst in Schweden, wohin man von Finnland aus vergleichsweise ungehindert gelangen konnte. Wie vielen Personen dies glückte, ist im Nachhinein nicht mehr festzustellen. Die Zahl der an der finnisch-sowjetischen Grenze aufgegriffenen Personen ist dagegen bekannt und beläuft sich auf gut 150 für den Zeitraum bis 1981. Das betraf aber die gesamte Landgrenze, und die meisten von ihnen waren Russen, keine Esten. Drei Viertel von ihnen sind von Finnland an die Sowjetunion ausgeliefert worden (Pekkarinen/Pohjonen 2005). Unverkrampfter verhielt sich die finnische Regierung im Hinblick auf die völkerrechtlichen Gepflogenheiten: Obwohl Finnland die Einverleibung Estlands in die Sowjetunion niemals de jure anerkannt hatte und ein Staatsbesuch in okkupierten oder annektierten Ländern normalerweise nicht statthaft ist, erlaubte sich der finnische Präsident Urho Kekkonen im März 1964, auf dem Rückweg von einem Staatsbesuch in Polen ein paar Tage Station in Estland zu machen (vgl. Salokannel 1998, 102–111). Dieser Besuch war nicht nur in psychologischer Hinsicht für die Esten bedeutend – Kekkonen, der schon vor dem Zweiten Weltkrieg Kontakte mit Estland gehabt hatte, überraschte seine Gastgeber in Tartu mit einer in lupenreinem Estnisch (Kekkonen 2000) gehaltenen Rede und gewann allein schon dadurch viel Sympathie –, sondern hatte auch für die Kontakte der beiden benachbarten Völker konkrete Auswirkungen. Denn u.a. wurde beschlossen, eine regelmäßige Fähr-

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verbindung zwischen den beiden Hauptstädten einzurichten, die im Sommer des folgenden Jahres eröffnet wurde. Damit begann ein anfangs kleiner, bald aber kontinuierlich steigender Touristenstrom nach Tallinn zu kommen, der außer den begehrten westlichen Devisen auch Informationen und Luxusgüter mitbrachte. Keine Zollbehörde der Welt wäre imstande gewesen, ein solches Schlupfloch zum Klassenfeind vollständig abzudichten, und so ist nur logisch, dass seit der Einrichtung der Fährverbindung mit Helsinki das hermetische sowjetische System nicht mehr ganz so hermetisch war. Jedenfalls kam so auf legale und illegale Weise auch eine Menge Literatur ins Land, was von den Machthabern zwar nicht gern gesehen wurde, aber dennoch nicht vollständig unterbunden werden konnte, auch wenn der sowjetische Geheimdienst etliche Anstrengungen hierzu unternahm (vgl. den erschöpfenden Überblick Graf/Roiko-Jokela 2004). Freilich hatte auch dies seinen – offiziellen – Preis auf finnischer Seite. Nach seiner Rückkehr nach Finnland lud der finnische Präsident eine Reihe von finnischen Estophilen zu sich ein und berichtete ihnen über seinen Besuch in Estland. Und er teilte ihnen in dieser geheimen, erst viel später veröffentlichten Rede (Kekkonen 2005), mit, dass im Interesse guter Beziehungen zum östlichen Nachbarn fortan nur noch Kontakte mit den in Estland lebenden Esten – denn nur dort würde sich die estnische Kultur erhalten und weiterentwickeln – unterhalten werden sollten, d.h. die Beziehungen zur estnischen Exilgemeinschaft seien lieber abzubrechen. Es ist bekannt, dass es einige Finnen gab, die sich nicht daran gehalten haben, ganz abgesehen davon, dass es in Finnland kein Kontrollsystem welcher Art auch immer gab, das die Kontakte seiner Staatsangehörigen unter die Lupe genommen hätte. Überdies gab es im Lande selbst eine kleine Gruppe von Exilesten. Es ist mithin nicht ausgeschlossen, dass Kekkonens Rede taktischer Art und auf Außenwirkung bedacht war, wenngleich die Angelegenheit einen negativen Beigeschmack behält. Wie immer man die politischen Implikationen auch bewerten mag: Finnland war unbestritten der wichtigste Partner Estlands, wenn es um den Kontakt mit der außersowjetischen Wirklichkeit ging. Das betraf die allgemeinen Kulturbeziehungen (s. Salokannel 1998), die Versorgung des Landes mit theologischer Literatur (s. Saard 2004), die Vermittlung neuer Strömungen in Mode und Architektur (Kalm 2002, 170–171) oder die wissenschaftlichen Beziehungen, innerhalb derer seit 1964 Lektorinnen und Lektoren für Estnisch aus Estland nach Finnland kamen und bereits in den 1970erJahren Stipendiaten an die Technische Universität in Otaniemi (s. Hasselblatt 1993). Noch intensiver verlief der Kontakt über den Äther. In Estland wurde gerne finnisches Radio gehört – und zwar nicht nur wegen der dort gespielten

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modernen Musik, die in Stalins Zeiten als westliche Dekadenzerscheinung angesehen wurde und nicht in die einheimischen Programme gelangte. Die konnte man sich auch aus anderen ausländischen Sendern besorgen. Interessant waren die ungefilterten Nachrichten, die man einigermaßen verstand. Wichtiger wurde bald das Fernsehen. Hier war man in Estland in den 1950erJahren mit der Entwicklung weiter als in Finnland, und ab 1956 produzierte das estnische Fernsehen finnische Sendungen, in denen der nördliche Nachbar über die Fortschritte und Wohltaten des Sozialismus informiert werden sollte. Vor dem historischen Hintergrund – bis 1956 gab es in Finnland noch einen sowjetischen Militärstützpunkt, die kommunistische Partei im Lande war vergleichsweise stark – ist dies nicht einmal überraschend, denn die sowjetischen Behörden hegten berechtigte Hoffnungen, dass ihre Propaganda vielleicht auf fruchtbaren Boden fallen würde. Im Gegenzug entwickelte sich aber dann das finnische Fernsehen rasant, und bald war die Richtung umgekehrt: Immer mehr Esten wandten sich dem finnischen Sender und den dortigen Nachrichten zu, weil sie gemerkt hatten, dass es dort echte Nachrichtensendungen über das Weltgeschehen gab. Alle sowjetischen Versuche, die schädliche Stimme des Klassenfeindes mit Störsendern abzufangen, scheiterten. Als die Finnen 1971 einen neuen Sendemast errichteten, konnten 50 % der estnischen Haushalte mühelos finnisches Fernsehen empfangen (EE 11, 582). Eine vergleichbare Situation, auch in sprachlicher Hinsicht, gab es im gesamten Einflussgebiet der Sowjetunion nur in der DDR, wo ein Großteil der Bevölkerung Westfernsehen sah. Zwischen Estland und Finnland besteht nur ein geringer Sprachunterschied, den man durch genügend häufiges Hören und Sehen schnell überwand, und an den Zeitunterschied – während in Finnland OEZ galt, war Estland in die Moskauer Zeitzone verschoben worden – konnte man sich leicht gewöhnen: Bei manchen Esten stand auf dem Fernseher eine Uhr, die die finnische Zeit anzeigte. Kontakt mit dem Exil Nachdem Mitte der 1950er-Jahre der Kalte Krieg auf Touren gekommen war, wurde im Exil deutlich, dass eine baldige Rückkehr nach Estland unwahrscheinlich würde. Es entwickelten sich die ersten Briefverbindungen zwischen der Heimat und dem Exil. Schwieriger war der Austausch von Büchern: Sowjetische Produkte durften ausgeführt werden und gelangten auch in den Westen, aber von den meisten dort wurde die sowjetestnische Literatur aus prinzipiellen Gründen abgelehnt. Umgekehrt war es kompliziert, Werke der Exilliteratur auf legalem Wege nach Estland zu schaffen. Sie gelangten aber trotzdem vereinzelt ins Land und wurden dort dann häufig abgeschrie-

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ben und weitergegeben. Das betraf vor allem die Lyrik, Gedichte von Kalju Lepik und Karl Ristikivi sind auf diesem Wege relativ bekannt geworden, Ristikivis Gedichte erfreuten sich als Lieder großer Beliebtheit. Auch Texte von Vihalemm wurden gelesen, während Kangro weniger verbreitet war. Ende der 1970er-Jahre erschienen zwei Beilagen eines damals zirkulierenden Almanachs (s.u.) mit Dichtung von Lepik, Kangro, Viirlaid und Vihalemm (T. Sarv 1987, 53). Im Allgemeinen ist die exakte Verbreitung der Exilliteratur in Estland allerdings noch nicht hinreichend erforscht. Seit der Mitte der 1960er-Jahre wurden an der Tartuer Universität von Harald Peep im Rahmen der literaturgeschichtlichen Veranstaltungen auch Vorlesungen über Exilliteratur abgehalten. 1965 publizierte die Wochenzeitung Kodumaa (Heimatland) als Beilagen Gedichtbändchen von Kangro, Lepik und Vihalemm, außerdem ganze Romane in Fortsetzungen. Die Zeitung wurde in Tallinn hergestellt und war für den Versand ins Ausland, d.h. zur Verbreitung in estnischen Exilkreisen, gedacht, denen die Vorzüge und Errungenschaften des sowjetestnischen Lebens schmackhaft gemacht werden sollten. Aber sie war auch allgemein das Organ für den Kontakt mit dem Exil und sollte in diesem Falle zum Teil in umgekehrter Richtung funktionieren: In den Exilkreisen sollte der Eindruck erweckt werden, man befasse sich in Estland durchaus mit ihrer Literatur. Andererseits las man Kodumaa auch in Estland selbst, so dass man die Exilliteratur auf diese Weise zur Kenntnis nahm. Von August Mälk und Karl Ristikivi erschienen obendrein in den regulären Verlagen eigene Titel, sogar Ristikivis Roman Hingede öö (s. § 39) war beim Staatsverlag geplant und schon in einer Verlagsvorschau angekündigt, jedoch ist das Erscheinen in letzter Minute verhindert worden. Eine weitere Begleiterscheinung des Tauwetters war die Ausweitung der Reisemöglichkeiten. Schon in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre konnten estnische Reisegruppen – streng ausgewählt, begleitet und mehr oder weniger bewacht – auch das westliche Ausland bereisen, so trafen sich Vladimir Beekman, Juhan Smuul und Debora Vaarandi 1956 in Schweden mit Bernard Kangro, Raimond Kolk und Kalju Lepik. Für Kangro hatte das direkte Auswirkungen, er schrieb danach einen Roman über dieses Aufeinanderprallen zweier Welten (Sinine värav, ›Das blaue Tor‹, 1957), während Beekmans Transitreisija (s. § 41) mit einer vergleichbaren Thematik erst zehn Jahre später kam (vgl. O. Kruus 1990a). Bald konnten auch weniger linientreue Personen auf Reisen gehen. Umgekehrt war den westlichen Ausländern die Einreise in die Sowjetunion, die schon lange möglich war, erleichtert worden, trotzdem lehnten die meisten der älteren Generation eine Reise in ihre besetzte Heimat aus prinzipiellen Erwägungen heraus ab: Sie hätten dafür bei einer Botschaft der Besatzungsmacht ein Visum beantragen müssen! Aber

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von der jüngeren Generation gab es Personen, denen der Kontakt mit Estland wichtiger war als Prinzipientreue. Der Mana-Chefredakteur Hellar Grabbi und der Autor Kolk gehörten zu ihnen, und damit wurden sie auch zu Kurieren und Vermittlern. Diese Kreise waren es auch, die sich als Erste im Westen um eine Wahrnehmung der in Estland erscheinenden Literatur kümmerten. Hatte man dort in den 1950er-Jahren die estnische Literatur mit dem Jahr 1940 enden lassen und danach allenfalls noch die Exilliteratur erwähnt, so wurden seit den 1960er-Jahren auch in Estland entstandene Texte Gegenstand der Betrachtung. Die Zeitschrift Books Abroad, die seit 1967 von Ivar Ivask redigiert wurde, rezensierte ab 1965 auch sowjetestnische Literatur und hat insgesamt über 300 Kurzrezensionen zur zeitgenössischen estnischen Literatur publiziert. Ivask war es auch, der die Rubrik Books in Various Languages 1968 in mehrere Gruppen aufteilte, unter denen sich dann auch die Rubrik Finno-Ugric and Baltic Languages fand, und der 1973 das vierte Heft der Zeitschrift als Sondernummer zur estnischen, lettischen und litauischen Literatur herausbrachte. Die 1968er Bei der Betrachtung der Studentenbewegung von 1968 wird in deutschen Publikationen häufig der Blick auf Paris und Berlin eingeengt. Die Bewegung hatte aber ein viel größeres Ausmaß und machte nicht vor dem Eisernen Vorhang halt. Die Reihe der Städte, die im Verbund mit dieser Jahreszahl eine neue spezifische Bedeutung bekommen hat, lässt sich um Tartu erweitern (s. Lauristin/Vihalemm 1998), denn auch dort war 1968 das eine oder andere geschehen: stundenlange Versammlungen in der Aula der Universität, Proteste gegen das Verbot eines Theaterstücks (s. § 44), Studentendemonstrationen, sogar sexuelle Exzesse vor einem Kirchenaltar soll es gegeben haben (Vahing 2004, 9). Dabei waren die Proteste nicht auf die Tartuer Studentenschaft begrenzt. Auch die Studierenden der Technischen Hochschule in Tallinn führten Protestaktionen durch. Begleitet wurde das alles von einem Zustrom an zeitgenössischer bzw. allgemein als modern angesehener ausländischer Literatur, woran die Buchreihe »Loomingu« Raamatukogu (s. § 40) einen erheblichen Anteil hatte: In den 1960er-Jahren erschienen Übersetzungen von Asimov, de Beauvoir, Beckett, Böll, Calvino, Camus, Capote, Dürrenmatt, Faulkner, Frisch, Golding, Greene, Hochhuth, Kafka, McCullers, Mro˙zek, Salinger und Sartre. Ebenso bewegte sich die Alltagskultur in den gleichen Bahnen wie im Westen, die Haare der Männer wurden länger, die Röcke der Frauen kürzer, Popmusik

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war angesagt. Letzteres ließ den Wunsch nach elektrischen Gitarren aufkommen, die man sich freilich selbst basteln musste. Das ging am einfachsten mit den Tonköpfen aus Telefonapparaten, weswegen die öffentlichen Fernsprecher in jener Zeit auffällig häufig Zielscheibe von Vandalismus wurden (L. Vahtre 2002, 89). Im Kern ging es hüben wie drüben um den Generationenkonflikt, wie ein 1968 in einem Almanach (s.u.) erschienenes Gedicht von Krista Kajar nur allzu deutlich macht: Meie pole süüdi oma sündimises. Oma sajandit meie ei valinud. Iseendale meie ei mõtelnud nime. Kes üldse on meid siia palunud? Meie pärandiks isade ideaalid, meie koormaks on nende kangelasteod. (zit. nach K. Unt 1999, 1232; Wir / haben keine Schuld / an unserer Geburt, / Unser Jahrhundert / haben / wir uns nicht ausgesucht. / Selbst / haben / wir uns unsere Namen nicht ausgedacht. / Wer hat uns / überhaupt / hierher gebeten? / Unser Erbe / die Ideale der Väter, / unsere Bürde / sind ihre / Heldentaten.)

In Tartu spielte sich aufgrund der spezifischen politischen Situation in Estland der Konflikt formal innerhalb der Partei ab. Er kulminierte in einer ideologischen Auseinandersetzung zwischen dem Zentralkomitee und der Jugendorganisation (Komsomol) der Partei. Damit passte sie sich den Gegebenheiten an, die Grundtendenz war im Osten wie im Westen dieselbe, was auch nicht weiter verwunderlich ist, da die Informationen über das, was im Rest der Welt geschah, vorhanden waren. Außerdem kamen in Gestalt des Prager Frühlings die Veränderungen auch »von innen«, d.h. aus dem kommunistischen Machtbereich selbst, und darüber war man relativ gut informiert. Die Auseinandersetzung endete mit der Absetzung der Komsomolführung und der Einsetzung eines neuen Rektors, der die Gleichschaltung der

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Universität vorantrieb und jedwede demokratische Strömung zu unterdrücken wusste. Deswegen ging ein Teil der aktiven Personen in die Illegalität und setzte den politischen Kampf von dieser risikoreichen Position aus fort (s. Pihlau 2004–2005). Andere traten in die Partei ein und versuchten, das System von innen heraus zu ändern. Diesen Versuch des Marsches durch die Institutionen gab es also in Estland auch. Folgerichtig fanden sich Anfang des 21. Jahrhunderts auch dort gestandene Ministerinnen und Minister, die vier Jahrzehnte zuvor mit langen Haaren am Lagerfeuer saßen, Rockmusik hörten und vermutlich über die Generation ihrer Eltern herzogen. Ganz sicher hat der Versuch, das System mit seinen eigenen Mitteln zu bezwingen, für verfahrenstechnische und demokratische Erfahrungen gesorgt, die zwanzig Jahre später, als es um die Wiedererlangung der Unabhängigkeit ging, zupass kamen, denn es waren in der überwältigenden Mehrheit die 1968er, die hier federführend waren (Lauristin/Vihalemm 1998, 1394). Vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrung des Stalinismus ist verständlich, dass die Protestbewegung keinen erkennbaren nationalen Anstrich hatte. Es konnte offiziell gar nicht um die Wiederherstellung der estnischen Unabhängigkeit gehen, was nach wie vor die Intention des Exils war. Nur sehr begrenzt konnte man die Überfremdungsbefürchtungen thematisieren, die mit dem Zustrom russischer Industriearbeiter verbunden war. Der Bau der ersten großen Plattenbausiedlung im Tallinner Stadtteil Mustamäe, mit dem 1962 begonnen worden war und der bei seiner Fertigstellung zwölf Jahre später 470 Wohnblöcke umfasste, wurde stellenweise sogar begrüßt. Denn er versprach einen gewissen Wohnkomfort, obwohl die damit einhergehende Ansiedlung von Russen negativ registriert wurde. Aber erst der später erfolgte Ausbau zweier anderer Vorstädte zu gesichtslosen Plattenbausiedlungen, Väike-Õismäe und insbesondere Lasnamäe, das infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion nicht mehr vollständig fertig gebaut wurde, rief strikte Ablehnung hervor. Wenn es in den 1960er-Jahren nationale Manifestationen gab, so fanden die unter dem Deckmantel der Wissenschaft statt, und das heißt im Rahmen der Tartuer Universität. Hier konnte sich in einigen Nischen ein vergleichsweise unabhängiger Geist erhalten, der zudem noch Zustrom aus Russland bekam, weil infolge des dort herrschenden Antisemitismus nicht wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich genötigt sahen, den dortigen Universitäten den Rücken zu kehren. Aufgrund dieses Liberalitätsgefälles innerhalb der vermeintlich monolithischen Sowjetunion fand jemand wie Jurij Lotman, der bereits seit 1950 in Tartu war, hier Zuflucht. Er wurde, obwohl er hauptsächlich als Spezialist der russischen Literatur und Semiotiker in die Geschichte eingegangen ist, für eine Generation von estnischen Lite-

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raturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zu einem wichtigen Bezugspunkt. Auch in anderen Bereichen erwies sich die Tartuer Universität als Brutstätte eines freieren und begrenzt nationaler gesonnenen Geistes. Das beste Beispiel hierfür ist die Tartuer Journalistik-Schule, die – eingedenk der traditionellen Nähe zwischen Journalismus und Literatur innerhalb der estnischen Geistesgeschichte – eine wichtige Rolle bei der Bewahrung und Förderung der estnischen Schriftkultur spielte. Bereits 1954 war es Juhan Peegel gelungen, am Lehrstuhl für Estnische Philologie einen Studiengang für Journalistik einzurichten. Durch die gezielte Ausbildung von estnischen Journalistinnen und Journalisten wollte er die Kontinuität der estnischen Kultur, deren Entstehung den Autodidakten vergangener Zeiten zu verdanken war, bewahren helfen. Dabei begnügte Peegel sich nicht mit der Ausbildung von Studierenden, sondern bot im Zusammenhang mit dem staatlichen Zeitungsverlag auch elfmonatige Fortbildungskurse für Angehörige der Redaktionen von Provinzzeitungen an. Diese als »Peegels Privatuniversität« bezeichneten Kurse wurden zwischen 1966 und 1972 von über hundert Personen besucht (Uus 1994, 276). 1976 wurde die Journalistikausbildung in einen vollständigen Studiengang umgewandelt, seit 1979 besteht ein eigener Lehrstuhl. Die Institution, in der nicht nur das Pressewesen Estlands und der Welt erforscht wurde, sondern auch der Umgang mit dem estnischen Wort gelehrt und gepflegt wurde, erlangte große Bedeutung. Eine der Absolventinnen, die Soziologin und Politikerin Marju Lauristin, hat das Journalistikstudium später als »Inselchen des freien Gedankens« bezeichnet (Lauristin 2004). Evergreen Zensur Von einer Insel zu sprechen ist allein schon deswegen zutreffend, weil die Zensur selbstredend nach wie vor bestand und das gedruckte Wort alles andere als frei war. Ein wesentliches Merkmal der Zensur ist ihre Unberechenbarkeit – Stärke und Schwäche zugleich. Diese Nichtvorhersagbarkeit konnte zu einer übervorsichtigen Vorgehensweise bei manchen Autorinnen und Autoren führen. Sie entwickelten dann die so genannte »Schere im Kopf«, mit deren Hilfe nach eigenem Gutdünken zensuranfällige Passagen im Stile eines vorauseilenden Gehorsams eliminiert wurden, was der Zensur die Arbeit erleichterte. Bei anderen bewirkte dieselbe Unberechenbarkeit, dass sie die Grenzen ausprobieren wollten. Wie oben verschiedentlich gezeigt wurde, führte dies gelegentlich dazu, dass Texte durchschlüpften, die der herrschenden Ideologie diametral entgegenstanden.

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Bezeichnenderweise war die Zensur auch für vermeintliche Kenner des Systems ein Problem, wie das Beispiel von Vladimir Beekman zeigt, der in seinem Transitreisija offenbar zu weit gegangen war und Ärger bekam (O. Kruus 1990a, 95). Die Grenzen der Liberalität und die Paranoia der Zensurbehörde wurden an vielen Details deutlich: Als die Mutter von Ilmi Kolla zehn Jahre nach dem Tod der Dichterin interviewt wurde, konnten viele Dinge über die Stalinzeit immer noch nicht ausgesprochen werden, weswegen die Veröffentlichung des Interviews in stark zurechtgestutzter Form erfolgte (Annuk 2005). Der Dichter Rudolf Rimmel musste einmal fast vier Stunden seine Gedichte mit Parteiideologen diskutieren, wobei auch auf seine nachlässige Kleidung – im Klartext bedeutete dies das Tragen von Bluejeans – hingewiesen wurde (Rimmel 2005, 1386). Noch 1982 wurde aus einer frisch gedruckten Übersetzung von Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter in nächtlicher Handarbeit aus 80000 Exemplaren eine Seite, auf der zwei Engel abgebildet waren, herausgetrennt und durch eine neue, engellose Seite ersetzt (Kross 1992, 7). Ebenso lassen sich Beispiele anführen, in denen die Dummheit der Zensur positive Folgen hatte: In den 1980er-Jahren wurde bei einer Novellensammlung von Kafka eine Geschichte herausgestrichen, woraufhin die Redakteurin in Absprache mit dem Übersetzer nur den Titel änderte und die Sammlung erneut einreichte. Sie ist ohne Probleme erschienen. Von einem ganz anderen Umgang mit der Zensur berichtete Enn Vetemaa: Nachdem er sein mit dem Rotstift malträtiertes Manuskript zurückerhalten hatte, lud er den Zensor kurzerhand zu einer Zechtour ein, ging danach mit ihm in dessen Büro, um den notwendigen Stempel zu holen, und geleitete den Sturztrunkenen anschließend in die Redaktion von »Loomingu« Raamatukogu. Dort setzte er seinen Stempel an die richtige Stelle, und das Buch konnte erscheinen (Vetemaa 2005, 18). Man konnte die Zensur auch grundsätzlich vermeiden, und zwar sowohl auf illegale wie auf legale oder halblegale (s.u.) Weise. Erstere wäre der Druck im Ausland, diese Möglichkeit wurde jedoch kaum wahrgenommen. Von Uku Masing erschien 1965 die Gedichtsammlung Dˇzunglilaulud (Dschungellieder) in Stockholm, später auch noch einige Sammlungen in Rom und Kanada. Masing war ohnehin Persona non grata in Tartu und fürchtete sich vor nichts mehr, während andere aus Angst vor Repressalien davon absahen, ihr Manuskript ins Ausland zu schmuggeln. Dass dies nicht nur riskant ist, sondern auch noch anderweitig schief gehen kann, beweist Masings Fall: Er hatte für seine Sammlung nämlich eigentlich den Titel Dˇzunglilinnud (Dschungelvögel) vorgesehen. Ob man die Zensur durch Beschränkung der Auflagenhöhe legal umgehen konnte, bleibt vermutlich eine Frage für die Rechtsgeschichte, denn hie-

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rüber variieren die Angaben. In jüngster Zeit wird behauptet, es sei lediglich eine weit verbreitete Annahme gewesen, dass Auflagenhöhen unter 50 nicht der Zensurgenehmigung bedurften (K. Unt 2001, 123). Andererseits gibt es Fachpublikationen, die darauf hinweisen, dass eine kostenlose Verbreitung im Selbstverlag nach den Buchstaben des sowjetischen Gesetzes noch keine Straftat war (Loeber 1973, 183). Man musste nur aufpassen, dass einem dies nicht als kommerzielle Tätigkeit ausgelegt wurde, denn die war verboten. Ebenso musste man sich davor hüten, Staatseigentum zu missbrauchen. Weil die Produktionsmittel und damit auch die Druckereien aber genau dies waren, konnte man folglich nicht so ohne weiteres einfach etwas drucken lassen. Die seit dem Ende der 1960er-Jahren aufkommende Fotokopiertechnologie wurde mehr oder weniger unter Verschluss gehalten. Ferner durfte man den Staat nicht verunglimpfen – aber das ist schon kein sowjetisches Spezifikum mehr und fällt überdies in den Bereich der Nachzensur. Alles in allem war, zumal die Angst vor Zensur und Staatswillkür tief saß, vom Blickwinkel der Obrigkeit her betrachtet die Gefahr nicht allzu groß, dass massenweise derartige Kleinstauflagen hergestellt wurden. Es gab sie aber durchaus, und innerhalb der Literaturgeschichte bilden sie einen kleinen eigenen Strang. Dabei ist die rechtliche Seite im Grunde genommen irrelevant, denn das Merkmal des sowjetischen Systems war ja gerade, dass man schon den nötigen Paragraphen fand, wenn man jemandem unbedingt am Zeug flicken wollte. Hieraus folgt auch, dass in Zeiten politischer Lockerung eine unabhängige Publikationstätigkeit entsprechend weniger hart bekämpft wurde. Die erste Publikation dieser Art, genauer gesagt eine lose Zusammenstellung von Texten in einer Mappe, gab es bereits 1959; sie erwies sich als sehr langlebig und konnte 1965 zum 49. Mal erscheinen (T. Sarv 1987, 51). Zahlreiche Nachwuchsdichterinnen und -dichter hatten hier Proben ihres Schaffens veröffentlicht, darunter auch später sehr bekannt gewordene wie Viivi Luik oder Leelo Tungal. Danach kann man schon von einem Boom von Almanachen sprechen, der durch die Anfang der 1960er-Jahre erfolgte Erneuerung in der Lyrik (s. § 43) ausgelöst worden war. Parallel zu der in den staatlichen Verlagen erscheinenden Literatur zirkulierten nun auch mehrere Almanache. Einer der bekanntesten trug den Namen HEES, was für Hullemini Enam Ei Saa (Verrückter geht’s nicht mehr) stand, und erschien zum ersten Mal 1967 in Tallinn, drei weitere Nummern folgten 1968. Im gleichen Jahr verlagerte sich die Aktivität in diesem Bereich nach Tartu, wo mit Marm ein berühmt gewordener Almanach erschien, der neben dem oben zitierten Gedicht von Krista Kajar auch einen eigenwilligen Autor wie Johnny B. Isotamm brachte. Als Namen hatte man ein norwegisches Wort gewählt, mit dem eine am Felsen brechende Welle sowie das dabei erzeugte Geräusch

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bezeichnet werden (K. Unt 2001, 117). Weitere Ausgaben folgten bis in den Beginn der 1970er-Jahre hinein, ehe eine kleine Pause entstand. Die Almanache waren entweder mehrmals mit der Maschine geschrieben oder als Fotokopie vervielfältigt worden, einen wichtigen Teil bildeten die Illustrationen. Es konnte auch vorkommen, dass sie komplett als Linolschnitt hergestellt wurden. Die überwiegende Mehrheit der Texte bestand aus Lyrik. Hervorzuheben ist, dass es sich hierbei nicht um Verlautbarungen von Personen zu handeln brauchte, die anderweitig keine Publikationsmöglichkeit hatten, denn es kam immer wieder vor, dass in den Almanachen auch Texte von Personen standen, die schon die eine oder andere Buchpublikation vorweisen konnten. Viel mehr war den Autorinnen und Autoren an Unabhängigkeit und Unmittelbarkeit gelegen: »Eigentlich ist das nichts anderes als ein Wiederentstehen der Folklore, deren Loslösung von der Literatur, so wie sich einst die Literatur von der Folklore gelöst hat«, so formulierte Paul-Eerik Rummo es in einer Ausgabe des Magasin vom März 1969 (zit. nach Hasselblatt 1988, 133). Noch während des Booms wurden die Almanache in Looming rezensiert, was einer Adelung gleichkam. Dabei fielen zwar missbilligende Ausdrücke wie »für sich selbst geschriebene Schubladendichtung« (Laht 1970, 927– 928), aber gleichzeitig konnte der Autor nicht umhin, einige Gedichte zu loben; und am Ende musste er konstatieren, dass ein Fünftel der in den Almanachen veröffentlichten Texte später von den etablierten Zeitschriften, allen voran Looming, übernommen worden waren. Damit hatten sie eine deutliche Funktion innerhalb des Literaturbetriebs bekommen. Ende der 1970er-Jahre setzte eine neue Welle ein, die praktisch bis in die politische Umbruchzeit vom Ende der 1980er-Jahre hineinreichte. Nun wurden verstärkt Essays, zum Teil politischen Inhalts, veröffentlicht, wie das abschließende Beispiel zeigt: In einem Almanach von 1978 publizierten der damals 22-jährige Ants Juske und der 24-jährige Linnar Priimägi ihren später als Manifest (Laak 2002, 275) bezeichneten Text, der ein deprimierendes Bild ihrer Generation zeichnete und diese als müde, indolent und passiv darstellte. Innerhalb eines »normalen« Diskurses einer offenen Gesellschaft wäre der Essay als provokanter Wortbeitrag diskutiert und vielleicht kommentiert worden, weiter nichts. In der sowjetischen Gesellschaft war aber eine solche normale Diskussion unerwünscht, weswegen der Text einigen Wirbel verursachte. Als er 1982 zudem in der Exilzeitschrift Mana veröffentlicht wurde, flog Juske sogar von der Universität (K. Unt 2001, 121). Dieser Umstand illustriert gut die veränderte politische Stimmung: Denn der Text enthält keine als antisowjetisch zu interpretierenden Aussagen, hier ist nicht die Rede von der estnischen Unabhängigkeit, der russischen Überfremdung oder dergleichen, es

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ging tatsächlich nur um den Vergleich verschiedener Generationen und ihrer Chancen. Für die Generation der Autoren fiel der nicht günstig aus, was zu gewissen desillusionierten Schlussfolgerungen führte. Man kann sich vorstellen, dass in der Situation des Aufatmens der frühen 1960er-Jahre niemand Anstoß an solch einem Text genommen hätte. Ende der 1970er sah das aber anders aus. Insgesamt lassen sich die Veränderungen innerhalb der sich als sozialistisch bezeichnenden Gesellschaft gut mit einem zeitgenössischen Witz charakterisieren, der den Übergang von einer euphorischen Aufbruchstimmung bis hin zur lähmenden Stagnation griffig beschreibt: Was tun die verschiedenen Sowjetführer, als sie feststellen, dass der Zug nicht weiterfahren kann, weil die Gleise enden? Lenin gibt den Befehl, die Gleise weiterzubauen; Stalin lässt den Lokführer erschießen; Chruˇscˇ ev veranlasst, das heftig am Waggon gerüttelt wird und draußen Äste und Bäumchen vorbeigetragen werden, damit die Illusion der Weiterreise entsteht; Breˇznev aber zieht die Vorhänge zu und serviert Tee.

§ 43 Die Lyrikexplosion der Kassettengeneration und ihre Nachbeben Die Kassettengeneration Anfang der 1960er-Jahre tummelten sich so viele junge Begabungen auf dem Literaturmarkt, dass der zentrale Staatsverlag beschloss, die Debütbände gebündelt im Schuber herauszugeben. Diese kleinen Buchkassetten hatten ein Format von 11,5 × 17,5 cm und enthielten jeweils drei bis fünf schmale Bändchen mit durchschnittlich sechzig Seiten. Da über die Hälfte der Personen, die innerhalb einer solchen Kassette debütiert haben, der Literatur nicht nur treu geblieben ist, sondern darin sogar eine führende Position für den Rest des 20. Jahrhunderts einnahm und bis in die Gegenwart hinein aktiv ist, hat sich für diese größtenteils im Jahrzehnt 1936–1946 geborene Generation die Bezeichnung »Kassettengeneration« eingebürgert. Damit verbunden war häufig eine Charakterisierung der 1960er-Jahre als die »Goldenen Sechziger«, weil sie sich quantitativ wie qualitativ so eindeutig von den noch von Stalin geprägten 1950er-Jahren unterschieden. Die Bezeichnung ist heute als Verklärung aus der Perspektive der folgenden Jahrzehnte aufzufassen, als die Stagnation der Breˇznev-Zeit die Stimmung niederzudrücken begann und man sich wehmütig an die Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre erinnerte. Mittlerweile ist mehrfach betont worden (z.B. Kron-

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berg 2002a), dass die Zeit so golden nicht gewesen ist, und eine der führenden Dichterinnen der Periode, Viivi Luik (s.u.), trat 1991 in einem Interview dem Mythos von den »Goldenen Sechzigern« entschieden entgegen: »Meine persönliche Erfahrung steht im Gegensatz zu dem, was in letzter Zeit über die ›goldenen Sechziger‹ geredet wird. Ich habe auch früher schon gesagt, daß diese Jahre nicht golden waren, sie waren blutig, oder wenigstens schmutzig.« Damals wurde »der Kollektivgeist in Estland heimisch, der in Estland eine Generation heranzüchtete, deren Weltanschauung und Denkweise Estland noch lange daran hindern werden, ein wahrhaft demokratischer europäischer Staat zu werden.« (zit. nach Hasselblatt 2001, 433). Diese Entzauberung verdeutlicht die Relativität der Bewertungen, denn Anfang der 1990er-Jahre, als die Zensur völlig weggefallen und die staatliche Unabhängigkeit wiedererlangt war, gab es keinen Grund mehr, in den 1960er-Jahren etwas Goldenes zu sehen. Festzuhalten bleibt aber, dass sich die 1960er sowohl von den 1950ern wie auch von den 1970ern abhoben und insofern die Verwendung der Bezeichnung als besondere Generation nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Innerhalb von sechs Jahren wurden fünf Buchkassetten mit den Erstlingen von 13 Autoren und 6 Autorinnen publiziert. Den Auftakt bildete die Kassette von 1962 mit fünf Gedichtbändchen von Paul-Eerik Rummo, Linda Ruud, Arvi Siig, Mats Traat und Enn Vetemaa. Von ihnen war Paul-Eerik Rummo der Jüngste und gleichzeitig die auffälligste Dichterpersönlichkeit, die als die Galionsfigur der Generation bezeichnet werden kann (s.u.). Vetemaa und Traat sind später in anderen Genres erfolgreich geworden (s. §§ 44, 45), wenngleich bei Traat hervorgehoben werden muss, dass er einer der wenigen ist, der bis heute beiden Hauptgenres treu geblieben ist und nach wie vor auch Dichtung auf hohem Niveau vorlegt. Siig publizierte danach noch ein knappes Dutzend weitere Gedichtbände mit teilweise starkem urbanistischem Einschlag, hat sich aber vorwiegend mit der Organisation des literarischen Lebens und als Übersetzer betätigt, so dass seine Bedeutung für die estnische Lyrikgeschichte gering ist. Ruud schrieb noch ein paar weitere Bücher, ist aber lediglich aufgrund der illustren Gesellschaft, innerhalb derer sie debütierte, nicht völlig vergessen. Die zweite Kassette erschien 1963 und enthielt die Debüts von Helgi Muller, Rudolf Rimmel und Aleksander Suuman. Muller publizierte noch zwei weitere Gedichtbände und schied 1971 freiwillig aus dem Leben. Von Rimmel, der 2003 ebenfalls Selbstmord beging, folgte eine ganze Reihe von Gedichtbänden, dennoch blieb seine Rolle marginal und auf das redaktionelle oder organisatorische Element beschränkt. Suuman entwickelte sich jedoch zu einer wichtigen lyrischen Stimme, die zusehends beständiger und gegen

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Ende seines Lebens immer produktiver wurde. Der 1927 Geborene war von Beruf Maler, als Dichter war er ein Spätstarter. Seinem Debüt folgten 1966, 1972 und 1975 weitere Sammlungen, in denen er sich von den malerischen Naturbildern seines ersten Buches allmählich weg bewegte in Richtung auf eine stärker auf den Menschen und seine Stellung innerhalb der Natur eingehende Dichtung. Häufig zeichnete er kurze Porträts, die aphoristischen Charakter annehmen konnten. Hierbei erwies er sich als exakter und auch ein wenig verschmitzter Beobachter, dessen Ironie ein nachdenkliches Schmunzeln hervorrief. In den 1980er-Jahren kamen von ihm vier Gedichtbände, und danach bis zu seinem Tode (2003) noch einmal sechs. In den späten Gedichten experimentierte Suuman immer häufiger mit der Form und gestaltete seine Gedichte auch graphisch, wobei Wörter zu kunstvollen Formen verbogen, abgebrochen, zusammengeschoben und neu angeordnet wurden. Hier gab es graphische Gedichte à la Christian Morgenstern oder Miniaturgemälde: Das Gedicht Kolm vägilast (Drei Recken) besteht aus einem schwarz gefüllten Quadrat, aus dem drei Schreibfedern herausragen, die dermaßen schematisiert sind, dass man sie auch als Türme oder Ritter interpretieren könnte. Sass Suuman – so wurde er häufig genannt, und unter diesem Namen hat er teilweise auch publiziert – wurde durch seine Mehrfachbegabung eine Bereicherung der estnischen Lyrik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die dritte Kassette erschien 1965 und stand in ihrer Bedeutung der ersten in nichts nach. Hier debütierten die neben Rummo wohl beiden wichtigsten anderen der fraglichen Generation, nämlich Jaan Kaplinski und Viivi Luik (s. u.). Außerdem trat mit Hando Runnel ein weiterer Dichter an die Öffentlichkeit, der in den folgenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielte. Als Vierte war Ly Seppel von der Partie, die danach zwar noch zwei weitere Gedichtbände vorlegte, sich aber vornehmlich als Übersetzerin aus den Turksprachen, dem Finnischen und dem Russischen einen Namen gemacht hat. Gemeinsam mit ihrem Mann Andres Ehin sorgte sie auch für eine Auswahl der Märchen aus Tausend und einer Nacht auf Estnisch. Allein die Fünfte, Lehti Metsaalt, die als Einzige mit Prosa debütierte, ist heute völlig vergessen. Hando Runnel ist 1938 im nördlichen Estland geboren und arbeitete nach seinem Schulabschluss in einer Kolchose, während er gleichzeitig ein Fernstudium an der Landwirtschaftsakademie begann, was er aber nicht abschloss. Denn inzwischen hatte er sich der Literatur zugewandt, nach seinem Debüt arbeitete er einige Jahre in der Looming-Redaktion in Tallinn, seit 1973 lebt er als freiberuflicher Autor und mittlerweile auch Verleger in Tartu. Runnels Dichtung war von Anfang an metrisch und traditionell, ganz selten brach er einmal aus in den freien Vers. Die Kraft seiner Gedichte liegt im Rhythmus, den er der Volksdichtung entlehnt hat, und der klaren Betonung

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des Moralischen. Tradition und ein starkes Verbundensein mit Land und Volk stehen im Vordergrund. Darum ist nicht verwunderlich, dass Runnel sehr beliebt war und den Status eines Kultautors genoss, dessen ungedruckte Texte sich in Abschriften verbreiteten. Der Titel seiner ersten Gedichtsammlung weist bereits auf diese Grundstimmung hin: In Maa lapsed (Kinder des Landes, 1965) ist die Arbeit auf dem Lande eines der tragenden Themen. Es folgten Laulud tüdrukuga (Lieder mit einem Mädchen, 1967) und Avalikud laulud (Öffentliche Lieder, 1970), worin der Autor sich stärker gesellschaftlichen Problemen zuwandte. Immer noch und immer wieder stehen Moral und Pflichtgefühl an erster Stelle. Bei dieser Betonung des sozial-ethischen Aspekts konnte nicht ausbleiben, dass der Autor bald in Konflikt mit den sich ändernden Verhältnissen geriet. Die beiden folgenden Bände – Lauluraamat ehk Mõõganeelaja ehk Kurbade kaitseks (Liederbuch oder Schwertschlucker oder Zur Verteidigung der Traurigen, 1972) und Mõru ning mööduja (Bitter und Vorbeigänger, 1976) – sind viel düsterer, die Hoffnung ist der Depression gewichen. Es kommen auch nostalgische Züge hinzu, indem das verlorene Landleben betrauert und die Stadt als feindliches Gebiet angesehen wird. Ein kleines Literaturereignis war die Sammlung Punaste õhtute purpur (Der Purpur der roten Abende, 1982). Über deren Genehmigung erschraken die Zensurbehörden im Nachhinein dermaßen, dass sie der Presse verboten, das Buch zu rezensieren. Erst 1987 konnten die ersten Rezensionen erscheinen. Der düster-sarkastische Ton einiger Gedichte wollte so gar nicht in den sowjetischen Hurra-Optimismus passen, andere Verse betonten das nationale Selbstbewusstsein der Esten und riefen dazu auf, das Land mit Kindern und Enkeln und Urenkeln zu füllen. Bei wieder einem anderen Gedicht konnte man die roten Schnecken, die sich über das Land ergossen, allzu leicht mit dem Zustrom der russischen Arbeitskräfte assoziieren. Schließlich endete der Gedichtband mit einem patriotisch-hymnischen Zyklus, der den Internationalismus der Staatsideologie vermissen ließ, kurzum: Viel unsowjetischer konnte eine Gedichtsammlung eigentlich gar nicht sein. Die Tatsache, dass das Werk in festem Einband mit den Illustrationen des bekannten Künstlers Jüri Arrak und in einer Auflage von 10000 Stück überhaupt erschienen war, ist ein weiterer Beweis für die Durchlässigkeit des Systems und die rätselhafte Unberechenbarkeit der Zensurbehörde. Spätestens mit diesem Gedichtband wurde Hando Runnel zu einem gefeierten »Dichter des Vaterlands«, der in der Phase der Singenden Revolution noch einmal zu großer Form auflief (vgl. § 47). In der vierten Kassette, die 1966 herauskam, erfolgte mit Jüri Tuuliks Tund enne väljasõitu (Eine Stunde vor Abfahrt, vgl. § 45) das zweite Prosade-

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büt in dieser ansonsten von der Lyrik dominierten Reihe. Die beiden anderen Debüts waren weniger auffällig: Ingvar Luhaäär hat zwar später noch weitere Gedichtbände vorgelegt, sich aber stärker aufs Übersetzen verlegt und auch einige Prosabücher geschrieben. Leelo Tungal hat ebenfalls noch weitergedichtet, sich dann aber als Kinderbuchautorin einen Namen gemacht. Die letzte Kassette erschien 1968 und brachte neben dem als Eintagsfliege zu bezeichnenden Bändchen von Albert Koeney wiederum zwei wichtige Namen, die während der nächsten Jahrzehnte innerhalb der estnischen Literatur etwas bedeuten sollten: Nikolai Baturin und Andres Ehin. Baturin hat gleichermaßen Lyrik und Prosa (s. § 45) geschrieben, wobei die Besonderheit seiner Dichtung in der reichhaltigen Verwendung von Dialekt- und Soziolektwörtern liegt, außerdem hat er auch zahlreiche Gedichte im südwestestnischen Dialekt von Viljandi verfasst und die Tradition der estnischen Dialektdichtung fortgesetzt. Andres Ehin dagegen ist eine singuläre Erscheinung in der estnischen Lyrik. Er ist 1940 in Tallinn geboren und war nach seinem Estnisch- und Finnougristikstudium in Tartu einige Zeit in den Redaktionen verschiedener Kulturzeitschriften tätig. Seit 1974 lebt er als freiberuflicher Schriftsteller und Übersetzer in Rapla, einer Kleinstadt knapp 50 Kilometer südlich von Tallinn. Andres Ehins erste Gedichte wurden 1960 gedruckt, in den 1970erJahren kamen drei weitere Gedichtbände hinzu. Nicht schnell wie ein Senkrechtstarter, sondern etwas behäbig hat er sich mit seiner Lyrik einen Namen als Schelm, absurder Dadaist, wortgewaltiger Sprachvirtuose und Surrealist gemacht. Er ist ein »stabiler, auf seine Weise phlegmatischer Dichtertyp, der auch sechzigjährig ungefähr so schreibt wie zwanzig- oder dreißigjährig, nun aber umso mehr die Freiheiten infantilen Sprachgebrauchs genießt, mit anderen Worten radikale, hämische Dichtung« (Grube 1996, 44). Das begann schon mit dem Debüt Hunditamm (Die Wolfseiche), worin sich bereits Verse finden, die den Vergleich mit Laaban oder Alliksaar (s.u.) nicht zu scheuen brauchen, obwohl er erst in den 1980er-Jahren regelmäßig in einem Atemzug mit dem Surrealismus genannt wurde. Das liegt aber daran, dass Laabans Dichtung zwar in gewissen Kreisen bekannt war, dass man aber nur hinter vorgehaltener Hand davon sprechen konnte. Die weiteren Sammlungen von Ehin lassen vielfach schon in ihrer Titelgebung die Besonderheit der Dichtung und die Liebe des Autors zum Sprachspiel erkennen: Sie lauteten Uks lagendikul (Die Tür in der Lichtung, 1971), Vaimusõõrmed (Nüstern des Geistes, 1979) und Luba linnukesel väljas jaurata (Erlaub dem Vöglein draußen zu belfern, 1976). Hier wird einerseits durch Vertauschen der Konsonanten die Beziehung zu einem bekannten Kinderlied (Juba linnukesed / väljas laulavad …, Schon die Vöglein / draußen singen …)

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hergestellt, andererseits kann man durch Einfügung eines Kommas und eines Großbuchstabens eine politische Aussage erzeugen: Luba linnukesel, Väljas, jaurata würde heißen ›Erlaub dem Vöglein, Väljas, zu belfern‹. Vaino Väljas war zum damaligen Zeitpunkt der Sekretär des Zentralkomitees der estnischen KP und damit für ideologische Fragen zuständig. Ehin liebte es, die Konventionen zu sprengen, und trieb gerne seinen Spott mit jedem. Das tat er auch in der Prosasammlung Ajaviite peerud lähvad lausa lõkendama (Die Kienspäne der Zerstreuung fangen geradezu Feuer, 1980), was im Titel auf Peter Graf Mannteuffels Ajaviide peeru valgusel (Zerstreuung im Schein des Kienspans, 1838, s. § 14) verweist und gleichzeitig die Schlussverse des Kalevipoeg in Erinnerung ruft, wo ein Kienspan an beiden Enden Feuer fängt, was als Zeichen einer besseren Zukunft für das estnische Volk angesehen wird. Obendrein spielt der Titel mit der Homonymie der Wortform peerud, die sowohl ›Kienspäne‹ als auch ›Furze‹ bedeuten kann. Ein Feuerwerk von Assoziationen in einem Satz – das war Ehins Kunst und Vergnügen. Auch nach dieser fünften Kassette sind kontinuierlich neue Dichterinnen und Dichter an die Öffentlichkeit getreten, teilweise auch zu Gruppen zusammengefasst oder zusammenfassbar, aber eine vergleichbar geballte Entladung wie die zwischen 1962 und 1968 ist in der estnischen Literaturgeschichte nicht noch einmal auszumachen. Sie gab der estnischen Literatur einen Schub, der ihr die Durststrecke bis zur Erlangung der Freiheit überwinden half. Paul-Eerik Rummo Paul-Eerik Rummo ist 1942 in Tallinn geboren und studierte von 1959 bis 1965 estnische Philologie in Tartu. Nach seinem Militärdienst war er in wechselnden Positionen mit dem Theater verbunden, teilweise auch freiberuflicher Schriftsteller und Sekretär des Schriftstellerverbandes von 1987 bis 1989. In den 1990er-Jahren wandte er sich der Politik zu und war Abgeordneter und mehrmals Minister. Gedruckt wurden seine Gedichte seit 1957, sein Debütband Ankruhiivaja (Der Ankerheber, 1962) enthielt 28 Gedichte und wurde vom Publikum begeistert als Künder einer neuen Zeit begrüßt. Ein älterer Kollege und Kritiker schrieb in einer Rezension beinahe neidisch: »So jung und so reif wie dieser gerade einmal zwanzigjährige junge Mann« (Parve 1963, 180) sei in der Nachkriegszeit noch niemand in die Literaturszene eingetreten. Was war so neu daran? In erster Linie war es die jugendliche Unbekümmertheit und Direktheit, der unbeschwerte Optimismus und die erfrischende Lebensfreude, die die teils gereimten, teils freien Verse ausstrahlen. Hier machte sich ganz offenkundig jemand auf den Weg, ein mutiger und viel versprechender Auf-

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bruch zu neuen Ufern. Gerade der Jubel der zeitgenössischen Kritik beweist, dass es sich hierbei nicht um im Nachhinein verpasste Interpretationen handelt, die in Kenntnis der späteren Texte geschrieben sind. Tatsächlich waren schon in diesem ersten Band einige Dinge einfach anders und neu. Rummos dichterische Tätigkeit blieb zunächst auf gut ein Jahrzehnt begrenzt. 1964 erschien sein zweiter Band, Tule ikka mu rõõmude juurde (Komm doch immer zu meinen Freuden), 1966 mit Lumevalgus – lumepimedus (Schneelicht – Schneeblindheit) der dritte in einer gemeinsamen Ausgabe mit Enn Vetemaa. Hierbei wurde der auch später in der estnischen Buchkunst beliebte Kunstgriff verwendet und ein Buch mit zwei Vorderseiten hergestellt. Beide Hälften sind um 180 Grad gedreht gedruckt, so dass man je nach Lage des Buches Rummo oder Vetemaa vor sich liegen hat. Eine vierte Sammlung hatte Rummo im Prinzip Anfang der 1970er-Jahre fertig, er trug den Zyklus Saatja aadress (Absender) 1972 zweimal auf einem Gedichtabend im Hause des Schriftstellerverbandes vor, aber zum Druck gelangte der Text nicht, da sich die Zensur querstellte. Des ungeachtet zirkulierte die Sammlung in Abschriften und Kopien und war in weiten Kreisen der Bevölkerung bekannt. Teile hiervon konnten 1985 endlich erscheinen, vollständig kam das Buch erst 1989 heraus. In der Zwischenzeit waren manche Texte der Sammlung aber in den Volksmund übergegangen und wurden gerne zitiert. Der Autor formulierte in ihnen das Credo seiner Generation: Miks ma välismaale ei põgene 1. Armastada (mõtlen siin selle all: osata olla nõrk ja täiesti täiesti ükskõikne, saagu mis saab), niisiis, armastada ja luuletusi kirjutada saab lõpuks igal pool ja lõpuks ära ei ela sellest kuskil. … (P.-E. Rummo 2005, 300; Warum ich nicht ins Ausland fliehe // 1. Lieben (ich verstehe hier darunter: schwach / sein können und vollkommen vollkommen / gleichgültig, egal was passiert), / also, lieben und Gedichte schreiben / kann man letztlich überall und letztlich / leben davon kann man nirgends. …)

Es war klar, dass ein Gedicht mit einem solchen Beginn in den Augen der sowjetischen Zensur keine Gnade finden konnte, auch in den beiden Sammlungen von 1985 ging das Gedicht noch nicht durch. Zu deutlich sprach es ein Problem an, das in den Köpfen vieler Intellektueller herumgespukt war und hier und da auch versteckt oder offen Eingang in die Literatur gefunden hatte. Da Rummo den Zyklus nicht aufsplittern lassen wollte, wurden auch

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einige – oberflächlich betrachtet – völlig unpolitische Gedichte auf den Volksmund beschränkt wie das folgende: Miks ma end ära ei tapa Ei taha (P.-E. Rummo 2005, 321; Warum ich mich nicht umbringe // will ich nicht)

Der Reiz dieses Gedichtes liegt in einer Anhäufung von Besonderheiten: Das beginnt beim Formalen, es gibt in der Weltgeschichte der Lyrik vermutlich nicht sehr viele Gedichte, bei denen die Überschrift viel länger ist als der Inhalt; diese Überschrift ist von der Anzahl der Silben her der alten estnischen Volksdichtung nachempfunden und enthält auch zwei Stabreime; das dann folgende eigentliche Gedicht ist bis auf einen einzigen Buchstaben mit den drei letzten Silben der Überschrift identisch; Überschrift und Inhalt zusammengelesen ergeben eine 11-silbige Zeile mit vier Hebungen: miks ma end ära ei tapa ei taha, ein Daktylus, der im Kontrast zum vorherrschenden Trochäus der estnischen Folklore steht. Und schließlich der Inhalt: Statt einer Vielzahl von möglichen und denkbaren Gründen nennt der Autor, trotzig wie ein bockiges Kind, nur einen einzigen, wenig rationalen Grund, nämlich den fehlenden Wunsch. Das bedeutet gleichzeitig, dass es rationale Gründe, sich nicht umzubringen, eigentlich gar nicht gibt. Auch so etwas war aus sowjetischer Perspektive unerhört, wie konnte man im Paradies der Werktätigen überhaupt auf solche Gedanken kommen? Rummos dichterisches Werk umfasst rund 300 Gedichte und ist damit nicht sonderlich umfangreich. Es erlangt seine besondere Stellung innerhalb der estnischen Lyrikgeschichte durch die philosophische Tiefe, die in komplizierten, trotzdem glasklaren Formulierungen zum Ausdruck kommt und gleichzeitig relativ unbeeindruckt und unabhängig ist von irgendeiner dichterischen Tradition. Seine Lyrik ist dabei nie gekünstelt politisch; wenn sie politisch ist – oder wirkt –, so allein aus ihrer Ehrlichkeit heraus. Da war er kompromisslos, und deswegen konnten manche Texte lange nicht erscheinen. Als es 1989 endlich soweit war, machte der Autor auch keinen Hehl daraus, dass er »nicht zu denen gehört, die die Notwendigkeit, die Kontrolleure zu hintergehen, für ein besonders gutes Stimulans zur Bereicherung der Sprache der Lyrik halten.« (P.-E. Rummo 1989, 111). Rummo konnte darauf verzichten und war auch so in der Lage, sprachlich reiche Dichtung zu verfassen. Um die Kontrolleure scherte er sich nicht. Dadurch konnte Rummos Dichtung zum Identifikationsobjekt für breite Bevölkerungsschichten werden. Mindestens ebenso bedeutend, wenn nicht bahnbrechend, war seine Bedeutung für die Entwicklung des estnischen Theaters (s. § 44).

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Jaan Kaplinski Jaan Kaplinski wurde 1941 in Tartu geboren und studierte von 1958 bis 1964 dortselbst Französisch und Linguistik. Im Anschluss daran arbeitete er eine Zeit lang im Rechenzentrum der Universität, betrieb Sprachstudien, war zwischenzeitlich freiberuflich und sechs Jahre im botanischen Garten der Akademie der Wissenschaften in Tallinn angestellt. In den 1980er-Jahren war er wieder in Tartu und bekleidete eine Stellung am Lehrstuhl für ausländische Literatur. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit war er drei Jahre lang Abgeordneter im Estnischen Parlament, seitdem lebt er als freiberuflicher Autor vornehmlich auf dem Lande in der Nähe von Tartu. Seit dem Debütband Jäljed allikal (Spuren an der Quelle, 1965) dominieren bei Kaplinski Natur und Philosophie und deren Verbindung bzw. Literarisierung. Wie kein anderer estnischer Dichter ist er der sanfte Philosoph, der sich von tagespolitischen Ereignissen nicht beeindrucken lässt – auch wenn er sie essayistisch kommentiert – und auf seinem Weg voranschreitet. Dabei weist er in der philosophisch-politischen Dimension Gemeinsamkeiten mit Paul-Eerik Rummo auf und ist im Bereich der Poetisierung der Natur Viivi Luik ebenbürtig. Und noch eine ganze Menge anderer Parallelen, Gemeinsamkeiten, Beeinflussungen oder Vorbilder könnte man hier anführen – allen voran die fernöstliche Dichtung und Philosophie, die Kaplinski reichlich rezipiert und vermittelt hat –, im Endeffekt ist diese spezifische Mischung das Besondere, das den Dichter Kaplinski ausmacht. Mit seinem zweiten Band, Tolmust ja värvidest (Über Staub und Farben, 1967), wurde das politische Element verstärkt, indem Freiheit und Unterdrückung thematisiert wurden, freilich in einer Weise, die für die Zensur gerade noch verdaulich war. Ähnlich wie Rummos Texte wurde auch diese Sammlung zu einem Kultbuch für die jüngere Generation. Von nun an legte Kaplinski regelmäßig weitere Sammlungen vor, deren Gedichte trotz aller Vielfalt in Form und Umfang seinem Grundthema treu blieben und ein großes Ganzes formten. Dieses Grundthema ist die Einheit von Mensch und Natur, eine Ganzheitlichkeit, ein Streben nach universeller Harmonie, die am besten in Kontemplation erreicht werden kann. Auf der Suche danach müssen die engen Grenzen eines Landes und einer Sprache gesprengt werden, weswegen der Dichter die gängigen Kategorisierungen ablehnt. Sein Bestreben ist die Überwindung althergebrachter Auffassungen und Sichtweisen, und da macht es nichts aus, in welchem politischen System man sich befindet. Denn diese Beschränkungen, die schnell Beschränktheiten werden, gibt es überall. Kaplinski steht über ihnen und ist in beiden – in allen – politischen Systemen ein unbequemer Querdenker, der Horizonte erweitern

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Jaan Kaplinski, Foto: Postimees/Scanpix

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will, wie es treffend in einem in einer Sammlung von 1985 erschienenen Gedicht formuliert ist: Ida ja Lääne piir rändab ikka, vahel itta, vahel läände ja vaevalt me päriselt teame, kus ta parajasti on, kas Gaugamelas, Uuralis või hoopis meie endas, nii et üks kõrv, üks silm, üks sõõre, üks käsi, üks jalg, üks kops ja üks muna (naisel vastavalt munasari) jääb ühele, teine teisele poole. Ainult süda, ainult süda on ikka ühel pool, kui vaatame põhja, siis läänes, kui vaatame lõunasse, siis idas, ja suu ei tea, kumma poole eest peab rääkima tema. (Kaplinski 2000, 685; Die Grenze zwischen Ost und West wandert stetig, mal nach Osten, mal nach Westen / und kaum wissen wir jemals richtig, wo sie gerade ist, / ob in Gaugamela, im Ural oder am Ende in uns selbst, / so dass ein Ohr, ein Auge, ein Nasenloch, ein Arm, ein Bein, / ein Lungenflügel und ein Ei (bei Frauen entsprechend Eierstock) / auf der einen, das andere auf der anderen Seite ist. Nur das Herz / nur das Herz ist immer auf einer Seite, / wenn wir nach Norden schauen, im Westen, / wenn wir nach Süden schauen, im Osten, / und der Mund weiß nicht, für welche Seite / er sprechen muss.)

Dies Gedicht ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr Kaplinskis Dichtung losgelöst werden kann von Zeit und Raum: Es wurde Ende der 1990er-Jahre an der deutsch-französischen Grenze auf der »Europa-Brücke« bei Kehl verewigt (s. Kaplinski 1999, 28). Kaplinskis Dichtung stieß auch auf Widerstände. Das in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre abgefasste Poem Hinge tagasitulek (Die Rückkehr der Seele) konnte erst 1990 erscheinen, weil die hier thematisierte Identitätssuche der Zensur zu weit ging. Trotzdem nimmt die Lyrik den prominentesten Platz in seinem Werk ein. Eine 2000 veröffentlichte Gedichtauswahl enthält knapp 700 Gedichte aus über 40 Jahren. Darüber hinaus hat Kaplinski Dichtung übersetzt und selbst in fremden Sprachen – Englisch, Finnisch, Russisch – gedichtet. Dies ist ebenso Bestandteil seines Horizonterweiterungsprogramms wie die Verwendung eines chinesischen Pseudonyms in einer Sammlung von 1995, in der neben Übersetzungen auch eigene Dichtungen vertreten sind. Ferner hat Kaplinski Kinderliteratur und Essaysammlungen publiziert, einige Theaterstücke verfasst (s. § 44) und in jüngster Zeit auch Prosa (s. § 49), so dass die Liste seiner allein auf Estnisch publizierten Bücher rund 40 Titel umfasst. Sein Werk ist – besonders in Finnland, wo er in den 1990er-Jahren zeitweilig Kolumnist war und eine

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viel beachtete Stimme im kulturellen Leben Finnlands wurde – im Ausland vielfältig rezipiert worden und in zahlreiche Sprachen übersetzt, allein auf Englisch liegen fünf Sammlungen vor. So nimmt es nicht Wunder, dass Kaplinski sich 1997 als vierter Este – nach Tammsaare, Under und Kross – in die Liste der Nobelpreiskandidaten einreihen konnte. Viivi Luik Viivi Luik ist 1946 geboren und wuchs in relativer Abgeschiedenheit auf einem Bauernhof in Südestland auf. Sie begann als Dreijährige Lesen zu lernen und verfasste bereits als Erstklässlerin Gedichte. Seit 1960 beteiligte sich die Schülerin an Schreibwettbewerben, ihre ersten Gedichtveröffentlichungen erfolgten 1962. Nach der Schule ging sie nach Tallinn, wo sie zwei Jahre als Bibliothekarin und Archivarin angestellt war, ehe sie sich 1967 für die Freiberuflichkeit entschied, der sie bis heute treu geblieben ist. Nach ihrem Debüt mit Pilvede püha (Festtag der Wolken, 1965) legte die Dichterin in rascher Folge sechs Bände innerhalb der nächsten zehn Jahre (1966–1975) vor und war bereits als 30-Jährige eine anerkannte und gefeierte lyrische Autorität, die mit den zwei folgenden Bänden (1978, 1982) ihr lyrisches Œuvre im Großen und Ganzen abschloss. Später erschienen nur noch verstreut in Zeitschriften einige neue Gedichte, ihr lyrisches Gesamtwerk besteht aus ca. 440 Gedichten. Sie weist Berührungspunkte mit PaulEerik Rummo, Jaan Kaplinski, Hando Runnel und Juhan Viiding (s.u.) auf, ohne dass ihr Werk einen eindeutigen thematischen oder formgebundenen Schwerpunkt hätte. Neben Gereimtem findet sich Ungereimtes, Naturund Liebeslyrik wechselt ab mit philosophischen Betrachtungen und urbanen Bildern, leichte und luftige Verse können sekundiert werden von fast zur Schwermütigkeit neigender Kontemplation. Die Autorin brauchte keine Anlaufzeit und formulierte gleich im ersten Band ihr Programm, das ihr Kollege Paul-Eerik Rummo später ein »bitteres Senfkorn« nannte, aus dem »etwas keimen wird, was heute im Gewebe von Viivi Luiks Werk vielleicht den charakteristischsten Stoff darstellt« (P.-E. Rummo 1996, 721): Teeidüll Tuul rusikaga vastu lõugu taob – ta hull on – ammugi ma seda tean. Klaaskülm on vaikus, päike süngelt kaob, hulk vettind räbalaid on taevas reas.

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Teed märga, porist lirtsuvat ma käin, ees verrekastetuna punab haab. Teed märga, porist lirtsuvat ma käin, veel niipea lõpule ta, raisk, ei saa. (Luik 1965, 44; Wegesidylle // Wie ein Faustschlag peitscht mir der Wind ins Gesicht – / verrückt ist er – das weiß ich schon lange. / Eiskalte Stille, die Sonne löscht düster ihr Licht, / durchweichte Fetzen ziehen am Himmel entlang. // Ich gehe auf feuchtem Weg, voller Dreck und Matsch, / blutrot sehe ich vor mir eine Espe stehn / Ich gehe auf feuchtem Weg, voller Dreck und Matsch, / und ein Ende, verdammt, ist nicht abzusehn.)

Dieses Gedicht mit der sarkastischen Überschrift, die an Ernst Enno (vgl. § 26) erinnert, wirkte tatsächlich wie ein Faustschlag und markierte den zukünftigen Weg der Lyrikerin. Die Naturbeschreibungen bei Luik sind keine beschaulichen Bilder, sondern Spiegel der erbarmungslosen Realität. Gleichzeitig wird dem üblichen Anthropozentrismus eine Alternative gegenübergestellt, indem Elemente der Natur – außer dem hier das Gedicht eröffnenden Wind kommen auch Himmel, Sonne, Schnee und Wolken ausufernd häufig in ihren Versen vor – Subjektqualitäten und menschliche Züge erhalten. Allein der Wind kommt in über einem Drittel der Gedichte der Autorin vor, er kann »im Mohngarten schreiten«, »die Wolken vor den Geburtswehen des Regens bewahren«, jemand kommt »in Begleitung des Windes«, der Wind kann auch angesprochen und um etwas gebeten werden, er kann auch küssen. Folgerichtig ist es nicht die Dichterin, die die Natur liebt, sondern die Natur, die die Dichterin liebt. In der weiteren Dichtung nahm die Stadt eine große, aber auch bedrohliche Rolle ein. Luik zeichnete in der Sammlung Maapäälsed asjad (Irdische Dinge, 1978) beklemmende Bilder von der Banalität des Alltags, wobei manchmal schon allein die Überschrift eines Gedichtes alles sagte, wenn sie zum Beispiel lautet: Der Zufall ist schon unterwegs. (Luik 1978, 22) Im späteren Werk festigte sich die Form der Gedichte zu vierzeiligen Strophen, wobei Zeilenlänge und die Anzahl der Strophen erheblich variieren konnten. Die meisten dieser Gedichte waren nun gereimt, die impulsive Lyrik der früheren Bände machte einer Abgeklärtheit Platz, der auch ein soziales Element, eine Art Verantwortungsgefühl nicht fehlte. Immer stärker setzte sich die Dichterin mit ihrer Gegenwart und ihrem Volk auseinander, was in ihrem letzten Gedichtband, Rängast rõõmust (Aus schwerer Freude,1982) am stärksten zum Ausdruck kam. Hier formulierte die Autorin ihre Berufung und ihren Standpunkt. Die Form war nun einfach und streng, wodurch den Versen eine gewisse Schwere anhaftete, ohne pathetisch zu wirken. Es trat auch ein metaphysisches Element in den Vordergrund, das um Symbole der christlichen Religion bereichert wurde.

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Damit hatte Luik ein hohes Maß an Universalität erreicht. Ihr sorgsamer und sparsamer Umgang mit dem Wort führte dazu, dass sie in diesem Genre alles gesagt hatte. Fortan wandte sie sich der Prosa zu, die sie sporadisch schon vorher und teilweise für Kinder verfasst hatte, worin sie aber in der Übergangszeit zur neuen Unabhängigkeit noch einmal mit zwei wichtigen Büchern Zeichen setzte (s. § 47). Zwei Männer im Hintergrund Das Zentrum des lyrischen Lebens lag in jenen 1960er-Jahren in Tartu, wo die meisten der oben erwähnten Personen studierten. Die Universitätsstadt war nach wie vor der geistige Mittelpunkt des Landes, hier war der Ort, wo gedacht und philosophiert und die Welt verbessert wurde. Tartu hatte als Kontrast zur Hauptstadt (pealinn) Tallinn nicht zufällig den Beinamen ›Stadt mit Kopf‹ (peaga linn). Das hatte seine Ursache zum Teil auch in äußeren Faktoren: Man war weniger materiell orientiert, da das finnische Fernsehen mit seiner Konsumgüterreklame nicht bis nach Tartu reichte und der Mitte der 1960er-Jahre einsetzende Touristenstrom sich ebenfalls auf die Hauptstadt beschränkte. Tartu war zwar keine geschlossene Stadt, wie manchmal behauptet wird, aber westlichen Touristen war – angeblich wegen eines in der Nähe gelegenen Militärflughafens, in Wahrheit aber auch wegen der Universität, die per definitionem ein Herd der Unruhe ist – die Übernachtung in der Stadt tatsächlich versagt. Diese relative Isolierung war für eine Universitätsstadt an sich fatal, hatte aber den positiven Nebeneffekt, dass man wenig abgelenkt war und sich viel mit Kopfarbeit befassen konnte. So machte man aus der Not eine Tugend, traf sich in literarischen Zirkeln, las einander seine Gedichte vor und diskutierte darüber. Dabei entpuppten sich zwei Dichter, die ihre eigenen Werke in Sowjetestland nicht gedruckt sahen, als Dreh- und Angelpunkt: Uku Masing und Artur Alliksaar. Uku Masing (vgl. § 34) hatte als Theologe und Religionswissenschaftler für die sowjetischen Behörden den falschen Beruf und war aus dem öffentlichen Leben mehr oder weniger entfernt worden. Ein biographisches Handbuch zur estnischen Literatur brachte es 1975 sogar fertig, die Existenz des Dichters ganz zu verschweigen (EKBL). Gleichzeitig war es in literarischen Kreisen ein offenes Geheimnis, dass niemand anders als Masing für manche Personen – allen voran Jaan Kaplinski und Viivi Luik – die wichtigste Bezugsperson in den Jahren ihrer künstlerischen Reifung war. Masing übte seinen Einfluss auf vielfältige Weise aus: durch seine eigenen Gedichte, die er fast täglich verfasste und die mit ihrer unkonventionellen Form und philosophischen Tiefe eine eigene Qualität darstellten; durch Kommentierung der Ma-

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nuskripte und Entwürfe, mit denen man zu ihm kam oder die man ihm zuschickte, denn mit der in Tallinn lebenden Luik zum Beispiel erfolgte der Kontakt auf dem Korrespondenzwege; durch das Verleihen von Büchern oder nur Hinweise auf bestimmte Literatur; ganz allgemein durch sein umfangreiches Wissen in den Bereichen Philosophie, Theologie und Philologie – um nur die wichtigsten Fachgebiete zu nennen. Masing hatte vor dem Krieg an ausländischen Universitäten studiert, wovon die jüngere in Sowjetestland aufgewachsene Generation nur träumen konnte, er hatte sich mit zahlreichen östlichen Sprachen beschäftigt, war ein Spezialist des Alten Testaments und arbeitete an einer Neuübersetzung des Neuen Testaments, er kannte die Folklore exotischer Völker und wusste auch alles über die Wurzeln des Estnischen, er übersetzte aus zehn Sprachen – das alles machte ihn zu einer so außergewöhnlichen und bewundernswerten Persönlichkeit, dass die angehenden Dichterinnen und Dichter sich um ihn scharrten wie Jünger um einen Propheten. Masings Dichtung ist zu seinen Lebzeiten bis auf eine Ausnahme Ende der 1960er-Jahre nur im Ausland gedruckt worden und zirkulierte in Estland teilweise in Manuskriptform. Erst in jüngster Zeit sind seine gesammelten Gedichte veröffentlicht worden (Masing 2000–2005), so dass sie allmählich in das allgemeine Bewusstsein der estnischen Öffentlichkeit gelangen. Diese Dichtung ist eigenwillig in der Form, verfügt über einen reichen Wortschatz und hebt sich allein schon durch die häufig in den Vordergrund gerückte religiöse Thematik von der übrigen zeitgenössischen Dichtung ab. Masing schrieb auch längere Poeme und zahllose wissenschaftliche Abhandlungen, von denen diejenigen, die die estnische Kulturgeschichte oder das Estnische betrafen, in Estland erschienen sind, während andere religionsphilosophische oder folkloristische Arbeiten im Ausland veröffentlicht wurden. Insgesamt fehlt aufgrund des verstreut erschienenen, umfangreichen und nur in Schüben und im Verborgenen rezipierten Werkes von Masing noch eine definitive Gesamtbewertung des Dichters, aber dass er einer der Gestalter des »Geistes von Tartu« war und als solcher eine wichtige Rolle bei der Erneuerung der Literatur in den 1960er-Jahren spielte, ist unumstritten. Ein anderer und für die estnische Lyrikgeschichte wichtigerer Mann im Hintergrund war Artur Alliksaar. Er war 1923 in Tartu geboren und gehörte damit der Generation von Ain Kaalep, Jaan Kross und Ellen Niit an. Seine ersten Gedichte sind, angeregt von den Arbujad (vgl. § 34), in der Gymnasialzeit entstanden. Dann kam der Zweite Weltkrieg und wirbelte das Leben auch dieses heranwachsenden Dichters durcheinander: 1941 eingetreten in die deutsche Wehrmacht, verschlug es ihn an verschiedene Frontabschnitte, nach dem Krieg war er zeitweilig bei den Waldbrüdern untergetaucht. Da-

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nach arbeitete er einige Jahre bei der Eisenbahn, bis er 1949 inhaftiert wurde. Es folgten Haft und Verbannung. 1958 kam Alliksaar – illegal – nach Tartu zurück, wo er sich u.a. als Transportarbeiter in einer Brauerei durchschlug sowie dichtete und übersetzte. Veröffentlichen konnte er so gut wie gar nichts, 1966 starb er an Krebs, ohne eine einzige seiner Gedichtsammlungen im Druck gesehen zu haben. Artur Alliksaar hatte 1965 eine Gedichtauswahl zusammengestellt, die immerhin bis in die Besprechungen des Schriftstellerverbandes gelangte; dort wurde sie dann als zu radikal und zu gefährlich abgelehnt. Erst 1968 konnte eine erste Sammlung von ihm erscheinen, der bald weitere folgten, wobei es sich immer nur um Auswahlen handelte. Eine erste, annähernd vollständige Sammlung ist erst 1997 erschienen, aber auch hier ist in editorischer Hinsicht noch lange nicht das letzte Wort gesprochen. Alliksaar hat seine Gedichte in Cafés und an öffentlichen Orten deklamiert, und hiervon zirkulierten Abschriften, die der Dichter dann gelegentlich autorisierte, so dass die Manuskriptlage unübersichtlich ist. Im Unterschied zu Masing ist der Umfang viel kleiner, außerdem beschränkte sich Alliksaar auf eine einzige Sache: Dichtung. Das war das Einzige, was ihn interessierte, und das wollte er auch der Jugend vermitteln, mit der er sich traf: Paul-Eerik Rummo, Andres Ehin, Jaan Kaplinski, Viivi Luik, Aleksander Suuman – sie alle haben Alliksaars Gedichte verschlungen, sich von ihnen inspirieren lassen, sie bewundert. Ein Teil dieser Dichtung setzte sich so deutlich von allem bisher Dagewesenen ab, dass man unweigerlich an Laaban denken musste und es völlig logisch war, warum so etwas in Sowjetestland nicht publiziert werden konnte: Das war Dekadenz, Aufwiegelung der Jugend, mitunter schmutzig, unbeugsam, satirisch, unverständlich, chaotisch, Nonsens, Surrealismus, Dada. Vor allem aber strotzte diese Dichtung von virtuosen Wortspielen und genialen Reimen und Lautkombinationen, weswegen Alliksaar mit Recht als »barocker Illusionist« (Krull 1998, 777) bezeichnet worden ist. Seine Wortkonglomerate erzeugten tatsächlich ein Feuerwerk von Assoziationen und Konnotationen, die einer einzigen großen Illusion gleichkommen. Allein die Titel einiger Gedichte mögen hiervon Zeugnis ablegen: Fragment aus der Tischrede vom Jubiläumsdiner des Schwachsinns, das veranstaltet wurde, als sich herausstellte, dass es für den Leichenschmaus noch zu früh sei; Das Konzert der Toiletten; Sonate für zwei Kanonen, kein einziges Klavier und eine beliebige Anzahl von Meinungen; Das Nichtvorhandensein könnte ja auch nichtvorhanden sein (Alliksaar 1997, 87, 89, 191, 310). Letzterer – Olematus võiks ju ka olemata olla – wurde 1968 von Paul-Eerik Rummo für die erste Sammlung als Buchtitel verwendet und schnell zu einer Redensart. Dass der Band damals erscheinen konnte, lag sicherlich am Tod des Autors, wahrscheinlich aber auch

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an dem offenkundig günstigen Klima in der Zensur. Denn das Titelgedicht enthält drei Schlusszeilen, deren politische Implikation unüberschaubar ist und die aphoristischen Wert annimmt: Merkt euch: / Die Menschennatur sollte hin und wieder ihre Haltung / verändern, denn wer sich lange krümmt, / kann sich später auch auf Befehl nicht mehr strecken. (Alliksaar 1997, 88) Aber diese erste Sammlung wartete auch mit einem ganz anderen, dem zweiten Alliksaar auf, der sich in der Tradition der Arbujad sieht und in gestochen scharfen Reimen philosophiert. Das Eröffnungsgedicht des Bandes ist schnell berühmt geworden: Aeg Ei ole paremaid, halvemaid aegu. On ainult hetk, milles viibime praegu. Mis kord on alanud, lõppu sel pole. Kestma jääb kaunis, kestma jääb kole. Ei ole süngeid, ei naljakaid aegu. Võrdsed on hetked, kõik nad on praegu. Elul on tung kanda edasi elu, jällegi Kroonos et saaks mõne lelu. Ei ole möödund või tulevaid aegu. On ainult nüüd ja on ainult praegu. Säilib, mis sattunud hetkede sattu. Ainuski silmapilk teisest ei kattu. Ei ole mõttetult elatud aegu. Mõte ei pruugigi selguda praegu. Vähemat, rohkemat olla ei võinuks. Parajal määral saab elu meilt lõivuks. Ei ole kaduvaid, kõduvaid aegu. Alles jääb hetk, milles asume praegu. Aeg, mis on tekkinud, enam ei haju, kui seda jäävust ka meeled ei taju. (Alliksaar 1997, 407; Die Zeit // Es gibt keine besseren, schlechteren Zeiten. / Es gibt nur den Moment, in dem wir uns gerade befinden. / Was einmal begonnen ist, das hat kein Ende. / Es bleibt das Schöne, es bleibt das Schreckliche. // Es gibt keine düsteren, keine spaßigen Zeiten. / Gleichwertig sind die Momente, sie alle sind jetzt. / Das Leben hat den Drang, das Leben weiterzutragen, / damit Chronos wieder ein Spielzeug bekommt. // Es gibt keine vergangenen oder künftigen Zeiten. / Es gibt nur jetzt und es gibt nur gerade eben. / Es wird bewahrt, was in den Regen der Momente geraten ist. / Kein einziger Augenblick deckt sich mit einem andern. // Es gibt keine sinnlos gelebten Zeiten. / Der Sinn braucht im Moment gar nicht deutlich zu werden. / Weniger, mehr hätte es nicht sein kön-

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nen. / In passender Menge erhält das Leben von uns einen Sinn. // Es gibt keine verschwindenden, vermodernden Zeiten. / Es bleibt der Moment, in dem wir uns gerade befinden. / Zeit, die entstanden ist, löst sich nicht mehr auf, / auch wenn die Sinne diese Konstanz nicht begreifen.)

Hier kann man eine inhaltliche Parallele zum Exildichter Karl Ristikivi sehen: Dort war von den »grenzenlosen Speichern der Zeit« die Rede (vgl. § 39), hier löst sich die Zeit, die entstanden ist, nicht mehr auf. Die Gedichte sind vermutlich in keinem großen zeitlichen Abstand voneinander entstanden und zeigen auf ihre eigene Weise, dass die Macht des Eisernen Vorhangs ihre Grenzen hatte. Alliksaars Dichtung ließ sich davon am allerwenigsten beeindrucken und sorgte dafür, dass man den Vorhang für einen Moment vergessen konnte. Das Genie der 1970er-Jahre Alliksaars Dichtung ist zu bruchstückhaft und mit zu großer Verspätung rezipiert worden, als dass sie einen klaren Einschnitt in der estnischen Lyrikgeschichte hätte bedeuten können, der dann als Modernisierungsschub bezeichnet worden wäre. Einen solchen Bruch, eine Revolution der poetischen Sprache kann man in der Dichtung von Juhan Viiding sehen, der zur auffälligsten jungen Dichterpersönlichkeit der 1970er-Jahre wurde. Er war 1948 in Tallinn geboren und lernte nach dem Abitur Schauspiel am Tallinner Konservatorium. Ab 1972 war er Schauspieler am Tallinner Dramatheater, bald versuchte er sich auch als Regisseur, Drehbuchautor und Kabarettist. Er hatte eine Vorliebe für das Absurde Theater und für die Verbindung von Musik und Wortkunst, deren Symbiose er in seinen Bühnenprogrammen verwirklichte. Hier trug er unter Klavierbegleitung seine eigenen Texte vor. Damit erlangte er auch außerhalb Estlands Bekanntheit, zum Beispiel in Finnland, wo er viele Freunde hatte und wo 1988 ein Band mit Übersetzungen seiner Gedichte herauskam, aber auch in Berlin, wo er im September 1992 mit dem Programm Öötöö (Nachtarbeit) auftrat. 1995 setzte er seinem Leben ein Ende. Viidings Debüt erfolgte in Schüben: 1968 wurden 15 Exemplare eines Blockbuchs hergestellt, dessen Holzschnitte sein Onkel Märt Laarman angefertigt hatte. Sie enthalten den Text Realistliku ingli laul (Lied des realistischen Engels), der aufgrund seiner geringen Verbreitung aber praktisch unbekannt geblieben ist und erst in der Gesamtausgabe der Gedichte von 1998 erneut gedruckt worden ist. 1971 erschien der Sammelband Närvitrükk (Nervendruck) mit vier Dichtern, deren einer Jüri Üdi – unter diesem Pseudonym publizierte Viiding seine ersten vier Bücher – war. Auch die anderen drei in

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diesem Band vertretenen Dichter wurden wichtig für die estnische Literatur: Toomas Liiv als ein konsequenter Vertreter des freien Verses, mehr noch als Kritiker und Literaturwissenschaftler; Johnny B. Isotamm als aufmüpfiger Querdenker, der in ständigem Konflikt mit der Obrigkeit stand; Joel Sang als Übersetzer, Kritiker, Redakteur und Verleger, dessen dichterische Aktivität bald in den Hintergrund trat. Niemand von ihnen erzeugte indes eine solche Wirkung wie Jüri Üdi, dessen selbstständiges Buchdebüt im gleichen Jahr erfolgte. Die ersten vier Bücher kamen in rascher Folge und begeisterten und erstaunten das Publikum gleichermaßen: Das »echte« Buchdebüt war Detsember (Dezember, 1971), gefolgt von Käekäik (Befinden, 1973), Selges eesti keeles (In klarem Estnisch, 1974) und Armastuskirjad (Liebesbriefe, 1975). Alle diese Bände machten deutlich, dass »das Auszudrückende – und nicht die Mittel des Ausdrucks – aus der Sprache selbst geschöpft werden« (Krull 1998a, 587). Sprache ist hier nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Das bedeutete jedoch nicht, dass es sich um gegenstandslose oder dadaistische Dichtung gehandelt hätte, wenngleich Anklänge daran spürbar sind und die Freude an Klangspielen und eigenwilligen Neologismen unverkennbar ist. Es bedeutete im Prinzip nur eine konsequente Konzentration auf das Medium Sprache selbst und eine Verabschiedung von poetischen Traditionen. Das erschwert teilweise das Lesen, sorgt aber immer wieder für Überraschungen, Einsichten und Aha-Erlebnisse. Dabei ist die Dichtung gleichzeitig humorvoll und beklemmend, satirisch und todernst. Seismographisch registrierte der Dichter die gesellschaftlichen Veränderungen und reagierte auf sie, auch wenn Tagespolitik an sich nicht sein Geschäft war. Aber in vielen Gedichten schwang eine Sorge mit, die man als politisch bezeichnen könnte. 1978 verabschiedete Viiding sich in der Sammlung Ma olin Jüri Üdi (Ich war Jüri Üdi) von seinem Pseudonym, und auch seine beiden folgenden und letzten Bände veröffentlichte er unter eigenem Namen: Elulootus (Lebenshoffnung bzw. Biographielosigkeit – das Wort ist ambig, 1980) und Tänan ja palun (Danke und bitte, 1983). Manche haben auch in der Dichtung einen anderen Stil feststellen wollen und von zwei verschiedenen Dichtern oder einem Dichter mit zwei verschiedenen Persönlichkeiten gesprochen, aber die Übereinstimmungen und die Wiedererkennbarkeit scheinen doch Oberhand zu behalten. Die Ironie ist vielleicht etwas in den Hintergrund getreten zugunsten ethischer und philosophischer Neigungen, aber der Dichter ist immer noch der singende Gaukler, dessen Wortreihen häufig ohne Satzzeichen präsentiert werden und viele Interpretationsmöglichkeiten offen lassen. Aber es gibt auch Formgebundenes, Gereimtes und drei in den Volksmund übergegangene Haikus:

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Juhan Viiding als Hamlet

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kivilinna aikud Jaapan on kaugel eesti on kaugemal veel ütlevad tuuled kirjutan vähe hiljem valin ma välja mida ma näitan vaatasin palju hiljem valiti välja mida ma nägin (Üdi/Viiding 1998, 359; Haikus aus der Stadt aus Stein // Japan ist weit weg / Estland ist noch weiter weg / sagen die Winde // ich schreibe wenig / später wähle ich aus / was ich zeige // ich schaute viel / später wurde ausgewählt / was ich sah).

So ein Gedicht ruft erst einmal ein kopfschüttelndes Schmunzeln hervor. Was hat Japan hier zu suchen, abgesehen davon, dass es die Form vorgab? Dann begreift man, dass auch hier bei aller vermeintlichen Absurdität eine ebenso philosophische wie politische Botschaft verpackt ist. Obwohl in Estland und auf Estnisch geschrieben, ist Estland – d. h. wir selbst, aber auch das Land, das freie Land (?) – weiter weg als das fernöstliche Land. Auf Fremdbestimmung deutet die vorletzte Zeile hin: Wer nimmt hier die Auswahl vor? Und wird das ausgewählt, was der Autor gesehen hat, oder wird von der auswählenden Instanz beschlossen, was der Autor gesehen hat oder gesehen haben sollte? Viidings Texte sind häufig auf den ersten Blick scheinbar klar und deutlich, und erst der zweite und dritte Blick eröffnen die Tiefen seiner Gedankenwelt und seiner Sprache. Mit seinen ca. 500 Gedichten schuf der Dichter ein Gesamtwerk, das noch lange in der estnischen Lyrik nachhallte und bis heute aktuell ist. An der Wende zu den 1980ern Juhan Viiding, der zwei Jahre jünger als Viivi Luik war und fast noch zur Kassettengeneration gerechnet werden kann, markierte eine Art Abschluss und den Übergang in eine neue Phase. Die 1970er-Jahre werden einerseits als sehr »lyrikfreundlich« (Vulf 2002, 285) erinnert, was daran liegt, dass die oben erwähnten Newcomer der 1960er-Jahre weiterdichteten und regelmäßig neue Dichterinnen und Dichter hinzukamen; andererseits veränderte sich die Rolle der Dichtung innerhalb der Gesellschaft, da sich erstens die Zensur anders verhielt und Depression und Stagnation Raum griffen und zweitens die Prosa stärker in den Vordergrund rückte. Außerdem geschahen die auffällige-

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ren Buchdebüts erst knapp zehn Jahre später: Ende der 1970er-Jahre erschienen die ersten Gedichtsammlungen von Doris Kareva, Ene Mihkelson und Mari Vallisoo, die alle drei bis in das 21. Jahrhundert hinein zur führenden Schicht der estnischen Lyrik gehören. Von ihnen ist die 1944 geborene Ene Mihkelson als Spätstarterin aufzufassen. Sie begann als Kritikerin und hatte nur sporadisch Gedichte publiziert, als 1978 ihre erste Sammlung, Selle talve laused (Die Sätze dieses Winters), gedruckt wurde. Danach legte sie regelmäßig weitere Bände und auch Prosawerke vor, deren Thematik sich ähnelte: Die Verwobenheit von Vergangenheit und Gegenwart, was auch das tragische Schicksal der Esten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutete, das sie am eigenen Leibe erfahren hatte: Ihre Eltern waren nach dem Zweiten Weltkrieg in den Untergrund gegangen, so dass Mihkelson zeitweise bei Pflegeeltern aufwuchs, ihr Vater kam 1953 bei einem Gefecht mit den Sondertruppen des Geheimdienstes ums Leben. Diese traumatischen Erfahrungen hat die Autorin zum Teil in ihren Romanen verarbeitet (s. § 49). Aber auch ihre Dichtung ist nicht frei von Reflexen dieser Erlebnisse. Der Ton ihrer Gedichte ist alles andere als fröhlich oder unbeschwert, er ist durchgängig ernst, kalt und dunkel, mitunter sogar schwermütig. Auch in der Form ist die Dichterin konsequent: Sie gehört zu den wenigen, die niemals Reim verwenden. Ihre Dichtung ist Verdichtung im wörtlichen Sinn: Sie zwängt eine Reihe von Bedeutungen, Emotionen und Ereignisse in einer kompakten Wortfolge zusammen, die mühsam wieder auseinandergebröselt und entziffert werden muss. An Strukturierungshilfen sind häufig nicht einmal Satzzeichen gegeben, manchmal nur Großbuchstaben. Leichte Lektüre kann man von Mihkelson nicht erwarten, »Schreiben ist ein Abenteuer in der Sprache«, hat sie einmal in einem Interview gesagt (zit. nach Jänicke 1995). Das Lesen ihrer Texte folglich nicht minder. Im selben Jahr wie Ene Mihkelson debütierte mit Doris Kareva eine Dichterin, die schnell populär wurde und Ende des 20. Jahrhunderts, als gerade einmal 40-Jährige, bereits zur »klassischen« estnischen Lyrik gezählt wurde. Doris Kareva ist 1958 in Tallinn geboren und studierte in Tartu von 1977 bis 1983 Anglistik, anschließend war sie Redakteurin bei einer Kulturzeitung, seit 1992 ist sie Generalsekretärin der estnischen UNESCO-Kommission in Tallinn. Nach ihrem Erstling Päevapildid (Tagesbilder) kamen in kurzen Abständen die folgenden Bände heraus: Ööpildid (Nachtbilder, 1980), Puudutus (Berührung, 1981), Salateadvus (Geheimes Bewusstsein, 1983) und Vari ja viiv (Schatten und Strich, 1986). Karevas Dichtung ist insofern »klassisch« zu nennen, als sie gefühlsbetont ist und zahlreiche Variationen zu zwei uralten Themen der Lyrik – Liebe und

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Tod – bringt. Dabei gelingt es der Dichterin, auch diesen vermeintlich abgegriffenen Themen noch neue Seiten abzugewinnen und neue Bilder und Formulierungen zu verleihen. Ihre außergewöhnlich farbenfrohe und facettenreiche Sprache zielt auf die tiefsten menschlichen Gefühle ab. Sie ist minimalistisch, d.h. hier stimmt jedes i-Tüpfelchen, kein Vokal ist zufällig gewählt, kein Komma vergessen, keine Silbe unüberlegt niedergeschrieben, keine Entscheidung dem Zufall überlassen. Dabei kommen Wortspiele, Alliterationen, Assonanzen und Reime gleichermaßen vor. Der sorgfältige Umgang mit der Sprache ist der Dichterin eine Herzensangelegenheit. Kareva symbolisiert auch deswegen den Übergang zur jüngeren Generation, weil ihr Debütband – nach den Kassetten der 1960er-Jahre – eine Verlagsreihe eröffnete, innerhalb derer dem lyrischen Nachwuchs Publikationsmöglichkeiten geboten werden sollten. Tatsächlich folgte dem Debüt der Dichterin, die Ansporn und Ideal für eine ganze Schar noch jüngerer Autorinnen und Autoren bot, eine große Zahl von weiteren Erstlingen, die das lyrische Bild der ausgehenden Sowjetzeit und auch der Zeit danach prägten (vgl. § 48). Eines der folgenden Debüts war das von Mari Vallisoo, die 1979 mit Kallid koerad (Die lieben Hunde) an die Öffentlichkeit trat und die Sammlungen Kõnelen sinuga kevadekuul (Ich rede mit dir im Frühlingsmond, 1980), Rändlinnud kõrvaltoas (Zugvögel im Nebenraum, 1983) und Kõnelevad ja lendavad (Sie reden und fliegen, 1986) hinterherschickte. Die 1950 geborene Dichterin hält sich von jedwedem literarischen Trubel fern und lebt völlig zurückgezogen in Tartu. Dadurch wird sie viel weniger wahrgenommen als es ihrer phantasievollen, nur an der Oberfläche einfachen Dichtung angemessen wäre. Vallisoo verwendet häufig Motive aus der Folklore – aus Märchen oder dem Kalevipoeg – und weiß auf diese Weise den Alltag zu poetisieren. Das folgende Gedicht erschien 1987 erstmals in Looming, später in ihrer Sammlung Sünnisõnad ja surmasõnumid (Geburtsworte und Todesbotschaften, 1991): Lugu meie koridorist Äkki näen selgesti – kraan meie ühiskoridori seinal on täitsa viltu Imelik kuidas kaheksateistkümmend aastat ei ole märganud Või ei Valamu ise täitsa viltu seina peal Ah ei sein ikka ise Mis sa sealt saada tahadki varsti sajand ju püsitud

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Vale lõpuks seegi Maja hoopiski viltu Maa peal Ah mis Maa nii kole vildakas Eriti kui meie ühiskoridori vettpritsiva külmaveekraaniga võrrelda Võrdlengi ja võrdlen Kuni tüdrukukene Mari-Liis tuleb hüpeldes ja ümisedes Teeb kaks sõrme märjaks peseb oma tähnilist nina ja sinisilmi (Vallisoo 1991, 39; Geschichte von unserem Korridor // Plötzlich sehe ich deutlich – / der Wasserhahn an der Wand unseres Gemeinschaftskorridors / ist völlig schief / Komisch, wie / man das achtzehn Jahre lang / nicht bemerkt hat // Oder nein Der Ausguss selbst / ist völlig schief an der Wand / Ach nein die Wand selbst / Was soll man da schon erwarten / hat ja bald ein Jahrhundert auf dem Buckel // Falsch ist letztlich auch das / Das Haus steht nämlich schief / Auf der Erde Ach was / Die Erde ist so fürchterlich schief / Besonders wenn man sie mit dem / spritzenden Wasserhahn unseres Gemeinschaftskorridors vergleicht // Also vergleiche ich und vergleiche // Bis das kleine Mädchen Mari-Liis / summend und hopsend daherkommt / zwei Finger nass macht / sich ihre sommersprossige Nase wäscht / und ihre blauen Augen.)

Die erwähnten Dichterinnen und Dichter waren nur die Spitze des Eisbergs der estnischen Lyrik, die sich nach der vergleichsweise freien Entfaltung in den 1960er-Jahren einer soliden und sich kontinuierlich verbreiternden Basis erfreuen kann. Neben den Genannten debütierten in den 1970er-Jahren noch Ave Alavainu, Viiu Härm, Jaak Jõerüüt, Krista Kajar, Aivo Lõhmus, Jaan Paavle, Aino Pervik und Rein Sander, in den 1980ern beispielsweise Peep Ilmet, Andres Langemets, Eeva Park, Rein Raud oder Jüri Talvet. Einige von ihnen waren schon in den Almanachen vertreten gewesen und kamen erst wesentlich später zu einer ersten Buchveröffentlichung. Schon den Übergang zu den 1990er-Jahren markieren dann die Debüts aus der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre: Tõnu Õnnepalu, Priidu Beier – er war allerdings schon in den 1970er-Jahren in Erscheinung getreten und konnte infolge politischer Widerstände erst spät in Buchform debütieren (s. § 49) –, Kalev Kesküla, Aita Kivi, Hasso Krull, Kauksi Ülle oder Indrek Hirv. Die Neuaufnahme der Kassettentradition Ende der 1980er-Jahre fällt dann gänzlich in eine neue Zeit (s. § 48).

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§ 44 Theater – absurdes und klassisches Befreiung vom Agitproptheater Dem Theater kommt in totalitären und geschlossenen Gesellschaften eine besondere Rolle zu, weil es für die verschiedensten Zwecke eingesetzt werden kann: Die neuen Machthaber probierten, es vor ihren Karren zu spannen, weil auf diesem Wege die Einführung eines neuen Systems und die Schaffung eines neuen Bewusstseins effektiver vorangetrieben werden konnte; oppositionelle Kräfte konnten versuchen, die weniger stark ausgeprägte Gebundenheit an das gedruckte Wort in ihrem Sinne nutzbar zu machen; zwischen diesen beiden Extremen konnte der Wunsch, den Anschluss an die Weltliteratur nicht zu verlieren, durch die Inszenierung ausländischer Klassiker befriedigt werden; ferner konnte die Rückbesinnung auf klassische Bühnenstücke der eigenen Literatur bzw. auf Bühnenfassungen klassischer Prosa die Eigenständigkeit bewahren helfen und das Gefühl nationaler Kontinuität erzeugen. Unmittelbar nach dem Krieg dominierten einigermaßen plumpe politische Stücke, wie sie reihenweise von August Jakobson und einigen anderen verfasst wurden (s. § 38). Ihre Fortsetzung fand diese Strömung in den Dramen von Egon Rannet, der in den 1950er- und 1960er-Jahren sieben Schauspiele verfasste, die sich zwar von einigen stalinistischen Stereotypen gelöst hatten, in ihrem Grundtenor aber systemkonform blieben. Immerhin gelang es ihm, in Südamevalu (Herzschmerz, 1957) die Probleme, die im Zusammenhang mit der Kollektivierung der Landwirtschaft entstanden waren, mehr oder weniger wahrheitsgetreu auf die Bühne zu bringen. Die Uraufführung fand 1956 statt, im gleichen Jahr, als Sirges Roman Maa ja rahvas erschienen war (s. § 41), dessen Bühnenversion unterdrückt worden war (Tonts 1994). Rannets erfolgreichstes Stück wurde Kadunud poeg (1958; dt. Der verlorene Sohn, 1959), das auf 200 Bühnen – vornehmlich in der Sowjetunion, aber auch im sozialistischen Ausland – gelangte. Nach seiner deutschen Erstaufführung in Görlitz wurde es noch in zehn anderen Theatern der DDR gespielt (Burmeister 1990, 65). Der »verlorene Sohn« ist ein vermeintlicher Kriegsheimkehrer aus Sibirien, der sich als aus dem Westen eingeschleuster Spion entpuppt. Während seiner Mission in Estland werden ihm jedoch die Augen geöffnet, und er wechselt die Seiten. Als sein Gruppenführer, ein in Estland gebliebener Widerstandskämpfer, das erfährt, erschießt er ihn, so dass der verlorene Sohn den Heldentod stirbt. Die spätere Literaturgeschichtsschreibung hat Rannets Stücke verglichen mit Seifenopern in einer Zeit, in der es diese im Fernsehen noch nicht gab (Epp Annus et al. 2001, 524).

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Mit Juhan Smuuls (vgl. §§ 38, 40) Hinwendung zur Dramatik verabschiedeten sich die Bühnen vom Agitproptheater. Smuul schrieb flotte Volksstücke, bei denen die politische Intention von untergeordneter Bedeutung war. Im Mittelpunkt steht hier immer der Mensch, Zielscheibe der Kritik ist beispielsweise die Bürokratie – in seinem Erstling Atlandi ookean (Der Atlantische Ozean, 1957) – oder die Religion wie in Lea (1960), das sein einziges Schauspiel ist, das nach allen Regeln der Kunst abgefasst und streng in der Form ist. Der Dreiakter spielt 1941 während des Wechsels vom ersten Jahr der sowjetischen Okkupation zur deutschen Besatzung auf Saaremaa. Lea wurde von ihrem aus reicherem Hause stammenden Geliebten, der auf die Ablösung der roten Macht durch die Deutschen wartet, zugunsten einer besseren Partie verlassen. Dadurch erlebte sie eine Erweckung und schließt sich der Pfingstgemeinde an, die sich immer in ihrem Haus versammelt hatte und der ihre Mutter schon lange angehörte. Als die Nazis die Macht in den Händen haben, ist Leas einstiger Geliebter zum mächtigen Mann im Dorf geworden, der mit den Kommunisten abrechnet. Nur einen Letzten findet er nicht, einen alten Verehrer von Lea, der nun tatsächlich von ihr versteckt wird. Sie versucht ihn zum Glauben zu bekehren, er versucht sie von seiner Liebe zu überzeugen. Am Ende wird er von einer Betschwester verraten, und als er im Handgemenge erschossen wird, fällt Lea vom Glauben ab. Smuuls Stück hat zwar eine durchsichtige und plakative Aussage, ist aber dennoch nicht der hausbackenen Schwarzweißmalerei zuzurechnen, da es Differenzierungen gibt: Immerhin war es ursprünglich der feste Glaube an Gott, der Mutter und Tochter veranlasst hatte, den Kommunisten zu beschützen. Die weiteren Stücke von Smuul haben eine weniger starke politische Intention und waren volkstümliche humanistische Komödien, die als solche nach der politischen Verkrampftheit erfrischend wirkten und für ein Aufatmen im Theatersaal sorgten. Kihnu Jõnn ehk Metskapten (1965; dt. Der wilde Kapitän, 1967) spielt im 19. Jahrhundert, im Zentrum steht eine aus der Volksüberlieferung bekannte historische Person. Das handlungsarme Stück schöpft seine Kraft aus den schillernden Charakterzeichnungen und verdankt seine Popularität den Musikeinlagen und Anekdoten sowie der Betonung der humanen Komponente, die man auch als Kritik an der zaristischen und damit letztlich sowjetischen Bürokratie lesen kann. Das Stück wurde 1968 auch am Maxim-Gorki-Theater in Berlin aufgeführt und begeistert rezensiert. Polkovniku lesk ehk Arstid ei tea midagi (Die Witwe des Obersten oder Die Ärzte wissen nichts, 1965) ist eine Satire auf die menschliche Dummheit, Enne kui saabuvad rebased (Pingviinide elu) (Bevor die Füchse kommen (Das Leben der Pinguine), 1969) eine Allegorie über die Abstrusi-

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täten der Gegenwart: Hier diskutieren in einem Nachtclub die Pinguine die bevorstehende Ankunft der Polarfüchse. Ein dritter produktiver Bühnenautor in den 1950er-Jahren war Ardi Liives. Er debütierte bereits Ende der 1940er-Jahre und hat ca. dreißig Stücke abgefasst, bei denen es sich ausnahmslos um Vertreter des Alltagsrealismus, wie er auch in der Prosa eine breite Strömung darstellte (vgl. § 41), handelte. Liives’ Stücke spielen meistens in Kreisen der niedrigeren Intelligenz in der Stadt und handeln von kleinen Leuten; sie sind ausschließlich in der Gegenwart angesiedelt und ähneln sich teilweise sehr in ihrem Strickmuster, so dass die Kritik bald auf ihre Oberflächlichkeit hinwies und sich beeilte anzumerken, dass hier nur die Rede von mittelmäßigen Werken sei (Mutt 1979, 457). Das schließt freilich nicht aus, dass sie beliebt waren und sogar auf ausländische Bühnen gelangten, besonders in den 1960er-Jahren, in denen sich Liives den von anderen in Estland initiierten Erneuerungen des Theaters anschloss. Darüber hinaus schrieb er zahlreiche Hörspiele, von denen gleichfalls einige in fremde Sprachen übersetzt worden sind. Eine Belebung des Theaters fand auch durch die Aufnahme ausländischer Stücke ins Repertoire statt. 1958 erfolgte die erste Brecht-Inszenierung (Herr Puntila und sein Knecht Matti) von Voldemar Panso, der bald zu einer der zentralen Figuren der Theatererneuerung wurde. Brecht war unter Stalin nicht wohl gelitten und konnte nun allmählich als Gegenkonzept zu der immer noch alles beherrschenden Stanislavskij-Schule eingesetzt werden. Einige Jahre später stellten sich dann die Vorboten eines neuen Theaters ein: 1966 erfolgte im Fernsehen die erste Aufführung eines Stücks von Slawomir Mroz˙ek (Eine wundersame Nacht), und von Peter Weiss wurde eine Übersetzung von Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats publiziert. Im folgenden Jahr kam im Fernsehen eine Inszenierung von Beckett (Krapp’s last tape), 1967 erschienen Tango von Mro˙zek sowie Les rhinocéros von Ionesco, Mikk Mikiver inszenierte die Antigone von Anouilh, bald folgten Pinter und Handke (s. Epner 1998). Damit waren die Fesseln des muffigen Sozialismus weitgehend abgestreift. Gleichzeitig wurden die estnischen Klassiker wieder aufgenommen und neu interpretiert. Insbesondere Mikivers Inszenierung von Kitzbergs Libahunt (vgl. § 27) erregte Aufsehen und wurde als estnische Version der Antigone angesehen (Epner 1999, 338). Ebenso sorgte 1969 eine auf Kitzberg beruhende Inszenierung des jungen Regisseurs Jaan Tooming für Aufsehen, ferner wurden viele andere klassische Texte wiederholt auf die Bühne gebracht. Sie fungierten als wichtiges Mittel zu Wahrung der eigenen Identität (vgl. Kruuspere 1999a).

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Absurde Vorstöße Parallel dazu – und unabhängig davon – entstanden estnische Bühnentexte, die mehr oder weniger direkt mit dem absurden Theater in Verbindung zu bringen sind. Als Pionier auf diesem Gebiet kann Heino Mikiver angesehen werden, von dem allerdings keine gedruckten Texte bewahrt sind und der in der estnischen Literaturgeschichte deswegen bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist. Eher war er bekannt wegen seines Aufenthalts in Finnland während des Zweiten Weltkriegs und eines spektakulären Fluchtversuchs von 1947, der ihm eine lange Haftzeit in Sibirien einbrockte. Heino Mikiver war ein bildender Künstler, der sich auch mit Jazzmusik befasste und bereits in seiner Jugend gemeinsam mit Ilmar Laaban in einem Jazzorchester gespielt hatte. Im Gefangenenlager in Sibirien organisierte er dann ein Jazzorchester und konnte sich so der Arbeit im Steinbruch entziehen. 1955 durfte er nach Estland zurückkehren, wo er 1962 am Kunstinstitut in Tallinn eine Theatergruppe gründete, für deren Aufführungen er selbst Texte und Musik verfasste. Mittlerweile sind zwölf Manuskripte von ihm bekannt, von denen das erste neben der Datierung »1961« auch die Jahreszahl »1946« aufweist, wenngleich die meisten in den Zeitraum 1961–1968 fallen (Lapin 2005, 2236). Mikivers Notierung der Jahreszahl 1946 für das erste Stück beweist wieder einmal, dass der viel zitierte Eiserne Vorhang keineswegs für eine totale Zweiteilung gesorgt hatte, sondern dass gewisse Entwicklungen parallel verliefen, denn im gleichen Jahr erschien in Schweden Laabans erste surrealistische Gedichtsammlung (vgl. § 39). Heino Mikivers Theaterabende der 1960er-Jahre, bei denen ein Großteil aus Improvisation bestand, wurden ausgesprochen populär. Sie waren zwar stadtbekannt, aber als geschlossene Veranstaltungen des Kunstinstituts organisiert, so dass den Behörden nur die Möglichkeit blieb, im Nachhinein aktiv zu werden und gegebenenfalls die Institutsleitung zur Rechenschaft zu ziehen. Inhaltlich gesprochen handelte es sich also um eine Nachzensur, keine Vorzensur. Der Künstler Leonhard Lapin, der an den Aufführungen beteiligt war, erinnerte sich später: »Wir sind auch über Land gezogen und haben Gastspiele gegeben, in Schulen und Kolchosen, immer recht kurze Stücke mit viel Improvisation. Das Publikum war begeistert. Wir spielten auch in diesen Fällen im Rahmen einer Konzertveranstaltung – das war unsere Tarnung sozusagen. Das absurde Theater war die einzige Möglichkeit, die sowjetischen Zustände zu kritisieren, und Mikivers Texte markieren den Anfang des absurden Theaters in Estland.« (Lapin 2003a, 25). Den gedruckten Anfang des absurden Theaters in Estland markierte Alliksaars Nimetu saar (Die namenlose Insel, 1966), das gleichzeitig der einzige

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zu Lebzeiten des Autors publizierte Text blieb. Auf die Bühne gebracht wurde er damals jedoch nicht, das geschah erst 1987 von einem Studententheater (Sarapik 2002a, 226). Das Stück eignet sich besser als Lesestück, es ist wie Ristikivis Imede saar (vgl. § 39) eine Antiutopie, die auf einem Schiff und auf einer Insel spielt, die am Ende beide im Meer versinken. Wie einerseits bei Alliksaar üblich und andererseits für das absurde Theater charakteristisch, steht hier auch das Vergnügen an der Sprache im Vordergrund, darüber hinaus geht es um das Schicksal eines totalitären Staates, generell aller totalitären Systeme oder sogar der Zivilisation schlechthin, wie George Kurman feststellte: Er sah Parallelen zu Oswald Spengler und den Katastrophen des 20. Jahrhunderts wie dem Untergang der Titanic oder dem Ersten Weltkrieg (Kurman 1986, 315). Hinzuzufügen wären hier noch der Zweite Weltkrieg und die Erfahrung des Totalitarismus, die das genannte Jahrhundert, in dem Alliksaars Stück laut Regieanweisung spielt, wahrlich in einem düsteren Licht erscheinen lassen. Den inszenierten Anfang des estnischen absurden Theaters kann man auf das folgende Jahr ansetzen, als Ain Kaaleps Iidamast ja Aadamast ehk Antimantikulaator (Von Idam und Adam oder Der Antimantikulator, 1967, erschienen 1969 in der Zeitschrift Mana) in Tartu auf die Bühne kam. Das Stück ist vor dem Hintergrund der in den 1960er-Jahren aktuellen Diskussion um die Technisierung der Welt (Homo sapiens vs. Homo faber) zu sehen. IDAM steht für International Detailed Ape Model, während mit Adam natürlich der alttestamentarische erste Mensch bezeichnet wird (zusätzlich ist Iidamast ja Aadamast eine estnische Redensart und bedeutet ›seit Menschengedenken‹). Ebenso ist das Drama eine antiutopistische Allegorie auf den Totalitarismus und eine enthumanisierte Welt im Stile eines Aldous Huxley oder George Orwell. Die Personen in dem Drama heißen unabhängig vom Geschlecht alle Idam und haben eine Nummer sowie eine bestimmte Kategorie A, B oder C, sie tragen Affenmasken und müssen sich diese vom Gesicht nehmen, sobald sie in der »lexikalischen Sprache« kommunizieren wollen, denn im Normalfall brummen sie nur nach Affenart oder tauschen Informationen anhand von mathematischen Formeln aus, die ein Computer generiert. An einen Computer kann man sich mit dem gerade entwickelten Antimantikulator anschließen, der »Macht und Kraft, Wahrheit und Recht, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit [ist], wenn er sich nur in den richtigen Händen befindet, und diese richtigen Hände auszuwählen ist die Angelegenheit aller.« (Kaalep 1969, 30). Damit handelt es sich hierbei um so etwas wie eine moderne Form des Sampo, jener nicht näher beschriebenen Wundermühle aus dem finnischen Kalevala, die der Menschheit Glück bereiten kann und deswegen heftig

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umkämpft ist. Kaaleps Antimantikulator ist für die Klassifizierung der Affenmenschen verantwortlich und muss dafür sorgen, dass Ausbruchsversuche aus der Affenwelt – etwa in Gestalt der Verwendung bildreicher Sprache oder des Empfindens von ästhetischem Genuss beim Betrachten von Kunstwerken – ausbleiben bzw. nötigenfalls geahndet werden. Es gibt aber Ausbruchsversuche und einen gesellschaftlichen Außenseiter wie Hamlet, der als Tankwart geduldet wird und nicht einmal eine Idam-Nummer hat. Das totalitäre Regime obsiegt zwar, wenn es um das Aufspüren der Abweichler geht, erweist sich in der versöhnlichen Schlussszene aber als human und hat entsprechende menschliche Neigungen, so dass der Versuch, die Menschheit zur Affenheit umzuformen, als gescheitert betrachtet wird: Idam 991-A-13, der laut Personenliste auch als Lucifer und Hauptpsychologe des Vulkanologielaboratoriums bezeichnet wird, zieht sich durch ein Loch im Boden mit dem Versprechen »Nächstes Mal machen wir’s besser« in die Hölle zurück. Das Stück ist gespickt mit geistreichen Dialogen und grotesken Formulierungen, so dass es sich nahtlos in das internationale absurde Theater der Zeit einpasste. Gleichzeitig ist es ein offenkundig antitotalitaristisches Drama, in dem beispielsweise eine offiziell als »psychotechnischer Kontrolleur« bezeichnete Person später unumwunden als »Spitzel« bezeichnet wird; sein Erscheinen auf der Bühne des Tartuer Theaters anno 1967 ist ein erneuter Beweis für die damalige Lockerung der Zensur. Das zweite für die Erneuerung des estnischen Theaters wichtige Stück war Phaeton, Päikese poeg (Phaeton, Sohn der Sonne, 1968) von Mati Unt, der sich zu jenem Zeitpunkt bereits als aufsteigender Stern am Prosahimmel einen Namen gemacht hatte (vgl. § 45). Unt war damals am Tartuer VanemuineTheater Assistent von Kaarel Ird, der neben Voldemar Panso einer der wichtigsten Neugestalter des estnischen Theaters war, und führte bei seinem Stück selbst mit Regie. Dabei war die Einführung Brecht’scher Regietechniken, die einen direkteren Kontakt mit dem Publikum erzeugten, ein Novum auf der estnischen Bühne. Unt verwendet in dem Drama den bekannten griechischen Sagenstoff, verfremdet ihn leicht und führt am Ende eine entscheidende Änderung durch. Während im klassischen Mythos Phaeton das Lenken des Sonnenwagens nicht gelingt und er dadurch eine Katastrophe herbeiführt, wird er in Unts Drama vom Todesgott Hades mit den Worten »Wenn der Zufall nicht funktioniert, muss ich den Zufall vertreten« mit einem Blitzpfeil abgeschossen. Kurz zuvor hatte Phaeton aus dem Himmel noch mitgeteilt, dass er nach anfänglichen Schwierigkeiten den Wagen gut im Griff habe und man sich keine Sorgen zu machen brauche. Damit ist die Botschaft umgekehrt: Im griechischen Mythos ist es die Hybris der Jugend, die ins Unglück führt, bei Unt ist es der Starrsinn der Alten, der das Unglück herbeiführt. So ist das

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Drama eine direkte Stellungnahme zum Generationenkonflikt, der in den 1960er-Jahren eben auch in Estland besonders stark thematisiert wurde. Stärker als das Absurde stand hier das Politische im Vordergrund, zumal das Ende eine direkte Persiflage auf sowjetische Zustände ist: Da erklingt die Stimme von Zeus, der alle anwesenden Götter zum Bleiben auffordert, da man in einer gemeinsamen Beratung einige Fragen zu klären habe. Erstens das Verhalten von Helios, zweitens das Verhalten von Eos, die Phaeton Zugang zum Palast verschafft hatte und dadurch ihren Status als Göttin eingebüßt hatte, drittens die Frage der Konstruktion eines neuen Sonnenwagens. Denn: »Das Volk braucht eine neue Sonne« – dies ist der Schlusssatz des Dramas. Aschenputtel anders Das bedeutendste estnische Drama aus dieser Periode, das als einziges auch über die Grenzen Estlands hinaus bekannt geworden ist, war das Tuhkatriinumäng (1969; dt. Das Spiel vom Aschenputtel, 1993) von Paul-Eerik Rummo. Das Drama war 1967 fertig geworden und sollte 1968 inszeniert werden, doch blieb es für einige Zeit in der Zensur stecken. Dies führte zu massiven Studentenprotesten und einem monatelangen Tauziehen zwischen den konservativen und den innovativen Strömungen innerhalb der Partei, so dass man den Wirbel um das Schauspiel als zentrales Ereignis des »Tartuer Herbstes« von 1968 bezeichnen kann (Lauristin 2002, 92). Als die Uraufführung unter der Regie von Evald Hermaküla – ein weiterer wichtiger Erneuerer des estnischen Theaters, der anders als Panso und Ird aber zur gleichen Generation wie die jungen Bühnenautoren oder sein Kollege Jaan Tooming zählte – am 19. Februar 1969 im Vanemuine-Theater endlich erfolgt war, hatte ein neues Kapitel in der estnischen Theatergeschichte begonnen. Im selben Jahr konnte der Text im Druck erscheinen, nachdem die Zensurbehörde ihre Erlaubnis von der Genehmigung der Theateraufführung abhängig gemacht hatte. Dabei war ursprünglich die Herausgabe von drei Stücken von Rummo geplant, aber die beiden anderen Stücke erwiesen sich für die Zensur als zu unverdaulich (Hiedel 1995, 84). Pseudopus – eine absurde Variante des Ödipusstoffes – und Kotkast-Prometheust (Vom Adler und Prometheus) – eine groteske Bearbeitung des Prometheus-Stoffes – konnten erst 1980 in Looming erscheinen. Das Spiel vom Aschenputtel basiert auf dem bekannten Märchenstoff, wendet die moralisierende Aussage des ursprünglichen Märchens jedoch ins Absurde. Dies wird durch die Anordnung der Handlung unterstrichen, die im ersten Bild dort beginnt, wo das Märchen aufhört. Der Prinz findet sich neun Jahre nach seiner Hochzeit mit Aschenputtel bzw. mit der Frau, die er

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für sie hielt, bei Aschenputtel ein und sucht seine richtige Braut. Das tut er selbstverständlich mit Hilfe eines Schuhs, doch passt dieser Aschenputtel nicht. Wie sich im fünften Bild herausstellt, ist es gar nicht der richtige Schuh. In den folgenden Szenen trifft der Prinz auf der Suche nach der Wahrheit auf verschiedene Personen, mit deren Hilfe er zwar einiges über die Ordnung bzw. eher Unordnung der Welt erfährt, die Wahrheit allerdings nicht findet. Im zweiten Bild stellt sich im Gespräch mit dem Vater heraus, dass es nicht nur einen Doppelgänger, sondern viele Prinzen und viele Schlösser im Lande gibt, und dass niemand weiß, wer tatsächlich die Macht hat. Im dritten Bild ist der Prinz bei den beiden Töchtern, die er nach der Echtheit seines Aschenputtels befragt, während er gleichzeitig ihren geistigen und leiblichen Verführungen erliegt. Im vierten Bild befinden sich die Doppelgänger von Aschenputtel und dem Prinzen beim Vater, zu dem später der mittlerweile verzweifelte und verbitterte echte Prinz kommt. Das fünfte Bild löst mit dem Auftritt der im Rollstuhl sitzenden Stiefmutter das Geheimnis auf: Sie ist die Person, die alle Fäden der Macht in ihren Händen hält und mit ihnen spielt. Ihre Spielregeln sind dabei auf Zetteln fixiert, die niemand entziffern kann, so dass das Falschspiel am Ende entlarvt wird. Im sechsten und letzten Bild schließt sich der Kreis, und der Prinz, dessen Suche letztendlich erfolglos war, wird von allen verabschiedet. Wie es Unt mit dem griechischen Mythos tat, so hat auch Rummo eine entscheidende Abänderung vorgenommen, die die Aussage ins Gegenteil verkehrt: Es fehlt der gute Geist von Aschenputtels leiblicher Mutter, der im Märchen für den guten Ausgang sorgt. Hier gibt es keinen guten Ausgang, es gibt überhaupt keinen Ausweg mehr, das ewige Spiel erscheint als die einzig mögliche Form, die Absurdität der damaligen oder auch gegenwärtigen Realität erträglich zu machen. Damit gehört Rummos Stück in eine Reihe mit den klassischen Texten von Beckett, Ionesco oder Mro˙zek. Es ist eine politische Allegorie um Macht und Wahrheit, wobei als drittes Element noch die Zeit als eines der beherrschenden Themen des Stücks hinzukommt. Alle drei Themenkomplexe münden in eine düstere Einsicht – ohne Happy-End – ein: Die Wahrheit wird nicht gefunden, sie ist auf unleserlichen Zetteln verborgen, die Macht ist obskur sowie unergründlich verteilt und gesteuert; und die Zeit, d.h. jede Uhr, bleibt am Ende des Stücks stehen. Rummos Drama wurde noch in Manuskriptform in exilestnischen Kreisen rezipiert und nach seiner Uraufführung relativ schnell ins Englische übersetzt. Man hatte erkannt, dass es mit diesem Stück die Mühe wert war, den Sprung über die Sprachgrenze zu versuchen. Am 7. April 1971 fand die englische Erstaufführung im La Mama Experimental Theatre Club in New York statt, der zum Off-Off-Broadway gerechnet wird. Das Stück wurde fünfmal

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Paul-Eerik Rummo, Foto: Postimees/Scanpix

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vor ausverkauftem Haus gegeben. Wie begeistert die Truppe vom Cinderella Game gewesen ist, sieht man an einer Schauspielerin, deren Katze kurz zuvor drei Junge bekommen hatte und die sagte, sie werde ihnen die Namen Paul, Eerik und Rummo geben (Valgemäe 1995a, 21). In Estland selbst hat sich erst zehn Jahre später wieder jemand an das Stück gewagt, 1979 erfolgte eine Neuinszenierung im Pärnuer Theater. Dem gegenüber stehen noch zwei weitere ausländische Interpretationen: 1980 führte der Abschlussjahrgang der Abteilung Schauspiel des Prager Konservatoriums eine tschechische Übersetzung als Diplomarbeit auf, und bereits 1973 hatte das finnische Radio eine Hörspielversion gesendet. Damit hat Rummos Drama eine verhältnismäßig große Verbreitung erreicht – es ist das einzige in den USA übersetzte und inszenierte estnische Bühnenstück –, gleichzeitig wurde es zur Visitenkarte des estnischen absurden Theaters. Ausbruchversuche Dieses estnische absurde Theater darf man sich jedoch nicht als allzu große Strömung oder lang andauernde Phase vorstellen. Es verdankt seinen Namen beinahe ausschließlich den genannten Stücken von Kaalep, Unt und Rummo und vielleicht noch einigen oben erwähnten Inszenierungen ausländischer Klassiker. Die politische Situation war viel zu fragil, als dass sich eine ihrem Wesen nach schließlich zutiefst der sowjetischen Ideologie widersprechende Kunstströmung hätte ausbreiten können. Schon wenige Jahre später zeigte sich, dass vergleichbare Stücke weder auf die Bühne gebracht noch als Text gedruckt werden konnten. Jaan Kaplinski verfasste Anfang der 1970er-Jahre das Stück Neljakuningapäev (Vierkönigstag), worin in verfremdetem Rahmen anhand einer bekannten Episode aus der estnischen Geschichte – dem St.-Georgsnacht-Aufstand von 1343 – die Problematik der Fremdherrschaft in Estland behandelt wurde. Das Drama hatte auch absurde Züge, denn in einem Stück im Stück wurden die Darsteller der zweiten Ebene von denen der ersten ermordet, so wie es mit den vier estnischen Königen im Mittelalter wirklich geschehen war (s. Grabbi 1984). Es konnte nach langem Hin und Her erst 1977 in Tallinn inszeniert werden. Nachdem es elfmal bis zur Sommerpause aufgeführt war, wurde es in der folgenden Spielzeit nicht wieder aufgenommen. Erst zehn Jahre später wurde das Stück erneut inszeniert, als sich die politische Großwetterlage entscheidend verändert hatte. Allerdings schloss dies nach wie vor nicht aus, dass gelegentlich absurde Texte »durchrutschten« wie die erfolgreiche Inszenierung von Tõnis Rätseps und Juhan Viidings Stück Olevused (Die Wesen, 1980) bewies, worin identitätslose Wesen auf den Müllbergen der Zi-

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vilisation allerlei Gegenstände sammeln und auf diese Weise die Spielregeln der Gesellschaft sich zu eigen machen wollen. Auch Enn Vetemaa hat Anfang der 1970er-Jahre mit der Arbeit an einem Stück über die Problematik der Fremdherrschaft begonnen und dies mit Hilfe biblischen Stoffes behandeln wollen. Sein Taaniel (Daniel) wurde erst zehn Jahre später gedruckt und ist nie auf die Bühne gekommen. Ebenso sind von Arvo Valton und insbesondere Madis Kõiv, der in den 1990er-Jahren zu einem der am meisten gefeierten Bühnenautoren avancierte, bereits Ende der 1970er-Jahre Texte entstanden – und teilweise sogar wie ein gemeinsam von Kõiv und Runnel verfasstes Stück unter Pseudonym in Looming erschienen –, die erst Jahrzehnte später zur Aufführung gelangten (s. § 49). Denn die Rolle des Theaters hatte sich infolge der politischen Entliberalisierung in den 1970er-Jahren fundamental gewandelt. Die Bühne war nicht mehr der Ort des Aufbruchs, wie man es vielleicht am besten bei Unts Phaeton gesehen hatte, sondern ein Ort der Zuflucht, wo man verdeckt noch etwas, mit der Faust in der Tasche oder einem Grinsen und einer Pause an der richtigen Stelle, gegen den Strom schwimmen konnte. Dies war beispielsweise bei einer Inszenierung von Mats Traats Tants aurukatla ümber (Der Tanz um den Dampfkessel, 1973, s. § 45) der Fall, wo die als Kontrollinstanz fungierende Regieassistenz einmal »Leider viel Applaus« notierte und wozu es in einer amtlichen Beurteilung hieß, es gebe »ungesundes« Gelächter und Applaus (Kruuspere 2002, 308). Das Theater war nun ein Mittel, die bedrohte nationale Identität zu bewahren. So blieb die Bühne trotzdem der Ort, an dem man immer noch aktuelle Gegenwartsprobleme zur Sprache bringen konnte, auch wenn sie ihre führende Rolle, die sie kurzzeitig innehatte, mittlerweile an die Prosa abgegeben hatte (s. § 45). In Promets Los Caprichos (1973) wurde am Beispiel von Goya der Konflikt zwischen der Herrschaft und der Freiheit des Geistes thematisiert. Vaino Vahings Suvekool (Die Sommerschule, 1972) behandelte recht eindeutig das Aufeinanderprallen von Konformismus und Nonkonformismus, was mit dem Selbstmord eines aufs Land zurückgekehrten Sohnes endet, der sich nicht an das Kolchosleben anpassen wollte oder konnte. Eine ähnliche Thematik behandelte auch Rein Saluri in seinem Dramadebüt Külalised (Die Besucher, 1974), worin es aber mehr noch um eine Rummo vergleichbare Wahrheitssuche ging, die freilich auch bei Saluri erfolglos bleiben musste. Die Inszenierung von Saluris psychologisch ausgerichtetem Stück ist gelegentlich als »Zusammenfassung und Schlussakt der Theatererneuerung« angesehen worden (Epner 1999, 350). Einer der produktivsten und technisch versiertesten Dramenautoren in dieser Phase war Enn Vetemaa. Er begann mit dem absurde Züge aufweisen-

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den Fernsehspiel Illuminatsioonid käruvälgule ja üheksale näitlejale (pauguga lõpus) (Erleuchtungen für einen Kugelblitz und neun Schauspieler (mit einer Explosion am Schluss), 1969) und verfasste danach eine ganze Reihe von Bühnentexten, die teilweise durch Titelgebung und Figuren miteinander verbunden waren. In dem sozial-psychologischen Familiendrama Õhtusöök viiele (Abendessen für fünf, 1972) wird am Beispiel einer zerbrechenden Ehe die Doppelmoral, die für die Gesellschaft insgesamt bezeichnend ist, behandelt. Beim Aufbau des Stückes hat sich Vetemaa nach eigener Aussage von Edward Albees Who’s afraid of Virginia Woolf inspirieren lassen. Um den Streit zwischen Gut und Böse geht es in den Komödien Püha Susanna ehk Meistrite kool (Die heilige Susanna oder Die Schule der Meister, 1974), Jälle Püha Susanna ehk Armastuse kool (Wieder die heilige Susanna oder Die Schule der Liebe, 1978) und Ikka veel Püha Susanna ehk Noorpaaride kool (Immer noch die heilige Susanna oder Die Schule der jungen Paare, 1981). In Roosiaed (Der Rosengarten, 1976) zeigt der Autor, wie sich der dreißig Jahre zurückliegende Krieg bis auf den damaligen Tag auf die zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik sowie die damit verbundenen ethischen Fragen werden in Jälle häda mõistuse pärast (Wieder Probleme mit dem Verstand, 1976) erörtert. Dabei tritt auch ein Sciencefiction-Element auf den Plan: Es ist der Wissenschaft gelungen, nach dem physischen Tod die Gehirne der Menschen am Leben zu erhalten, was in den Händen der Politik die entsprechenden fatalen Folgen haben kann. Der Titel bezieht sich auf die 1824 uraufgeführte Verskomödie Gore ot uma des russischen Schriftstellers Aleksandr Griboedov, die im Deutschen unter verschiedenen Titeln, Verstand schafft Leiden, Weh’ dem Klugen und Geist bringt Kummer, erschienen ist. Die estnische Übersetzung lautet Häda mõistuse pärast, und Vetemaa hat nur das ›wieder‹ hinzugefügt. Nukumäng (Das Puppenspiel, 1980) stellt eine karrieristische Historikerin dar, die im Interesse des eigenen Vorteils nach Belieben mit ihrem Forschungsobjekt spielt wie mit Puppen, was im Allgemeinen als deutliche Gesellschaftskritik interpretiert wurde. Die Theaterstücke von Vetemaa konnten in manchen Inszenierungen zu »Ereignissen« werden, und sie haben auch eine gewisse Popularität über die Grenzen Estlands hinaus erreicht, dennoch waren sie nicht zu vergleichen mit den bahnbrechenden Werken der in den 1960er-Jahren feststellbaren Theatererneuerung.

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Vorboten einer neuen Zeit Im Laufe der 1980er-Jahre gelangten dann Werke auf die estnischen Bühnen, die man beim besten Willen nicht mehr als systemkonform interpretieren konnte. So begann Merle Karusoo ihre Serie von Lebensgeschichten der »Kleinen Leute«, die als »soziologisches Theater« bezeichnet worden ist, bereits 1980, als sie mit der Inszenierung ihres Stücks Olen kolmeteistkümne aastane (Ich bin dreizehn) an die Öffentlichkeit trat. Was Karusoo machte, war eine Theaterrevolution, die die Konventionen dermaßen sprengte, dass ihr die literaturhistorische Anerkennung lange versagt blieb. Denn es war nicht »ihr« Stück, sondern es waren auf die Bühne gebrachte konkrete und ungeschönte Lebensgeschichten von Siebtklässlern, die spontan im Zuge der Inszenierung bearbeitet und zusammengefügt waren. Karusoos Vorgehensweise war dabei soziologisch, als Materialgrundlage dienten Interviews und 500 Schüleraufsätze. Alles Weitere ergab sich im spontanen Zusammenspiel. Konsequenterweise fanden die ersten Vorstellungen dann auch im Rahmen eines Sommerlagers als Freilufttheater am Strand statt, erst danach sind sie auf die Bühne eines Theaters gelangt. Damit hatte Karusoo den Sprung ins normale Alltagsleben gewagt, der erstens für viele Intellektuelle nicht in Frage kam, weil sich ihrer Meinung nach dort keine Kunst abspielte, der zweitens aber auch riskant war, denn dort konnten – oder mussten – einem Dinge begegnen, die der Zensur nicht geheuer waren. Erstaunlicherweise ging es aber eine Zeit lang gut, 1982 kam Karusoo mit einer zweiten derartigen Inszenierung unter dem Titel Meie elulood (Unsere Lebensgeschichten) heraus, erst eine dritte vergleichbare Aufführung wurde verboten, weil sich einige der Beteiligten geweigert hatten, bestimmte Stellen zu streichen (s. Kruuspere 2002, 312). Trotzdem war das Eis gebrochen und Karusoo konnte später ihre, nach wie vor von vielen beargwöhnten oder gar angefeindeten, Inszenierungen fortsetzen (s. § 51). Eine weitere Überraschung war 1983 die Inszenierung des Dramas Pilvede värvid (Die Farben der Wolken) von Jaan Kruusvall, der bis dahin mit einigen Kurzdramen und Kurzprosa in Erscheinung getreten war. Nun behandelte er ein Thema, das vom sowjetischen Standpunkt aus betrachtet eigentlich gar nicht oder eben nur mit einer eindeutigen Stoßrichtung angefasst werden konnte, nämlich die Flucht vieler Esten am Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Stück spielt 1944 in einem estnischen Küstendorf, wo sich viele Flüchtlinge eingefunden hatten und sich auch die Mitglieder einer ortsansässigen Familie die Frage stellten, ob man bleiben oder gehen solle. Erstmals wurde hier eine Problematik auf die Bühne gebracht, die bis dahin ein absolutes Tabu war, die aber gleichzeitig praktisch in allen estnischen Fa-

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milien Gesprächsthema war. In leisen, nachdenklichen Tönen zeichnete der Autor ein eindrückliches und durch die leicht tragische Sentimentalität auch deprimierendes Bild von der Stimmung der damaligen Zeit. Kruusvalls Stück war ein einschneidendes emotionales Erlebnis für das Theaterpublikum. Wieso ein solches Stück Anfang der 1980er-Jahre überhaupt durch die Zensur kam, erscheint im Rückblick rätselhaft. Die Zensur machte sich nur im Nachhinein dafür stark, dass der Text wenigstens nicht gedruckt wurde. Er wurde in Kanada in Manuskriptform vervielfältigt und kam erst 1986 in Estland heraus. Ein weiteres Beispiel für die Unberechenbarkeit der Zensur war, dass ungefähr zum gleichen Zeitpunkt, als Kruusvalls Drama auf die Bühne kam, eine Inszenierung des Klassikers Kevade von Oskar Luts (vgl. § 27) Schwierigkeiten bekam: Dort wurde nämlich der – schon von Luts stammende – Satz »Russisch ist eine schwere Sprache« auf der Bühne ausgesprochen (Kruuspere 2002, 312).

§ 45 Erneuerung in der Prosa »Ich war kein Wunderkind« Unter diesem Titel veröffentlichte Mati Unt 1990 einen Band mit Essays, Feuilletons und Schulaufsätzen aus den Jahren 1950 bis 1980. Er hatte den Titel wohl als halbironische Anspielung gewählt, weil er gelegentlich als Wunderkind der estnischen Literatur bezeichnet worden ist, andererseits kokettierte er auch damit, indem er in die Sammlung belangloses Geschreibsel eines Sechsjährigen aufnahm. Tatsächlich hatte Mati Unt Anfang der 1990erJahre einen Picasso vergleichbaren Status erreicht, so dass »alles, was er schreibt, große Literatur [ist]. Auch dann, wenn er Trivialtexte verwendet oder einfach dummes Zeug quasselt«, wie es in einer Rezension des genannten Büchleins hieß (Juske 1991, 1145). Das war nicht nur die persönliche Meinung des Rezensenten: Als Mati Unt relativ überraschend 2005 verstarb, lautete einer der Sätze des Nekrologs: »Es gibt sehr wenige Menschen, in deren Händen alles zu Kunst wird, was sie auch nur berühren.« (Looming 9/2005, 1284). Dieser Nekrolog war nicht wie üblich nur vom Schriftstellerverband unterzeichnet worden, sondern von sechzehn Institutionen angefangen beim Estnischen Kulturministerium über eine Reihe von künstlerischen Berufsverbänden und Theatern bis hin zur Universität Tartu – auch dies ein Zeichen dafür, dass Mati Unt eine außergewöhnliche Erscheinung im estnischen Kulturleben war. Und warum nicht auch ein Wunderkind?

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Mati Unt wurde 1944 in Linnamäe, etwa 35 km nördlich von Tartu, geboren. Er besuchte von 1958 bis 1962 ein Gymnasium in Tartu und studierte danach Journalistik. Von 1966 bis 1972 war er literarischer Direktor beim Vanemuine-Theater, danach kurz freiberuflicher Schriftsteller in Tallinn und ab 1974 bis zu seinem Tode ununterbrochen als Regisseur an verschiedenen Tallinner Theatern tätig. Auf das Theater hatte sich in den letzten Jahrzehnten seine Aktivität auch konzentriert, zuletzt war er Professor für Bühnenkunst am Tallinner Konservatorium. Ferner war er jahrelang als Kolumnist in führenden Kulturblättern tätig. Den Grundstein für seinen Ruhm legte er hingegen in den frühen 1960er-Jahren als Schriftsteller. Zwar ist zu Recht immer wieder auf die herausragende Rolle der Lyrik bei der Literaturerneuerung der 1960er-Jahre hingewiesen worden, aber zeitgleich gab es auch in der Prosa einschneidende Veränderungen. Sie sind verbunden mit dem 19-jährigen Abiturienten Mati Unt, der 1963 in einem Schüleralmanach die mit dem Untertitel »Naiver Roman« versehene längere Erzählung Hüvasti, kollane kass (Lebwohl, gelbe Katze) veröffentlichte. Dieser seinem Lehrer gewidmete Bericht über das letzte Schuljahr gibt ein ungeschöntes Bild vom Innenleben eines Abiturienten, wie es bis dahin in der estnischen Literatur noch niemals niedergeschrieben worden war. Ideale, Ängste, Sinnfragen, erste Liebe, Probleme mit der Elterngeneration – alles war hier plötzlich in einer ebenso schlichten wie poetisch-eindrücklichen Sprache niedergeschrieben worden. Die Erzählung erschien ein Jahr später in der Zeitschrift Noorus, bald auch in einer russischen Übersetzung und zum dritten Mal 1967 gemeinsam mit der zwischenzeitlich veröffentlichten Erzählung Võlg (Die Schuld, 1964) als Buch. Diese Erzählung erregte noch mehr Aufsehen und sorgte dafür, dass sich eine ganze Generation mit dem jungen Autor identifizierte. In Võlg werden die Beziehungsgeschichten eines jungen Mannes so beschrieben, wie die Jugend selbst sie zur gleichen Zeit erlebte und diskutierte, hier schrieb plötzlich einer, der wusste, wovon er redete und worum es ging, und der die Dinge beim Namen nannte. Überdies wurde in einer für die damaligen Zeit außergewöhnlich offenen Form über Intimitäten geschrieben, gleichzeitig wagte es der Autor einige herrschende Institutionen kritisieren. Dabei wirkte die phasenweise auftretende Schwermut, auch wenn man sie leichtfertig als postpubertäre Melancholie abqualifizieren könnte, besonders authentisch. Obwohl die Erzählung vom Umfang her (ca. 19 000 Wörter) kaum mit Salingers The Catcher in the Rye zu vergleichen war, hatte sie für die estnische Jugend ähnlichen Symbolwert. Die direkte und nüchterne Diktion, unerwartete und entlarvende Wendungen, ein entwaffnender Humor und unkonventionelle, spontane und assoziative Formulierungen blieben auch für die kommenden Texte der Autors

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charakteristisch. Inhaltlich entfernte er sich von der direkten Berichterstattung über seine Generation und wandte sich globaleren, um nicht zu sagen existenzielleren, Fragen zu. Elu võimalikkusest kosmoses (Über die Möglichkeit, im Kosmos zu leben, 1967), Mõrv hotellis (Mord im Hotel, 1969), Tühirand (Der leere Strand, 1972), Mattias ja Kristiina (M. und K., 1973) und Via regia (1975) sind Erzählungen, in denen der Schwerpunkt auf der psychologischen Darstellung liegt, im Zentrum steht immer das Seelenleben der Personen, während die Handlung sekundär ist und fast nebensächlich wird. Damit festigte der immer noch relativ junge Autor seinen Ruf als jemand, der endlich einmal über die wesentlichen Dinge schreibt, die im Inneren eines jeden vorgehen. In konzentrierter Form gelang ihm das auch in einer Reihe von Kurzgeschichten, die teilweise gemeinsam mit den bereits genannten Titeln in den Sammlungen Kuu nagu kustav päike (Ein Mond wie eine verlöschende Sonne, 1971) und Must mootorrattur (Der schwarze Motorradfahrer, 1976) publiziert worden sind. So werden in Ratsa üle Bodeni järve (Der Ritt über den Bodensee) banale Alltäglichkeiten wie Kühlschrank und Wasserhahn mit tiefer zielenden Reflexionen über das mystisch-unbekannte Traumhafte verbunden; in Kala kättemaks (Die Rache des Fisches) wird ein Zufall heraufbeschworen, bei dem unbedachte Taten der Kindheit ihren Niederschlag im späteren Leben finden; und in Juhtum teatris (Der Zwischenfall im Theater) ruft eine durch einen Kurzschluss entstandene zu lange Pause, in der es stockdunkel ist, ein völliges Chaos hervor, das der aus dem Ausland angereiste Sohn des Autors später als interessante Interpretation des Stückes seines Vaters bezeichnete. Seinen bis dahin größten Erfolg erzielte Mati Unt mit dem Roman Sügisball (1979; dt. Der Herbstball, 1987), der vorab in Looming erschienen war und dessen Buchauflage von 28 000 Exemplaren binnen zehn Tagen ausverkauft war. Der nicht sehr umfangreiche Roman (51000 Wörter) trägt den Untertitel Szenen aus dem Stadtleben und verrät die eigentliche kollektive Hauptfigur des Romans: Es ist der Tallinner Stadtteil Mustamäe (s. § 42), von dem vier deprimierende Fotos von kahlen Plattenbauten der Buchausgabe vorangestellt sind. In sechs Kapiteln mit bezeichnenden, deutlich die Stimmung einfangenden Überschriften – Frühherbst, Gewitter, Nebel, Spätherbst, Erster Schnee und Winter – beschreibt der Autor anhand verschiedener Personen, die in keiner Beziehung zueinander stehen, die Lebenssituation in diesem modernen Vorort einer Großstadt in den 1970er-Jahren. Die Kapitel sind ihrerseits in Abschnitte über die jeweiligen Personen eingeteilt, die als Architekt, Dichter, Herrenfriseur, Portier oder Telefonistin ihr Dasein fristen und in dem modernen und anonymen Stadtkäfig verkümmern. Nüchtern, fast lakonisch, aber nicht ohne hier und da aufblitzende Ironie schildert Unt

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Mati Unt, Foto: Postimees/Scanpix

das Tun und Lassen seiner Personen: Der Architekt plant weiterhin seine seelenlosen Großprojekte, der Dichter fragt sich, für wen er eigentlich dichtet, der Friseur sucht die Häuserfassaden voyeuristisch mit dem Fernrohr nach Belebtem ab, der Horizont des Portiers ist auf Frauen und Geld eingeengt, die Telefonistin schöpft ihre Lebenskraft allein aus einer Seifenoper im Fernsehen. Als die Personen im Finale ein einziges Mal einander begegnen, geschieht dies konsequenterweise in einem Unglück, bei dem der Friseur am Spätnachmittag von einem Auto überfahren wird und die anderen als Unfallzeugen endgültig zu Schicksalsgenossen werden. Aber auch daraus erwächst keine Überwindung der Isolation, der kleine Hoffnungsschimmer in Form einer Eheschließung zwischen dem Dichter und der Telefonistin wird eine Seite weiter wieder zunichte gemacht, als sich herausstellt, dass der Dichter merkt, dass seine Frau ihn nicht versteht. Die beiden letzten Sätze des Romans lauten beklemmend: »Dicker Schnee begann zu fallen. Eine stille Nacht brach herein.« Trotz der deprimierenden Grundstimmung, die suggeriert, dass es keinen Ausweg aus der Erbarmungslosigkeit des urbanisierten Lebens gibt, wurde der Roman gefeiert, weil er auch formal neue Wege ging. Außerdem entbehrte es nicht einer gewissen Brisanz, wenn dem als Erfolg sozialistischer

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Städtebaupolitik propagierten Stadtteil ein dermaßen düsteres Denkmal gesetzt wurde. Aber der Roman hat eine größere Dimension, denn Unt behandelte hier nicht die exotische Problematik eines europäischen Randvolks, sondern ein globales Problem, das unabhängig von geographischer Lage und politischem System alle anging. Diese Losgelöstheit von dem Staat oder der Sprache seiner Entstehung führte folgerichtig dazu, dass der Roman relativ schnell in anderen Sprachen Verbreitung fand und heute in einem Dutzend Übersetzungen vorliegt. Mati Unt bewegte sich auch mit seinen folgenden Werken zwischen den Genres und überschritt Grenzen. 1984 inszenierte er im Pärnuer Heimatmuseum von Jannsen und Koidula – nur dort wurde das Stück gespielt – Vaimude tund Jannseni tänaval (Geisterstunde in der Jannsenstraße) ein Stück, in dem er die Geister von Lydia Koidula und Aino Kallas, die eine Biographie von Koidula geschrieben hatte, aufeinander treffen lässt. Neben diesem ebenso kulturhistorischen wie psychologischen Exkurs publizierte er im selben Jahr einen Text, den er ursprünglich als Drehbuch angelegt hatte, das aber niemand verfilmen wollte. So erschien Räägivad (Sie reden, 1984) separat als Buch und zwei Jahre später erneut mit einigen anderen Texten unter dem Titel Rääkivad ja vaikivad (1986, dt. reden und schweigen, 1992). Der Text ist weder fließende Prosa noch ein geordnetes Theaterstück, er besteht nur aus Repliken von insgesamt über fünfzig Akteuren – worunter sich freilich auch solche wie Erboste Stimmen, Viele, Andere oder Zwischenruf befinden –, die mehr gegen- als miteinander reden. Die Einwürfe sind oft unmotiviert und aus dem Zusammenhang gerissen, manchmal sogar aggressiv, bisweilen verschroben und nahezu unverständlich. Das korrespondiert mit der Handlung, die man sich mühsam aus den Fetzen herausfiltern muss und die sich am Schluss als relativ nichtig erweist. Alles war leeres Gerede, man ist der Wahrheit, auf deren Suche man sich in der Sache einer vage angedeuteten Vergewaltigungsdelikts begeben hatte, keinen Deut näher gekommen. So gesehen ist der Text eine Fortsetzung des Herbstballs, die Verbalisierung der Einsamkeit der Großstadtmenschen von heute und ihres Durstes nach außerordentlichen Ereignissen und Katastrophen. Bei Unt scheint das erhabene cogito, ergo sum eines Descartes zu einem banalen loquor, ergo sum verkommen zu sein: Reden als Selbstzweck, reden, um zu leben, nicht um etwas mitzuteilen. Unt baut eine faszinierende Welt sprachlicher Trivialität auf, die sich am Ende gegen sich selbst kehrt: Das Reden wird eine Belastung, keine Befreiung, man redet sich hier etwas auf die Seele, nicht von der Seele. Deswegen kräht am Schluss des Textes bezeichnenderweise der Hahn. Nur logisch war, dass der Autor diesem Text als Kontrapunkt einige wenige Seiten hinzufügte, in denen er sich über die Vorzüge des Schweigens ausließ.

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Hier hinterfragt er die Substanz gesellschaftlichen Miteinanders – die Kommunikation – schlechthin und liefert ein ketzerisches Plädoyer für das Schweigen. Es ist nicht übertrieben, Mati Unt mit diesen und anderen Texten als einen Wegbereiter der estnischen Postmoderne zu bezeichnen (s. §§ 47, 51). Groteske Satire und negative Helden Neben Mati Unt war Arvo Valton der zweite wichtige Autor, der außerhalb der Kassetten debütierte und dennoch großen Anteil an der Literaturerneuerung in den 1960er-Jahren hatte. Obwohl Valton später auch Gedichtbände, Aphorismensammlungen und Kinderbücher veröffentlicht hat, liegt seine größte Bedeutung im Bereich der Prosa, und zwar insbesondere der Kurzprosa. Arvo Vallikivi, so sein bürgerlicher Name, wurde 1935 in Märjamaa in Nordwestestland geboren, ging dort einige Jahre zur Schule und wurde 1949 mit seinen Eltern nach Sibirien verbannt. 1954 konnte er nach Estland zurückkehren und ein Bergbaustudium am Tallinner Polytechnikum aufnehmen. Nach dessen Abschluss arbeitete er einige Jahre als Ingenieur, absolvierte nebenbei noch ein Fernstudium in Moskau als Filmregisseur und lebte von 1968 bis 1975 als freiberuflicher Schriftsteller in Südestland. Später wohnte er in Tallinn und war zeitweise beim Filmstudio angestellt. Valton war im Schriftstellerverband aktiv, engagierte sich seit 1988 verstärkt in der Politik und war von 1992 bis 1995 Parlamentsabgeordneter. Arvo Valtons Kurzgeschichten erschienen seit 1960 in Zeitschriften, drei Jahre später erfolgte sein Buchdebüt mit Veider soov (Der seltsame Wunsch, 1963), dessen 32 realistisch gehaltene Kurzgeschichten über das Alltagsleben durch ihren versteckten Humor auffielen. Bereits in der zweiten Sammlung, Rataste vahel (Unter den Rädern, 1966), war eine leichte Hinwendung zum Grotesken zu spüren, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre verstärkte und mit zwei im gleichen Jahr erschienenen Sammelbänden einen ersten Höhepunkt erreichte, der gleichzeitig von heftigen Debatten begleitet wurde. Kaheksa jaapanlannat (Acht Japanerinnen, 1968) und Luikede soo. Karussell (Der Sumpf der Schwäne. Das Karussell, 1968) lösten die so genannte Existenzialismus-Debatte aus, in der dem Autor u.a. eine antisowjetische Schreibweise vorgehalten wurde. Objektiv betrachtet war eine solche Kritik völlig berechtigt: Valton scherte sich nicht um das sowjetische System mit seinen absurden Normen, sondern schuf in seinem Novellenwerk eine eigene Welt, mit der er die groteske Absurdität der sowjetischen Realität in satirischer Überhöhung aufzeigte. Das gefiel nicht allen, aber zu jenem Zeitpunkt war der Spielraum gerade groß genug, dass solche Novellen veröffentlicht werden konnten. Als die Zensur danach die Zügel wieder stärker anzog,

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war der Autor bereits dermaßen etabliert, dass er immer noch einen Gutteil seiner beißenden Satiren publizieren konnte, während er einen Teil auch für die Schublade schrieb und geduldig auf eine Veröffentlichung wartete. Manche Geschichten wanderten von einem Verlag zum nächsten und wurden immer wieder abgelehnt, bis nach dem Wegfall der Zensur nach und nach alles erscheinen konnte. Da Valton ein sehr produktiver Autor war – bis heute liegen allein im Genre der Kurzprosa rund 400 Novellen von ihm vor –, tat das seiner Bekanntheit keinen Abbruch: Es konnte immer noch genug erscheinen. Eine seiner bekanntesten Geschichten aus Kaheksa jaapanlannat trägt die Überschrift Rohelise seljakotiga mees (Der Mann mit dem grünen Rücksack) und handelt von einem Mann, der eines Tages den Wartesaal eines Bahnhofs betritt, in aller Seelenruhe in einer Ecke auf eine Bank steigt und laut aus einem Buch offenbar belletristischen Inhalts vorzulesen beginnt. Das tut er einige Tage, womit er bei der Bahnhofsverwaltung Ratlosigkeit erzeugt und deren Argwohn auf sich zieht. Schließlich lässt diese mühselig und langwierig einen Propagandavorleser ausbilden, der dem unberechenbaren und darum gefährlichen Freizeitvorleser Konkurrenz bieten soll. Bevor jener aber in Aktion treten kann, ist der geheimnisvolle Mann mit dem grünen Rücksack verschwunden. Damit verpuffen alle Anstrengungen des schwerfälligen bürokratischen Apparates im Nichts. Valton legt in dieser Novelle die Hilflosigkeit des Überwachungsapparates und den lähmenden Bürokratismus des Systems bloß, und mit einer solchen Satire konnte ein notorisch humorloses System wie das sowjetische nur schwer umgehen. In der Geschichte Tagasi! (Zurück!, 1969) reicht die kommentarlose, aber detaillierte Beschreibung der Realität schon aus, um Kritik am System deutlich zu machen: Jemand hat eine Fleischerei betreten und betrachtet die Auslage: »Unter den Glasscheiben der Kühltruhen lagen in appetitanregenden Haufen Euter, versengte Schnauzen, geräucherte Rinderrippen und blutige Lebern, in Wasserfässern endlose Darmbündel, Schweinsohren, geringelte Schwänze und bläuliche Zungen, in Glaskannen geronnenes Blut, behaarte Köpfe mit vorquellenden Augen und unförmige Schweineklauen.« (Valton 1983, 97). Die simple Beschreibung macht die Absurdität des sowjetischen Alltags deutlich, denn in dieser Fleischerei gab es praktisch kein Fleisch zu kaufen. So ist auch die ganze Novelle, die mit ihren gerade einmal 850 Wörtern einer Miniatur gleichkommt, eine allegorische Persiflage auf den sowjetischen Alltag. Ein angesehener Mann, Jurist seines Zeichens, kauft sich auf dem Nachhauseweg einen Knochen, verbirgt ihn in einem Geigenkasten und schmeißt ihn zu Hause angekommen in die Ecke seines Gartens, um danach selbst knurrend und brummend eine Weile vor ihm niederzuknien. Danach

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wirft er ihn über den Zaun dem Nachbarhund zu und betritt als braver Familienvater das Haus. Atavismus als Erklärungsmodell: Entweder ist auch das sowjetische System nicht in der Lage, atavistische Neigungen im Menschen zu unterdrücken, oder aber es erzeugt gerade diese Neigungen – in beiden Fällen muss das Urteil zu Ungunsten des Systems ausfallen. Schon der Titel der Novelle ist ein Gegenentwurf zur herrschenden Ideologie, in der es immer nur um das Vorwärtsstreben der Menschheit geht. Mit Zurück! bewirkt der Autor zweierlei: Zum einen zeigt er den wahren, rückwärtsgewandten Charakter der sowjetischen Gesellschaft, zum zweiten ist es auch ein Aufruf zur Umkehr. Die berühmteste Novelle von Valton erschien 1974 in Looming und gab einer Sammlung von 1978 den Titel: Mustamäe armastus (Liebe in Mustamäe) ist eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einem Mann und einer Frau im besagten Tallinner Stadtteil, wobei der Autor noch weiterging als Unt in seinem etwas später herausgekommenen Sügisball (s. o.). Am Beginn der Novelle steht ein frisch geschiedener Mann, der eine neue Wohnung in Mustamäe bezogen hat und dort allabendlich einsam am Fenster steht und die Fensterlöcher der gegenüberliegenden Häuserfront anstarrt. Dort wohnt eine Frau, die seit geraumer Zeit dasselbe tut, so dass sich die Blicke beider bald treffen, allmählich einander suchen und schließlich in heißer Liebe zueinander entbrennen. Und nun geht es weiter wie im richtigen Leben, bald wird die Frau schwanger und kommt nieder, während der Mann danach allmonatlich einen Briefumschlag mit Geld in den Briefkasten der Frau einwirft. Das Absurde ist, dass sich die beiden Personen nie getroffen, geschweige berührt haben, aber analog zu den veränderten und entmenschlichten Wohnformen in der modernen Gesellschaft muss eben auch die Liebe eine andere sein. Valtons Neigung zum Phantastischen, die man als Ausbruch aus der stereotypen Welt eines erstarrten Systems betrachten kann, schlug sich auch in dem teilweise surrealistischen Roman Arvid Silberi maailmareis (1984; dt. Arvid Silbers Weltreise, 1995) nieder, worin der Held auf der Suche nach oder auf der Flucht vor seiner Frau mehrmals seine Gestalt verändert und zehn Städte in verschiedenen Erdteilen besucht. Das Reisen wird – wohlgemerkt in einer Zeit ohne Reisefreiheit – eines der Hauptmotive des Buches und ist Selbstzweck. Dabei wird durch den Ausflug ins Phantastische als Antwort auf die Irrationalität der realen alten Welt eine neue Welt erschaffen. In eine solche andere Welt kann man sich freilich auch ohne Reisen versetzen, wie Valton in der Erzählung Õndsusesse kulgev päev (Der in die Seligkeit einmündende Tag, 1978; dt. Juku, der Dorftrottel, 1992) zeigte. Hier steht ein heruntergekommener Trinker in einem deprimierenden Provinznest im Mittel-

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punkt, der am Ende eines ereignisarmen Tag einen erbärmlichen Tod findet. Trotz dieser kümmerlichen Ingredienzen gelingt es Valton, das Bild eines zutiefst glücklichen Menschen zu zeichnen, der mit sich selbst im Reinen ist und das Leben weitaus mehr genießt als die Menschen seiner Umgebung, die allesamt mehr oder weniger über die Mühsal des Alltags klagen. Jukus – amtlich bescheinigte – Narrenfreiheit gestattet ihm zudem, Dinge auszusprechen, die sich niemand anders erlauben würde. Valton bricht eine Lanze für die Erniedrigten unserer Gesellschaften und zeigt, wie glücklich und geradezu selig sie sein können. Arvo Valton hat auch Drehbücher und Theaterstücke geschrieben, aus zahlreichen Sprachen übersetzt und einen historischen Roman abgefasst, der Dschingis Khan zum Gegenstand hat (Teekond lõpmatuse teise otsa, ›Reise ans andere Ende der Unendlichkeit‹, 1978). Seine größte Bedeutung liegt aber unstrittig in seinem facettenreichen Novellenwerk, das satirisch, grotesk und paradox die absurde Realität Sowjetestlands enthüllt. Daneben hat es noch eine zweite Dimension, nämlich die Hinterfragung der Substanz dieser Realität. Hier überschreitet der Autor mit bizarren Einfällen ein ums andere Mal mühelos die Grenzen des konventionellen Erzählens. Damit steht er innerhalb der estnischen Literatur in der Tradition von Tuglas und Vallak. Nicht weniger extrem schrieb Enn Vetemaa gegen die herrschende Strömung an. Der vielseitige Autor, der sich auch als Dichter und Dramatiker (s. § 44) einen Namen gemacht hat, leistete mit seiner frühen Prosa einen entscheidenden Beitrag zur Emanzipation der estnischen Literatur. Dabei war gleich sein Debüt als Prosaist, das nur mit Müh und Not durch die Zensur kam – es handelt sich hier um die oben (§ 42) beschriebene Episode mit der Zechtour –, ein Paukenschlag. Monument (1965; dt. Das Monument, 1981) war eine längere Erzählung (23000 Wörter), die der Autor selbst als »kleinen Roman« klassifizierte. Hierin wurde der postulierte »positive Held« des Sozialistischen Realismus ins Gegenteil verkehrt, was Vetemaa zur Zielscheibe der Kritik und zum Gesprächsthema nicht nur in Estland, sondern in der ganzen Sowjetunion machte. Hauptperson der Erzählung ist der junge Bildhauer Sven Voore, der sich um den Aufbau einer freiberuflichen Existenz bemüht. Gemeinsam mit einem anderen Künstler, Ain Saarma, erhält er einen Auftrag für ein Denkmal. Während der Arbeit stellt sich heraus, dass Voores Anteil nur im Sockel und zwei Basreliefs bestehen soll oder vielleicht völlig wegfallen könnte. Saarma bietet ihm zwar an, das Honorar des ungeachtet zu teilen, aber Voore missgönnt ihm seinen möglichen kommenden Ruhm und nimmt sich vor, seinen älteren Kollegen auszubooten. In einer rücksichtlosen Intrige, wobei ohne deren Wissen auch Saarmas Frau und eine altstalinistische Kunstkoryphäe eingesetzt werden, gelingt es Voore, den Entwurf Saar-

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mas als missraten und politisch verwerflich erscheinen zu lassen. Daraufhin zieht Saarma seinen Entwurf zurück, weil er sich nicht erniedrigen lassen will. Mit Sven Voore war der negative Held geboren, der keinerlei positive Charaktereigenschaften hat und dessen einzige humane Handlung darin besteht, dass er wenige Tage später gegen den Ausschluss Saarmas aus dem Künstlerverband stimmt. Der eigentliche Skandal bestand nicht in der Darstellung einer solchen Figur, sondern darin, dass diese Person mehr oder weniger die Oberhand behält. In den schablonenhaften Werken des Sozialistischen Realismus hätte sie unweigerlich einer Läuterung unterworfen werden müssen. Die Erzählung bildete mit Pillimees (Der Musiker, 1967; dt. Müdigkeit, 1981), Väike reekviem suupillile (1968; dt. Kleines Requiem für eine Mundharmonika, 1981) und Munad hiina moodi (1969; dt. Chinesische Eier, 1981) einen Zyklus, zu dem gelegentlich auch noch Kalevipoja mälestused (Kalevipoegs Erinnerungen, 1971) und die in dieser Zeit begonnene Erzählung Tulnuk (Der Ankömmling), die jedoch aufgrund ihrer allzu offenkundigen Totalitarismuskritik erst 1987 erscheinen konnte, gerechnet werden. Ihnen allen ist eine düstere und ausweglose Grundeinstellung gemeinsam, lediglich in Kalevipoja mälestused schlug Vetemaa einen humorvollen und komischen Ton an, den er in Eesti näkiliste välimääraja (1983; dt. Die Nixen in Estland, 1985; neu u.d.T. Die Nixen von Estland, 2002, s. hierzu Vogel 2002) fortsetzte. Hier erfolgt eine, wenn auch seichte, Kritik an den sozialistischen Verhältnissen durch die Verlagerung auf die folkloristisch-mythologische Ebene, wobei die Verwendung eines pseudowissenschaftlichem Vokabulars Ironie erzeugen soll. Auch hier erweist sich Vetemaa als ein begabter Erzähler, wenngleich seine größere Bedeutung in dem Mut liegt, dem negativen Helden Gestalt und Ausdruck zu verleihen. Der Chronist des estnischen kollektiven Gedächtnisses Im Windschatten der spektakulären Erneuerungen schrieb ein Autor, der sich nur schwer in die verschiedenen Strömungen einpassen ließ und eine eigene Qualität innerhalb der estnischen Literatur darstellte, kontinuierlich weiter an seinem vielschichtigen und umfangreichen Werk: Mats Traat. Er ist 1936 in Südestland geboren, lernte in den 1950er-Jahren verschiedene technische Berufe und war einige Zeit in der Landwirtschaft tätig. Von 1959 bis 1964 studierte er am Moskauer Gorki-Literaturinstitut und arbeitete danach bei der Tallinner Filmagentur. Seit 1970 lebt er als freiberuflicher Schriftsteller in Tallinn. Traat hat nach seinem Lyrikdebüt in der ersten Kassette (s. § 43) regelmäßig Gedichte und Prosa publiziert und zählt zu den produktivsten estni-

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schen Autoren aller Zeiten. Von seinen Gedichten ist der lange – und nach wie vor anwachsende – Zyklus Harala elulood (Lebensgeschichten aus Harala) hervorzuheben, dessen erste Teile bereits in seiner Debütsammlung von 1962 vertreten waren. Danach sind sie immer wieder verstreut erschienen, dreimal auch als separate Bücher (1976, 2001 und 2002). Die Gedichte sind Grabinschriften vom Friedhof des fiktiven Dorfes Harala, in denen die Verstorbenen selbst in der Ichform eine kurze Skizze ihres Lebens geben. Der Umstand, dass die Idee zu dieser Form nicht von Traat selbst stammt, sondern dem amerikanischen Autor Edgar Lee Masters und seiner Spoon River Anthology (1915) zu verdanken ist, schmälert nicht die Bedeutung dieses Zyklus, der mit seinen mittlerweile weit über 300 Gedichten eine außergewöhnliche Serie von komprimierten Lebensgeschichten bildet, die in ihrer Gesamtheit einen Querschnitt durch die estnische Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellen. Sie bestechen durch ihre Schlichtheit und Unmittelbarkeit, wobei der Autor selten ein Blatt vor den Mund nimmt. Das führte dazu, dass immer mal wieder ein Gedicht etwas länger in der Schublade bleiben musste und dass noch 1969 eine fertige und gedruckte lettische Übersetzung kurz vor der Auslieferung eingestampft werden musste, weil darin Gedichte enthalten waren, die zuvor noch nicht erschienen waren bzw. der Zensur nicht gefielen ˇ (Caklais 1994). In seiner Prosa befasste sich Traat sowohl mit der jüngeren Vergangenheit der Esten im 19. und 20. Jahrhundert als auch mit der Gegenwart. Im Mittelpunkt stehen bei ihm immer die kleinen Leute, Schauplatz ist nahezu ausschließlich das ländliche Milieu. Er begann in seinem ersten Prosaband Koputa kollasele aknale (Klopfe ans gelbe Fenster, 1966) mit Erzählungen, in denen er die Probleme der jungen Generation, sich im Leben zurechtzufinden, behandelte. Im gleichen Jahr fing Traat auch seinen ersten Roman an, jedoch zog sich die Arbeit hin, und Maastik õunapuu ja meiereikorstnaga (Landschaft mit Apfelbaum und Molkereischornstein) erschien erst 1973. Hierin wird das mühselige Landleben Anfang der 1950er-Jahre beschrieben, als man sich unzufrieden und schwermütig daran machte, der Kolchose Leben einzuhauchen. Die Gegenwart wurde auch in dem Roman Inger (1975; dt.: Inger oder Das Jahr auf der Insel, 1976) behandelt, hier steht eine junge Lehrerin im Mittelpunkt, die eine Stelle in einer Inselgemeinde antritt und dort mit den üblichen Anpassungsproblemen zu kämpfen hat, aber auch mit der Liebe konfrontiert wird. Ebenfalls das Seelenleben einer jungen Frau in den 1970er-Jahren ist in Rippsild (Die Hängebrücke, 1980) Gegenstand der Betrachtung. Die psychologische Schilderung menschlicher Entwicklung in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit steht in Üksi rändan (Allein wan-

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Mats Traat, Foto: Postimees/Scanpix

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dere ich, 1985) im Vordergrund: In diesem Entwicklungsroman mit teilweise autobiographischen Zügen entwirft der Autor ein deprimierendes, letztlich aber nicht resignierendes Bild von der Nachkriegsgesellschaft, in der sich ein junger Mann, dessen Eltern nach Sibirien verbannt sind, zurechtfinden muss. Er kann sich mit seinen Arbeitskollegen nicht anfreunden und vereinsamt zusehends, erst die Erfahrung der Liebe, deren Verlust und Krankheit führen ihn schließlich aus dem Arbeitermilieu der Stadt zurück aufs Land, wo er eine Zukunft für sich sieht. Die scheinbare Ausweglosigkeit weicht einer konkreten Perspektive, am Ende bleibt im Kampf mit sich selbst und einer am Boden liegenden Gesellschaft das Ich der Sieger. Auch bei diesem Roman gab es Schwierigkeiten mit der Zensur, ca. ein Sechstel des Romans war dem Rotstift zum Opfer gefallen. Der Roman Tants aurukatla ümber (Der Tanz um den Dampfkessel, 1971) bildet thematisch das Bindeglied zu den stärker historisch ausgerichteten Werken von Traat und kann als einer der zentralen Texte des Autors angesehen werden. In diesem nicht sehr umfangreichen Roman (48000 Wörter) werden fünf Ausschnitte (Tage, »Tänze«) aus dem Leben eines Dorfes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt, die in den Jahren 1914, 1929, 1943, 1949 und 1957 spielen. Durch die durchgängig auftretende Hauptperson Taavet Aniluik – erst als Sohn des Hofes, später als Bauer – wird das Schicksal einer Generation auf dem Lande beschrieben. Dabei werfen die herausgegriffenen Jahre kurze, aber prägnante Schlaglichter auf die gesellschaftliche Entwicklung in Estland, die in der fraglichen Periode noch mehrheitlich vom Landleben bestimmt wurde. Zunächst die Zeit am Vorabend des Ersten Weltkriegs, als mit der Ankunft des Dampfkessels im Dorf das technische Zeitalter beginnt; sodann eine Zeit verhaltener Prosperität in der Zwischenkriegszeit; dann ein Kriegsjahr unter Nazibesatzung; anschließlich ein Jahr des Wiederaufbaus, das gleichzeitig im Zeichen der Massendeportation und der Kollektivierung der Landwirtschaft stand; und zum Schluss ein Jahr des vorsichtigen Aufatmens, in dem die Hauptperson aus Sibirien zurückgekehrt ist, in dem aber auch der Dampfkessel endgültig seinen Geist aufgibt. Wenn der Dampfkessel tatsächlich das »Symbol der Arbeit ist, worauf das Leben basiert« (Epp Annus et al. 2001, 572), so wäre der Roman als deprimierender Ausblick auf die Gegenwart zu lesen, in der alles zum Stillstand kommt. Diese Möglichkeit ist bei einem 1971 entstandenen Werk nicht ausgeschlossen, aber die Dimension des Romans ist eine größere. Wie in Tammsaares Wahrheit und Recht (s. § 32) geht es auch hier um die Basis des menschlichen Daseins und die Auseinandersetzung mit den das menschliche Leben bestimmenden Faktoren, Elementen und Obrigkeiten. Dabei zeigt Traat mit

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diesem Roman besonders auch die träge Stetigkeit des Landlebens auf, das sich nicht unbedingt an die »klassischen« Jahreszahlen, die man im Geschichtsunterricht lernt – etwa 1918, 1939/1940 oder 1945 –, hält. Es folgt seinen eigenen Gesetzen, ist dabei aber gleichzeitig Kontinuitätswahrer und Lebensquelle. Im 19. Jahrhundert ist der Roman Pommeri aed (Pommers Garten, 1973) angesiedelt. Pommer ist ein Dorfschulmeister, der sich zäh dem Druck der Russifizierung widersetzt und sich von Ungerechtigkeiten und Schicksalsschlägen nicht unterkriegen lässt. Er schöpft seine Hoffnung aus einem blühenden Apfelbaum in seinem Garten. Wieder einmal richtete der Autor hier den Blick auf die gewöhnlichen, kleinen Leute. Seine Schilderungen des bäuerlichen Milieus können dabei beklemmend wirken und eine Atmosphäre der Trostlosigkeit hervorrufen, doch ist das dem Gegenstand nur angemessen. In dem Roman Puud olid, puud olid hellad velled (Die Bäume, sie waren zärtliche Brüder, 1979) schildert Traat feinfühlig die sozialen Konflikte in den 1840er-Jahren, als die Leibeigenschaft zwar aufgehoben war, die Bauern aber mangels effektiver Agrarreformen nach wie vor an die Scholle der Gutsbesitzer gebunden waren. In einer solchen Situation muss ein kaum volljähriger Jüngling sich als Pächter auf einem kleinen Hof durchschlagen, wobei sein jugendlicher Idealismus ihn in seinem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben einerseits förderlich ist, andererseits aber zum Verhängnis wird: Wegen zarenfeindlicher Tätigkeit wird er nach Sibirien verbannt. Vereinsamt hat er am Ende das Gefühl, dass nur noch die Bäume ihn verstehen. Erneut rückt Traat in diesem Roman die Verbundenheit des Menschen mit der Natur in den Vordergrund. Das Buch kann als Auftakt zu einer Romanserie aufgefasst werden, die Traat später unter dem Titel Minge üles mägedele (Geht hinauf auf die Berge) publizierte (vgl. § 51). Das ist im Roman Karukell, kurvameelsuse rohi (Kuhschelle, ein Heilmittel gegen Schwermut, 1982) nicht anders. Hier steht ein Schriftsteller im Mittelpunkt, der sich aufs Land zurückzieht, um in Ruhe seinen Roman zu schreiben. Während er sich dort dem perspektivlosen Leben auf einer Sowchose ausgesetzt sieht – niemand fühlt sich mehr für das Land verantwortlich, man lebt gleichgültig von der Hand in den Mund –, behandelt er in seinem Roman eine vergleichbare Perspektivlosigkeit, nur an einem anderen Volk und in einer anderen Zeit exemplifiziert: Dieser Roman im Roman hat einen livischen Mönch aus dem 13. Jahrhundert zur Hauptperson und beschreibt dessen Einsatz für die neue Religion, die mir den althergebrachten Glaubensvorstellungen der Liven jedoch nicht vereinbar ist. Hier stoßen Welten aufeinander, die letztendlich dazu geführt haben, dass acht Jahrhunderte später die Liven praktisch ausgestorben sind. Traats Roman ist eine

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Warnung und eine literarische Ausformulierung der auch im Estnischen gängigen Redensart: Wer ohne Vergangenheit lebt, hat keine Zukunft. Durch das häufig angewandte Stilmittel des (südestnischen) Dialekts wirken die Romane von Traat besonders authentisch. Sie genießen große Popularität, weil viele in ihnen ihr eigenes Schicksal oder das ihrer Vorfahren wieder finden. Dieses Schicksal ist verbunden mit Mühsal, Unterdrückung, Leid und Elend, so dass ein melancholischer Unterton in fast allen Werken von Traat vorherrschend ist. Darin unterscheidet er sich von Tammsaare, mit dem ihn ansonsten die Suche nach Wahrheit und Recht verbindet. Ein weiterer Unterschied ist die Konzentrierung auf das Landleben: Für Traat ist das Schicksal der Esten in erster Linie das Schicksal der estnischen Landbevölkerung, an deren Geschichte er beharrlich weiterschreibt (s. § 51). Das garantiert ihm Leserschaft, denn auch in der zeitgenössischen urbanisierten Gesellschaft sind sich die meisten Esten noch ihrer Wurzeln, die irgendwo auf dem Lande liegen, bewusst. Traat hat das Thema der Wurzelsuche aufgegriffen, lange bevor es in den westlichen Gesellschaften durch den Film Roots (1977) zum Gesprächsthema wurde und in Mode kam. Sibirien und Saaremaa Eine Wurzelsuche ganz anderer Art betrieb Lennart Meri. Der spätere Präsident der Republik ist 1929 in Tallinn geboren und ging u.a. in Paris und Berlin zur Schule, da sein Vater im diplomatischen Dienst war. Das war auch der Grund dafür, dass er von 1941 bis 1946 in der Verbannung leben musste. Von 1948 bis 1953 studierte er dann Geschichte, anschließend arbeitete er beim Rundfunk und beim Film, ehe er von 1972 an freiberuflich in Tallinn lebte. Ende der 1980er-Jahre wechselte er in die Politik, wo er als Außenminister bei der Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit eine entscheidende Rolle spielte. Von 1992 bis 2001 war er Staatsoberhaupt. Meri nahm in der Sowjetzeit an zahlreichen völkerkundlichen Expeditionen teil, die die Grundlage für seine Reisebücher, Filme und kulturhistorischen Essays bildeten. Nur teilweise lag der Schwerpunkt auf den verwandten finnougrischen Völkern, seine Reisen führten ihn auch in andere abgelegene Gebiete. Meris erstes Buch, Kobrade ja karakurtide jälgedes (Auf den Spuren der Kobras und Schwarzen Witwen, 1959), war ein Bericht von einer Wanderung durch Zentralasien, die weiteren Bücher befassten sich meistens mit Sibirien oder Nordeuropa und wandelten sich allmählich von reinen Reiseberichten zu vertiefenden kulturhistorischen Betrachtungen. Am meisten Bekanntheit haben Tulemägede maale (1964; dt. Es zog uns nach Kamtschatka, 1968) und Virmaliste väraval (Am Tor des Nordlichts, 1974) erlangt.

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Für die Identitätsbewahrung der Esten waren insbesondere zwei Bücher wichtig, in denen Meri sich mit der Frühgeschichte Estlands und Nordosteuropas beschäftigte: Hõbevalge (Silberweiß, 1976) und die Fortsetzung Hõbevalgem (Silberweißer, 1984). In dieser Verquickung von Archäologie, Geschichtswissenschaft, Folkloristik und dichterischer Freiheit entwirft Meri ein Bild von der Entwicklungsgeschichte der Esten bzw. ihrer ostseefinnischen Vorfahren, verknüpft sie mit der bekannten westlichen Historiographie und kommt dabei zu überraschenden Schlussfolgerungen. Denn seiner Meinung nach könnte der griechische Seefahrer Pytheas in der Ostsee und auf Saaremaa gewesen sein, womit das Rätsel von Ultima Thule, das wir Pytheas verdanken und dessen geographische Lage nach wie vor umstritten ist, gelöst wäre (s. Hasselblatt 1985). Unabhängig von der Plausibilität seiner Theorie war das neue Genre, das Meri mit diesen Werken geschaffen hatte, von großer Bedeutung für das estnische Selbstbewusstsein, weil hier gezeigt wurde, dass die Esten eine eigene, lange, mit Europa verbundene und sich von der russischen deutlich unterscheidende Geschichte haben. Das wussten die Esten schon immer, aber es tat gut, dies in gedruckter Form präsentiert zu bekommen, überdies waren viele der Gedankengänge, Assoziationen und Zusammenstellungen von Meri tatsächlich neu. Die Faszination der sibirischen Weite stachelte auch Nikolai Baturin, der jahrelang jede Jagdsaison als Berufsjäger in Sibirien verbrachte, zum Schreiben an. Sein Thema ist der Mensch und sein Verhältnis zur Natur, was sowohl im Sinne der modernen Ökologie als auch eines wertkonservativen Strebens zurück nach den Ursprüngen interpretiert werden kann. Nach der Erzählung Kuningaonni kuningas (Der König der Königshütte, 1973), in der das Leben eines Taigajägers beschrieben wird, erschien 1977 sein erster Roman, Leiud kajast (Funde aus dem Echo), worin die Hauptfigur im Einswerden mit der Natur ihr höchstes Ziel sieht. Am meisten Aufsehen erregte bisher sein Roman Karu süda (Das Herz des Bären, 1989), der ein ausgebreitetes Epos (164 000 Wörter) über Sibirien und die dort lebenden, mit den Esten entfernt verwandten Samojeden ist. Hier entführte Baturin seine Leserschaft in die unberührte Natur Sibiriens und ließ sie den hektischen und schmutzigen Großstadtalltag für einige Momente vergessen. Mit dem anderen Ende der Sowjetunion, der größten estnischen Insel Saaremaa, sind die schreibenden Zwillinge Jüri und Ülo Tuulik verbunden. Sie wurden 1940 auf Abruka, einer kleinen Insel, keine fünf Kilometer südlich von Saaremaas Hauptstadt Kuressaare gelegen, geboren und studierten beide estnische Philologie. Danach waren sie im journalistischen Bereich tätig. Ülo Tuulik hat später einige Reisebücher geschrieben und verschiedene Funktionen im Schriftstellerverband bekleidet. Er überraschte mit seinem

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dokumentarischen und auf eigenen Erfahrungen basierenden Roman Sõja jalus (Dem Krieg im Wege, 1974), der die von den Nazis durchgeführte Zwangsevakuierung von Teilen der Bevölkerung Saaremaas im Herbst 1944 behandelte. Auch die beiden Zwillinge waren damals nach Deutschland gelangt, von wo sie erst im Sommer 1945 zurückkehrten. Diese traumatische Erfahrung stellte eine Analogie zu den Deportationen nach Sibirien von 1941 und 1949 dar, und sie konnte im Gegensatz zu Letzteren offen behandelt werden. Jüri Tuulik hatte als einer der wenigen Prosaisten in einer der Kassetten debütiert (s. § 43) und schrieb vorwiegend Kurzprosa. In seinem Debütband Tund enne väljasõitu (Eine Stunde vor Abfahrt, 1966) befasste er sich mit den Menschen auf dem Lande und legte den Schwerpunkt auf die psychologische Darstellung. Auf diese Weise entstanden fein gezeichnete Lebensbilder, die sich durch Humor und Volkstümlichkeit auszeichnen. Das fand seine Fortsetzung in Vana loss. Abruka lood (Das alte Schloss. Geschichten von Abruka, 1972) und wurde in den etwas längeren Erzählungen Meretagune asi (1976; dt. Wie’s so ist am Meer, 1983), Vares (1979; dt. Der Schnapsrabe, 1987), Külatraagik (1980; dt. Unter uns Hunden gesagt, 1984), Mehed ja koerad (Menschen und Hunde, 1985) sowie Haab (Die Espe, 1989) vertieft. Diese Werke brachten mit der starken Betonung des Lokalkolorits von den Inseln einen besonderen Aspekt in die Prosa der Zeit. Tuulik hat außerdem Hörspiele geschrieben, die in mehrere Sprachen, darunter Deutsch, übersetzt und im Ausland gesendet wurden. Zurück im Alltag Nach den Aufsehen erregenden Neuerungen in den 1960er-Jahren sind die folgenden Jahrzehnte gelegentlich als Stagnation oder Rückschritt empfunden worden. Das hängt mit den veränderten politischen Rahmenbedingungen zusammen, nicht ausschließlich mit der literarischen Produktion. Denn mit dem sich auffächernden Werk von Jaan Kross (s. § 46) setzte gerade die Prosa zu einem Höhenflug an, der den Übergang in die neue Zeit begleitete und mitgestaltete. Daneben haben alle oben genannten Personen weiter geschrieben und zusätzlich zahlreiche bemerkenswerte Autorinnen und Autoren debütiert (vgl. § 41). Sie alle bereicherten das Bild der estnischen Prosa dieser Zeit um wichtige Aspekte, auch wenn niemand von ihnen einen annähernd so hohen Stellenwert erlangt hat wie die eingangs des Paragraphen genannten Unt, Valton, Vetemaa und Traat. Bei einem Großteil der Kurzprosa kann man eine starke Konzentration auf das Psychologische feststellen, wie sie vielleicht am besten beim Werk von Vaino Vahing deutlich wurde. Als praktizierender Psychiater musste er einen

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besonders geschärften Blick für die menschliche Seele und ihre Abgründe haben. Seine Novellen, die in den Sammlungen Kaemus (Betrachtung, 1972) und Näitleja (Der Schauspieler, 1976) herauskamen, lesen sich häufig wie Krankheitsgeschichten und haben selten einen fröhlichen Ausgang, auch nach vermeintlichen Lösungen oder Entladungen bleibt immer ein zumindest schaler Nachgeschmack. Bezeichnenderweise sind missglückte Liebesgeschichten und scheiternde Ehen ein beliebtes Thema bei ihm, womit er in gewisser Weise die Realität einer Gesellschaft abbildete, die sich durch eine hohe Scheidungsrate auszeichnete. Vahing hat ferner, teilweise gemeinsam mit Kollegen, Schauspiele geschrieben und sich als Theaterkritiker einen Namen gemacht. Was die schauerliche Ausweglosigkeit anbetrifft, so steht Rein Saluri darin Vahing in nichts nach. Auch er hat wichtige Theaterstücke geschrieben (vgl. §§ 44, 47), in denen er sich – selbst traumatisiert durch einen Zwangsaufenthalt als Kind in Sibirien – oft mit der Vergangenheit befasste, die ihn seit seinem ersten Prosaband mit dem bezeichnenden Titel Mälu (Das Gedächtnis, 1972) nicht mehr losließ. In der Titelgeschichte dieses Buches, die in mehrere Sprachen übersetzt worden ist, geht es um die Erinnerung an die Nachkriegszeit, als der Kampf der neuen Machthaber mit den Waldbrüdern noch in vollem Gange ist und ein kleines Kind Leidtragender der Auseinandersetzungen ist. Die Erzählungen der weiteren Sammlungen – Kõnelused (Gespräche, 1976), Rebane räästa all (Der Fuchs unter der Traufe, 1979), Uksed lahti, uksed kinni (Türen auf, Türen zu, 1981), Üks, kaks ja korraga (Achtung, fertig und hau ruck, 1983) und Puusõda (Der Baumkrieg, 1985) – erweitern den Themenkreis: Nun sind auch die von der aktuellen gesellschaftlichen Situation bedingten Krisen und inneren Zerrüttungen der Menschen ins Blickfeld des Autors gerückt. Saluris Texte zeichnen sich durch sprachlichen Reichtum und komplizierte Strukturierungen mit wechselnden Perspektiven und verschiedenen Niveaus aus. In Mari Saats Prosa steht ebenfalls die Konzentration auf die Psychologie ihrer Personen im Vordergrund, wobei seit ihrem Debüt mit Katastroof (Die Katastrophe, 1973) zwischenmenschliche Beziehungen in der Gegenwart im Zentrum ihrer Handlungen stehen. Die Katastrophe der genannten Erzählung besteht darin, dass sich die Hauptperson in ihrem Streben nach Anerkennung und Selbstverwirklichung, die in Selbstsucht entartet, als liebesunfähig erweist und am Ende nicht nur alles verliert, sondern auch zu destruktiven Handlungen neigt. In Mida teha emaga? (Was sollen wir mit Mutter machen?, 1978), Laanepüü (Das Haselhuhn, 1980) und Õun valguses ja varjus (Der Apfel in Licht und Schatten, 1985) werden die Beziehungen innerhalb einer Familie, die teilweise mit dem Stadt-Land-Kontrast ver-

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knüpft werden, behandelt; Saats Prosa ist unauffällig und beschäftigt sich mit den gewöhnlichen Menschen und ihrem Alltag, aber dabei geht sie in die Tiefe. Die Liebe, deren Schwierigkeit und Scheitern und die Einsamkeit der Menschen sind auch bei Toomas Vint eines der beherrschenden Themen. Seit seiner ersten Novellensammlung Kahel pool hekiga palistatud teed (Auf beiden Seiten des mit einer Hecke umsäumten Weges, 1974) hat der als Maler ebenso produktive Autor ein halbes Dutzend weitere Sammlungen und seit seinem ersten Roman Väikelinna romaan (Der Kleinstadtroman, 1980) ebenso viele Romane vorgelegt. Analog zu seinen Gemälden, die an René Magritte erinnern, verfügt Vints Prosa häufig über ein surrealistisches Element, eine unerwartete und überraschende Wendung oder eine absurde Problemlösung. Surrealistische Züge sind gleichfalls bei Teet Kallas erkennbar, dessen Heliseb-kõliseb … (Es schallt und klingt …, 1972) wiederholt mit Bulgakovs Meister und Margarita verglichen worden ist. Der Roman ist im Gefängnis abgefasst worden, wo Kallas wegen vermeintlicher antisowjetischer Agitation einige Monate verbrachte. Er hatte bereits Ende der 1950er-Jahre debütiert und in den 1960er-Jahren Jugendliteratur sowie seinen ersten Band mit Kurzprosa publiziert. In den 1970er-Jahren verfasste er weitere Prosawerke, die sich mit dem Alltag der Gegenwartsgesellschaft auseinandersetzten. Jaak Jõerüüt hatte 1975 mit Gedichten debütiert und schrieb danach überwiegend Prosa. Nach einigen Novellensammlungen kam 1982 der erste Band des Romans Raisakullid (Die Aasgeier, 2. Band 1985) heraus, der das eintönige Großstadtleben am Ausgang des 20. Jahrhunderts zum Inhalt hat und das Aufeinanderprallen von bürokratischer Abstumpfung und humanistischen Idealen zeigt. Jõerüüt hat auch Kinderliteratur geschrieben und ist seit Ende der 1980er-Jahre vornehmlich in der Politik tätig, so war er mehrmals Minister und Botschafter seines Landes u.a. in Helsinki, Rom und New York. Eine ganz besondere Stimme innerhalb des estnischen Literatur ist Asta Põldmäe, die erst 1977 mit dem Prosazyklus Me (Wir) debütierte und auch danach sehr sparsam mit ihren Worten umging. Sie war nach ihrem Studium lange Zeit im journalistischen Bereich tätig und ist seit 1986 bei Looming für die Belletristik zuständig, nebenher ist sie auch als Übersetzerin aus dem Spanischen in Erscheinung getreten. Põldmäes umfangreichste Sammlung, die auch ihr Debüt von 1977 enthält, erschien 1989 unter den Titel Linnadealune muld (dt. Die Erde unter den Städten, 1993). Alle ihre Texte bewegen sich an der Grenze zu anderen Genres, zur Kinder- und Jugendliteratur einereits, zur Lyrik andererseits. Denn die Autorin ist eine Sprachperfektionistin, die

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jede Zeile ihrer Prosa zu einer Gedichtzeile werden lässt. Das spiegelt sich auch in den Themen wider, die nicht so sehr die banale Alltagswelt abdecken, sondern sich allgemeiner mit der Welt, der Umwelt und der Natur befassen. Wie kaum jemand anders gilt Põldmäe als meisterhafte Stilistin. Was die Sparsamkeit der Mittel anbetrifft, ist die Prosa von Põldmäe mit den Texten von Jaan Kruusvall vergleichbar, der 1973 seine erste Sammlung mit Kurzprosa vorlegte, der er einige weitere folgen ließ, ehe er sich mehr der Dramatik zuwandte, wo er seine größten Erfolge erzielte. Die Prosa von Kruusvall ist lakonisch, aber nicht von der lyrischen Intensität wie bei Põldmäe. Während alle bisher in diesem Abschnitt genannten Personen von ihrem Geburtsjahr mehr oder weniger der »Kassettengeneration« der 1960er-Jahre angehörten und nur etwas später oder weniger auffällig debütierten, traten Anfang der 1980er-Jahre in der Prosa neue Namen auf den Plan, die einer jüngeren Generation angehörten. Die auffälligsten Debüts waren die von Mihkel Mutt und Ülo Mattheus. Mutt ist 1953 geboren und war nach seinem Estnischstudium auf verschiedenen Posten im journalistischen Bereich tätig: Verlagslektor, Redakteur bei Looming, Redaktionsmitglied bei verschiedenen Tageszeitungen, von 1997 bis 2005 war er Chefredakteur der Kulturwochenzeitung Sirp (Die Sichel), und seit 2005 sitzt er auf dem Thron im literarisch-publizistischen Parnass, dem Chefredakteurssessel von Looming. Mutt publizierte in den 1970er-Jahren Kritiken und Novellen und debütierte in Buchform 1980 mit der Sammlung Fabiani õpilane (Fabians Lehrling). Schon hier hob er sich vom Gros der zeitgleich publizierten Prosa durch seine feine Ironie und den satirischen Einschlag ab, mit der er seine in elegantem Stil geschriebene Prosa zu würzen wusste. Mutt schrieb nicht mehr über die Vergangenheit, sondern hielt sich nur im Hier und Jetzt auf; dabei behandelte er sowohl kulturell-gesellschaftliche Themen wie in dem Roman Hiired tuules (Mäuse im Wind, 1982), der im Theatermilieu spielt, als auch zwischenmenschlich-gesellschaftliche wie Fragen der Ehe und Scheidung in den Romanen Keerukuju (Figurenwerfen, 1985) und Kallid generatsioonid (Liebe Generationen, 1986). Mihkel Mutt fiel immer durch eine unkonventionelle Bissigkeit auf, die ihm den Beinamen des enfant terrible eingebracht hat (vgl. Belobrovtseva 1985). Bestätigt musste sich der Autor in seinem Streben nach Unkonventionalität fühlen, als eine deutsche Übersetzung seiner Erzählung Mu floorake, mu faunake (1991; dt. Mein Floralein, meine Faunalein, 1992), die in der Ichform von einer großen Frau berichtet, die nur kleine, mickrige Männer liebt, in einen Sammelband der Taschenbuchreihe rororo neue frau aufgenommen und der Autor im Anhang explizit als Autorin angeführt wurde (Mutt 1993).

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Ülo Mattheus ist von der Intensität und Frequenz seiner Texte her mit Asta Põldmäe zu vergleichen. Nach seiner Debütsammlung X maantee (Chaussee X, 1981) sind erst eine weitere Sammlung sowie die beiden Romane Kuma (1989; dt. Der Schein, 1997) und Läheb ega peatu (Geht und hält nicht an, 1996) erschienen. Seine Prosa ist hoch stilisiert und gekennzeichnet durch eine gewisse Losgelöstheit von Estland, sie ist zeitlos und scheint wenig mit der Gegenwart und der konkreten Welt um den Autor herum zu tun zu haben. Es überwiegen psychologische Themen und die Spiegelung der Geschichte im Bewusstsein der Menschen, verbunden mit einem Suchen nach den Wurzeln. Nicht zufällig ist der Autor gelegentlich mit dem lateinamerikanischen magischen Realismus in Zusammenhang gebracht worden (Kurman 1992), was möglicherweise auch an Mattheus’ Vorliebe für Borges-Zitate und phantasiereiche Visionen liegt. Nicht selten gerät man bei diesem Autor auf eine Wanderung durch die Jahrhunderte und in fremde und faszinierende Welten. Ganz extrem wurde dies bei seinem zweiten Roman deutlich, der als eine einzige große buddhistische Etüde aufzufassen ist. Mattheus Werk steht damit an der Grenze zum Übergang in eine neue Periode der estnischen Literatur, zu der auch alle späteren Debüts der 1980er-Jahre gehören.

§ 46 Jaan Kross Der Tallinner Junge Jaan Kross ist am 19. Februar 1920 in der estnischen Hauptstadt geboren und verkörpert damit wie kaum ein anderer die junge Estnische Republik, die ein paar Wochen vor seiner Geburt mit dem Friedensvertrag von Tartu (s. § 2) endgültig Realität geworden war. Von seinen ersten Atemzügen an war er ein Kind dieser Republik, er wuchs mit ihr zusammen auf, und es ist kein Zufall, dass er mit seinem Spätwerk am Ende des 20. Jahrhunderts auch dieser Republik ein Denkmal setzte: »Der beste Kenner der estnischen Kulturgeschichte wurde der wichtigste Zeitzeuge der Republik Estland«, wie Jaan Undusk (2005a, 608) es ausgedrückt hat. Als Kross nach einer weitgehend unbeschwerten Kindheit und Schulzeit 1938 sein Abitur machte, hatte auch die Republik Estland eine gewisse Reife erlangt. Die zu bewahren war auch ein Anliegen des jungen Abiturienten, der schon während der Schulzeit erste schriftstellerische Versuche unternommen hatte und sich nun in Tartu an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät immatrikulierte. Das Studium stand nicht zuletzt im Zeichen des studentischen Widerstands gegen das autoritäre Regime von Päts, bald aber auch ge-

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gen den sich abzeichnenden Untergang Estlands. Die dann hereinbrechende Katastrophe konnten die Studierenden nicht abwenden. Nach der sowjetischen Machtübernahme wollte Kross die Juristerei an den Nagel hängen und in den technischen Bereich überwechseln, aber aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft – sein Vater war Ingenieur in einer Maschinenfabrik – wurde ihm der Übergang zur Technischen Hochschule in Tallinn verwehrt, so dass er doch beim Jurastudium in Tartu blieb. »Und niemand hat den Versuch unternommen mir zu erklären, wie ich der Sowjetunion weniger schaden könnte, wenn ich ein Jurist des neuen Systems werde als ein Elektroingenieur«, so kommentierte Kross in seinen Memoiren seine erste Bekanntschaft mit der sowjetischen Absurdität (Kross 2003, 42). Das erste sowjetische Jahr überstand Kross als Student, nebenbei war er Kulturkorrespondent einer Tallinner Zeitung. Während aus seinem Bekanntenkreis manch einer verschwand, blieb Kross einstweilen unbehelligt. Allerdings wechselte er im Frühsommer 1941 sicherheitshalber mehrmals den Wohnort. Während der deutschen Besatzung schlug Kross sich als Journalist und Bankangestellter durch und unternahm seinen ersten – bald jedoch abgebrochenen – Versuch, einen Roman zu schreiben. Offiziell war er nach wie vor an der Universität immatrikuliert, was ihn eine Weile vor der Einberufung verschonte. Als die Lage gespannter wurde, versuchte er sich der Deutschen Wehrmacht mit Hilfe ärztlicher Atteste zu entziehen; als auch das nicht mehr gelang, diente er den Besatzern als Dolmetscher, während er weiterhin Verbindungen zu einer im Untergrund aktiven Gruppe, die sich um die Wiederherstellung der estnischen Eigenstaatlichkeit bemühte, unterhielt. Das ging bis zum April 1944 gut, dann wurde er doch von den Nazis inhaftiert und musste die Zeit bis September 1944 in Untersuchungshaft verbringen. In den Wirren des Kriegsendes kam er beim Abzug der deutschen Truppen frei und ging nach der Wiedereroberung durch die sowjetische Armee wieder nach Tartu, wo er sein Studium formal abschloss und sich anschließend als Assistent und später Dozent für Völkerrecht seiner Doktorarbeit widmete. Dann wurde er 1946 als verdächtiges Element verhaftet und musste acht Jahre als politischer Gefangener (1947–1951) in der Komi ASSR und später als Verbannter (1951–1954) im Krasnojarsker Gebiet verbringen. Diesen fundamentalen Einschnitt in seine Biographie, der letztendlich dazu geführt hat, dass Kross später Schriftsteller wurde, hat der Autor 1980 in einer außergewöhnlich eleganten Formulierung in die seiner Personalbibliographie vorangestellte autobiographische Notiz einbauen können: Ich war gerade dabei sie [die Doktorarbeit, CH] unter Dach und Fach zu bringen, als ich 1946 verhaftet wurde. Die folgenden beinahe acht Jahre waren natürlich ein un-

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Jaan Kross 1985 in Hamburg, Foto: Peter Strehmel

ersetzlicher Zeitverlust, aber gleichzeitig auch eine einmalige Studienzeit: eine unglaubliche Vielfalt von Menschen in für sie völlig untypischen Situationen mit all ihren Veränderungen und Selbstbehauptungen geradezu unter Laborbedingungen untersuchen und deuten zu können. (Kross 1980, 6) Noch fünf Jahre vorher hatte es im einschlägigen biographischen Literaturlexikon lapidar geheißen, dass er »1948–50 in der Komi ASSR und im Krasnojarsker Gebiet war« (EKBL 162) – das war die damals übliche verhüllende Formulierung, die freilich allgemein als unfreiwilliger Sibirienaufenthalt verstanden wurde.

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Nun war aber plötzlich von Verhaftung und einem viel längeren Zeitraum die Rede. Dieser Ausrutscher der Zensur lässt sich nur damit erklären, dass die genannte Publikation eine vergleichsweise geringe Verbreitung in Bibliotheken und wissenschaftlichen Einrichtungen hatte und nicht für das breite Publikum bestimmt war. Trotzdem zeigt sich hier erneut, dass die Zensur auch in vermeintlich finsteren Zeiten – denn das Jahr 1980 kann getrost als der Höhepunkt der Breˇznev’schen Stagnation angesehen werden – immer mal wieder erstaunliche Dinge passieren ließ. 1954 konnte Kross nach Estland zurückkehren, wo er der Rechtswissenschaft endgültig Ade sagte und sich vorerst in seiner Heimatstadt mit Gelegenheitsarbeiten durchschlug. Ab 1955 veröffentlichte er seine Gedichte in Zeitschriften, es folgten Übersetzungen vornehmlich aus dem Deutschen und Französischen, so dass er sich bald als freier Schriftsteller ernähren konnte. Mit einigen Unterbrechungen – er bekleidete kurzzeitig diverse Positionen im Schriftstellerverband und war am Anfang der Legislaturperiode des ersten frei gewählten Estnischen Parlaments 1992/1993 eine Zeit lang Abgeordneter – ist er das bis heute geblieben. Das Leben des Balthasar Rüssow Jaan Kross hatte als Dichter begonnen (vgl. § 40) und wechselte, sieht man von einigen früheren kleineren Texten ab, 1970 zur Prosa. Der Beginn in diesem Genre, in dem er es zur Meisterschaft gebracht und das ihm internationalen Ruhm eingebracht hat, ist einem seltsamen Zufall zuzuschreiben: Mitte der 1960er-Jahre hatten sowjetische Filmfunktionäre anlässlich eines Besuchs bei der Estnischen Filmagentur in Tallinn ihre Verwunderung darüber geäußert, dass die Esten keinen ordentlichen historischen Film über ihr Land vorzuweisen hätten. Daraufhin machte der Tallinner Literaturfunktionär und Übersetzer Lembit Remmelgas, der damals bei der Estnischen Filmagentur angestellt war und von Kross’ Interesse an geschichtlichen Themen wusste, diesem das Angebot, das Drehbuch für eben diesen fehlenden Film über die Geschichte Estlands zu verfassen. Kross sagte zu und wählte als Thema die Person des Balthasar Russow oder Rüssow (vgl. § 9), dessen vermutliche estnische Herkunft der aus Estland stammende Hamburger Historiker Paul Johansen kurz zuvor enthüllt hatte. Zwar blieb das Drehbuch im Räderwerk der sowjetischen Bürokratie zwischen Tallinn und Moskau stecken und wurde – sieht man von einer stark gekürzten und bis heute regelmäßig ausgestrahlten Fernsehfilmfassung ab – niemals realisiert, doch hatte der Autor nun so viel Material über diese historische Persönlichkeit, die Tallinner Geschichte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und die livlän-

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dische Geschichte der frühen Neuzeit ganz allgemein zusammengetragen, dass er beschloss, einen Roman daraus zu machen. Ein folgenreicher Beschluss, der ihn – wenn auch nicht ausschließlich – die nächsten zehn Jahre beschäftigen sollte: Der Roman Kolme katku vahel (dt. Das Leben des Balthasar Rüssow, 1986) erschien – nach den damals üblichen jeweiligen Vorabdrucken in Looming – in vier Bänden zwischen 1970 und 1980. Damit nimmt diese Tetralogie nicht nur innerhalb des Werkes von Kross eine zentrale Stellung ein, sondern auch im Rahmen der estnischen Prosa allgemein, denn mit seinen 370000 Wörtern ist es neben Tammsaares Tõde ja õigus (vgl. § 32) und Hints Tuuline rand (vgl. § 38) einer der umfangreichsten estnische Romane überhaupt. Der estnische Titel bedeutet wörtlich übersetzt ›Zwischen drei Pestseuchen‹ und steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen sich dieses monumentale Geschichtsgemälde abspielt: Als Pestseuchen, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts über das Land hereinbrachen, kann man neben den tatsächlichen Epidemien, die auf die Jahre 1531, 1549 und 1570–1578 zu datieren sind, auch die drei gierigen Nachbarn ansehen, die von allen Seiten über das von der Reformation erschütterte und militärisch geschwächte Land herfielen: Russen, Schweden und Polen. Die Titelgebung der deutschen Übersetzung ist zwar blasser, aber deswegen nicht falsch oder irreführend, da der Roman im weitesten Sinne tatsächlich eine Biographie von Balthasar Rüssow ist. Anhand dessen Leben (von ca. 1536 bis 1600) beschreibt Kross die Geschicke des Landes in jener bewegten Zeit, in der die alte Ordnung zusammenbrach und sich die Bevölkerung einer notwendigen Neuorientierung ausgesetzt sah. Die Handlung des Romans beginnt in den 1540er-Jahren und endet mit dem Tod Balthasars im Jahre 1600. Dazwischen liegen seine Ausbildung in Tallinn, Stettin und Wittenberg, ein langer Krieg (1558–1582) mit Hunger, Pest und Aufständen sowie Balthasars Tätigkeit als Pastor an der Tallinner Heiliggeistgemeinde, die traditionell die Gemeinde der estnischen Stadtbevölkerung war und in der bereits seit dem 15. Jahrhundert auf Estnisch gepredigt wurde. Die Hauptleidenschaft des Pastors gilt indes dem Schreiben einer, seiner Chronik. Er ist ein aufmerksamer Beobachter seiner Umgebung, sammelt Informationen und fragt Leute aus, um alles möglichst genau aufzuzeichnen. Streng genommen begibt er sich auf die Suche nach der Wahrheit, wobei nicht ausbleiben kann, dass diese Wahrheit nicht unbedingt allen gefallen wird. So entstehen Konflikte mit den Machthabern, Intrigen, Streitigkeiten und Machenschaften aller Art. Balthasar selbst wird von harten Schicksalsschlägen nicht verschont – die Pest macht auch vor seinen Nächsten nicht halt und nimmt ihm Frau und Kinder – und gerät, von den einen angefeindet als Aufsteiger, von den anderen verpönt als Angepasster, zwischen die Fron-

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ten; aber letztendlich behauptet er sich und erlebt drei Auflagen seiner »Chronica der Prouintz Lyfflandt«. Kross veranschaulicht in diesem Roman einerseits ein halbes Jahrhundert der wechselvollen Geschichte seines Landes, andererseits hielt er aber, wie es für historische Romane charakteristisch ist, seiner Zeit einen Spiegel vor, indem er den Problemkomplex »Macht – Loyalität – Wahrheit« ausführlich thematisierte. Gerade die ebenso müßig wie immer wieder verlockend erscheinende Frage nach der Wahrheit und den Methoden der Wahrheitssuche lassen sich mühelos auf andere Perioden übertragen. Kross selbst sieht sich hier bewusst nicht auf der Seite der professionellen »Wahrheitssucher«, d.h. der historischen Zunft, deren Werke er gründlich nutzt und verarbeitet, sondern auf der literarisch-fiktionalen Seite der »Wahrheitsspekulierer«: Er nutzt den Freiraum der historischen Düsternis und zeigt – anders als es Rüssows Bestreben gewesen sein mag – nicht unbedingt, »wie es gewesen« ist, sondern »wie es hätte sein können«. Die Themen von Kross Diese als Hauptwerk von Kross zu bezeichnende Tetralogie, die der Autor selbst gerne als sein liebstes Kind bezeichnet, stand am Anfang einer Reihe von Werken historischer Prosa und enthielt bereits sämtliche Charakteristika, die für Kross’ Prosa in diesem Genre bezeichnend sind: Schauplatz der Handlung ist fast ausschließlich Estland und hier vorzugsweise Tallinn, aber auch Tartu und andere Orte kommen vor. Nur selten, und dann stets mit deutlichem Bezug zu Estland, wird die Handlung an andere Orte verlegt. Soziologisch betrachtet handelt es sich bei dem dargestellten Milieu sehr häufig um die Grauzone zwischen Deutschtum und Estentum, wobei nahezu alle seine Protagonisten authentische Personen gewesen sind. Und sie alle sind mehr oder weniger gesichert estnischer Herkunft. Mit Balthasar tritt eine Person auf den Plan, die symbolträchtig Schichten und Grenzen überwindet und Estlands Verwobenheit mit der europäischen Kultur aufzeigt. In vielen weiteren Werken ist dieses Nebenanliegen von Kross erkennbar: seinem Volk einen berühmten Sohn – nie eine Tochter – »zurückzugeben«, d.h. den »Entnationalisierten« oder »Verdeutschten« oder »Verrussten« als Esten zu »enttarnen« und gewissermaßen »heimzuführen«. Für das Selbstwertgefühl eines Volkes, das jahrhundertelang unterdrückt worden war und zum Zeitpunkt des Erscheinens des größten Teils der Kross’schen Prosa gerade wieder einmal eine unangenehme Okkupations- und Repressionszeit durchmachte, waren solche Entdeckungen von großer Bedeutung. Denn sie zeigten den Esten, dass sie »auch etwas sind«, und bewiesen gegenüber der Okkupationsmacht,

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dass sie tiefer in der europäischen Tradition verwurzelt sind, als man es in Moskau wahrhaben wollte. Kross’ Texte waren damit auch Abgrenzung gegen sozialistische Gleichmacherei. Ferner ist die Loyalitäts- und Identitätsproblematik ein wiederkehrendes Element in Kross’ Prosa, der Konflikt zwischen Anpassung und Unterwerfung, zwischen kompromissloser Selbstbehauptung und selbstbewusstem Kompromiss kommt in der einen oder anderen Form in fast jedem seiner Werke vor. Schließlich setzt Das Leben des Balthasar Rüssow auch in formeller Hinsicht Maßstäbe: Die Sätze sind zurückhaltend und umsichtig formuliert, sie sind mit der Präzision eines Juristen abgefasst, der sich gegen alle möglichen Unwägbarkeiten und Anfeindungen glaubt absichern zu müssen, präzise, kompliziert und verschachtelt bis an die Grenze zur Langatmigkeit. Dabei ist seine Sprache keineswegs gekünstelt oder geschraubt, sondern plastisch und von einem geradezu barocken Wortreichtum. Am treffendsten hat dies Jaan Undusk in einer Hommage zum 80. Geburtstag des Autors beschrieben: Du schreibst beinahe niemals bloß: »Sie setzte sich auf das Bett.« Du schreibst auch nicht präzisierend: »Sie setzte sich auf den Bettüberzug.« Du schreibst nicht einmal: »Sie setzte sich auf den Fellüberzug des Ehebetts.« Du schreibst meistens mindestens folgendermaßen: »Sie setzte sich auf den an einigen unzugänglichen Enden von Motten zerfressenen Hundefellüberzug des unter der Matratze schon leicht knarrenden Ehebetts.« (Undusk 2000, 10). Zu derlei syntaktischen Verschachtelungen kommen noch zahlreiche Neologismen und Onomatopöien hinzu (Hasselblatt 2005c, 2005d), die Kross auch zu einem Sprachschöpfer ersten Ranges machen. Gewürzt wird dieser Stil schließlich durch reichliche Einstreuung fremdsprachlicher Ausdrücke und Sequenzen – meistens Deutsch oder Russisch, aber auch Französisch und andere Sprachen –, die die Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit der Darstellung vergrößern. Kleinere historische Prosa Noch vor dem Balthasar-Roman und während der Arbeit daran veröffentlichte Kross einige kürzere Erzählungen, die zwar formal keine Einheit bilden, aber unter dem Titel »Gestalten des Nationalen Erwachens« zusammengefasst werden können. In ihnen treten jeweils Persönlichkeiten aus der estnischen Kulturgeschichte in Erscheinung, die der Autor in kleinen Episoden näher beleuchtet bzw. in einem anderen Licht erscheinen lässt. Auch hier geht es primär nicht um Ergänzungen zur Kulturgeschichte, sondern um das Aufzeigen von Alternativen und neuen Möglichkeiten. 1966 erschien die kurze Erzählung Kahe kaotsiläinud paberi lugu (Geschichte von zwei verloren gegangenen Papieren), die 1824 spielt und Friedrich Reinhold Kreutzwalds

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(vgl. §§ 17, 18) Hinwendung zur estnischen Mythologie behandelt bzw. eine spekulative, aber eben nicht undenkbare Ursache für diese Hinwendung aufzeigt. 1971 folgte die Erzählung Pöördtoolitund (dt. Die Drehstuhlstunde, 1999), die Johann Woldemar Jannsen (vgl. §§ 14, 15) sowie dessen Sohn Eugen, der vierzig Jahre nach dem Tod seines Vaters den Bestechungsvorwurf energisch zurückweist, zum Gegenstand hat. 1973 (als Buch 1975) kam die längere Erzählung Taevakivi (dt. Der Himmelsstein, 1976) hinzu, die eine Begegnung zwischen Otto Wilhelm Masing (vgl. § 14), dessen italienischer Frau Caroline Antoinette Piccaluga und Kristian Jaak Peterson (vgl. § 16) aus dem Jahre 1821 beschreibt: Hier stoßen zwei Generationen aufeinander, die keine gemeinsame Sprache finden, was letztlich zu Masings Ablehnung führte, Petersons Gedichte zu veröffentlichen. Und schließlich widmete sich Kross mit der Novelle Kolmandad mäed (Die dritten Berge, 1975) einem Vertreter der bildenden Kunst, dem Maler Johann Köler (1826–1899, vgl. § 20), dessen Schicksal und Gedanken in den 1870er-Jahren er schildert. Bei all diesen Erzählungen dominiert die nationale Thematik insofern, als sämtliche Protagonisten aus der Kulturgeschichte bekannte Personen sind. In den späteren Romanen und Novellen wird dieses Element weniger wichtig. Ungefähr zeitgleich mit dem Vorabdruck des Balthasar-Romans veröffentlichte Kross 1971 seine Neli monoloogi Püha Jüri asjus (dt. Vier Monologe Anno Domini 1506, 1974), sein erstes separat erschienenes Prosabändchen. Zentrale Figur dieser Monologe ist der Maler Michael Sittow, ein Schüler Memlings, der in Tallinn geboren worden war und dort auch starb, in der Zwischenzeit aber viel in Europa umhergestreift war. Er hatte unter anderem in Spanien und den Niederlanden gelebt und war ein gemachter Maler, als er zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Tallinn eintrifft. Hier nun soll er sich auf Wunsch der ortsansässigen Zünfte den strengen Zunftregeln unterwerfen und ein für Neuankömmlinge verpflichtendes Gesellenstück anfertigen. Auf diese Weise glauben sie sich des unliebsamen Konkurrenten entledigen zu können, weil sie davon ausgehen, dass sich Sittow nicht dazu herablässt. Zum Gram der kleinkarierten Provinzkünstler fügt Sittow sich jedoch den Auflagen und löst sie bravourös. Damit darf er in Tallinn bleiben, weil man ihm das Niederlassungsrecht nun nicht mehr verweigern kann. In vier knappen Monologen wird in bildreicher Sprache aus vier verschiedenen Blickwinkeln – Braut, künftiger Schwiegervater, Gildenvorsteher und Sittow selbst – die Tallinner Stadtgesellschaft vom Beginn des 16. Jahrhunderts wirklichkeitsnah dargestellt. Das ein Jahr später erschienene, ebenfalls recht schmale Bändchen Michelsoni immatrikuleerimine (dt. Die Immatrikulation des Michelson, 1971)

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war nach ähnlichem Muster gestrickt: Kross nimmt die historisch belegte feierliche Aufnahme des Generals Johann von Michelson in die estländische Adelsmatrikel zum Anlass, in inneren Monologen verschiedener Personen die Besonderheiten dieses Generals, aber auch die Absonderlichkeiten der Adelsgesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts darzustellen. Möglich ist dies nur, weil Michelsons Herkunft ungeklärt ist und eine estnische Abstammung bei ihm nicht ausgeschlossen werden kann. In Kross’ Novelle ist er denn auch ein Kind estnischer Eltern, das zum Günstling der Zarin Katharina II. aufgestiegen und nicht zuletzt durch die Niederschlagung des Kosakenaufstands von Pugaˇcov in Südrussland (1774/75) zum vielfach geehrten General geworden war. Bei all seinem Ruhm vergisst der Emporkömmling seine Eltern jedoch nicht und nimmt sie zu der feierlichen Veranstaltung, die der Novelle Titel und Rahmen gibt, mit. In den Augen – und Nasen – des Adels sind Michelsons Eltern Vertreter des nicht besonders gut riechenden Landvolks. Der ehemalige Bauernjunge triumphiert nun über seine neuen Standesgenossen. Darüber hinaus aber stimmt diese Konfrontation zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten den General auch nachdenklich: In Südrussland hat er an der Spitze der Zarenarmee erfolgreich einen Bauernaufstand niedergeschlagen, selbst kommt er aber aus eben diesem Bauernstand, was also täte er, wenn »seine« Esten einen solchen Aufstand wagten und er ihnen entgegentreten müsste? Erneut tritt der Loyalitätskonflikt in den Vordergrund. Der Verrückte des Zaren Noch vor der Vollendung des Balthasar-Romans erschien Kross’ bekanntester Roman, Keisri hull (1978, dt. Der Verrückte des Zaren, 1988). Innerhalb seines Œuvres tanzt dieser Roman aus der Reihe: Als Hauptperson tritt hier kein Este in Erscheinung, sondern der – authentische – deutschbaltische Adlige Timotheus von Bock, der ein estnisches Bauernmädchen geheiratet hatte. Ungewöhnlich ist gleichfalls, dass Kross mit dem Esten Jakob Mättik, von Bocks Schwager, eine fiktive Person einführt, die ihm als Tagebuchschreiber dient. Und schließlich tritt ein wie auch immer geartetes »nationales« Anliegen zugunsten einer größeren, globaleren Problematik in den Hintergrund. Für den internationalen Erfolg des Romans dürfte dies nicht unerheblich gewesen sein. Kross beschreibt mit Timotheus von Bock einen deutschbaltischen Adligen, der es im Zarenreich weit gebracht hatte und zum engen Vertrauten von Zar Alexander I. aufgestiegen war. Der Zar nahm dem Edelmann das Versprechen ab, ihm immer die Wahrheit zu sagen, was dem baltischen Adligen danach zum Verhängnis wurde: In einem Memorandum über die Zustände

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in Russland legte er offen die Missstände im Zarenreich bloß, was beim Autokraten auf wenig Verständnis, geschweige denn Gegenliebe stieß. Von Bock fiel in Ungnade und verschwand für Jahre in den Kasematten von St. Petersburg, wo er isoliert und gefoltert wurde. Erst unter Alexanders Nachfolger, Nikolai I., wurde er offiziell für verrückt erklärt, so dass er ab 1827 seine letzten Lebensjahre relativ frei – wenn auch unter ständiger Bespitzelung – im Kreise seiner Familie auf seinem Gut in Estland verbringen durfte. Dies sind die historischen Tatsachen, die in Rückblenden in den Roman, der formal aus dem Tagebuch des Schwagers besteht, eingeflochten werden. Ferner beschreibt dieser Schwager die bedrückende Bespitzelung und die Launen von Timotheus, vor allem aber den von langer Hand geplanten Fluchtversuch, den von Bock mit seiner Familie unternimmt, weil er glaubt, die Situation auf dem Gut und generell im Zarenreich nicht mehr ertragen zu können. Alles ist vorbereitet, doch als die Flüchtlinge in Pärnu im Schutze der Nacht das angeheuerte Schiff betreten sollen, winkt Timotheus – buchstäblich in letzter Sekunde – mit den folgenden Worten ab: »Ich kann nicht fahren. (…) Ins Ausland geht nur, wer sich rächen will. (…) Wer etwas Wesentlicheres will, bleibt zu Hause. (…) Dies ist meine Schlacht – mit dem Zaren, mit dem Zarenreich, mit dem, was wir haben (…) Nein, nein, wenn schon weg, dann nicht in die Schweiz, sondern dorthin (…) hinter Irkutsk, wo die anderen schon sind. Für mich ist es das einzig richtige dort zu sein, wo man mich zu sein zwingt. Dort – wie ein eiserner Nagel im Fleisch des Zarenreiches …« (Kross 1978, 268–269) Diese Kulmination des Romans enthält gleichzeitig die Kernaussage: Eine Flucht wäre gleichzusetzen gewesen mit Aufgabe, Anpassung, Unterordnung. Der Wille, im Lande zu bleiben, ist gerade keine Anpassung, sondern ein kompromisslos aufbäumender Protest; es geht um ein widerspenstiges Daheimbleiben, um die störende und störrische Anwesenheit, die den Machthabenden so unliebsam ist. Logischerweise ist Der Verrückte des Zaren – ganz sicher in der Sowjetunion und in Osteuropa – immer wieder als Allegorie auf die politischen Zustände im 20. Jahrhundert gelesen und verstanden worden; dies hat auch seine Berechtigung, jedoch würde eine Reduzierung auf diesen Aspekt dem Werk nicht gerecht. In dem Roman geht es Jaan Kross erneut explizit um den bereits erwähnten Problemkreis »Macht – Loyalität – Wahrheit«, und der ist nicht auf totalitäre Systeme beschränkt, sondern von globaler Relevanz.

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Die anderen historischen Romane Auch die folgenden historischen Romane von Kross befassen sich mit den Themen Identität und Anpassung. Zusätzlich ist verstärkt ein soziales bzw. nationales Element zu erkennen, so zum Beispiel im 1982 erschienenen Rakvere romaan (dt. Die Frauen von Wesenberg oder Der Aufstand der Bürger, 1997), der in den 1760er-Jahren spielt und einen Rechtsstreit zwischen der im Nordischen Krieg völlig zerstörten nordostestnischen Stadt Rakvere (deutscher Name: Wesenberg) und der örtlichen Adelsfamilie, die den Flecken mitsamt seinen Bürgerinnen und Bürgern gleichsam als Privateigentum betrachtet, zum Inhalt hat. Der Protagonist ist erneut eine fiktive Person, die in Deutschland studiert hatte und damit fast zum Deutschen aufgestiegen war, nun aber in mehrfacher Hinsicht als Doppelagent zwischen die Fronten gerät. Der Ausgang des sich über Jahrzehnte hinziehenden Rechtsstreits ist letztlich sekundär – die Stadt verliert –, die Kraft des Romans liegt in dem schillernden Wirrwarr von Intrigen und Affären, der ein anschauliches Bild von der Adelswelt und der bäuerlichen Welt im Estland des 18. Jahrhunderts entstehen lässt. Stärker an historischen Personen orientierte sich der folgende Roman, Professor Martensi ärasõit (1984; dt. Professor Martens’ Abreise, 1992). Hierin behandelte Kross zwei namensgleiche und authentische Hauptpersonen: Georg Friedrich Martens (1756–1821) und Friedrich Fromhold Martens (1845–1909), beide waren Völkerrechtler, der Erste in Deutschland unter Napoleons Herrschaft, der Zweite als gebürtiger Este in russischen Diensten. Für beide ist die Frage der Selbstbehauptung in einem durch äußere Zwänge charakterisierten System von existenzieller Bedeutung, beide scheitern letztendlich in ihrem Versuch, reinen Tisch mit sich selbst und ihrer nächsten Umgebung zu machen: Die Schuld, die sie sich für jahrzehntelange Unaufrichtigkeit aufgeladen haben, kann am Ende nicht mehr beglichen werden. Dieser Roman, dessen Rahmenhandlung 1909 spielt, markierte im Werk von Kross insofern einen Übergang, als der Autor, der sich mit seiner historischen Prosa behutsam und beständig, wenn auch nicht linear, an sein eigenes Jahrhundert herangeschrieben hatte, mit ihm die Schwelle zum 20. Jahrhundert überschritt. Die beiden folgenden Romane, die fast ausschließlich im 20. Jahrhundert spielen, schlugen eine Brücke zu seinem späteren Werk, das stärker (auto)biographische Züge trug. Zunächst widmete sich Kross noch berühmten Söhnen Estlands, in Vastutuulelaev (Das Gegenwindschiff, 1987) dem aus Estland gebürtigen Astronom und Optiker Bernhard Schmidt, der jahrelang in Deutschland tätig war, in Tabamatus (Unerreichbarkeit, 1993) dem Politiker Jüri Vilms, der eine wichtige Rolle im Vorfeld

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der Erlangung der ersten estnischen Unabhängigkeit spielte. Vilms wurde unter niemals ganz geklärten Umständen 1918 von deutschen Soldaten in Helsinki erschossen. Anhand von Vilms’ tragischem Schicksal, der für die Anerkennung Estlands warb, ohne jedoch viel ausrichten zu können, wird abermals das Problem der Fremdherrschaft behandelt, und zwar auf mehreren Ebenen: Kross siedelte den Roman während der deutschen Besatzung des Zweiten Weltkriegs an und lässt in ihm einen jungen Historiker sich mit dem Schicksal von Vilms befassen. GULAG-Erfahrungen Ein anderes großes Thema bearbeitete Kross bereits seit den späten 1970erJahren, nämlich die jüngste Vergangenheit Estlands und der Esten, wie der Autor sie selber erfahren hatte. Da es hier um die bedrückenden Jahre der ersten Sowjetisierung (1940), der deutschen Besatzung (1941–1944) und der frühen Sowjetzeit ging, waren den Publikationsmöglichkeiten freilich enge Grenzen gesetzt. Dennoch hat Kross wenig für die Schublade geschrieben, er versuchte in kleineren Novellen Nischen zu finden und die Ausdrucksformen den politischen Zwängen anzupassen. Seit 1980, als er drei Novellen unter dem Titel Kajalood (Das Echolot) publizierte, hat er rund 15 Erzählungen, die diese Phase der estnischen Geschichte thematisieren, veröffentlicht. Sie sind später zum Teil in dem Sammelband Silmade avamise päev (Der Tag, an dem die Augen aufgingen, 1988) erschienen, teilweise aber nur in Zeitschriften und dann in seiner achtzehnbändigen Werkausgabe (1997–2005). Verbindendes Element dieser Novellen ist die Hauptperson Peeter Mirk – in einigen Stücken auch Jaak Sirkel –, die relativ unverhüllt autobiographische Züge trägt. Sie berichtet in verschiedenen Episoden aus der Zeit zwischen 1938 und 1958 über zum Teil haarsträubende Schicksale aus jenen dramatischen Jahren, in denen auch die Esten gründliche Bekanntschaft mit dem sowjetischen GULAG-System machen konnten. Grundthema ist das Leben in bedrängter Zeit und unter lebensbedrohenden Bedingungen, es geht um Gefangenschaft, Lagerleben, Fluchtversuche und persönliche Unglücke. Auch hier stellt sich in verschiedenen Extremsituationen immer wieder die Frage nach der Verantwortung. Diese Geschichten sind ebenso spannende wie erschütternde Dokumentationen einer Zeit, der der Humor des Autors noch eine aller Tragik innewohnende unfreiwillige Komik abgewinnen kann. Gekrönt wurde dieser Zyklus von dem 1990 erschienenen Roman Väljakaevamised (dt. Ausgrabungen, 1995), der aufgrund der damals schwierigen wirtschaftlichen Lage – und nicht etwa wegen politischer Probleme, die zu jenem Zeitpunkt nicht mehr bestanden – zuerst in finnischer Übersetzung

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(1989) erschien. Der Roman ist, oberflächlich betrachtet, ein Bericht über die Erlebnisse eines entlassenen politischen Gefangenen, der nach Stalins Tod und achtjähriger Gefangenschaft bzw. Verbannung 1954 aus Sibirien nach Tallinn zurückkehren kann. Schon diese Rahmenbedingungen deuten an, dass Kross sich nun kaum noch um Verfremdungen bemüht, denn hier geht es um seine eigene Biographie: Vieles von dem, was er in den Ausgrabungen beschreibt, ist die eigene erlebte Geschichte. Das Bild des Ausgrabens wird in dem Roman dreifach bemüht. Erstens muss ein entwurzelter Rückkehrer Fuß fassen in einer ihm ziemlich fremden Gesellschaft, was dem einstigen Juristen, der der Rechtswissenschaft aufgrund der hinter ihm liegenden Erfahrungen und der Zustände in dem Land, in dem er mittlerweile lebt, endgültig den Rücken gekehrt hat, nur als Hilfsarbeiter bei archäologischen Ausgrabungen auf dem Tallinner Domberg gelingt. Zweitens gräbt sich dieser Hilfsarbeiter dann buchstäblich tief in die Vergangenheit seiner Vaterstadt hinein und findet eine mittelalterliche Handschrift, in der ein reuiger Bischof aus dem 13. Jahrhundert Rechenschaft ablegt über sein Leben. Dabei war er zu der erschütternden Einsicht gekommen, dass seine gesamte Tätigkeit der Missionierung und Eroberung von Übel und lediglich Folge eigener Machtgier war. Hier konstruiert Kross – der historische Fund ist reine Fiktion – in bewährter Manier eine offenkundige Parallele zu allen späteren Eroberern und Unterdrückern bis in die Sowjetzeit hinein. Die Folge ist, dass im Roman eine Publikation dieses mittelalterlichen Fundes selbst im vermeintlichen Tauwetter der fünfziger Jahre unmöglich war. Bittere Ernüchterung über das begrenzte Maß an Freiheit stellt sich ein. Und drittens werden in diesem Roman zahlreiche verschüttete, vergessene und verdrängte persönliche Schicksale »ausgegraben«. Kross verarbeitete authentische Einzelschicksale, die nur flüchtig verfremdet sind, indem die Namen geändert oder verschiedene verbürgte Episoden zum Schicksal einer kunstvoll zusammengestellten neuen Romanfigur zusammengefügt worden sind. Der »dritte Weg« und der Sprung in die Gegenwart Die Romane Wikmani poisid (Die Wikmannschen Jungen, 1988) und Mesmeri ring (Der Mesmer-Kreis, 1995) gehören ebenfalls zur autobiographischen Prosa von Jaan Kross. Sie sind literarische Verarbeitungen der Schulund Studienzeit des Autors inmitten historischer Umwälzungen. Gleichzeitig fiel das Erscheinen von Wikmani poisid, worin das Schuljahr 1937/38 behandelt wird und die erste in Freiheit und Frieden herangewachsene Generation in Estland ihr Abitur machte, in das Jahr der »Singenden Revolution«, was dem Roman eine begeisterte Aufnahme bescherte: Das Buch ließ vor den Au-

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gen der Leserschaft genau jene Zeit wieder Revue passieren, über die man lange nur negativ hat sprechen dürfen und deren Rehabilitation bzw. in gewisser Hinsicht Wiederherstellung man nun forderte. Darüber hinaus knüpfte der Roman mit seiner Thematik an die beste Tradition estnischer Schulromane wie etwa Oskar Luts’ Kevade (vgl. § 27) oder Tammsaares zweiten Band von Tõde ja õigus (vgl. § 32) an. Der Folgeroman Mesmeri ring ist wesentlich düsterer und lässt nur zu Anfang etwas von einer unbeschwerten Studentenzeit durchschimmern. Er behandelt den Zeitraum 1938–1941 und schildert aus studentischer Perspektive die Situation am Ende von Päts’ »Schweigender Periode« und die beginnende Sowjetisierung Estlands mit ihren schnell spürbaren grausamen Begleiterscheinungen. Die Unmöglichkeit, dem Dilemma zu entrinnen, wird hier einfühlsam und anschaulich dargestellt. Einen Abschluss in Kross’ Beschäftigung mit dem Verlust von Estlands Selbständigkeit bildet der 1998 erschienene Roman Paigallend (Flug auf der Stelle). Dies ist die kaum verfremdete Lebensgeschichte eines Mitschülers, die den Zeitraum von 1933 bis 1987 umspannt, ihren Schwerpunkt aber deutlich auf den Ereignissen im Umkreis des Zweiten Weltkriegs hat. Inhaltlich ist es noch einmal, und ziemlich explizit, eine Auseinandersetzung mit der (Un-)Möglichkeit des Dritten Wegs, den Estland zwischen Hitlers Deutschland und Stalins Sowjetunion zu beschreiten versuchte. In seinem letzten Roman Tahtamaa (2001, der Titel ist ein fiktiver Ortsname, der bezeichnenderweise mit ›Wunsch nach Land‹ übersetzt werden könnte) versuchte sich Kross an einem aktuellen Gegenwartsthema: dem wirtschaftlichen Aufbau nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit, als die Eigentumsverhältnisse neu geregelt werden mussten und im Lande plötzlich allerlei Exilesten auftraten und manchmal ungefragt ihre Dienste in Sachen wirtschaftlicher Nachhilfe anbieten. Der Roman beginnt im Jahr 1993 und spiegelt erstmalig im Werk des Autors die unmittelbare Gegenwart wider. Die Kritik, die bis dahin nahezu alle Werke von Kross weitgehend positiv beurteilt hatte, war in diesem Falle auffällig zurückhaltend bis negativ, und tatsächlich wirkt der Roman im Vergleich zu den früheren gelungenen und souveränen Darstellungen historischer Ereignisse eher blass. Danach beschäftigte sich der Autor mit seinen Memoiren, deren erster Teil – die Zeit bis 1964 umspannend – 2003 erschienen ist und zu einem Bestseller wurde.

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Wirkung und Rezeption Ohne Zweifel haben die historischen Romane der 1970er-Jahre Jaan Kross berühmt und zu einem Botschafter seiner Literatur und auch seines Landes in der Welt gemacht. Der Verrückte des Zaren ist bislang in über zwanzig Sprachen übersetzt worden – die exakte Zahl ist nicht einmal dem Autor selbst bekannt, da gelegentlich Piratausgaben ohne sein Wissen erscheinen, wie es mit der neugriechischen Übersetzung der Fall war, die ein Bekannter des Autors zufällig in einer Athener Buchhandlung entdeckt hatte (Tuulik 1997a). In vielen Sprachen und Ländern ist Der Verrückte des Zaren der einzige Roman der estnischen Literatur, der in Übersetzung vorliegt; häufig stand er am Anfang einer weiteren, sei es auch einer noch so zaghaften, Rezeption estnischer Literatur. In Deutschland wurde bereits 1989 in der Evangelischen Akademie in Loccum ein Seminar unter Beisein des Autors veranstaltet, an dem Fachleute aus dem In- und Ausland teilnahmen (Schwencke 1990). Neben Finnland, wo nahezu sein Gesamtwerk in Übersetzung vorliegt und auch die Memoiren schon erschienen sind, ist Kross am ausführlichsten in Schweden, Deutschland und Russland rezipiert worden. Im englischsprachigen Raum, der traditionell fremdsprachigen Literaturen zögernd, wenn nicht unaufgeschlossen gegenübersteht, gelang es Kross erst später Fuß zu fassen. Mittlerweile kann aber auch hier von einem zaghaften Durchbruch gesprochen werden. Es versteht sich von selbst, dass Kross mit einer Vielzahl von nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet worden ist. Er ist Ehrenmitglied des Finnischen Schriftstellerverbandes und hat von den Universitäten Helsinki und Tartu die Ehrendoktorwürde erhalten. Neben den zahlreichen einheimischen Ehrungen sind die folgenden ausländischen Auszeichnungen hervorzuheben: Preis für das beste übersetzte Buch in Frankreich (1989), Amnesty-International-Literaturpreis (1991), Stanislaw-Vincenz-Preis in Polen (1991), NoninoLiteraturpreis in Italien (1995), Bundesverdienstkreuz (1995), Herder-Preis (1997), Preis der Baltischen Assemblee (1999). Allein der Literaturnobelpreis, auf dessen Kandidatenliste er seit Beginn der 1990er-Jahre steht, ist Kross bislang versagt geblieben. Der Ruhm im Ausland hat den Autor jedoch nicht von Estland entfremdet. Zu Beginn der wiedererlangten Unabhängigkeit war er kurzzeitig Abgeordneter im Estnischen Parlament, und als Essayist ergriff er immer wieder mal das Wort. 1996 ließ eine estnische Brauerei ein spezielles Bier mit dem Namen Keisri hull brauen und den Erlös hiervon teilweise der Literatur zufließen; auf dem Etikett war der Titelheld des Romans in seinem Streit mit dem Doppeladler des Zarenreichs abgebildet. 1998 nahm Kross die jährlich zu besetzende »Gastprofessur der Freien Künste« an der Universität Tartu

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Das literarische Bier Keisri hull

wahr und hielt eine Vorlesungsreihe über Schreiben und Biographie (Kross 2003a). Seit seinem 70. Geburtstag werden die runden Geburtstage mit wissenschaftlichen Kolloquien internationalen Zuschnitts begangen, häufig unter reger Beteiligung seiner Übersetzerinnen und Übersetzer. Zu Kross’ 85. Geburtstag erschien im Februar 2005 eine Monographie mit Aufsätzen zu seinem Werk (Laanes 2005), gleichzeitig fand eine wissenschaftliche Konferenz in Tallinn und Tartu statt. Im beginnenden 21. Jahrhundert ist der über Achtzigjährige unumstritten und unangefochten der Grand Old Man der Estnischen Literatur, der 2006 mit dem Staatspreis, den die Regierung jeweils für ein ganzes Lebenswerk einer im wissenschaftlich-künstlerischen Bereich bedeutenden Person auslobt, ausgezeichnet wurde.

§ 47 Schwanengesang des Totalitarismus Stagnationszeit Die 1970er- und frühen 1980er-Jahre werden allgemein als Stagnationszeit bezeichnet, weil im Gegensatz zu den 1960er-Jahren und den einschneidenden politischen Veränderungen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre vergleichsweise wenig geschah. An politische Reformen war nicht zu denken,

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und wirtschaftlich ging es bergab: Anfang der 1980er-Jahre war selbst die Milch rationiert. Bei aller Berechtigung einer solchen Charakterisierung muss im Auge behalten werden, dass auch in diesen Jahren – wie in den vorangegangenen Paragraphen gezeigt werden konnte – mitunter sehr gute Literatur entstanden, publiziert und gelesen worden ist. Ebenso kann man nicht von einer völligen politischen Lähmung oder Apathie sprechen. Immer wieder gab es Anzeichen eines politischen Kampfes, auch wenn die Zahl der waschechten Dissidenten wie man sie aus der sowjetrussischen Geschichte kennt, vergleichsweise gering war. Eine der auffälligsten Aktionen war der so genannte Brief der Vierzig, der durch Schülerunruhen, bei denen u.a. mehr estnische Eigenständigkeit gefordert worden war, ausgelöst wurde. In diesem Schreiben an führende estnische Zeitungen und die Pravda äußerten sich im Oktober 1980 vierzig Intellektuelle besorgt über den Zustand in ihrer Republik, die Zurückdrängung der estnischen Sprache und die Unterdrückung der estnischen Kultur. Der Brief war – vereinfacht gesagt – die Suche nach dem dritten Weg zwischen völliger Anpassung und extremem Dissidententum; einige der unterzeichnenden Personen waren sogar Mitglied der Kommunistischen Partei. Es ist bezeichnend, dass von den Unterzeichnern des Briefes ein gutes Drittel dem literarischen Stand zuzuordnen war: Priit Aimla, Satiriker beim Radio; Lehte Hainsalu, die zum damaligen Zeitpunkt sechs Gedichtbände vorgelegt hatte; Aira Kaal, die 1940 eine begeisterte Anhängerin des neuen Regimes gewesen war; Toomas Kall, wie Aimla vornehmlich als Humorist und Satiriker bekannt; sowie die bekannteren Jaan Kaplinski, Heino Kiik, Paul-Eerik Rummo, Mati Unt, Arvo Valton und Juhan Viiding; ferner aus dem literaturwissenschaflichen Bereich Maie Kalda, Andres Langemets, Endel Nirk und Lehte Tavel sowie Ita Saks, Übersetzerin aus dem Lettischen, und Mati Sirkel, Übersetzer aus dem Deutschen. Die Übrigen verteilten sich auf verschiedene Gebiete von Wissenschaft und Kunst mit einem leichten Übergewicht auf der Theaterbranche. Da die Post auch zwischen Tallinn und Moskau kontrolliert wurde, brachte Valton den Brief eigenhändig nach Moskau, wo er ihn in den Briefkasten der Pravda steckte. In Estland wurde der Brief schnell durch Abschriften verbreitet, bald wurde er auch im westlichen Ausland übersetzt und in führenden Zeitungen abgedruckt, ansonsten hatte er aber keinerlei Wirkung auf die örtliche Politik: In Estland selbst oder in Moskau ist er nie veröffentlicht worden, eine Antwort ist nie gekommen. Andererseits sind auch größere Repressalien ausgeblieben, sie gingen über Verhöre, Hausdurchsuchungen und erzwungene Publikationspausen oder -aufschübe kaum hinaus. Die Gruppe der Intellektuellen, die hinter dem Inhalt des Briefes standen, war um ein

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Vielfaches größer, als die Zahl vierzig vermuten lässt. Viele, häufig ältere, hatten lediglich aus Furcht vor einer Verhaftung ihre Unterschrift nicht gegeben. Nigol Andresen, der nach seinem wechselvollen Leben nun plötzlich völlig hinter dem Inhalt des Briefes stand, lehnte mit den Worten ab: »Ich bin ein alter Mann, ich habe noch Hoffnung auf drei Jahre, und die möchte ich weder im Gefängnis noch in der Irrenanstalt verbringen.« (Kiin et al.1990, 61). Bei Ehepaaren unterschrieb prinzipiell nur ein Teil, damit im schlimmsten Falle der andere Teil zu Hause bleiben und für die Familie sorgen konnte. Wer gerade die Uni abschließen wollte, hielt sich ebenfalls zurück. Auch gab es radikalere Stimmen wie Hando Runnel, die den Ton des Briefes zu zurückhaltend fanden und aus diesem Grund nicht unterzeichneten. Aufs Ganze gesehen hatte der Brief vor allem psychologische Wirkung, zeigte er doch, dass es ein großes Potenzial von Menschen gab, die sich um die Zukunft der estnischen Kultur Sorgen machten, und noch lange nicht alles in hilfloser Apathie erstarrt war. Die Pflege der Sprache als Kernstück der estnischen Identität war all die sowjetischen Jahre hindurch als eine der Hauptaufgaben der estnischen Intellektuellen aufgefasst worden. In den 1970er-Jahren hatte der Druck durch eine einseitig propagierte Zweisprachigkeit – einseitig insofern, als alle Esten Russisch lernen sollten, den in Estland wohnenden Russen ein Erlernen des Estnischen aber keineswegs nahe gelegt wurde – zugenommen, was letztlich eine der Ursachen für die genannten Schülerunruhen im Herbst 1980 war. Anfang der 1980er-Jahre verschlechterte sich die Lage jedoch zusehends, verantwortlich hierfür waren zwei in Moskau gefällte Personalentscheidungen: 1978 war mit Karl Vaino ein Russlandeste zum Chef der estnischen KP ernannt worden, der kaum Estnisch sprach, 1980 wurde ihm mit Rein Ristlaan ein Moskau treu ergebener Ideologiesekretär zur Seite gestellt. Seit 1984 wurde in über hundert estnischen Kindergärten den Sechsjährigen Russischunterricht erteilt, man plante die Zahl auf zweihundert zu erhöhen und begann mit dem Unterricht auch für Fünfjährige (Ehala 1988, 1513). Ein Umschwung setzte erst mit dem bald folgenden Beginn der Perestrojka ein, in dessen Folge die Russifizierungspolitik offen diskutiert werden konnte. Richtungweisend war hier ein Artikel des Sprachwissenschaftlers Mati Hint (1987), der im Übrigen auch einer der Unterzeichner des Briefs der Vierzig war. Viivi Luiks zwei Romane In dieser beklemmenden Situation der frühen 1980er-Jahre machte sich die Dichterin Viivi Luik an die Abfassung eines Romans, dessen Erscheinen Ende März 1985 eine literarische Sensation war, die rein zufällig mit dem we-

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nige Wochen zuvor im fernen Moskau erfolgten Amtsantritt von Michail Gorbaˇcev einherging. Luik hatte ihren Roman Seitsmes rahukevad (dt. Der siebte Friedensfrühling, 1991) bereits 1982 abgeschlossen und danach etwas beklommen zum Verlag getragen, aber die Zensur beanstandete lediglich zwei Wörter – statt Roter sollte die Autorin lieber Parteimitglied sagen –, so dass der Roman zum Erstaunen der estnischen Öffentlichkeit und vielleicht auch der Autorin selbst ungehindert, nur durch planwirtschaftlich bedingte Trägheit mit etwas Verzögerung, erscheinen konnte. Das Aufsehen Erregende an diesem Roman war der einfache Umstand, dass hier erstmals unverhüllt ein Bild von der Stalinzeit gezeichnet wurde, das wenig Positives beinhaltet. Da der Zweite Weltkrieg in Estland im Herbst 1944 vorbei war, fiel der erste Frühling in Friedenszeiten in das Jahr 1945, mithin handelt Luiks Roman vom Frühjahr 1951. Der kompakte Roman (75000 Wörter) ist der relativ wirklichkeitsgetreue Bericht einer Kindheit und umspannt den Zeitraum vom Herbst 1950 bis zum Frühjahr 1951. Er spielt sich nahezu ausschließlich auf dem Lande in Südestland ab, und zwar auf dem heimatlichen Hof der Ich-Person, eines etwa fünfjährigen Mädchens. Mit den Augen dieses Mädchen, aber mit der reichen Sprache einer reifen Dichterin, wird in fünfzehn lose miteinander verbundenen Kapiteln nüchtern, dennoch nicht ohne Emotionen, Bericht erstattet über die damaligen Zustände. Und das bedeutet: Männer sind vorwiegend abwesend, d.h. entweder im Krieg geblieben oder zur Arbeit abkommandiert wie der Vater des Kindes; Höfe stehen leer, weil die Bewohner zwei Jahre zuvor nach Sibirien verschleppt worden sind; aus den gleichen Gründen werden Felder nicht abgeerntet; im Walde finden sich Spuren der Waldbrüder; ein Kalb muss geschlachtet werden, weil es der Kuh das Futter wegfrisst. Die detailgetreue und selten kommentierte Schilderung der Ereignisse verleiht dem Roman, der ansonsten ohne besondere Spannungsbögen, zum Beispiel auch ohne jegliche Liebesgeschichte, auskommt, eine gewisse suggestive Kraft, die mit für den Erfolg des Buches verantwortlich gemacht werden kann. Das Besondere war, dass es hier nicht um einen persönlichen Erfahrungsbericht ging, sondern dass die Autorin das Empfinden einer ganzen Generation oder vielleicht sogar eines ganzen Volkes in Worte gekleidet hatte, die bis dahin noch niemand gefunden hatte – bzw. noch niemand auszusprechen gewagt hatte. Deswegen war die Aufnahme des Romans stürmisch. Es erschienen überdurchschnittlich viele Rezensionen, und selbst im Ausland wurde man schnell auf das Buch aufmerksam. In Finnland wurde es besprochen, noch bevor die finnische Übersetzung vorlag, was nicht gerade häufig geschieht. 1986 kam die finnische Übersetzung heraus, der bald Übersetzungen in einer

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Reihe von anderen Ländern folgten. Hauptursache für den Erfolg in Estland war die überzeugende – ebenso persönliche wie poetische – Darstellungsweise einer Dichterin, nicht unbedingt die möglichen politischen Implikationen. Denn man wusste nicht, ob das Erscheinen eines solchen Romans ein normaler Zensurzu- bzw. besser gesagt unfall war, dem man auch früher schon mal das eine oder andere Werk zu verdanken hatte, oder ob sein Erscheinen als eines der ersten Zeichen des Anfangs vom Ende der Fremdherrschaft angesehen werden konnte. In der Rückschau ist man geneigt, Letzteres anzunehmen, aber der Entstehungskontext des Romans spricht eindeutig für das Zufallsargument. Das war mit Luiks zweitem Roman bezüglich der Zensur sicherlich nicht der Fall, denn die war zu jenem Zeitpunkt bereits Geschichte, es trifft aber auf den Erscheinungszeitpunkt des Romans zu: Ajaloo ilu (dt. Die Schönheit der Geschichte, 1995) erschien im Spätsommer 1991 wenige Wochen nach dem missglückten Putsch in Moskau und der Wiederherstellung der estnischen Eigenstaatlichkeit. Das Buch konnte somit bei späteren Ausgaben als »der erste Roman, der in Estland erschien, nachdem es 1991 seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangt hatte« angepriesen werden, wie es bei der deutschen Übersetzung geschah, was einerseits wahr, andererseits auch eine arglistige Irreführung ist: Der Roman ist im Zeitraum von April 1990 bis April 1991 abgefasst worden, und es ist reiner Zufall, dass in der schwierigen wirtschaftlichen Situation des Jahres 1991 Luiks Roman die Druckpressen kurz nach der internationalen Anerkennung der Unabhängigkeit Estlands verließ. Kein Zufall war hingegen die wiederum begeisterte Aufnahme in Estland und im Ausland. Das estnische Lesepublikum erwartete nach dem Erfolg des Siebten Friedensfrühlings weitere Werke der Autorin und stürzte sich entsprechend gierig auf ihren nächsten Roman. Die Schönheit der Geschichte spielt 1968 und zeigt eine völlig andere Periode der Sowjetzeit, die aber nicht unbedingt rosiger zu sein braucht. Eine ca. 20-jährige estnische Frau reist von Tallinn nach Riga, um dort einem Bildhauer Modell zu sitzen. Er ist jüdischer Abstammung und hat mit den üblichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die seinesgleichen in der Sowjetunion hatte; darüber hinaus hat er kürzlich einen Gestellungsbefehl erhalten und außerdem ein Ausreisegesuch laufen. All dies sind Dinge, die für die junge Estin völlig neu sind. Sie kommt in eine andere Welt und kann sich zudem kaum mit dem Bildhauer verständigen, da der kein Estnisch kann und sie kaum Russisch. Die Atmosphäre von Geheimhaltung, Bespitzelung, Täuschung und Lüge verstört sie, aber trotzdem fühlen sich die beiden jungen Leute zueinander hingezogen. Der Bildhauer muss jedoch erst einmal nach Moskau fahren, um dort seine Angelegenheiten zu regeln. Währenddessen

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Viivi Luik, Foto: Postimees/Scanpix

wird die Estin des Wartens überdrüssig und macht sich auf die Rückreise nach Estland. Auf halbem Wege kehrt sie um und trifft in Riga wieder mit dem jungen Bildhauer zusammen. Der hat inzwischen alles inklusive Ausreise geregelt und fragt, ob sie ihn begleiten wolle, was diese nur mit einem stummen Kopfschütteln beantwortet. Der Roman ist eine Art »Gegendarstellung« zu verklärenden Auffassungen über die 1960er-Jahre; die Autorin will hier deutlich machen, dass auch diese Zeit einigermaßen bedrückend war. Es ist kein Zufall, dass in dem mit 36 000 Wörtern nicht sehr umfangreichen Roman, den man auch als Erzählung titulieren könnte, beinahe 50-mal das Wort Blut oder Zusammensetzungen damit vorkommen. Dadurch illustriert der Text, der in einer dichterischen, symbolträchtigen und manchmal schweren Sprache daherkommt, in seiner Form den Inhalt und potenziert damit seine Wirkung. So wie die Enträtselung des sowjetischen Zeichensystems für Außenstehende nicht immer einfach war, so sind viele Nuancen des Romans nur zu erfassen, wenn man eine entsprechende Vorbildung oder Vorerfahrung hat, die es erlaubt, sich auf die Bilder einzulassen. Der Titel sollte ursprünglich »Haare« lauten – in Analogie zu dem damals populären amerikanischen Musical Hair und den langen Haaren als Kennzeichen der Zeit –, doch hat Luik diese Idee in Überlegung mit dem Verlag später verworfen und sich für Die Schönheit der Geschichte

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entschieden. In einem Interview erklärte sie das folgendermaßen: »Geschichte ist wie eine Spirale, die immer wiederkehrt. … Ein Spiel, das ständig in Bewegung ist, aber die Regeln ändern sich fortlaufend. Und doch ist es immer dasselbe Spiel. Das ist schön und gleichzeitig schrecklich.« (Karlsson 1992). Mit dem Titel verweist Luik auf die philosophische Dimension des Romans, der mit der Schönheit des himmlischen Kuppelgewölbes, unter dem viel Schreckliches passiert, beginnt und endet. Es mag dahingestellt bleiben, ob dieser Roman von Luik der postmodernen estnischen Literatur zugerechnet werden kann, wie Rutt Hinrikus (1997a, 35) es tut. Ganz sicher markieren beide Romane von Luik das Ende der staatlichen Gängelung der Literatur. Dabei war Luik keineswegs die Einzige, und es ist ohnehin die Frage, inwieweit der vermeintliche Sozialistische Realismus überhaupt noch aktuell war (vgl. Pruul 1998), aber durch ihre markanten Erscheinungsdaten und die nicht weniger auffälligen Themen können ihre beiden Romane gut als Symbol für das Ende des Totalitarismus dienen. Die singende Revolution Dass Luiks erster Roman in keinem Zusammenhang mit den Vorgängen in Moskau steht, ist auch daran abzulesen, dass die dort initiierten Veränderungen erst zwei Jahre später in Estland zu greifen begannen. Im Frühjahr 1987 entstand eine breite ökologische Bewegung gegen die Ausweitung der Phosphoritabbaugebiete in Nordostestland, die von einer befreit aufatmenden Presse mitgetragen wurde. Mit einem Mal waren die Zeitungen wieder interessant, ihre Auflagen schnellten in die Höhe und erreichten 1990 astronomische Werte: Zählt man die vier größten Tageszeitungen zusammen, so wurden täglich 649000 Zeitungen gedruckt, was bei einer potenziellen Leserschaft von vielleicht 800000 ein außergewöhnlich hoher Prozentsatz ist. Hinzu kam, dass auch die Zeitschriften mit 35000 (Looming) oder 53000 (Vikerkaar) Exemplaren eine ungeheure Verbreitung erlangten (Martson 2003, 74). Im Herbst 1987 veröffentlichten vier Wirtschaftswissenschaftler eine Projektskizze über eine mögliche und wünschenswerte estnische Wirtschaftsautonomie, die nach ihrer estnischen Abkürzung als IME (Isemajandav Eesti) bezeichnet wurde, was gleichzeitig ›Wunder‹ bedeutet und im damaligen Kontext tatsächlich utopisch anmutete. Des ungeachtet wurde das Projekt eifrig in der Presse kommentiert und diskutiert. Ebenfalls im Herbst 1987 wurde die Gesellschaft für das Nationale Erbe (Eesti Muinsuskaitseselts) ins Leben gerufen, die sich fortan um die Beseitigung der weißen Flecken im estnischen Geschichtsbewusstsein einsetzte. Anfang April 1988 veranstalteten die

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Präsidien der Schöpferischen Verbände ein gemeinsames Plenum, auf dem zwei Tage offen über die wünschenswerte weitere gesellschaftliche Entwicklung diskutiert wurde, ein halbes Jahr später lagen alle Beiträge gedruckt vor (Jõgi 1988). Und als im Juni 1988 an mehreren Abenden hintereinander stundenlang patriotische Lieder gesungen wurden und der Künstler Heinz Valk bewegt von einer »Singenden Revolution« sprach, hatte die Bewegung der nationalen Wiedergeburt auch einen Namen bekommen. An all diesen Aktionen waren die Schriftsteller von Anfang an maßgeblich beteiligt. Sie organisierten, diskutierten, schrieben Artikel und mischten sich in die Politik ein. Bisweilen konnte das auch in Form von Gedichten geschehen, wie der folgende Achtzeiler von Hando Runnel beweist: Räägi mulle ajast, räägi mulle ruumist, räägi isamajast, räägi tollest juunist, mille kohta ringi käib üks loll legend, nagu meie ise oleks tapnud end. (Runnel 1988, 6; Erzähl mir von der Zeit, / erzähl mir vom Raum, / erzähl vom Vaterhaus, / erzähl von jenem Juni, // über den eine / törichte Legende zirkuliert, / derzufolge wir uns selbst / umgebracht hätten.)

In diesem modernen Gelegenheitsgedicht werden die Jahre der Geschichtsfälschung kompakt in sechsundvierzig Silben in der Form eines Kinderwunsches zusammengefasst: Mit »jenem Juni« ist der Juni 1940 gemeint, das »Vaterhaus« ist infolge der Deportationen verlassen oder enteignet, die »törichte Legende« ist die sowjetische Geschichtsschreibung und der »Selbstmord« die vermeintlich von den Esten selbst gewünschte so genannte Revolution von 1940. Viele von Runnels Versen aus dieser Zeit zirkulierten lange in Manuskriptform, ehe sie 1988 erscheinen konnten. Zahlreiche Autorinnen und Autoren engagierten sich für eine kurze Zeit nahezu ausschließlich im gesellschaftlich-publizistischen Bereich, so dass die zweite Hälfte der 1980er-Jahre hinsichtlich der Literaturausbeute vergleichsweise mager ist. Man beschäftigte sich nun mit der Neugestaltung des literarischen Feldes, was sich im Kampf gegen die Zensur, in personellen Wechseln und in der Neugründung von Zeitungen, Zeitschriften, Gruppierungen und Verlagen manifestierte. Dabei gestaltete sich der Streit um bzw. gegen die Zensur als langwierig, was in der Natur einer solchen Institution liegt. Überdies galt auch hier wie-

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der, dass es nicht um ein reines Entweder-oder, d. h. ein bloßes Abschaffen der Behörde ging, denn die Zensur selbst wandelte sich in dieser Phase der gesellschaftlichen Umstrukturierung auch. So gibt es Beispiele dafür, dass 1987 aus der Dezembernummer von Looming noch Artikel herausgenommen wurden, die in der Januarnummer des folgenden Jahres erscheinen konnten, weil sich die Einstellung der Zensur offenbar gewandelt hatte. Und auch Runnels oben genannte Gedichtsammlung ist noch mit einem ganz regulären Zensurstempel erschienen, was wiederum beweist, dass die Institution bis zu einem gewissen Grade der Entwicklung folgte. Da sich aber die Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften zusehends emanzipierten und die jahrzehntelange Einschüchterungspraxis nicht mehr funktionierte, wandelte sich die Zensur allmählich zwangsläufig von einer Vor- zu einer Nachzensur. Am augenfälligsten wurde das bei der kulturellen Wochenzeitung Sirp ja Vasar (Hammer und Sichel), die 1987 eine Karikatur von Priit Pärn veröffentlichte, die eine offene Kritik an der sowjetischen Politik gegenüber Estland war. Daraufhin trat die Zensurbehörde auf den Plan und bestrafte den Chefredakteur mit einem Verweis, der mit einer Warnung an alle versehen war, in Zukunft wachsamer zu sein. Das waren Rückzugsgefechte einer Behörde, die zusehends an Macht und Bedeutung verlor, aber hartnäckig an ihrer einstigen Position festhielt. Erst Ende 1988 erschien mit der Dezembernummer von Keel ja Kirjandus, die als wissenschaftliche Zeitschrift vergleichsweise gesellschaftsfern war, die erste Zeitschrift ohne Zensurnummer. Es folgten die Zeitschriften Vikerkaar im März und Looming im Juli 1989 mit ihren ersten Ausgaben ohne die berüchtigte Zensurnummer – ein sehr klein gedrucktes MB gefolgt von einer fünfstelligen Zahl im Impressum –, und die Tageszeitungen als Organe der Partei bildeten Anfang 1990 das Schlusslicht. Im Zuge dieser Entwicklungen kam es gelegentlich noch zu Rückruf- und Einstampfungsaktionen wie 1989 bei der Märzausgabe der satirischen Zeitschrift Pikker (Gewitter; s. Hiedel 1995, 71), aber das waren schon die letzten Signale von einem längst verglühten Planeten. Die estnische Abteilung des Glavlit wurde mit einem Erlass vom 1. Oktober 1990 aufgelöst, die Zugangsbeschränkungen für die Giftschränke in den Bibliotheken waren bereits vorher aufgehoben worden (Noodla 1993, 78). Belebung der Presselandschaft Die politischen Veränderungen führten nicht nur dazu, dass die bestehenden Zeitungen lesenswert wurden, sonder sie ermöglichten auch die Neugründung von Zeitungen und Zeitschriften, von denen zwei für das literarische Leben von großer Bedeutung waren und es bis heute sind: Seit Juli 1986 er-

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scheint allmonatlich die Zeitschrift Vikerkaar (Regenbogen), und seit April 1989 im gleichen Rhythmus die Zeitschrift Akadeemia. Bei beiden verrät bereits der Name etwas über Inhalt und Programm. Vikerkaar war ursprünglich eine gesamtsowjetische Gründung und gedacht als Zeitschrift, die die Modernisierungspolitik von Gorbaˇcev unterstützen und die jüngere Generation stärker mit Kultur vertraut machen sollte; dazu wurde in Estland auch eine parallele russische Ausgabe unter dem Namen Raduga herausgebracht, die allerdings nicht ausschließlich aus Vikerkaar übersetzte Artikel brachte, sondern auch eigene anfertigte. Vikerkaar mischte von Anfang an das literarische Feld regelrecht auf: Qua Aufmachung glich die Zeitschrift mit ihrem bunten Titelbild eher der führenden finnischen Literaturzeitschrift Parnasso als einer grauen Sowjetpublikation, inhaltlich zeichnete sie sich durch Beiträge zur Kunst und Reproduktionen ebenso aus wie durch ihr extrem mutiges Eintreten für politische Erneuerungen. In diesen beiden Aspekten unterschied sich Vikerkaar am stärksten von Looming, womit ansonsten weitgehende Übereinstimmung bestand: Beide Zeitschriften brachten auch Primärliteratur, Vikerkaar häufiger neben estnischen Originalen auch Übersetzungen; beide verfügten über einen literaturwissenschaftlichen bzw. -historischen Teil mit Essayistik und Rezensionen, bei Vikerkaar wiederum etwas internationaler als bei Looming. Schließlich gab es auch personelle Berührungen, denn der erste Chefredakteur Rein Veidemann kam unmittelbar von Looming, und auch der für Belletristik verantwortliche Joel Sang war vorher bei Looming gewesen. Damit hatte die seit 1923 mehr oder weniger unangefochten führende Literaturzeitschrift Estlands Konkurrenz bekommen. Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass sich bald bei Looming Veränderungen abzeichneten: Die Führung des Schriftstellerverbandes war mit dem Chefredakteur Kalle Kurg und dessen Zurückhaltung gegenüber dem neuen politische Kurs nicht zufrieden, so dass sie im Herbst 1987 Andres Langemets zum Chefredakteur wählte. Solche Personalentscheidungen waren bislang aber Sache der politischen Organe gewesen, und Kurg – ein in literarischer Hinsicht wenig aufgefallener Bürokrat – weigerte sich, seinen Posten zu verlassen. Vier Monate lang erschien die Zeitschrift ohne Chefredakteur im Impressum, dann war das Tauziehen hinter den Kulissen beendet, und ab der Februarnummer 1988 konnte Langemets die wichtige Zeitschrift in neue Gefilde leiten. Eine Zeitschrift mit dem Namen Akadeemia hatte es bereits von 1937 bis 1940 gegeben, und hieran wollte der als Chefredakteur eingesetzte Ain Kaalep mit der Neugründung von 1989 explizit anknüpfen. Wie der Name schon vermuten lässt, war das Hauptanliegen dieser Zeitschrift, Erkenntnisse aus allen Wissensgebieten zu vermitteln, und selbstverständlich erschien sie damals

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wie heute in Tartu. Der Schwerpunkt der Zeitschrift lag auf den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, aber auch die Naturwissenschaften waren keinesfalls ausgeschlossen. Die Redaktion strebt dabei nicht nach populärwissenschaftlichem Niveau, sondern will im Gegenteil die Herausbildung eines interdisziplinären Denkens fördern, wie es im programmatischen Vorwort der ersten Nummer heißt. Akadeemia war, vereinfacht gesagt, angelegt als Schule der Nation, eine Zeitschrift für alle, die die intellektuelle Herausforderung nicht scheuten, aber deren Universitätszeit beispielsweise in die sowjetische Ära gefallen war und die nun ihren Nachholbedarf an Bildung mit Hilfe dieser Zeitschrift stillen konnten. Mit Akadeemia begann eine Art Aufholjagd, mit deren Hilfe das halbe Jahrhundert der Verschüttung und Abschottung überbrückt werden sollte. Monat für Monat erschien ein dickes Heft mit philosophischen Essays, Übersetzungen von Kerntexten der westlichen Nachkriegskultur, Wiederabdrucke von vergessenen oder unterdrückten Werken, soziologischen Analysen, historischen Abhandlungen, rechtsphilosophischen Erörterungen oder naturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen – es gab praktisch kein Thema, das es bei Akadeemia nicht gab, selbst der belletristische Sektor war in bescheidenem Maße vertreten, da regelmäßig Gedichte veröffentlicht wurden. Der Schwerpunkt lag und liegt aber ganz deutlich auf den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, so dass sich die Zeitschrift zu einem Organ der Universität herausgebildet hat. Sie ist das Forum der gegenwärtigen und künftigen Eliten des Landes. Dies ist das Verdienst von Ain Kaalep, der als Gründungschefredakteur die Geschicke von Akadeemia bis 2001 lenkte und sich spätestens seitdem den Titel verdient hat, den ihm Jaan Kross bereits 16 Jahre früher verliehen hatte: Praeceptor Estoniae (Kross 1985, 115). Als im November 2005 feierlich das Erscheinen der 200. Ausgabe begangen wurde, war die Zeitschrift längst zu einer Institution geworden, die aus dem geistigen Leben Estlands nicht mehr wegzudenken ist. Veränderungen in der Verlagslandschaft Es konnte angesichts der umfassenden gesellschaftlichen Neuorientierung nicht ausbleiben, dass sich die schreibende Zunft auch organisatorisch neu formieren wollte und parallel zu den herrschenden Strukturen, innerhalb deren sie sich schon ihren eigenen Weg gesucht hatte, neue aufbauen wollte. So erfolgte bereits im September 1987 die Gründung einer literarischen Gruppierung unter dem Namen Wellesto (Bruderschaft), der auch einige Mitglieder aus dem Ausland angehörten, was für die damalige Zeit ein Novum war. Die Aktivität der gut dreißig Personen umfassenden Gruppe äußerte sich in

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einigen Manifesten, in Ausflügen ins Grüne, der Herausgabe eines Mitteilungsblatts, das über eine Nummer indes nicht hinauskam, und der Zusammenstellung eines Almanachs, der 1989 in Oulu gedruckt wurde. Bald danach hatten sich die Möglichkeiten jedoch dermaßen verändert, dass die Gruppe wieder auseinander fiel, aber als erstes Aufblitzen einer neuen Kultur – formal gesehen war Wellesto nach der oben erwähnten Gesellschaft für das Nationale Erbe erst die zweite private Gründung einer Gesellschaft, die sich von den sowjetischen Strukturen völlig lossagte – kam ihr initialzündende Bedeutung zu. Nicht viel später entstanden weitere Gruppierungen wie zum Beispiel die 1988 gegründete Gruppe Hirohall, die sich als langlebiger erwies und daher an anderer Stelle behandelt wird (s. § 50). Langlebiger war der erste unabhängige Verlag, der als Genossenschaft ebenfalls 1987 ins Leben gerufen wurde. Die sieben Schriftsteller Teet Kallas, Heino Kiik, Jaan Kross, Hans Luik – er hatte einige Dramen und Kinderliteratur verfasst und war weiter als Übersetzer in Erscheinung getreten –, Mats Traat, Arvo Valton und Enn Vetemaa hatten sich im April des Jahres zusammengeschlossen und mit einer finanziellen Einlage von 1000 Rubeln pro Person, was in etwa drei damaligen Durchschnittsmonatsgehältern entsprach, das Grundkapital geschaffen. Ein Vierteljahr später wurde die Genossenschaft unter dem Namen Kupar (Samenkapsel) offiziell beim Tallinner Stadtsowjet und beim Schriftstellerverband registriert. Neben der Publikation von Büchern stand für Kupar auch die Vergabe von Stipendien auf dem Programm, womit man sogar noch vor dem Verlegen begann: Bereits im September wurde ein Jahresstipendium in Höhe von 6000 Rubeln an Hando Runnel vergeben. Das zeigt, dass in jenen Jahren Kapital vorhanden war, während es um die Kapazitäten der Druckereien und die allgemeine Materiallage viel schlechter bestellt war. Mit seiner eigentlichen Haupttätigkeit konnte der neu gegründete Verlag erst später beginnen, das erste Buch von Kupar erschien 1988. Hierbei handelte es sich um Heino Kiiks (vgl. § 41) Roman Maria Siberimaal, der zuvor in Looming erschienen war. Es war der erste größere Text, der sich der Aufarbeitung der weißen Flecken im estnischen Geschichtsbewusstsein widmete. Nun kam Kiiks Roman als Buch in einer Auflage von 60 000 Exemplaren heraus, die so schnell vergriffen waren, dass gleich noch einmal so viele Exemplare nachgedruckt wurden. Kupar konnte ein Jahr von den Erlösen leben. Sieht man von einigen regelmäßig neu aufgelegten Klassikern ab, hält das Buch gemeinsam mit einem Roman von Raimond Kaugver vermutlich den Auflagenrekord der estnischen Literatur. Für den Herbst 2006 ist eine Neuauflage von Maria Siberimaal geplant. Die Übergangssituation wird noch dadurch verdeutlicht, dass das Buch im normalen Staatsverlag erschien, der auch das Copyright für sich bean-

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spruchte, und lediglich den Vermerk trug, dass die Ausgabe von Kupar besorgt und finanziell unterstützt worden sei. Folgerichtig findet sich auch noch eine Zensurnummer in dem Buch. Das gleiche Verfahren galt für einen im selben Jahr erschienenen Novellenband von Jaan Kross. 1989 erschienen die ersten Bücher von Kupar ebenfalls noch mit Zensurnummer, aber der Name des Staatsverlags war bei einigen Titeln verschwunden, und das Copyright lag bei den Autoren. 1990 gehörte die Zensurnummer zwar endgültig der Vergangenheit an, aber der Staatsverlag tauchte gelegentlich wieder auf, was allerdings auch ein Versehen der Druckerei gewesen sein kann. Insgesamt gesehen war Kupar bei der Wiedererlangung der estnischen Souveränität ein wichtiges Instrument. Viele der führenden Autoren hatten sich hier, auch finanziell, engagiert; in den ersten fünf Jahren erschienen in dem neuen Verlag Bücher von Teet Kallas, Raimond Kaugver, Heino Kiik, Jaan Kross, Mihkel Mutt, Paul-Eerik Rummo, Mats Traat, Mati Unt, Arvo Valton und Enn Vetemaa. Kupar folgten ab 1990 andere Verlagsgründungen, aber auch die existierenden Verlage passten sich den veränderten Gegebenheiten an und publizierten Bücher, deren Erscheinen einige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen war. Beispielsweise erschien 1989 im Staatsverlag Arvo Valtons umfangreicher (218000 Wörter) Roman Masendus ja lootus (Depression und Hoffnung), den der Autor fünf Jahre zuvor abgeschlossen hatte und der eine stark autobiographische Beschreibung des Lebens der nach Sibirien deportierten Esten darstellt. Neben der Aufarbeitung der Vergangenheit gab es noch ein anderes großes Gebiet, wo ein Nachholbedürfnis bestand, und das war die im Ausland erschienene estnische Literatur, die in Estland nur sehr begrenzt bekannt und nicht rezipiert worden war. Nun öffneten sich nicht nur die Giftschränke – von den meisten Büchern gab es einige Exemplare in den großen Bibliotheken –, sondern es wurden auch zahlreiche Neuausgaben gedruckt. Das einheimische Publikum konnte sich nun Bücher von Karl Ristikivi, Marie Under, Ain Kalmus, August Mälk, Bernard Kangro, Ilmar Laaban, Kalju Lepik und vielen anderen kaufen. Wenn oben gesagt wurde, die zweite Hälfte der 1980er-Jahre sei etwas mager gewesen, so liegt das auch an den mangelnden Kapazitäten: Das vorhandene Papier wurde für die angeschwollenen Zeitungen und Zeitschriften benötigt, und es wurden im Exil entstandene Werke gedruckt, was einen Großteil der Ressourcen verschlang.

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Vergangenheitsbewältigung auf der Bühne Auch das Theater beteiligte sich an der nationalen Wiedergeburt, obwohl der Übergang hier vielleicht weniger abrupt war: Schon lange vor dem frischen Wind der Perestrojka waren auf den estnischen Bühnen Dinge möglich gewesen, die kein Verlag je gedruckt hätte. Bestes Beispiel hierfür war die Inszenierung von Jaan Kruusvalls Die Farben der Wolken (1983, s. § 44), das ein bis dahin tabuisiertes Thema aus der Vergangenheit behandelte. 1987 kam zeitgleich in zwei verschiedenen Inszenierungen in Tartu und Tallinn ein weiteres Stück von Kruusvall auf die Bühne, in dem die Probleme der Vergangenheit offen dargelegt wurden: In Vaikuse vallamaja (Das Gemeindehaus des Schweigens) wird die unmittelbare Nachkriegszeit behandelt, in der sich die Gemeindebeamten um eine Neuordnung des täglichen Lebens bemühen und sich gleichzeitig mit dem Partisanenkampf in den Wäldern auseinanderzusetzen haben. Die Handlung endet am Morgen nach der Nacht der großen Deportationen im März 1949. Diese Deportationen wiederum waren auch das Thema in einem nicht weniger Aufsehen erregenden Stück von Rein Saluri, das 1988 uraufgeführt wurde: Minek (Der Abgang) behandelt das Schicksal einer Familie, die 1949 zu den gut 20000 gehörte, die zur Verbannung nach Sibirien ausgewählt worden waren. Das Stück spielt in den zwei Stunden, die an Zeit zum Packen bleiben, und enthält trotz aller ihm innewohnenden Tragik auch groteske Elemente, da gleichzeitig noch die Beerdigung des alten Hofbauern organisiert werden muss. Somit wird ein doppelter Abgang thematisiert, von dessen Endgültigkeit man auch im Falle der Deportation nach Sibirien damals ausgehen konnte. Das Drama wurde nicht nur in Estland ein großer Erfolg, sondern überschritt auch die Grenzen und wurde noch im selben Jahr in Helsinki in der Inszenierung von Mati Unt auf die Bühne gebracht. Es gab in dieser Phase der kulturellen Wiederbelebung noch weitere neue Stücke oder auch Inszenierungen von Klassikern, denen eine neue, der Zeit angemessene Interpretation verpasst wurde, aber am einschneidendsten waren die beiden Dramen von Kruusvall und das Drama von Saluri, die gelegentlich als »Trilogie des Neuen Erwachens« (EKA V, 2, 596) bezeichnet worden sind. Die Ankunft der Postmoderne Das Jahr 1990 ist als »Höhepunkt der Prosaerneuerung« (Epp Annus et al. 2001, 650, vgl. auch Lopp 2004, 641) bezeichnet worden. Das ist je nach den angewandten Kriterien diskutabel und bei genauer Betrachtung der Editionsgeschichte willkürlich – andererseits hat es insofern seine Berechtigung, als

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im fraglichen Jahr drei Bücher erschienen sind, die sich vom Großteil der anderen abhoben und einen Einschnitt anzuzeigen schienen. Sie behandelten nicht die totgeschwiegene Vergangenheit, sie thematisierten nicht das Schicksal des estnischen Volkes, sie haderten nicht mit den Taten ihrer Väter und Mütter, – sie waren im Hier und Jetzt und bedienten sich nicht nur einer reichen Sprache, sondern stellten die Sprache selbst ins Zentrum des Geschehens und spielten zum Teil mit anderen Sprachen und Versatzstücken aus anderen Texten. Diese und andere mögliche Charakterisierungen lassen eine Klassifizierung der fraglichen Bücher bzw. sogar Autoren als postmodern nahe liegend und sinnvoll erscheinen, auch wenn die Schwammigkeit dieses Begriffes bekannt ist. Dennoch: Irgendetwas war anders an Peeter Sauters Indigo, Jaan Undusks Kuum (Heiß) und Mati Unts Öös on asju (Dinge in der Nacht). Die drei Texte waren bereits 1988 fertig gestellt und auch bald danach in die Druckerei gegeben worden, aber die Materiallage in Estland sorgte für ein verspätetes Erscheinen, nicht etwa politische Gründe. Peeter Sauter war ein Debütant, der sein Manuskript bereits im Sommer 1988 ins Ausland geschickt hatte, weil er sich auf diesem Wege eine schnellere Publikation erhoffte, was sich jedoch als illusorisch erwies. Der Roman erschien erstmalig 1990 in Tallinn und markierte für einen Teil der estnischen Prosa sicherlich den Beginn einer neuen Ära. Sauter brachte die Umgangssprache in die Literatur, wie es bis dahin noch niemand probiert oder gewagt hatte, er scherte sich nicht um Konventionen, interessierte sich nicht für Stil, Schönheit, Wohlgeformtheit oder ähnlichen in seinen Augen altmodischen Kram, sondern schrieb, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Der Text ist aus kurzen Abschnitten, inneren Monologen oder längeren Dialogen zusammengesetzt, und worum es geht, ist sekundär. Belangloses Alltagsgeschwätz, weiter nichts. Genau das aber hatte es bisher in der estnischen Literatur in dieser Form noch nicht gegeben, weswegen der Text auf ein ungewöhnlich positives Echo stieß und Sauter später den Status eines Kultautors erlangt hat (s. § 49). Undusks Roman trägt den Untertitel »Geschichte einer jungen Liebe« und ist, wie es in einer Rezension hieß, »von einem Heiligen geschrieben, aus dessen offener Mönchskutte ein listiger und selbstbewusster Phallus hervorlugt« (P. Viires 1990a, 89). Der Roman behandelt nicht nur die Liebe allgemein, sondern speziell die Liebe zum Wort. Die sechzehn lose miteinander verbundenen Kapitel bilden keine kompakte Gesamthandlung, sondern werfen Schlaglichter auf das Phänomen Liebe, auf die Ansichten über die Liebe – aus den verschiedensten Blickwinkeln und mit den unterschiedlichsten Mitteln. Ganz im Gegensatz zu Sauter ist hier die Sprache reich, sprudelnd, stilvoll und barock-wuchernd, gleichzeitig finden sich Zitate aus der Litera-

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tur, gerne auch in anderen Sprachen, und so wird der Roman ein Fest der Worte, ein Spiel der Assoziationen, eine Fundgrube von symbolischen Anspiegelungen. Am Ende legt man das Buch aus der Hand und weiß nicht, wo einem der Kopf steht. Aber man weiß, dass das Experiment des Autors geglückt ist und der Text aus sich selbst heraus lebt und nicht bloß die Hülle für einen fest umrissenen und fertig geformten Inhalt ist. Mati Unts Dinge in der Nacht ist Undusks Text vergleichbar, allerdings liegt hier die bewusste postmoderne Komposition eines erfahrenen Autors vor, während es sich bei Undusks Roman um den zwar abgeklärten, aber auch impulsiven Text eines vorher nur als Novellist und Literaturwissenschaftler in Erscheinung getretenen Autors handelte. Mati Unt dagegen erweist sich als der souveräne Arrangeur eines Chaos auf mehreren Ebenen. Er beginnt mit einem groß angelegten Gemälde über Strom, Elektrizität und Energie, verstrickt sich sodann in seiner eigenen Mischung aus Fiktion und Realität, stolpert von einem Zitat zum nächsten und endet mit einer beklemmenden Schilderung der Abwesenheit von Elektrizität, d. h. eines massiven Stromausfalls in einem bitterkalten Winter. Nun treten die wahren Urängste des Autors zu Tage: Menschenfresser, Taxischlangen, Frauenschöße, Überbevölkerung und wieder der Strom – die Obsessionen eines Großstadtmenschen am Ende des zweiten Jahrtausends. Alles wird mitgeteilt, zum Teil wieder in Zitaten aus anderen Sprachen, die wie aus einem umgestülpten Karteikasten ins Buch hineingestreut worden sind, nicht selten in ihrer Ausgangssprache belassen, oder in eine andere Sprache, nicht aber ins Estnische (!), übersetzt. Unt singt hier das Hohe Lied auf den Eklektizismus und wurde mit diesem Roman der wahre Bahnbrecher der Postmoderne in Estland. Er festigte diese Position noch mit dem im gleichen Jahr erschienenen Roman Doonori meelespea (Blutspenders Merkheft, 1990), der in vergleichbarem Stil zusammengestellt ist, mit Figuren aus der estnischen Kulturgeschichte wie Lydia Koidula und ihrem Mann Eduard Michelson jongliert und am Rande auch von Vampiren handelt. Diese Erneuerung war nicht auf die Prosa begrenzt, etwa parallel dazu traten Ende der 1980er-Jahre auch im Bereich der Dichtung zahlreiche neue Strömungen auf, die inhaltlich jedoch bereits stärker mit der neuen Zeit verbunden sind, weswegen sie im nächsten Kapitel behandelt werden (§ 48).

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Kapitel IX: Kontinuität und Erneuerung

Kapitel IX Kontinuität und Erneuerung: Literatur in der Unabhängigkeit (1991 bis heute) § 48 Konkurrenz statt intellektuelle Nomenklatura Parlamentarische Nomenklatura Nach der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit ging ein Teil der schreibenden Zunft für eine kurze Zeit in die Politik. Die Singende Revolution, die sie mitgestaltet hatten, wurde nach erlangter Freiheit auf anderer Ebene fortgesetzt. Im ersten frei gewählten Parlament von 1992 waren von den 101 Abgeordneten immerhin sechs Mitglieder des Schriftstellerverbandes: Priit Aimla, Jaan Kaplinski, Jaan Kross, Paul-Eerik Rummo, Arvo Valton und Rein Veidemann, hinzu kamen weitere im literarischen oder kulturellen Bereich tätige Personen. Mihkel Mutt war im Außenministerium tätig und arbeitete dort eine Weile unter Lennart Meri, in dessen Person 1992 ein prominenter Autor auch zum ersten Präsidenten der Republik gewählt wurde. Viele dieser a priori politikfernen Politiker der ersten Stunde haben der parlamentarischen Arbeit jedoch bald wieder den Rücken gekehrt und sich dem Schreiben zugewandt, so dass im zuletzt gewählten Parlament von 2003 nur noch zwei Schriftsteller vertreten waren. Einige wenige sind aber ganz der Politik treu geblieben. Hierzu zählen Lennart Meri, der bis 2001 amtierender Präsident war und den Präsidententitel gemäß der estnischen Gesetzgebung auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt bis zu seinem Tode (2006) weiterhin trug, sowie Jaak Jõerüüt und Paul-Eerik Rummo, die verschiedenen Regierungen als Diplomat oder Minister dienten. Auch die diplomatischen Auslandsvertretungen der jungen Republik wurden in den ersten Jahren häufig von Intellektuellen wahrgenommen. Fünfzehn Jahre später war eine erste Generation von Berufsdiplomaten und -diplomatinnen entstanden, so dass nur noch wenige Posten mit ursprünglich literarisch tätigen Personen besetzt waren, aber immerhin fand sich auch 2006 noch in Brüssel eine Dichterin und Übersetzerin und in Budapest ein Übersetzer und Kritiker an der Spitze der estnischen Botschaften.

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Kreativität im Kapitalismus I Es wäre zwar falsch davon auszugehen, dass Geld im so genannten Sozialismus keine Rolle gespielt habe – das Gegenteil war der Fall: Sogar über die Kosten der Deportationen gab es exakte Voranschläge (Kibelka 1991, 157– 159), und am Zusammenbruch der Wirtschaft ist das politische System letztlich zerbrochen –, doch ist unbestreitbar, dass nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit die materielle Lage der im künstlerischen Bereich Tätigen häufiger Gesprächsthema war als zu sowjetischen Zeiten. Denn damals hatten viele einen der ausreichend vorhandenen Arbeitsplätze in Redaktionen oder Verbänden, und ebenso vielen gelang es, sich freiberuflich ein Auskommen zu sichern. Wer übersetzte, kam zum Beispiel mit einem Buch pro Jahr aus, ganz sicher, wenn man zusätzlich ein wenig lektorierte oder hin und wieder mal einen Artikel schrieb. Für die meisten Schriftstellerinnen und Schriftsteller war ein Buch pro Jahr unrealistisch, aber wenn man nebenher noch etwas in den Zeitschriften veröffentlichen konnte, kam man einigermaßen über die Runden. An diesem System hat sich, was die relevanten Parameter betrifft, zunächst nicht so viel geändert: Auch nach 1991 wurden Bücher verlegt und honoriert, es gab Zeitungen und Zeitschriften, die Honorare zahlten und den einen oder anderen Redaktionssessel bereithielten, und es gab weiterhin die schöpferischen Verbände. Die prinzipielle Änderung lag bloß darin, dass mit dem »echten« Geld auch der echte Markt kam. Und in der freien Marktwirtschaft wurden die genannten Parameter mit ganz anderen Zahlen belegt, so dass das literarische Feld gründlich durcheinander gewirbelt wurde und sich neu formieren musste. Nach der Einführung der Estnischen Krone im Sommer 1992 nahm die Kaufkraft rapide ab, infolgedessen sank die Durchschnittsauflage der Bücher, im Herbst 1992 betrug sie für einen Roman 5000–6000 und für eine Novellensammlung etwa 2000 Exemplare. Gleichzeitig schnellte die Zahl der Titel in die Höhe, da durch den Wegfall der Zensur und anderer Regulationsinstrumente erstens viel mehr einheimische Autorinnen und Autoren auf den Markt drängten und zweitens auch viel mehr ausländische, meist westliche Literatur importiert, d.h. übersetzt, wurde. Innerhalb von zehn Jahren hatte dabei eine totale Schwerpunktverlagerung von Ost nach West stattgefunden; 1998 waren 50 % aller Übersetzungen aus dem Englischen erfolgt, während nur noch drei Prozent aus dem Russischen übersetzt waren. Die Übersetzungen insgesamt machten ein Drittel aller gedruckten Bücher aus, deren Titelzahl sich im Jahr 1998 auf über 3000 belief. Hiervon wiederum war annähernd ein Viertel Belletristik, die durchschnittliche Auflagenhöhe betrug nun

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Kapitel IX: Kontinuität und Erneuerung

bei der Prosa schätzungsweise 1000–1400 und bei der Lyrik 500–800 Exemplare (Martson 2003c, 1676). Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Verdienstmöglichkeiten beschränkt waren und kaum jemand sich allein von dem Erlös der eigenen Bücher ernähren konnte. Während der Phase der Neuorganisierung der estnischen Presse fanden denn auch viele Autorinnen und Autoren ein Auskommen bei den Zeitungen, die teilweise über kulturelle Wochenbeilagen verfügten und bei der Positionsbestimmung auf dem literarischen Feld zusehends Gewicht erlangten. Nach der Konzentrierung der Presse in der zweiten Hälfte der 1990erJahre wurden auch hier die Verdienstmöglichkeiten geringer, aber da gab es schon den Rettungsanker für die Kultur, der sie auch in der Zwischenkriegszeit am Leben erhalten hatte: das Kulturkapital. Das seinerzeit erfolgreiche Fördersystem wurde 1994 per Gesetz wiederbelebt und wird heute größtenteils aus der Genusssteuer gespeist. Es ist eingeteilt in die acht Sparten Architektur, Audiovisuelle Kunst, Bildende Kunst, Literatur, Musik, Theater, Sport und Volkskultur und schüttete beispielsweise 2003 28 Mio. € an Institutionen und Individuen aus. Dies geschieht auf Antrag oder auf eigene Initiative des Kulturkapitals bzw. der alle paar Jahre neu zusammengestellten Jury. Neben den verschiedenen Preisen, die in den Verantwortungsbereich des Kulturkapitals fallen, gehören die folgenden Förderungsarten dazu (Beispiele von 2004, als das durchschnittliche Monatseinkommen in Estland ca. 450 € betrug): einmaliger Reisekostenzuschuss (350–1900 €), Deckung des Übersetzungshonorars (510–2250 €), Honorar für ein Buch (1280 €), Deckung der Druckkosten (1280 €), Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse (3200 €), Kauf eines Computers (510 €), Durchführung eines Literaturseminars (1280 €), Herausgabe gesammelter Werke (1920 €), einmaliges Stipendium (200–450 €), an elf Personen für ein Jahr ein monatliches Stipendium in Höhe von 255 €, an 19 Personen ein Monatsstipendium in Höhe von 190 €, und an fünf Personen für zwei Jahre ein Monatsstipendium in Höhe von 320 €. Auf diese Weise teilt die öffentliche Hand Quartal für Quartal einige Millionen aus, um die einheimische Kultur am Leben zu erhalten. Natürlich gibt es in Estland auch Gegner dieses Förderungsinstruments, die die Künste lieber völlig dem freien Kräftespiel des Marktes überlassen wollen, aber eine breite Mehrheit in Bevölkerung und Parlament geht bis jetzt realistischerweise davon aus, dass eine staatliche Unterstützung in gewissen Bereichen notwendig ist und der Wahrung der nationalen Identität dient. Dies lehrt die Erfahrung aus der Zwischenkriegszeit, gleichzeitig ist es das einzige Mittel, um den abrupten Übergang vom sozialistischen Versorgungssystem in die gnadenlose Marktwirtschaft ein wenig abzumildern. Inzwischen ist das erfolgreiche System auch von Lettland kopiert worden.

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Während sich die Presselandschaft weitgehend konsolidiert hat, befinden sich Buchhandel und Verlagswesen auch 15 Jahre nach dem Systemwechsel noch in einem Übergangszustand. In den größeren Städten gibt es gut sortierte Buchhandlungen, während kleinere Orte häufig das Nachsehen haben, weil auch kein gut funktionierender Zwischen- oder Großhandel besteht. Häufig werden die Bücher direkt von den Verlagen bzw. Druckereien an die Läden geliefert. Für die 1990er-Jahre hat man 736 Verlage (!) ermitteln können, von denen allerdings nahezu 80 Prozent Kleinstverlage waren, die zwischen einem und drei Büchern im Jahr herausgaben (Martson 2003c, 1675). Das ist nicht weiter verwunderlich, denn es steht jedem frei, mit einer Diskette zu einer Druckerei zu gehen und die Rechnung aus eigener Tasche oder mit einer vom Kulturkapital erhaltenen Summe zu begleichen. Und dann kann man sich auch einen Verlagsnamen ausdenken, mit dem man das Werk unters Volk bringen will. Nur so kommt die hohe Verlagszahl zustande. Trotzdem bleibt immerhin noch die stattliche Zahl von fast 150 Verlagen übrig, die mehr als nur ein paar Titel pro Jahr herausgaben. Hier kristallisieren sich erst allmählich Marktführer heraus, die sich auf bestimmte Literatursparten spezialisieren und sich dort einen Namen machen. Für den belletristischen Bereich wären das etwa die folgenden sechs Verlage, die auf Basis der Anzahl der verlegten Bücher, der ihnen zuteil gewordenen Rezensionen und der Literaturpreise, die sie gewonnen haben, eine führende Position einnehmen: Eesti Keele Sihtasutus, Eesti Raamat, Ilmamaa, Tuum, Tänapäev und Varrak (Kõnno 2006, 44). Die meisten von ihnen beantragen und erhalten für viele ihrer Titel vom Kulturkapital Druckkostenzuschüsse, lediglich bei Varrak, der auch viel übersetzte Literatur verlegt und u.a. Rowlings Harry Potter in seinem Programm hat, war der Anteil der geförderten Bücher gering. Bis auf Ilmamaa (Tartu) sind alle genannten Verlage in Tallinn ansässig. Des ungeachtet überwiegt aber noch die Vielfalt, und zum Leidwesen der Bibliographinnen, die sich in Sowjetzeiten praktisch mit einem Erscheinungsort – denn außerhalb Tallinn ist so gut wie nichts erschienen, sieht man von kleinen wissenschaftlichen Reihen im Rahmen der Tartuer Universität ab – und einem halben Dutzend Verlagen begnügen konnten, müssen nun häufig bei Büchern ein sine loco oder ein sine nomine oder ein sine anno oder alle drei zusammen notiert werden. Selbst die Paginierung ist manchmal, dann aber bewusst, fortgelassen. Kreativität im Kapitalismus II Wenn manche den veränderten finanziellen Rahmenbedingungen noch negative Seiten abgewinnen konnten, zumal es bei jedem Systemwechsel auch »Verlierer« gibt, so ist schwer vorstellbar, dass es ernsthaft Personen gab, die

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Kapitel IX: Kontinuität und Erneuerung

an der künstlerischen Freiheit, die zudem mit einem schnellen technischen Fortschritt einherging, etwas auszusetzen gehabt hätten. Es gab allein in rein technisch-formaler Hinsicht dermaßen viele neue Dinge, die es vorher so nicht gegeben hat und auch nicht hat geben können, dass das literarische Leben einfach bunter wurde. Zwar verfügten auch sowjetische Bücher über eine künstlerische Einbandgestaltung, aber ihre minderwertige technische Realisierung ließ einen das leicht vergessen: Blasse Farben, schiefer Druck, uneinheitlicher Durchschuss, Klammerung auch bei über 300 Seiten, übel riechender Leim – das alles war eher die Regel als die Ausnahme. Daher war es nur allzu verständlich, dass die in den Verlagen und Redaktionen angestaute Kreativität nun freigesetzt wurde und im buchgestalterischen Bereich Bemerkenswertes hervorbrachte. Das führte dazu, dass zusätzlich zu den »normalen« Büchern eine ganze Palette von extravaganten Gestaltungen geliefert wurde, die sich beim Kampf um Marktanteile positiv auswirken sollten. Einige dieser Kunstgriffe seien im Folgenden vorgestellt: Das einmal auch in sowjetischen Zeiten angewandte Verfahren, ein Buch mit zwei Vorderseiten herzustellen, wie es bei dem 1966 gedruckten Gedichtband von Rummo und Vetemaa der Fall gewesen war (vgl. § 43), wurde nun geradezu populär und fand sich beispielsweise bei Büchern von Erwin Õunapuu (2000), Ott Arder (2001), Valeria Ränik (2001) und Olev Remsu (2004). Eine Gedichtsammlung von den drei jungen Dichtern Asko Künnap, Jürgen Rooste und Karl Martin Sinijärv (2000) ist auf gelbem Papier gedruckt, die gleichen drei brachten ein Jahr später gemeinsam mit Triin Soomets und Elo Viiding ein Kartenspiel mit 55 Blatt heraus, auf denen jeweils ein Gedicht stand. Hier muss man statt einer Seitenzahl also etwa »Pik Ass« zitieren. Eine Sammlung von Ave Alavainu (2002) besteht aus 56 losen Blättern in verschiedenen Pastellfarben, die in einer Mappe im Format 18x21,5 cm geliefert wurden. Mehrmals produzierten Verlage Postkartenbücher, deren Karten mit Gedichten man herausreißen und verschicken konnte. Der Dichter Contra (s. § 50) ließ ein 32 Karten zählendes Päckchen mit Buchstabenkarten drucken, auf denen jeweils ein Gedicht zu dem betreffenden Buchstaben steht. Sven Kivisildnik – verantwortlich für einen der größten Literaturskandale in der wieder gewonnenen Freiheit (s. § 52) – lenkte 1996 die Aufmerksamkeit mit einem überproportional dicken Gedichtband von sieben Zentimetern Breite auf sich und erklärte die Ausgabe obendrein zur »Zweiten Auflage«, obwohl es die erste war. Einige Jahre zuvor hatte er einen Gedichtband gleich in vier Ausgaben herausgebracht, wobei sich drei lediglich durch einen anderen Einband voneinander unterschieden, während die vierte im südestnischen Dialekt abgefasst war. Diese Vierfachausgabe geschah bereits 1989, was

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Kartenspiel mit den Gedichten und Porträts von (v.l.n.r.) Karl Martin Sinijärv, Triin Soomets, Jürgen Rooste, Asko Künnap, Elo Viiding

zeigt, dass die neoavantgardistische Experimentierphase in der Endphase der Sowjetzeit begonnen hatte und sich über den Epochenwechsel hinweg fortsetzte (vgl. § 50). Ein doppeltes Buch ließ auch Märt Väljataga anfertigen, und er begnügte sich nicht mit diesem fast schon banalen Effekt, sondern ließ sein Sada tuhat miljardit millenniumisonetti (Hunderttausend Milliarden Millenniumsonette, 2000) so binden, dass man beim Aufschlagen immer erst den verkehrten Teil zu sehen bekommt, ehe das Buch nach einigem Blättern meist von selbst so fällt, dass es richtig vor einem liegt. Dann stößt man auf eine vermeintlich überschaubare Textmenge von zehn Sonetten. Allerdings handelt es sich hier nur um den Rohstoff für eine viel größere Anzahl von Sonetten, eben die im Titel genannten 100 Billionen (1014), die man dank des gleichen Reimes der entsprechenden Zeilen sich nach Belieben selbst zusammenstellen kann. Die Idee stammt zwar schon von Raymond Queneau, der 1960 sein Buch Cent mille milliards de poèmes publizierte, aber der hatte noch kein Internet zur Verfügung, während Väljatagas Sonettmaschine auch eine Zeit lang im Internet zu bedienen war (s. § 52; vgl. Hasselblatt 2002b). Selbst Hand anlegen konnte man auch bei Ervin Õunapuus Surmaminejad lasevad tervitada (Die

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dem Tode Geweihten lassen grüßen, 2000), das mit Spiralbindung und Bleistift geliefert wurde, so dass man die Leerstellen im Text ergänzen und danach den fertigen Brief herausreißen konnte. Bei dem Gedichtband von Valdur Mikita schließlich sollte ein Gedicht nicht mehr gelesen, sondern gemacht werden: In seiner Sammlung Rännak impampluule riiki (Wanderung ins Reich der Hampelmanndichtung, 2001) fand sich eine so genannte Destruktive Seite, auf der die Leserschaft zum Falten, Kokeln, Stechen und Schnippeln angehalten wurde (deutsche Übersetzung in Estonia 2004, 61). Gelegentlich erstreckte sich die neue Kreativität auch auf den orthographischen Bereich, wobei in Teilen sogar auf die Tradition der Spracherneuerung zurückgegriffen wurde. Am beliebtesten war die Ersetzung des Graphems ü durch ein y, was wie Anfang des 20. Jahrhunderts eine Umorientierung von Deutschland nach Finnland andeutete. Bis heute verwenden etliche Dichterinnen und Dichter – in der Prosa kommt es seltener vor – das y, obwohl es in jüngster Zeit niemals die Diskussion einer Orthographiereform gegeben hat. Verwirrend kann es werden, wenn das Graphem y für eine anderes Phonem, etwa das õ, eingesetzt wird, was einige Personen tun. Das kann aus rein praktischen Erwägungen heraus entstanden sein, weil die Schreibmaschine die entsprechende Taste nicht hatte, wurde danach aber kultiviert. Andere Ersetzungen sind x pro ks, z pro ts oder q pro ku. Wenn mehrere solcher Substitutionen innerhalb eines Textes verwendet werden, bewirkt das einen gewissen Verfremdungseffekt, aber aufs Ganze gesehen sind diese Erscheinungen marginal (vgl. Velsker 2001). Ein bekanntes Phänomen stürmischer Übergangszeiten ist auch die ausufernde Verwendung von Pseudonymen oder sonstigen Mystifikationen. Das kann bedeuten, dass ein Gedichtband unter dem Verfassernamen Tandem erscheint und nur Eingeweihte anhand der beiden Fotos auf dem Einband erkennen, dass die besagte Sammlung mit dem Titel Pegasus on pisut pervers (Pegasus ist ein wenig pervers, 2002) von Jürgen Rooste und Ivar Sild stammt. Noch extremer war das Verfahren bei dem Büchlein Ornitoloogi pealehakkamine (Die Initiative des Ornithologen, 2002), das keinerlei Hinweis auf seine mögliche Urheberin oder seinen möglichen Urheber enthält. Erst das Wissen um andere Publikationen oder der Zufallsfund in einer Rezension enthüllen, dass der Autor Erkki Luuk ist. Gemeinschaftspublikationen sind bei der jüngeren Generation gang und gäbe, aber 1993 kam Mihkel Mutt als Kulturredakteur der Zeitung Hommikuleht (Morgenblatt) auf die Idee, sich von einer Reihe namhafter Autorinnen und Autoren einen Fortsetzungsroman schreiben zu lassen, und zwar so, dass jede Person jeweils nur eine Folge schrieb. Einzige Bedingung war, dass niemand mehr als eine neue Person in die Handlung einführte, den Abstand

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zur vorhergehenden Folge nicht größer als ein Jahr und die Entfernung nicht größer als 1000 Kilometer machte. Als ersten Autor hatte Mutt Jaan Kross gewinnen können, der sich auch die Überschrift Ahelreaktsioon (Kettenreaktion) ausdachte. In der nächsten Nummer übernahm Enn Vetemaa den Stab, es folgten Rein Saluri, Maimu Berg und dreizehn weitere, bis Mati Unt sechs Wochen später mit der achtzehnten Folge einen Schlusspunkt setzte. Dies war in erster Linie nur ein Verkaufsgag einer gerade einmal ein Jahr alten Tageszeitung, der kein grandioses literarisches Werk hervorgebracht hat; aber bemerkenswert an der Sache ist, dass nahezu alle gefragten Personen bereitwillig mitmachten und nur wenige absagten. Jaan Kross hat seinen Auftakt übrigens acht Jahre später nahezu unverändert als Anfang seines Romans Tahtamaa (s. § 46) verwendet. Insgesamt betrachtet war das technische und künstlerische Niveau der Buchproduktion innerhalb weniger Jahre erheblich gestiegen, wobei der Umschwung sehr schnell erfolgt war. Bereits 1992 wurde ein von den Exilesten in Schweden herausgegebenes Jahrbuch in Pärnu gesetzt, weil es dort billiger war. Die Veränderungen in der Buchgestaltung sind nicht auf den Bereich der Belletristik beschränkt, auch in allen anderen Sparten erlebte sie einen deutlichen Aufschwung, der nicht nur im inhaltlichen Bereich für eine ungeahnte Bereicherung sorgte, sondern sich auch von der ästhetischen Realisierung her sehen lassen und mit jedem anderen europäischen Land messen konnte. All das führte dazu, dass eine betagte Dichterin dem Verfasser gegenüber einmal seufzend feststellte: »Ach, nur gut, dass ich so schlecht zu Fuß bin und nicht mehr stundenlang in Buchhandlungen herumlaufen kann, andernfalls würde ich schier verrückt werden von all den schönen Büchern, die ich mir nicht leisten kann.« Weiterdichten Trotz dieser einschneidenden wirtschaftlichen Veränderungen und neuen politischen Vorzeichen überwogen in der Lyrik die Kontinuitätselemente, jedenfalls sind die Einschnitte nicht eindeutig an den politischen Gegebenheiten festzumachen. Es gibt immer Wellenbewegungen, die nie völlig abrupt von einer folgenden Strömung abgelöst werden, sondern ineinander übergehen. Die Erneuerung Ende der 1950er-Jahre (s. § 40) ging über in die Lyrikexplosion der 1960er-Jahre (s. § 43). Hieran fügten sich die auffälligen Debüts von Juhan Viiding und Doris Kareva in den 1970er-Jahren, woran sich ihrerseits die Newcomer aus der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre anschlossen. Für sie und für Kareva bedeutete das Jahr 1991 keineswegs einen Einschnitt.

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Doris Kareva ist dabei eines der besten Beispiele für Kontinuität, da sie bis heute zehn Gedichtbände vorgelegt hat, von denen die Hälfte vor 1991 erschienen ist. Wenn man bei ihr eine Veränderung feststellen kann, so ist die wohl kaum politisch bedingt. Eher ging es um eine poetische Weiterentwicklung, die nicht die Themen oder die philosophische Grundhaltung, sondern die Form betrifft. Ihre weiteren Sammlungen – nach dem Auswahlband Armuaeg (Zeit der Gnade, 1991) mit nur zum Teil neuen Gedichten waren das Maailma asemel (An Stelle der Welt, 1992), Hingring (Geistring, 1997), Mandragora (2002) und Aja kuju (Die Gestalt der Zeit, 2005) – konzentrierten sich stärker auf den freien Vers, ohne dabei auf exakte Formulierungen und sprachspielerische Elemente zu verzichten: Tundub, et tuleb tund, millal tuleb midagi ära tunda, midagi muuta – eelkõige eneses, midagi teha, et maa peal heledam hakkaks. (Kareva 2005, 103; Es scheint, als komme die Stunde, / in der man / etwas erkennen muss, / etwas ändern – vor allem in sich selbst, / etwas tun, / dass es auf der Erde heller werde.)

Kareva hat ferner Gedichte für Kinder geschrieben und aus dem Englischen und Russischen übersetzt. Außerdem bemüht sie sich intensiv um dichterischen Nachwuchs: 1993 stiftete sie einen ihr verliehenen Literaturpreis als ein so genanntes Strohhalm-Stipendium, das angehende Dichterinnen und Dichter bei ihren Debüts behilflich sein sollte. Seit 1993 sind in der gleichnamigen Buchreihe etliche Titel erschienen, darunter auch die bemerkenswerten Debüts von Kristiina Ehin und Jürgen Rooste (s. § 53). Schon vorher hatte es, auch zu Sowjetzeiten, immer wieder spezielle Reihen für Debüts gegeben, die in verschiedenem Maße gekennzeichnet waren. Nach den Kassetten der 1960er-Jahre und der weniger auffälligen, sich lediglich durch eine gleiche Einbandgestaltung hervorhebenden Reihe der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre, deren Auftaktband Karevas Debüt von 1978 war (s. § 43), war ab 1984 wiederum eine neue Reihe erschienen, die durch ein NA (für Noored autorid, ›Junge Autoren/Autorinnen‹) auf dem Einbanddeckel kenntlich gemacht war. Hier sind bis 1987 rund ein Dutzend Erstlinge erschienen, von denen sich einige wie üblich als literarische Eintagsfliegen erwiesen, während ungefähr die Hälfte den Beginn einer schriftstellerischen Laufbahn markierte. Dies war bei Tõnu Õnnepalu (s. §§ 49, 51), Aita Kivi (s. § 49), Kalev Kesküla, Priidu Beier (s. § 49), Hasso Krull und Kauksi Ülle (s. § 50) der Fall.

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Doris Kareva, Foto: Piia Ruber

Von ihnen nahm Hasso Krull, dessen Debüt Mustvalge (Schwarzweiß, 1986) noch unter dem Pseudonym Max Harnoon erfolgt war, bald eine zentrale Stellung ein. Deswegen ist das Jahr 1986 gelegentlich als Epochengrenze angesetzt worden (Velsker 2003, 35), was womöglich eine Überbewertung darstellt und sich zu stark an den politischen Rahmenbedingungen orientiert. Ganz sicher aber ist Krulls Dichtung, die in den folgenden Bänden Pihlakate meri (Das Meer der Ebereschen, 1988), Luuletused 1987–1991 (Gedichte 1987–1991, 1993), Swinburne (1995), Kaalud (Die Gewichte, 1997), Jazz (1999), Kornukoopia (Das Füllhorn, 2001) und Meeter ja Demeeter (Meter und Demeter, 2004) herauskam, innerhalb der estnischen Lyrik etwas Besonderes, was sein Kollege und Bruder im Geiste Märt Väljataga in einem Essay mit »Poststrukturalismus, Paragrammatismus und Programmfreiheit« wie-

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derzugeben versucht hat (Väljataga 2001). Wahr daran ist, dass sich Krull kaum irgendwelchen Programmen unterwirft, auch wenn man in seiner ersten Sammlung eine Vorliebe für Dekadenz entdecken mag, die auch später hin und wieder aufblitzt. Krull spielt mit der Sprache, schiebt Stile und Zitate ineinander, probiert aus und schert sich wenig darum, ob die Leserschaft ihm in allem folgen kann. Es überwiegt die Lust am Experimentieren, aber auch philosophisches Theoretisieren ist möglich. Das hängt zweifellos damit zusammen, dass Krull als Essayist, Kritiker und Übersetzer in den 1990er-Jahren quasi im Alleingang dem estnischen Publikum die moderne französische Philosophie der Nachkriegszeit nahe gebracht hat und damit die führende Gestalt bei der Bereicherung des literaturwissenschaftlichen und -theoretischen Gedankenguts in Estland war. Kalev Kesküla schlug dagegen leisere Töne an und publizierte nur noch einige weitere Gedichtbände mit philosophischer Lyrik. 1998 kam von ihm die Sammlung Vabariigi laulud (Lieder der Republik) heraus, worin manche Stimmen der Kritik einen neuen Vaterlandsdichter entdecken wollten, was insofern berechtigt ist, als nahezu alle Gedichte von Phänomenen oder Eigenschaften des gegenwärtigen Estland handeln. Das Thema schwächt sich in seiner nächsten Sammlung ab, in Platoni riigis (Im Staat Platons, 2002) wird wieder stärker auf globalere und philosophische Themen eingegangen. Keskülas hauptsächliches Betätigungsfeld ist aber das Kulturressort des Eesti Ekspress, wo er seit 1991 arbeitet. Diese erste private Wochenzeitung erscheint seit September 1989 und war gleichzeitig die erste im Vierfarbdruck erstellte Zeitung in Estland. Sie nimmt heute eine führende Stellung innerhalb der estnischen Presselandschaft ein, woran auch der Dichter seinen bescheidenen Anteil hat. Ganz außerhalb jeglicher Reihen debütierte Indrek Hirv 1987 mit dem Band Uneraev (Traumwut), nachdem er seit 1980 schon verstreut Gedichte veröffentlicht hatte. Mit seinen in rascher Folge vorgelegten weiteren Gedichtbänden wurde er neben Hasso Krull schnell als ein wichtiger Vertreter der neuen Lyrik gegen Ende der Sowjetzeit angesehen. Dabei fehlte seiner Dichtung ein eigentlich innovatives Element weitgehend: Sie ist in gewisser Weise traditionell und fühlt sich klassischen Formen und der estnischen Dichtung vom Beginn des 20. Jahrhunderts verpflichtet. Die meisten Gedichte sind streng gereimt, der Autor legt großen Wert auf sprachliche Sorgfalt und gelangt hierin zu Meisterschaft. Auch thematisch bleibt Hirv im herkömmlichen Rahmen, denn zu seinen Hauptthemen zählen Liebe und Erotik. Dadurch stieß er mit seinen in mittlerweile über einem Dutzend Ausgaben erschienenen Gedichten auf ein positives Echo, ohne jedoch spektakulär zu sein. In seine Sammlungen nahm er häufig Übersetzungen – vorwie-

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gend aus dem Französischen und Deutschen, aber auch aus dem Englischen, Spanischen oder Russischen – auf, so dass bei ihm die Grenze zwischen Dichtung und Nachdichtung bewusst verwischt wurde. Im Jahre 1988 nahm der Staatsverlag wieder die Tradition der Kassetten auf, die bis Mitte der 1990er-Jahre fortgesetzt wurde. Insbesondere die beiden ersten Kassetten von 1988 und 1990 warteten dabei mit neuen Gesichtern auf, die in den kommenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle im estnischen Kulturleben einnehmen sollten, während die zehn neuen Namen in den beiden Kassetten von 1992 und 1995 bislang ohne große Wirkung blieben. Die erste Kassette mit dem Titel Kassett ’88 erschien 1989 und war von einer fünfköpfigen Redaktion zusammengestellt, zu der unter anderem Doris Kareva und Joel Sang gehörten. Von den vier hierin aufgenommenen Dichtern ist lediglich Ringo Ringvee später kaum noch in Erscheinung getreten. Die anderen drei – Karl Martin Sinijärv, Tõnu Trubetsky und Märt Väljataga – traten mit ihren Debütbändchen in die estnische Literaturgeschichte ein um zu bleiben. Väljataga hat dabei am wenigsten weitergedichtet, sieht man von der oben erwähnten Sonettmaschine ab. Er war als Essayist, Übersetzer und Kritiker aktiv und das angelsächsische Pendant zu Hasso Krull: Wo dieser den Kontakt zur französischen Geistes- und Gedankenwelt herstellte, tat Väljataga, der auch ein Jahr in den Vereinigten Staaten gelebt hat, dasselbe für den angloamerikanischen Bereich. Väljataga ist seit 1995 Chefredakteur von Vikerkaar, nachdem er schon vorher dort Redakteur gewesen war, und hat maßgeblichen Anteil daran, dass diese Zeitschrift im estnischen literarischen Leben eine so große und gewichtige Rolle spielt. Karl Martin Sinijärv (s. § 50) wurde einer der Chefideologen des Ethnofuturismus und einer der auffälligsten Dichter der jüngeren Generation. Tõnu Trubetsky (s. § 49) war als Rockmusiker bekannt und wurde ein Hauptvertreter der Punklyrik, die in gleichem Maße von Merle Jääger (s. § 49) gepflegt wurde. Jääger hätte eigentlich auch in dieser Kassette vertreten sein sollen, aber aus unerfindlichen Gründen wurde sie von der Redaktion aussortiert. Prompt erschien ihr Debüt daraufhin in Kanada, während sie in der Kassette nur zweimal als Koautorin von Trubetsky figuriert. Die nächste Kassette kam ein Jahr später und war wiederum von einer fünfköpfigen Redaktion zusammengestellt worden, der neben Kareva diesmal auch Viivi Luik angehörte. Hier debütierten fünf Dichterinnen, die zwischen 1969 und 1974 geboren waren. Von ihnen ist keine Einzige sang- und klanglos wieder in der Versenkung verschwunden, wenngleich die Gedichtproduktion von Aido Asumets, Ruth Jyrjo und Liisi Ojamaa sich danach auf einige wenige weitere Bände beschränkte. Mit Triin Soomets und Elo Viiding

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traten hingegen zwei junge Dichterinnen an die Öffentlichkeit, die bald zur ersten Garde der modernen estnischen Dichtung zählten. Dabei war Elo Viidings Debüt eines der jüngsten in der estnischen Literaturgeschichte, denn als ihr erster Band Telg (Die Achse) 1990 unter dem Pseudonym Elo Vee, unter dem sie ihre ersten drei Bücher veröffentlichte, erschien, war die Autorin gerade 16 Jahre alt. Während hier noch eine Verbindung zur estnischen Lyriktradition erkennbar war, entwickelte die Autorin in den beiden folgenden Bänden, Laeka lähedus (Die Nähe der Schatulle, 1993) und Võlavalgel (Im Schuldenlicht, 1995), einen besonderen eigenen Stil, den sie in ihren schnell erscheinenden weiteren Sammlungen konsequent fortsetzte. Mit der Sammlung V (1998) etablierte sich Viiding als neoavantgardistische Dichterin, die ihre Zyklen einteilt in »Schlechte Gedichte«, »Mittelmäßige Gedichte« und »Gute Gedichte«, wobei die letzte Rubrik leer bleibt. Das Buch ist paginiert von –47 bis +47 und enthält auf den Seiten –0–+0 ein so genanntes »Zentralwort« an die Leserschaft. Versteckt findet sich in einem Gedicht dann auch die Poetik der Dichterin in einem auf Deutsch gebrachten Zitat von Wittgenstein, bei dem nur zwei Buchstaben ausgewechselt sind: wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schreiben. (E. Viiding 1998, +5) Nach elf kurzen Gedichten in dem erwähnten Kartenspiel etablierte und kultivierte die Dichterin ihre langen, fast im Stil von Poemen geschriebenen Gedichte in den folgenden drei Bänden Esimene tahe (Der erste Wille, 2002), Teatud erandid (Gewisse Ausnahmen, 2003) und Selge jälg (Die deutliche Spur, 2005). Diese Lyrik hat etwas Bekenntnisartiges, sie ist häufig deklamatorisch, schreckt vor langen Aufzählungen nicht zurück und liest sich wie abgebrochene, parataktische Prosa: hart, rücksichtslos, fast kalt; gleichzeitig aufrüttelnd und zum Nachdenken nicht nur anregend, sondern zwingend; ebenso engagiert und auch anklagend, wenn es etwa um die benachteiligte Position der Frau in der Gesellschaft geht; manchmal auch kontemplativ und rätselhaft in sich gekehrt. Elo Viidings Lyrik ist, vereinfacht ausgedrückt, nicht schön, aber genau das ist ihr Programm. Triin Soomets mag auf den ersten Blick Parallelen zu Elo Viiding aufweisen – beide Frauen debütierten in derselben Kassette, beide sind im Kartenspiel vertreten, beide sind in gewissen Aspekten offensiv feminin, weswegen ihnen das Attribut »feministisch« attestiert worden ist, und beide zitieren Wittgenstein (s.u.) –, aber im Gegensatz zu Viiding ist Soomets’ Dichtung sparsamer und komprimierter, viel weiter entfernt von allem Prosaischem, sozusagen lyrischer und damit gleichsam »schöner«. Das will nicht heißen, dass sich die Lyrikerin brav an die Konventionen hielte. Schon in ihrem ersten Band Sinine linn (Die blaue Stadt, 1990) ist eine Gefühlsintensität spürbar, die auch in den nachfolgenden Bänden Randmes unejanu (Traumdurst im

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Handgelenk, 1994) und Janu masinas (Durst in der Maschine, 1994) bisherige Grenzen überschreitet und dadurch auffällt und aufrüttelt. In vergleichsweise kurzen, prägnanten, teilweise gereimten Versen überraschte Soomets durch ihren erfrischenden, offensiven, wilden und erotischen Tonfall. Eine vergleichbare Offenheit hatte es bis dahin in der estnischen Lyrik noch nicht gegeben. Kontinuierlich setzte Soomets diese Linie in den Bänden Pidurdusjälg (Bremsspur, 1999), Soon (Ader, 2000), Leping nr. 2 (Vertrag Nr. 2, 2004) und Toormaterjal (Rohmaterial, 2004) fort, so dass sie mit ihren sieben Gedichtbänden und als regelmäßige Autorin von Looming und Vikerkaar zu den markantesten Persönlichkeiten der estnischen Gegenwartslyrik gerechnet werden kann. Soomets hat eine Neigung zu merkwürdigen Kombinationen und Bildern, zu überraschenden und geheimnisvollen Zusammenstellungen und der Vereinigung von Gegensätzen. Sie verkörpert damit gleichzeitig die neue Generation in Estland, die vor keinen Tabus mehr zurückschreckt und sich selbstbewusst auf eine Erkundungstour nach den Grenzen des Möglichen begibt: Das betrifft sowohl die Themenwahl, die schockierend intim und offensiv hedonistisch sein kann, als auch die Form, bei der gelegentlich fremdsprachige Elemente verwendet werden können, wie im folgenden Gedicht, wo sich die Sätze 2.171 und 2.203 aus Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus scheinbar mühelos dem estnischen Reimschema anpassen: Viin nii valge, öö nii must – ääreni täis armastust. Siin saab selgeks elu siht: sõnnik, soojus, põhjakiht, juua maha viimne sent (das Bild kann jede Wirklichkeit abbilden, deren Form es hat) ja piiritleda iga patt, käest lastud võimalus või võit kui loogiline peitepilt – das Bild enthält die Möglichkeit der Sachlage, die es darstellt. (Soomets 2004, 17, gleichzeitig das Pik Ass des Kartenspiels; Der Schnaps so klar, die Nacht so schwarz – / randvoll mit Liebe. / Hier wird das Ziel des Lebens klar: / Misthaufen, Wärme, Bodensatz, // den letzten Cent vertrinken / (das Bild kann jede Wirklichkeit / abbilden, deren Form es hat) / und jede Sünde definieren, // eine ausgelassene Möglichkeit oder ein Sieg / als logisches Vexierbild – das Bild enthält die Möglichkeit / der Sachlage, die es darstellt.)

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Auch Soomets’ Gedichte können in ihren abstrakten Bildern rätselhaft sein und viel Interpretationsspielraum bieten. Sie sind aber fast immer von einem besonderen Rhythmus gekennzeichnet, durch den sie sich von vielen zeitgenössischen Dichtungen abheben. Diese eigenartige Melodie, die weder banal noch elegisch noch zwanghaft getragen ist, sondern immer gleichsam natürlich entstanden zu sein scheint, macht die Dichtung von Soomets zu einer eigenen Klasse innerhalb der zeitgenössischen estnischen Lyrik.

§ 49 Neue Möglichkeiten und neue Themen Öffnung der Schubladen Zwar hat Jaan Kross einmal behauptet, es entspräche nicht der Mentalität der pragmatischen Esten, für die Schublade zu schreiben (vgl. Hasselblatt 1990, 23 bzw. 68), aber es gab dennoch einige Personen, die ihre zu Sowjetzeiten geschriebenen Texte nicht unmittelbar publizieren konnten oder wollten. Eines der prominentesten Beispiele war Uku Masing (s. §§ 34, 43), der 1985 gestorben war und dessen umfangreiches lyrisches, essayistisches und philosophisches Werk erst seit Beginn der 1990er-Jahre nach und nach veröffentlicht wird. Ebenso fällt Artur Alliksaar in diese Kategorie, da nur ein Teil seines Werkes während der sowjetischen Periode publiziert werden konnte. Tatsächlich war die Zahl derjenigen, die den einen oder anderen Text zurückhalten mussten, relativ groß, wie beispielsweise bei Kiik, Kross, Rummo oder Valton in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt werden konnte. Hierzu gehören auch einige Bücher von Raimond Kaugver (vgl. § 41). Kirjad laagrist (Briefe aus dem Lager, 1989) ist ein aus einzelnen Novellen zusammengesetzter, phasenweise dokumentarischer Text; Postuumselt rehalibeeritud (Postum rehabilitiert, 1990) behandelt die Schwierigkeiten der aus der Verbannung Zurückkehrenden bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft; Laevad kaotavad tüüri (Die Schiffe laufen aus dem Ruder) war schon 1951 abgefasst worden und erschien erst 1993, als Kaugver bereits gestorben war. Der Roman beschrieb u.a. die Stimmung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als man in Estland auf das Eingreifen des Westens wartete, und war von vornherein für die Schublade geschrieben (vgl. Kaalep 1994, 84). Als klassischer »Schubladenroman« ist auch Teet Kallas’ Niguliste (Nikolaikirche) angesehen worden, dessen erste Variante zwischen 1967 und 1972 entstanden war und der erst 1990 in einer überarbeiteten und erweiterten zweibändigen Ausgabe erschien. Der Roman ist die typische Beschreibung einer »verlorenen Generation«, die ihre Träume und Ideale verliert und sich

§ 49 Neue Möglichkeiten und neue Themen

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selbst zugrunde richtet, und war als solcher ein Dokument der Zeit nach 1968. Sein Nichterscheinen Anfang der 1970er-Jahre war jedoch eher der Trägheit des Autors als der Zensur zuzuschreiben, denn die interne Kritik war keineswegs vernichtend oder unüberwindbar. Kallas wandte sich bloß anderen Dingen zu, weswegen der Roman liegen blieb. Erst 1999 publizierte Jaan Isotamm seine Gedichte aus den Jahren 1967–1974. Er hatte 1970 als Johnny B. Isotamm debütiert (vgl. § 43) und nach einer zweiten Sammlung (1972) von der weiteren Publikation seiner Gedichte Abstand genommen, weil er sich nicht auf das System einlassen wollte. Tatsächlich gehören diese rebellischen Verse eines Querdenkers in die unmittelbare Umgebung der 1968er-Bewegung, so dass mit dieser Sammlung das Bild der damaligen Zeit abgerundet und vervollständigt wurde. Es kam relativ selten vor, dass jemand fast gar nichts publizierte und erst nach Änderung der politischen Lage an die Öffentlichkeit trat. Ein Autor, bei dem dies sehr wohl der Fall war, ist Madis Kõiv. Er ist 1929 geboren und hat sich nach seinem Studium als Kern- und Teilchenphysiker einen Namen gemacht. Neben der theoretischen Physik war auch die Philosophie bald ins Zentrum seines Interesses geraten. Ab 1992 hielt er philosophische Lehrveranstaltungen ab und leitete u.a. eine Gruppe, die Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus ins Estnische übersetzte; im Studienjahr 1994–95 bekleidete er in Tartu die »Gastprofessur der Freien Künste«. Seit den 1960er-Jahren verfasste Kõiv neben Prosa vornehmlich Schauspiele. Nebenbei malte er auch noch, und für die Publikation seiner Werke interessierte er sich nicht im geringsten. Ihr Nichterscheinen während der Sowjetzeit ist daher nicht unbedingt konkreten Behinderungen durch die Zensur zuzuschreiben, sondern dem Unwillen des Autors, der sich seine geistige Unabhängigkeit als Physiker und Philosoph bewahren wollte, sich auf ein derartiges System einzulassen. Seine ersten Dramen sind in Gemeinschaftsarbeit mit anderen Autoren entstanden, die sich dann um die Publikation und gegebenenfalls auch um die Inszenierung gekümmert haben. Aber selbst in den 1990er-Jahren, als seine Dramen die estnischen Bühnen praktisch beherrschten und man von einer Art »Kõivumanie« in Estland sprechen konnte, interessierte sich der Autor nicht für die Inszenierungen seiner eigenen Stücke (Epner 1995, 145). Er lebt weiterhin zurückgezogen in Tartu, ist nicht einmal Mitglied des Schriftstellerverbandes und widmet sich lieber der Philosophie. So publizierte er 1999/2000 in Akadeemia eine sechsteilige Serie unter dem Titel Was ist des Esten Philosophie. Zum ersten Mal gedruckt wurde Kõiv 1978 in Looming, als sein gemeinsam mit Hando Runnel abgefasstes Stück Küüni täitmine (Das Füllen der Scheune) erschien. Die Autoren verwendeten damals ein gemeinsames Pseu-

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donym, Jaanus Andreus Nooremb, für ihr ebenso satirisch-absurdes wie existenzielles Stück, bei dem u.a. endlos Heu in eine Scheune eingefahren wird. Es wurde erst 1999 inszeniert, als Kõivs Name in aller Munde war und sich ein jüngerer Regisseur an das nicht sehr bühnenfreundliche Stück heranwagte. Diese Eigenschaft trifft für alle Dramen von Kõiv zu: Auf den ersten Blick scheinen sie sich überhaupt nicht für die Bühne zu eignen, der Autor gibt sich keinerlei Mühe, seine Texte spielbar zu machen, und überlässt diese Sorge gerne anderen. Gleichzeitig sind seine Texte von einem Theaterkenner geschrieben, weswegen sie dann auch in den zahlreichen Inszenierungen großen Erfolg hatten. Charakteristisch für Kõivs Dramen sind die sehr flüssigen, volksnahen und bei einigen Stücken ganz im Dialekt abgefassten Dialoge, die im Übrigen häufig Monologe sind. Inhaltlich betrachtet steht eine grundsätzliche, philosophisch-existenzielle Suche nach Wahrheit im Vordergrund, die häufig an die Beschäftigung mit den traumatischen Erlebnissen der Vergangenheit gekoppelt ist. Damit verbunden werden Fragen nach der eigenen Identität. Insgesamt liegen von Kõiv 22 Schauspiele vor, die bei weitem nicht alle gedruckt sind und von denen sechs bislang nicht einmal auf die Bühne gelangt sind (vgl. die Übersicht bei Saro 2004, 13–14). Außer mit Runnel hat er je ein Stück gemeinsam mit Vaino Vahing (1982) und Aivo Lõhmus verfasst, ferner eines auf Russisch und eines auf Englisch. Von den Gemeinschaftsstücken war das mit Vahing verfasste Faehlmann 1982 gleichzeitig das erste inszenierte Drama von ihm. Es wurde 1984 gedruckt. Das mit Lõhmus gemeinsam im südestnischen Dialekt verfasste Põud ja vihm Põlva kihelkonnan nelätõistkümnendämä aasta suvõl (Dürre und Regen im Kirchspiel Põlva im Sommer 1914) war 1983 schon fertig, wurde aber erst 1987 gedruckt und 1993 auf die Bühne gebracht. Es behandelt den Vorabend des Ersten Weltkriegs und ist eines der Stücke, die sich ganz auf die Vergangenheit konzentrieren. Danach verzichtete Kõiv auf Koautoren, wie es bei einigen Stücken aus den 1970er-Jahren schon der Fall gewesen war. In den 1990er-Jahren gab es zwölf Uraufführungen von Kõivs Theaterstücken, so dass man zu Recht behaupten kann, dass sich die estnischen Bühnen, die in der Zeit des politischen Umbruchs und der Westöffnung verständlicherweise mit ausländischen Stücken überspült worden waren – zumal die Theater mit importierten Komödien ihre Häuser leichter füllen konnten –, dank Madis Kõiv wieder einheimischen Werken zuwenden konnten. Ein wichtiges Zugpferd und regelrechtes Theaterereignis wurde 1993 Tagasitulek isa juurde (Die Heimkehr zum Vater) in der Inszenierung von Priit Pedajas, der damit zum führenden Interpreten Kõivs aufstieg. Das Drama spielt in den Tagen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und ist mit

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den Dramen von Saluri und Kruusvall (vgl. § 47) verglichen worden. Es ist eine von Kõivs intensivsten Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit, der autobiographische Züge nicht fehlen, denn Kõivs Vater hat 1944 das Land verlassen, und die Familie konnte ihm wegen eines kranken Kindes nicht folgen. Im Stück nun steht ein Heimkehrer zentral, der nach langen Jahren in ein leeres Haus zurückkommt und dort seinen längst verstorbenen Vater trifft. Mit verschiedenen Visionen wird in intensiven Bildern die Vergangenheit mit all ihren Traumata heraufbeschworen, was in der Frühphase der wiedererlangten Unabhängigkeit ein wichtiges, identitätsstiftendes und für ein Zusammengehörigkeitsgefühl sorgendes Thema war. Das Drama wurde 47-mal gespielt und von über 12000 Personen besucht (Saro 2004, 37), im gleichen Jahr wurde es auch in Hamburg im Rahmen eines Theaterfestivals aufgeführt. Von den anderen sich mit der Geschichte auseinandersetzenden Stücken ist Peiarite õhtunäitus (Abendshow der Vagabunden), das am Vorabend des russisch-japanischen Kriegs spielt, hervorzuheben. Es wurde 1998 auf der Bonner Biennale aufgeführt. Das dritte sehr erfolgreiche Stück von Kõiv war eine absurde Komödie: In Kui me Moondsundi Vasseliga kreeka pähkleid kauplesime, siis ükski ei tahtnud osta (Als Moondsundi Vassel und ich Walnüsse verkauften, wollte sie keiner haben, 1999) geht es eigentlich um den Aufbau eines Hotels, tatsächlich wimmelt das Stück aber von Situationskomik und ununterbrochenem Geplatter, so dass aus dem ursprünglichen Vorhaben nichts wird. In der Kritik ist das Stück folgerichtig als Satire auf die estnische Gegenwartsgesellschaft bezeichnet worden (Saro 2004, 133). Daneben ist Kõivs philosophisches Werk hervorzuheben, das er nicht nur in seiner Prosa – genannt sei hier der autobiographisch gefärbte Zyklus Studia memoriae (I-V, 1994–2002) –, sondern auch in einigen Theaterstücken formuliert hat: In Kokkusaamine (Das Zusammentreffen, 1991 inszeniert) lässt der Autor Spinoza und Leibniz aufeinander treffen, in Filosoofipäev (Der Tag des Philosophen, 1994 inszeniert) sind es Kant, Fichte, Leibniz und Heidegger, deren philosophische Gebäude sich im gegenseitigen Dialog befinden, und bei Hammerklaviersonate – so der deutsche Titel des estnischen Stücks, das weder gedruckt noch inszeniert ist und nur einigen Eingeweihten bisher zugänglich war – stehen Beethoven, Hegel und Hölderlin im Zentrum des Geschehens. Kõivs Werk ist in seiner bruchstückhaften und verspäteten Rezeption ein gutes Beispiel für die schwierige Entwicklung der estnischen Kultur im 20. Jahrhundert. Aus dem Bereich der Lyrik muss Priidu Beier als ein eindeutiges Opfer des Systems genannt werden. Er hatte bereits 1976 in einer kulturellen Wochenzeitung debütiert und war danach in einigen Sammelbänden vertreten,

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aber sein Buchdebüt konnte erst 1986 mit dem Bändchen Vastus (Antwort) erfolgen. Vorher war Beier mit seinen humorvollen und grotesken Gedichten aber bereits sehr populär geworden und ein gern gesehener Gast auf privaten und öffentlichen Gedichtabenden. Den Behörden war alles, was nach Satire roch, indes zu verdächtig, so dass ab 1980 nacheinander sechs (!) Versuche, einen Gedichtband zu veröffentlichen, scheiterten. Die Gedichte zirkulierten teilweise in Manuskriptform und wurden mündlich vorgetragen und weitergegeben. Hierzu engagierte Beier 1981 den Tartuer Kunstsammler Matti Milius, der sich mit Hilfe eines psychiatrischen Gutachtens dem Militärdienst entzogen hatte und als offiziell Verrückter eine gewisse Narrenfreiheit genoss, d. h. er wurde vom Geheimdienst nicht weiter belästigt. Milius sollte die Gedichte zunächst als seine eigenen vortragen, wofür er von Beier mit fünf Rubeln entlohnt worden sein soll (Urmet 2000, 81). Schnell wurde dann aber ein Pseudonym gefunden, wofür Doris Kareva verantwortlich gemacht werden kann: Sie schlug den Namen Matti Moguˇci vor – nach einem bei Tolstojs Anna Karenina vorkommenden Reitpferd. Die gelungene Mystifikation bereitete dem Geheimdienst jahrelang Kopfzerbrechen (Moguˇci 1989, 47), bis 1989 und 1999 zwei Sammlungen unter diesem Autorennamen erschienen und der Geheimdienst nichts mehr zu sagen hatte. Weitere Sammlungen von Beier kamen 1989, 1991, 1997, 2000 und 2002 heraus, 2005 erneut unter dem Namen Moguˇci. Beiers Gedichte sind stellenweise obszön und nehmen hier und da direkt Bezug zur Tagespolitik, weswegen ihre Veröffentlichung zu sowjetischen Zeiten auch undenkbar war. Es finden sich neben Spottgedichten und Persiflagen aber auch romantische Selbstbespiegelungen und humorvolle Lieder, manchmal sind sie schlicht clownesk. Die Gedichte sind durch eine gewisse prinzipielle Unangepasstheit gekennzeichnet, die den Autor im Übrigen auch in den 1990er-Jahren noch in einen Prozess verstrickte, und erlangen dadurch sowie durch die besondere Art ihrer Verbreitung eine besondere Position abseits der Hauptströmungen der estnischen Lyrik. Trauma- und Trauerarbeit Kõiv war bei weitem nicht der Einzige, der sich mit den prägenden Ereignissen der Vergangenheit beschäftigte; das Thema stand nach dem Wegfall der Beschränkungen naturgemäß ganz oben auf der Tagesordnung. Das Genre »Memoiren« konnte in Estland unter der sowjetischen Herrschaft nicht gedeihen, weil sich die wenigsten vorschreiben lassen wollten, woran sie sich erinnern durften, und auch abstraktere und verfremdete Befassungen mit der Vergangenheit waren häufig eine delikate Angelegenheit gewesen. Schritt für

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Schritt mit den politischen Lockerungen war hier eine Veränderung eingetreten, wie die Ende der 1980er-Jahre erschienenen Werke etwa von Raimond Kaugver, Heino Kiik, Jaan Kross oder Arvo Valton zeigen, die alle mehr oder weniger stark (auto)biographische Züge aufweisen (vgl. § 47). Eine Autorin, die sich in ihrer Prosa fast ausschließlich mit der Last der Vergangenheit befasste, war Ene Mihkelson. Schon ihr erster Roman Matsi põhi (Bauerngrund, 1983) behandelte die negativen Auswirkungen von Krieg und Nachkriegszeit auf eine ursprünglich harmonisch lebende Dorfgemeinschaft. Nach zwei weiteren Romanen, in denen der Zweite Weltkrieg eine zentrale Rolle einnahm, veröffentlichte die Autorin 1994 Nime vaev (Die Bürde des Namens). In diesem autobiographischen Roman wird die unmittelbare Nachkriegszeit verwoben mit dem Ende der 1980er-Jahre, als eine offenere Auseinandersetzung mit eben dieser Vergangenheit möglich wurde. In langen, stellenweise monoton wirkenden inneren Monologen, die in einer prätentiösen, nicht unbedingt locker oder flüssig zu nennenden Sprache daherkommen, verdeutlichte Mihkelson abermals den engen Zusammenhang zwischen Gestern und Heute. Dass sie damit nicht ein persönliches Problem behandelte, sondern das Lebensgefühl einer ganzen Generation bzw. sogar mehrerer Generationen ausdrückte, beweist eine Rezension von Madis Kõiv, die mit dem Satz beginnt: »In einem Anflug von geistiger Verwirrung nach dem ersten Leseeindruck dachte ich, dass ich dieses Buch selbst geschrieben habe.« (M. Kõiv 1995, 91). Aber auch von anderer Seite wurde dem Roman der Status einer »kollektiven Autobiographie« (Kirss 2000, 136) zuerkannt. Diese Art und Weise der Behandlung der Geschichte erreichte bei Mihkelson ihren Höhepunkt in dem Roman Ahasveeruse uni (Ahasvers Traum, 2001), der von der Kritik nahezu ausnahmslos bejubelt wurde und Gegenstand mehrerer Studien zu Vergangenheitsbewältigung (Kirss 2005) und Traumatheorie (Rein 2005) geworden ist. Dieser ganz im Mihkelson’schen Stil kontemplative, ein wenig schwerfällige und auch pathetische Text von 112 000 Wörtern Umfang ist ein großer innerer Monolog, in dem die Lebensgeschichte der Verfasserin bzw. die Geschichte der Erforschung einer Kindheit und die Wiederentdeckung eines verschütteten Lebens beschrieben wird. Aufhänger ist das fehlende Grab des Vaters, der 1953 als Widerstandskämpfer bei einem Gefecht umkam. Mit Hilfe von Interviews mit Zeitzeugen, Zitaten aus KGB-Akten, wiedergegebenen Telefongesprächen mit Archivaren und anderem dokumentarischen Material wird ein bedrückendes Bild nicht nur von den dunklen Seiten der Vergangenheit, sondern auch vom Umgang mit ihr und ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein gezeichnet. Für die meisten Leser und Leserinnen hatte Ene Mihkelson das ausgesprochen, was sie jahrezehntelang selbst empfunden und gedacht hatten.

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Der Text ist nicht frei von Längen und Wiederholungen, seine Lektüre ist kein Lesegenuss. Aber das kann und soll er nach Mihkelsons Verständnis auch gar nicht sein, denn hier gibt es nichts zu genießen. Das Buch ist ein großer elegischer Seufzer. Bücher, die den einen oder anderen Aspekt der vergangenen fünfzig Jahre behandelten, hat es vor und nach Michselson immer wieder gegeben, aber kaum jemand erreichte eine vergleichbare Intensität und Unmittelbarkeit. Die meisten thematisch vergleichbaren Werke, d. h. autobiographisch ausgerichtete Prosa, bewegten sich viel stärker im Bereich des rein Memoirenhaften, ohne eine Poetisierung des Elends zu erreichen oder auch nur danach zu streben, wie Mihkelson es getan hatte. Die Verfasserinnen und Verfasser der nun massenweise erscheinenden Sowjetmemoiren waren teils liebenswert dilettantisch, teils durchaus begabt. Unter ihnen befanden sich auch namhafte Autorinnen und Autoren, aber die wenigsten Texte ereichten einen ähnlich hohen Stellenwert wie die Memoiren von Jaan Kross (s. § 46). Für die Kartographierung des kollektiven Gedächtnisses der Esten erschien ein anderes Projekt wichtiger, das unter Federführung des Literaturmuseums und der eigens dafür gegründeten Vereinigung Estnische Biographien Ende des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurde. In Zeitungsanzeigen wurde dazu aufgerufen, auf 15–20 Seiten seine Lebensgeschichte niederzuschreiben und einzusenden, damit auf dieser Basis ein Sammelwerk über estnische Biographien des 20. Jahrhunderts erstellt werden könnte. Aus den über 200 Einsendungen wählte eine Jury unter dem Vorsitz von Jaan Kross 100 repräsentative Biographien aus, die in zwei Bänden publiziert wurden (Hinrikus 2000). Verteilt auf die Jahrgänge von 1905 bis 1992 formen die einzelnen Biographien ein Gesamtbild des Jahrhunderts, das durch seine ungeschminkte Unmittelbarkeit beeindruckt. Das Werk war so erfolgreich, dass noch ein Wettbewerb veranstaltet wurde mit der Einschränkung auf das Leben in Sowjetestland und die postsowjetische Ära. Diesmal trafen 330 Einsendungen ein, von denen 50 ausgewählt und in einem dritten Band veröffentlicht wurden (Hinrikus 2003). Dieser monumentale Schatz von 150 Biographien in 660000 Wörtern – damit befindet er sich in der Größenordnung von Tammsaares Wahrheit und Recht (s. § 32) – ist so etwas wie ein kollektiver autobiographischer Roman des ganzen Volkes. Neue Sexualität Das literarische Leben beschränkte sich jedoch nicht auf die Hinwendung zur Vergangenheit. Es gab noch jede Menge anderer Themen, die in der Sowjetzeit tabuisiert waren, und eines von ihnen war die Sexualität. In ihrer prüden

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Verklemmtheit suchte die sowjetische Gesellschaft ihresgleichen. In Wörterbüchern fehlten elementare Alltagsausdrücke, weil sie als unanständig empfunden wurden, Gedichte konnten nicht erscheinen, weil ein bestimmter Körperteil darin genannt worden war, Romane wurden zensiert, weil eine der Personen eine besondere sexuelle Neigung hatte. Es war daher nur natürlich, dass die wiedererlangte Freiheit auch Freimütigkeit bedeutete. Einer der ersten Aufsehen erregenden Romane war Naisena sündinud (Als Frau geboren, 1992), der Debütroman von Kati Murutar. Hier wurde in bisher ungekannter Offenheit vom Leben junger Frauen im studentischen Milieu berichtet. In streckenweise drastischer Umgangssprache wird ein Einblick in ihre Lebensverhältnisse, Beziehungsgeschichten, Wünsche und Träume gegeben, und das war für einen Teil der etablierten Literaturwelt extrem genug, um als Skandal empfunden zu werden. Hierin liegt das eigentliche Verdienst des Romans, der ansonsten weder einen besonders emanzipatorischen Impetus noch eine tragfähige Handlungsenwicklung aufweist. Aber die ungeschönte, direkte und spontane Sprache und die weibliche Perspektive waren zum damaligen Zeitpunkt etwas absolut Neues. In ihren weiteren Büchern hat sich Murutar gerne exotischer Themen angenommen, in Mina ise ju! (Ich selbst doch!, 1993), dessen Umschlagbild ein blutverschmiertes Neugeborenes zeigt, beginnt die Erzählung aus der Perspektive des Embryos, in Abitu (Hilflos, 1995) steht eine beruflich erfolgreiche Frau im Mittelpunkt, die infolge eines Autounfalls taub und blind geworden ist. Danach verlegte sich Murutar stärker auf den journalistischen Bereich, machte Radio- und Fernsehsendungen und betrieb nebenbei erfolgreich einen Verlag. Mittlerweile hat sie als Verfasserin von Seifenopern große Bekanntheit erlangt, was zu einer weit gehenden Aussortierung aus dem literarischen Kanon führte. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass ihr Debüt von 1992 ein wichtiger Schritt in Richtung auf mehr Offenheit und Freiheit war. Gleichzeitig war es auch der Beginn einer gezielten Literaturvermarktung, denn ihr Buch wurde von einer aufwendigen Werbekampagne begleitet (vgl. Martson 2003b, 1379–1383). Murutar war nicht die erste Frau, die Einblicke in ihr intimes Leben gab, aber sie tat es am drastischsten und auffälligsten. Einige Jahre vorher hatte Aita Kivi mit zwei Gedichtbänden debütiert, denen sie 1991 die Novellensammlung Üheksa avameelset naist (Neun offenherzige Frauen) folgen ließ. Hierin wird wesentlich zurückhaltender, aber dadurch nicht weniger eindrücklich über das Gefühlsleben verschiedener Frauen berichtet, und diese Thematik setzt sich in der folgenden Novellensammlung der Autorin sowie in ihren Romanen Jumalakäpp (Kuckucksblume, 1996) und Lummus (Verzauberung, 2001) fort: Stets wird mit relativ großer Offenheit das intime und

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sexuelle Empfinden einer Frau in einer Liebesbeziehung geschildert, wodurch Aita Kivis Werk eine besondere Bedeutung erlangt (vgl. Lindsalu 2003). Mit einem eigenen Anliegen betrat die Spätstarterin Maimu Berg 1987 die literarische Szene. Vorher hatte sie nur sporadisch etwas publiziert und war als Journalistin und Kritikerin aktiv gewesen. Nun erschienen zwei Romane in einem Band: Kirjutajad (dt. Barbara von Tisenhusen, 1993) und Seisab üksi mäe peal (Steht allein auf dem Berg). Im ersten Roman nimmt sich die Autorin eines historischen Themas an, das vor ihr schon Aino Kallas (1923) und Theodor Hermann Pantenius (1885) behandelt hatten: Barbara von Tisenhusen ist eine historisch belegte Person, an der ihre Familie im 16. Jahrhundert ein grausames Exempel statuierte. Sie wurde, nachdem sie mit einem Liebhaber aus dem bürgerlichen Stand durchgebrannt war, von ihrem Bruder eigenhändig ertränkt. Nur so glaubten die Adligen damals, dem allgemeinen Sittenverfall vorbeugen zu können. Neu an Maimu Bergs Behandlung des Stoffes waren eine mehrschichtige Rahmenerzählung, ein erdichteter Geistlicher, der alles aufgezeichnet haben soll, und die intensive Charakterzeichnung der Barbara von Tisenhusen, die unumwunden als starke und unmoralische Frau geschildert wird. Was in früheren Darstellungen ein armes, vom Wege abgekommenes Mädchen war, das von seinem Bruder skrupellos vernichtet wird, entpuppte sich in Bergs Roman als lebenslustiges Wesen mit eigenen Plänen und eigener Macht. Damit bewies die Autorin, dass man auch einem vermeintlich bekannten Stoff durch den Wechsel der Perspektive neue Aspekte abgewinnen kann. Ein solcher Perspektivwechsel oder auch nur die Betonung des Anderen und Unkonventionellen ist im weiteren Werk von Berg immer wieder anzutreffen. Sie veröffentlichte 1991 den Band On läinud (Ist gegangen) mit Kurzgeschichten, worin beispielsweise die Erzählung Mägedes (In den Bergen) enthalten ist, die die Möglichkeiten der estnischen Sprache nutzt, um gesellschaftliche Verhaltensmuster explizit zu machen: In der kurzen Erzählung (800 Wörter) werden keine Namen, sondern nur die Personalpronomina verwendet, so dass man weder das Geschlecht der Ich-Person noch das derjenigen im Nachbarzimmer kennt, die nur mit ta ›sie, er‹ bezeichnet wird. Dadurch entsteht ein völlig neuer Interpretationsspielraum, dessen man sich erst nach Abschluss der Lektüre so recht bewusst wird. Ein solches Aufbrechen eingefahrener Denkmuster ist auch in anderen Kurzgeschichten der Autorin das beherrschende Thema. 1994 erschien Maimu Bergs Roman Ma armastasin venelast (dt. Ich liebte einen Russen, 1998), der u.a. die Liebe eines Kindes zu einem älteren Mann thematisiert. Damit war wieder ein Thema zur Sprache gekommen, was in

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der Sowjetunion unmöglich gewesen war, denn das roch zu stark nach Pädophilie. Der Roman brach aber noch mit einem zweiten Tabu: Die Liebe zu einem Angehörigen des Volkes, dessen Joch man gerade von sich abgeschüttelt hatte, war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Berg scherte sich abermals nicht um das, »was sich gehört«, und brachte hier mit einer entwaffnenden Offenheit, Frechheit und Radikalität Dinge zur Sprache, die manche vielleicht lieber nicht lesen wollten. Der Roman verweist in seinem Titel auf Tammsaares Klassiker Ich liebte eine Deutsche (s. § 32), und sicherlich wollte Berg durch die Ersetzung des nationalen Attributs auch auf die veränderte Lage in Estland aufmerksam machen. Aber mehr noch geht es ihr um die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Liebe, was auch in ihrem späteren Werk das Anliegen der Autorin ist (s. § 51). Eine andere Spielart der Liebe, die gleichermaßen tabuisiert war, tauchte in dem Roman Piiririik (1993; dt. Im Grenzland, 1997) von Emil Tode auf: Homosexualität, was in der sowjetischen Gesellschaft – aber ebenso in der postsowjetischen und darüber hinaus ja weltweit in den verschiedensten, häufig religiös geprägten Gesellschaftssystemen – schlicht als Geburtsfehler angesehen wurde. Tõnu Õnnepalu hatte einige Sammlungen mit Naturlyrik und philosophisch ausgerichteten Gedichten veröffentlicht und wählte sich für sein Romandebüt das Pseudonym Emil Tode. Diese für die damalige Zeit übliche Mystifikation war gleichzeitig Bestandteil eines größeren Marketingprogramms, das seinen Teil zu dem großen Erfolg des Buchs, das mittlerweile in über ein Dutzend Sprachen übersetzt worden ist, beigetragen hat. Denn wie will man einen unbekannten Namen mit exotischen Graphemen, den man in der Registratur eines westlichen Verlages nicht mal alphabetisch einzusortieren weiß, geschweige denn aussprechen oder sich merken kann, erfolgreich vermarkten? Õnnepalu/Tode, der später Gefallen an dem Spiel mit Namen fand und sich noch einen dritten zulegte (s. § 51), wählte dabei nicht zufällig ein Wort, das im Deutschen eine klare Bedeutung hat (das man im Estnischen aber mit kurzem o ausspricht). Denn der Tod ist ein wichtiges Motiv in seinem 28000 Wörter umfassenden Buch, der nur auf dem Rückendeckel unter dem Verlagsnamen das Wort »Roman« aufweist und ebenso als Erzählung betrachtet werden kann. Der in einer poetischen Sprache abgefasste kompakte Text ist jedoch kein reißerisches Coming-out, die Homosexualität mag zwar häufig mitschwingen, ist aber niemals explizit gemacht. Man kann sie erschließen aus einigen bescheidenen Hinweisen, zumal es sich um eine Liebesgeschichte zwischen zwei Personen handelt, von denen die eine den Namen Angelo trägt, mit dem der namenlose Ich-Erzähler in nicht abgeschickten Briefen und inneren Monologen in Kontakt tritt. Dass dieser Erzähler ein Mann ist, hat der Autor ab-

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sichtlich nirgendwo gesagt, sondern allenfalls hier und da suggeriert. Denn um Homosexualität geht es Tode nicht in erster Linie, und auch nicht um die Liebe. Es geht in Piiririik vielmehr um die vorsichtige Kontaktaufnahme zwischen zwei Welten, wie sie nach der politischen Wende in Europa von 1989/1991 so häufig vorkam. Ein junger Intellektueller aus Osteuropa ist mit einem Stipendium in Paris und versucht sich dort zurechtzufinden. Hier und in Amsterdam spielt die Erzählung zum Großteil, hier wird die Ich-Person mit der Liebe und dem Tod konfrontiert, hier spürt sie gleich mehrfach das Gefühl der Grenzsituation. Der Erfolg des Textes liegt in der ebenso nüchternen und treffenden wie plastischen Beschreibungsweise des Aufeinanderprallens zweier Welten: Ost und West, die sich in den Jahren des Kalten Krieges feindselig und unausgewogen – die einen herabblickend, die anderen aufschauend – gegenüber gestanden hatten und die nun plötzlich ratlos sind. In weiten Strecken ist diese Begegnung gekennzeichnet durch eine grundlegende Verstörung oder ein tiefes Mißverständnis, so dass man unweigerlich an einen Schriftsteller wie Thomas Bernhard denken muss, der seinen Romanen häufig einen derartigen Untertitel verpasst hat. Aber im Gegensatz zu den kalten und hasserfüllten Texten des Österreichers ist Tode einfühlsam, warm und ehrlich interessiert. Homosexualität, Konsumkritik, Dekadenz, sowjetische Vergangenheit, das – vermeintlich – hinterwäldlerische Osteuropa, das – ebenso vermeintlich – fortschrittliche Westeuropa und noch eine ganze Reihe weiterer, scheinbar abgegriffener Themen sind hier kunstvoll zu einem knappen Ganzen vereint. Damit ist Piiririik eine Studie über west-östliche Befindlichkeiten im Jahre 3 der neuen Zeitrechnung. Dem Motiv der Grenze, die eigentlich überwunden sein sollte, die aber immer noch in den Köpfen – und Körpern – besteht, kommt dabei eine tragende Bedeutung zu, weswegen es schon im Titel auftaucht. Und auch nach der Lektüre steht fest, dass die Grenze wirklich noch da ist. Das Buch von Tode ist die Beschreibung einer Verstörung. Wie groß diese Verstörung tatsächlich war oder noch ist, wird aus der Fußnote eines westlichen Literaturwissenschaftlers deutlich: Roberto Simanowski schreibt in seiner Einleitung »Zum Problem kultureller Grenzziehung« zu einem Sammelband mit ähnlichem Titel über Piiririik das Folgende: »Der Este, der erst in Paris gelernt hatte, ein Wasserklosett zu benutzen, wird in den Augen des Franzosen »zu einem stinkenden Wilden, den er im Dschungel eingefangen und gezähmt hatte.«« (Simanowski 1998, 44). Es geht um den ersten Teil dieses Satzes: Simanowski verstand die von Tode, der natürlich mit WC aufgewachsen war, angewandte Ironie nicht und nahm sie für bare Münze, obwohl Tode sie ein paar Absätze später sicherheitshalber noch erläutert. Aber für den Literaturwissenschaftler aus dem Westen war die Sache schon klar. Einen bes-

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seren Beweis für die Aktualität und Relevanz des Romans, letztlich für die in ihm enthaltene Wahrheit, kann man sich kaum wünschen. Die beiden letztgenannten Romane von Berg und Tode sind sicherlich nicht auf den Nenner »unkonventionelle sexuelle Verhältnisse« zu reduzieren, wenngleich das Thema eine prominente Rolle einnimmt. Sie zeigen ganz allgemein eine thematische Öffnung an, die erst durch die veränderten politischen Rahmenbedingungen möglich geworden war. Beide haben noch weitere Romane verfasst, die eine wichtige Position in der gegenwärtigen estnischen Literatur einnehmen (s. § 51). Vulgarität Das Ausloten der neuen Grenzen musste auch im Bereich der Sprache erfolgen, wo es noch so manches Tabu zu brechen gab, wie eingangs des vorangehenden Abschnitts bereits bemerkt wurde. Die Person, die sich dieser Aufgabe am gründlichsten annahm, war Peeter Sauter (vgl. Krull 1997). Nach seinem Debütroman von 1990 (vgl. § 47), der recht positiv aufgenommen wurde, war es einige Zeit ruhig um den jungen Autor, der in Europa umherreiste, einige Jahre in England lebte und kaum etwas publizierte. Ab Mitte der 1990er-Jahre trat er dann massiv mit Kurzprosa an die Öffentlichkeit und eroberte schnell die Herzen einer – zumeist jungen – Leserschaft. Sauters Literatur ist Anti-Literatur, der Autor vermeidet alles, was irgendwie »literarisch« oder gar »poetisch« anmuten könnte, er stößt die Literatur vom Sockel, zieht sie hinunter ins »richtige Leben« und damit auch ganz banal in den Dreck. Seine Sprache ist fast ausschließlich die Umgangssprache bis in ihre tiefsten Register hinein, sie ist auch das einzige Ziel und der Zweck seiner Texte, die eine gedankliche Tiefe in der Regel vermeiden. Es geht nur um die Banalität des Alltags, der gekonnt und bis in die kleinsten Details hinein wiedergegeben wird. Und ob der Autor es will oder nicht: Auch dabei entsteht Literatur. Erstes Aufsehen erregte die Kurzgeschichte Kõhuvalu (Bauchweh), die 1995 in Vikerkaar erschien. Hierin wird eine Geburt beschrieben, und zwar nicht als »schönes Mysterium«, wie es die estnische Leserschaft bisher vielleicht gewohnt war und wie es ein konservativer Kommentator offenbar gern gesehen hätte, sondern in drastisch-naturalistischen Worten als schmerzhafte und blutige Angelegenheit. Das stieß bei vielen auf Ablehnung und sorgte für eine heftige Polemik, nachdem Sauter für diese Novelle den angesehenen Tuglas-Preis bekommen hatte. Man fragte nach dem Bildungsniveau der Jurymitglieder und sah den guten Namen von Tuglas besudelt. Bezeichnenderweise kam diese Kritik aus literaturfernen Kreisen, die maßgeblichen Kri-

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tikerinnen und Kritiker sahen in Sauters Text eine Bereicherung der Literaturlandschaft (vgl. Martson 2003c, 1682). Der Autor hatte die Realität getroffen und vielen Frauen aus der Seele gesprochen, deren eigene Erfahrungen eher mit Sauters Beschreibungen übereinstimmten als mit dem salbadernden Geschwätz vom Geburtsmysterium. Dafür nahm man einige zotige Unflätigkeiten gerne in Kauf (vgl. Annuk 1996). Einen einstweiligen Höhepunkt erreichte Sauter 1998, als er in Zusammenarbeit mit dem Künstler Raul Meel für eine Ausstellung zum 80. Jahrestag der Republik Estland einen Text verfasste, der auf die Exponate – die Flaggen verschiedener Länder, auch Estlands – geschrieben wurde. Dieser Text war nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Schimpfwörtern, Zoten, vulgären Fäkal- und Sexualausdrücken, die im herrschenden Wertesystem als unanständig, anstößig, unsittlich, verdorben oder schmutzig angesehen werden. Eine reine Provokation also, die auch gelungen ist, da sich viele maßlos aufregten und ein Besucher der Ausstellung sogar Anzeige erstattete wegen Verunglimpfung staatlicher Symbole. Die Staatsanwaltschaft sah jedoch keinen Straftatbestand und weigerte sich, ein Verfahren einzuleiten (Martson 2003c, 1684). In der März-Nummer von Looming des gleichen Jahres erschien Sauters Text dann gedruckt: Lauakõne Eesti Vabariigi aastapäeva puhul kainestusmaja paraskile liiga pikalt istuma jäänud olles (Tischrede zum Jahrestag der Republik Estland, nachdem man zu lange auf der Latrine der Ausnüchterungszelle sitzen geblieben ist) – praktisch ein komplettes Glossar von Unflätigkeiten und Vulgärausdrücken, die jeder kannte, die man vorher bloß nie schwarz auf weiß gelesen hatte. Das sorgte naturgemäß erneut für den entsprechenden Wirbel, aber dadurch wurde die Bedeutung des Textes für die Entwicklung der estnischen Literatur nur hervorgehoben. Sauter veröffentlichte 1997 seinen zweiten Roman, Luus (Bummelei), der sich bei näherer Betrachtung als Betrug herausstellte, denn der erste Teil war mit geringen Abweichungen identisch mit Sauters Debütband Indigo (vgl. § 47), ohne dass dies kenntlich gemacht worden wäre. Der zweite Teil war eine Fortsetzung im gleichen Plauderton und festigte Sauters Ruf als naturgetreuer Chronist der Alltagsbanalität. Ein Jahr später erschien ein Sammelband mit vorher in Zeitschriften publizierten Novellen, danach folgte eine Serie von kleinen im Selbstverlag ohne Ort und Jahr herausgebrachten Taschenbüchern, die der Autor für 15 bis 49 Kronen (1–3 €) unters Volk brachte. Durch ihr kleines Format und das Foto auf dem Titel erweckten diese Büchlein – Reiseberichte und Alltagsprosa – den Eindruck von modernen Groschenromanen. Peeter Sauter ist heute vor allem journalistisch und im Reklamebereich tätig und veröffentlichte zuletzt einen dicken Band seiner Zeitungstexte un-

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ter dem – bezeichnenden – Titel Gewäsch (Plära, 2004). Sex, Frauen, Alkohol und Motorräder bilden nach wie vor die einigermaßen beschränkte Welt des Autors. Sauter, der Jack Kerouacs On the road übersetzt hat, wurde gelegentlich als Vertreter der Beatgeneration angesehen wie etwa auch Johnny B. Isotamm. Das hat bei einem Autor, der gerne mit dem Motorrad durch die Landschaft saust und danach ein paar Worte darüber schreibt, sicher eine gewisse Berechtigung. Freilich sind wir inzwischen knapp 40 Jahre weiter. Krimis, Porno, Punk und Sciencefiction Erwartungsgemäß blühten in den 1990er-Jahren viele Randbereiche und marginale Genres der Literatur auf, die es vorher aufgrund der relativen Isolation und der ideologiebedingten Beschränkungen nicht hat geben können. Bei vielen von ihnen wurde der Nachholbedarf schnell mit Hilfe von Übersetzungen befriedigt, aber zusehends gelangten in den einzelnen Genres auch eigenständige estnische Texte an die Öffentlichkeit. Im Bereich der Kriminalliteratur, die erwartungsgemäß erst einmal von einer Flut von Agatha-Christie-Übersetzungen dominiert wurde, hat Juhan Paju am meisten Bekanntheit erlangt. Ihm gelang es, dem Genre Lokalkolorit zu verpassen, was auch zur Übersetzung einiger seiner Romane ins Finnische geführt hat. Auch die erotische und pornographische Literatur stützte sich anfangs auf Übersetzungen, obwohl es im erotischen Bereich eine gewisse eigene Tradition gab, wenn man an Heino Kiiks Mind armastab jaapanlanna (vgl. § 41) denkt. Nun entwickelte sich allmählich auch eine eigene Sparte mit estnischer sexueller Unterhaltungsliteratur. Pornographische Elemente hat es in der Kunst schon bei Leonhard Lapin gegeben, wenn man an seine Illustrationen zu Jaan Oks’ Novelle Weibchen (1908, s. § 28) aus dem Jahre 1995 denkt. Außer Phalli und weiblichen Brüsten kann man dort nichts anderes ausmachen. Unter dem Namen Albert Trapeeˇz publizierte Lapin auch Gedichte, die in drei Bänden erschienen sind. Hier vermengten sich erotische und pornographische Elemente mit denen der Punkdichtung. Die Mitte der 1970er-Jahre in Großbritannien entstandene Punkbewegung hatte nicht lange gebraucht, bis sie Estland erreichte. Über die Rockmusik war sie bald nach Tallinn gelangt, und Musiker wie Tõnu Trubetsky oder Villu Tamme waren es auch, die Ende der 1980er-Jahre ihre Texte drucken ließen. Trubetskys Debüt erfolgte mit einem Gedichtband in der Kassette von 1989, Tamme kam 1992 mit einer ersten Sammlung seiner Liedtexte heraus. Beide haben danach noch einige Bücher veröffentlicht, wobei Trubetsky nebenher auch Prosa verfasst hat. Als Dritte im Bunde der etablier-

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ten Punklyrik muss die hauptberuflich als Schauspielerin tätige Merle Jääger erwähnt werden, die nach ihren beiden in Kanada erschienenen Debütbändchen von 1989 mit größeren Abständen neue Sammlungen vorlegte. Sowohl in Vana libu hommik (Morgen einer alten Hure, 1998) als auch in Hele häärber (Die helle Villa, 2005) vereinigte sie Elemente der traditionellen estnischen Lyrik mit ihrer eigenwilligen Orthographie, die das Lesen bisweilen erschwert und als Markenzeichen einer Dichterin bestehen bleibt, die schon lange nicht mehr ausschließlich Punkgedichte abfasst. Eine bemerkenswerte Eigenständigkeit hat die estnische Literatur auf dem Gebiet der Sciencefiction erreicht, wo sie mit Indrek Hargla bereits einen eigenen Star hat. Der 1970 geborene Jurist trat 1998 erstmalig in Erscheinung, veröffentlichte 2000 seinen Debütband Nad tulevad täna öösel (Sie kommen heute Nacht) und hat seither sieben weitere Bücher vorgelegt. Dabei beschränkte er sich nicht auf Sciencefiction im engeren Sinne, sondern schrieb auch Kriminalgeschichten, Horrorerzählungen und dem Bereich der Fantasy zuzuordnende Texte, auch brauchten sich seine Texte nicht in der Zukunft abzuspielen, manchmal wandte sich der Autor früheren Jahrhunderten zu. Thematisch bewegte Hargla sich dabei sowohl im übrigen Europa als auch in Estland selbst. Der flüssige Stil, der die Lust des Autors am Fabulieren verrät, verhalf den Büchern zu großer Popularität; mittlerweile ist er auch ins Finnische übersetzt worden. Während in früheren Zeiten sich nur ganz sporadisch mal ein Autor auf dieses Terrain verirrte – man denke an Friedebert Tuglas (§ 26) oder Jaan Lintrop (§ 28) –, steht Hargla heute an der Spitze einer viel größeren Gruppe, die dieses Genre erfolgreich bedient. In einer 2002 herausgegebenen dicken Anthologie sind über ein Dutzend Namen vertreten (Sulbi 2002). Zusätzlich gab es ältere etablierte Autoren, die plötzlich mit Erzählungen aus dem phantastischen Bereich überraschten, wie es Jaan Kaplinski mit seinem beiden kleinen Romanen Silm. Hektor (Das Auge. Hektor) 2000 tat, nachdem sie 1998 und 1999 schon in Looming erschienen waren. Silm – das Symbol des Auges steht hier sowohl für Gott als auch für einen allgegenwärtigen Geheimdienst, wenngleich Letzterer nur marginal eine Rolle spielt – ist eine vielschichtige Erzählung, in der ein klassisches Thema von Kaplinski behandelt wird: die Konfrontation zwischen westlichem und östlichem Denken, der Wettstreit der göttlichen Systeme miteinander. Der Autor treibt das Spiel aus Träumen, Erwachen und immer höher angesiedelten Übergöttern so weit, bis er zu der Schlussfolgerung kommt, dass die ganze Welt möglicherweise nur ein »Traum Adams« ist. Damit ist das Ende eigentlich offen, aber durch unentwegtes bohrendes Weiterfragen seines östlichen Protagonisten an die westliche Adresse werden zahlreiche Alltagsphrasen entlarvt, so

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dass der Text viel mystische, mythologische und religiöse Substanz enthält, die zum Weiterdenken anregt. In Kaplinskis Hektor ist ein gleichnamiger, genmanipulierter Hund die Hauptgestalt. Hektor hat einen weitgehend menschlichen Verstand, sein Äußeres ist jedoch halb Mensch, halb Tier, weswegen er sich nicht unter die Menschen wagt, sondern mit der Außenwelt nur per Email und Gegensprechanlage kommuniziert. Sein Herrchen und Schöpfer, der Biologe war, ist tot, ebenso zwei andere Menschen-Tiere, die einen kleinen Fehler hatten. Hektor sucht fieberhaft nach dem Schlüssel für einen Safe, in dem die Baupläne für ihn und die anderen liegen und mit deren Hilfe er herausbekommen will, was bei den anderen schief gegangen ist. Gleichzeitig macht er sich Gedanken, wie er das Ganze nun zu einem guten Ende bringen soll. Auch hier geht es um die Begriffspaare Mensch/Tier und Gott/Natur und deren letztendliche Identität, und Kaplinski gelang damit im Zeitalter der Globalisierung ein überzeugender essayistischer Roman mit Sciencefiction-Zügen zu einem globalen Thema.

§ 50 Neoexperimentalismus und Ethnofuturismus Dichtung und Folklore Mitte der 1990er-Jahre konnte es einem auf einer Busfahrt von Tartu nach Urvaste, einem kleinen Nest in Südestland, widerfahren, dass sich plötzlich ein junger Mann im Mittelgang aufstellte und zu singen begann. Obwohl er die Melodie nicht halten konnte, kamen seine Lieder beim Publikum gut an, so dass er danach seinen Rucksack aufschnürte und kleine Gedichtheftchen für 10 Kronen (65 Eurocent) das Stück verkaufte. Der Mann, der das tat, war ein Briefträger, der 1996 Leiter des Postamts von Urvaste wurde und seit 1999 freiberuflich vom Verkauf seiner Gedichtbände lebt. Bei dem modernen Volkssänger handelte es sich um Margus Konnula, der seit 1995 unter dem Pseudonym Contra 15 Gedichtsammlungen unter das Volk brachte und dessen Wirken im November 2004 mit einem Gedichtabend 15 Jahre Lyrik von Contra in Tartu geehrt wurde. Das Pseudonym war im Falle des 1974 geborenen Dichters gleichzeitig Programm: Contra richtete sich gegen den kanonisierten – und kanonisierenden – Literaturbetrieb, aber nicht mit auffälligen Manifesten oder lautstarken Skandalen, sondern auf seine eigene sanfte, verschmitzte und geradezu liebevolle Art. Die meisten seiner Büchlein sind im Selbstverlag Mina Ise (Ich selbst) in Urvaste hergestellt, viele haben gerade einmal das Format eines Reisepasses, und alle aufeinander gestapelt sind nicht höher als sieben Zentimeter. Damit war sein

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Programm auch gegen den kommerziellen Literaturbetrieb gerichtet, der gehegt vom Kulturkapital viele prätentiöse Bücher hervorbrachte, die dann auf den Regalen der Buchhandlungen verstaubten, weil niemand sie sich leisten konnte. Contras Bücher konnte sich aber fast jeder leisten, was ironischerweise dazu geführt hat, dass gerade er einer der wenigen Dichter war, der sich im neuen kommerziellen Literaturkarussell tatsächlich vom Erlös seiner Bücher ernähren konnte (Epp Annus et al. 2001, 642). Dabei tat es der Sache keinen Abbruch, dass es viele gab, die gar kein Buch von Contra besaßen, sondern seine Gedichte nur vom mündlichen Vortrag oder vielleicht aus dem Radio, wo er regelmäßig auftrat, kannten. Folgerichtig waren viele der Texte ursprünglich nicht fixiert, es waren musikalische und variierende Präsentationen, die der Autor selbst als kaver bezeichnet hat. Mit diesem Fachterminus nach dem englischen cover bezeichnet die Musikwelt den Vortrag eines schon bekannten und erschienenen Stücks, das zwar leicht abgeändert werden kann, streng genommen aber immer noch in den Bereich des Plagiats fällt. Bei Contra traf das allenfalls auf die Melodien zu, denn die Texte stammten ausnahmslos von ihm selbst. Contras Gedichte nehmen häufig Bezug auf aktuelle Ereignisse und sind damit moderne Gelegenheitsgedichte, die sich durch Musikalität, Rhythmus, Wortspiele, Sprachscherze, Neologismen und die Lust an extremen Sprachspielen auszeichnen. Das kann die Gestalt von Knittelversen annehmen, andererseits werden auf diese Weise auch geniale Reimentdeckungen gemacht wie etwa das Paar baskitar / basskitarr, hinter dem sich eine Baskin und eine Bassgitarre verbirgt. Häufig sind die Gedichte auch erst im musikalischen Vortrag verständlich, wie man am Titelgedicht einer Sammlung von 1998 sieht: Ei ole mina su raadio (Ich bin doch nicht dein Radio) sieht nach nichts Besonderem aus, kann sich im Vortrag aber wie jo-le-mi-na-so-ra-di-jo anhören, was in etwa der normalen estnischen Tonleiter entspricht. Obwohl Contras Name in aller Munde ist, wusste die Literaturkritik bislang nicht so recht, wie sie mit dem modernen Bänkelsänger umgehen sollte. Das kümmerte den Autor wenig: »Ich bin wahrlich Lyrikmist – Mist ist ja Dünger –, weswegen die Kritik sich von mir fernhält, weil ich stinke. Aber in Wahrheit bin ich eine notwendige Erscheinung.« (zit. nach Mihkelev 2000, 86). Damit hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen und gleichzeitig elegant mit der Mehrdeutigkeit des Wortes Mist gespielt. Im Übrigen hielt er sich nicht völlig abseits vom Establishment, einige seiner Bücher sind mit Unterstützung des Kulturkapitals gedruckt worden, und einen kleinen Literaturpreis hat er auch schon einmal bekommen. Im Grunde genommen nahm Contra lediglich die Tradition der Volksdichtung wieder auf, wie sie Jahrhunderte lang auf dem Lande gelebt hatte.

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Seine Gedichte weisen die meisten der klassischen Kriterien auf (vgl. § 5): Sie sind insofern anonym, als viele die Gedichte kennen, weil sie sie irgendwo gehört haben, ohne dass sie den Namen ihres Urhebers wüssten; sie werden weitergegeben, weitererzählt, variiert; und formal ähneln sie der Volksdichtung durch die reichlich verwendete Alliteration und den Parallelismus, wozu noch ein – modernes und letztlich auf fremdem Einfluss beruhendes – Element hinzukommt, nämlich der Endreim, den Contra gerne im Stile einer »Reim-dich-oder-ich-fress-dich«-Technik strapaziert, der andererseits aber auch zu glanzvollen Funden wie den oben erwähnten von der Baskin und der Bassgitarre führt. Inhaltlich kann man insofern einen Bezug zur alten Folklore sehen, als auch dort Ironie und Satire zur Kommentierung der Gegenwart eingesetzt wurden. Im 21. Jahrhundert machte der Dichter damit seinem Pseudonym alle Ehre, denn er schwamm tatsächlich gegen den kommerziellen Strom an und zeigte, dass die alte estnische Volksdichtung noch nicht untergegangen ist. Vielmehr gelang es ihm, einen Bezug zu dieser Tradition herzustellen, und das so erfolgreich, dass er den kommerziellen Zirkus, gegen den er sich – ehrlich oder nur scheinbar – ursprünglich gerichtet hatte, am Ende mit dessen eigenen Waffen bezwang. Kunst und Kommerz Einer der folgenreichsten Zusammenschlüsse im literarischen Leben Estlands hat ihre Wurzeln in der Zeit der Singenden Revolution. Anders als die damals ebenfalls gegründeten Kupar oder Wellesto (vgl. § 47), die sich in der Mehrheit aus älteren Personen zusammensetzten und somit eine Verbindung zur Vergangenheit knüpften, bestand die 1988 ins Leben gerufene Gruppe Hirohall – dies ist der Name eines Tanzlieds der Setu – ausschließlich aus jüngeren Leuten und wies viel deutlicher in die Zukunft. Ihre Tätigkeit war so losgelöst von alten sowjetischen Mustern, dass ihre Behandlung erst an dieser Stelle erfolgt. Zu der Gruppe gehörten Jüri Ehlvest, Kauksi Ülle, Sven Kivisildnik, Valeria Ränik und Karl Martin Sinijärv. Von ihnen hatte Ehlvest seit 1988 Kurzprosa publiziert (s. § 51), während die anderen Gedichte schrieben. Kauksi – gemäß der südestnischen Tradition stellt sie ihren Nachnamen dem Vornamen voran, im bürgerlichen Leben heißt sie Ülle Kahusk – hatte bereits 1987 debütiert; Sinijärv war in der Kassette von 1989 vertreten, Kivisildnik kam im selben Jahr mit seiner eigenen »Kassette«, die viermal den gleichen Text enthielt, und Ränik debütierte mit zwei Gedichtbänden 1990. Hirohall war aus einer euphorischen Aufbruchstimmung heraus entstanden, wie es siebzig Jahre zuvor auch bei Siuru (vgl. § 29) der Fall gewesen war, so dass nicht zufällig Parallelen zwischen den beiden Gruppierungen gezogen

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worden sind (P. Viires 1990). Und obwohl sich die Gruppe nicht als Nachahmer oder Fortsetzung einer Tradition ansah, wie es andere Gruppierungen vielleicht taten, sind gewisse Übereinstimmungen unübersehbar: Die Freude an der Befreiung und der Spaß am schöpferischen Prozess, der verbunden war mit der Einsicht, dass man zum Kunstmachen auch Geld braucht. Zwar war Siuru keine explizit kommerzielle Vereinigung gewesen, aber am Anfang ihrer Tätigkeit standen Gedichtabende, mit deren Reingewinn man das Verlegen von Büchern finanzierte. Bei Hirohall wurde das nun ein fest umrissenes Programm, zu dessen Durchführung die Eesti Kostabi $elts (Estnische Kostabi-Ge$ellschaft) gegründet wurde. Sie nannte sich nach dem amerikanischen Künstler estnischer Abstammung Kalev Mark Kostabi, der in den 1980er-Jahren in New York mit seiner Kunstfabrik, in der rund 20 Angestellte »seine« Bilder malten, Furore gemacht hatte. Eines von Kostabis Prinzipien war die Verbindung von Kunst und Kommerz, was an sich nichts Neues war, was er aber als Postulat aufstellte und erreichte. Kunst machen und Geld verdienen sollten einander nicht ausschließen, sondern im Gegenteil: Wer Kunst macht, soll und kann auch reich werden. Während sich frühere ästhetische Gruppierungen meist naserümpfend vom schnöden Mammon abgewandt hatten und die Erhabenheit des Geistes propagierten, konzentrierten sich die Mitglieder von Hirohall gerade auf das Geld, schrieben gegen Bezahlung Gedichte und machten lauthals Reklame für sich selbst. War schon die Verwendung des Dollarzeichens im Namen ein gelungener Einfall – auf diese Weise unterschied sich die Abkürzung EK$ kaum vom EKS der Estnischen Literaturgesellschaft (vgl. § 25), während sie gleichzeitig den wesentlichen Unterschied, die Bedeutung des Geldes, herausstrich –, so erwies sich Karl Martin Sinijärvs Idee, der neuen literarischen Strömung den Namen Ethnofuturismus zu verpassen, als ausgesprochen glückliche Wahl. Binnen weniger Jahre wurde diese Strömung zu einem Begriff, der weit über den engen Kreis einiger Tartuer Dichterinnen und Dichter hinausragte und in der gesamten finnougrischen Welt Anwendung fand. Der Begriff ist dabei nicht nur eine Spielerei gewesen, mit der man die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Er verbindet bewusst die alte Volkstradition, die mit dem Bestandteil Ethno- assoziiert wird, mit einer programmatischen Vorwärtsgewandtheit, wie es kein Wort besser ausdrücken kann als Futur, Zukunft. Außerdem wies das Wort in der Form Futurismus auf avantgardistische Bewegungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die es auch in Estland gegeben hatte (vgl. § 28). Hauptanliegen der Ethnofuturisten war die Vereinigung von nationalen Eigenheiten mit internationalen Strömungen, die Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln und der Schulterschluss mit zeitgenössischen progressiven

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Entwicklungen. Diese oberflächlich als Paradox erscheinende Kombination findet ihre Erklärung in der sowjetischen Vergangenheit, in der die fremdbestimmte Gleichmacherei dominiert hatte und für nationale Süppchen kein Platz war. Nun wollte man wieder selbstbestimmt agieren und selbstbewusst auftreten, ohne sich in die rührselige Ecke der Volkstümlichkeit drängen zu lassen. Dafür musste ein postmoderner Begriff und ein ebensolches Programm herbei, das man mit den nötigen Manifesten nach außen trug und effektvoll propagierte, und Ethnofuturismus war genau das richtige. Es tut nicht zur Sache, dass es in der estnischen Literatur, besonders in der Dichtung, immer Verbindungen zur alten Volksdichtung gegeben hatte. Früher wurde es bloß nicht als Ethnofuturismus bezeichnet, weil man den Begriff noch nicht hatte. Sobald man ihn gefunden hatte, konnte man auch ältere Gedichte dieser Strömung nach Belieben unterordnen, was bezeichnenderweise gelegentlich mit der Lyrik von Kalju Lepik getan wurde (Mihkelev 2002, 6): Lepik war als Exildichter prädestiniert für die Rolle des Bewahrers der nationalen Identität und Kontinuität in einer Zeit, als das in Estland selbst aufgrund der sowjetischen Internationalismusfassade offiziell nicht möglich war. Dennoch hatte es auch in sowjetischer Zeit in Estland immer wieder Anklänge an die alte Tradition gegeben, so dass die einseitige Verknüpfung des Ethnofuturismus gerade mit der Lyrik von Lepik willkürlich erscheint: Man wollte sich mit beiden Bestandteilen der Wortes um jeden Preis von der Sowjetunion absetzen – hier gab es weder Ethno- noch eine Zukunft –, und da konnte nur die Exildichtung als Anknüpfungspunkt dienen. Damit ist der Begriff Ethnofuturismus ein gutes Beispiel für die Beliebigkeit derartiger Etiketts. Eigentlich ließ sich alles darunter vereinigen, denn sobald man sich des Estnischen bediente, handelte man sozusagen »ethnisch« (!), und zukunftsgerichtet ist menschliches Handeln immer. Schon wenige Jahre nach seiner Erfindung hatte der Begriff somit eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Das sieht man auch daran, dass im Nachhinein als Unterscheidung sogar der Terminus Ethnosymbolismus erfunden wurde (Pruul 1995), womit die national und patriotisch gefärbte Dichtung der Stagnationszeit bezeichnet wurde. Die ursprünglichen Taufpaten des Ethnofuturismus lassen sich nur begrenzt mit der postulierten Konzentrierung auf das Ethnische oder die nationale Eigenart in Einklang bringen. Außer bei der expliziten Hinwendung zum Südestnischen von Kauksi Ülle (s.u.) scheint es bei allen anderen eher Fassade: Valeria Ränik passte gut ins Bild, weil sie aus Moskau stammt und erst als Erwachsene Estnisch gelernt hatte, weiter nichts. Sven Kivisildnik (s. § 52) benutzte den ideologischen Anstrich für seine postmodernen Spielereien, bei denen er die Lyrik früherer Generationen durcheinander wirbelte

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und unter eigenem Namen neu aufbereitete. Jüri Ehlvest war nicht estnischer oder ethnischer als alle anderen Prosaistinnen und Prosaisten seiner Zeit. Und Karl Martin Sinijärv, der Erfinder des Namens, war ein »normaler« junger wilder Dichter, wie sie jede Literatur regelmäßig hervorbringt. Damit soll Sinijärvs Bedeutung für die moderne estnische Dichtung keineswegs geschmälert werden, nur erscheint fraglich, inwieweit bei ihm eine stärkere Konzentration auf die eigene Ethnizität spürbar sein soll als bei anderen zeitgenössischen Autorinnen und Autoren. Es sei denn, man will das Eröffnungsgedicht seines Debütbands Kolmring (Dreiring, 1989), worin in Koidula’scher Manier eine Art Aufruf zum Dichten und zur Unterstützung des Vaterlandes formuliert wird, als Indiz nehmen. Nur: Explizite Bezüge zu Estland und zum Estnischen hat es seit Kristian Jaak Peterson, Juhan Liiv und Viivi Luik immer wieder gegeben, ebenso sind Elemente der Volksdichtung bei Hando Runnel, Mari Vallisoo und vielen anderen immer aufgetreten, ohne dass jemand sie im Nachhinein in die ethnofuturistische Schublade einsortiert hätte. Sinijärvs Dichtung ist kraftvoll, eigenwillig, orthographisch experimentell und strahlt Vitalität aus. Die seinem Debüt folgenden Sammlungen wiesen Bezüge zur avantgardistischen Dichtung vom Beginn des 20. Jahrhunderts auf und enthielten auch surrealistische Elemente. Besonders deutlich wurde dies in der Sammlung Neli sada keelt (Vierhundert Sprachen, 1997), worin in Anlehnung an Kivikas’ Lendavad sead (vgl. § 28) die Hälfte der Seiten mit Bieretiketten bedruckt ist. Der Band enthält auch englische Verse, ebenso ein dreisprachiges Gedicht mit englischen, estnischen und spanischen Teilen. Seinen Ruf als eigenwilliger und sprachgewaltiger Lyriker festigte Sinijärv mit seinem Band Artutart & 39 (2002, der Titel ist ein Spiel mit dem Ortsnamen Tartu), der sich sowohl von den Reminiszenzen an die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts als auch von der ethnofuturistischen Aufbruchstimmung der 1990er-Jahre befreit hat. Renaissance des Südestnischen Die Verwendung von Regionalismen hatte es in der estnischen Literatur immer gegeben, ebenso waren auch zu Sowjetzeiten Dichtungen gedruckt worden, die nicht in der Standardsprache abgefasst waren. Im Zuge des Ethnofuturismus bzw. ganz konkret auf Betreiben einer ihrer führenden Personen, Kauksi Ülle, hin kam es seit dem Ende der 1980er-Jahre jedoch zu einer systematischen und zielbewussten Wiederbelebung der südestnischen Sprachvariante. Offensiv wurde die Bezeichnung ›Sprache‹ für das Südestnische propagiert, während die Begriffe ›Dialekt‹ oder ›Mundart‹ als pejorativ betrachtet und verpönt waren. Die ethnofuturistische Bewegung, die im südestnischen

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Tartu entstanden war und sich per definitionem auf ihre eigenen Wurzeln besinnen wollte, wandelte sich nach der Erlangung der estnischen Unabhängigkeit – da war das übergeordnete Ethnos sozusagen gerettet und sichergestellt – klammheimlich in eine Bewegung zur Förderung noch kleinerer ethnischer Einheiten. Das bedeutete zum einen eine Hinwendung zu den finnougrischen Völkern in Russland, zum anderen eine Konzentration auf Regionalismus, Provinzialismus und nichtstandardsprachliche Varietäten des Estnischen. Vorreiterin und Wortführerin war Kauksi Ülle, die seit ihrem Debütband mit Kesk umma mäge (Mitten auf dem eigenen Berg, 1987) noch sechs weitere Gedichtbände herausgebracht hat, die alle konsequent auf Südestnisch abgefasst worden sind. Allerdings ist zu beachten, dass es hier um mehr als nur um einen Dialekt bzw. eine Variante geht. Kauksi verwendete Elemente aus allen südestnischen Hauptdialekten und setzte sich für die Schaffung einer neuen südestnischen Schriftsprache ein, wie sie bis ins 18. Jahrhundert hinein bestanden hatte. Inhaltlich übernahm die Dichterin hier und da Elemente aus der traditionellen Dichtung, aber ihr Hauptverdienst lag darin, dass sie die südestnische Dichtung von der etwas staubigen Dialektsentimentalität befreite und zeigte, dass man auch in anderen Varianten als bloß der estnischen Standardsprache Balladen auf hohem Niveau dichten kann. Damit nicht genug, verfasste Kauksi auch Prosa und schuf mit Paat (Das Boot, 1998) den ersten südestnischen Roman. In ihm zeichnete sie den Lebensweg einer Frau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. Ihren zweiten Roman Uibu (Der Apfelbaum) legte sie 2003 vor. Es entsprach dem ethnofuturistischen Programm, dass man trotz der Betonung des Ethnischen oder Lokalen die Verbreitung auch in anderen Sprachgebieten suchte, weswegen es kein Zufall ist, dass Kauksi zwei Sammlungen mit Parallelübersetzungen besorgte: 1995 kam in Tartu der Band Agu ni eha / Morn and eve heraus, und 1996 erschien in Helsinki die Sammlung Kuldnaanõ / Kultanainen (Die Goldfrau, Südestnisch / Finnisch). Erst 2005 erschien eine Auswahl von Kauksis Gedichten in einer Übersetzung in die auf dem Nordestnischen basierenden Standardsprache – und auch dies war ein Erstling in der estnischen Literatur: Noch nie zuvor war ein komplettes Buch aus dem Südestnischen ins Nordestnische übertragen worden. Der Grund hierfür lag auf der Hand: Wer die Standardsprache gewöhnt ist und selbst nicht aus dem südestnischen Sprachgebiet stammte, konnte sich zwar recht und schlecht durch einen südestnischen Text quälen, aber die poetischen Nuancen gingen dabei in der Regel verloren, so dass eine Übersetzung vonnöten ist. Ein zweiter Grund war sprachpolitischer Art: Mit der Übersetzung von der einen Variante in die andere war Kauksi in ihrem Streit um die Anerkennung des Südestnischen als Sprache einen Schritt weiter gekommen.

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Mittlerweile hat Kauksi Ülle Nachfolger gefunden, so dass manche von einer zweiten Welle der Ethnofuturisten sprechen (Sallamaa 2003, 163). Einige von ihnen haben sich ebenfalls des Südestnischen angenommen, im Gegensatz zu Kauksi sind die meisten jedoch daneben auch mit schriftsprachlichen Texten an die Öffentlichkeit getreten, wie am besten das Beispiel von Contra (s.o.) zeigt, der einerseits durch seine Kombination von Folklore und postmodernen Elementen ein perfekter Vertreter des Ethnofuturismus ist, andererseits aber nur sehr begrenzt mundartliche Dichtung verfasst hat. Dies tat Contra zum Beispiel in einem gemeinsamen Band mit Aapo Ilves, Jan Rahman, Olavi Ruitlane und Pulga Jaan, der 2005 unter dem Titel Viie pääle (Zu fünft) zusammen mit einer CD herausgebracht wurde und ausschließlich südestnische Lyrik enthält. Nicht zu vergessen ist ferner, dass auch einige der etablierten Autoren – zu denken wäre hier an Ain Kaalep, Jaan Kaplinski, Madis Kõiv oder Mats Traat – gerne auf ihren südestnischen Heimatdialekt zurückgreifen. Wie sich dieser Seitenweg der estnischen Literatur im Spannungsfeld von Globalisierung und Regionalisierung entwickeln wird, lässt sich derzeit noch nicht absehen: Es ist möglich, dass in der nächsten Generation die Kinder ihren Schulunterricht im Heimatdialekt genießen, umgekehrt kann die nächste Generation zu der Erkenntnis gelangt sein, dass man zur Bewahrung der estnischen Identität die Kräfte bündeln muss und sich einen regionalen Partikularismus nicht mehr leisten kann. Extremismus Die neue Freiheit führte logischerweise zu dem Problem oder vielleicht auch der Notwendigkeit, dass man ihre Grenzen ausloten musste. Das traf auf alle gesellschaftlichen Bereiche zu und betraf bei der Frage der Presse- und Meinungsfreiheit auch die Literatur. Nach einem halben Jahrhundert Zensur war alles, was auch nur entfernt nach einer Beschränkung der Freiheit des Wortes roch, von vornherein suspekt. Das hatte man lange genug gehabt, davon wollte man nichts mehr wissen. Grenzen des Geschmacks wurden allein aus diesem Grunde nicht mehr akzeptiert, wie etwa am Beispiel Sauters gezeigt werden konnte, aber auch politische Tabus wollten viele nicht akzeptieren. So konnte nicht ausbleiben, dass manche der in einer schwarzweiß malenden Gesellschaft Aufgewachsenen auch nach den gesellschaftlichen Umwälzungen die Schwarzweißmalerei nicht abschütteln konnten und falsche Umkehrschlüsse zogen: In der Sowjetunion war Antifaschismus Staatsideologie und eine eingehendere Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus oder Faschismus praktisch nicht möglich. Als nun die sowjetische Ideologie ihrerseits als

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Irrweg enttarnt worden war, wurden die von dieser Ideologie seinerzeit verteufelten Ideologien automatisch als positiv oder zumindest beachtenswert betrachtet. Das hatte zur Folge, dass man in manchen essayistischen Publikationen auf rassistische oder antisemitische Verlautbarungen stoßen konnte, die in Deutschland und einigen anderen Ländern strafbar sind, in vielen Ländern auch lediglich obsolet waren. In Estland wurden sie aber als Bestandteil der neuen Freiheit für zulässig oder mindestens diskussionswürdig erachtet (vgl. Hasselblatt 2003b). Gelegentlich fand eine solche Liebäugelei mit dem Rechtsextremismus auch Eingang in literarische Werke. Auffälligstes Beispiel ist vielleicht Mihkel Samarüütels Buch evol (es mag dahingestellt bleiben, ob man hierin den Beginn des Wortes Evolution entdecken will, ein rückwärts gelesenes englisches love oder noch etwas anderes), das in einer Rezension schlicht als »Glossolalie« bezeichnet wurde (R. Liiv 2003), andererseits in Vikerkaar und Looming durchaus anerkennend besprochen wurde. Das ohne Verlags-, Orts- und Jahresangabe – aber immerhin mit Unterstützung des Kulturkapitals – vermutlich 2003 erschienene Buch hat auch keine Seitenzahlen, was man auf zweierlei Arten interpretieren kann: Entweder gehörte es zur modernistischen Konzeption des Autors, oder es war gedacht als Vorsichtsmaßnahme gegenüber einer rechtlichen Verfolgung, weil das Zitieren erschwert wurde. Jedenfalls findet sich hier eine Art white power-Gedicht, in dem zur Ermordung von Juden, Russen, Zigeunern, Farbigen, Türken, Homosexuellen und einiger anderer Bevölkerungsgruppen aufgerufen wird, gefolgt von acht beinahe völlig leeren Seiten, von den sechs oben links mit den beiden Wörtern sieg heil bedruckt sind. Dieses auch in seinem übrigen Text etwas infantil anmutende Buch, bei dem gleichsam ein Kind ein Wort herausschreit, was ihm seine Eltern verboten haben, ist vielleicht nicht repräsentativ, andererseits aber auch keine völlig abseitige Eintagsfliege, wie andere Publikationen zeigen. So konnte man in dem unter dem Pseudonym Wimberg publizierten Roman Lipamäe ([Ortsname], 2002) von Jaak Urmet lesen, wie sich eine seiner Personen über den Ausgang des Eurovisionsongfestivals von 1998 echauffierte: »Und dann, als am Ende Israel gewonnen hatte, da waren wir alle stinksauer, diese verfluchten Juden, Scheiße! Wenn’s wenigstens nur ’n Jude gewesen wäre, aber dann auch noch so’n perverser Jude, der weder Mann noch Frau ist.« (Wimberg 2002, 16). Derlei Äußerungen über einen Transvestiten aus Israel kann man vermutlich an den Stammtischen vieler Länder hören, aber in den seltensten Fällen gelangen sie bis in die Literatur. In begrenztem Maße fallen auch einige Bücher von Kaur Kender in den Bereich der »extremen Literatur«: Mit seinem viel Staub aufwirbelnden und

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mit einem hohen Literaturpreis ausgezeichneten Debütroman Iseseisvuspäev (Unabhängigkeitstag, 1998) verfasste er einen recht groben und misogynen Text über Geschäftsmänner in der neuen Unabhängigkeit, den man am besten als Macholiteratur charakterisieren könnte. Auch dies ist mehr oder weniger eine direkte Reaktion auf die Sowjetzeit: Da gab es eine amtlich verpasste Gleichberechtigung der Geschlechter, die in der Praxis zwar kaum zur Emanzipation des benachteiligten weiblichen Geschlechts führte, es aber immerhin vor allzu offenkundiger Diskriminierung bewahrte. Nun durfte man aber auch Frauen wieder richtig schlecht behandeln, was der Autor in seinem Buch nicht ohne Genuss beschrieb.

§ 51 Flucht aus der Enge oder Rückzug auf die Insel? Postmoderne Fortsetzungen In der Prosa waren die einschneidenden Neuerungen gegen Ende der Sowjetzeit eingetreten, so dass die ersten Jahre der Unabhängigkeit sich nicht so stark von der vorangegangenen Zeit unterschieden, sieht man von den in sowjetischer Zeit gänzlich unbehandelbaren Themen ab (vgl. § 49). Mati Unt, den man bald schon als Altmeister der Postmoderne betrachtete, widmete sich zusehends dem Theater und der Essayistik, woraus zwei umfangreiche Bücher hervorgingen. 1997 erschien sein Collageroman Brecht ilmub öösel mit dem deutschen Paralleltitel Brecht bricht ein in der Nacht, worin Brechts Flucht 1940 nach Finnland anhand von verschiedenen Dokumenten beleuchtet wird. Das Buch enthält ein Literaturverzeichnis, Fotos, deutsche Gedichte von Brecht und kann als spielerischer Höhepunkt von Unts postmodernen Experimenten bezeichnet werden. Es ist aber nicht nur eine Hommage an Brecht als eine der Inspirationsquellen von Unts Theaterarbeit, sondern gleichzeitig eine Beschäftigung mit dem auch für Estland so einschneidenden Jahr 1940. Ein paar Jahre später vereinigte Mati Unt einige seiner Theaterinszenierungen, die er in freier Bearbeitung aus Prosatexten von Oskar Luts (s. § 27) zusammengestellt hatte, in dem Buch Huntluts, was streng genommen mit ›Wolfsquappe‹ übersetzt werden könnte, in Wahrheit aber nur eine Zusammenfügung der beiden Nachnamen ist. Unt war in dieser Zeit ebenfalls ein sehr produktiver Kolumnist und veröffentlichte sukzessive drei Bände mit seinen Kolumnen: Argimütoloogia sõnastik 1983–1993 (Glossar der Alltagsmythologie, 1993), Vastne argimütoloogia (Neue Alltagsmythologie, 1996) und Sirise, sirise, sirbike. Sirbimütoloogiad 1997–2002 (Zwitscher, zwitscher,

§ 51 Flucht aus der Enge oder Rückzug auf die Insel?

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Sichelchen. Sirp-Mythologien, 2003, nach der Wochenzeitung Sirp, ›Sichel‹, worin sie erschienen waren). Damit erlangte er den Ruf eines geistreichen Kommentators des Zeitgeschehens, der bei aller schrägen Absurdität immer einen Kern tiefsinniger Philosophie bereithielt und zu einer der intellektuellen Autoritäten Estlands aufstieg. Ähnlich wie Unt hat auch Toomas Raudam, der 1983 mit Kurzgeschichten debütiert hatte und viel im filmischen Bereich tätig war, einen fremden Stoff zu einem neuen Text verarbeit: Sein Tarzani seiklused Tallinnas (Tarzans Abenteuer in Tallinn, 1991) führte sogar als zweiten Verfasser Edgar Rice Burroughs auf dem Buchdeckel an, obwohl es sich nicht um eine Übersetzung handelte, sondern lediglich Motive aus den bekannten Tarzanbüchern in die Tallinner Filmwelt übertragen worden sind. Die Handlung ist übrigens im August 1968 angesiedelt und stellte somit eine inhaltliche Parallele zu Luiks Ajaloo ilu (s. § 47) dar. Am Ende der Sowjetzeit drängten sich Vergleiche, verbunden mit Ängsten, zu früheren Schwächeperioden des Systems offenkundig auf. Raudam hat danach noch etliche weitere Romane geschrieben und sich dabei stets ein spielerisches oder auch dekonstruktivistisches Element bewahrt (Veskis 2004). Noch stärkere und konkretere Bezüge zur postmodernen Welt lassen sich bei Toomas Vint finden, der als bildender Künstler starke surrealistische Neigungen hat (vgl. § 45) und ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in rascher Folge eine Reihe von ebenso surrealistischen Romanen vorlegte. Außerdem veröffentlichte Vint einige Bände mit Erzählungen, die Episoden aus der Gegenwart beschreiben und in ihrer satirischen Überhöhung und absurden Akzentuierung an Arvo Valtons Geschichten aus den 1960er- und 1970erJahren erinnern. Nun sind es die 1990er-Jahre und die »neue Gesellschaft«, die – zum Beispiel in den Sammlungen Naisepiinaja õnnenatukene (Das bisschen Glück des Frauenquälers, 1996) und Õnneliku lõpuga lood (Geschichten mit gutem Ausgang, 2004) – aufs Korn genommen werden. Auffälliger waren drei Romane, die kurz nacheinander erschienen sind und teilweise die Kunstwelt zum Gegenstand haben. In Lõppematu maastik (Unendliche Landschaft, 1997) werden verschiedene Varianten ein und derselben Handlung durchgespielt. In Kunstnikuromaan (Der Künstlerroman, 1998) wird das Memoirenhafte mit einem essayistischen Element vermischt. Und in Nädalavahetusel. Mängides (Am Wochenende. Spielend, 1999) wird in einem exzessiven Verwirrspiel mit dem Puppe-in-der-Puppe-Effekt eine nahezu schizophrene Situation erzeugt. Die Ich-Person trifft auf eine Person, die ein Buch liest, das dasselbe ist, das man gerade liest, woraufhin die Ich-Person wissen will, wie es weitergeht, und das Buch selbst lesen will etc. – so wird der Text auch zu einer Reflexion über den Schreibprozess als solchen. All diese Texte haben mit

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»klassischen« Romanen nichts mehr zu tun und sind deswegen als postmodern oder dekonstruktivistisch einzustufen. Den genannten, schon etwas älteren Autoren sprang in den 1990er-Jahren mit Jüri Ehlvest ein Vertreter der Hirohall-Generation (s. § 50) zur Seite, der sie bald übertraf und die Prosalandschaft um die Jahrtausendwende entscheidend mitprägte. Ehlvest hatte als Neunjähriger in einer Jugendzeitschrift seine erste Geschichte veröffentlicht und dann ab 1987 in Vikerkaar Erzählungen publiziert. Erst 1996 erfolgte sein Buchdebüt mit Ikka veel Bagdadis (Immer noch in Bagdad), dem sich die Novellensammlungen Krutsiaania ([Ortsname], 1996), Päkapikk kirjutab (Der Däumling schreibt, 1997), Elumask (Die Lebensmaske, 1998), Taevatrepp (Die Himmelstreppe, 2001), Hobune eikusagilt (Ein Pferd von nirgendwo, 2002), Rahuldus (Befriedigung, 2004) und ein »Roman in Tagen«, Palverännak (Pilgerfahrt, 2005), anschlossen. Damit hatte der Autor – der einige Geschichten unter dem Pseudonym Ürgar Helves publiziert und sich für eines seiner Bücher ganz der Philosophie der Kostabi-Ge$ellschaft entsprechend selbst geadelt hat und als Jüri von Ehlvest auftrat – bereits vor seinem 40. Geburtstag ein umfangreiches Werk von gut sechzig Novellen, einigen längeren Erzählungen und einem Roman vorzuweisen, was ihn von vielen seiner Altersgenossen abhob. Jüri Ehlvests Werk wird bereits in verschiedene Phasen eingeteilt, regelmäßig ist es Gegenstand akademischer Abhandlungen bis hin zu Magisterarbeiten (Sarapik 2004, 525). Die teils satirisch-absurden, teils abstrusunkonventionellen Texte von Ehlvest behandeln meistens Menschen in ungewöhnlichen Situationen, merkwürdigen Begegnungen, an obskuren Orten oder in Träumen und Halbträumen. Gelegentlich finden sich auch Elemente der Esoterik. Fast alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie mystischdunkel, verwirrend, rätselhaft bis hin zum Unheimlichen und damit im wörtlichen Sinne »verrückt« sind. Mehrere Ebenen schieben sich ineinander, so dass parallele Texte und manchmal auch parallele Welten entstehen und die Realität für eine Weil außer Kraft gesetzt zu sein scheint. Der Autor selbst gab dafür in einem Interview die folgende Erklärung: »Aber wenn ich dann anfange zu schreiben und richtig in Fahrt komme, und wenn ich dann »ich« schreibe und das Ich mich vom Papier anschaut, dann sagt es mir genau, was ich weiterschreiben soll. Ich selbst habe dann nichts mehr zu sagen, ich kann mich nicht mehr einmischen.« (Ehlvest 1999, 12). Ehlvests Prosa bereicherte die estnische Literatur um eine neue Dimension, die mit dem Begriff »postmodern« nur unzureichend umschrieben ist: Seine Texte scheinen mehr zu leben, als ein Text es normalerweise tut. Jeder Text wird bei der Rezeption neu gelesen und anders interpretiert, aber bei Ehlvests Texten wird dieser Interpretationsspielraum besonders groß und be-

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sitzergreifend. Sobald man sich darauf einlässt, gerät man geradezu in Gefahr, wie es ein Kritiker, der Ehlvests Prosa mit Beschreibungen von paranoiden Geisteszuständen verglich, denen sich auch ein gut vorbereiteter Leser nicht entziehen kann, ausdrückte: »The undersigned, having read all Ehlvest’s books during the period of a few days […] had his sleep greatly disturbed, rather like the narrative ›disturbances‹ in Ehlvest’s stories.« (Pilv 2001, 25). Trotz dieser exponierten Stellung war Ehlvest nicht der Einzige, der mit seiner Prosa eine neue mystisch-imaginäre Welt schuf. Wenige Jahre nach ihm debütierte der Künstler und Bühnenbildner Ervin Õunapuu mit dem Roman Olivia. Meistriklass (1996; dt. Olivia, 2003), den er mit einem Happening über sein eigenes Begräbnis als Künstler und die Wiedergeburt als Schriftsteller der Öffentlichkeit vorstellte. Der Roman selbst beschreibt dann auch nichts anderes als die ständige Wiedergeburt der Hauptperson Olivia und bildet eine Analogie zu Orlando, der Hauptfigur in Virgina Woolfs gleichnamigem Roman. Olivia lebt mit etlichen Männern – authentische Personen aus den vergangenen Jahrhunderten – zusammen und muss nach ihrem Tode, nicht selten durch Selbstmord, in neuer zeitlicher und räumlicher Umgebung weiterleben. Sie widersetzt sich damit der göttlichen Ordnung, verliert den Kampf aber und wird nicht erlöst, sondern muss ewig weiterleben. Diese existenzielle Düsternis wird mit einem »Slalom durch die europäische Kulturgeschichte« (Lukas 1999, 58) verbunden, der den Roman zu einem faszinierenden und nachdenklich stimmendem Ganzen macht. Der Tod und das Makabre spielen auch in anderen Werken von Õunapuu eine zentrale Rolle, etwa in dem Büchlein Surmaminejad lasevad tervitada (Die dem Tode Geweihten lassen grüßen, 2000), der Abschiedsbriefe von anonym bleibenden Selbstmördern oder Selbstmörderinnen bringt und dessen zahlreiche Leerstellen mit einem mitgelieferten Bleistift ausgefüllt werden sollen. Ein Werk, das für viele sicherlich jenseits der Grenze der Pietät liegt, aber für Õunapuu gerade den Kern trifft. Denn Pietät im eigentlichen Sinne gibt es für den offensiven Atheisten prinzipiell nicht. Er verfasste auch einige pamphletartige, sehr geistreiche antireligiöse Texte, die aufgrund ihrer Aufmachung schon mal in der Buchhandlung in das Regal mit religiöser Literatur geraten konnten (Kivirähk 2000, 169), und zwei Sammlungen mit Novellen, die vielfach den Charakter von Schauergeschichten haben. Sie trugen die Titel Eesti gootika (Estnische Gotik, 1999) und Eesti gootika II (2004), bei denen mit Gotik nicht der mittelalterliche Baustil gemeint ist, sondern die mit dem englischen Terminus Gothic novel bezeichnete Stilrichtung. Auf Deutsch ist 2004 eine Sammlung unter dem Titel Die stinkenden Handschuhe des Chefs herausgekommen. In diesen Geschichten wird in einer Mischung aus Groteske, Satire, Horror und Schwarzem Humor sehr wohl auf

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Gegenwartsprobleme eingegangen, aber durch eine irreale Überhöhung an der entscheidenden Stelle verabschieden sie sich auch gleich wieder aus der Realität und werfen einen zurück in die Õunapuu’sche Welt des Unberechenbaren. Eine solche neue Welt, die aber viel weniger düster, sondern fröhlich-absurd ist, ließ auch Mehis Heinsaar in seinen Novellen entstehen. Sein Debüt Ende der 1990er-Jahre wurde so begeistert aufgenommen, dass er zwischen 2000 und 2002 vier angesehene Literaturpreise einheimste. 2001 kam Heinsaars erstes Buch, die Sammlung Vanameeste näppaja (Der Altemännerstibitzer), heraus, in deren Titelgeschichte sich jemand einen Spaß daraus macht, alte Männer von einer Bank wegzulocken und durch eine Toreinfahrt in eine andere Welt eintreten zu lassen. Auch die anderen Geschichten sowie sein zweites Buch, Härra Pauli kroonikad (Die Chroniken des Herrn Paul, 2001), warteten jeweils mit einem übernatürlichen Element auf, das indes nie düster oder beängstigend wurde, wie das bei Ehlvest und Õunapuu der Fall sein konnte. Hier gibt es sprechende Vögel, aus einem Schuh herauswachsende Menschen, eine schriftstellernde Katze oder einen Raum im Inneren eines Menschen. Es sind spiritistische Spielchen, die der Autor treibt, Gedankenexperimente, die eine Scheinwelt hinter der realen Welt hervorzaubern, die möglicherweise so manches erklären kann, was bislang unerklärlich blieb. Dabei beschreibt der Autor mit sehr sparsamen Mitteln eine in seinen Augen offenbar einfache Welt, in der das Übernatürliche eine natürliche Sache ist. Damit weist er Berührungspunkte zu Andrus Kivirähk auf, der es hierin zur Meisterschaft brachte (s.u.). Auch Tõnu Õnnepalu alias Emil Tode ist manchmal als beispielhafter Postmodernist charakterisiert worden, wobei seine beiden folgenden Romane nach Piiririik (s. § 49) mit diesem sogar als Trilogie bezeichnet worden sind (Epp Annus et al. 2001, 658). Dies erscheint aber trotz einiger inhaltlicher Parallelen allein deswegen problematisch, weil er diese Romane unter verschiedenen Namen veröffentlicht hat. Außerdem fehlt das bei den meisten in diesem Abschnitt behandelten Autoren vorherrschende paranormale Element, weswegen er in den folgenden Abschnitt gehört. Weg aus Estland! Eines der Hauptmerkmale des sowjetischen Systems war die hermetische Abriegelung des Landes gewesen. Das Reisen war aus politischen und ökonomischen Gründen eingeschränkt bzw. völlig unterbunden gewesen. Daher strebten nach der wieder gewonnenen Freiheit viele ins Ausland. Dies musste sich auch in der Literatur niederschlagen.

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Der Auftakt hierzu stammte von Emil Tode, dessen Piiririik (1993) überdeutlich außerhalb Estlands angesiedelt war. Seinen zweiten Roman, Hind (Der Preis, 1995), veröffentlichte der Autor unter seinem richtigen Namen. Hier ist die Handlung ebenfalls zum Teil ins Ausland verlegt, diesmal nach Spanien und Portugal. Die Hauptperson Jonathan, Angestellter im estnischen Außenministerium, ist dorthin geflohen, um der Arbeit, der Gesellschaft und vielleicht auch sich selbst zu entkommen. Die Flucht als roter Faden des Romans bezieht sich nicht nur auf ein Sprengen der engen Grenzen der eigenen Heimat, was in gelungenen Reflexionen über Estland und die Welt zum Ausdruck kommt, sondern auch auf die persönliche Erfahrung als Homosexueller, was in diesem Buch viel expliziter als in Piiririik im Vordergrund steht. Das ist teilweise auch bei Õnnepalus drittem Roman, Printsess (Die Prinzessin, 1997), der Fall, der wieder unter dem Pseudonym Tode erschien. Und auch hier bewegen sich die handelnden Personen wieder ins Ausland, ein Großteil des Romans spielt in einer bayerischen Pension. Der Roman voller biblischer Anspielungen und metaphysischer Sinngebungen beschäftigt sich mit einigen Grundfragen menschlicher Existenz: Gott, Liebe und Tod. Die streckenweise Loslösung von Estland sorgt dabei für hilfreichen Abstand und unterstreicht den Universalitätsanspruch. Für seinen nächsten Roman legte sich Õnnepalu einen neuen Namen zu: Harjutused (Übungen, 2002) ist von Anton Nigov verfasst, was – wie der Autor im Vorwort erläutert – keineswegs ein Pseudonym ist, sondern »mein Name. Wie Gustave Flaubert zu sagen beliebte: Emma Bovary, c’est moi. Ich sage: Anton Nigov bin ich. Aber nicht so wie Flaubert. Madame Bovary war die Heldin, Monsieur Nigov ist der Autor. Als er sich unter dem Namen Tõnu Õnnepalu in Paris aufhielt und dort das Estnische Institut leitete, schrieb er gleichzeitig diese Aufzeichnungen nieder. An ihnen ist alles wahr.« (Nigov 2002, 7). Erneut haben wir es also mit dem Ausland zu tun, und erneut wird Õnnepalu dem postmodernen Postulat nach Intertextualität gerecht, indem er ausführlich seine schreibenden Kolleginnen und Kollegen heranzieht und beurteilt. Das ist aber auch alles, im Weiteren wird ein höchst unfiktionales Tagebuch über zwei Monate des Jahres 2001 geboten, die der Autor in Paris verbracht hat. Eine empfindsame und detaillierte, kontemplative und melancholische Autobiographie, an deren Ende der 40-jährige Autor etwas affektiert über das Alter lamentiert. Dies steigert sich noch in dem unmittelbar darauf folgenden Buch Raadio (Das Radio, 2002), für den diesmal Emil Tode die Autorschaft beanspruchte. Auch hier nimmt Paris einen prominenten Platz ein, obwohl die Handlung eigentlich im Jahre 2002 in Tartu angesiedelt ist. Noch einmal wird ein kontemplatives Tagebuch über Empfindungen und Befindlichkeiten geliefert, das aber stilistisch umkippt durch

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den unmotivierten, ebenso oberlehrerhaft wie manieriert wirkenden und exzessiven Gebrauch von französischen, deutschen oder russischen Passagen. Neu ist allenfalls die Einführung einer fiktiven Person, die indessen kaum fiktiv ist, da sie leicht wieder erkennbar die Dichterin Viivi Luik als Prototypen hat. Das macht das Buch jedoch bloß noch rätselhafter und in seiner Langatmigkeit – 152 000 Wörter gegenüber 81000 bei Nigovs Buch – auch nicht mehr überzeugend. Andere Autoren, die gelegentlich ins Ausland auswichen, waren die bereits erwähnten Jüri Ehlvest, dessen Erwähnung von Bagdad im Titel seines Debüts aber eine reine Spielerei ist, Toomas Vint, der einige seiner Kurzgeschichten in exotischen Gegenden ansiedelte, und Ervin Õunapuu, dessen Olivia recht wenig mit Estland zu tun hat. Ein Autor, der einen Großteil seiner Bücher – nicht selten waren das aber Reiseberichte – außerhalb Estlands ansiedelte, war Olev Remsu. Remsu hatte zwar schon 1976 debütiert, aber seine produktive Zeit begann nach 1989. In den Titeln seiner Bücher kommen die folgenden Ortsangaben vor: Babel, Oxford, Moskau, Prag, Paris, London und China, nur ein geringer Teil seiner Bücher spielte sich in Estland ab. Von der jüngeren Generation fielen Peeter Sauter mit einigen Reiseberichten aus Deutschland und Schottland auf, während Kaur Kender seinen dritten Roman, Ebanormaalne (Abnormal, 2000), in New York und Bangkok situiert. Auch bei Heinsaar fand eine Geschichte in New York statt, und Matt Barker, der 1999 mit einer Sammlung von teils phantastischen, teils Horrorerzählungen debütierte, lässt seine Geschichten in Schottland spielen, was sich auch in der im estnischen Kontext grotesk wirkenden Verwendung britischer Maßeinheiten niederschlägt. Der 2005 erschienene Debütroman von Eia Uus, Kuu külm kuma (Der kalte Glanz des Mondes), ein psychologischer Entwicklungsroman einer manisch-depressiven Schülerin, spielt komplett in Thailand, wo die Autorin vier Jahre aufs Internat gegangen war. Eine internationale Note enthält Uus’ Roman weiterhin durch jedem Kapitel vorangestellte Zitate von Sylvia Plath. Während bei den meisten das Ausland beinahe nebensächlich und als selbstverständlich erwähnt bzw. eingebaut wurde, gab es auch Werke, in denen es explizit gemacht wurde, wie es seinerzeit bei Todes Piiririik der Fall gewesen war. Hierzu gehörte Kadri Kõusaars bemerkenswerter Debütroman Ego (2001), ein Text über das Schreiben eines Romans und die große Liebe. Das Auffallende an dem Werk ist, dass der Wunsch, Schriftstellerin zu werden, an einen Verbleib im Ausland gekoppelt wird: »Du bleibst dein ganzes Leben hier in diesem bedepperten Estland, du wirst niemals eine Schriftstellerin!« (Kõusaar 2001, 108) muss sich die Autorin anhören, woraufhin später

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die Entscheidung folgt, einen Spanischkurs zu belegen: »Auch, weil ich mir neue Kulturräume erschließen wollte, weil mein eigener Kulturraum voll des Duftes trauriger Erinnerungen war und mal gründlich durchgelüftet werden musste.« (Kõusaar 2001, 186). Folgerichtig kommen in dem Roman New York, Amsterdam, London, Kuba und die Dominikanische Republik vor, und es finden sich Zitate von zahlreichen Autorinnen und Autoren der Weltliteratur. Eine Steigerung fand in dem Roman Mõru maik (Bitterer Geschmack, 1999) von Hiram statt. Unter diesem Pseudonym publizierte Mari Laaniste ihren ersten Roman, der auf jede Ortsangabe verzichtete und einzig durch die Erwähnung der U-Bahn klarstellte, dass es nicht um Estland gehen konnte, weil es in Tallinn, geschweige denn anderswo im Land, schlicht keine U-Bahn gibt. Der Roman ist im Jugendmilieu und im Showbusiness angesiedelt, im Mittelpunkt steht eine bisexuelle Ich-Person, die ihren Weg zwischen Drogen nehmenden und suizidgefährdeten Rockmusikern sucht. Dabei fällt der Text durch eine besondere Betonung der Körperlichkeit auf. Man kann vermuten, dass die Handlung in London spielt, aber das ist eigentlich irrelevant. Wie in den Romanen von Ülo Mattheus (vgl. § 45) ist bei Hiram Lokalität völlig sekundär. Eine besondere Bedeutung und andere Funktion bekam das Ausland in dem Roman Ära (Weg!, 1999) von Maimu Berg, die einer älteren Generation entstammte. Dieser Roman, der im Wesentlichen in den 1970er-Jahren spielt, gehört von der Thematik her eigentlich zum Abschnitt über Trauma- und Trauerarbeit (s. § 49), drängte sich aufgrund seines bezeichnenden Titels jedoch zur Erwähnung an dieser Stelle auf. In der Stagnationszeit hatte das (westliche) Ausland logischerweise einen ganz anderen Stellenwert als nach der Grenzöffnung. In Bergs Roman leidet ein Liebespaar bzw. vor allem der männliche Teil davon so sehr an der sowjetischen Einengung, dass zwei fiktive Ehen mit einem Mann und einer Frau im Westen eingefädelt werden – eine in der sowjetischen Zeit übliche Praxis. Das gelingt auch, und zeitversetzt gelangt as Paar ins Ausland. Dort aber finden die beiden alles andere als ihr privates Glück, denn ihre Beziehung hat den Strapazen nicht standgehalten. Die Liebe wird auf dem Altar der Freiheit geopfert – das ist die deprimierende Botschaft des Buches. Und dies ist mehr als eine persönliche Aussage, es ist die Erfahrung einer ganzen Generation und vielleicht auch eine Warnung an die folgende.

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Die Realität daheim Auch wenn sich auffällig viele Autorinnen und Autoren mit dem Ausland beschäftigten oder ihre Romane ganz dort ansiedelten, muss darauf hingewiesen werden, dass es immer noch genügend Personen gab, die die Kirche im Dorf ließen und in ihren Texten »zu Hause« blieben, ohne dabei provinziell zu wirken. Überdies haben die meisten der im vorangegangenen Abschnitt behandelten Texte einen gewissen Bezug zu Estland, wie auch umgekehrt in der nun dargestellten Prosa das Ausland hin und wieder eine Rolle spielte. Am deutlichsten ist das bei Eeva Park der Fall, deren Lõks lõpmatuses (Die Falle in der Unendlichkeit, 2003) streckenweise in Deutschland spielt. In diesem kompakten Roman (54000 Wörter) wird die Welt der aus der Gesellschaft Ausgestoßenen beschrieben. Im Zentrum steht eine Ich-Erzählerin, die ein wildes und ausgelassenes Leben führt, während einer Reise nach Deutschland aber von ihrem vermeintlichen Freund an eine Zuhältermafia verkauft wird. Aus deren Fängen entkommt sie nur mit Hilfe eines Mordes, danach schlägt sie sich durch nach Estland und lebt dort mehr oder weniger in der Gosse. Allerdings hat sie noch alte Freunde, mit deren Hilfe sie sich eine Pistole besorgt, um sich an dem Mann, der an ihrer Verschleppung ins Prostituiertenmilieu schuldig ist, zu rächen. In diesem Finale, in dem sie schließlich auch ihrem eigenen Leben ein Ende setzt, gipfelt der Roman, dessen Handlung nicht linear, sondern verschachtelt und mit verschiedenen Zeitsprüngen, was einen besonderen Spannungsbogen erzeugt, erzählt wird. Park zeigt mit diesem Text die andere, die Schattenseite der estnischen Erfolgs- und Wiederaufbaugesellschaft; gleichzeitig beschreibt sie die Weigerung der Opfer, Opfer zu sein. Sie widersetzen sich, und es geht hier nicht unbedingt um Rache – es bleibt am Ende des Romans sogar offen, ob sie gelingt –, sondern in erster Linie um Selbstbehauptung und den Erhalt des Selbstwertgefühls. Das Buch kann auch als Aufschrei und Warnung verstanden werden, denn es nennt den Preis der Freiheit und zeigt, was es neben dem Glanz und Glitter der Konsumgesellschaft auch noch gibt. In ihrer Bedeutung kommt Park damit Eduard Vilde gleich, der ein Jahrhundert zuvor die dunklen Seiten der Gesellschaft zum Gegenstand seiner Romane gemacht hat. Eeva Park war keine Unbekannte, als sie mit diesem Roman die literarische Welt aufrüttelte. Sie hatte 1983 mit einem Gedichtbändchen debütiert und sich danach weitgehend auf die Prosa verlegt, wenngleich 1990 noch ein zweiter Gedichtband herauskam und Anfang des 21. Jahrhunderts wieder zwei neue Sammlungen erschienen. Ihre erste längere Erzählung behandelte eine authentische Gestalt aus dem 19. Jahrhundert, danach folgte eine kleine Serie von Romanen mit starkem autobiografischen bzw. familiären Hinter-

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grund, die den Zeitraum von den 1930ern bis in die frühen 1970er-Jahre hinein abdecken. Am auffälligsten waren die beiden Novellenbände von Park, Mees, kes mäletas elevante (Der Mann, der sich an die Elefanten erinnerte, 1994) und Pääse karussellile (Eintrittskarte fürs Karussell, 2000). Die hierin vertretenen 30 Novellen sind spannend, ohne jemals oberflächlich zu wirken; sie sind flüssig geschrieben und gleichzeitig tiefsinnig; und sie sind ernst, ohne humorlos zu sein. Manche lesen sich geradezu wie Kriminalgeschichten, andere wiederum bestechen durch eine besonders nüchterne, fast grausame Schilderung nicht ganz alltäglicher Begebenheiten. Das vielseitige Werk von Park gehört zu den wichtigsten Begleitern der neuen Zeit in Estland. Letzteres trifft auch auf einige Bücher von Mihkel Mutt zu, obwohl er feuilletonistischer und damit oberflächlicher schreibt. Seine Texte sind treffende und bissige Momentaufnahmen. In Pingviin & raisakass (Pinguin & Aaskatze, 1992) wird die Zeit unmittelbar vor der Wiedererlangung der Unabhängigkeit beschrieben, als in Tallinn marktwirtschaftliche Verhältnisse im Entstehen begriffen sind, die ganze Gesellschaft durcheinandergewirbelt wird und die Menschen ihre gesellschaftliche Position neu definieren müssen. Zwei Jahre später schrieb Mutt in Rahvusvaheline mees (Der internationale Mann, 1994) seine Erfahrungen im Außenministerium nieder, und in dem Roman Progressiivsed hiired (Die progressiven Mäuse, 2001) wird die estnische aktuelle Kunst- und Intellektuellenwelt kritisch beleuchtet. Damit war Mutt wieder ganz zurück in Estland, das Buch ist eine Insider-Geschichte aus der estnischen Kunstwelt, die über ein essayistisch-feuilletonistisches Niveau indes kaum hinauskommt. Das gilt in noch größerem Maße für Teet Kallas’ satirisches Jää hüvasti, Mr. Shakespeare (Lebwohl, Mr. Shakespeare,1995), worin der Estnische Schriftstellerverband eine Kreuzfahrt für einen Teil seiner Mitglieder organisiert, bei der das Schiff, das Mr. Shakespeare heißt, am Ende infolge eines Anschlags jedoch sinkt und die Creme der estnischen Literatur mit sich in die Tiefe zieht. Ebenfalls sehr stark Estland verbunden blieb Mats Traat. Als treuer Chronist schrieb er mit Kodu on ilus (Das Heim ist schön, 1994) eine Fortsetzung seines 1985 erschienenen Üksi rändan (s. § 45), worin er das Schicksal der Hauptperson bis in die Gegenwart hinein verfolgt. Auf bislang elf Teile – zuletzt erschienen 2006 in Looming einige Lieferungen – ist eine Romanserie mit dem Obertitel Minge üles mägedele (Geht hinauf auf die Berge) angewachsen. Der ein biblisches Motiv verwendende Titel entstammt einem bekannten Lied, das seinerseits auf ein Gedicht von Mihkel Veske (vgl. § 22) zurückgeht, und verweist auf die Epoche der Entstehung des estnischen Nationalbewusstseins. Behandelt wird die Zeit vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Auch in seiner Kurz-

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prosa lenkte Traat das Interesse wieder und wieder auf diese Phase der estnischen Geschichte, ein Thema, das sich in der wiedererlangten Unabhängigkeit einer gewissen Beliebtheit erfreut und beispielsweise auch Asta Põldmäe am Herzen liegt (vgl. Viitol 2004). Mari Saat (vgl. § 45) setzte ihre psychologische Prosa im gleichen Stile fort, und das heißt: sparsam dosiert, vorsichtig, umsichtig und bedächtig formuliert. 1990 erschien Võlu ja vaim (Zauber und Geist), die Geschichte von einem jungen und selbstständigen Mädchen, das noch keine der Rollen angenommen hat, die die Gesellschaft ihresgleichen normalerweise aufzwingt, und sich in der Phase der Identitätsfindung, und das heißt auch der sexuellen Identitätsfindung, befindet. Zehn Jahre später legte Saat mit Sinikõrguste tuultes (In den Winden der himmelblauen Höhen, 2000) einen ebenso intensiven, diesmal als innerer Monolog formulierten Text über die Liebesgeschichte einer jungen Frau vor. Den formalen Anlass zu den Reflexionen der Hauptperson gab der Untergang der Autofähre Estonia vom September 1994, wobei ihr Geliebter umgekommen war. Allein gelassen mit der gemeinsamen Tochter, denkt sie nun über Liebe, Leben und Tod nach. Dabei kommen zahlreiche Details über das Leben in Estland Anno 2000 zur Sprache, unter anderem auch das Verhältnis zu den Russen, ebenso die Verbindungen mit Schweden, denn der Geliebte stammte von dort. Was die Beschreibung der Befindlichkeiten im gegenwärtigen Estland betrifft, ist Saats Text den Büchern von Õnnepalu vergleichbar, nur gelingt ihr das wesentlich intensiver, kompakter und überzeugender. Anstelle der bei Õnnepalu gelegentlich anzutreffenden rührseligen Weitschweifigkeit bietet die Autorin ein »Gedicht in Prosa«, wie sie ihr Buch im Klappentext umschreibt und was für den sorgfältig formulierten, 30000 Wörter umfassenden Text durchaus zutrifft. Schließlich fällt in den hier behandelten Bereich auch die bereits erwähnte (§ 49) Memoirenliteratur. Das Genre erfreute sich auch zehn Jahre nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit immer noch recht großer Beliebtheit. Aus einer Statistik für die Jahre 2000 und 2001 geht hervor, dass über fünf Prozent aller Neuerscheinungen Memoiren waren. Oder anders ausgedrückt: Auf elfeinhalb Bücher »normaler« Belletristik – ohne Kinderund Jugendliteratur, Essayistik u.Ä. – kam ein Band mit Erinnerungen (Kõnno 2006, 43). Außerdem gab es viele Texte, die im autobiographischen Bereich spielen, ohne dass sie explizit der Erinnerungsliteratur zugeschlagen worden wären. Hierzu gehörte etwa Enn Vetemaas Minu väga magus elu ehk Martsipanimeister (Mein sehr süßes Leben oder Der Marzipanmeister, 2002), aber auch Jaan Kaplinskis Isale (An meinen Vater, 2003).

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Die Dekonstruktion des nationalen Mythos Mit Memoiren ganz anderer Art trat 1995 der gerade 25-jährige Andrus Kivirähk an die Öffentlichkeit: Unter dem Titel Ivan Orava mälestused ehk Minevik kui helesinised mäed (Die Erinnerungen des Ivan Orav oder Eine Vergangenheit wie hellblaue Berge) brachte er eine Auswahl aus seinen zuvor in einer führenden Zeitung erschienenen Kolumnen heraus. Damit begann der Siegeszug eines jungen Autors, der zehn Jahre später einer der berühmtesten und beliebtesten Schriftsteller Estlands war, dessen Werk in ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt worden ist. Debütiert hatte Kivirähk schon 1984 als Schüler in der satirischen Zeitschrift Pikker (Gewitter), und ein satirischer roter Faden zieht sich bis heute durch sein gesamtes Werk. Als er im Frühjahr 1992 mit der Zeitungskolumne begann, wurden die Erinnerungen des fiktiven Ivan Orav schnell populär, und damit ist Kivirähk ein gutes Beispiel für die Jahrhunderte alte Verbindung von Journalismus und Literatur in der estnischen Kultur. Sobald seine Zeitungstexte zwischen Buchdeckeln erschienen, wurden sie Literatur und gleich mit dem höchsten jährlichen Preis ausgezeichnet. Das Buch ist die fiktive Lebensgeschichte eines unermüdlichen wackeren estnischen Freiheitskämpfers, der noch die Jahre der ersten Republik mitgemacht hat, alle sowjetischen Grausamkeiten überstanden hat und nun wieder sein Leben in der Republik Estland genießt. Dabei nimmt Kivirähk so ziemlich alles auf die Schippe, was den Esten nach der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit heilig geworden war, und erzielte seine Wirkung durch eine extreme satirische Überhöhung. Manche Dinge, Texte, Bilder und Assoziationen sind dermaßen verzerrt und weit hergeholt, dass man zunächst nur den Kopf schüttelt und es dauert, bis der komische Effekt zu einem durchdringt. Am eindruckvollsten demonstriert das der Bildteil des Buches, in dem beliebige Pressefotos mit noch viel beliebigeren Bildunterschriften versehen wurden. Als Foto des Autors ist das Bild eines alten Mannes abgedruckt, das sich – nirgendwo kommentiert geschweige denn erklärt – als Porträt des italienischen Schriftstellers Alberto Moravia entpuppt, was kaum jemand erkannt haben dürfte und was auch weiter keine bestimmte Funktion hat. Dem Autor wird lediglich gefallen haben, dass sich im Namen des Italieners der Name seines Helden verbirgt: Orav ist ein normaler estnischer Familienname und bedeutet ›Eichhörnchen‹. Auf einem anderen Bild strahlen drei völlig unbekannte Männer – der Autor hatte das Foto aus einer Zeitschrift ausgeschnitten – in die Kamera, und die Unterschrift lautet: »Molotov, Ribbentrop und Pakt am frühen Morgen des 23. Augusts 1939 im Garten des Kreml. Foto von Josif Stalin«, während die Sowjetisierung von 1940 mit einem Foto

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Andrus Kivirähk, Foto: Postinees/Scanpix

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erläutert wird, auf dem ein Schimpanse einer Frau unter den Rock schaut. Der dazugehörige Text lautet: »Alle möglichen absonderlichen Schnüffler strolchten umher. Manche waren behaart, andere hatten einen Schwanz. Und es gab keinen Ort, wo sie ihre Nase nicht reingesteckt hätten.« Auf diese Weise machte sich Kivirähk über den Hurra-Patriotismus seiner Landsleute lustig und entzauberte damit auch den von manchen gepflegten nationalen Mythos, dem zufolge beispielsweise alle Esten gut und alle Russen böse sind. Bei Kivirähk konnte es umgekehrt sein: So fehlt ein Besuch des Helden Ivan Orav in der Hölle nicht – ein klarer Verweis auf den Kalevipoeg (s. § 18) –, wo er neben vielen Esten auch Konstantin Päts antrifft. Der hat dort aber keineswegs zu leiden und ist mit dem Teufel dick befreundet. Stalin dagegen ist in der Hölle nicht anzutreffen, denn der »hat sich so schlecht bei uns benommen, dass wir ihn ins Paradies geschickt haben« (Kivirähk 1995, 65). Ivan Orav wurde schnell so populär, dass eine 2001 erschienene erweiterte Neuauflage seiner Erinnerungen gar nicht mehr den Autor Kivirähk im Titel trug, der war nur innen hinter dem Copyrightzeichen vermerkt. Das Feuerwerk an Satire ging hier ungehemmt weiter und gipfelte in einer Zeittafel am Ende des Bandes, wo es unter anderem heißt: »1964 – in Tartu stirbt im Keller von Uku Masing der letzte Weihnachtsmann, den Masing 24 Jahre lang vor den Knecht Ruprechts verborgen gehalten hatte.« (Kivirähk 2001, 223). Hintergrund ist hier das Verbot des Wortes ›Weihnachtsmann‹ (jõuluvana) durch die Sowjets und seine Ersetzung mit näärivana, einer alten estnischen Bezeichnung für einen Alten, der um die Zeit der Jahreswende Geschenke austeilt. Zu 1989 heißt es lapidar: »In Berlin wird eine Mauer eingerissen, und dahinter werden noch Deutsche gefunden, von deren Existenz bislang niemand etwas gewusst hatte.« (Kivirähk 2001, 228). Das letzte Beispiel zeigt, dass sich der Autor keineswegs auf Estland beschränkte, wenngleich hier sein Hauptbetätigungsfeld und Hauptobjekt liegt. Unermüdlich publizierte er weiterhin seine satirischen Kolumnen, die häufig die Tagespolitik kommentieren, in der Presse und veröffentlichte sie in regelmäßigen Abständen als eigenständige Bücher. Andrus Kivirähk beschränkte sich nicht auf die Satire. Er ist ein erfolgreicher Kinderbuchautor, hat zahlreiche Theaterstücke geschrieben (s. u.) und eine beträchtliche Anzahl an Kurzgeschichten verfasst. In ihnen steht neben dem unübersehbaren satirischen Element häufig die Welt des Phantastischen und Irrealen im Mittelpunkt. Da kann ein Dieb auf seinen nächtlichen Streifzügen schon einmal einen Engel seines Flügels berauben, den er reumütig zurückbringt, nachdem er erfahren hat, was Engel alles Gutes tun können. Oder ein Bastler tritt auf, der leblosen Gegenständen eine Seele

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einhaucht und Schraubenzieher und Melkschemel durchs Dorf spazieren lässt, das in Angst und Schrecken versetzt wird. Auch Gott und der Satan stellen sich bald ein, weil hier schließlich jemand mit Dingen beschäftigt ist, die in ihren Herrschaftsbereich fallen. Umso erstaunter sind sie, als der Bastler nach dem achtzehntausendsten Stück verkündet, nun sei es genug, alles sei getan. Mit einfachen Mitteln erbaut Kivirähk wie ein Märchenerzähler eine neue Welt, in der es Wunder und Ungeheuer gibt, die durch ihre surrealistischen Elemente jedoch immer erkennbar ist als die Welt der Gegenwart, der der Autor einen mit tiefer Symbolik behafteten Zerrspiegel vorhält. Seinen bislang größten Erfolg erzielte Kivirähk mit dem Roman Rehepapp (2000). Der Titel bezeichnet eine im historischen Estland halbamtliche Person, einen so genannten Scheunenvogt, der beim Dreschen des Korns für Ordnung sorgte. In Kivirähks Roman wächst er zu einem mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestatteten Wesen aus, das den Dorfbewohnern Trolle schmiedet, sie vor Krankheiten bewahrt, immer mit Rat und Tat zur Seite steht und eine Art örtlicher König und Magier in einer Person ist. Das Buch ist sowohl eine Persiflage auf die moderne Welt, in der alle nach persönlichem Reichtum streben und dies in der Regel auf Kosten ihrer Mitmenschen tun, als auch ein modernes Märchen, in dem alte und neue Mythen zu einem kohärenten Ganzen verwoben sind, das die Mentalität der Esten bloßlegen will. Mit dem hier schon zur Meisterschaft gereiften grotesken Humor von Kivirähk, der nicht beißend, sondern geradezu liebevoll ist, wird tatsächlich ein Bild von den Esten entworfen, das offenkundig so treffend war, dass es in ungekannter Einhelligkeit gelobt wurde. In Windeseile eroberte der handliche Roman (54000 Wörter) die estnischen Medien, wurde auf verschiedenen Bühnen inszeniert und von Politikern zitiert (Alekand 2002). Trotz der Entzauberung des nationalen Mythos, den Kivirähk auch mit diesem Werk wieder ankratzte, wurde der Rehepapp zu einem identitätsstiftenden Kunstwerk. Das lag zum Teil auch daran, dass sich Kivirähk kompromisslos mit Estland und den Esten befasste und zeigte, dass man für gute Literatur nicht ins mehr oder weniger exotische Ausland abtauchen musste, wie es viele seiner Kolleginnen und Kollegen getan hatten. Pünktlich zum Jahrtausendende legte er ein Buch vor, das »ur«estnisch ist und gerade als solches Estland in der Welt repräsentieren kann, wie die bislang vorliegenden Übersetzungen ins Finnische, Norwegische und Ungarische beweisen.

§ 51 Flucht aus der Enge oder Rückzug auf die Insel?

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Das moderne Schauspiel Andrus Kivirähk hatte als Bühnenautor debütiert, bevor seine Prosabücher die Herzen der Esten eroberten. Seit 1992 hat er knapp zehn Schauspiele verfasst, die allerdings nicht alle inszeniert worden sind. Sie sind seiner Prosa vergleichbar und operieren mit den bekannten Mitteln wie Humor, satirischer Verfremdung und phantastischen Elementen. Überhaupt ist für Kivirähk, dessen Eltern aus dem Theater- und Fernsehmilieu stammten und der mit Liblikas (Der Schmetterling, 1999) auch einen Kurzroman über die Anfangszeiten des Estonia-Theaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben hatte, die Grenze zwischen den Genres nicht von besonders großer Bedeutung. 2004 inszenierte Mati Unt einen Prosatext von Kivirähk, dem man das gar nicht ansah und der auch als Theaterstück von Kivirähk hätte geschrieben sein können: Romeo ja Julia (R. und J., 2003) beschreibt u.a. die Liebesgeschichte zwischen einem Bauernsohn und einem Lamm. Wenn bei Kivirähk oben von der Dekonstruktion eines nationalen Mythos die Rede war, so trifft das paradoxerweise auch für Merle Karusoo (vgl. § 44) zu, deren Theaterstücke ansonsten nichts mit dem unbeschwert daherkommenden Humor von Kivirähk gemein haben. Aber in Karusoos Hinwendung zu den gesellschaftlichen Randgruppen ist sie ähnlich extrem, denn sie interessiert sich für diejenigen Menschen, die im neuen Estland im Allgemeinen gemieden wurden: Männer und Frauen, die Menschen deportiert oder ermordet haben, wobei Karusoo auch die Problematik der Integration der russischen Minderheit zur Sprache brachte. Indem sie zeigt, dass unter den Deportierern auch Esten waren – wie in Küüdipoisid (Die Deportierer, 1999) – oder dass nicht alle Mörderinnen und Mörder Russen sind – wie in Save our Souls (2002), das in einem stillgelegten Kühlhaus und im Juni 2002 auch zweimal bei den Wiener Festwochen aufgeführt wurde –, entzaubert sie ebenfalls den nationalen Mythos. Beide Stücke waren auf die für Karusoo typische Art und Weise zustande gekommen, nämlich auf Basis von Interviews; das Gleiche betraf auch ihr erfolgreiches, weniger kontrovers diskutiertes, Stück Kured läinud, kurjad ilmad. Eesti Elulood (Die Kraniche sind fort, das Wetter ist schlecht. Estnische Biographien, 1997), das über 100-mal gespielt wurde (Kruuspere 2002a, 284). Damit war Karusoo mit ihren soziologisch-engagierten Stücken für das Theaterleben der 1990er-Jahre eine der wichtigeren Persönlichkeiten, die dem eigenständigen estnischen Theater, das Anfang der 1990er-Jahre westlichen Importstücken hatte Platz machen müssen, wieder Leben einhauchte. Über 30 der in jenen Jahren verfassten estnischen Stücke sind damals nicht auf die Bühne gelangt, sondern blieben »Lesestücke«. (Kruuspere 2000, 900)

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Am wichtigsten für die Dramaliteratur war Madis Kõiv, der die 1990er-Jahre zu »seinem« Jahrzehnt auf der estnischen Bühne werden ließ (s. § 49). Schritt halten mit Kõivs Bühnenruhm bzw. diesen vielleicht auch ablösen konnte als Einziger Jaan Tätte, dessen erstes Stück für Kinder 1997 auf die Bühne kam. Tätte kam als Schauspieler zum Schreiben und hat viele seiner Stücke selbst inszeniert, häufig auch unter eigener Beteiligung. Nebenher dichtet der vielseitig Begabte auch und trägt seine Lieder mit Gitarre vor. Nach 13 Jahren als Schauspieler ist Tätte seit 2003 beim Tallinner Stadttheater hauptberuflich als Autor angestellt. Mit Kivirähk verbindet ihn ein märchenhaft-phantastisch-spielerisches Element, wie es schon in seinem ersten Schauspiel Ristumine peateega ehk Muinasjutt kuldsest kalakesest (1998, Verfilmung 1999; dt. Bungee-jumping, 1999) der Fall war. In diesem Vier-Personen-Stück, dessen Untertitel Das Märchen vom Goldenen Fischlein lautet, wird der bekannte Märchenstoff in die Gegenwart verlegt und dazu verwendet, die Bedeutung des Geldes, das in der neuen estnischen Gesellschaft einen ganz anderen Stellenwert bekommen hatte, zu hinterfragen. Mit teilweise surrealistischen Einsprengseln fabrizierte der Autor ein spannendes, fast kriminalistisches Stück, dessen Thematik universell ist. Damit unterschied sich Tätte von Kõiv oder Karusoo, und dies erklärt auch den großen Erfolg in Deutschland und der Schweiz, wo es bis 2006 über 30 mal inszeniert worden ist. Tätte war der erste estnische Autor, dessen Stücke über die Landesgrenzen hinaus Aufsehen erregten. Auch die beiden folgenden Dramen von Jaan Tätte – Sild (2000; dt. Die Brücke, 2001) und Palju õnne argipäevaks (2001; dt. Fasten Seat Belts oder Viel Glück zum Alltag! 2003) – beschäftigten sich mit aktuellen Gegenwartsproblemen und fanden den Weg auf mehrere deutsche Bühnen. Für den estnischen Kontext war eine aufwendige Freiluftinszenierung mit 200 Komparsen von 1999 bedeutend: In 2000 aastat elu Eestimaal ehk Picknick Reiu jõel (2000 Jahre Leben in Estland oder Picknick am Fluss Reiu) werden sieben Szenen aus der Geschichte Estlands von der Frühgeschichte bis in die Gegenwart dargestellt, in deren Zentrum jeweils ein Liebespaar steht, deren männlicher Part sich am Ende verabschiedet: durch Tod, Deportation nach Sibirien oder Einberufung zum Militärdienst. In nur fünf Aufführungen haben sich schätzungsweise 16 000 Personen (Saro 2002, 132) das Stück angeschaut, was für estnische Verhältnisse eine ungewöhnlich hohe Zahl ist. Mit Tätte war die Rehabilitation des estnischen Sprechtheaters endgültig vollzogen.

§ 52 Literatur im elektronischen Zeitalter

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§ 52 Literatur im elektronischen Zeitalter Periodisierungsversuche Trotz der noch nicht allzu langen postsowjetischen oder auch als postkolonialistisch (vgl. Moore 2001) zu bezeichnenden Periode hat die Literaturwissenschaft und -kritik schon diverse Versuche unternommen, die neue Zeit in kleinere Perioden einzuteilen. Darüber hinaus gab es auch eine Kontroverse darüber, wann denn diese »neue Zeit« begonnen habe, denn es war keineswegs klar, ob der Einschnitt des Jahres 1991 für die Literatur so bedeutend gewesen sei. Erwartungsgemäß ließen sich bei dieser akademischen Frage sowohl Argumente dagegen (Veidemann 1996) als auch dafür (Kiin 1996b) finden. Mittlerweile dürfte klar geworden sein, dass es eine ganze Reihe von Kontinuitätslinien gibt – und zwar sowohl in Gestalt von Personen als auch von literarischen Traditionen –, die eine allzu scharfe Zäsur für das Jahr 1991 wenig sinnvoll erscheinen lassen. Es stellt sich schon lange nicht mehr die Frage, ob es einen Bruch gab oder ob man von Kontinuität sprechen muss (vgl. Hasselblatt 1996a), sondern die Frage, inwieweit mit Blick auf die Literatur Kontinuität und Erneuerung miteinander verwoben sind, sich gegenseitig bedingen oder in Konflikt geraten. Daher ist die im vorliegenden Werk angesetzte Grenze von 1991 auch gar nicht literarisch begründet worden (s. § 3). Bezeichnenderweise sind in einer neueren umfangreichen Literaturgeschichte (Epp Annus et al. 2001) nur zwei Hauptzäsuren angesetzt worden: 1905 und 1944. Sie beide haben zwar eine starke politische Konnotation – Revolution und Kriegsende –, aber sie wurden literarisch motiviert, nämlich durch die Noor-Eesti-Gruppierung als Wasserscheide zwischen Alt und Neu bzw. Fremd und Eigen und die Aufspaltung der literarischen Gemeinschaft in Heimat und Exil durch die Emigration eines Teils der Literatur am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Errichtung (1918) und Wiedererlangung (1991) der staatlichen Unabhängigkeit spielten demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Die Zeit nach 1944 ist bei Epp Annus et al. in vier Perioden eingeteilt, die als Nachkriegszeit, Rückgang des Stalinismus, Stagnationszeit und Gegenwartsliteratur bezeichnet werden. Die letzte Phase beginnt ungefähr Mitte der 1980er-Jahre und ist mit einer Einleitung von Mart Velsker versehen, der auch an anderer Stelle (Velsker 2000, 2003) eine Periodisierung vornahm, die nicht deckungsgleich mit den politischen Veränderungen war. Nach seinem Dafürhalten kann man für die Mitte der 1990er-Jahre einen Einschnitt postulieren, weil er in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre eine neue, jüngere Generation von Debütanten und Debütantinnen ausfindig gemacht haben

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will. Demzufolge wäre dann die erste Welle der Erneuerung, die ungefähr Mitte der 1980er-Jahre begann und die Abschaffung der Zensur ebenso wie die Wiederherstellung der Unabhängigkeit mit einschloss, vorüber gewesen, eine zweite habe begonnen und dauere noch immer an. Auch wenn Velskers Argumentation nicht restlos überzeugend ist, zumal er mehrfach selbst auf Ausnahmen und Übergangserscheinungen hinweisen muss, und die Notwendigkeit der Zweiteilung einer vergleichsweise kurzen Periode fraglich erscheint, muss man ihm in einem Punkt Recht geben: Ab Mitte der 1990er-Jahre wurde zunehmend die Informationstechnologie in den Literaturprozess miteinbezogen (Velsker 2003, 45). Da die technische Revolution der Informationstechnologie aber nicht nur für den literarischen Bereich von Bedeutung ist, sondern die Menschheitskultur schlechthin betrifft und verändert, sollte auch hier der Epochenbruch in einem größeren Zusammenhang gesehen werden. Das Internet gibt es in Anfängen seit dem Ende der 1960er-Jahre, aber der Durchbruch erfolgte mit der Entwicklung des Hyperlinksystems 1991 und der wenig später erfolgten Herstellung der ersten Browser, die das System für Laien verwendungstauglich machten und somit für eine rasche Verbreitung sorgten. So betrachtet fällt diese Grenze in unmittelbare Nähe der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Estlands. Daher ist es nicht falsch zu behaupten, Estland sei mit dem Eintritt in die erneute Unabhängigkeit auch gleich in das elektronische Zeitalter eingetreten. Dies ist ein weiteres Argument für das hier hantierte Jahr 1991 als Kapitelgrenze. Tigersprung Eines der folgenreichsten Programme, das 1996 zur Überwindung des sowjetischen Rückstands ins Leben gerufen wurde, war das so genannte Tigersprung-Programm, das Estland mit einem Schlag an die Technologiespitze der Welt katapultieren sollte. Der Gedanke war einfach: Alle Schulen sollten mit Computern ausgestattet werden, um so die Bildung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie zu fördern. Und er war verhältnismäßig leicht durchführbar, da Estland recht klein ist. Die Initiative ging zurück auf den damaligen estnischen Botschafter in den USA und späteren Außenminister Toomas Hendrik Ilves, der als Exileste in den USA aufgewachsen war, lange Zeit bei Radio Free Europe in München gearbeitet und u.a. Doris Kareva ins Englische übersetzt hatte. Seit 2006 ist er Staatspräsident. Das durchgeführte Programm war erfolgreich, innerhalb von wenigen Jahren hatte Estland im Bereich der Kommunikationstechnik die meisten westeuropäischen Länder eingeholt, die Internetdichte in Estland nahm eine

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Weltspitzenstellung ein. Schon im September 2000 benutzten 35 Prozent der Bevölkerung das Internet (Vihalemm 2002, 42), 2006 war der Anteil schätzungsweise auf 60 Prozent gestiegen, 80 Prozent aller Bankgeschäfte wurden über das Internet abgewickelt. Die Regierung ist mittlerweile als »papierlose« Regierung bekannt, da der Informationsaustausch zwischen den Ministerien und während der Kabinettssitzungen ausschließlich elektronisch erfolgt, seit 2005 kann man auch bei den Kommunalwahlen per Mausklick seine Stimme abgeben. Innerhalb der Europäischen Union nahm Estland damit eine Spitzenposition ein. In vielen Lebensbereichen konnte man sich in Estland ein Leben ohne Computer nicht mehr vorstellen, und die Informationstechnologie ist ihrerseits auch ein wichtiger Erwerbszweig des kleinen Landes geworden, das arm an Rohstoffen ist und sich von der sowjetischen Großindustrie verabschiedet hatte. Fremdenverkehr und Dienstleistungen waren folgerichtig die Bereiche, in denen man sein Heil suchte. So ist es vielleicht kein Zufall, dass das weltweit bekannte Kommunikationsprogramm Skype in Estland entwickelt worden ist. Ebenso wenig kann überraschen, dass unter diesen Umständen ein Teil der Literatur fortan im virtuellen Raum stattfand. Der Kivisildnik-Skandal Kaum etwas veranschaulicht diesen Übergang besser als der erste größere Skandal in der postsowjetischen estnischen Literatur, der mit dem Dichter Sven Kivisildnik verbunden ist. Der hatte 1990 einen absurden Text fertig gestellt, der für eine Hirohall-Sondernummer (vgl. § 50) von Vikerkaar gedacht war, dort aber wegen seiner Radikalität auf Ablehnung stieß. Auch mehrere andere Printmedien, denen er den Text danach angeboten hatte, lehnten vorwiegend aus ästhetischen oder Pietätsgründen eine Veröffentlichung ab. Folglich verbreitete sich das Werk zunächst in Manuskriptform und erreichte eine gewisse Bekanntheit, so dass es sogar im Autorenlexikon von 1995 als zirkulierendes Manuskript und »obszöne Lexikonparodie« (EKRL 208) erwähnt wurde. 1996 konnte Kivisildnik dann etwas tun, was 1990 rein technisch noch nicht möglich gewesen war: Er veröffentlichte den Text auf seiner eigenen Homepage im Internet. Das Dokument mit dem Titel Eesti Nõukogude Kirjanike Liit – 1981. aasta seisuga, olulist (Der Sowjetestnische Schriftstellerverband – Stand von 1981, Wesentliches; mittlerweile veröffentlicht in Kivisildnik 2004, 747–756) war tatsächlich nichts weiter als ein alphabetisches Namenverzeichnis des Schriftstellerverbandes, das der Autor allerdings mit allerlei Zusätzen versehen hatte. Man kann sich lebhaft vorstellen – wie die Nachbemerkung des Autors suggeriert (Kivisildnik 2004, 756) –, dass Kivisildnik die Liste während eines Vortrags im Haus des Schriftstellerverban-

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des in Tartu in den Händen hielt und willkürlich darin herumkritzelte. Was dabei herauskam, war, dass hinter jedem Namen ein Kommentar stand, der in manchen Fällen obszön war, in anderen grob beleidigend, häufig aber auch nur abwegig, aberwitzig und abstrus. Da konnte zum Beispiel stehen »Spionin«, »könnte sich mal waschen«, »Wilder, wichtigster Vertreter der Wirbellosen«, »Transvestit«, »Schriftsteller mit einem Ei«, »Impotenter mit Videorekorder« oder einfach »Esel« sowie die private Telefonnummer. In den meisten Fällen bestand nicht der geringste Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Namen und den dahintergestellten Unflätigkeiten, aber trotzdem – bzw. vielleicht auch gerade deswegen – erregte der Text die Gemüter. Am schärfsten reagierten die beiden Tartuer Kollegen Aivo Lõhmus und Hando Runnel, und zwar wahrscheinlich nicht, weil sie in der Liste besonders grob angegangen worden wären, sondern weil es ihnen ums Prinzip ging und möglicherweise auch aus persönlicher Rache heraus, wie Kivisildnik selbst vermutete (Martson 2003b, 1372): Kivisildnik hatte Ende Mai gemeinsam mit Indrek Särg einen Vortrag über die Anfänge der estnischen Gay-Dichtung (Kivisildnik/Särg 1998) gehalten, in dem ausführlich auf die Dichtung von Hando Runnel eingegangen wurde. Das habe Runnel dermaßen missfallen, dass er den Vortrag verhindern wollte, was ihm aber nicht gelang. Deswegen habe er sich später mit der Erstattung einer Strafanzeige gerächt. Warum die bloße Unterstellung sexueller Normabweichung für manche Menschen beleidigend ist, soll hier nicht erörtert werden. Tatsache ist, dass Runnel und Lõhmus Anzeige erstatteten und die Tartuer Staatsanwaltschaft sich daraufhin genötigt sah, am 6. Juni 1996 ein Verfahren gegen Sven Kivisildnik wegen des Verdachts der Verbreitung von Verleumdungen einzuleiten. Wenige Tage später fand eine Hausdurchsuchung in Kivisildniks Atelier statt, in deren Verlauf sein Computer samt Modem, Notizbüchern und Disketten beschlagnahmt wurde. Kurz darauf wurde die Website geschlossen. Was nun folgte, war einerseits eine stürmische literarische Polemik, wie sie Estland bis dahin kaum gekannt hatte, andererseits eine Lehrstunde in moderner Literaturwissenschaft. Denn in seiner Not, den verfassungsmäßig garantierten freien Umgang mit dem Wort und die Freiheit der Künste gegenüber persönlicher Beleidigung juristisch abgrenzen zu müssen, wandte sich der Leiter der Untersuchungen an die literarische Öffentlichkeit mit der Bitte zu klären, ob es sich bei dem fraglichen Text um Literatur handele oder nicht: »Ich bin kein Fachmann auf dem Gebiet der Dichtung. Aber es ist eine Tatsache, dass ich ein solches Gedicht zum ersten Mal sehe.« (zit. nach Martson 2003b, 1373) Das ließ sich die literarische Öffentlichkeit nicht zweimal sagen, und in einer Flut von über 200 Beiträgen meldeten sich in kurzer Zeit

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zahlreiche Sachverständige zu Wort. Da wurde mit den verschiedensten Mitteln allen Ernstes nachzuweisen versucht, warum es sich bei Kivisildniks Liste sehr wohl um Literatur handelte oder warum sie ganz bestimmt keine Literatur war. Kaum jemand war sich dessen bewusst, dass man gerade in Begriff war, etwas zu Literatur zu machen. Das verstand vermutlich auch die Staatsanwaltschaft, die das Verfahren Anfang August in Ermangelung eines Straftatbestandes einstellte. Damit war Kivisildnik erst einmal aus dem Schneider, aber der Skandal hatte hohe Wellen geschlagen und die schreibende Zunft in Estland für längere Zeit in zwei Lager gespalten. Man fuhr schweres Geschütz auf, eine Tallinner Zeitung fragte sich spöttisch, ob man in Tartu wieder Sehnsucht nach der Zensur habe, und Jaan Kaplinski nannte Hando Runnel den neuen Ideologiesekretär in Tartu und Aivo Lõhmus seinen Gehilfen. Sie seien schlimmer als der KGB: »Die damaligen Partei- und Geheimdienstmitarbeiter schämten sich nach meiner Erfahrung ein wenig dessen, dass sie sich am staatlichen Psychoterror gegen die Intellektuellen beteiligten, und mieden Psychoterror auf der persönlichen Ebene. Was man leider von ihren Nachfolgern im Haus in der Vanemuine-Straße nicht behaupten kann.« (zit. nach Martson 2003b, 1375). Das Pikante hieran ist, dass das Literaturhaus in der VanemuineStraße in Tartu, das die Estnische Literaturgesellschaft gemeinsam mit dem Schriftstellerverband in den 1920er-Jahren erworben hatte (vgl. § 30), in sowjetischer Zeit Hauptsitz des KGB war. Als der Schriftstellerverband das Haus nach der Privatisierung 1992 wieder übernommen hatte, war eine gründliche Renovierung des Hauses einschließlich ritueller Teufelsaustreibung mit Wacholderrauch erfolgt (Kronberg 1999, 6). Das Gebäude nun in einem Atemzug mit KGB-Praktiken zu nennen, war starker Tobak und vergiftete die Atmosphäre für einige Zeit (zum Vorfall ausführlich Martson 2003b, ferner zum Text selbst Kalda 1996c, Pruul 1996, P. Viires 1997). Eine endgültige »Rehabilitation« erfolgte für Sven Kivisildnik, der zeitweise sogar Hausverbot in den Schriftstellerhäusern in Tartu und Tallinn hatte, erst zwei Jahre später: 1998 wurde er in den Estnischen Schriftstellerverband aufgenommen, nachdem er unermüdlich weiter publiziert hatte und seinem dicken Gedichtband Nagu härjale punane kärbseseen (Wie für den Stier der rote Fliegenpilz, 1996) einige kleinere Arbeiten hatte folgen lassen. Kivisildniks Gedichte sind häufig Spielereien mit vorhandenem Material, so besteht einmal ein ganzer Zyklus aus Versatzstücken aus Gedichten von Juhan Liiv. Damit ist er einer der konsequentesten Postmodernisten, der seine Aufgabe weniger in der Schöpfung neuen Materials, sondern in der Schöpfung neuer Zusammenhänge unter Verwendung altbekannten Materials sieht.

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Nach einer Pause von einigen Jahren publizierte Kivisildnik ab 2003 wieder verstärkt, allen voran sind seine knapp 1000 Seiten umfassenden Ausgewählte Werke, Teil I von 2004 zu nennen, bei denen es sich vermutlich erneut um eine Mystifikation handelt, der so schnell kein zweiter Teil folgen wird. Andererseits ist die Produktivität des als Reklametexter aktiven Autors groß, so dass ein bald folgender zweiter und womöglich doppelt so dicker Teil niemanden mehr überraschen würden. Kivisildniks Texte verhehlen selten ihre Herkunft aus dem journalistischen Milieu und wirken dadurch sehr zeit- und kontextgebunden. Auch die skandalöse Schriftstellerliste von 1990 entfaltete, als sie in den erwähnten Ausgewählten Werken erstmals gedruckt wurde, kaum noch eine Wirkung. Ihre Bedeutung hatte sie mit dem Wirbel von 1996 voll und ganz erfüllt. Das Netz als Literaturgenerator Bald nach dem Paukenschlag von Kivisildnik begann sich das Internet mehr und mehr für verschiedene literarischen Einrichtungen zu öffnen. Analog zum rasanten technischen Forschritt wuchs auch die Textmenge in atemberaubendem Tempo, so dass das Feld hier mittlerweile unüberschaubar ist, wenngleich sich einige Kategorisierungen vornehmen (vgl. P. Viires 2001 bzw. 2002) und Tendenzen aufzeigen lassen. Erwartungsgemäß warf sich mehrheitlich die jüngere Generation auf die neuen Publikationsmöglichkeiten, viele literarische Gruppierungen gestalteten ihre eigene Homepage, und für Anfängerinnen und Anfänger gibt es ein Portal, wo man alles loswerden kann und das den viel sagenden Namen www.adisain.ee/kloaak (Kloake) hat. Aber es sind auch Entwicklungen feststellbar, die darauf hinweisen, dass nach dem begeisterten Beginn eine gewisse Sättigung eingetreten ist und sich vielleicht sogar Ernüchterung breit macht: Im Frühjahr 2004 stellte der seit dem 25. März 2001 im Netz operierende Verlag Bahama Press seine Zeitschrift Bahama Post wieder ein, da es der Redaktion an Zeit mangelte und das Interesse beim Publikum offenbar nicht allzu groß war. Die recht erfolgreiche Sciencefiction-Site Algernon musste im Februar 2006 verkünden, dass die Februarnummer der ansonsten monatlich herauskommenden elektronischen Zeitschrift in Ermangelung veröffentlichungsfähigen Materials ausfällt. Auch der virtuelle Verlag Bahama Press, der Texte in pdf-Beständen zur Verfügung stellte, wurde nur noch auf Sparflamme weitergeführt. Neben alten, längst in Buchform erschienenen Texten von bekannten Autorinnen und Autoren wie etwa Jaan Kaplinski oder Doris Kareva fanden sich hier auch aktuellere und Debüttexte, die es in Papierform nicht gab. Dies betrifft zum Beispiel die im mp3-Format verfügbare Gedichtsammlung Silmus või sõlm

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(Schlaufe oder Knoten) von Jana Lepik, deren einzelne Bestandteile man sich herunterladen kann. Seit 2002, nach anderen Angaben seit Februar 2003 (Looming 3/2003, 472), war hier auch der Debütroman von Sass Henno zu lesen, der anschließend in den herkömmlichen Printmedien, zum Beispiel in Vikerkaar (6/2003), rezensiert wurde. Mit seinem zweiten Roman gewann Henno den Romanwettbewerb von 2004, Mina olin siin (Ich war hier, 2005) wurde daraufhin als Buch gedruckt und als erfolgreiches Autorendebüt von über einem Dutzend Rezensionen gefeiert. Das zeigt, dass die virtuelle Welt, die im geschäftlichen wie im privaten Bereich eine führende Rolle spielt, für die »echte« Literaturwelt nach wie vor eher als Vorbereitung betrachtet wird. Auch für die Tigersprunggesellschaft gilt einstweilen noch, was Piret Viires 2000 verkündete: »So, proceeding from the above, we may predict that in the future the most valuable reading device will be a traditional, ordinary book, printed on paper.« (P. Viires 2001, 235) Man sieht das auch daran, dass Anfang 2006 nur ca. 30 Autorinnen und Autoren eine eigene Homepage hatten, was für eine Gemeinschaft, deren Berufsverband allein schon knapp 300 Mitglieder umfasst, nicht gerade viel ist. Andererseits darf die Rolle des Internets für die Informationsbeschaffung und -verbreitung nicht unterschätzt werden. Zeitunglesen und Bücherkaufen erledigt man häufig am heimischen Computer, ganz zu schweigen von der Kommunikation per Email. Und die Zahl der Personen, die nur mit Bleistift und Papier geschriebene Gedichte für »echte« Gedichte hält, geht gegen Null: Texte werden mit Computern hergestellt. Diejenigen, die die gegenüber Bleistift und Papier veränderten Möglichkeiten der Computertechnologie auch literarisch nutzen, sind dabei jedoch immer noch deutlich in der Minderheit. Die oben erwähnte Sonettmaschine (s. § 48) von Märt Väljataga stand eine Zeit lang unter http://sonett.tm.ee im Internet, so dass man von den 1014 Möglichkeiten einige durchspielen konnte, was manuell nicht gegangen wäre, aber sie ist schon seit langem nicht mehr verfügbar. Ein anderes Beispiel ist Hasso Krulls Gedicht Trepp (Die Treppe, 1996), das auf dem Papier nicht nachzuvollziehen ist. Es befindet sich auf der Homepage des Instituts für estnische Sprache (www.eki.ee/kodud/ krull/trepp.htm) und ist ein waschechtes hypertextuelles Gedicht, das bei der Benutzung selbst erst entsteht: Nach der Eröffnungsseite klickt man sich zu einem ersten zwölfzeiligen Gedicht durch, bei dem zwei Wörter oder Wortgruppen unterstrichen sind, d.h. zum Weiterklicken verleiten. Hinter jedem der beiden Hyperlinks findet man einen anderen Text, der mal einen, mal zwei Links hat und auch farbig sein kann. Manchmal landet man wieder bei einem bekannten Stück, so dass man sich wie in einem Irrgarten im Kreise bewegt, bis man die Regelmäßigkeit erkennt und an der entscheidenden

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Stelle das andere Link wählt, mit dem man früher oder später immer ans Ende kommt. Es folgen zwei Fotos und schließlich ein schwarzer Kasten. Klickt man den an, beginnt das Gedicht wieder von vorne. Auf diese Weise entstehen in Gemeinschaftsarbeit von Autor und Internetbenutzer jeweils verschiedene Gedichte bzw. Poeme, was gegenüber der herkömmlichen, gedruckten Literatur tatsächlich eine neue Qualität darstellt. Auch wenn das Gedicht von Krull vielleicht ein genialer Einzelfall ist, zeigt es eine grundsätzliche qualitative Veränderung und Bereicherung an. Andere Nutzungsmöglichkeiten der modernen Technologie wurden verbunden mit allgemeiner Propaganda für Literatur. An einem Sonnabend im Februar 2003 fand in der Tartuer Universitätsbibliothek der erste »Literarische Arbeitseinsatz« statt, bei dem drei Personen eine Überschrift erhielten und anschließend zwei Stunden lang dazu einen Text erstellen mussten. Kaur Kender, Kerttu Rakke und Karl Martin Sinijärv ließen sich dabei vom Publikum über die Schulter schauen, denn der Text ihrer Computerbildschirme wurde in den Saal projiziert. Gleichzeitig konnten sie auch selbst voneinander abschreiben, wie an Kenders Text zu sehen ist, der ein Element von Rakkes Text übernommen hat. Die entstehenden Texte wurden von einem Kritiker kommentiert, und logischerweise wurde alles live im Internet übertragen. Im Anschluss daran folgte eine Diskussion mit dem Publikum, nach deren Ablauf das Buch gedruckt vorlag. Letzteres ist zwar eine schmeichelhafte Bezeichnung, da man lediglich die ausgedruckten DIN-A-4-Blätter zusammengeklebte und unter einem Deckel vereinte, so dass das Opus einer kleinen Examensarbeit glich, aber immerhin hatte man für eine ISBN-Nummer gesorgt, mithin bibliographische Spuren hinterlassen. Inhaltlich sind dabei drei Kurzgeschichten (ca. 800–1200 Wörter) herausgesprungen, die nicht einmal die große Eile verrieten, in der sie geschrieben waren, da sie von geübten Händen abgefasst waren. Das erfolgreiche Happening wurde sechs Wochen später mit Jüri Ehlvest, Sven Kivisildnik und Peeter Sauter wiederholt, im Sommer 2003 fand die dritte Veranstaltung dieser Art, diesmal in Tallinn, statt. Geschrieben werden sollte ein Kurzschauspiel, wozu sich Mart Kivastik, Andrus Kivirähk und Mati Unt bereit fanden – drei der seinerzeit bekanntesten Bühnenautoren. Auch wenn solche publikumswirksamen Unternehmungen vor allem als literarischer Gag einzustufen sind, zeigen sie doch, wie sich die Literatur den neuen technischen Möglichkeiten anpasste. Erwartungsgemäß blieb auch der Bereich der Literaturwissenschaft nicht unberührt von den neuen Entwicklungen. Die Zugänglichkeit der Hilfsmittel verbesserte sich sprunghaft, in einem Projekt der Nationalbibliothek wurden zahlreiche Zeitungen aus den Jahren 1857–1920 digitalisiert, so dass man heute per Mausklick kontrollieren kann, wie Lydia Koidulas Debüt

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denn nun genau ausgesehen hat. Ferner entstanden verschiedene Forschungen zur Intertextualität, die ohne die moderne Technik nicht denkbar gewesen wären (vgl. Laak 2001, 2003, 2004). Die Rückkehr zur Folklore Nicht nur als Folge der veränderten technischen Möglichkeiten, sondern auch als Konsequenz einer gewandelten Literaturauffassung ist schließlich die Entstehung eines neuen Genres zu verstehen: die so genannte Fanfiction, deren Anfänge man zwar schon im 19. Jahrhundert sehen kann, als zahllose Fans von Lewis Carroll Fortsetzungen zu dessen Erzählungen schrieben (vgl. P. Viires 2005, 226), deren echte Entfaltung sich aber erst im Internetzeitalter vollzog. Fortsetzungen wurden nun nicht mehr ausschließlich zu beliebten literarischen Texten verfasst, sondern auch zu Filmen, Fernsehserien, Musikgruppen oder -stars und Comics. Dabei verwischen – dies ist ein Zeichen der Globalisierung – die Grenzen freilich schnell, das neue Genre ist in erster Linie als internationales und daher vermutlich vorwiegend englischsprachiges Phänomen zu betrachten, und estnische Spezifika lassen sich so schnell nicht ausmachen. Es sei denn, man rechnet die – kaum zu quantifizierende – estnische Beteiligung am weltweiten Cyberspacezirkus dazu, die aber im vorliegenden Werk außer Betracht bleibt, da sie den estnischsprachigen Raum verlassen hat. Als estnischsprachige Spielarten der Fanfiction hat Piret Viires (2005, 231) lediglich die von Arnold Karu verfasste Fortsetzung von Oskar Luts’ Erfolgsroman Kevade (s. § 27) sowie mit Abstrichen das Aufsehen erregende Debüt von Hiram (vgl. § 51) ausmachen können. In Hirams Roman wird eine weitere Ebene eröffnet, indem die Autorin in dem ganz im Stile der Fanfiction geschriebenen Text auch das normalerweise reale Objekt der Fanfiction fiktional macht, d.h. überhaupt erst erschafft. Die von ihr beschriebene Musikband ist selbst schon Fiktion, und zwar eine im selben Text erzeugte Fiktion. Damit ist Hirams Roman noch eine Stufe hyperrealer als die herkömmliche Fanfiction, bei der es wenigstens noch eine real existierende Bezugsgröße gab. Wenn man berücksichtigt, dass Hirams Roman bereits 1999 erschienen ist, so kann dies als weiterer Beweis dafür angesehen werden, wie schnell die estnische Literatur sich den neuen Möglichkeiten angepasst hat. Dabei ist die Form der Fanfiction generell betrachtet interessanterweise eine Rückkehr zur alten Volksdichtung: Wenn man die für die Definition der alten estnischen Folklore verwendeten Wesensmerkmale – verbal, anonym, mündlich tradiert, variierend, international (vgl. § 5) – auf die zwei Jahrtausende später aktuelle Fanfiction anwendet, ergeben sich verblüffende Über-

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einstimmungen: Verbal ist auch der größte Teil der Fanfiction, sieht man von Zeichnungen oder Musikstücken ab, die ebenfalls hier und da ins Internet gestellt werden. Aber Melodien, Tänze und Volkskunst hatte es auch früher schon als eine Manifestation der Volkskunst gegeben. Sie waren im Interesse der Eingrenzung des Gegenstandes bei der Betrachtung der Folklore ausgesondert worden, und mit der gleichen Argumentation können sie das auch im Falle der Fanfiction. Der Anteil der nonverbalen Äußerungen wird heute nicht viel größer sein, sieht man von der erleichterten Übertragbarkeit von visuellen und auditiven Elementen ab. Anonym ist die Fanfiction in hohem Maße, da man im Internet völlig unerkannt auftreten kann und zudem viele Pseudonyme verwendet werden. Hinter einem Lied der Steinzeit steht ebenso eine konkrete Person wie hinter einem Internettext des 21. Jahrhunderts, nur kennen wir in beiden Fällen ihre Identität häufig nicht. Mündlich tradiert ist die Fanfiction nicht, aber man braucht nur das »mündlich« durch ein »elektronisch« zu ersetzen, um ein völlig analoges Kriterium zu erhalten. Tinte und Druckerschwärze werden in beiden Fällen nicht verwendet. Fixiert wurde die mündliche Dichtung erst durch eine spätere Aufzeichnung, und ebenso kann man einen Internettext fixieren, indem man ihn ausdruckt. Diese Fixierung erfolgt aber im Nachhinein, denn es darf angenommen werden, dass die Verfasserinnen und Verfasser von Internettexten ihre Texte prinzipiell auf dem Computer schreiben und dann – wenn überhaupt – ausdrucken. Sie haben sie nicht vorher auf einem Blatt Papier fixiert. Häufig wird das Ausdrucken aber den Rezipienten überlassen. Mit Abstrichen trifft das auch auf Kivisildniks Liste zu: Sie war vermutlich schriftlich entstanden, wurde dann aber nicht gedruckt und zirkulierte zuerst in ungedruckter Form, was im Zeitalter der Schriftlichkeit wohl als Variante der mündlichen Überlieferung gelten kann. Erst später – 2004 – wurde sie gedruckt. Da aber wies sie bereits Varianten auf, wie man anhand eines Zitats, das Kajar Pruul 1996 in einem Artikel verwendete (Pruul 1996, 72) und das in der Druckfassung (Kivisildnik 2004, 752) anders lautete, sehen kann (es betrifft den Eintrag zu Eno und Rein Raud, wo der Zeilensprung an verschiedener Stelle einsetzt – ein Abgleich mit dem Original im Internet ist heute nicht mehr möglich). Das führt unmittelbar zum nächsten Kriterium: Variierend ist auch die Fanfiction oder besser gesagt die elektronische Literatur ganz allgemein in hohem Maße, denn Väljatagas Sonettmaschine ist nur eine bestimmte Zeit lang im Netz gewesen, Kivisildniks Text wurde behördlicherseits konfisziert und verschwand ebenso, und Krulls Gedicht Trepp (s. o.) verändert sich stündlich nach Maßgabe der Personen, die seine Site anklicken. Bleibt das Kriterium international, das für die Internetliteratur in noch viel größerem Ausmaße zu-

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treffend ist als für die Volksdichtung. Wenn etwas international ist an der gegenwärtigen estnischen Literatur, dann ist es selbstredend der Teil, der sich im virtuellen Raum des Internets abspielt. Damit scheint sich, zumindest was einen Teil der Literatur betrifft, zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Kreis geschlossen zu haben. Die meisten Elemente der alten estnischen Volksdichtung finden sich – wenn auch teilweise in einer neuen Form, die den veränderten gesellschaftlichen und technischen Umständen Rechnung trägt – in der Gegenwartsliteratur des 21. Jahrhunderts wieder. Es ist sogar nicht von der Hand zu weisen, dass die Volksdichtung nie aufgehört hat, sondern immer weiter bestanden und sich bloß verändert und angepasst hat (vgl. Hennoste 2003b, 1149–1153), wie auch schon angesichts der Almanache in den 1960er-Jahren, als Paul-Eerik Rummo von einem »Wiederentstehen der Folklore« (vgl. § 42) gesprochen hatte, festgestellt werden konnte. So betrachtet ist das Internet auch keineswegs eine Bedrohung für die Literatur, wie bisweilen behauptet wird, sondern nur eine Fortsetzung der Literatur mit anderen Mitteln. Mehr noch: Es ist eine Bereicherung, da es den bisherigen Spielraum der estnischen Literatur um einen wesentlichen Aspekt erweitert. Im elektronischen Zeitalter eröffnen sich für die Akteure des literarischen Feldes von Estland neue Möglichkeiten für eine Beteiligung an der globalen Weltkultur. Wie auch 200 Jahre zuvor stellt sich dann die Frage, inwieweit es sich hier noch um eine estnischsprachige Kultur handelt, doch ist dies beim gegenwärtigen Stand der Dinge kein brennendes Problem. Anders als vor 200 Jahren besteht heute ein fest strukturiertes estnisches literarisches Feld mit allen Facetten, auf dem die elektronische Literatur letztendlich nur einen bescheidenen Platz, eine kleine alternative Spielwiese, einnimmt. Diese Spielwiese ist wichtig für die estnische Literatur, sie ist ein Beweis für die Aufgeschlossenheit, Veränderungsfähigkeit und Flexibilität der estnischen Literatur, aber ihre Gesamtbedeutung für sie ist – wie in anderen Ländern auch – immer noch relativ marginal. Nach wie vor zählt das Buch als Gradmesser für Literatur.

§ 53 Das literarische Leben im 21. Jahrhundert Die Herrschaft der Medien Die am Ende des letzten Kapitels konstruierte Parallele zwischen den frühesten Anfängen der estnischen Literatur und der gegenwärtigen Situation trifft auch auf die Printmedien im engeren Sinne zu. So wie sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Herausbildung einer eigenständigen est-

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nischen Literatur von großer Bedeutung waren, so nehmen sie auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine beherrschende Position ein. Rund zehn Jahre nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit hatte sich die Presselandschaft konsolidiert und konzentriert, die meisten Zeitungen und Zeitschriften befanden sich in den Händen von zwei Medienkonzernen, hinter denen norwegisches und schwedisches Kapital stand. Neben den beiden überregionalen Tageszeitungen Eesti Päevaleht und Postimees existierten ein auflagenstarkes Boulevardblatt und zwei überregionale Wochenzeitungen, Eesti Ekspress und Maaleht (Landzeitung). Letztere ist trotz ihres hinterwäldlerisch anmutenden Namens aus drei Gründen besonders hervorzuheben: Erstens ist sie die älteste noch bestehende unabhängige Zeitung, die gegen Ende der Sowjetzeit gegründet wurde, denn die erste Nummer erschien am 1. Oktober 1987, knapp zwei Jahre vor dem Eesti Ekspress. Zweitens ist sie die einzige Zeitung, die ausschließlich mit estnischem Kapital finanziert wird, wobei sie mit einer Auflage von ca. 50000 zu den am meisten verbreiteten Blättern gehört. Drittens ist die Wochenzeitung eine Art Geheimtipp für Intellektuelle, die an ihr schätzen, dass sie keinerlei Neigungen zum Regenbogenpressencharakter hat, wie man es bei den anderen Zeitungen feststellen kann; außerdem ist sie die einzige Zeitung, die Fortsetzungsgeschichten bringt und damit bewusst an die Tradition der frühen estnischen Presse anknüpft. Und schließlich ist auch die Konzentrierung auf das Landleben als Gegengewicht zur Stadt etwas, was viele Esten, so urbanisiert sie auch sein mögen, anspricht. Im Bereich der Publikumszeitschriften unterscheidet sich Estland nunmehr kaum noch vom Rest der Welt: Eine Klatschzeitschrift über die Schickeria wie Kroonika (Chronik) brachte es 2005 auf eine Auflagenhöhe von 45 000 Exemplaren. Lediglich die Auswahl der Fachblätter ist notgedrungen geringer, da sich nicht für jede Nische eine Zeitschrift rentiert. So findet man an den Kiosken auch finnische, deutsche und englische Fachmagazine. Worin sich Estland sehr wohl von den meisten westeuropäischen Staaten unterscheidet, ist der Bereich der kulturellen Zeitschriften. Die wichtigsten und angesehensten Publikationen werden nach wie vor staatlich finanziert, was allerdings nicht als sowjetisches Erbe zu betrachten ist, sondern der Einsicht folgt, dass bei einer Sprachgemeinschaft von weniger als einer Million die potenzielle Leserschaft entsprechend klein ist und keine Kulturzeitschrift auf kommerzieller Basis überleben könnte. Denn nach den astronomischen Werten zur Zeit der Singenden Revolution (vgl. § 47) waren die Auflagenhöhen in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wieder in den Bereich zwischen knapp 1000 und gut 2000 Exemplare abgesunken, was zwar immer noch eine stattliche Anzahl ist, eine alleinige Finanzierung über Abonnements jedoch ausschloss. Da die Kultur nach estnischem Selbstverständnis aber ein wichti-

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ger Bestandteil der estnischen Identität ist, herrscht im Lande ein breiter Konsens darüber, dass die öffentliche Hand hier unterstützend eingreifen muss. Für den literarischen Bereich betrifft das die Monatszeitschriften Akadeemia, Keel ja Kirjandus, Looming (gemeinsam mit der Buchreihe Loomingu Raamatukogu), Teater – Muusika – Kino und Vikerkaar sowie die Wochenzeitung Sirp (Die Sichel). Sie alle haben eine hauptamtliche Redaktion mit mehreren voll angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Bei Looming waren das 2006 beispielsweise neun Personen: Der Chefredakteur, sein Stellvertreter, eine Redakteurin für Belletristik, ein Redakteur für Kritik, ein weiterer Redakteur, eine Sprachkorrektorin, zwei Sekretärinnen und eine Putzfrau. Ähnliches trifft auf die genannten anderen Zeitschriften zu, so dass anno 2006 ca. zwei Dutzend der Schriftsteller und Schriftstellerinnen bei einer der Kulturzeitschriften in Lohn und Brot standen. Das Ansehen dieser Zeitschriften ist im Allgemeinen sehr hoch, eine Publikation in Looming zum Beispiel kann durch keinen noch so flotten Auftritt im Internet übertroffen werden. Ferner spielt eine Rolle, dass die Zeitschriften Honorare zahlen, was für die wirtschaftliche Lage der Autorinnen und Autoren ebenfalls wichtig ist. In dieser Hinsicht ist der Unterschied zu früheren Zeiten plötzlich ziemlich klein, das literarische Leben zeigt sich hier von einer recht konservativen Seite. Das betrifft auch die graphische Gestaltung, die zwar professionell, perfekt und ansprechend ist, sich aber nicht annähernd so stark von den Zuständen von vor 1991 unterscheidet wie der Rest des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens. Damit korrespondiert, dass diese Zeitschriften keine eigenen Internetseiten haben, sie bauen voll und ganz auf das gedruckte Produkt und propagieren eine gepflegte Lesekultur. Eine Ausnahme bildet Teater – Muusika – Kino, das über eine Website verfügt, die den vollständigen Text jeder Nummer im pdf-Format anbietet. Die literarischen Rahmenbedingungen Es gehört zu einem lebendigen Kulturbetrieb, dass immer wieder geklagt wird: niemand lese mehr, die Auflagen seien gesunken, das Theater befinde sich in der Krise und die Kulturschaffenden würden nicht genug verdienen. Das ist in Estland nicht anders, und es ist dort genau so falsch wie in den meisten anderen Ländern. Das einzig Wahre daran ist, dass die Buchauflagen erheblich gesunken sind, aber darüber zu klagen, hieße, sich nach den sowjetischen Verhältnissen zu sehnen, in denen unter Umständen nicht einmal jede Woche ein belletristisches Buch estnischer Originalliteratur herauskam, weswegen die Druckauflagen dann entsprechend hoch waren. Sie haben sich

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heute im normalen Bereich eingependelt und sind, wenn man sie in Relation zur Bevölkerung beispielsweise mit den Auflagen deutschsprachiger Bücher vergleicht, immer noch relativ hoch: Die Normalauflage für Prosawerke liegt etwas unter 1500, bei Lyriksammlungen beträgt die Auflage schätzungsweise 500 Exemplare, aber populäre Dichter wie Contra lassen schon einmal 2000 drucken und eine so berühmte Dichterin wie Doris Kareva auch 3000: Ihre letzte Sammlung von 2005 stand im Herbst des Jahres zeitweise auf Platz 1 der Bestsellerlisten, die die Buchhandlungen wöchentlich wie in anderen Ländern auch erstellen. Innerhalb weniger Monate waren alle Exemplare verkauft, so dass im Frühjahr 2006 bereits die dritte Auflage erschien. Wie hingebungsvoll dabei mit Literatur umgegangen wird, sieht man daran, dass dieser Gedichtband von Kareva mit einer Kordel ausgestattet war, die nicht maschinell hergestellt, sondern in abendlicher Heimarbeit von Mitarbeiterinnen des Verlags handgeflochten war. Die völlige Umkehr der sowjetischen Verhältnisse spiegelt sich in der abrupt gestiegenen Titelanzahl wieder. Die Literaturkritik, die sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch in der Sowjetzeit daran gewohnt war, am Ende eines jeden Jahres nach Genre unterteilt Jahresüberblicke zu schreiben, begann darüber zu klagen, dass das Angebot unüberschaubar geworden sei. Tatsächlich gab es während der Sowjetzeit Personen, die wirklich jeden neuen estnischen Originaltext eines Genres gelesen hatten. Daran war nun nicht mehr zu denken. Eine statistische Erhebung für die Jahre 2001 und 2002 weist aus, das jedes Jahr 220 Titel estnischer Originalliteratur erschienen sind – Kinder- und Jugendliteratur, Essayistik, Reisebücher, Memoiren u. Ä. nicht mitgerechnet (Kõnno 2006, 43). Dies führte insofern zu einer »Normalisierung« des Literaturbetriebs, als von nun an den herkömmlichen und vertrauten Bewertungskriterien erst einmal Auswahlkriterien vorgeschaltet werden mussten. Mit anderen Worten: Die üblichen Selektionsmechanismen des literarischen Feldes begannen zu funktionieren. Die größte Rolle spielten hierbei die oben erwähnten Zeitschriften und Zeitungen. Was in ihnen nicht rezensiert wurde, hatte eine schlechtere Ausgangsposition auf dem Weg zur Anerkennung als Literatur. Das betraf deutlich über die Hälfte aller Werke, wie aus der genannten Studie für die Jahre 2001 und 2002 hervorgeht, und nicht ausschließlich Debüte, auch von etablierten Autorinnen und Autoren konnte eine Neuerscheinung unberücksichtigt bleiben. Die Mehrheit betraf jedoch Neulinge, die sich – bis zu ihrer Entdeckung durch die maßgeblichen Medien oder andere Instanzen wie zum Beispiel Literaturwettbewerbe – mit dem Status des Amateurs zufriedenstellen mussten (s. Annuk 2004). Eine solche Entdeckung war der schon etwas ältere Erik Tohvri, der 2001 mit einem Roman debütierte und zunächst in

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der langen Reihe der nicht rezensierten Erstlinge auftauchte (Kõnno 2006, 52); drei Jahre später wurde er als Autor von neun (!) Romanen in den Schriftstellerverband aufgenommen. Ein nicht zu unterschätzendes Kriterium für die Verbreitung von Literatur ist aber auch die rein materielle Seite. Trotz aller großzügigen Förderung konnte es nicht ausbleiben, dass die Buchpreise angesichts der geringen Auflagen in die Höhe schnellten, was die Zugänglichkeit zur Literatur empfindlich einschränkte. Wenn oben gesagt wurde, dass es zu sowjetischen Zeiten Personen gab, die eine ganze Jahresproduktion überblicken konnten, so bedeutete das gleichzeitig, dass sie diese Bücher auch alle kaufen konnten. Auch daran war nun nicht mehr zu denken, weil proportional zur gestiegen Titelanzahl der Einzelpreis eines Buches um ein Vielfaches gestiegen war. Niemand konnte sich noch allzu viele Bücher leisten, worüber in der Presse auch regelmäßig geklagt wurde. Es war daher nicht verwunderlich, dass Ende 2005 eine der größten estnischen Zeitungen, Päevaleht, eine Buchserie ins Leben rief, innerhalb derer jeden Sonnabend für 65 Kronen (ca. 4,40 €) ein Buch herausgegeben wurde, insgesamt 30 Bücher bis Mai 2006. Neben Klassikern aus der Weltliteratur befanden sich mit Büchern von Karl Ristikivi, Albert Kivikas, Oskar Luts und Eduard Vilde auch vier Romane estnischer Autoren darunter. Der Preis betrug etwa ein Drittel einer normalen estnischen Neuerscheinung. Auch wenn es sich hierbei nur um eine weitere Werbeaktion des Päevaleht gehandelt haben mag, um dem Konkurrenten Postimees Abonnements abspenstig zu machen – begründet wurde die Aktion mit der Notwendigkeit, Literatur wieder bezahlbar zu machen und unters Volk zu bringen. Aus den hohen Buchpreisen ergibt sich, dass die Einkünfte der Autorinnen und Autoren entsprechend gesunken sind. Um dies teilweise zu kompensieren, wurde 2004 eine der Deutschen Verwertungsgesellschaft Wort vergleichbare Stiftung gegründet, die mit Mitteln aus dem Staatshaushalt ausgestattet ist. Auf Basis der Ausleihzahlen in den Öffentlichen Bibliotheken nimmt diese Stiftung Ausschüttungen an Autorinnen und Autoren vor, sofern sie einen Antrag gestellt haben. Aber nicht nur sie kommen in den Genuss dieser Förderung, auch wer ein Buch übersetzt, gestaltet oder illustriert hat, kann sich bei der Stiftung anmelden. Bei der ersten Ausschüttung im Sommer 2004 stand, was die Höhe der ausgeschütteten Summe betraf, nach einer Übersetzerin aus dem Englischen mit Mari Kaljuste eine bekannte Buchgestalterin auf dem zweiten Platz. Unter den ersten zehn waren mit Vladimir Beekman, er auch in seiner Eigenschaft als Übersetzer, Jaan Kross und Andrus Kivirähk drei Schriftsteller. Ein Jahr später hatte das Parlament den jährlich pro Person auszuschüttenden Höchstbetrag auf vier Durchschnittsmonatsgehälter festgesetzt, was dazu führte, dass die ersten sechs – darunter

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erneut Beekman und Kross – dieselbe Summe erhielten, da sie die Obergrenze erreicht hatten. Wie sehr sich der estnische Literaturmarkt an das westliche Modell angepasst und sich dort regelrecht eingeklinkt hat, beweist schließlich das Beispiel von Harry Potter. Wie in anderen europäischen Ländern auch, wird ein neues Buch der englischen Erfolgsautorin jeweils zweimal gefeiert: Wenn es im Original erscheint, und wenn die Übersetzung vorliegt. Der sechste Teil der Harry Potter-Serie erschien in Großbritannien bzw. wurde weltweit ausgeliefert am 16. Juli 2005, am 1. Oktober lagen die deutsche und die französische Übersetzung in den Buchhandlungen, am 19. November kam die niederländische Ausgabe heraus, und am 26. November folgte die estnische, die damit der russischen, die eine Woche später kam, um eine Nasenlänge voraus war. In Lettland und Litauen mussten die Menschen bis zum 3. Februar 2006 auf ihren sechsten Harry Potter warten, und in Finnland gar bis zum 16. März 2006. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wies Estland, ähnlich der Situation in der Zwischenkriegszeit, eine der höchsten Pro-Kopf-Buchproduktionen der Welt auf und ist hierin den skandinavischen Ländern vergleichbar: Mit ca. 2500 Titeln pro einer Million Einwohner hält es sich mit Finnland die Waage, Norwegen und Schweden lässt es weit hinter sich, nur von Dänemark sowie dem in solchen Statistiken außer Konkurrenz laufenden Island muss es sich übertrumpfen lassen. Der Abstand zu bevölkerungsreichen Ländern wie Deutschland oder Russland ist nicht überraschend, aber auffällig ist, dass die Pro-Kopf-Buchproduktion doppelt so hoch wie in Lettland oder Litauen ist (s. Tart 2005, 12). Prosa Die enorme Bedeutung und Medienpräsenz der übersetzten Literatur – dies betrifft neben der Belletristik auch philosophische Texte, die erstmalig in großem Stil ins Estnische übertragen wurden – ist einer der Hauptunterschiede gegenüber der Vergangenheit. Diese verstärkte Rezeption hat zu einer Schwerpunktverlagerung bei einigen Genres geführt, die vorher gar nicht oder nur marginal vorhanden waren und nun vielfältige Blüten treiben. Das trifft auf den Boom der Fantasy- und Horrorliteratur zu, ebenso hat das Genre der leichten Unterhaltungsliteratur starken Zulauf bekommen. Hiermit wurde eine Tradition wieder aufgenommen, die es seit dem 19. Jahrhundert gegeben hatte (vgl. § 14). Im Gegensatz zur damaligen Zeit wurde nun allerdings weit weniger auf fremdsprachige Vorbilder und die Adaptionstechnik zurückgegriffen, sondern mehr Eigenständiges geboten, was eine Zunahme an estnischem Lokalkolorit mit sich brachte.

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Die – ohnehin nicht scharf abzugrenzende – Unterhaltungsliteratur wird oft in die »Frauenecke« abgeschoben, weil soziologische Untersuchungen ergeben haben, dass Frauen diese Art von Literatur besonders viel lesen, und weil diese Literatur in der Mehrheit auch von Frauen verfasst sei, es sich mithin um Literatur »von Frauen für Frauen« handele. Im Estnischen gibt es dafür seit Beginn der 1990er-Jahre die Bezeichnung naistekas (etwa: ›Frauenroman‹, vgl. Veidemann 2005a). Eine solche Einteilung auf Grundlage des Geschlechts ist unnötig und auch unsinnig. Frauen lesen unabhängig vom Genre generell mehr als Männer, aber Frauen dichten zum Beispiel auch mehr, sie übersetzen mehr etc. In all diesen Fällen weist niemand auf das Geschlecht hin, nur wenn es um vermeintlich minderwertige Literatur geht, wird plötzlich das Geschlecht herangezogen. Außerdem wird dabei übersehen, dass im Bereich der Unterhaltungsliteratur auch Männer anzutreffen sind, wie die Beispiele von Kender (s. § 50) und Sauter (s. § 49) zeigen. Das Gleiche trifft auf Leo Kunnas zu, dessen Sõdurjumala teener (Der Diener des Kriegsgotts, 2001) ein martialischer Entwicklungsroman ist, dem es an melodramatischen Einsprengseln nicht fehlt. Als Paradebeispiel des naistekas-Genres, das man also besser als eine Spielart der Alltagsliteratur (olmekirjandus, vgl. § 41) ansehen kann, wird häufig Kerttu Rakke angeführt, die selbst mit der Bezeichnung kokettiert und sie schon mal als Untertitel oder Genrebezeichnung für ihre Bücher verwendet. Rakke hatte 1989 in Vikerkaar debütiert, ihr erstes Buch ließ aber über zehn Jahre auf sich warten. Seit 2000 publizierte sie dann innerhalb von drei Jahren sechs Bücher mit Erzählungen und Romanen. Alle ihre Werke zeichnen sich aus durch eine lockere Sprache in offenem und umgangssprachlichem Ton, im Zentrum des Geschehens stehen junge Frauen und zu einem Großteil ihr Sexualleben, aber nicht ausschließlich. Die Handlung ist intrigenreich und spannend. Ihre Werke sind aufgrund ihrer treuen Wiedergabe des Gegenwartsalltags als realistisch, aufgrund ihrer manchmal drastischen Beschreibung eben dieser Gegenwart auch als naturalistisch beschrieben worden, was angesichts der Betonung der Umgangssprachlichkeit in der Tat seine Berechtigung hat. Rakkes Bücher sind erfolgreich, weil sie eine Lücke in der estnischen Literaturlandschaft schließen, die Kati Murutar 1992 mit ihrem Debüt geöffnet hatte (vgl. § 49), die aber seitdem verwaist und Übersetzungsromanen überlassen worden war. Kerttu Rakke nimmt sich der zeitgenössischen estnischen Frau an und behandelt diese, anders als Murutar, nicht im studentischen, sondern im Großstadtmilieu. In den anderen Prosabereichen setzten sich im 21. Jahrhundert dieselben Strömungen fort, die sich in den ersten zehn Jahren der neuen Unabhängigkeit herauskristallisiert hatten. Weiterhin lag ein Schwerpunkt auf autobio-

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graphischer und Entwicklungsprosa, und die Sciencefiction-Literatur blühte. Als breiter werdender roter Faden schlängelte sich nun auch der Humor durch die estnische Literatur, teilweise vermengt mit skurril-esoterischen Elementen, wie dies bei Ehlvest und Heinsaar der Fall ist. Hauptvertreter dieses Genres ist Andrus Kivirähk, der gleichzeitig Markenzeichen und Maßstab geworden ist. Die viel versprechendsten Debüts im Bereich der Kurzprosa stammten von Jan Kaus und Urmas Vadi. Kaus debütierte 2000 mit dem Novellenband Üle ja ümber (Drüber und drumherum) und hat danach einen Roman, eine weitere Novellensammlung und Essays publiziert. Darüber hinaus ist er als Kritiker aktiv und wurde 2004 zum Vorsitzenden des Estnischen Schriftstellerverbandes gewählt. In seinen Erzählungen finden sich häufig Anspielungen auf aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen, so dass man manche als Satire auf die neue Generation von Politikerinnen und Politikern lesen kann. In Kaus’ zweiter Sammlung, Õndsate tund (Die Stunde der Seligen, 2003), sind Spuren der Internetkultur sichtbar, da ein Text hier im Stile der Websites von estnischen Zeitungen, bei denen man die Artikel kommentieren kann und ebenso diese Kommentare wiederum kommentieren kann, aufgebaut ist. Der Wechsel zwischen den Genres – 2005 veröffentlichte der Autor auch einen Gedichtband – geht bei Kaus noch weiter: Er ist auch als Maler aktiv. Von Urmas Vadi erschien die erste Novellensammlung 1999, der 2002 eine zweite folgte. Daneben hat der Autor auch Schauspiele veröffentlicht. Vadis Erzählungen erinnern in ihrer seltsamen Doppelbödigkeit an Ehlvest und Heinsaar. Auch Vadi spielt mit Mythen und besticht durch starke erste Sätze wie zum Beispiel »Einmal schlief ich zufällig in unmittelbarer Nähe eines Kühlschranks«, womit sein zweiter Novellenband Unetute ralli (Rally der Schlaflosen, 2002) eröffnet. Vadi und Kaus zeigen, dass die traditionell starke Kurzprosa in Estland weiterhin gepflegt und geliebt wird, auch wenn der Traum, mit einem dicken Roman zu debütieren, wie gehabt in den Köpfen vieler herumspukt. Ein solches Romandebüt gelang vielleicht Lauri Pilter 2004 mit Lohejas pilv (Die Drachenwolke), obwohl es sich auch hierbei, wie der Untertitel ehrlich eingesteht, um einen »Roman in Kurzgeschichten« handelt, von denen einige zudem bereits vorher in Zeitschriften erschienen waren. Trotzdem wurde das Buch begeistert aufgenommen und mit dem Debütpreis des Jahres ausgezeichnet. Pilter, der sich als Übersetzer aus dem Englischen viel mit britischer und amerikanischer Literatur beschäftigt hat, legte hier eine Art Entwicklungsroman vor, in dem er unter anderem von der Obsession der Hauptperson, Jude werden zu wollen, erzählt. Allein durch die intensive Befassung mit dem Judentum war dieses Buch etwas Besonderes, da diese Dimension in

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der estnischen Literatur bislang weitgehend fehlte. Bislang konnte man allenfalls hier und da Spuren eines diffusen Antisemitismus ausmachen, wie es bei anderen Debütanten der Jahrhundertwende der Fall war (vgl. § 50). Mit Pilter kam eine neue, differenzierte und die internationale Verwobenheit betonende Stimme in die estnische Prosa. Die zweite auffällige Persönlichkeit neben Pilter war Aarne Ruben, der schon 1993 in einer Kassette debütiert hatte, aber erst 2001 mit einem Roman seinen Durchbruch erlebte. Sein Volta annab kaeblikku vilet (Volta heult kläglich – Volta ist der Name einer Tallinner Fabrik, und das Heulen der Sirenen bezieht sich auf die Streiks von 1905) gewann den Romanwettbewerb von 2000 und wurde als neoavantgardistische Darstellung der estnischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts begrüßt. In einer bunten Textcollage gelang es dem Autor, die zahlreichen literarischen Darstellungen der Revolution von 1905 um den postmodernen Aspekt zu bereichern. Auch Rubens zweiter Roman, Elajas trepi eelastmel (Die Bestie auf dem Treppenabsatz, 2004) beschäftigte sich mit der Vergangenheit, entfernte sich aber in Raum und Zeit noch mehr: Hier ist die Handlung verlegt ins 15. Jahrhundert, und sie spielt an verschiedenen Orten Mittel- und Westeuropas, wo ein aus dem historischen Livland stammender Adliger seine Studien treibt. Rubens Verbindung von historischen Themen mit unkonventionellen Techniken war eine Neuheit in der estnischen Literatur jener Jahre. Es waren nicht nur die waschechten Debüts, die Anfang des 21. Jahrhunderts bedeutsam waren. Rein Raud, der als Teenager mit Prosatexten aufgefallen war und Anfang der 1980er-Jahre mit einem Gedichtband debütiert hatte, publizierte 2004 den Roman Hector ja Bernard (H. und B.), der gleichermaßen als philosophischer und als Liebesroman auf ein positives Echo stieß. Raud ist Professor für Japanologie an der Universität von Helsinki und ebenso im Tallinner Hochschulwesen engagiert, 2006 wurde er zum Rektor der Universität von Tallinn – wie die ehemalige Pädagogische Hochschule der Hauptstadt nach ihrer Vereinigung mit der Technischen Hochschule und anderen höheren Bildungseinrichtungen zum Leidwesen der Tartuer mittlerweile heißt – gewählt. Ähnlich Kaplinski steht Raud für die Einbringung des asiatischen Elements in die estnische Kultur, ohne dabei die abendländische Tradition zu vergessen. Rauds Bücher haben eine größere und längere Wirkung, als manch lautstarkes Debüt es haben wird, auch wenn Letzteren eine rosige Zukunft prophezeit wird. Es gehört ja nur zur altbekannten Taktik der nachrückenden Generationen, dass man sich selbst als etwas Besonderes herausstreicht, wobei man zum Aufbau eines Mythos auch Halbwahrheiten nicht scheut. So stilisiert Priit Kruus, selbst ein junger Nachwuchsdichter, in einem Artikel mit der pro-

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grammatischen Überschrift Future Classics Mihkel Samarüütel zu einer »underground figure«, dessen Bücher nicht rezensiert werden, »because he himself has banned it [das Rezensieren seiner Bücher, CH]« (P. Kruus 2005, 9). Das hat mit der Wahrheit nichts zu tun, da zu beiden vorliegenden Büchern von Samarüütel Rezensionen in den führenden Zeitschriften Looming und Vikerkaar erschienen sind. Ebenso aberwitzig ist die Überschrift »Wimberg ist noch nicht Tammsaare« zu einem Nachwort von Wimbergs Romandebüt von 2002, die den Autor mit einem Schlag in den Kontext des literarischen Parnass katapultieren soll. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass der estnische Literaturbetrieb sich im 21. Jahrhundert in vielen Details dem des übrigen Europa ähnelte, so ist er hiermit gegeben: Klappern gehört zum Geschäft, aber wer am lautesten klappert, muss noch lange nicht der beste sein. Theater Das Theater hat sich nach dem Kõiv-Jahrzehnt keineswegs auf seinen Lorbeeren ausgeruht, sondern mit voller Kraft weiter entwickelt. Neben den erwähnten Hauptakteuren auf dem Feld der Bühnenliteratur – Karusoo, Kivirähk, Kõiv und Tätte (vgl. § 51) – tummelten sich die verschiedensten Texte, Inszenierungen und allerlei künstlerische Mischformen auf diesem Gebiet. Von Mati Unt kam 2001 die Textcollage Graal (Der Gral) auf die Bühne des Tallinner Von-Krahl-Theaters, das sich als Avantgardetheater einen Namen gemacht hatte. Unts Text orientierte sich an der Arthur-Sage und war ein virtuoses Spektakel, dessen Charakter man auch ohne es gesehen zu haben der später erschienenen Druckfassung entnehmen kann. Dort lautet der Untertitel »Epos für das Von-Krahl-Theater in 74 Szenen«, und im Vorwort des Autors heißt es: »Der vorliegende Text stellt die letzte Variante des Schauspiels von meiner Hand dar, die ich Peeter Jalakas [d.i. der Regisseur, CH] ausgehändigt habe – mit der Erlaubnis, dass er es 1) kürzen, 2) erweitern oder 3) verändern kann, wie er will. Peeter tat das auch, nach meinem Verständnis in alle drei Richtungen, sowohl für ihn als auch für mich befriedigend, wie sich das während der Uraufführung im Von-Krahl-Theater am 11. März 2001 auch zeigte.« (M. Unt 2001, 5) Unts weitere Inszenierungen nahmen sich Bulgakovs Meister und Margarita und einmal mehr die klassische griechische Dramatik vor; im Endergebnis lagen damit aber wieder eigenständige Texte von Unt vor, so dass sie später separat veröffentlicht wurden wie etwa der postum erschienene Text Vend Antigone, ema Oidipus (Bruder Antigone, Mutter Ödipus, 2006). Zu einem beständigen Autor der estnischen Bühnen hat sich Mart Kivastik gemausert, der mit Prosa debütiert hatte, sich danach aber zusehends dra-

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matischen Texten zuwandte und auch Filmdrehbücher schrieb. Seine Stücke sind wortgewaltige Eruptionen eines Bohemiens, denen absurde Elemente nicht fehlen. Im Kontrast dazu stehen die auf hohem intellektuellem Niveau angesiedelten Dramen von Jaan Undusk. Goodbye, Vienna (Gertrud) (1999) spielt im Wien der 1990er-Jahre, lässt aber unbekümmert einen Herrn Nietzsche auftreten – was insofern nicht überraschend ist, als Undusk einige Jahre zuvor die erste Übersetzung von Nietzsche ins Estnische vorgelegt hatte; Quevedo (2003) behandelt den spanischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts; Boulgakoff (2006) ist eine Hommage an Mati Unt und widmet sich der russischen Kultur der 1930er-Jahre. Gerade an Undusks Stücken, bei dem alle Register der europäischen Geistesgeschichte gezogen wurden, wird die große Amplitude, die das estnische Geistesleben zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreicht hatte, deutlich. Auch im Bereich der Bühnenliteratur hatte man die Grenzen Estlands längst hinter sich gelassen. Dichten, dichten, dichten Die wahre Leidenschaft der Esten liegt aber, was die Literatur betrifft, zweifellos bei der Dichtkunst. In diesem Bereich sind sie auch ihrer Selbsteinschätzung zufolge in ihrem Element. Paul-Eerik Rummo betrachtet den Dichtungstrieb seiner Landsleute sogar als sozialpsychologisches Problem, bei dessen näherer Erforschung man noch das eine oder andere über das Volk erfahren würde (P.-E. Rummo 2003a, 389). Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sei aber darauf hingewiesen, dass die Prozentzahlen sich hier nicht wesentlich vom Isländischen oder Finnischen unterscheiden (Tart 2002, 69). In allen drei Ländern beträgt der Anteil der Gedichtbände an der gesamten Buchproduktion ungefähr vier Prozent. Das hängt mit der relativen Isolation der Sprachen zusammen, im angelsächsischen Raum wird nur halb so viel gedichtet. Die ungebrochene Lyrikbegeisterung ist gut dokumentiert in einer Doktorarbeit von 2002, in der Indrek Tart, der selbst – das ist Ehrensache – 1981 einen Gedichtband unter dem Pseudonym Julius Ürt zu Buche stehen hat, anhand von zahlreichen Tabellen und Schaubildern die Verbreitung der Lyrik in Estland beschreibt. Demzufolge lassen sich für den Zeitraum 1638– 2000 insgesamt 4132 Gedichtbände in Estland nachweisen – einschließlich Anthologien, Kinderliteratur und Neuauflagen, aber ohne die anonyme Volksdichtung und die ins Estnische übersetzte Lyrik, die etwa 15 % aller auf Estnisch verlegten Dichtung ausmachte (Tart 2002, 82). An Autorinnen und Autoren zählte Tart 933. Besonders beeindruckend ist die Flut im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als von den 440 Personen, die Gedichte publiziert haben, sage und schreibe 290 mit ihrem Debüt kamen (Tart 2002,

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156). Dieser Trend setzte sich ungebremst zu Beginn des 21. Jahrhunderts fort, in dem nach wie vor alle zwei Wochen ein Gedichtdebüt erfolgte, 56 Debüts für die Jahre 2001 und 2002 (Kõnno 2006, 46). Dabei darf nicht vergessen werden, dass viele der »Alten« ganz normal weiterdichteten. So kamen 2005 beispielsweise neue Sammlungen von Jaan Kaplinski, Doris Kareva, Eeva Park und Hando Runnel heraus, um nur einige zu nennen. Auch die in früheren Paragraphen dieses Kapitels behandelten Hasso Krull, Triin Soomets und Elo Viiding (§ 48) sowie die Ethnofuturisten Kauksi Ülle, Karl Martin Sinijärv (§ 50) oder Sven Kivisildnik (§ 52) haben die Grenzen ihrer Kreativität und Produktivität noch lange nicht erreicht. Zu ihnen gesellen sich kontinuierlich neue Stimmen, die sich auf dem immer unübersichtlicher werdenden Feld zu behaupten suchen. Ein probates Mittel, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und sich Gehör zu verschaffen, ist die Gruppenbildung, wobei man sich in Form von Almanachen günstigere Publikationsmöglichkeiten schafft. Spezielle Vereinigungen für den Nachwuchs gab es auch zu sowjetischen Zeiten, und im Prinzip verfügte der Schriftstellerverband danach immer noch über seine Jugendorganisationen, aber naturgemäß drängten nun viele lieber ohne jeglichen offiziell anmutenden Anstrich an die Öffentlichkeit. Das hatte mit Hirohall (vgl. § 50) begonnen, die mit deswegen gegründet wurde, weil die Tartuer Jugendorganisation damals eingeschlafen war. Hirohall erlangte schnell eine herausragende Stellung, weil sie die ersten waren und die Leere ausfüllen konnten, die zu einem gewissen Grade in der Stagnationszeit entstanden war. Ein Dutzend Jahre später war das anders. Die sich nun bildenden Gruppen stießen auf ein »volles« literarisches Feld, auf dem sich die verschiedensten Generationen tummelten, weswegen man ihnen bisher nicht die Wirkung attestieren kann, die die eine oder andere Gruppe in der älteren estnischen Literaturgeschichte hat. Die neuen Gruppen veranstalteten zwar gemeinsame Literaturabende und publizierten Sammelbände, aber das Ziel war meistens doch ein eigenes Buch und der individuelle Durchbruch. Eine der wichtigsten Gruppierungen war die 1996 in Tartuer Studentenkreisen ins Leben gerufene Vereinigung Erakkond, die schon von der Namensgebung her den Schwerpunkt auf das Individuelle legte und im Übrigen auch auf ein gemeinsames Manifest verzichtet hatte: Erakkond vermischt das estnische Wort für ›(politische) Partei‹, erakond, mit dem Wort für ›Eremit/in‹, erak, und ist damit eine Contradictio in terminis, da man es mit ›Eremitschaft‹ übersetzen müsste. Sie bestand aus einem knappen Dutzend Personen und veranstaltete 1996 und 1997 einige Aufsehen erregende Literaturabende in Tartu, 1997 und 1999 publizierte sie jeweils einen Sammelband mit vorwiegend Gedichten. Als zwei wichtige Prosaisten gehörten der erwähnte Me-

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his Heinsaar (s. § 51) und Berk Vaher zu der Gruppe. Vaher publizierte einige Novellensammlungen und einen Roman und gehört aufgrund seiner Aktivität als Kritiker, Übersetzer aus dem Englischen, Universitätslektor, Redakteur einer elektronischen Literaturzeitschrift und Herausgeber der alternativen Zeitschrift Vihik (Heft) zu den wichtigsten Gestaltern des literarischen Lebens. Seit 2005 ist er Vorsitzender der Tartuer Abteilung des Estnischen Schriftstellerverbandes. Von den aus Erakkond hervorgegangenen Dichtern sind Aare Pilv und Kalju Kruusa zu erwähnen, die wichtigste Dichterin ist Kristiina Ehin. Von Pilv erschien bereits 1996 eine erste eigene Gedichtsammlung, der 1998, 1999 und 2002 weitere folgten. Außerdem ist er als Kritiker und Literaturwissenschaftler aktiv. Seine Lyrik ist denn auch die eines Spezialisten und Wissenschaftlers, die sich viel eher auf der philosophischen als auf der Gefühlsebene bewegt. Kalju Kruusa dagegen geht viel spielerischer mit der Sprache um, verwendet eine unkonventionelle Orthographie und weidet sich an Neologismen und Fremdwörtern. Seine Debütsammlung von 1999 enthält neben Übersetzungen aus dem Italienischen auch Übersetzungen aus dem Estnischen in Fremdsprachen: Kruusa übersetzte Gedichte seiner Gruppenkollegen Lauri Sommer ins Finnische und Aare Pilv ins Englische. Als bedeutsamste aus diese Gruppe hervorgegangene poetische Begabung ist Kristiina Ehin anzusehen, die 2005 ihren vierten Gedichtband vorlegte und mit ihrer Verquickung von Alltag, Natur und metaphysischer Tiefe einen eigenen Stil gefunden hat. Für ihren letzten Gedichtband Kaitseala (Schutzgebiet, 2005) zog sie sich für ein halbes Jahr auf eine unbewohnte Insel in der Ostsee zurück, um dort sich selbst und der Natur ausgesetzt zu schreiben. Der aufwendig gestaltete Gedichtband enthält Tagebuchfragmente und teils gereimte, teils reimlose Gedichte, die prinzipiell zentriert gesetzt sind, wodurch sie eine besondere Harmonie erzeugen: nägin unes piletiputkat ühe bussipeatuse ees kus piletite asemel müüdi linnusulgi ja müüja oli … vana mees varakevadine päike silmas ja teile preili … ütles ta aeglaselt ja võttis kuskilt ukse kõrvalt kus võinuksid seista prügiämber ja luud

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veel ühe sule valge ja koheva kerge ja sama kõrge nagu ta ise maksin ja läksin une poristes bussides uskumata ärkamist kartmata kontrolle (Ehin 2005, 87; Ich träumte / von einem Fahrkartenkiosk / vor einer Bushaltestelle wo / anstelle von Fahrkarten Vogelfedern verkauft wurden // und der Verkäufer war … / ein alter Mann / in dessen Augen die Sonne des Vorfrühlings blinkte / und für Sie mein Fräulein … / sagte er langsam / und griff irgendwo neben der Tür / wo man Mülleimer und Besen / erwartet hätte / nach noch einer Feder / weiß und flaumig / leicht und ebenso groß / wie er selbst // ich bezahlte und ging fort / in den schmutzigen Bussen des Schlafs / ohne an ein Erwachen zu glauben / ohne eine Kontrolle zu fürchten)

Eine Verbindung zwischen Erakkond und der seit 1998 in Tallinn bestehenden Gruppierung Õigem Valem (Richtiger, falscher bzw.: Die richtigere Formel) besteht in der Person von Kalju Kruusa. Zu Letzterer gehörten ferner Jan Kaus (s.o.), die Dichterin Fagira D. Morti und der Dichter Juku-Kalle Raid hierzu. Von der Gruppe liegen zwei Sammelbände (2000, 2003) vor, in denen teilweise Experimentelles geboten wird, außerdem haben alle inzwischen mit eigenen Büchern debütiert. Eine auffälligere, oder anders ausgedrückt: schlicht lautere Tallinner Vereinigung nannte sich TNT, was für Tallinna Noored Tegijad (Junge Aktive aus Tallinn) steht. Die Gruppe publizierte einige Sammelbände und führte Literaturabende durch. In Jürgen Rooste hat sie eine Art Galionsfigur, die innerhalb weniger Jahre zu einem Begriff im Tallinner und estnischen Kulturleben geworden ist, was teilweise auch mit seiner Tätigkeit als Redakteur bei der kulturellen Wochenzeitung Sirp zusammenhängt. Vor allem waren es aber auch Roostes Gedichtbände, derer es seit dem Debüt von 1999 ca. ein halbes Dutzend gibt. Die exakte Zahl ist schwierig festzulegen, da er seine Lyrik häufig gemeinsam mit anderen – einmal mit Sinijärv und Künnap, einmal anonym mit Ivar Sild, einmal im erwähnten Kartenstapel mit vier anderen (vgl. § 48) u. Ä. – veröffentlicht hat. Jürgen Rooste spielt in jeder Hinsicht mit der Tradition: Er macht sich über sie lustig, indem er von ihr abweicht, aber er macht sie sich auch nutzbar, indem er sich selbst in Bezug zur ruhmreichen Vergangenheit der estnischen Lyrik setzt. Vier seiner bislang erschienen individuellen Gedichtbände tragen einen Titel, der an die Sammlungen von Marie Under (vgl. § 29) an-

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gelehnt ist, wobei Rooste sich mit fortschreitender Zeit immer etwas weiter von der großen estnischen Dichterin entfernt: Der Titel von Roostes Debüt, Sonetid (Sonette, 1999), stimmte noch hundertprozentig mit Unders 82 Jahre zuvor erschienenem Debüt überein, was Rooste indes nicht daran hinderte, in dem Band kein einziges Sonett, sondern weitgehend ungereimte Gedichte zu liefern. In seiner zweiten Sammlung fügte er einen Leerschritt beim Titel von Unders vierter Sammlung ein, so dass aus Unders Verivalla (Klaffende Wunde) bei Rooste Veri valla wurde, was etwa mit ›Das Blut ist frei‹ zu übersetzen wäre. Vom Blut ist in den Gedichten auch häufig die Rede, und der Bezug zu Under ist nicht nur eine postmoderne Spielerei: Roostes Verse wirken herausgeschrieen, sie haben Bezüge zur Popmusik und verweisen auf den Expressionismus des frühen 20. Jahrhunderts. Die dritte Sammlung ersetzte dann einen Buchstaben, so dass nach Unders Lageda taeva all (Unter freiem Himmel, 1930) Roostes Lameda taeva all (Unter flachem Himmel, 2002) kam, und in der vierten Sammlung wurde ein ganzes Wort ausgewechselt: Statt Unders Rõõm ühest ilusast päevast (Freude über einen schönen Tag, 1928) erschien nun Roostes Rõõm ühest koledast päevast (Freude über einen schaurigen Tag, 2003) – was auf seine Weise auch Programm war: Bei Rooste kann man auch am Schrecklichen Gefallen finden. Nur für die fünfte Sammlung Ilusaks inimeseks (Als schöner Mensch), die 2005 gemeinsam mit einer CD erschien, fand sich keine Parallele mehr bei Under. Rooste hatte sich als eigenwillige, unangepasste und grelle Stimme der estnischen Lyrik etabliert. Ihm zur Seite stand mehrmals Asko Künnap, der in seiner Eigenschaft als gelernter Graphiker und Designer seine Bücher aus der Menge hervorstechen zu lassen wusste. Bei ihm hält sich die Liebe zum Wort mit der Liebe zur Kunst die Waage. Seine beiden Sammlungen Ja sisalikud vastasid [kolmes kirjas] (Und die Eidechsen antworteten [in drei Schrifttypen], 2003) und Kõige Ilusam Sõda (Der schönste Krieg, 2004) sind als Gesamtkunstwerke zu betrachten, bei denen der Text nicht ohne das Design auskommt und umgekehrt. Daraus machte der Autor in einem Interview auch gar keinen Hehl: »Wenn der Gestalter Künnap fand, dass auf dieser Seite 12 Zeilen und nicht mehr sein mussten, dann hat der Dichter Künnap ohne Widerstand zu leisten das Gedicht um zwei Zeilen gekürzt, und wenn der Dichter Künnap fand, dass er in seinem Gedicht vier Wörter besonders hervorheben wollte, obwohl der Gestalter ursprünglich nur eine Schrifttype verwenden wollte, dann hat sich der Gestalter nicht quergestellt. Ideal!« (Rooste 2003, 4) Bei Künnaps Büchern gehen Text und Gestaltung eine Symbiose ein, sie sind zu lesen und zu betrachten. Geradezu ein Gegenstück hierzu bilden die Bücher von Indrek Mesikepp, die meistens schwarz sind wie die Kleidung ihres Autors, selbst wenn

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sie den Titel ›Buch mit weißem Einband‹ (Valgete kaantega raamat, 2000) erhalten haben. Unter dem Pseudonym François Serpent, oder auch bloß fs, hat der bei Looming für die Kritik zuständige Redakteur drei Gedichtbände herausgebracht. Wie die Gestaltung, so sind auch die Texte nüchtern und illusionslos, mit einem Hang zum Morbiden und Düsteren, ohne jedoch ausweglos oder depressiv zu wirken. Leicht eröffnet sich eine philosophische Dimension, wie am Ende eines Gedichts über einen Sterbenden: kui inimene sureb / kõik jääb endiseks / see ei saagi teisiti olla // see ei saagi teisiti olla / et sina seda ei usu (fs 2004, 71; wenn ein Mensch stirbt / bleibt alles beim Alten / es kann auch gar nicht anders sein // es kann auch gar nicht anders sein / dass du das nicht glaubst). Wenn man Serpent mit einer Gruppierung in Verbindung bringen will, so wäre das die Tartuer Nachwuchsvereinigung des Schriftstellerverbandes, aber im Grunde genommen ist eine solche Zuordnung sekundär. Die meisten Autorinnen und Autoren werden als individuelle Erscheinungen wahrgenommen und pochen auf ihre Singularität. Bei manchen wie etwa dem Semiotiker Valdur Mikita steht dies von Anfang an außer Frage, seine beiden Bände mit absurd-dadaistischen Sprachspielen (2000, 2001) waren von Anfang an konkurrenzlos; bei anderen wie etwa der relativen Spätstarterin Kirsti Oidekivi dauerte es vielleicht einige Gedichtbände, aber mit ihren mittlerweile vier Sammlungen und dem renommierten Debütpreis von 1998 gehört auch sie längst zum lyrischen Establishment des Landes. Dieses lyrische Establishment mag heute wenig unmittelbaren Einfluss auf die Geschicke des Landes haben. Für die Bestimmung von Estlands Position in der EU, der NATO oder überhaupt in der Welt sind andere zuständig. Aber für die nationale Identität des Volkes bleibt die Dichtung ein unentbehrliches Element. Diese wesentliche Verbindung von Dichtung und Volk wurde bereits 1978 von Viivi Luik nicht ohne Pathos in einem dennoch nüchternen Gedicht festgeschrieben: Elukutse Pliiatseid armastan tõesti, jah, eesti rahvast ja pliiatseid. Laias lumes on järsku üks joon, üks pliiatsikriips. See võib märkida muud, aga minu jaoks märgib ta minuteid, mis on jäänud, mis õnneks jäävadki valskusest priiks. Üks minut on kohe minevik, kõik see aeg saab nii ruttu täis.

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Nüüd vahin ma lumesattu. Siis enam ei ole mind ja mõni ehk järsku ehmatab, et kes see säält uksest käis. Mis on paberilehe väärtus ja ühe pliiatsi hind? Tubades põlevad lambid, platsil sulavad lumi ja sool. Sellist ilma ma armastasin, sest siin ei olnudki teist. Pimedal ajal, detsembris, siis, kui kuluvad küte ja vool, mõtelge minu pääle, sest mina mõtlesin teist. (Luik 1978, 42; Beruf // Bleistifte liebe ich wirklich, / ja, das estnische Volk und Bleistifte. / Im weißen Schnee ist plötzlich ein Streifen, / ein Bleistiftstrich. / Der kann so manches bezeichnen, / aber für mich bezeichnet er die Minuten, / die geblieben sind, die zum Glück auch noch bleiben / von Falschheit verschont. // Eine Minute ist bald Vergangenheit, / all die Zeit verfliegt so schnell. / Jetzt schaue ich ins Schneegestöber. / Dann gibt es mich nicht mehr, // und mancher zuckt vielleicht plötzlich zusammen, / weil jemand in der Tür erscheint. / Was ist der Wert eines Blattes Papier, / und was der Preis eines Bleistifts? // In den Zimmern brennen die Lampen, / auf dem Platz schmelzen Schnee und Salz. / Solch ein Wetter liebte ich, / denn anderes ist hier auch nicht. / In der dunklen Zeit, im Dezember, / wenn Heizung und Strom verbraucht werden, / dann denkt an mich, / denn ich hab an euch gedacht.)

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Zeittafel

Zeittafel Die folgende Zeittafel listet einige der wichtigsten Orientierungspunkte für die estnische Literatur auf: Historische Einschnitte, Entstehungs- und Erscheinungsdaten, Gründungsdaten und -versammlungen oder andere bedeutsame Ereignisse. 98 Tacitus’ Erwähnung der gens aestiorum in seiner Germania 1208–1227 Eroberung des estnischen Siedlungsgebiets durch Deutsche und Dänen 1224–1227 Henrici Chronicon Livoniae enthält estnische Wörter 1525 Vermuteter Druck eines Katechismus mit estnischen Textteilen 1535 Erster fragmentarisch erhaltener gedruckter estnischer Text: Katechismus von Wanradt und Koell 1578 Balthasar Rüssow: Chronica der Prouintz Lyfflandt 1585 Gründung eines Jesuitenkollegs in Tartu 1600–1606 39 Predigten von Georg Müller (1884 entdeckt) 1622 Agenda Parva, enthält über 400 estnische Wortformen 1630 Gründung eines Gymnasiums in Tartu 1631 Gründung der ersten Druckerei in Estland (Tartu); Gründung eines Gymnasiums in Tallinn 1632 Aufwertung des Tartuer Gymnasiums zur Universität 1632–1638 Hand= vnd Hauszbuch für das Fürsenthumb Esthen In Liffland von Heinrich Stahell (Stahl) 1633 Gründung der Druckerei in Tallinn 1637 Erste nordestnische Grammatik; erstes gedrucktes estnisches Hochzeitsgedicht von Reiner Brockmann 1648 Erste südestnische Grammatik 1656 Erstes estnisches Gesangbuch 1686 Neues Testament auf Südestnisch 1694 Ältestes erhaltenes ABC-Buch auf Nordestnisch 1698 Ältestes erhaltenes ABC-Buch auf Südestnisch 1708 Klagelied von Käsu Hans 1710 Beginn der russischen Herrschaft 1715 Neues Testament auf Nordestnisch 1731 Ältester erhaltener estnischer Kalender (auf das Jahr 1732) 1732 Anton Thor Helle: Kurtzgefaßte Anweisung Zur Ehstnischen Sprache 1739 Ganze Bibel auf Nordestnisch 1766–1767 Erste estnische Zeitung 1784 Eröffnung von Kotzebues Revaler Liebhaber-Theater 1806 Tarto maa rahwa Näddali-Leht (Tartuer Wochenblatt für das Landvolk)

Zeittafel

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1807 Johann Wilhelm Ludwig von Luce: Sarema Jutto ramat (Das Geschichtenbuch von Saaremaa) 1813–1832 Beiträge zur genauern Kenntniss der ehstnischen Sprache (Rosenplänter) 1817 Gründung der Arensburgischen Ehstnischen Gesellschaft 1818 Kristiani Jago Petersoni laulud. Rialinnas, 1818 (Kristian Jaak Petersons Lieder, Riga 1818; Manuskript) 1821–1825 Marahwa Näddala=Leht (Wochenblatt des Landvolks) 1836–1863 Wochenzeitung Das Inland 1838 Gründung der Gelehrten Estnischen Gesellschaft in Tartu 1842 Gründung der Estländischen Literärischen Gesellschaft in Tallinn 1857–1861 Erstveröffentlichung von Friedrich Reinhold Kreutzwalds Kalevipoeg 1857 Perno Postimees ehk Näddalileht (Pärnuer Postbote oder Wochenblatt), Beginn der kontinuierlich erscheinenden estnischen Presse 1865 Gründung der Vanemuine-Gesellschaft 1866 Friedrich Reinhold Kreutzwalds Märchensammlung Eestirahwa Ennemuistesed jutud; Lydia Koidula: Waino=Lilled (Feldblumen) 1869 Erstes allgemeines Liederfest 1870 Erstes Schauspiel von Koidula; Carl Robert Jakobson: Kolm isamaa kõnet (Drei vaterländische Reden) 1872 Gründung der Estnischen literärischen Gesellschaft (Eesti Kirjameeste Selts) 1878 Beginn des Erscheinens der Zeitung Sakala 1880 Eduard Bornhöhe: Tasuja (Der Rächer) 1893/94 Auflösung der Estnischen literärischen Gesellschaft (Eesti Kirjameeste Selts) 1896 Eduard Vilde: Külmale maale (Nach kaltem Lande) 1905 Noor-Eesti (Jung-Estland); Gustav Suits: Elu tuli (Feuer des Lebens) 1906 Eröffnung des ersten professionellen estnischen Theaters, Vanemuine in Tartu 1907 Gründung der Estnischen Literaturgesellschaft (Eesti Kirjanduse Selts) 1911 Uraufführung von August Kitzbergs Libahunt (Der Werwolf ) 1912 Oskar Luts: Kevade (Frühling) 1917 Literarische Gruppierung Siuru; Marie Under: Sonetid (Sonette) 1918 Unabhängigkeitserklärung 1922 Gründung des Schriftstellerverbandes 1923 Gründung der Zeitschrift Looming 1925 Gründung des Kulturkapitals 1926–1933 A. H. Tammsaare: Tõde ja õigus I-V (Wahrheit und Recht) 1938 Gedichtsammlung Arbujad (Die Beschwörer) 1940 Beginn der sowjetischen Okkupation 1941–1944 Deutsche Besetzung 1950 Gründung der Exilzeitschrift Tulimuld (bis 1993) 1957 Gründung der Exilzeitschrift Mana (bis 1988) 1962–1968 Fünf Buchkassetten mit Debüts von jungen Autorinnen und Autoren 1965 Eröffnung der Fährverbindung zwischen Tallinn und Helsinki 1969 Paul-Eerik Rummo: Tuhkatriinumäng (Das Spiel vom Aschenputtel) 1978 Jaan Kross: Keisri hull (Der Verrückte des Zaren)

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Zeittafel

1979 Mati Unt: Sügisball (Der Herbstball) 1980 Brief der Vierzig 1985 Viivi Luik: Seitsmes rahukevad (Der siebte Friedensfrühling) 1986 Gründung der Zeitschrift Vikerkaar 1987 Gründung des ersten unabhängigen Verlags, Kupar 1988 Singende Revolution 1988/1989 Abschaffung der Zensur 1991 Wiederherstellung der Unabhängigkeit 1993 Emil Tode: Piiririik (Das Grenzland) 1994 Wiederbegründung des Kulturkapitals 1996 Kivisildnik-Skandal 2000 Andrus Kivirähk: Rehepapp (Der Scheunenvogt) 2001 Ene Mihkelson: Ahasveeruse uni (Ahasvers Traum) 2005 Zusammenfügung verschiedener Tallinner Hochschulen zur Universität von Tallinn 2006 Staatlicher Kulturpreis für Doris Karevas Gedichtsammlung Aja kuju (Die Gestalt der Zeit, 2005), von der innerhalb von fünf Monaten ca. 5500 Exemplare verkauft worden waren

Literaturverzeichnis

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Literaturverzeichnis Im Literaturverzeichnis sind alle im Text erwähnten Werke der Sekundärliteratur angeführt, darüber hinaus auch andere Werke, die dem Verfasser bei der Abfassung der vorliegenden Monographie hilfreich waren oder anderweitig von Interesse sind. Primärliteratur ist nur in Ausnahmefällen aufgenommen worden, beispielsweise wenn es sich um wichtige Gesamtausgaben, kritische Editionen o.Ä. handelte oder wenn direkt aus dem Werk zitiert worden ist. Die Anordnung erfolgt nach dem Nachnamen der Autorin oder des Autors und nach dem deutschen Alphabet, d.h. diakritische oder andere Sonderzeichen werden ignoriert: õ = o, ä = a, ö = o, ü = u; ß = ss. Sind von einer Person mehrere Titel genannt, erfolgt die Einsortierung in aufsteigender Folge nach dem Erscheinungsjahr, Publikationen desselben Jahres werden durch Zusatz eines Kleinbuchstabens hinter der Jahreszahl ab der zweiten Publikation ein und desselben Jahres voneinander unterschieden. Eventuelle Reihentitel werden am Ende des bibliographischen Eintrags in Klammern angeführt. Bei nicht monographischen Veröffentlichungen wird anstelle eines »in:« ein Gedankenstrich (–) verwendet, dahinter folgt nach einem Komma die Seitenangabe. Häufiger zitierte Zeitschriften oder Buchreihen werden mit einem Sigel abgekürzt, dessen Auflösung sich an der entsprechenden Stelle im Alphabet befindet. Bei Zeitschriften mit Jahrgangszählung und durchgehender Paginierung ist die Heftangabe in der Regel weggelassen. Aarma, Liivi 1995: Tsensuur ja kirjasõna Eestis 16.–17. sajandil. – Lotman, Piret (koost.): Uurimusi tsensuurist. Tallinn, 8–66 (Acta Bibliothecae Nationalis Estoniae / Eesti Rahvusraamatukogu toimetised 4) – 1996: Johann Hornungi grammatikast ning tema ja Bengt Gottfried Forseliuse koostööst. – KK 39, 399–406 – 1999: Uusi andmeid Pühavaimu pastori Georg Mülleri varase elukäigu kohta. – KK 42, 788–795 Aarne, Antti 1918: Estnische Märchen- und Sagenvarianten. Verzeichnis der zu den Hurt’schen Handschriftsammlungen gehörenden Aufzeichnungen. Hamina (FFC 25) Aarne, Antti / Thompson, Stith 1961: The types of the folktale. A classification and bibliography. Antti Aarne’s Verzeichnis der Märchentypen (FF Communications No. 3) translated and enlarged by Stith Thompson. Second edition. Helsinki (FFC 184) Aaver, Eva 1961: Koidula teoste kogu väljaandmise katsed. – Lng 8, 1263–1268 – 1962: Kuidas Jaan Bergmann Koidula luuletusi muutis. – KK 5, 520–530 – 1964: Koidula posthuumsed luuletuskogud (1925–1957). – PS 3, 209–257 Aaver, Eva / Laanekask, Heli (koost.) 1988: F.R. Faehlmanni kaks avalikku esinemist aastail 1842 ja 1849. Tallinn (Litteraria 5)

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migrantlitteratur under femtio år. – Satu Gröndahl (red.): Litteraturens gränsland – Invandrar- och minoritetslitteratur i nordiskt perspektiv. Uppsala, 257–272 (Uppsala Multiethnic Papers 45) Webermann, Otto A. 1951: Kalju Ahven. Leben und Werk eines estnischen Dichters der Gegenwart. Göttingen, Diss. phil. – 1956: Pietismus und Brüdergemeinde. – Wittram 1956, 149–166 – 1959: Ein estnisches Unikum in Göttingen. – Ural-Altaische Jahrbücher 31, 491–502 – 1960: Deutschbaltische und estnische Literatur. – Baltische Hefte 7, 1, 17–28 – 1961: Eino Leino Gustav Suitsin arvostelijana. – Virittäjä 65, 219–226 – 1965: Zum Problem der Gelegenheitsdichtung. – Kõressaar/Rannit 1965, 218–233 – 1965a: Zur Problematik der estnischen Literatur des 18. Jahrhunderts. – Ivar Paulson (ed.): Estonia christiana [Festschrift Johann Kõpp]. Stockholm, 181–199 – 1968: Kreutzwalds »Kalevipoeg«. Zur Problematik des estnischen Epos. – Volksepen der uralischen und altaischen Völker. Vorträge des Hamburger Symposiums vom 16.–17. Dezember 1965. Hrsg. v. Wolfgang Veenker. Göttingen, 13–35 (Ural-Altaische Bibliothek 16) – 1978: Studien zur volkstümlichen Aufklärung in Estland. Friedrich Gustav Arvelius (1753–1806). Bearbeitet und herausgegeben von Johann Dietrich von Pezold. Göttingen – 1981: Zur Aufnahme des »Kalevala« vor 1845. – Finnisch-Ugrische Mitteilungen 5, 201–210 Weiss, Hellmuth 1963: Ein estnisches Sprachdenkmal aus der Zeit der Gegenreformation. – Zeitschrift für Ostforschung 12, 688–699 – 1981: Das Revaler Nachlaßinventar eines auswärtigen Buchführers (Buchhändlers) aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts als Zeugnis für die geistigen Bedürfnisse der damaligen Zeit. – Beiträge zu einer baltischen Kunstgeschichte. 3. »Homburger Gespräch« vom 11.–14. Oktober 1981. Hrsg. von Dr. Erich Böckler. Bad Homburg, 156–164 – 1986: Die historischen Gesellschaften. – Georg v. Rauch (Hg.): Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung. Köln, Wien (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 20), 121–139 Weiss, Hellmuth / Johansen, Paul 1930: Bruchstücke eines niederdeutsch-estnischen Katechismus vom Jahre 1535. – Beiträge zur Kunde Estlands, Bd. 15, H. 4, 95–133 – / – 1935: 400-aastane eesti raamat. Wanradt-Koell’i katekismus 1535. aastast. Tallinn, 21956: New York Westrén-Doll, August 1956: Die schwedische Zeit in Estland und Livland. – Wittram 1956, 87–109 Willmann, Friedrich Wilhelm 1975: Juttud ja teggud [1782].Tallinn (Loomingu Raamatukogu 47–52) Wilpert, Gero von 2005: Deutschbaltische Literaturgeschichte. München Wimberg 2002: Lipamäe. Kaaruka küla Witt, Uwe-Michael 1989: Das literarische Werk von Enn Vetemaa und seine Widerspiegelung in der Literaturkuritik. [Ungedruckte] Diplomarbeit Univ. Rostock Wittram, Reinhard (Hg.) 1956: Baltische Kirchengeschichte. Göttingen

Verzeichnis der deutschen Übersetzungen

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Verzeichnis der deutschen Übersetzungen (Monographien und Anthologien) Die Anzahl der monographischen Übersetzungen estnischer Literatur ins Deutsche ist nicht sehr hoch, weswegen im Folgenden eine komplette Liste aller Titel gegeben wird. Die Angabe der Übersetzerinnen und Übersetzer erfolgt dabei standardisiert hinter einem Ü. Mehrere Titel einer Person sind chronologisch sortiert. Für nicht selbstständige Veröffentlichungen und Sekundärliteratur vergleiche die ausführliche Bibliographie Hasselblatt 2004 (s. Literaturverzeichnis).

Acht estnische Dichter. Ausgewählt und übertragen von Ants Oras. Stockholm: Verlag Vaba Eesti 1964. 222 S. Almanach estnischer Dichtung und Kunst. Hrsg. von Johannes Semper. Ü: Arthur Behrsing, Walter v. Maydell. Tartu: Pallas-Verlag 1927. 120 S. Beekman, Aimée: Kartoffelschellen oder Die letzten Ehetage von Benita und Joss. Ü: Helga Viira. Berlin: Verlag Volk und Welt/Kultur und Fortschritt 1973. 319 S.; 21973: Buchclub 65. Beekman, Aimée: Partnerwahl. Ü: Alexander Baer. Berlin: Verlag Volk und Welt 1983. 285 S; 21983: Buchclub 65 (auch Roman-Zeitung 402 [9/1983]). Beekman, Vladimir: Der Transitreisende. Ü: Günter Jäniche (a. d. Russ.). Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1975. 283 S. Berg, Maimu: Barbara von Tisenhusen. Ü: Irja Grönholm. Frankfurt/M.: dipa 1993. 186 S. Berg, Maimu: Ich liebte einen Russen. Ü: Irja Grönholm. Blieskastel: Gollenstein 1998. 287 S. Diamantensucher und andere estnische Humoresken. Hrsg. von Harri Lehiste. Ü: Viktor Sepp. Tallinn: Perioodika 1980. 70 S. Ekman, Pärtel: Tallinner Trio. Ü: Berthold Forssman. Dettelbach: Verlag J.H. Röll 2004. 162 S. Estnische Gedichte. Ü: Wilhelm Nerling. Dorpat: Laakmann 1925. 96 S. Estnische Klänge. Auswahl estnischer Dichtungen von Axel Kallas. Dorpat: Kommissions-Verlag Carl Glück 1911. 88 S. Estnische Kurzgeschichten. Von Valeria Ränik, Voldemar Miller und Eeva Park. Zweisprachig, Ausgewählt und Übersetzt von Heinz Wilhelm Pfeiffer. Michelstadt: Neuthor-Verlag 1996. 119 S. Estnische Lyrik. Übertragen von Tatjana Ellinor Heine. Brackenheim: Verlag Georg Kohl GmbH + Co 1981. 91 S.

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Verzeichnis der deutschen Übersetzungen

Estnische Märchen. Ausgewählt von Irina Shelesnova. Ü: Gisela Teeäär. Tallinn: Perioodika 1984. 109 S. Estnische Novellen. Ausgewählt von Endel Sõgel. Ü: Aivo Kaidja, Helga Viira, Viktor Sepp. Tallinn: Perioodika 1979. 471 S. Estnische Volkserzählungen. Hrsg. von Oskar Loorits. Ü: Hans Angelus, Ivo Illiste, Herbert Petersen, Oskar Loorits. Berlin: Walter de Gruyter & Co 1959. 227 S. Estnische Volksmärchen. Hrsg. von Richard Viidalepp. Ü: Eugenie Meyer. Berlin: Akademie-Verlag 1980. 591 S.; dass.: München: Eugen Diederichs Verlag 1990. Finnische und estnische Märchen. Herausgegeben und eingeleitet von August von Löwis of Menar. Ü: Walter Anderson. Jena: Eugen Diederichs 1922. 301 S. (Die Märchen der Weltliteratur). 21962: Düsseldorf, Köln: Eugen Diederichs. Der Flötenspieler. Estnische Märchen. Zusammengestellt von Jüri Talvet. Ü: Gisela Teeäär, Haide Roodvee. Tallinn: Perioodika 1987. 196 S. Die Freiheit der Kartoffelkeime. Poesie aus Estland. Herausgegeben von Gregor Laschen. Jaan Kaplinski, Doris Kareva, Hasso Krull, Viivi Luik, Ene Mihkelson, PaulEerik Rummo. Nachdichtungen von Marcel Beyer, Friedrich Christian Delius, Katja Lange-Müller, Gregor Laschen, Johann P. Tammen und Ralf Thenior. Mit neun Bildern von Bernd Koberling. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW Verlag für neue Wissenschaft GmbH 1999. 175 S. (edition die horen 24) Gailit, August: Nippernaht und die Jahreszeiten. Ü: I.M. Trotzki [fälschlich für Arthur Behrsing]. Berlin: Propyläen-Verlag 1931 (auch: Büchergilde Gutenberg 1931). 246 S. 21943. Gailit, August: Lied der Freiheit. Ü: Erna Pergelbaum. Breslau: Wilh. Gottl. Korn Verlag 1938. 415 S. 21944. Gailit, August: Die Insel der Seehundsjäger. Ü: Erna Pergelbaum. Berlin: PropyläenVerlag 1939. 260 S. 21943. Gailit, August: Das rauhe Meer. Benita Eisenschmidt. Memmingen: Maximilian Dietrich 1985. 272 S. Der gläserne Berg. Estnische Märchen. Ausgewählt und ins Deutsche übertragen von Alexander Baer. Berlin: Verlag Kultur und Fortschritt 1968. 188 S. Grönholm Irja / Hasselblatt, Cornelius (Hrsg.): Trugbilder. Moderne estnische Erzählungen. Frankfurt/M.: dipa 1991. 142 S. Grosse, Julius: Die Abenteuer des Kalewiden. Esthnische Volksmärchen. Leipzig: Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber 1875. 221 S. Grünthal, Ivar: Poèmes – Gedichte – Dikter. Ü: I. Laaban. Stockholm: Kirjastus Vaba Eesti 1964. 31 S. Der gütige Beschützer der Schiffersleut’. Estnische Kurzprosa aus vier Jahrzehnten. Ausgewählt von August Eelmäe. Ü: Helga Viira, Haide Roodvee, Gisela Teeäär. Tallinn: Perioodika 1984. 165 S. Haamer, Harri (unter dem Pseudonym Harry): Esther. Die Geschichte eines kleinen Mädchens. Ü: Gustav Haller. Konstanz: Christliche Verlagsanstalt 1947. 63 S. Kabur, Boris: Die Spur führt zum Hermes. Zukunftsroman. Ü: Alexander Baer. Berlin: Verlag Neues Leben 1970. 159 S. (Kompass-Bücherei 137).

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Kangro, Bernard: Flucht und Bleibe. Gedichte in Auswahl. Ü: Hermann Stock. Lund: Eesti Kirjanike Kooperatiiv; Köln und Garmisch-Partenkirchen: Schweitzer in Komm. 1954. 96 S. Kareva, Doris: Fraktalia. Gedichte – Luulet. Ü: Mati Sirkel, Liina Mittermayr, Wolfgang Maxlmoser. Aspach: edition innsalz 2000. 79 S. (in Zusammenarbeit mit Eesti Raamat, Tallinn). Kaugver, Raimond: Was heißt hier schuldig? Ü: Irja Grönholm. Berlin: Verlag Volk und Welt 1990. 370 S. Kivikas, Albert: Am Moor. Zwei Novellen. Ü: Friedrich Schwarz. Tartu: J.G. Krüger 1936. 71 S. (Estnische Reihe 4). Kreutzwald, Friedrich Reinhold: Ehstnische Märchen. Ü: Ferdinand Löwe. Nebst einem Vorwort von A. Schiefner und Anmerkungen von R. Köhler und A. Schiefner. Halle: Buchhandlung des Waisenhauses 1869. 366 S. Kreutzwald, Friedrich Reinhold: Kalewipoeg. Ü: Ferdinand Löwe. Reval: Kluge 1900. 343 S. Kreutzwald, Friedrich Reinhold: Kalewipoeg. Versepos von F.-R. Kreutzwald, nacherzählt von Friedrich Balcke. Wedemark-Elze: Verlag Harro v. Hirschheydt 1997. 75 S. Kreutzwald, Friedrich Reinhold: Kalevipoeg. Das estnische Nationalepos. Ü: Ferdinand Löwe. Herausgegeben von Peter Petersen. Stuttgart, Berlin: Mayer 2004. 323 S. Kross, Jaan: Vier Monologe anno domini 1506. Historische Novellen. Ü: Hilde Angarowa und Werner Creutziger (a. d. Russ.). Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1974. 167 S. (Edition Neue Texte); erneut: Helsinki: Otava; Stuttgart: Klett-Cotta 1985. 188 S. (Sammlung Trajekt 20). Kross, Jaan: Das Leben des Balthasar Rüssow. Ü: H. Viira (1. und 2. Buch aus dem Estn.), B. Heitkam (3. und 4. Buch a. d. Russ.). 3 Bände in Kassette. Berlin: Rütten & Loening 1986. 522, 448, 502 S.; erneut: München, Wien: Hanser 1995; auch: Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg [1996] und München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999 (dtv 12563). Kross, Jaan: Verrückte des Zaren. Ü: Helga Viira. Berlin: Rütten & Loening 1988. 409 S; 21988: Buchclub 65; erneut: München, Wien: Hanser 1990. 414 S., München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1994 (dtv 11919) und 2003 (dtv 20655). Kross, Jaan: Professor Martens’ Abreise. Helga Viira. München, Wien: Hanser 1992. 335 S.; erneut München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995. 335 S. (dtv 11974). Kross, Jaan: Die Verschwörung. Viktor Sepp. Tallinn: Bibliotheca Baltica 1993. 95 S. Kross, Jaan: Die Verschwörung. [Erzählungen]. Ü: Irja Grönholm, Cornelius Hasselblatt. Frankfurt/M.: dipa 1994. 164 S. Kross, Jaan: Ausgrabungen. Ü: Cornelius Hasselblatt. Frankfurt/M.: dipa 1995. 276 S. Kross, Jaan: Die Frauen von Wesenberg oder Der Aufstand der Bürger. Ü: Helga Viira. München, Wien: Hanser 1997. 379 S. Kuusberg, Paul: Bitterer Sommer. Ü: Ingeborg Kolinko (a. d. Russ.). Berlin: Verlag Volk und Welt 1973. 351 S.

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Verzeichnis der deutschen Übersetzungen

Kuusberg, Paul: Regentropfen. Ü: Siegfried Behrsing. Berlin: Verlag Volk und Welt 1980. 345 S. Das Leben ist noch neu. Zehn estnische Autoren. Eine Anthologie. Übertragen von Gisbert Jänicke. Karlsruhe: INFO Verlagsgesellschaft 1992. 95 S. (Edition Junge Poesie). Der letzte Strandräuber. Estnische Erzählungen aus sieben Jahrzehnten. Ausgewählt von Alexander Baer, Welta Ehlert, Nikolai Sillat. Berlin: Verlag Volk und Welt 1975. 467 S. Luik, Viivi: Der siebte Friedensfrühling. Ü: Horst Bernhardt. Reinbek: Rowohlt 1991. 298 S. Luik, Viivi: On aastasaja lõpp – Das Jahrhundert ist zu Ende. [Gedichte zweisprachig]. Ü: Gisbert Jänicke. Tallinn: Eesti Raamat 1993. 65 S. Luik, Viivi: Die Schönheit der Geschichte. Ü: Horst Bernhardt. Reinbek: Rowohlt 1995. 159 S. Mälk, August: Im Angesicht des Himmels. Ü: Peter Woldemar v. Pezold. Leipzig: Boreas 1940. 374 S. (Parallelausgabe: Herbig); auch 1941 und 1943. Mälk, August: Der gute Hafen. Ü: E. v. Wistinghausen, Fred Ottow. Berlin-Grunewald: Herbig 1947. 337 S.; auch 1949. Mälk, August: Das blühende Meer. Fred Ottow, Erik Thomson. Berlin, Bonn: F.A. Herbig 1949. 291 S. Mänd [als Mand], Evald: Die Ehe des Propheten. Ü: Hans Wagner (aus dem Engl.). Zürich: Zwingli-Verlag 1957. 372 S.; erneut: Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1961. 350 S. Märchen und Sagen des estnischen Volkes. Gesammelt und übersetzt von Harry Jannsen. Erste Lieferung. Dorpat: Laakmann 1881. 70 S. (Nachdruck 1971: HannoverDöhren: Hirschheydt). Märchen und Sagen des estnischen Volkes. Uebersetzt und mit Anmerkungen versehen von Harry Jannsen. Zweite Lieferung. Riga: Kymmel / Leipzig: Fleischer 1888. 203 S. (Nachdruck 1971: Hannover-Döhren: Hirschheydt). Mattheus, Ülo: Der Schein. Ü: Irja Grönholm. Frankfurt/M.: dipa 1997. 237 S. Meri, Lennart: Es zog uns nach Kamtschatka. M. Brandt und G. Hoppe (aus dem Russischen). Leipzig: VEB F.A. Brockhaus 1968. 314 S.; 21969. Mutt, Mihkel: Mein Floralein mein Faunalein. Kurzgeschichten. Ü: I. Grönholm. Mit einem Vorwort von Tiit Matsulevits. Frankfurt/M.: Palais Jalta, Ost/Westeuropäisches Kulturzentrum. Eigendruck im Selbstverlag 1994. 48 S. Nurme, Minni: Mondwein. Lyrische Gedichte. Ü: Aldo Roomere. Leipzig: Hochschule für Grafik und Buchkunst 1976. 27 S. Õunapuu, Ervin: Olivia. Ü: Anne Laur, Wolfgang Maxlmoser. Aspach: edition innsalz 2003. 260 S. Õunapuu, Ervin: Die stinkenden Handschuhe des Chefs. Ü: Irja Grönholm. Aspach: edition innsalz 2004. 114 S. Peegel, Juhan: Ich fiel im ersten Kriegssommer. Ü: Viktor Sepp. Tallinn: Perioodika 1982. 190 S. Põldmäe, Asta: Die Erde unter den Städten. Erzählungen. Ü: Irja Grönholm. Frankfurt/M.: dipa 1993. 157 S.

Verzeichnis der deutschen Übersetzungen

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Promet, Lilli: Ruhender Tiger. Erzählungen. Ü: Siegfried Behrsing, Viktor Sepp, Helga Viira; Hannelore Menke, Harry Schnittke (die beiden letztgenannten aus den Russ). Berlin: Verlag Volk und Welt/Kultur und Fortschritt 1975. 134 S. Rannit, Aleksis: Verse an Wiiralt und an das geklärte Gleichnis. Ü: Ants Oras [sowie Erich Müller-Kamp, Konrad Veem]. Baden-Baden: Woldemar Klein Verlag 1960. 33 S. Das Schauspiel. Neuere estnische Kurzprosa. Ausgewählt von Endel Mallene. Ü: Helga Viira, Haide Roodvee, Viktor Sepp. Tallinn: Perioodika 1983. 183 S. Semper, Johannes: Rote Nelken. Ü: Alexander Baer. Rostock: Hinstorff [1960.] 420 S. Smuul, Juhan: Das Eisbuch. Ü: Felix Loesch (a. d. Russ.). Berlin: Kultur und Fortschritt 1962. 317 S.; 21963. 322 S. Smuul, Juhan: Der wilde Kapitän. Ü: Juri Elperin und K. Eiden. Berlin: VEB Lied der Zeit 1967. 124 S. Smuul, Juhan: Die Witwe und andere komische Monologe. Juri Elperin (a. d. Russ.) und Alexander Baer. Berlin: Verlag Volk und Welt 1972. 200 S. Talvest, Mai: Wie die Aussaat … so die Ernte. Ü: Erich Pfaff. Temesvar: Regionsvolksrat. Regionalhaus für künstlerisches Volksschaffen 1959. 26 S. Tammsaare, Anton Hansen: Der Däumling. Ü: [Anna Kristen-Linde]. Tallinn: Varak 1936. 63 S. (Estnische Literatur 1). Tammsaare, Anton Hansen: Wargamäe. Ü: Edmund Hunnius. Berlin: Holle & Co 1938. 491 S. Tammsaare, Anton Hansen: Indrek. Ü: Edmund Hunnius. Berlin: Holle & Co 1939. 673 S. Tammsaare, Anton Hansen: Karins Liebe. Ü: Edmund Hunnius. Berlin: Holle & Co 1940. 386 S. Tammsaare, Anton Hansen: Rückkehr nach Wargamäe. Ü: Edmund Hunnius. Berlin: Holle & Co 1941. 427 S. Tammsaare, Anton Hansen: Der Bauer von Körboja. Ü: Adolf-Eduard Graf. Berlin: Rütten und Loening 1958. 258 S. Tammsaare, Anton Hansen: Satan mit gefälschtem Paß. Ü: Felix Loesch (a.d. Russ.). Berlin: Kultur und Fortschritt 1959. 303 S.; 2Berlin: Verlag der Nation [1960]. 253 S. (Roman für alle 94). Tammsaare, Anton Hansen: Wargamäe. Ü: Adolf-Eduard Graf. Leipzig: Paul List 1970. 586 S; 21978. Tammsaare, Anton Hansen: Ich liebte eine Deutsche. Ü: Edmund Hunnius, bearb. von Aivo Kaidja. Tallinn: Perioodika 1977. 407 S. Tammsaare, Anton Hansen: Die lebenden Puppen. Prosa in Auswahl. Ü: Barbara und Friedrich Scholz. München: Wilhelm Fink 1979. 220 S. Tammsaare, Anton Hansen: Indrek. Ü: Eugenie Meyer. Leipzig: Paul List 1980. 472 S. Tammsaare, Anton Hansen: Wenn der Sturm schweigt. Ü: Eugenie Meyer. Leipzig: Paul List 1983. 291 S. Tammsaare, Anton Hansen: Karins Liebe. Ü: Eugenie Meyer. Leipzig, Weimar: Gustav Kiepenheuer 1988. 526 S.

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Verzeichnis der deutschen Übersetzungen

Tammsaare, Anton Hansen: Rückkehr nach Wargamäe. Ü: Eugenie Meyer. Leipzig, Weimar: Gustav Kiepenheuer 1989. 517 S. Die Tanzflöte. Märchen aus Estland. Ü: Alexander Baer (a.d. Russ.). Berlin: Verlag Volk und Welt 1988. 151 S. Tätte, Jaan: Bungee-jumping. Ü: Irja Grönholm. Berlin: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag 1999. 65 S. (unverkäufliches Manuskript). Tätte, Jaan: Die Brücke. Ü: Irja Grönholm. Berlin: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag 2001. 75 S. (unverkäufliches Manuskript). Tätte, Jaan: Fasten Seat Belts oder Viel Glück zum Alltag! Ü: Irja Grönholm. Berlin: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag 2003. 73 S. (unverkäufliches Manuskript). Tode, Emil: Im Grenzland. Ü: Horst Bernhardt. München, Wien: Paul Zsolnay / Carl Hanser 1997. 175 S. Traat, Mats: Inger oder Das Jahr auf der Insel. Ü: Siegfried Behrsing. Berlin: Verlag Volk und Welt 1976. 253 S. Tuglas, Friedebert: Am Rande der Welt. Ü: Friedrich Schwarz. Tartu: Krüger 1935. 71 S. (Estnische Reihe 1). Tuglas, Friedebert: Des Menschen Schatten. Ü: Friedrich Schwarz. Tartu: Krüger 1939. 70 S. (Estnische Reihe 5). Tuglas, Friedebert: Illimar. Ü: Friedrich Schwarz. Berlin: Der Morgen 1959. 538 S. Tuglas, Friedebert: Der goldene Reifen. Ü: Eugenie Meyer. Berlin: Der Morgen 1961. 459 S. Tuglas, Friedebert: Wo einst Karthago stand. Ü: Eugenie Meyer, bearb. von O. Schubert. Berlin: Der Morgen 1968. 338 S. Tuglas, Friedebert: Die himmlischen Reiter. Novellenauslese. Ü: Gisela Teeäär. Tallinn: Perioodika. 1982. 174 S. Tuulik, Jüri: Unter uns Hunden gesagt. Ü: Ruprecht Willnow (a. d. Russ.). Berlin: Verlag Volk und Welt 1984. 200 S. (Volk und Welt Spektrum 194). Tuulik, Jüri: Der Schnapsrabe. Ü: Irja Grönholm. Berlin: Verlag Volk und Welt 1987. 201 S. Uibopuu, Valev: Keiner hört uns. Ü: Benita Eisenschmidt. [Tallinn / Hamburg:] Bibliotheca Baltica 1993. 402 S. Under, Maria (sic): Stimme aus dem Schatten. Gedichte. Ü: Hermann Stock. Freiburg: Herder 1949. 77 S. Unt, Mati: Herbstball. Szenen aus dem Stadtleben. Ü: Wolfgang Köppe (aus dem Russischen). Berlin und Weimar: Aufbau 1987. 236 S. (Edition Neue Texte). Unt, Mati: reden und schweigen. Ü: Cornelius Hasselblatt. Frankfurt/M.: dipa 1992. 123 S. Valton, Arvo: Zugluft. Kurzprosa. Ü: Alexander Baer; Hans Skirecki (a. d. Ungarischen). Berlin: Verlag Volk und Welt 1983. 200 S. (Volk und Welt Spektrum 182). Valton, Arvo: Juku, der Dorftrottel. Ü: Irja Grönholm. Frankfurt/M.: dipa 1992. 101 S. Valton, Arvo: Arvid Silbers Weltreise. Ü: Iris Réthy. Frankfurt/M.: dipa 1995. 293 S. Vetemaa, Enn: Kleine Romane. Mit einem Nachwort von Lew Anninski. Ü: Erich Ahrndt (a. d. Russ.), Siegfried Behrsing, Harry Burck (a. d. Russ.), Helga Viira. Berlin: Verlag Volk und Welt 1981. 366 S; 21981: Buchclub 65.

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Vetemaa, Enn: Die Nixen in Estland. Ü: Günter Jäniche (a. d. Russ.); Übersetzung des Resümees ins Plattdeutsche von Hans Draehmpaehl. Berlin: Verlag Volk und Welt 1985. 196 S. (Volk und Welt Spektrum 207). Vetemaa, Enn: Die Nixen von Estland. Ein Bestimmungsbuch. Frei nach Enn Vetemaa bearbeitet und illustriert von Kat Menschik. Nach dem russischen Übersetzungsmanuskript ins Deutsche übertragen von Günter Jäniche. Mit 648 naturwissenschaftlichen, geographischen und najadologischen Abbildungen sowie sechzehn Farbtafeln. Frankfurt/M.: Eichborn Verlag 2002. 335 S. (Die andere Bibliothek 211). Wilde, Eduard: Aufruhr in Machtra. Ü: Adolf-Eduard Graf. Berlin: Rütten & Loening 1952. 597 S.; 21955; 3 Berlin: Neues Leben 1984. 382 S. Wir kehren Heim. Estnische Lyrik und Prosa. Nachdichtungen von Martha v. DehnGrubbe. Karlsruhe: Der Karlsruher Bote 1962. 52 S. Wuolijoki, Hella 1984: Sõja laul. Das Estnische Kriegslied. Zusammengestellt und mit Hilfe von Bertolt Brecht und Margarete Steffin ins Deutsche übertragen von Hella Wuolijoki. Estnisch und deutsch. Herausgegeben und kommentiert von Hans-Peter Neureuter, Ruth Mirov und Ülo Tedre. Stuttgart: Klett-Cotta; Helsinki: Otava. 181 S. (Sammlung Trajekt 18).

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Verzeichnis der deutschen Übersetzungen

Bildnachweis S. 77, 223, 307, 367, 373, 391, 452, 468, 510 Estnisches Literaturmuseum, Tartu S. 193 Estnische Botschaft in Riga S. 413 Estnisches Kunstmuseum, Tallinn S. 571, 633, 656, 664, 672, 701, 762 Postimees/Scanpix S. 643 Archiv des Estnischen Dramatheaters S. 683 Peter Strehmel S. 721 Piia Ruber

Register

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Register Das folgende Register führt alle Personennamen (mit Ausnahme der in der Zeittafel und im Literaturverzeichnis enthaltenen) sowie – kursiv – einige Sachbegriffe, wichtige Institutionen oder Namen von Zeitschriften oder Gruppierungen auf. Bei den Personen werden die Lebensdaten in Klammern angeführt; sie fehlen, wenn sie nicht ermittelt werden konnten. Die Anordnung erfolgt wie im Literaturverzeichnis nach dem deutschen Alphabet, die Zahlen beziehen sich auf die Seiten.

Aarne, Antti (1867–1925) 98 Aavik, Johannes (1880–1973) 355–357, 359–364, 368f., 372, 400, 417, 441, 519, 545 Academia Gustaviana 112–115, 141 Academia Gustavo-Carolina 115 Achmatova, Anna (1889–1966) 422 Adams, Valmar (1899–1993) 506, 543 Adamson, Hen(d)rik (1891–1946) 507 Adorf, Margit f Morti, Fagira D. Adson, Artur (1889–1977) 407–409, 411f., 416 f., 420, 422, 435, 439–441, 469, 499, 501, 507, 519, 545, 566 Agricola, Christian (1551–1586) 125 Agricola, Mikael (ca. 1510–1557) 125, 142 Ahlqvist, August (1826–1889) 33, 46f., 184 Aho, Juhani (1861–1921) 354, 358 Ahrens, Eduard (1803–1863) 171, 188 Ahven, Kalju (1921–1946) 543 Aimla, Priit (geb. 1941) 697, 712 Ainelo, Jaan (1882–1941) 516 Akadeemia 42, 503, 590, 705f., 779 Aktsioon 407, 445f., 498 Alavainu, Ave (geb. 1942) 647, 716 Albee, Edward (geb. 1928) 659 Albert von Buxhoeveden (ca. 1165–1229) 11 Alexander I. (1777–1825) 150, 163, 169, 178, 689f. Alexander II. (1818–1881) 19, 184, 277f. Alexander III. (1845–1894) 19, 273 Alexanderschule 270 f., 280 f., 287, 300, 304, 312, 320, 330, 403

Alle, August (1890–1952) 406, 417, 426, 429, 440f., 444f., 518, 527, 535, 537 Alliksaar, Artur (1923–1966) 572, 628, 637–641, 651f., 726 Almberg, Antti (ab 1906 Jalava; 1846–1909) 251 Alver, Betti (1906–1989) 490, 510f., 513f., 525, 538, 549f., 592 Anakreon von Teos (6. Jh. v. Chr.) 196 Andersen, Hans Christian (1805–1875) 308 Anderson, Walter (1885–1962) 55, 98f. Andresen, Nigol (1899–1985) 418, 515f., 525, 527, 550, 583, 698 Angervaks, Hugo f Päll, Eduard Annist, August (1899–1972) 524 Annus, Epp (geb. 1969) 358 Anouilh, Jean (1910–1987) 650 Ansomardi (d.i. Peäro August Pitka, 1866–1915) 358, 382 Antik, Richard (1901–1998) 45 Antson, Aleksander (1899–1945) 407, 445f., 498 f., 543 Anvelt, Jaan f Eessaare Aadu Anvelt, Leo (1908–1983) 490, 550 Arbujad 504, 508f., 511–514, 525, 575, 588, 592, 594, 638, 640 Arder, Ott (1950–2004) 716 Arensburgische Ehstnische Gesellschaft 94, 208f. Arninck (Arning, Arningk), Heinrich (1610–1662) 117 Arrak, Jüri (geb. 1936) 627

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Register

Arvelius, Friedrich Gustav (1753–1806) 50, 153, 155f., 158, 166, 205f. Arwidsson, Adolf Ivar (1791–1858) 170 Asimov, Isaac (1920–1992) 617 Aspe, Elisabeth (1860–1927) 319–323, 326, 351 Aspel, Aleksander (1908–1975) 508 Ast, Karl f Rumor, Karl Asumets, Aido (Ats; geb. 1971) 723 Ats f Asumets, Aido Aun, Elise (1863–1932) 302f., 320, 354 Barbarus, Johannes (d.i. Johannes Vares; 1890–1946) 406, 417, 426, 435, 438–441, 443–445, 479, 515, 527–529, 535, 548 Barbusse, Henri (1873–1935) 438 Barker, Matt (geb. 1979) 756 Baturin, Nikolai (geb. 1936) 628, 676 Baudelaire, Charles (1821–1867) 358, 422, 509 Baum, Vicky (1888–1960) 542 Beauvoir, Simone de (1908–1986) 617 Bebel, August (1840–1913) 334 Becher, Johannes Robert (1891–1958) 406, 591 Becker, Rudolph Zacharias (1752–1822) 155 f. Beckett, Samuel (1906–1989) 572, 617, 650, 655 Beekman, Aimée (geb. 1933) 607–609 Beekman, Vladimir (geb. 1929) 585f., 595, 605–607, 609f., 616, 621, 781f. Beethoven, Ludwig van (1770–1827) 729 Beier, Priidu (geb. 1957) 647, 720, 729f. Beiträge zur genauern Kenntniss der ehstnischen Sprache 94, 100, 169–172, 190f., 198, 200–202, 206, 208f., 228 Benn, Gottfried (1886–1956) 443 Berg, Maimu (geb. 1945) 719, 734f., 737, 757 Bergmann, Jaan (1856–1916) 253, 303f. Berija, Lavrenti (1899–1953) 583 Bernhard, Thomas (1931–1989) 736 Bjørnson, Bjørnstjerne (1832–1910) 322 Blankenhagen, Simon (1589–1640) 139 Blaumanis, R¯udolfs (1863–1908) 337 Blume, Christoph (1625–1669) 139f. Boccaccio, Giovanni (1313–1375) 173, 437 Bock, Timotheus von (1787–1836) 689f.

Bock, Wilhelm f Buccius Boecler, Johann Wolfgang († 1717) 92, 142 Böll, Heinrich (1917–1985) 610, 617 Books Abroad 42, 617 Borges, Jorge Luis (1899–1986) 681 Borm, Friedrich Wilhelm (1812–1881) 185f. Bornhöhe, Eduard (1862–1923) 291, 293, 295 f., 315, 319, 332, 536 Bourdieu, Pierre (1930–2002) 2 Braks, Tõnis (1885–1966) 499f. Brandes, Georg (1842–1927) 35, 351, 433 Brandt, Aleksander Eduard (1856–1909) 275 Brecht, Bertolt (1898–1956) 67, 241, 500, 587, 591, 650, 653, 750 Brendeken, Johann Christoph († 1716) 157 Breˇznev, Leonid (1906–1982) 582, 624 Brief der Vierzig 697 Brockmann (Brocmann), Reiner (1609–1647) 116–122, 138, 141, 143 Brüdergemein(d)e f Herrnhuter Brust, Alfred (1891–1934) 406 Buccius (Bock), Wilhelm (1585–1643) 110 Buk, Villem (1879–1941) 405, 531f. Bulgakov, Michail Afanas’eviˇc (1891–1940) 679, 786 Bunge, Friedrich Georg von (1802–1897) 184 Bunyan, John (1628–1688) 152 Bürger, Gottfried August (1747–1794) 190, 248 Burmeister, Angela (geb. 1958) 50 Burroughs, Edgar Rice (1875–1950) 751 Busaeus, Thomas (ca. 1550–1591) 109 Busch, Wilhelm (1832–1908) 471 Buxhoeveden f Albert von Buxhoeveden Calderón de la Barca, Pedro (1600–1681) 366 Calvino, Italo (1923–1985) 617 Camus, Albert (1913–1960) 617 Canisius, Petrus (1521–1597) 109 Capote, Truman (1925–1984) 617 Carroll, Lewis (1832–1898) 775 Cerisier, René de (1603–1662) 172 Chateaubriand, François René (1768–1848) 285 Christie, Agatha (1890–1976) 739 Christina (1626–1689) 139 Chruˇscˇev, Nikita Sergeeviˇc (1894–1971) 26, 582, 624

Register Cimze, J¯anis (1814–1881) 262 Clarté 427, 438f. Claudel, Paul (1868–1955) 422 Claudius, Matthias (1740–1815) 190 Comenius, Johann Amos (1592–1670) 113, 132 Conrad, Joseph (1857–1924) 5 Contra (d.i. Margus Konnula; geb. 1974) 716, 741–743, 748, 780 D’Annunzio, Gabriele (1863–1938) 369 Dante Alighieri (1265–1321) 437 Darwin, Charles (1809–1882) 351 Defoe, Daniel (1660–1731) 173 Descartes, René (1596–1650) 665 Dickens, Charles (1812–1870) 395, 491 Diesfeld, Johann (1820–?) 189 Diesterweg, Adolph (1790–1866) 262 Dörptsche Zeitung 177 f. Dostoevskij, Fëdor Michajloviˇc (1821–1881) 453, 491 Dreverk, Frida Johanna f Morn, Reed Dschingis Khan (1162–1227) 669 Duchamp, Marcel (1887–1968) 574 Dumas, Alexandre (père; 1802–1870) 294, 518 Dürrenmatt, Friedrich (1921–1990) 617 Eckholt (Eichholtz), Dorothea (1594–1646) 137 Edasi (verschiedene Publikationen) 184, 405, 530 f. Eenpalu, Kaarel (1888–1942) 483, 500 Eenpalu, Linda (1890–1967) 483 Eessaare Aadu (d.i. Jaan Anvelt; 1884–1937) 404 f., 533 Eesti Ekspress 722, 778 Eesti Kirjameeste Selts 30, 96, 280 Eesti Kirjandus 40 f., 350, 433, 469, 504, 517, 584 Eesti Kirjanduse Selts 283, 350 (s.a. Estnische Literaturgesellschaft) Eesti Kirjanike Kooperatiiv 44, 563f., 567, 573 Eesti Kostabi $elts 744, 752 Eesti Päevaleht 778, 781 Eesti Põllumeeste Selts 271 Eesti Postimees 184, 186–188, 334, 411 Eesti Üliõpilaste Selts 96, 272 Eggers, Georg Arnold (1791–1851) 267 Ehin, Andres (geb. 1940) 626, 628f., 639

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Ehin, Kristiina (geb. 1977) 720, 789 Ehlvest, Jüri (geb. 1967) 743, 746, 752–754, 756, 774, 784 Ehstnische Gelehrte Gesellschaft zu Dorpat 209, 216 Ehstnische Originalblätter für Deutsche 163, 179 Eichholtz f Eckholt Einbund, Karl-August f Eenpalu, Kaarel Einbund, Linda f Eenpalu Eisen, Matthias Johann (1857–1934) 96f., 100, 102, 302 Ekbaum, Salme (1912–1995) 576 Elisabeth (1709–1762) 17, 149, 152 Ellor, Elmo (1907–1986) 517 Éluard, Paul (1895–1952) 591 Engels, Friedrich (1820–1895) 515 Enno, Ernst (1875–1934) 358, 369–371, 588, 636 Erakkond 788–790 . Erenburg, Il’ja (1891–1967) 582 Erik XIV. (1533–1577) 14 Ertel, Alide (1877–1955) 381f. Estländische Literärische Gesellschaft 95, 218 Estnische literärische Gesellschaft 30, 96, 280–282, 285, 287, 300, 312f., 320, 323, 385, 427 Estnische Literaturgesellschaft 283, 331, 341, 350, 381, 393, 425–427, 469, 744, 771 Estonia (Autofähre) 581, 760 Estonia (Zeitschrift) 42 Estonia-Gesellschaft 310, 315 Estonia-Theater 315, 335, 411, 416, 496, 765 Estonian Literary Magazine 42 L’Estonie Littéraire 42 Ethnofuturismus 723, 741, 744–748 Faehlmann, Friedrich Robert (1798–1850) 45, 47, 95, 198, 210–215, 217, 222, 228f. Falck, Paul Theodor (1845–1920) 220 Fanfiction 775f. Faulkner, William (1897–1962) 617 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 729 Finnische Literaturgesellschaft 183, 224, 247, 281, 374 Fischer, Johann (1636–1705) 132, 144f., 148 Flaubert, Gustave (1821–1880) 491 Fleischer, Karl Friedrich Wilhelm (1777–1831) 198f.

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Register

Fleming, Paul (1609–1640) 116–118 Forselius, Bengt Gottfried (ca. 1660–1688) 131–134, 140, 144f. Forselius, Johann (1607–1684) 92 Freiligrath, Ferdinand (1810–1876) 248 Freud, Sigmund (1856–1939) 489, 519 Freundlich, Carl Wilhelm (1803–1872) 174, 203 f. Frey, Peter Heinrich von (1757–1833) 190, 209 Frisch, Max (1911–1991) 617 fs f Serpent, François Gailit, August (1891–1960) 380, 416f., 426, 435, 439f., 472–477, 482, 488, 495, 537f., 545, 566 Galsworthy, John (1867–1933) 453, 491 Ganander, Kristfrid (1741–1790) 200, 212 García Lorca, Federico (1898–1936) 591 Geheve, Carl Heinrich Constantin (1796–1856) 216 Geldern (oder Gellern), Johann(es) Robert(us) von (1545 Student in Königsberg, † 1572) 108 Gelehrte Estnische Gesellschaft 33, 94, 210, 215–217, 224, 228–230, 242–244, 246, 266, 281, 300 Gellert, Christian Fürchtegott (1715–1769) 158, 190, 201 Gide, André (1869–1951) 437 Giläus, Martin (1610–1686) 141 Gildenmann, Berend (1822–1884) 173, 204 f. Glavlit 519 f., 704 Glück, Ernst (1652–1705) 148 Göbel, Daniel († ?1656) 122 Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832) 226, 248, 308, 411, 422, 593 Goldenbeker Handschrift f Handschrift von Kullamaa Golding, William (1911–1993) 617 Gonˇcarov, Ivan Aleksandroviˇc (1812–1891) 453 Gorbaˇcev, Michail Sergeeviˇc (geb. 1931) 27f., 699, 705 Gor’kij, Maksim (1868–1936) 405, 522 Göseken, Heinrich (1612–1681) 122, 130, 141, 143f. Göttinger Hain 190, 196

Gottlund, Carl Axel (Kaarle Aksel; 1796–1875) 170 Goya, Francisco de (1746–1828) 658 Grabbi, Hellar (geb. 1929) 565, 617 Greene, Graham (1904–1991) 617 Grenzius, Johann Michael Gerhard (1759–1822) 158, 161, 177 Grenzstein, Ado (1849–1916) 275, 302, 308, 320, 324, 355f. Griboedov, Aleksandr Sergeeviˇc (1795–1829) 659 Grillparzer, Franz (1791–1872) 308, 422 Grimm, Jacob (1785–1863) 214, 244 Gronau, Antonie (1869–1934) 333 Gross, Villem (1922–2001) 559, 585, 607 Grossschmidt, Otto (1869–1941) 358 Grünthal, Ivar (1924–1996) 565, 576 Grünthal-Ridala, Villem (Wilhelm; 1885–1942) 36, 348, 355f., 358, 361, 368–370, 372, 374, 417 Gulerth, Konderth (Pfarrer in Kullamaa 1528–1532) 105 Gustav II. Adolf (1594–1632) 14, 112, 125 Gustav III. (1746–1792) 158 Gutslaff, Johann (auch Gutsleff, † 1657) 91f., 122, 129f., 143f., 147 Gutsleff, Eberhard der Ältere (1654–1725) 146 Gutsleff, Eberhard der Jüngere (?1700–1749) 134 f., 149, 151 Gutsleff, Heinrich (1680–1747) 146 Haava, Anna (1864–1957) 304–308, 315, 330, 351, 358, 372, 440, 506, 549 Haavaoks, Paul (1924–1983) 543, 585f. Hacker, Carl (1878–1948) 411f. Hainsalu, Lehte (geb. 1938) 586, 697 Halbdeutsch 218, 220f., 332, 387 Hamsun, Knut (1859–1952) 422 Handke, Peter (geb. 1942) 650 Handschrift von Kullamaa 105, 136 Hansen, Ann (1852–1903) 449 Hansen, Anton f Tammsaare Hansen, Käthe f Veltman, Käthe Hansen, Peeter (1841–1920) 449 Hargla, Indrek (geb. 1970) 740 Härm, Viiu (geb. 1944) 647 Harnoon, Max f Krull, Hasso Harris, E. Howard (1876–1961) 48

Register Hasenclever, Walter (1890–1940) 406, 422 Hasse, Matthias Friedrich (1717–1777) 152 Hauff, Wilhelm (1802–1827) 248 Hauptmann, Gerhart (1862–1946) 333, 422 Hebbel, Friedrich (1813–1863) 457 Hebel, Johann Peter (1760–1826) 95, 176 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) 729 Hehn, Johann Martin (1743–1793) 153 Heiberg, Marie (1890–1942) 358, 371f., 400, 409 Heidegger, Martin (1889–1976) 729 Heine, Heinrich (1797–1856) 305, 309, 411, 443, 542, 593 Heinrich von Lettland (ca. 1187 – nach 1259) 62, 104, 438 Heinsaar, Mehis (geb. 1973) 754, 756, 784, 789 Heinsius, Daniël (1580–1655) 117 Helbemäe, Gert (1913–1974) 577f. Helle, Anton Thor (1683–1748) 93, 102, 134–136, 147f., 151, 154 Heller, Johann Friedrich (1786–1849) 170 Henning, Carl Matthias (1774–1856) 173 Henno, Sass (geb. 1982) 773 Hennoste, Tiit (geb. 1953) 44, 285, 358, 384, 399, 403, 605 Henrici Chronicon Livoniae 104 Hermaküla, Evald (1941–2000) 654 Hermann, Karl August (1851–1909) 34f., 184, 275, 292, 300, 302, 311, 333, 382 Herder, Johann Gottfried (1744–1803) 18, 52, 93f., 228 Herrnhuter 17, 92, 96, 148–152, 163, 181, 211, 224, 243f., 359, 424, 455, 516 Hezel, Johann Wilhelm Friedrich (1754–1824) 192 Hiiemets, Johannes (1904–1942) 516 Hiiesaar, Edgar f Sein, Edgar Hiir, Erni (1900–1989) 401, 446f., 527, 535 Hikmet, Nazım (1902–1963) 591 Himsel, Gebhard (1603–1676) 117, 157 Hindrey, Karl August (1875–1947) 471f., 487, 495, 538 Hinrikus, Rutt (geb. 1946) 702 Hint, Aadu (1910–1989) 486, 490, 522, 527, 542, 552, 554f., 579, 599–603, 609, 685 Hint, Mati (geb. 1937) 698

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Hiram (d.i. Mari Laaniste; geb. 1977) 757, 775 Hirohall 707, 743f., 752, 769, 788 Hirv, Indrek (geb. 1956) 647, 722 Hitler, Adolf (1889–1945) 23–25, 479, 516, 526, 537, 694 Hochhuth, Rolf (geb. 1931) 617 Hoffmann, Alexander Friedrich Franz (1814–1882) 226 Hoffmann, Heinrich (1809–1894) 621 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich (1798–1874) 254 Hofmannsthal, Hugo von (1874–1929) 308, 422 Holberg, Ludvig (1684–1754) 207 Hölderlin, Friedrich (1770–1843) 729 Holter, Abram (1798–1851) 170 Holtz, Otto Reinhold (1757–1828) 154, 165 f., 171, 190 Homer (8. Jh. v. Chr.) 242, 244 Horaz (Quintus Horatius Flaccus; 65–8 v. Chr.) 118 Horn, W.O. von (d.i. Philipp Friedrich Wilhelm Oertel; 1798–1867) 176, 250, 258 Hornung, Johann (?1660–1715) 130f., 134, 146 Houwald, Christoph Ernst von (1778–1845) 248, 312 Hubel, Eduard f Metsanurk, Mait Hueck, Alexander von (1802–1842) 216, 266 Hugo, Victor (1892–1885) 437 Huizinga, Johan (1872–1945) 30 Hupel, August Wilhelm (1737–1819) 93, 135 f., 158, 160, 170, 210 Hurt, Jakob (1839–1907) 76, 95–98, 100f., 189, 204, 261, 264f., 270–273, 281f., 317 Hutt, Johann (1774–1809) 207 Huxley, Aldous (1894–1963) 652 Ibsen, Henrik (1828–1906) 375, 422 Idrisi, Abu al- (1100–1166) 11 Iffland, August Wilhelm (1759–1814) 205 Ignatius, Michael (1713–1777) 152 Ilmet, Peep (geb. 1948) 647 Ilo 429, 440, 446 Ilus, Väino (geb. 1929) 608 Ilves, Aapo (geb. 1970) 748 Ilves, Harald (1920–1998) 611

858

Register

Ilves, Toomas Hendrik (geb. 1953) 768 Das Inland 95, 168, 182–184, 210, 224f., 228 Innozenz III. (1160 od. 1161–1216) 11 Ionesco, Eugène (1912–1994) 650, 655 Ird, Kaarel (1909–1986) 653f. Isotamm, Johnny B. (d.i. Jaan; geb. 1939) 622, 642, 727, 739 Ivan IV. (1530–1584) 88, 474 Ivask, Ivar (1927–1992) 43, 576, 617 Jääger, Merle (geb. 1965) 723, 740 Jaik, Juhan (1899–1948) 496, 545, 566 Jakobson, Adam (1817–1857) 268 Jakobson, August (1904–1963) 429, 446, 477–479, 490, 496, 518, 520, 527–529, 536, 541f., 551, 558f., 648 Jakobson, Carl Robert (1841–1882) 188f., 245, 250, 257, 260–265, 268, 272–275, 277, 281–283, 286, 288–291, 301, 311, 313, 316f., 319 f., 324 Jakobson, Peeter (1854–1899) 302 Jaks, Ilmar (geb. 1923) 577–579 Jalak, Evald-Abram (1903–1974) 516 Jalakas, Peeter (geb.1961) 786 Jalava, Antti f Almberg, Antti Jandl, Ernst (1925–2000) 574 Jänes, Henno (1905–1970) 37f., 49 Jannau, Heinrich Johann von (1753–1821) 156 Janno, Richard (1900–1942) 492 Jannsen, Eugen (1853–1930) 287, 688 Jannsen, Eugenie (1845–1897) 251 Jannsen, Harry (1851–1913) 258 Jannsen, Johann Woldemar (1819–1890) 174–177, 184–188, 203f., 221, 224, 243, 249–251, 260f., 263, 273, 281, 283, 285, 311–313, 320, 665, 688 Jannsen, Lydia Emilie Florentine f Koidula, Lydia Jaroslav der Weise (ca. 978–1054) 11 Järv, Jaak (1852–1920) 275, 280, 291–293, 324, 333 Järve, Jaan (1894–1945) 436 Jean Paul (1763–1825) 227 Jensen, Johannes Vilhelm (1873–1950) 376 Jhering, Joachim (?1580–1657) 126, 139, 141, 143 Jõerüüt, Jaak (geb. 1947) 647, 679, 712 Jõgever, Jaan (1860–1924) 96, 350

Jõgi, Olev (1919–1989) 331 Johannes IV. Kievel (Kyvel; † 1527) 105 Johansen, Paul (1901–1965) 104–106, 109, 684 Joyce, James (1882–1941) 578 Judex, Matthäus (1528–1564) 139 Juhkum, Valter Leopold (1899–1934) 532 Jürgenson, Dietrich Heinrich (1804–1841) 33, 46f., 216f. Jürgenstein, Anton (1861–1933) 187f., 303 Jürissaar, Ottniell (geb. 1924) 543 Jürmann, Linda (1880–1966) 334 Jürna, Mihkel (1899–1972) 446, 496, 518, 527 Juske, Ants (geb. 1956) 623 Jyrjo, Ruth (geb. 1969) 723 Kaal, Aira (1911–1988) 527, 561, 697 Kaalep, Ain (geb. 1926) 587, 590f., 612, 638, 652 f., 657, 705f., 748 Kääri, Kalju (1921–1982) 43 Kaaver, Valter (1904–1946) 407, 445f., 498, 533 Kabur, Boris (1917–2002) 524 Kafka, Franz (1883–1924) 406, 542, 572, 578, 617, 621 Kajar, Krista (geb. 1943) 618, 622, 647 Kalda, Maie (geb. 1929) 697 Kalevala 75, 85, 91, 95, 212, 214, 216, 228–230, 240f., 269, 302, 652 Kalevipoeg 49, 51, 56, 66, 69f., 75, 78, 81, 85, 91, 184, 212f., 221, 224, 227–248, 269, 272, 294, 313, 369, 379f., 629, 646, 763 Kalinin, Michail Ivanoviˇc (1875–1946) 555 Kaljuste, Mari (geb. 1957) 781 Kall, Toomas (geb. 1947) 697 Kallas, Aino (1878–1956) 4, 256, 287, 417, 665, 734 Kallas, Axel (1890–1922) 402 Kallas, Oskar (1868–1946) 97f. Kallas, Teet (geb. 1943) 679, 707f., 726f., 759 Kalmus, Ain (d.i. Evald Mänd; 1906–2001) 538, 579f., 708 Kampmann (Kampmaa), Mihkel (1867–1943) 34–36, 382 Kandinsky, Vassily Vassileviˇc (1866–1944) 400 Kane, Elisha Kent (1820–1857) 227

Register Kangro, Bernard (1910–1994) 38, 43, 509, 513, 543, 545, 564f., 567–569, 574, 577, 594, 616, 708 Kangur, Kalju (1925–1989) 586 Kannike, Christian (1863–1891) 323 Kant, Immanuel (1724–1804) 729 Kantswey, Johann (1841–1884) 311 Kaplinski, Jaan (geb. 1941) 423, 626, 632–635, 637, 639, 657, 697, 712, 740f., 748, 760, 771f., 785, 788 Karell, Philipp Jakob (1806–1886) 277 Kareva, Doris (geb. 1958) 645f., 719–721, 723, 730, 768, 772, 780, 788 Karl XI. (1655–1697) 15, 122 Karl XII. (1682–1718) 16, 487 Karlson, Karl Ferdinand (1875–?1941/1942) 516 Kärner, Jaan (1891–1958) 426, 430, 440–443, 488, 491, 527, 529, 535, 548, 551, 561 Karu, Arnold (1908–1991) 395, 775 Karuks, Urve (geb. 1936) 580 Karusoo, Merle (geb. 1944) 660, 765f., 786 Kaselo, Kaster (1906–1941) 543 Käsu Hans (Hans Kes; † ca. 1715 oder 1734) 123 f. Katharina II. (1729–1796) 149, 161, 278, 689 Kaugver, Raimond (1926–1992) 524, 609, 612, 707f., 726, 731 Kauksi Ülle (d.i. Ülle Kahusk; geb. 1962) 647, 720, 743, 745–748, 788 Kaus, Jan (geb. 1971) 784, 790 Kautsky, Karl (1854–1938) 351 Keel ja Kirjandus 41 f., 584, 590, 704, 779 Keerdo, Paul (1891–1950) 536 Kekkonen, Urho (1900–1986) 27, 613f. Kelch, Christian (1657–1710) 92 Kender, Kaur (geb. 1971) 749, 756, 774, 783 Kerouac, Jack (1922–1969) 739 Kes, Hans f Käsu Hans Kesamaa, Manivald (1921–1985) 585 Kesküla, Kalev (geb. 1959) 647, 720, 722 Kibuvits, Leida (1907–1976) 480, 490f., 525, 549 Kievel f Johannes Kiik, Heino (geb. 1927) 609–612, 697, 707f., 726, 731, 739

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Kiired 353–358, 450 Kippel, Enn (1901–1942) 487f., 527 Kirjandusmuuseum 350 (s.a. Literaturmuseum) Kirsimägi, August (1905–1933) 492 Kirsipuu, Tiiu (geb. 1957) 346 Kitzberg, August (1855–1927) 332, 341, 354, 358, 384–392, 440, 491, 496f., 650 Kivastik, Mart (geb. 1963) 774, 786 Kivi, Aita (geb. 1954) 647, 720, 733f. Kivikas, Albert (1898–1978) 401f., 426, 435 f., 438, 440, 482, 488f., 493, 496, 537 f., 545, 567, 746, 781 Kivirähk, Andrus (geb. 1970) 754, 761–766, 774, 784, 786 Kivisildnik, Sven (geb. 1964) 716, 743, 745, 769–772, 774, 776, 788 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724–1803) 196, 590 Kluge, Franz Ferdinand (1809–1882) 243, 267 Klüse, Fritz f Kuhlbars, Friedrich Knorring, Johann Ludwig von (1769–1837) 206 Knüpffer, Arnold Friedrich Johann (1777–1843) 170, 228 Koch, Annette Juliana Emilie (1821–1890) 249 Koell, Johann († 1540) 107 Koeney, Albert (geb. 1936) 628 Köhler, Anna Catharina (geb. Trump; † 1769) 157 Köhler, Jacob Johann (1699–1757) 157 Köhler (Köler), Johann (1662–1736) 157 Koidula, Lydia (d.i. Lydia Emilie Florentine Jannsen; 1843–1886) 45, 176, 186, 224, 246, 249–261, 264, 267, 286f., 292, 299–306, 309f., 312f., 316, 320, 330, 351, 354, 372, 383, 528, 548, 550, 665, 711, 746, 774 Kõiv, Madis (geb. 1929) 658, 727–731, 748, 766, 786 Köler, Johann (1826–1899) 277, 283, 688 Koljo, Adam (ca. 1683 od. 1699–1759) 152 Kolk, Raimond (1924–1992) 574f., 616f. Kolla, Ilmi (1933–1954) 586, 621 Komensk´y, Jan Amos f Comenius Konnula, Margus f Contra

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Register

Koort, Jaan (1883–1935) 349 Körber, Carl Eduard Anton (1802–1883) 174, 268 Körber, Martin Georg Emil (1817–1893) 174, 268f. Kork, Arvi (1927–1997) 577 Körner, Theodor (1791–1813) 258, 311 Kõrv, Jakob (1849–1916) 275, 280, 284f., 323 Kostabi, Kalev Mark (geb. 1960) 744 Kotsar, Kustas (1872–1942) 348, 381 Kotta, Felix (1910–1963) 532, 548, 583 Kotzebue, August von (1761–1819) 156, 205–207, 313, 385 Kõusaar, Kadri (geb. 1980) 756 Kõvamees, Peeter f Meisel, Peeter Kreutzwald, Friedrich Reinhold (1803–1882) 45, 47, 51, 66, 86, 91, 95, 100, 165, 172f., 189, 210–213, 215, 221–230, 239–251, 255 f., 266, 269, 272, 280, 301, 311f., 316, 356, 369, 383, 687 Krikmann, Arvo (geb. 1939) 102 Krimm, Kaarel (1863–1894) 323 Krischnamurti, Jiddu (1895–1986) 519 Kritisches Journal der ehstnischen Sprache und Literatur 179 Krohn, Kaarle (1863–1933) 98 Kross, Jaan (geb. 1920) 50, 188, 198, 511, 523 f., 543, 546, 575, 587–590, 592, 635, 638, 677, 681–696, 706–708, 712, 719, 726, 731f., 781 f. Krull, Hasso (geb. 1964) 647, 720–723, 773 f., 776, 788 Krummacher, Friedrich Wilhelm (1796–1868) 203 Krusten, Erni (1900–1984) 490, 492, 552–554, 599, 602f. Krusten, Pedro (1897–1987) 490, 495, 522, 538 f., 545, 566 Krusten, Reet (geb. 1934) 395 Kruus, Hans (1891–1976) 403, 515f., 525, 550, 583 Kruus, Priit (geb. 1981) 785 Kruusa, Kalju (d.i. Jaanus Valk; geb. 1973) 789 f. Kruusvall, Jaan (geb. 1940) 660f., 680, 709, 729 Kruut, Felissa (1902–1957) 402

Krylov, Ivan Andreeviˇc (1769–1844) 305 Kuhlbars, Friedrich (1841–1924) 204, 246, 267 f. Kullamaa f Handschrift von Kullamaa Kullerkupp, Oskar (1897–1943) 531 Kulturkapital 425–428, 441, 451, 502, 520, 714 f., 742, 749 Kunder, Juhan (1852–1888) 33, 100, 188, 312–314 Kündja 275 Kunileid, Aleksander (Saebelmann; 1845–1875) 260 Künnap, Asko (geb. 1971) 716f., 790f. Kunnas, Leo (geb. 1967) 783 Kupar 707f., 743 Kupffer, Elisàr von (1872–1942) 220f. Kurg, Kalle (geb. 1942) 705 Kurman, George (Jüri; 1942–1994) 47, 652 Kurn, Jaan f Rond, Ralf Kuusberg, Paul (1916–2003) 527, 557, 605f., 609 f. Kyvel f Johannes Laaban, Ilmar (1921–2000) 329, 545, 574f., 628, 639, 651, 708 Laakmann, Heinrich (1802–1891) 172, 185, 188 f., 225f., 247, 262f., 266f. Laaman, Ilona (geb. 1934) 580 Laaniste, Mari f Hiram Laansalu, Hans-Erik f Tohvri, Erik Laar, Mart (geb. 1960) 28 Laarman, Märt (1896–1979) 641 Lagerkvist, Pär (1891–1974) 422 Laht, Uno (geb. 1924) 585f. Laidoner, Johan (1884–1953) 500 Laikmaa, Ants (Hans Laipman[n]; 1866–1942) 411, 413f. Laipaik, Herta (geb. 1921) 543 Laipman(n), Hans f Laikmaa, Ants Langemets, Andres (geb. 1948) 647, 697, 705 Laosson, Max (1904–1992) 527f. Lapin, Leonhard (geb. 1947) 651, 739 Lattik, Jaan (1878–1967) 358, 519 Laugaste, Eduard (1909–1994) 98 Laur, Andres (1908–1973) 563 Lauristin, Johannes f Madarik, Juhan Lauristin, Marju (geb. 1940) 620 Lauw, Woldemar Johann von (1712–1786) 159

Register Lawrence, David Herbert (1885–1930) 502 Leberecht, Hans (1910–1960) 4, 556f., 604 Lehrerseminar in Tartu 267, 300, 304, 312, 317, 330 Lehrerseminar in Valga 262, 317 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–1716) 729 Leinberg, Juhan (1812–1885) 339 Leino, Eino (1878–1926) 365 Lelow, Johannes (Anfang – Mitte des 16. Jh.) 105 Lembitu († 1217) 248 Lenau, Nikolaus (1802–1850) 248 Lenin, Vladimir Iljiˇc (1870–1924) 444, 522, 542, 548, 561, 624 Lepik, Jana (geb. 1981) 773 Lepik, Kalju (1920–1999) 543, 574–576, 616, 708, 745 Lepik, Mart (1900–1971) 524 Lepp, Marta (1883–1940) 348, 382, 492 Lermontov, Michail Jur’eviˇc (1814–1841) 300, 305, 422 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–1781) 205 Lesta, Rudolf (1885–1941) 353 Liiv, Elias (1857–1892) 324 Liiv, Jakob (1859–1938) 304, 324, 506 Liiv, Juhan (1864–1913) 304, 319, 324–330, 333, 351, 358, 360, 364, 370, 375, 383, 409, 746, 771 Liiv, Toomas (geb. 1946) 642 Liivaku, Uno (geb. 1926) 46 Liives, Ardi (1929–1992) 650 Lilienbach, Juhan (1870–1928) 405 Lilja, Pekka (geb. 1943) 47, 597, 610 Lincoln, Abraham (1809–1865) 590 Linda 275, 286–288, 303, 370f. Linde, Bernhard (1886–1954) 356–359, 369, 400, 429, 525 Lindfors, Axel Heinrich [der Ältere] (1723–1782) 157 Lindfors, Axel Heinrich [der Jüngere] (1757–1784) 157 Lindfors, Maria Elisabeth (1738–1799) 157 Lindgren, Astrid, (1907–2002) 589, 607 Lindsaar, Peeter (1906–1990) 577 Lintrop, Jaan (1885–1962) 381, 400f., 740 Lipp, Martin (1854–1923) 302 Literaturmuseum 44, 99, 243, 350, 395, 520, 732

861

Lõhmus, Aivo (1950–2005) 520, 647, 728, 770 f. Lönnrot, Elias (1802–1884) 86, 95, 100, 168, 183, 201, 212, 229, 240 Loodus 432, 469, 477, 479f., 489, 516, 540 Looming 40–42, 343, 400, 429–431, 437, 440–445, 447, 475, 495, 503, 508, 513f., 517, 522, 538, 549f., 562, 587, 596, 605f., 623, 626, 646, 654, 658, 668, 679f., 685, 702, 704f., 707, 738, 740, 749, 779, 786, 792 Loomingu Raamatukogu 584f., 617, 621, 779 Loorits, Oskar (1900–1961) 98f. Lorenzsonn, Caspar Franz (1811–1880) 172, 186 Lotman, Jurij (1922–1993) 619 Luce, Johann Wilhelm Ludwig von (1750 od. 1756–1842) 94, 165–167, 170f., 208f., 215, 316 Lücke, Anton Heinrich (1745–1799) 190, 204 Ludenius, Laurentius (1592–1654) 114 Lufft, Hans (1495–1584) 106 Luhaäär, Ingvar (geb. 1945) 628 Lühhike öppetus mis sees monned head rohhud 159 Luiga, Georg Eduard (1866–1936) 381 Luiga, Juhan (1873–1927) 325, 360 Luik, Hans (geb. 1927) 707 Luik, Viivi (geb. 1946) 622, 625f., 632, 635–639, 644, 698–702, 723, 746, 751, 756, 792 Lukas, Liina (geb. 1970) 3 Lukin, August (1888–1942) 527, 532 Luther, Martin (1483–1546) 13, 105–107, 111, 139, 142 Luts, Oskar (1887–1953) 341, 380, 383f., 389, 392–398, 426, 440, 467, 476, 549, 563, 661, 694, 750, 775, 781 Luuk, Erkki (geb. 1971) 718 Maaleht 778 Maasik, Einar (geb. 1929) 608 McCullers, Carson (1917–1967) 617 Macpherson, James (1736–1796) 228 Madarik, Juhan (d.i. Johannes Lauristin; 1899–1941) 533f., 536 Madisson, Osvald f Peno Alnovo Mäelo, Helmi (1898–1978) 491

862

Register

Maeterlinck, Maurice (1862–1949) 371, 422 Magazin für die Literatur des Auslandes 244 Mägi, Arvo (1913–2004) 38, 43, 545, 577 Mägi, Konrad (1878–1925) 349 Magritte, René (1898–1967) 679 Majakovskij, Vladimir Vladimiroviˇc (1893–1930) 401f., 446 Mälk, August (1900–1987) 446, 482–487, 498, 518, 537–539, 545, 566, 579, 616, 708 Mallene, Endel (1933–2002) 43 Malm, Jacob Johann (1796–1862) 218–220 Maltsvet f Leinberg Mana 41, 565, 576, 617, 652 Mänd, Evald f Kalmus, Ain Mändmets, Jakob (1871–1930) 354, 380f., 482 Mango Hans (ca. 1713–1780) 152 Mann, Heinrich (1871–1950) 503 Mann, Thomas (1875–1955) 491, 541 Männik, Eduard (1906–1966) 492 Männik, Hans (1893–?) 516 Mannteuffel, Peter August Friedrich von (1768–1842) 167f., 171, 225, 629 Marahwa Näddala=Leht 179 f. Marbach, Gotthard Oswald (1810–1890) 173 f., 227 Marinetti, Filippo Tommaso (1874–1944) 400 f. Maripuu, Elmar (geb. 1952) 581 Mark Twain (1835–1910) 395 Märka, Veiko (geb.1964) 597–599 Marpurg, George Gottfried (1755–1835) 167 Martens, Friedrich Fromhold (1845–1909) 691 Martens, Georg Friedrich (1756–1821) 691 Martna, Mihkel (1860–1934) 406 Martson, David (1846–1892) 299 Marx, Karl (1818–1893) 351, 515, 542 Masing, Otto Wilhelm (1763–1832) 162–165, 167, 170f., 179–182, 184f., 195, 198, 201f., 204, 209, 224, 593, 688 Masing, Uku (1909–1985) 512f., 546, 588, 594, 621, 637–639, 726, 763 Masters, Edgar Lee (1869–1950) 671 Mattheus, Ülo (geb. 1956) 680f., 757 Maurer, Arnold fTerijõe, Arnold Meel, Raul (geb. 1941) 738

Meinhard († 1196) 11 Meisel, Peeter (d.i. Peeter Kõvamees; 1901–1937) 532 Memling, Hans (zw. 1430 u. 1440–1494) 688 Menius, Friedrich (1593/94–1659) 113, 116 Menning, Karl (1874–1941) 397 Merca f Jääger, Merle Meri, Georg (1900–1983) 517 Meri, Lennart (1929–2006) 28, 296, 675f., 712 Merilaas, Kersti (1913–1986) 513f., 525, 538, 546, 550, 592 Merkel, Garlieb Helwig (1769–1850) 94 Mesikepp, Indrek f Serpent, François Metsaalt, Lehte (1933–2003) 626 Metsanurk, Mait (d.i. Eduard Hubel; 1879–1957) 375, 380, 426, 428, 435, 440, 470 f., 486–488, 499, 522, 550–552, 563 Metsar, Leo (geb. 1924) 608 Metua, Jaan (1889–1945) 499f. Meursius, Johannes (1579–1639) 117 Meyer, Leo (1830–1910) 217 Michailowna, Anna Elisabeth (1777–1807) 191 f. Michelson, Eduard (1845–1907) 251, 711 Michelson, Johann von (1735 od. 1740–1807) 689 Mihkelson, Ene (geb. 1944) 645, 731f. Mihkelson, Friedebert f Tuglas Mihkla, Karl (1901–1980) 36 Mikita, Valdur (geb. 1970) 718, 792 Mikiver, Heino (1924–2004) 651 Mikiver, Mikk (1937–2006) 650 Milius, Matti (geb. 1945) 730 Moguˇci, Matti f Beier, Priidu Mohn, Märt (1811–1872) 227 Mölder, Vassili (1878–1943) 405 Möllenbeck, Josua († 1657) 122 Möller, Jürgen f Müller, Georg Molotov, Vjaˇceslav Michajloviˇc (1890–1986) 761 Moravia, Alberto (1907–1990) 761 Morgenstern, Christian (1871–1914) 626 Morn, Reed (d.i. Frida Johanna Dreverk; 1898–1978) 489f., 545, 566 Morti, Fagira D. (d.i. Margit Adorf; geb. 1974) 790 Mõtslane, Mats (1884–1956) 480, 482

Register Mro˙zek, Slawomir (geb. 1930) 617, 650, 655 Müller, Georg (ca. 1570–1608) 108, 137, 139, 141 Muller, Helgi (1932–1971) 625 Münther, Otto (1864–1929) 405 Murrang 429, 438f., 446, 504 Murrik, Hella f Wuolijoki Murutar, Kati (geb. 1967) 733, 783 Musaæ Embecciades 114 Mutt, Mihkel (geb. 1953) 680, 708, 712, 718 f., 759 Naelapea, Yri (1896–1969) 480, 503 Napiersky, Carl Eduard (1793–1864) 184 Napoleon I. (1769–1821) 17, 190, 474, 691 Nekrasov, Nikolaj Alekseeviˇc (1821–1878) 305 Neruda, Pablo (1904–1973) 437, 591 Neus, Alexander Heinrich (1795–1876) 95, 100, 184, 218, 227 Nietzsche, Friedrich (1844–1900) 351, 358, 489, 787 Nigov, Anton f Õnnepalu, Tõnu Niit, Ellen (geb. 1928) 548, 587, 589f., 638 Nikolai I. (1796–1855) 182, 690 Nikolai II. (1868–1918) 21 Nirk, Endel (geb. 1925) 39, 588, 697 Nocks. Jakob (1800–1890) 211 Nolcken, Johann Friedrich von (1789–1853) 211 Noor-Eesti 329, 356f., 359–361, 368f., 372, 374, 377, 384f., 393, 399f., 403, 405, 407, 409, 414, 416, 429, 502, 507, 522 Nõu, Enn (geb. 1933) 567, 580 Nõu, Helga (geb. 1934) 580f. Nurme, Minni (1917–1994) 481, 527, 548, 595 Odamees 429, 436 Oengo, Julius (1901–1941) 506, 516 Oertel, Philipp Friedrich Wilhelm f Horn, W.O. von Oidekivi, Kirsti (geb. 1959) 792 Õigem Valem 790 Oinas, Felix (1911–2004) 99 Ojamaa, Liisi (geb. 1972) 723 Oks, Jaan (1884–1918) 407–410, 416f., 739 Oldekop, Gustav Adolph (1755–1838) 158, 178, 182, 202 Olearius, Adam (1603–1671) 116

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Olevik 275, 297, 308, 320, 324, 355f., 389 Oltrogge, Carl (?1807–1876) 253 Õnnepalu, Tõnu (geb. 1962) 647, 720, 735–737, 755f., 760 Opitz, Martin (1597–1639) 113, 115, 117, 119 Oras, Ants (1900–1982) 38, 43, 508, 514, 562, 593 Orbiit 502, 507 Ordinari Donnerstags Post=Zeitung 159 Ordinari Freytags Post=Zeitung 159 Orgusaar, Jüri (1857–1912) 348 Oro, Julius f Oengo, Julius Orwell, George (1903–1950) 548, 652 Ostra, Alma (1886–1960) 348, 480f. Õunapuu, Ervin (geb. 1956) 716f., 753f., 756 Overbeck, Christian Adolf (1755–1821) 190 Ovidius Naso, Publius (43 v. Chr. – ca. 18 n. Chr.) 448 Oxenstierna, Axel (1583–1654) 108, 139 Paavle, Jaan (geb. 1940) 647 Pacius, Friedrich (Fredrik; 1809–1891) 261 Paju, Juhan (1939–2003) 739 Päll, Eduard (1903–1989) 531, 534 Palm, August (1902–1972) 524 Panso, Voldemar (1920–1977) 650, 653f. Pantenius, Theodor Hermann (1843–1915) 734 Parijõgi, Jüri (1892–1941) 496, 516, 519 Park, Eeva (geb. 1950) 647, 758f., 788 Pärn, Jakob (1843–1916) 316–319, 322, 336 Pärn, Priit (geb. 1946) 704 Parve, Ralf (geb. 1919) 527, 536, 561, 595 Pasternak, Boris (1890–1960) 422 Päts, Konstantin (1874–1956) 23, 334, 424, 447, 483, 486, 488, 500, 503, 515, 522f., 681, 694, 763 Paucker, Carl Julius Albert (1798–1856) 184 Paul I. (1754–1801) 67, 169 Pedajas, Peeter f Vallak, Peet Pedajas, Priit (geb. 1954) 728 Peegel, Juhan (geb. 1919) 609f., 620 Peep, Harald (1931–1998) 43, 49, 394, 616 Peko 75, 78–85, 87 PEN-Club 374, 412, 578 The Penny Magazine 226

864

Register

Peno Alnovo (d.i. Osvald Madisson; 1902–1938) 532 Perandi, Liisa (1879–1946) 496 Perno Postimees 184–186, 188, 286 Pert, Jaan (1899–1953) 492 Pervik, Aino (geb. 1932) 647 Pest 14, 17, 70f., 115, 121, 127, 129, 137, 141, 143, 147, 231, 235, 685 Pestalozzi, Johann Heinrich (1746–1827) 262, 287 Petenberg, Carl Hermann (1822–1885) 310 Peter I. (1672–1725) 16, 115, 148, 535 Peterson, Adam (1838–1918) 204 Peterson, Ado (1773–1845) 202 Peterson, Kristian Jaak (1801–1822) 30, 38, 45, 170f., 190–202, 212, 329, 360, 383, 409, 523, 548, 586, 688, 746 Peterson-Särgava, Ernst (1868–1958) 330–332, 480 Pet˝ofi, Sándor (1823–1849) 309 Petri, Johann Christoph (1762–1851) 93f. Das Pfennig-Magazin 226 Picasso, Pablo (1881–1973) 661 Piccaluga, Caroline Antoinette (1792–1858) 688 Pietismus 134, 148–152, 163f., 167, 176, 203, 209, 352 Piirikivi, Ado f Grenzstein Pilter, Lauri (geb. 1971) 784f. Pilv, Aare (geb. 1976) 789 Pindar (522 oder 518 – nach 436 v. Chr.) 196 Pinter, Harold (geb. 1930) 650 Pirandello, Luigi (1867–1936) 437 Pistohlkors, Otto Friedrich von (1754–1831) 179 Plath, Sylvia (1932–1963) 756 Ploom, Elmar f Ellor, Elmo Põdder, Maximilian (1852–1905) 319, 322f., 351 Põldmäe, Asta (geb. 1944) 679–681, 760 Põldmäe, Rudolf (1908–1988) 98, 524 Polko, Elise (1822–1899) 253 Polus, Timotheus (1599–1642) 117, 127 Pöögelmann, Hans (1875–1938) 354, 403–405, 532 Porthan, Henrik Gabriel (1739–1804) 200 Poska, Jaan (1866–1920) 21

Postimees 184, 188f., 243, 245, 250, 252, 263 f., 266, 270, 273–275, 283, 292, 306, 308, 313, 320f., 333f., 353f., 362, 370, 372, 382, 385f., 400, 404, 406, 413, 436, 450, 471, 480, 517, 521, 548, 577, 778, 781 Pranspill, Andres (1887–1968) 459 Prants, Hindrik (1858–1932) 288, 303 Preußler, Otfried (geb. 1923) 607 Priimägi, Linnar (geb. 1954) 623 Promet, Lilli (geb.1922) 527, 607–609, 658 Pruul, Kajar (geb. 1959) 776 Pugaˇcov, Jemeljan Ivanoviˇc (1740/1742–1775) 158, 689 Pühhapäwa Wahhe-luggemissed 163 Puide, Peeter (geb. 1938) 5, 60, 581 Pulga Jaan (geb. 1947) 748 Pullat, Raimo (geb. 1935) 276 Puˇskin, Aleksandr (1799–1837) 5, 300, 305, 443 Pytheas von Massalia (2. Hälfte des 4. Jhs. v. Chr.) 676 Quandt, Johann Christian der Ältere (1704–1750) 151f. Queneau, Raymond (1903–1976) 717 Quevedo y Villegas, Francisco Gómez de (1580–1645) 787 Raag, Raimo (geb. 1953) 48 Rahman, Jan (geb. 1975) 748 Raid, Juku-Kalle (geb. 1974) 790 Rakke, Kerttu (geb. 1971) 774, 783 Rammo, Adolf (1922–1998) 586 Randa, Kaljo f Naelapea, Yri Ränik, Valeria (geb. 1964) 716, 743, 745 Ränk, Gustav (1902–1998) 99 Ranna, Helene (1898–1946) 482 Rannaleet, Ain (1904–1943) 531f. Rannet, Egon (1911–1983) 559, 585, 648 Rannit, Aleksis (1914–1985) 576 Rätsep, Tõnis (geb. 1947) 657 Raud, Eno (1928–1996) 776 Raud, Mart (1903–1980) 481f., 493, 508f., 527, 535, 551, 561, 594 Raud, Rein (geb. 1961) 647, 776, 785 Raudam, Toomas (geb. 1947) 751 Raudsepp, Hugo (1883–1952) 361, 426, 440, 496–498, 525, 538f., 550 Raudsepp, Minni f Nurme, Minni

Register Rävälä, Annus f Tarand, Helmut(h) Reiman, Liina (1891–1961) 491 Reiman, Villem (1861–1917) 283 Reiman(n), Rudolf (1883–1957) 407, 417, 499 Reinthal, Carl (1797–1872) 230, 244 Reinvald, Ado (1847–1922) 275, 301f., 321 Remmelgas, Lembit (1921–1992) 296, 528, 588, 684 Remsu, Olev (geb. 1947) 716, 756 Reuter, Fritz (1810–1874) 322 Revalsche Post=Zeitung 159 Revalsche Zeitung 189, 333 Ribbentrop, Joachim von (1893–1946) 761 Ridala, Villem f Grünthal-Ridala Rilke, Reiner Maria (1875–1926) 371, 422, 509 Rimbaud, Jean Nicolas Arthur (1854–1891) 422 Rimmel, Rudolf (1937–2003) 621, 625 Ringvee, Ringo (geb. 1968) 723 Ristikivi, Karl (1912–1977) 38, 43, 480, 538–542, 546f., 562f., 567, 569–574, 578, 616, 641, 652, 708, 781 Ristirahwa pühhapäwa leht 274 Ristlaan, Rein (geb. 1933) 698 Rochow, Friedrich Eberhard von (1734–1805) 155 Roht, Richard (1891–1950) 400, 417, 426, 435 f., 438, 481f., 493, 543 Romanwettbewerb 432, 469, 477, 479f., 489, 540, 557, 563, 610f., 773 Rond, Ralf (d.i. Jaan Kurn; 1893–1981) 446, 502 Rood, Olaf f Naelapea, Yri Roos, Jaan (1888–1965) 520, 562 Roose, Artur (1903–1929) 478 Rooste, Jürgen (geb. 1979) 716–718, 720, 790 f. Rosenplänter, Johann Heinrich (1782–1846) 94, 164, 168–172, 181, 191, 194–196, 198, 202, 206, 224 Rosenplänters Beiträge f Beiträge Rosenthal, Heinrich (1846–1916) 258 Rossihnius, Joachim (ca. 1600 – ca. 1645) 111, 137f., 143 Rostand, Edmond (1868–1918) 422 Roth, Carl August von (1756–1835) 178

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Roth, Georg Philipp August von (1783–1817) 178 Roth, Johann Philipp von (1754–1818) 178, 202 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) 207f., 287 Rowling, Joanne Kathleen (geb. 1965) 715, 782 Ruben, Aarne (geb. 1971) 785 Rudbeckius, Johannes (1581–1646) 125–127 Ruitlane, Olavi (geb. 1969) 748 Rummo, Jaan (1897–1960) 543 Rummo, Paul (1909–1981) 518, 527, 536, 557, 561, 585f. Rummo, Paul-Eerik (geb. 1942) 296, 623, 625 f., 629–632, 635, 639, 654–658, 697, 708, 712, 716, 726, 777, 787 Rumor, Karl (d.i. Karl Ast; 1886–1971) 348, 375, 428, 495, 545, 566 Runeberg, Johan Ludvig (1804–1877) 261 Runnel, Hando (geb. 1938) 626f., 635, 658, 698, 703f., 707, 727f., 746, 770f., 788 Russifizierung 19f., 262, 273, 275, 278f., 283, 299, 304, 349, 355, 385, 432, 674, 698 Rüssow (oder Russow), Balthasar (ca. 1536–1600) 108f., 684–686 Russow, Friedrich Nikolai (1828–1906) 189, 246, 277 Ruud, Linda (geb. 1932) 625 Ruven, Johannes (1902–1942) 496, 543 Saal, Andres (1861–1931) 291, 297f. Saar, Ants (1920–1989) 585 Saar, Veera (1912–2004) 608 Saareste, Andrus (1892–1964) 364 Saarlane 275 Saat, Mari (geb.1947) 678f., 760 Sachs, Hans (1494–1576) 204 Saebelmann, Aleksander f Kunileid Saedler, Marie Elisabeth (1805–1888) 222 Sakala 189, 263, 273–275, 277, 288, 290, 300, 317, 323f., 403 Saks, Edgar Valter (1910–1984) 488, 545, 562 Saks, Ita (1921–2003) 697 Salama, Hannu (geb. 1936) 502 Saleman(n), Georg (1597–1657) 122, 138, 141

866

Register

Salenius, Olaus Georg († 1657) 122 Salinger, Jerome David (geb. 1919) 617, 662 Salokannel, Juhani (geb. 1946) 47 Salu, Herbert (1911–1988) 44 Saluri, Rein (geb. 1939) 582, 658, 678, 709, 719, 729 Samarüütel, Mihkel (geb. 1977) 749, 786 Sander, Rein (geb. 1945) 647 Sander, Tõnu (1868–1894) 34, 382 Sang, August (1914–1969) 513f., 522, 525, 543, 546, 550, 593f. Sang, Joel (geb. 1950) 642, 705, 723 Särg, Indrek (geb.1966) 770 Särgava, Ernst f Peterson-Särgava Sartre, Jean-Paul (1905–1980) 437, 617 Saussure, Ferdinand de (1857–1913) 363 Sauter, Peeter (geb. 1962) 710, 737–739, 748, 756, 774, 783 Saxo Grammaticus (ca. 1150 – ca. 1220) 91 Scaliger, Julius Caesar (1484–1558) 115, 117 Schiefner, Anton (1817–1879) 243f. Schiemann, Theodor (1847–1921) 136 Schiller, Friedrich (1759–1805) 165, 200, 248, 302, 308, 360, 411, 422 Schirren, Carl (1826–1910) 217 Schlegel, Christian Hieronymus Justus (1755–1842) 93f. Schmid, Christoph (1768–1854) 172f. Schmidt, Annie M.G. (1911–1995) 607 Schmidt, Bernhard (1879–1935) 691 Scholz, Friedrich (geb. 1928) 49f., 253, 356 Schott, Wilhelm (1802–1889) 49, 244f. Schubart, Christian Friedrich Daniel (1739–1791) 190 Schüdlöffel, Gustav Heinrich (1798–1859) 184, 228 Schultz-Bertram, Georg (1808–1875) 220, 228–230, 242, 263, 269 Schütz, Johannes f Sütiste, Juhan Schwabe, Joachim Gottlieb (1754–1800) 158, 190, 204 Schwarzwälder Bote 187 Schwitters, Kurt (1887–1948) 575 Sciencefiction 8, 316, 379, 401, 566, 659, 739–741, 784 Scott, Walter (1771–1832) 290, 453 Sein, Edgar (1908–1941) 502

Semper, Johannes (1892–1970) 399–401, 406, 416f., 426, 430, 435–437, 439–441, 444 f., 490, 504, 515, 517, 522, 525, 527–529, 535, 548, 550, 552, 557, 559 Sepp, Rein (1921–1995) 543 Seppel, Ly (geb. 1943) 626 Sergo, Herman (1911–1989) 608 Serpent, François (d.i. Indrek Mesikepp; geb. 1971) 791f. Seuberlich, Rudolph (1841–1913) 220 Severjanin, Igor (1887–1941) 402 Shakespeare, William (1564–1616) 113, 308, 375 Sigismund II. August (1520–1572) 13 Sigismund, Berthold (1819–1864) 300 Siig, Arvi (1938–1999) 625 Sild, Ivar (geb. 1977) 718, 790 Sillaots, Marta (1887–1969) 490f., 496, 525 Simanowski, Roberto (geb. 1963) 736 Sinijärv, Karl Martin (geb. 1971) 716f., 723, 743 f., 746, 774, 788, 790 Sinimäe, Juhan (1910–1984) 524 Sirge, Rudolf (1904–1970) 446, 478–480, 499, 518, 526, 541, 543, 599, 603f., 648 Sirkel, Mati (geb. 1949) 697 Sirp 680, 751, 790 Sirp ja Vasar 521, 527, 550, 704 Sittow, Michael (1469?-1525) 688 Siuru 32, 401, 406, 412, 416–418, 421, 427, 429, 431, 436, 438–440, 444, 447f., 473f., 501, 504f., 507, 743f. Skytte, Johan (1577–1645) 112f. Smuul, Juhan (1922–1971) 527, 536, 548, 560–562, 596, 605, 616, 649 Soans, Jaak (geb. 1943) 468 Sommer, Jakob Martin (1860–1897) 323 Sommer, Johann Friedrich f Suve Jaan Sommer, Lauri (geb. 1973) 789 Sommer, Michael (Ende des 16. Jh.s., frühes 17. Jh.) 110 Sonntag, Karl Gottlob (1765–1827) 199 Soomets, Triin (geb. 1969) 716f., 723–726, 788 Sööt, Karl Eduard (1862–1950) 304f., 308f., 315, 330, 351, 354, 440, 506, 549, 588 Sophokles (497/496–406) 391 Sowjetliteratur (Zeitschrift) 42 Speek, Peeter (1873–1968) 334

Register Spengler, Oswald (1880–1936) 474, 572, 652 Die Spinnstube 176 Spinoza, Baruch (Benedictus) de (1632–1677) 729 Spracherneuerung 359, 361–363, 369, 441, 718 Stahell, Henricus (ca. 1600–1657) 110f., 120, 126–130, 133, 137–141, 143f., 227 Stahl, Heinrich f Stahell, Henricus Stalin, Josif Vissarionoviˇc (1879–1953) 23–26, 32, 295, 404f., 506, 515, 517, 522, 524 f., 529, 537, 542, 557–559, 561f., 582 f., 586 f., 595 f., 603, 615, 621, 624, 650, 693f., 699, 761, 763 Stanislavskij, Konstantin Sergeeviˇc (1863–1938) 650 Stein, Victor Julius (1841–1873) 310 Steiner, Rudolf (1861–1925) 519 Steinsberg, Peter Andreas Johann (1795–?) 207, 312 Stender, Gotthard Friedrich (1714–1796) 154 Stendhal (d.i. Marie-Henri Beyle; 1783–1842) 437 Ströhm, Carl Constantin (1812–1888) 243, 267 Suburg, Lilli (1841–1923) 249, 275, 286–290, 303, 315–317, 320 Sudermann, Hermann (1857–1928) 333 Suislepp, Harald (1921–2000) 585 Suits, Gustav (1883–1956) 3, 36–38, 49, 250, 253, 327, 352–358, 361, 364–368, 370–372, 374, 380, 383, 406, 409f., 425, 429, 433f., 440 f., 449 f., 503 f., 519, 522, 539, 545, 562, 566 Sütiste, Juhan (1899–1945) 446, 504–506, 508, 543, 588 Suuman, Aleksander (1927–2003) 625f., 639 Süvalep, Ele (geb. 1951) 398 Suve Jaan (1777–1851) 175, 204 Taar, Agnes (1897–1976) 499f., 550 Tacitus, Publius Cornelius (ca. 55 – ca. 120) 11 Tallinna Noored Tegijad 790 Tallinna Sõber 274 Tallinna Teataja 447, 470, 473 Tallorahwa Postimees 185, 188 Talve, Ilmar (geb. 1919) 45, 99, 575 Talvest, Mai (1909–2001) 559

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Talvet, Jüri (geb. 1945) 647 Talvik, Heiti (1904–1947) 509, 511–514, 524 f., 539, 543, 569, 593f. Tamberg, Helene f Ranna, Helene Tamm, Jakob (1861–1907) 304f., 315, 450 Tamme, Villu (geb. 1963) 739 Tammlaan, Evald (1904–1945) 499, 542f. Tammsaare, Anton Hansen (1878–1940) 45, 305, 353, 355, 375, 380, 383, 393, 426, 440, 449–470, 476f., 483, 491, 494, 496f., 503, 534, 541f., 563, 578, 635, 673, 675, 685, 694, 732, 735, 786 Tampere, Herbert (1909–1975) 98, 101 Tänapäev 503 Tarand, Helmut(h) (1911–1987) 524 Tarapita 32, 62, 427, 429, 438–441, 504, 507 Tart, Indrek (geb. 1946) 787 Tarto maa rahwa Näddali-Leht 177, 179, 202 Tartu Eesti Seitung 275, 291 Tasa, Edur (1903–1941) 543 Tassa, Aleksander (1882–1955) 349, 417, 440 f., 550 Tätte, Jaan (geb. 1964) 766, 786 Tavel, Lehte (geb. 1938) 697 Teataja 334, 338, 411, 450 Tedre, Ülo (geb. 1928) 102 Tennov, Endel (1926–1978) 608 Terijõe, Arnold (d.i. Arnold Maurer; 1902–1937?) 532 Thomas von Kempen (1379/1380–1471) 173 Thomasson, Johann (1817–?) 173 Thoms, William John (1803–1885) 52 Thomson, Erik (1915–1990) 49 Tiesenhausen, Bernd Heinrich von (1703–1789) 124 Tigane, Leida (1908–1983) 492 Tigersprung 768, 773 Tisenhusen, Barbara von (1533–1553) 734 Tode, Emil f Õnnepalu, Tõnu Tohvri, Erik (d.i. Hans-Erik Laansalu; geb. 1933) 780 Tolstoj, Lev Nikolaeviˇc (1828–1910) 322, 491, 555, 730 Tõnisson, Jaan (1868–?) 354 Tooming, Jaan (geb. 1946) 650, 654 Tooming, Osvald (1914–1992) 525, 543, 557–559 Toona, Elin (geb. 1937) 580f.

868

Register

Tournier, Michel (geb. 1924) 5 Traat, Mats (geb. 1936) 625, 658, 670–675, 677, 707f., 748, 759f. Trapeeˇz, Albert f Lapin, Leonhard Treffner, Hugo (1845–1912) 271, 283, 288 Treffners Gymnasium 271, 324, 353, 356f., 372, 450 Trein, Karl (1900–1937) 532 Triik, Nikolai (1884–1940) 349, 417f. Trubetsky, Tõnu (geb. 1963) 723, 739 Trump f Köhler, Anna Catharina Truu, Oskar (1887–1949) 381 Tuglas, Friedebert (1886–1971) 37, 45, 246, 281, 327f., 331, 348, 356–358, 368, 372–379, 408f., 412, 416f., 426, 428–430, 435, 440f., 493–495, 503, 522, 525, 538f., 545 f., 549 f., 577, 583, 669, 737, 740 Tulimuld 41, 43, 564f., 567, 569 Tungal, Leelo (geb. 1947) 622, 628 Turgenev, Ivan (1818–1883) 491 Tuulik, Jüri (geb. 1940) 627, 676f. Tuulik, Ülo (geb. 1940) 676 Üdi, Jüri f Viiding, Juhan Uhland, Ludwig (1787–1862) 244, 248 Uibo, Enn (1912–1965) 524 Uibopuu, Valev (1913–1997) 546, 562f., 567, 573f. Under, Marie (1883–1980) 45, 383, 406, 410–423, 426, 435, 439–441, 443, 447–449, 474, 504, 507, 519, 538, 545, 566, 635, 708, 790f. Undla-Põldmäe, Aino (1910–1992) 524 Undusk, Jaan (geb. 1958) 3, 319, 356, 687, 710 f., 787 Unt, Mati (1944–2005) 653, 655, 657f., 661–666, 668, 677, 697, 708–711, 719, 750 f., 765, 774, 786f. Urgart, Oskar (1900–1953) 528f. Urmet, Jaak f Wimberg Ürt, Julius f Tart, Indrek Usthal, Arthur 220 Uudised 334, 339 Uus, Eia (geb. 1985) 756 Uus Ilm 334, 404 Vaarandi, Anton (1901–1979) 527 Vaarandi, Debora (geb. 1916) 527, 536, 548, 561, 594, 616

Vabarna, Anne (1878–1964) 76–78, 84–89, 561 Vabbe, Ado (1892–1961) 400 Vadi, Urmas (geb. 1977) 784 Vaher, Berk (geb. 1975) 789 Vaher, Luise (1912–1992) 608 Vahing, Vaino (geb. 1940) 658, 677f., 728 Vaigur, Enn (1910–1988) 499f. Vaino, Karl (geb. 1923) 698 Väisänen, Armas Otto (1890–1969) 76, 86 Valgus 275, 280, 284 Väljas, Vaino (geb. 1931) 629 Väljataga, Märt (geb. 1965) 717, 721, 723, 773, 776 Valk, Heinz (geb. 1936) 703 Valk, Jaanus f Kruusa, Kalju Vallak, Peet (1893–1959) 493–495, 522, 539, 669 Vallisoo, Mari (geb. 1950) 645–647, 746 Valton, Arvo (geb. 1935) 296, 525, 658, 666–669, 677, 697, 707f., 712, 726, 731, 751 Vanemuine-Gesellschaft 257f., 260, 263f., 270, 300, 310–313, 315 Vanemuine-Theater 315, 387, 392, 397, 473, 493, 653f. Varamu 447, 503, 517, 521f. Vardi, Sophia f Lepp, Marta Vares, Johannes f Barbarus, Johannes Vee, Elo f Viiding, Elo Veidemann, Rein (geb. 1946) 705, 712 Velsker, Mart (geb. 1966) 767f. Veltherus f Völcker Veltman, Käthe (1896–1979) 451 Verhaeren, Emile (1855–1916) 437 Verne, Jules (1828–1905) 322 Veske, Mihkel (1843–1890) 97f., 101, 275, 283, 300f., 304, 372, 759 Vestring, Salomo (1663–1749) 135 Vetemaa, Enn (geb. 1936) 621, 625, 630, 658 f., 669f., 677, 707f., 716, 719, 760 Vihalemm, Arno (1911–1990) 576, 616 Viidalepp, Richard (1904–1986) 98 Viiding, Elo (geb. 1974) 716f., 723f., 788 Viiding, Juhan (1948–1995) 476, 635, 641–644, 657, 697, 719 Viiding, Paul (1904–1962) 511f., 514, 525, 549 f., 557, 594

Register Viires, Piret (geb. 1963) 773 Viirlaid, Arved (geb. 1922) 577, 616 Viisnurk 521, 553f. Vikerkaar 41 f., 44, 702, 704f., 723, 737, 749, 769, 773, 779, 783, 786 Vilde, Eduard (1865–1933) 284f., 292, 324, 330–346, 348, 351, 354, 374f., 380, 383, 392, 403, 405, 411, 435, 450, 483, 491, 531, 758, 781 Villandi, Valeeria (geb. 1924) 586 Villi Andi f Kuhlbars, Friedrich Vilms, Jüri (1889–1918) 691f. Vint, Toomas (geb. 1944) 679, 751, 756 Virginius, Adrian (1663–1706) 141, 144–147 Virginius, Andreas (1596–1664) 141 Virginius, Andreas (1640–1701) 141, 144, 147 Virmaline 275 Virulane 275, 279, 284, 291f., 324, 327, 333 Visnapuu, Henrik (1890–1951) 400f., 406, 416 f., 426, 428, 435f., 438–440, 447–449, 473, 501, 504, 521f., 538f., 563, 566, 593 Völcker (Veltherus), Johannes Ambrosius (1547–1610) 109 Voolaine, Paulopriit (1899–1985) 76, 78, 83, 86 f. Vörösmarty, Mihály (1800–1855) 354 Vulpius, Heinrich (Henricus; † 1646) 116 Wagner, Kerttu (geb. 1969) 50 Wahl, Heinrich von (1725–1795) 190 Wallraff, Günter (geb. 1942) 502 Walther, Joachim junior († 1594) 108 Wanradt, Simon (?1500–1567) 107 Webermann, Otto-Alexander (1915–1971) 3, 30, 50 Weiss, Hellmuth (1900–1992) 106 Weiss, Peter (1916–1982) 650 Weitzenberg, Juhan (1838–1877) 268 Wellesto 706 f., 743 Werfel, Franz (1890–1945) 406 Whitman, Walt (1819–1892) 436, 590 Widmann, Josef Viktor (1842–1911) 248

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Wiedemann, Ferdinand Johann (1805–1887) 102, 255, 281 Wiera, August (1853–1919) 315 Wilde, Oscar (1854–1900) 346, 453 Wilde, Peter Ernst (1732–1785) 158–161, 177, 359, 424 Willigerode, Adalbert Hugo (1816–1893) 185 Willmann, Asta (1916–1984) 577f. Willmann, Friedrich Wilhelm von (1746–1819) 153–156, 158, 165f., 584 Wilson, Woodrow (1856–1924) 22 Wimberg (d.i. Jaak Urmet; geb. 1979) 749, 786 Winkler, Reinhold Johann (1767–1815) 190 f. Witte(n), Franz oder Franciscus (1513 Student, † 1551) 106, 108 Wittgenstein, Ludwig (1889–1951) 724f., 727 Woolf, Virginia (1882–1941) 753 World Literature Today 42 Wühner, Hans (1836–1911) 281 Wuolijoki, Hella (1886–1954) 4f., 67, 241 Würdig, Louis (1818–1889) 249 Zabolockij, Nikolaj (1903–1958) 582 Zdanov, Andrei Aleksandroviˇc (1896–1948) 515, 517f., 524f. Zeitung für die elegante Welt 198 Zensur 23, 32, 44, 122, 139, 160f., 176–178, 186, 188, 215, 225, 229f., 246f., 254, 269, 274, 280, 289f., 296, 311, 327, 348, 350, 353, 357, 359, 401, 424, 500–502, 517, 519, 521, 523, 538–540, 548, 552, 554, 562, 584f., 594, 601f., 604, 609, 611, 620–622, 625, 627, 630, 632, 634, 640, 644, 651, 653f., 660f., 666f., 669, 673, 684, 699f., 703 f., 708, 713, 727, 733, 748 Zinzendorf, Graf Nikolaus Ludwig von (1700–1760) 149 Zola, Emile (1840–1902) 437 Zschokke, Heinrich (1771–1848) 168, 225, 316