Gesamtausgabe (TG). Band 22,2 1932-1936: Geist der Neuzeit, Teil II, III und IV 9783110466003, 9783110460278

When Volume 22 of the Complete Works was published in 1998, it was assumed that Parts 2, 3, and 4 of Tönnies’ Spirit of

225 101 1MB

German Pages 286 [288] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt nach Abteilungen
Abkürzungen und Siglen
Vorwort
Geist der Neuzeit. Teil II, III und IV
Vorrede
Inhaltsverzeichnis
Die Entwicklung zur Neuzeit
Die Neuzeit
Die Urkatastrophe der Neuzeit
Apparat
Editorischer Bericht
Bibliographie
Register der Publikationsorgane
Personenregister
Sachregister
Plan der Tönnies-Gesamtausgabe
Recommend Papers

Gesamtausgabe (TG). Band 22,2 1932-1936: Geist der Neuzeit, Teil II, III und IV
 9783110466003, 9783110460278

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Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 22,2

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe TG Im Auftrag der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V.

herausgegeben von Lars Clausen † · Alexander Deichsel Cornelius Bickel · Carsten Schlüter-Knauer Uwe Carstens · Dieter Haselbach

Walter de Gruyter · Berlin · Boston 2016

Ferdinand Tönnies

Gesamtausgabe Band 22 Teilband 2 1932 – 1936 Geist der Neuzeit Teil II, III und IV

herausgegeben von Bärbel Carstens und Uwe Carstens

Walter de Gruyter · Berlin · Boston 2016

Die Edition des Bandes 22,2 der Tönnies-Gesamtausgabe wurde von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und der Brunswiker Stiftung gefördert.

ISBN 978-3-11-046027-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046600-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046519-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Konrad Triltsch GmbH, Print und digitale Medien, 97199 Ochsenfurt-Hohestadt Schutzumschlag: Rainer Engel, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 1 Gedruckt auf säurefreiem Papier * Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt nach Abteilungen Verzeichnisse Inhalt nach Abteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V VII

Vorwort Uwe Carstens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Geist der Neuzeit Teil II, III und IV [Vorrede] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Inhaltsverzeichnis] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die Entwicklung zur Neuzeit] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die Neuzeit] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die Urkatastrophe der Neuzeit] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 5 9 63 199

Apparat Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der Publikationsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Plan der Tönnies-Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207 237 245 247 257 269

Abkürzungen und Siglen Aufgenommen sind sämtliche in Text oder Anmerkungen vorkommende Abkürzungen und Siglen, bis auf die häufig abgekürzten Vornamen, denn diese erscheinen in Tönnies’ Text selbst oder in den Anmerkungen dazu, sonst im Personenregister (siehe S. 247 ff.). Kursive Abkürzungen bezeichnen Siglen der Werke Tönnies’. Kursiviertes in den Erläuterungen zeigt nichtdeutsche Wörter an (fehlt ein Hinweis, so entstammten sie dem Englischen). Abkürzungen zu Satzbeginn beginnen mit einer Majuskel, diese Form wird hier nicht aufgeführt. §

Paragraph

DGS

a.a.O. a.d. AFSC

am angegebenen Ort an der American Friends Service Committee American Relief Administration Artikel Auflage

d. h. d.i. Dr. Dr. jur.

A.R.A. Art. Aufl. Bd. Bde. bl.

BNSDJ

bzgl. bzw.

Band Bände blühte (historischfachsprachlich svw. „wirkte“) Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen bezüglich beziehungsweise

Dr. phil. Dr. sc. pol.

DSN DZA ebda. engl. ERC etc.

CAU

Christian-AlbrechtsUniversität

f. ff.

D. D.C. DDR

Doctor [englisch: Doktor] District of Columbia Deutsche Demokratische Republik dergleichen

frz. F. T. FTG

dgl.

Deutsche Gesellschaft für Soziologie das heißt das ist Doktor Doctor juris [lat.: Doktor des Rechts] Doctor philosophiae [lat.: Doktor der Philosophie] Doctor scientiarum politicarum [lat.: Doktor der Staatswissenschaften] Datensatznummer Werkverzeichnis Deutsches Zentralarchiv eben da englisch Emergency Rescue Committee et cetera folgende Plural der Abkürzung „f.“ (folgende) französich Ferdinand Tönnies Ferdinand-TönniesGesellschaft

VIII

Abkürzungen und Siglen

GdN geb. Gestapo gez. ggf. G.T.

Geist der Neuzeit geboren(e) Geheime Staatspolizei gezeichnet gegebenenfalls Geburtstag

ha h.c.

Hektar honoris causa [lat.: ehrenhalber] Heidelberg Herausgeber herausgegeben Herausgeber herausgegeben handschriftlich(er)

Heidelb. Hg. hgg. Hrsg. hrsg. hs. i.B. IfW

IT

im Breisgau Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel International Relief and Rescue Committee Informationstechnologie

Jahrh. JLC

Jahrhundert Jewish Labor Committee

Kap. KGB

Kapitel komitet gossudarstwennoi bezopasnosti [russisch: Komitee für Staatssicherheit] Konzentrationslager, offizielle Abkürzung KL

IRRC

KZ

lat. l.c. Lpz.

lateinisch loco citato, an der angeführten Stelle Leipzig

m.a.W. Mit-Gesamt-Hg. Mit-Hg. Mk. Mr. MS

mit anderen Worten Mit-Gesamt-Herausgeber Mit-Herausgeber Mark Mister [englisch: Herr] Manuskript

Nachm. n. Chr. NKWD

NS NSDAP

Nachmittag nach Christus narodny kommissariat wnutrennich del [russisch: Volkskommissariat für innere Angelegenheiten] Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

o.O. o. Prof.

ohne Ort ordentlicher Professor

Ph.D.

Philosophiae Doctor [lat. Doktor der Philosophie] Patrologia Latina Professor

PL Prof. resp. RGG RGWA

RM RSHA RV S. s. s.a. SA Soziolog.

respektive, beziehungsweise Religion in Geschichte und Gegenwart rossijski gossudarstwenny wojenny archiw [russisch: russisches staatliches Militärarchiv] Reichsmark Reichssicherheitshauptamt Reichsverfassung

svw.

Seite siehe siehe auch Sturmabteilung Soziologische/ Soziologischer Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel lateinisch sub voce „unter dem Ausdruck“ so viel wie

TG TN

Tönnies Gesamtausgabe Tönnies Nachlass

SPD SS s.v.

IX

Abkürzungen und Siglen u. U. u. a. u. a. u. dgl. US USPD

USA

und Uhr und andere unter anderem und dergleichen [mehr] United States [englisch: Vereinigte Staaten] Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands United States of America [englisch: Vereinigte Staaten von Amerika]

usw. u.s.w.

und so weiter und so weiter

v. VBKI v. Chr. vgl. v.H.

von Verein Berliner Kaufleute und Industrieller vor Christus vergleiche von Hundert

z. B. z. T. zw.

zum Beispiel zum Teil zwischen

Vorwort Bei Abschluss des Verlagsvertrages der „Tönnies-Gesamtausgabe“ gehörte der Band TG 22,2 nicht zum Kanon der 24-bändigen TG. Mit der Auffindung und Bearbeitung des verschollen geglaubten Manuskriptes der Teile II, III und IV der Schrift „Geist der Neuzeit“ (siehe dazu den „Editorischen Bericht“) liegt nun das von Ferdinand Tönnies konzipierte Werk insgesamt vor. Als der 2010 verstorbene „Federführende Gesamtherausgeber“ der TG Lars Clausen 1998 der damaligen Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis den Band TG 22 (Geist der Neuzeit / Schriften / Rezensionen 1932 – 1936) als ersten Band der TG überreichte, konnte niemand ahnen, dass einmal ein Band „Geist der Neuzeit II“1 notwendig sein würde. So hieß die Monographie dann auch „Geist der Neuzeit“ und nicht etwa „Geist der Neuzeit I“. Da in dem Band TG 22,2 ausschließlich die Monographie „Geist der Neuzeit II“ abgedruckt ist, entfällt die übliche Aufteilung nach I. Monographie, II. Schriften und III. Rezensionen. Ferdinand Tönnies hat der Geschichte in seinem System der Soziologie einen wichtigen Platz eingeräumt. So ist denn auch die „angewandte Soziologie“ nichts anderes als eine „historische Soziologie“.2 In der Vorrede zum 1935 veröffentlichten „Geist der Neuzeit“ heißt es u. a.: „Seitdem ich angefangen habe, im Studium des sozialen Lebens und seiner Probleme meine eigentliche Aufgabe zu erkennen, deren, wenn auch unvollkommene Erfüllung, ungeachtet aller Enttäuschungen, die ich habe erleben müssen, mich nicht ohne Befriedigung auf das lange Leben, daß jetzt hinter mir liegt, blicken läßt, so lange weiß ich auch, daß nur aus diesem Studium die Erkenntnis gewonnen werden kann, die notwendig erfordert wird, um die großen Zusammenhänge in einigem Maße zu verstehen, wodurch die bisher bekannten Ereignisse miteinander verbunden zu sein scheinen. Ich habe im Dienste dieser Erkenntnis längst nicht nur das Schema Gemeinschaft – Gesellschaft ausgebildet, sondern auch innerhalb dieses die ökonomischen, die politischen und die geistig-moralischen Vorgänge und Veränderungen unablässig ins Auge Wir fassen die Teile „Geist der Neuzeit II, III und IV“ zum Gesamtbegriff „Geist der Neuzeit II“ zusammen. 2 „Angewandt“ heißt entgegen dem üblichen Sprachgebrauch nicht angewandt auf z.B. sozialtechnische Fragen, sondern angewandt auf die Geschichte. 1

XII

Vorwort

gefaßt. […] Der „Geist der Neuzeit“ enthält eine Gedankenbildung, die aus mir, also aus meiner Persönlichkeit hervorgegangen ist, wahrscheinlich also nur von denen, die mit meinem System, wenn man es so nennen mag, vertraut sind, aufgenommen und weitergetragen werden wird.“3 Ferdinand Tönnies, der nach seiner „Entlassung“ aus dem Staatsdienst 1933 nur noch wenige Schriften veröffentlichen konnte, beklagte in einem Brief an Max Graf zu Solms „die fragwürdige Zukunft meiner umfangreichen Manuskripte über das Thema ,Geist der Neuzeit‘ in 4 Teilen“.4 Wie schwierig sich die Suche nach einem Verlag gestaltete, ahnt man in einem Dankbrief, den Tönnies aus Anlass seines 80. Geburtstages an Solms schrieb: „Ihr Brief zu meinem 80. G.T. war einer der für mich bedeutendsten […] was Herr Buske für mich getan hat und noch tun will. Die Rührung hat heilsam gewirkt.“5 Dass Ferdinand Tönnies den „Geist der Neuzeit“ parallel zu „Gemeinschaft und Gesellschaft“ mitgedacht hatte und die Veröffentlichung des ersten Teiles bereits 1907 plante, geht u. a. aus einer Akte „GdN“, die Tönnies am 5. Mai 1907 anlegte, hervor. Eintragungen von 1917 über 1930 belegen die beständige Arbeit an diesem Werk bis zur Veröffentlichung des ersten Teiles. Die 1935 veröffentlichte Fassung stellt demnach die Revision eines früheren Entwurfs dar, wobei für die Buchform Teile älterer Niederschriften verwandt wurden.6 Tönnies beabsichtigte nicht, eine allgemeine „Weltgeschichte“ zu schreiben. Dabei war Tönnies „seit frühester Jugend […] der historischen Entwicklung zugewandt“, wie er in der Vorrede zu 3 Ferdinand Tönnies, Geist der Neuzeit, Leipzig 1935, S. III ff. 4 Max Graf zu Solms. Ein Lebensgang. Briefe, Selbstzeugnisse, Berichte, hrsg. von Freda

Gräfin zu Solms unter Mitarbeit von Irmgard Förster, Marburg 1982, S. 241. Tönnies, der mit der Entlassungsverfügung vom 26.9.1933 aus dem Staatsdienst entlassen wurde, veröffentlichte zwischen 1933 und 1936 noch 16 Werke. Zwischen 1930 und 1932 waren es noch 87. 5 Vgl. ebda., Brief vom 22.9.1935, S. 257. Siehe zur Veröffentlichungsgeschichte den Briefwechsel von Tönnies mit Eduard Georg Jacoby, Ernst Jurkat und Heinrich Striefler im Tönnies-Nachlass der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek zu Kiel (Signatur CB54.50:51 und :56). Ergänzt wird dies durch den Editorischen Bericht von Lars Clausen im TG Bd. 22, S. 515-550. Der Leipziger Verleger Hans Buske verlegte darüber hinaus 1935 die achte und letzte Ausgabe von Tönnies’ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ und die Festschrift „Reine und Angewandte Soziologie“ zum 80. Geburtstag von Ferdinand Tönnies. Die beiden letzten Veröffentlichungen von Tönnies im Jahre 1936 erschienen in Prag bzw. Paris. 6 Tönnies hatte 1907 außer für die „Kritik der Öffentlichen Meinung“ einen zweiten Verlagsvertrag mit O. Häring (später Julius Springer) über ein „Geist der Neuzeit“ zu betitelndes sozialgeschichtliches Werk abgeschlossen. Dieses Werk kam bekanntermaßen zu dieser Zeit und auch 1917, als Tönnies erneut mit dem Verlag korrespondierte, nicht zur Ausführung.

Vorwort

XIII

„Geist der Neuzeit“ betont. Andererseits sagt Tönnies aber auch: „Es gibt allgemeine Weltgeschichten, von denen einige auch bis in die neueste Neuzeit herübergreifen, in nicht unerheblicher Zahl. Ob es zu viele oder zu wenige sind, will ich hier nicht erörtern. Jedenfalls sind es nach meiner, eines Nicht-Historikers, Ansicht, und nach meinem Geschmacke, genug.“7 In seinem Buch „Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies“ fasst Eduard Georg Jacoby zusammen, worauf es Tönnies beim „Geist der Neuzeit“ angekommen ist: „Die Anwendung des in der reinen Soziologie gebildeten Begriffssystems auf die Erklärung von Natur und Charakter der sozialen Entwicklung, die den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zustand der Gegenwart bedingt und gefördert hat, insoweit ihre wesentlichen Züge in Richtung und Tendenz erkennbar waren.“8 Mit dem Erscheinen von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ 1887 und der damit verbundenen typologisierenden Einführung seiner Strukturbegriffe zur Kennzeichnung unterschiedlicher sozialer Ordnungen und der ihnen zugrunde liegenden Formen des menschlichen Willens hat sich Tönnies, wie Cornelius Bickel schreibt „dem Problem einer Strukturgeschichte und einer soziologisch-anthropologischen Entwicklungstheorie (auch) immer wieder unter verschiedenen Aspekten genähert.“9 Zwar erschien der erste Band von „Geist der Neuzeit“ erst 1935, aber da man das Werk von Tönnies als ein Ganzes begreifen muss, hat Tönnies auf dem Weg dorthin bedeutende Arbeiten zu diesem Thema veröffentlicht. Unter den früheren Arbeiten ragen die in dem Sammelband von 1926 zusammengefassten Aufsätze hervor, insbesondere die „Richtlinien zum Studium des Fortschritts und der sozialen Entwicklung“. Nicht weniger beachtenswert sind die Abhandlungen „Individuum und Welt in der Neuzeit“, „Die historisch-geographischen Richtungen der Neuzeit“, die Monographie „Die Entwicklung der sozialen Frage“ sowie weitere spezielle Arbeiten zur Religionsgeschichte bzw. -philosophie und zur politischen Soziologie für die Ausarbeitung seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion. Wir hatten bereits festgestellt, dass Tönnies der Geschichte in seinem System der Soziologie einen wichtigen Platz beimisst. Der Soziologe Peter-Ulrich Merz7 Ferdinand Tönnies, Geist der Neuzeit, a.a.O., S. IV.

8 Eduard Georg Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von

Ferdinand Tönnies. Eine biographische Einführung, Stuttgart 1971, S. 178 ff.

9 Cornelius Bickel, Ferdinand Tönnies. Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen His-

torismus und Rationalismus, Opladen 1991, S. 276.

XIV

Vorwort

Benz hat in seiner 1996 mit dem „Premio Europeo Amalfi“ geehrten Arbeit „Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies’ begriffliche Konstitution der Sozialwelt“ dieses auf der Basis eines Briefes von Ferdinand Tönnies an Friedrich Paulsen so zusammengefasst: „Was ihm als unerläßliche Grundlage aller Erkenntnisarbeit vorschwebt, war ein in Begriffsform dargestelltes „Knochengerüst der Geschichte“, und zu dessen Realisierung entwickelte er das später berühmt gewordene „Theorem von Gemeinschaft und Gesellschaft“.10 Der so lange verschollene zweite Teil von „Geist der Neuzeit“ (Tönnies bezeichnet ihn mit Teil II, III und IV) wird nun hiermit vorgelegt. Er ist möglicherweise alleine schon deshalb wichtig, da weite Passagen erst 1934 entstanden – also Tönnies unmittelbar unter dem Eindruck des Nationalsozialismus schrieb. Trotzdem oder gerade deswegen befleißigt sich Tönnies eines sachlichen Stils, ohne provokant zu erscheinen. Wie es der Art von Tönnies entspricht, muss man bestimmte Dinge zwischen den Zeilen lesen. Das Zustandekommen dieses Bandes lastete zum Glück auf mehreren Schultern. Ich danke den zahlreichen Helferinnen und Helfern bei der Suche nach dem Manuskript und hier insbesondere Herrn Sebastian Panwitz sowie den Herren Torsten Zarwel und Ralf Engel vom Bundesarchiv in Berlin. Der Band 22,2 TG baut auf die gründlichen Vorleistungen des Bandes 22 TG auf. Dem verstorbenen Band-Editor und ehemaligen federführenden GesamtHerausgeber Lars Clausen sei herzlich gedankt. Die Herausgeber dieses nun vorliegenden Bandes verweisen darum ausdrücklich auf den editorischen Bericht des Bandes 22 TG. Der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft und ihrem Präsidenten Alexander Deichsel, der Landesbibliothek Schleswig-Holstein in Kiel, meinen Kollegen vom Gesamt-Herausgeber-Gremium, Herrn Daniel Decker sowie Frau Bettina Clausen danke ich für die solidarische Zusammenarbeit. Unser besonderer Dank gilt Cornelius Bickel, der diesen Band in sein sehr sorgfältiges Lektorat nahm. Eine bedeutende, ja unverzichtbare Hilfe waren meine Frau Bärbel und mein Sohn John. Ohne sie läge dieses Buch nicht vor. Auf dem folgenden Blatt ist als Beispiel eine Seite aus dem vorgefundenen Manuskript dargestellt, die verdeutlichen soll, wie schwierig die Transkribierung des Textes war.

10 Peter-Ulrich Merz-Benz, Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies’ begriffliche Konsti-

tution der Sozialwelt, Frankfurt am Main 1995, S. 22. Der Brief, auf den Merz-Benz sich bezog, ist vom 26.1.1882. Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen Briefwechsel 1876–1908 hrsg. von Olaf Klose, Eduard Georg Jacoby, Irma Fischer, Kiel 1961, S. 146.

Vorwort

XV

[Geist der Neuzeit] [Teil II, III und IV]

Vorrede [Geist der Neuzeit I – Vorrede von Ferdinand Tönnies im Juli 1935 in Kiel – letzter Absatz] 5

10

Übrigens gebe ich das vorliegende Werk nicht ohne einiges Vertrauen dem öffentlichen Urteil, also auch der Kritik, preis, die, wie ich annehmen darf, einiges Brauchbare und Gute darin entdecken wird. Und so will ich hoffen, daß auch weitere von mir vorbereitete Sonderdarstellungen über die Entwicklung des allgemeinen sozialen und ökonomischen, wie des politischen und des geistig-moralischen Lebens, die im Anschluß an diesen Band veröffentlicht werden sollen, auf allgemeineres Interesse rechnen können. Kiel, im Juli 1935.

Ferdinand Tönnies.

[Geist der Neuzeit II und folgende – Vorwort von Ferdinand Tönnies undatiert, unvollständig] 15

20

[…] in dieser hier gegebenen Fassung selber das Ergebnis eines solchen Mitund Nachdenkens früher gedachter Gedanken aufgefasst werden will. Denn es handelt sich um eine Art von Vermächtnis, das den Abschluss eines langen Lebens bildet; daher für den Verfasser eine wichtige, ja eine heilige Angelegenheit ist, für die er den Rest seiner Kräfte einzusetzen entschlossen ist. Dieser Vorsatz verbindet sich mit einer Zusammenfassung des Ausdruckes seiner Gesinnungen, die er teils durch eine beträchtliche Reihe von Jahrzehnten betätigt, teils gerade während der letzten Lebenszeit unter dem 2

12

Geist der Neuzeit I: Letzter Absatz der Vorrede von Ferdinand Tönnies im Band I „Geist der Neuzeit“ (GdN). Tönnies gibt hier einen Hinweis auf Text und Gliederung von GdN II, III und IV. Die Bandeditoren folgen bei der Zusammenstellung der aufgefundenen Texte der von Ferdinand Tönnies vorgegebenen Gliederung „die Entwicklung des allgemeinen sozialen und ökonomischen, wie des politischen und des geistig-moralischen Lebens“. (Ferdinand Tönnies, Geist der Neuzeit, Leipzig 1935, S. IV). Geist der Neuzeit II und folgende: In dem unvollständig vorliegenden Vorwort zu GdN II bezeichnet Ferdinand Tönnies den GdN insgesamt als „Vermächtnis, das den Abschluss eines langen Lebens bildet“. Damit wird deutlich, dass der GdN immer auch als Ergänzung zu „Gemeinschaft und Gesellschaft“ zu lesen und zu verstehen ist. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 444).

4

Vorrede

Drucke der von ihm mitempfundenen Nöte, die von seinem Vaterlande aus über Europa, ja über die ganze Kulturmenschheit sich ausgebreitet haben; wenngleich man sagen mag, dass es nicht sowohl die Nöte selber als die Erkenntnis und die Sorgen sind, die in so auffallender Weise sich vermehrt haben: gemäss dem Spruche des alten Weisen dass es nicht sowohl die Sachen als die Meinungen über die Sachen sind, wodurch die Herzen der Menschen aufgeregt und verwirrt werden. Ferdinand Tönnies.

5

des alten Weisen: Es handelt sich wahrscheinlich um eine verkürzte Wiedergabe aus Senecas Briefen an Lucilius. Vergleiche Seneca epist. 13,4 Plura sunt, Lucili, quae nos terrent quam quae premunt, et saepius opinione quam re laboramus. In: Ulf Gregor Hamacher, Senecas 82. Brief an Lucilius, München / Leipzig 2006, S. 271.

5

[Inhaltsverzeichnis] [Die Entwicklung zur Neuzeit] [Wendepunkt zur Neuzeit] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .11 – 19 [Zwischen Vernunft und Willkür] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Entwicklung des Handels] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 13

[Entwicklung des allgemeinen sozialen und ökonomischen Lebens] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 – 44 A. Die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse . . . . . . . . . . . 21, 22 I. Die Zunahme der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. [Die Zeitalter und ihre Gegensätze] . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 22

B. [Die Entwicklung der europäischen Nationen während der letzten 4 Jahrhunderte] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 – 36 [Dreiteilung der abendländischen Kulturgeschichte] . . . . . . . . [Die neuere Entwicklung] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die neuere wirtschaftliche und soziale Entwicklung und ihre Auswirkungen auf das Recht] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die neuere Entwicklung der abendländischen Kultur] . . . . . . [Das Verhältnis der Individuen zur Korporation] . . . . . . . . . . .

23 25 27 32 35

[Die Verbände als Idee] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 – 40 [Kirche und Staat] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Haus, Dorf und Stadt] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die Korporation] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37 39

[Die moderne wirtschaftliche Entwicklung – Kapitalismus und Gegentendenzen] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

[Entwicklung des allgemeinen geistig-moralischen Lebens] . . . . . . . 45 – 56 [Rationale Rechts- und Staatslehre] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Einfluß literarisch bedeutender Persönlichkeiten . . . . . . . 3. Die Bedeutung der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 50 55

6

Inhaltsverzeichnis

[Entwicklung des allgemeinen politischen Lebens] . . . . . . . . . . . . . 57 – 61 B. Änderungen politischer Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 – 61 [Das Mittelalter – Die Herrschaft der Kirche] . . . . . . . . . . . . . [Die Neuzeit – Die Herrschaft des Staates] . . . . . . . . . . . . . . . .

57 59

[Die Neuzeit] Geist der Neuzeit II [Das soziale und ökonomische Leben in der Neuzeit] Das 4te Kapitel[. Ökonomischer Fortschritt und Kapitalismus] . . . 67 – 90 § 44 § 45 § 46 § 47 § 48 § 49 § 50 § 51 § 52 § 53

Der ökonomische Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Scheidung höherer Berufsstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preiskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufhebung der Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Vermehrung der produktiven Arbeiter] . . . . . . . . . . . . . . . . Beharrung der alten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitalismus und Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kredit des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fernere Bedingungen des Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 69 71 73 75 76 79 81 84 87

Das 5te Kapitel. Soziale Reform und Sozialismus . . . . . . . . . . . . . 91 – 109 § 54 § 55 § 56 § 57

Geld und Sozialgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Freiheit des Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krise des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 94 99 104

Geist der Neuzeit III [Staat und Gesellschaft in der Neuzeit] [Die Phasen des modernen Staates] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 – 133 [Der moderne Staat – ein neuzeitliches Wesen] . . . . . . . . . . . . . . . [Geschichte des neuzeitlichen Absolutismus] . . . . . . . . . . . . . . . . . [Entwicklung zum neuzeitlichen Rechtsstaat] . . . . . . . . . . . . . . . . [Der Rechtsstaat] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Der Cäsarismus] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113 114 117 119 122

Inhaltsverzeichnis

[Die republikanische Staatsform und das Wahlrecht] . . . . . . . . . . [Die Wirkungen der politischen Parteien] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Parteikämpfe] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die Zukunft Europas liegt in tiefstem Dunkel] . . . . . . . . . . . . . .

7 124 128 131 131

[Besitz und Eigentum als soziale Werte] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 – 145 [Das gemeinschaftliche Eigentum] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Das gesellschaftliche Eigentum] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die Freiheit des Eigentums] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die positiv rechtliche Begründung des Eigentums] . . . . . . . . . . . .

135 138 141 143

[Entwicklung der Zivilisation] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 – 152 [Kultur und Zivilisation] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Wirkungen des städtischen Lebens] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Wirkungen des Angriffs der Osmanen auf Europa] . . . . . . . . . . . [Wirkungen der Erfindung der modernen Buchdruckerpresse] . . .

147 148 149 151

[Politik des Staates] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 – 155 [Das Heer als Werkzeug der Politik] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Monarchie und Militär] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

153 154

Geist der Neuzeit IV [Wissenschaft und Religion in der Neuzeit] [Der unablässige Kampf des Geistes der Neuzeit] . . . . . . . . . . . . 159 – 187 [Erneuerung aus dem Geiste der Wissenschaft] . . . . . . . . . . . . . . . [Kämpfe unter dem Gesetz der Zeit] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Verhältnis von Religion und Wissenschaft] . . . . . . . . . . . . . . . . . [Bedeutung der mosaischen Religionen] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Christentum, Renaissance und Humanismus] . . . . . . . . . . . . . . . [Kampf der Weltanschauungen] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Reformbewegungen und Reformation] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Der neue Geist der Aufklärung] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Bedeutung des christlichen Naturrechts] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Gemeinsamer religiöser und wissenschaftlicher Besitz] . . . . . . . .

159 161 163 164 168 170 171 175 181 183

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Inhaltsverzeichnis

[Veränderungen, Neuerungen und Umwälzungen in der Neuzeit] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 – 198 [Folgen der Vermehrung und Verdichtung zusammenwirkender Menschenmengen] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Geschichtliche Entwicklung des Menschen] . . . . . . . . . . . . . . . . . [Der Begriff der Kultur] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Der Begriff der Zivilisation] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Wirkungen des Werdens und Wachsens der Städte] . . . . . . . . . .

189 191 193 193 194

[Die Urkatastrophe der Neuzeit] [Der 1. Weltkrieg und die Neuzeit] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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[Die Entwicklung zur Neuzeit]

[Wendepunkt zur Neuzeit] A.

[Zwischen Vernunft und Willkür]

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In bedeutender Weise hat Gierke darauf hingewiesen, daß uns in den verschiedenen Lebensepochen der Völker gewisse typische Unterschiede des Denkens entgegentreten. Indem diese Unterschiede – meint er – im Großen und Ganzen den Wandlungen der Geistestätigkeit von Einzelmenschen entsprechen, rechtfertigen sie den Vergleich der Volksepochen mit den Altersstufen der Menschen. Insbesonders – so führt er dies aus – überwiegen, je näher ein Volk der Kindheit steht, desto mehr das sinnliche Element. „Mit einer den späteren Gesellschaften verlorenen, plastischen Kraft versteht es die jugendliche Volksseele die bildliche Seite der Begriffe formvollendet durchzublicken, während sie unfähig ist, zur unmittelbaren Erfassung der reinen Abstraktion. Selbst das schlechthin Unsinnliche verknüpft sie durch das Sinnbild – das eine Stellung von später kaum noch gekannter Bedeutung einnimmt – mit der Sinnenwelt. Gänzlich abhold jeder um ihrer selbst willen vorgenommenen Verallgemeinerung, schmiegt diese durch Bild und Sinnbild vermittelte Vorstellungsweise auf das Innigste an den Strom des äußeren Lebens sich an und erhält somit ein durchaus konkretes und individuelles Gepräge. Je weiter dann der Volksgeist sich entwickelt, desto mehr wächst ihm die Kraft der Abstraktion, während die sinnliche Vorstellungskraft abnimmt und die Farbe der Sinnbilder verblasst. Schärfer und bestimmter erhebt sich die Welt der Gedanken über der Welt der Anschauungen. Über die konkreten Besonderheiten hinaus drängt alles zur Verallgemeinerung, zur Regel. Mit der vollendeten Reife des Volkes übernimmt dann das abstrakte Denken die unbestrittene Führerschaft seiner geistigen Kräfte …“ Die Entwicklung, die Gierke dann auch in bezug auf die sich verändernde Stellung von Gemeinbewusstsein und Einzelbewusstsein zueinander be1

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[Wendepunkt zur Neuzeit]: Der Text ist überwiegend in der Handschrift von Ernst Jurkat geschrieben. Tönnies hat handschriftliche Korrekturen eingefügt. Ab Blatt 507 schreibt ausschließlich Tönnies weiter. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/ 2134/8 Blatt 492-511). seiner geistigen Kräfte: Das Zitat ist aus: Otto Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Zweiter Band, Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs, Berlin 1873, S. 8 ff.

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Die Entwicklung zur Neuzeit

trachtet, begreifen wir hier allgemein als die Entwicklung der Vernunft in ihrem zunehmenden Gegensatze gegen alle Denkweisen und Handlungsweisen, die in Anschauung, Gefühl, Phantasie sich kundgeben und ihre Wurzeln haben. Trotz dieser Gegensätzlichkeit bleibt das Vernünftige durch jene Wurzeln bedingt und von ihnen abhängig, kann auch in wesentlicher Harmonie mit ihnen beharren. Es gibt aber einen Punkt des Bruches: das rationale Wesen gewinnt das Übergewicht, es entspringen daraus die heftigsten Konflikte. Dieser Punkt ist dadurch bezeichnet, daß das unabhängige rationale Wollen sich bildet und verbreitet: ein Wollen, dessen Merkmal ist, daß es immer auf Mittel in scharfer Abhebung von den Zwecken gerichtet, daß es also diese Mittel entschieden bejaht, wie sehr auch ein andersartiges, ursprünglicheres Wollen, ein „Widerwille“ sie verneinen mögen. Jenes hochentwickelte Wollen, oder Kürwille ist nicht möglich ohne eine entwickelte, sondernde, entscheidende Vernunft, ohne ein rechnendes berechnendes Denken. Solche Vernunft und solche Willkür machen sich auf allen Gebieten des sozialen Lebens geltend und werden im Verlaufe der Neuzeit immer mehr die bestimmenden maßgebenden herrschenden Potenzen. Dadurch daß die Anfänge dieser Herrschaft entscheidend hervortreten, ist der Wendepunkt vom Mittelalter zur Neuzeit bezeichnet. Die Mittel werden gewählt, ergriffen, angepasst und verändert, angehäuft und bereit gehalten, sie werden endlich erfunden, konstruiert, gemacht und gebildet. Sie sind die Waffen, mit denen Macht und Vermögen erobert werden, die selber nichts sind als Mittel für höchst mannigfache Tätigkeiten und höchst mannigfache Genüsse, auch für den Genuss ihrer selber. Auf den verschiedenen Gebieten des Lebens: dem ökonomischen, dem politischen, dem geistigen Gebiete haben sie eine ganz verschiedene Gestalt, wenn auch vielfache Beziehungen gegeben sind oder sich entwickeln. Subjekt des abstrakten Denkens und des Kürwillens ist der vernünftige Mensch schlechthin, der Repräsentant der Gattung, der allgemeine Mensch, daher möglicherweise jeder Mensch, das – als frei gedachte – Individuum. Die Menschen sind einander, als solche Subjekte betrachtet, gleich. Sie sind nur verschieden durch die Quantitäten der Mittel über die sie verfügen, welcher Art auch immer diese Mittel sein mögen; indem und insofern als alle qualitativen Unterschiede der Mittel auf quantitative Unterschiede zurückführbar sind oder doch als zurückführbar gedacht werden können.

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[Entwicklung des Handels]

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Selten aber sind die freien Individuen vereinzelt mächtig. Sie werden mächtig durch ihr Zusammenwirken: als Klasse, als Verein, als Institution, als Gesellschaft; durch stillschweigendes Einverständnis, durch Verträge, Verabredungen, Regeln, Normen und Gesetze, für die Ordnung gemeinsamer Tätigkeiten, die Verwaltung und Vermehrung gemeinsamen Vermögens. In diesem Sinne wirken zusammen als die großen sozialen Mächte der Neuzeit: die Handelsklasse, die Staatsgewalt, die Gelehrtenrepublik. Die Handelsklasse vermehrt und verallgemeinert sich allmählich, indem ihr Prinzip und Motiv auf Produktion und Verkehr sich ausdehnt: als kapitalistische Unternehmung. Der Handel, seinem Wesen nach allgemeine Tätigkeit, durch vernünftiges Denken, also klare Scheidung von Mitteln und Zwecken, durch zweckmäßige Verfügung über die Mittel, durch Streben nach ihrer Vermehrung bedingt und charakterisiert, steht als solcher außerhalb der sozialen Arbeitsteilung, die dem Bauern wie dem Bürger auf Grund ererbten Besitzes, erworbenen Könnens, erwählten Berufes, jedem seine eigentümliche Sphäre zuweist und ihn in diese Schranken bannt. Der Kaufmann kann sozusagen alles; sobald die arbeitsteiligen Produkte Warenform annehmen, so kann er Stellvertreter jedes Produzenten werden und das, was alle gleichsam im Nebengewerbe wollen: nämlich ihr Produkt veräußern, also das ihnen gemeinsame allgemeine zu seinem Hauptgewerbe machen, mithin ihnen gegenüber die Stelle aller besonderen Konsumenten vertreten als der allgemeine Konsument, der alles kauft. Da nun überall, wo Produkte sich befinden, also produziert werden, gekauft und verkauft werden kann, so ist die Tätigkeit des Kaufmannes an keinen besonderen Ort gebunden, sie ist interlokal, international, universal und gestaltet sich als solche umso mehr, je mehr sie ihrem Wesen gemäß sich vergrößert und ausdehnt. Wie nun dem Kaufmann notwendigerweise alle seine Tätigkeiten Mittel für den allein ins Auge gefassten Zweck: die Vermehrung seiner Mittel sind; diesem Zweck aber am nächsten der Verkauf, der Absatz von Waren steht – so wird jeder Produzent dem Kaufmanne umso ähnlicher, je mehr er seinerseits den Gewinn oder die Vermehrung seiner Mittel als eigentlichen und wahren Zweck aller seiner Tätigkeiten auffasst und erkennt, daher insbesondere auf den Absatz seiner Produkte als die letzte, dem Zwecke nächste Tätigkeit bedacht ist. Dies ist minder wahrscheinlich, solange als und sofern als der Produzent nicht nur intellektueller sondern auch technischer Inhaber des Produktes ist; zumal solange als und sofern als er an der eigentlichen

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Die Entwicklung zur Neuzeit

Arbeit nicht nur leitend sondern selbsttätig teilnimmt. Denn solange und insofern ist die Arbeit nicht etwas, was außerhalb seines Denkens also seiner Zweckbestimmungen liegt; und die Produktion wird nicht so leicht als bloßes äußerliches Mittel zu dem ihr an sich fremden Zwecke: der Verwertung durch den Absatz gedacht werden; sie wird daher auch nicht so leicht ein rein mechanischer Prozess. Dieser Entwicklung kommen aber durch ihre eigene Natur verschiedene Arten der Produktion in sehr verschiedener Weise entgegen. Im allgemeinen entsteht jenes äußerliche Verhältnis in der einfachsten Weise dadurch, daß die intellektuelle Urheberschaft der Produktion von Waren dem bloßen Einkaufe ähnlich wird, wie dies durch die Form der Bestellung geschieht. Auch wer für seinen eigenen Gebrauch bestellt, kann dem eigentlichen Produzenten Anweisungen und Vorschriften, auch Mittel und Werkzeuge, Stoffe geben, kann ihn in seiner eigenen Behausung (der des Bestellers) arbeiten lassen: wie dies von je her zum guten Teile die Art und Weise gewesen ist, in der die Kunden den Handwerker und die Handwerkerin arbeiten lassen (insbesondere die sogenannte Stör). Nicht wesentlich anders ist die elementare Form der kapitalistischen Produktionsweise, die man füglich als so alt wie den Handel selber betrachten mag: daß der Händler oder Verleger Handwerker und Handwerkerinnen, sei es in seinem eigenen Hause oder (was leichter in großem Umfange zu bewirken, daher auch weiter verbreitet ist) in deren eigenen Häusern oder Hütten für sich arbeiten lässt; nur daß ihm nicht um die Gebrauchswerte sondern um die Tauschwerte, die Waren, zu tun ist: die Bestellung und Veranlassung der Produkte ist eine besondere Art des Einkaufs. Die jüngeren und spezifisch neuzeitlichen Formen kapitalistischer Produktion, die Manufaktur und die Fabrik sind scheinbar von dem „Verlagsystem“ wie man jene unmittelbare kaufmännische Art zu benennen pflegt, wesentlich verschieden, indem hier der Produzent dem Handel gegenüber selbstständig ist und bleibt, ja eher den Handel herabdrückt und ihn auszuschalten beflissen ist, indem er ihn durch Agenturen für den Verschleiß seiner Produkte zu ersetzen vermag, auch wohl ohne alle Vermittlung der Konsumenten zu erreichen sucht. In Wahrheit konkurriert hier eine (ältere) Art des Handels mit der anderen (jüngeren): die Fabrikation ist selber, wenn auch in anderer Gestalt als durch das Verlagsystem, ein Handelsgeschäft: die intellektuelle Urheberschaft der Produktion ist auch hier eine Tätigkeit, die vom Einkauf der Ware nicht wesentlich sich unterscheidet, wenn auch zum 17

die sogenannte Stör: Die Stör ist ein Ausdruck für die Arbeit eines Handwerkers im Haus des Kunden. Handwerker, die dies taten, hießen Störgeher oder Störr.

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guten Teile die Leitung des Produktionsprozesses, also eine geistige Arbeit damit verbunden bleibt, die nur in formalem Sinne selber gleich einem gekauften Bestandteil gedacht werden kann. Sie ist eben nur damit verbunden, aber sie gehört nicht zum Wesen der Unternehmung. Tatsächlich löst sich dieses Band umsomehr, je mehr die Entwicklung der Großbetriebe fortschreitet und vollends je mehr durch deren Konzentration der einzelne Betrieb seine Selbstständigkeit verliert. Der kapitalistische, d.h. sein geschäftlicher oder kommerzieller Charakter tritt in seiner Nacktheit immer mächtiger hervor und das Schema, möglichst billiger Einkauf von Materialien, Arbeitsmitteln, Arbeitskräften – möglichst teurer Verkauf von produzierten Waren – enthüllt sich als der eigentliche Sinn der Unternehmung, deren Endzweck, ganz wie der des Handels die Erzielung des höchstmöglichen Gewinnes geworden ist. Am meisten allgemein und unmittelbar betätigt sich aber das Kapital als Leihkapital. Es wirkt hier sichtlich als unpersönliche Macht, indem es eben dadurch dem Eigentümer Gewinn bringt, daß es von seiner Person sich löst und von fremden Händen angewandt wird: möge diese Anwendung nur in Form von Arbeit oder selber als Handel oder anderes Geschäft vor sich gehen. Es ist aber auch die allgemeine Formel darin am reinsten ausgedrückt, daß das Kapital „Anlage“ sucht und daß die Chancen seines Ertrages dem Risiko proportional sind: der spekulative Charakter jedes kommerziellen Geschäftes: des Handels, wie der produktiven Unternehmung und eben des Darlehns. Daher muss das Leihkapital als das Kapital schlechthin das Kapital in seinem abstrakten Ausdruck, begriffen werden, während die produktive Verwertung (die für diesen Gedanken alle anderen Arten des Kommandos über zweckmäßige Tätigkeiten in sich einschließt), den am meisten intellektuellen oder geistigen Ausdruck des kapitalistischen Wesens darstellt. Zwischen beiden steht die Form des reinen Handels: er erhebt sich über die geistlose Passivität des Leihkapitals, aber mit Arbeitskräften, mit Technik und Maschinen sich zu befassen, hat es nicht nötig. In ihm offenbart sich am reinsten das Kapital als durch sich selber: durch seine Formverwandlungen tätig – wirksam, wenn auch das denkende Subjekt diese Formverwandlungen leiten und richten muss; nicht durch die bloße Hingebung – das Vorstrecken – wie das Leihkapital, aber auch nicht auf dem komplizierten Umwege der Herstellung von Waren, sondern durch die Verwandlung von Geld in Ware und die Rückwandlung von Ware in Geld wird hier das Plus gemacht, also der alle diese Tätigkeiten bestimmende Zweck erzeugt.

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Die Entwicklung zur Neuzeit

Der Kaufmann steht daher auf einem Gipfel, zu dem der gewöhnliche Kapitalist, zumal der müßige Rentner, emporschaut, zuweilen emporstrebt, während der Fabrikant, entweder aus dem Tal der Arbeit die Höhe hinansteigt, oder selber der Kaufmann ist, der sich zur Arbeit herablässt, also wohl auch nur des Gewinnes willen einige Stufen hinabsteigt; in dem Masse als er erfolgreich ist, sich wieder emporhebend und den „Königlichen Kaufherren“ gleich werdend. Die Sphäre, die dem Kaufmann als solchem am nächsten liegt, um sich als Unternehmer ihrer zu bemächtigen, ist das Verkehrswesen, zu Wasser und zu Lande, ganz besonders aber jene, zumal die Schiffahrt zur See. Das Rhedereigeschäft gehört zu den ältesten Betätigungen des Handelsgeistes, es steht mit dem Großknecht in organischer Verbindung. Auch hat das Leihkapital hier frühzeitig an Unternehmung und Gewinn Anteil genommen. Dieser Kapitalismus war aus dem römischen Reich ins Mittelalter hinübergewandert. „Die commenda …. hat im Handelsgebrauch wie im Statutarrecht am frühesten reiche Ausbildung erfahren“ (Goldschmidt Universalgeschichte, S. 254). Der commendator (Kommanditär) ist ein „meist in der Heimat verbleibender“ Kapitalist, er gibt Waren, Geld, Schiff, aber dagegen ist der Schiffer oder sonst Reisende der Mann der die Geschäfte macht, wenn gleich in späterer Zeit oft mit Kapital beteiligt, so dass die commenda in die societas die Handelsgesellschaft übergeht und mehr und mehr auch auf den Binnenhandel, auch auf den ständigen und gewerbsmäßigen Lokalbetrieb, besonders des Bankgeschäftes, Anwendung findet (ebenda, S. 267). Als Geldwechsel ursprünglich ein untergeordnetes Hilfsgewerbe des Handels, dringender notwendig bei der Mannigfaltigkeit der Münze in jeder Landschaft, jeder Stadt, entwickelt sich die Tätigkeit des Bankiers zum Handel mit Geld in verschiedenen Formen: als Darlehensgeschäft ist sie schon an sich eine Abart des Handels, indem das Zahlungsversprechen gleichsam eingekauft wird, das der Darlehnsnehmer um einen höheren Preis (Kapital und Zinsen) zurückzukaufen verpflichtet ist; deutlicher als Handelsgeschäft erkennbar, wenn es sich um die Forderung eines Dritten handelt, die als Wechsel eine Quasi-Ware wird: um so wertvoller (bei gleichen Beträgen), je gewisser und je näher die Einlösung ist. Aber der reine Handel mit Kredit, als mit fremden Forderungen entsteht erst dadurch, dass gelie7 17

Königlichen Kaufherren: Synonym für den ehrbaren Kaufmann. Universalgeschichte: Levin Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, 3. Aufl., Universalgeschichte des Handelsrechts, Stuttgart 1891.

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henes Geld wieder ausgeliehen wird; hier wird das Geld selber gegen Zahlungsversprechen eingekauft, nicht um gebraucht, sondern um zu höherem Preise wieder „verkauft“ d.h. ausgeliehen zu werden: ein Handelsgeschäft, das um so einträglicher ist, wenn der Einkauf gratis, d.h. als zinsfreie Anleihe, geschah, oder wenn sogar das fremde Geld gar nicht bestimmt war, in den Besitz und die freie Verfügung des Geldhändlers überzugehen, sondern ihm als Depositum in Verwahrung gegeben, also anvertraut war. Noch heute gehen Depositen und Darlehen zuweilen ununterscheidbar in einander über, wie viel mehr in minder scharf rechnenden Zeiten, als der Begriff des depositum irregulare sich ausbildete; das unregelmäßige Depot konnte sowohl als Darlehen wie als Kapital-Einlage wirken und aufgefasst werden. Der Geld- und Kredithandel ist darum eine sublimierte Form des Handels, weil auch seine „Waare“ etwas Ideelles und Geistiges ist: das Geld als allgemeine und abstrakte Waare König der Waaren, der Kredit als die bloße Vorstellung des Geldes. Dazu kommt dass der Bankier als spekulativer Geist ein Denker ist. Und – was mehr bedeutet – er ist der unentbehrliche Gehilfe des alten so gut wie des neuen Herrenstandes. Jener kann ihn nicht so verachten, wie er sonst seine Rivalen verachtet, weil er des Helfers fortwährend bedarf auch weil er nicht selten zu Reichtum und Glanz der Lebenshaltung von ihm übertroffen wird. Der alte Herrenstand hat Land und Leute, er hat Güter und Götter, Ehre und Ansehen – aber er hat kein Geld; er braucht aber Geld, um sich in Ehren und Ansehen zu erhalten, um den Göttern zu dienen und Güter zu kaufen, vor allem, um über Land und Leute seine Herrschaft zu erhalten und zu verstärken. Er muss Leute an sich fesseln, und diese Leute müssen bezahlt werden. Er macht sich unmöglich, wenn er einen Untertanen direkt alles abnehmen und auszupressen versucht, was die Soldaten nötig haben; auch hat er nicht die Macht, Geldsteuern nach Belieben aufzulegen, was auch oft erfolglos wäre, weil die Leute das Geld nicht haben. Kurz: er muss Geld leihen. Der Bankier muss es hergeben. Er wird es geben als Gläubiger, sei es aus eigenen Mitteln, oder teilweise oder sogar völlig aus fremden, die er selber entleiht. Je grösser die benötigten Summen werden, um so mehr wird diese Heranziehung und Ansammlung aus den Reservoirs zahlreicher Kapitalisten notwendig. Diese können aber auch direkt, am ehesten durch Vermarktung des Bankiers, die Gläubiger des Fürsten werden. Aus dem Verhältnis zwischen Personen – zunächst dem Fürsten und dem Bankier – wird aber ein Verhältnis zwischen sachlichen Institutionen: dem Staate und der Bank. Diese entwickeln sich parallel mit

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einander. In der Etablierung von Staatsbanken, Reichsbanken, stellt sich die innigste Verbindung von Staat und Gesellschaft dar. ***

Der eigentliche oder Waaren-Handel ist zunächst, und bleibt in der Hauptsache immer, gebunden an die Sachen, die leicht und wie von selber Waarenform annehmen, die also beweglich und transportierbar sind: dies ist die erste charakteristische Eigenschaft der Waare. Denn der Transport ist mit dem Handel ursprünglich verbunden, einmal der Transport nach Märkten überhaupt, weil der Waareninhaber die Plätze sucht, wo er Käufer zu finden erwartet, und sodann der Transport von einem Markte – dem des Einkaufes – zum anderen, dem des Verkaufes; und je weiter die Märkte von einander sind, um so wahrscheinlicher ist die verschiedene Bewertung, also die Differenz der Preise, auf die der Kaufmann rechnet. Eben darum muss aber die Waare als zweite charakteristische Eigenschaft eine gewisse Dauerhaftigkeit besitzen; sie muss nicht in der Zeit des Transportes und der Aufbewahrung verderben. Ferner müssen die Kosten des Transportes und der Aufbewahrung durch den Verkauf mindestens gedeckt werden, da sie ihrem Wesen nach zum Einkaufspreise gehören. In erster Linie kommen als Waaren Naturprodukte in Betracht, die sich selbst bewegen und transportieren, und die sich selbst erhalten; also lebendige Naturprodukte der animalischen Welt: Menschen und Tiere. Für ihre Erhaltung kosten sie zwar immer Lebensmittel, durch solche kann aber auch ihre Qualität verbessert, also ihr Marktwert erhöht werden. Der Menschenhandel hat von jeher in der Handelsgeschichte eine große Bedeutung gehabt, die erst im späteren Teile der Neuzeit durch Eingriffe der Staatsgewalt sich stark vermindert hat, ja in der civilisierten Welt als eigentlicher „Sklavenhandel“ verschwunden ist. In diesen wie in anderen Formen hing der Handel immer mit Raub und Diebstahl nahe zusammen, ohne dass aber diese zu seinem Wesen gehören; so wenig als wenn etwa Sachen, die durch Geschenke, Tribute oder sonst gratis erworben sind, als Waaren an den Markt gebracht werden. Der Sklavenhandel wird erst unmöglich oder doch unrechtmäßig, dadurch dass der unfreie Stand dafür erklärt worden ist, also durch positive Rechtsnorm; bis dahin ist er natür2

Staat und Gesellschaft dar: Nach diesem Absatz hat Tönnies handschriftlich einen Strich gezogen. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 510).

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lich, und von seinen Wirkungen kann dasselbe mit Grund gesagt werden, was im allgemeinen den Leistungen des Handels nachgerühmt zu werden pflegt, also z.B. dass er 1. den Erzeugern die Waren abnimmt, um sie jenen Orten und Personen zuzuführen, in welchen und bei welchen Bedarf dafür vorhanden ist; dass also 2. der Verbraucher durch ihn das erhält was er benötigt, und zwar durch das assortierte Lager des Kaufmannes, durch die von demselben vorgenommenen Dienste des Zerteilens, Zerlegens usw. (wenn es sich um Menschen handelt, nach ihrem Alter, Geschlecht, nach Fähigkeiten, Schönheit usw.); dass 3. der Handel auf die Ausglei-[…]

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der Handel auf die Ausglei-: Hier fehlt der Anschluss. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 511).

[Entwicklung des allgemeinen sozialen und ökonomischen Lebens] A. Die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse I. Die Zunahme der Bevölkerung 5

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Dieser Faktor ist in frühen und jungen Kulturverhältnissen weit lebhafter wirksam, als in späten und alten. Nur durch den Umfang der Sterblichkeit, besonders durch den der Kriegs-Sterblichkeit, wird er in jenen stärker gehemmt, als in diesen; alle übrigen Hemmungen, also vorzugsweise die der Natalität entgegenwirkenden, sind dagegen weit schwächer. Das günstige Verhältnis zwischen Geburtlichkeit (wie v. Mayer „Natalität“ übersetzt) und Sterblichkeit, welches die natürliche Zunahme der Volksmenge bedingt, ist aber fortwährend erheblichen Schwankungen unterworfen, und es scheint, als ob auf kürzere Epochen rascher Vermehrung längere Epochen langsamer Vermehrung – die dann in Verminderung übergehen kann – folgen. So ist die Meinung von O. Lorenz nicht unbegründet, daß, vom Mittelalter her, jedes dritte Jahrhundert, daher besonders das 10te, 13te, 16te und 19te, gleichsam stoßweise eine starke Volksvermehrung gebracht, während die dazwischen liegenden sich in dieser Hinsicht weniger oder sogar negativ ausgezeichnet haben. Jedenfalls gilt es für Deutschland, daß in den genannten Jahrhunderten die Wirkungen der Vermehrung außerordentlich stark gewesen sind. Die beiden ersten Jahrhunderte werden dem Mittelalter, die beiden letzten der Neuzeit zugerechnet. Wir dürfen erwar1

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Entwicklung des allgemeinen sozialen und ökonomischen Lebens: Der Text ist überwiegend in der Handschrift von Ferdinand Tönnies geschrieben. Tönnies hat später Korrekturen eingefügt. Blatt 512 bis 519 ist in der Handschrift von Ernst Jurkat geschrieben. Auf Blatt 519 ergänzt Tönnies den letzten Absatz. Der Text ist inhaltlich identisch mit Blatt 538 bis Blatt 542, die vermutlich den Originaltext von Ferdinand Tönnies geschrieben darstellen. Jurkat hat sie wahrscheinlich abgeschrieben und Ferdinand Tönnes hat noch eigene Korrekturen und Ergänzungen hinzugefügt. Es sind daher für die Veröffentlichung die Blätter 512 bis 519 genutzt worden. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/ 8 Blatt 512-542, 545-548). wie v. Mayer „Natalität“: Georg von Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre, Zweiter Band, Bevölkerungsstatistik, Freiburg i.B. 1897. die Meinung von O. Lorenz: Ottokar Lorenz, Lehrbuch der wissenschaftlichen Genealogie, Berlin 1899.

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ten, daß in jenen die Wirkungen der Vermehrung noch überwiegend ländliche, in diesen überwiegend städtische gewesen sind. Und zwar wird der Gegensatz dieser Charaktere durch die Extreme am schärfsten repräsentiert werden. Das 10te Jahrhundert wird am meisten den mittelalterlichen, das 19te am meisten den neuzeitlichen Charakter tragen. Die dazwischen liegenden würden gemischten Wesens sein, und zwar das 13te noch mit stärkerem Anteil des ländlichen, das 16te schon mit stärkerem Anteil der städtischen Wirkungen. – Was bedeutet aber hier dieser Gegensatz?

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II. [Die Zeitalter und ihre Gegensätze] Wir werden nun zuvörderst den Gegensatz eines Zeitalters vorherrschender Vererbung, daher maßgebender Tradition, und eines Zeitalters vorherrschender Anpassung, daher maßgebender Kritik, in großen Zügen darzustellen versuchen. Es wird dabei die Voraussetzung zu Grunde gelegt, daß die Periode vom Ende des weströmischen Reiches bis um das Jahr 1500 – das „Mittelalter“, – ihrem wesentlichen Charakter nach einem Zeitalter der ersten Art, die seitdem gekommene, noch unabgeschlossene „Neuzeit“ einem Zeitalter der zweiten Art entspricht. Wir werden nun erwarten müssen, daß diejenigen Umstände, welche ein Vorherrschen der Anpassung bewirken, auch im Mittelalter an Bedeutung und Einfluß fortwährend wachsen, daß sie aber in diesem Zeitalter durch die Tradition gebunden bleiben und erst nachdem sich die Mächte der Anpassung von diesem Banne befreit haben, allmählich das Übergewicht erlangen. Zugleich werden wir erkennen, daß erst dann ein heftiger Kampf zwischen den Mächten der Vererbung und den Mächten der Anpassung sich entspinnt, indem jene, bis dahin diese in Schranken haltend und nach Bedürfnis unterdrückend, nunmehr in die Defensive gedrängt werden und sich wehren gegen die Tendenzen, die auf ihre Vernichtung ausgehen. Und da es ihnen lange gelingt, sich dieselben teilweise zu unterwerfen und zu assimilieren, so gebiert sich der Gegensatz immer aufs neue, da die Vermehrung und Verstärkung und das zunehmende Übergewicht der Anpassung in der naturgesetzlichen Entwicklung der Kultur begründet ist.

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B. [Die Entwicklung der europäischen Nationen während der letzten 4 Jahrhunderte] [Dreiteilung der abendländischen Kulturgeschichte] 5

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Wenn wir uns die Aufgabe stellen, die gesamte Entwicklung der europäischen Nationen während der letzten 4 Jahrhunderte unter einheitlichen Gesichtspunkten zu skizzieren, so sind wir der einfachen Wahrheit dabei eingedenk, daß Jahrhunderte willkürliche Zeitabschnitte bedeuten, und daß an keinem Zeitpunkte irgend etwas wie ein Bruch der historischen Continuität stattfindet; denn auch das tiefstwirkende Ereignis ist in seinen Folgen unbedeutend, verglichen mit der Masse an Vorgängen, die ihren gleichmäßigen Verlauf haben und nur allmählich ihren generischen Charakter verändern. Gleichwohl können wir sagen, daß um die Wende vom 15ten zum 16ten Jahrhundert die größte Epoche liegt, die seit dem tatsächlichen Ende des alten weströmischen Reiches in der gesamten abendländischen Kultur eingetreten ist. Ein Bewußtsein davon entzündet sich um dieselbe Zeit, und ist seitdem nicht wieder erloschen, wir kennen es alle in Gestalt der Dreiteilung dieser Kulturgeschichte, worin die fortlaufende „Neuzeit“ sich den abgelaufenen Perioden des Altertums und des Mittelalters entgegensetzt. Bis dahin glaubte man an die nach göttlichem Ratschluß aufeinander folgenden Weltreiche: in dem letzten, dem römischen, befand man sich noch, es war das geistliche und heilige Reich geworden und sollte mit dem jüngsten Tage erst sein Ende nehmen. Nun aber entstand die Vorstellung einer Unterbrechung der wahren Kultur, die in den entdeckten Schriften der Griechen und in ausgegrabenen Bildsäulen und Tempeltrümmern wiederaufzuleben schien: Unterbrechung durch ein Zeitalter mönchischer Unwissenheit und finsterem Aberglaubens, ein barbarisches Zeitalter, dem die neue Zeit Licht und Freiheit bringend, auf der ganzen Linie sich entgegenzuwerfen gesonnen war. Nüchtern und wissenschaftlich ist die eine Vorstellung so wenig wie die 1 20

B.: Vor B steht in der Handschrift von F. T. „altes MS“ und in der nächsten Zeile „Abschluß von A Einleitung“. nach göttlichem Ratschluß: In vielen prophetischen Belegen gilt der Ratschluss Gottes als ein Instrument göttlicher Weltpolitik, das die Absichten Gottes in der Völkerwelt durchsetzen will.

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andere. Die natürliche Einteilung der gesamten abendländischen Kulturgeschichte muß die antike Geschichte als Geschichte der südarischen (graeko-italischer) Stämme von der modernen Kultur als derjenigen nordarischer (germano-kelto-slavischer) Stämme unterscheiden. Jene ist insgesamt „Geschichte“; der Cyklus ihres Lebens ist mit dem Ausgang des römischen Reiches vollendet worden, ihre Hinterlassenschaft ist in die moderne Kultur übergegangen. Diese ist in einem Lebensprozeß begriffen, dessen Ende noch in weiter Zeitenferne liegt. Sie hat sich von Europa auf 2 andere „neue“ Weltteile erstreckt und greift auch auf die beiden früher bekannten, ältesten und größten hinüber und zurück. Die moderne Kultur ist von der antiken, trotz der übrig gebliebenen Zusammenhänge, trotz der befruchtenden Erbschaft, die sie nach und nach angetreten hat, durch eine wirkliche Zwischenperiode des frühen Verfalles dieser antiken Kultur geschieden; diese Zwischenperiode fällt aber mit dem sogenannten Mittelalter – dessen Namen wir, der Bequemlichkeit halber, mit Abstreifung aller an der Wortbedeutung klebenden Associationen, behalten – keineswegs zusammen; sie umfaßt höchstens etwa und begreift in sich die ersten 3 Jahrhunderte des Mittelalters (601 – 900), die aber zugleich schon die Anfänge der neuen Kultur, deren Leben aus den Ruinen erblüht, enthalten. Dagegen erfüllt jene Verfalls-Periode ganz die 3 letzten Jahrhunderte des weströmischen Reiches (301 – 600); ihr Beginn fällt also in die Zeit, da Diokletian die Reste der republikanischen Formen beseitigte und eine centralistische Verwaltung des Reiches durchsetzte; woran bald die Verlegung des Mittelpunktes nach Byzanz = Konstantinopel und die Einführung des Christentums als etablierter Statsreligion sich anschloß. Ein förmliches Ende hat das weströmische Reich nicht genommen (wenn man nicht das Ende des heiligen römischen Reiches 1806 dafür nehmen will); denn die Thronentsagung des letzten sogenannten Kaisers hatte diese Bedeutung nicht, da das byzantinische Reich die Erbschaft in Anspruch nahm und auch tatsächlich verwaltete, so daß es noch dem Könige der Franken Karl (dem ,Großen‘) seinen Titel streitig machte (vgl. Bryan The holy roman Empire). Ein faktisches Ende liegt aber um das Jahr 600 herum, da in dieser Epoche in Italien selber eine langobardische Herrschaft sich niederließ, deren Dasein und Wirken mit wirklicher Fortdauer des Imperium Romanum unverträglich war. Wir 21 31

da Diokletian die Reste: Marcus Aurelius Gaius Valerius Diocletianus war von 284 bis 305 n. Chr. römischer Kaiser. Bryan The holy roman Empire: Gemeint ist: James Bryce, The Holy Roman Empire, Oxford 1864.

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werden also berechtigt sein, hier das Ende der antiken, wesentlich südeuropäischen und den Anfang der neuen, wesentlich nordeuropäischen Kulturperiode zu setzen.

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Von solcher Erkenntnis aus werden wir diese gesamte neuere Entwicklung besser verstehen. Junge rohe Völker, die erst dauernd seßhaft werden, sind ihre Träger. Die Besiedelung und Urbarmachung des Bodens, die Lichtung der Wälder, Ausrottung wilder Tiere und wilder Menschen, die darin schweifen oder die Unterwerfung und Zähmung beider, ist ihre erste große Aufgabe; sodann ihre Herrschafts- und Gemeinde-Einrichtungen zu befestigen, ihr Recht aufzuzeichnen, ihre Häuser und Heiligtümer zu bauen. Sie, d. h. ihre führenden Männer, nehmen von den antiken Künsten und Wissenschaften in sich auf, was sie verwerten können; ihre Lehrmeister sind die Apostel und Priester, die alles, was von Rom kommt, mit dem Gewande göttlicher Heiligkeit einkleiden; von denen sich Gruppen als Korporationen („Orden“) niederlassen und eine „Regel“ des Zusammenlebens festsetzen. Von hier aus ist nun die ganze folgende Entwicklung bis in unsere Tage, und ohne Zweifel weit darüber hinaus, bedingt durch die Gründung und das Wachstum von Städten, in denen ein immer größerer Teil einer vermehrten Volksmenge sich versammelt und sich fortpflanzt. Dies ist der elementare Lebensprozeß der Völker, der sich allen ihren Gliedern mitteilt, der immer neue Anpassungen möglich und notwendig macht. Bis 1200 ist bei weitem die Mehrzahl der später bedeutenden Städte des neuen Kulturgebietes schon vorhanden, zwischen 1200 – 1500 liegt ihre erste Blütezeit, in der sie zu mehr oder minder ausgeprägter Differenzierung als selbständige Träger freien und eigenen Gemeindelebens gelangen. Später als 1500 sind nur sehr wenige und meist unbedeutend bleibende Städte noch angelegt worden. Entstehung und Wachstum aller Städte ist wesentlich bedingt durch ihre Lage. Ein Land, das einen fruchtbaren Boden hat, sei es für Acker und Weide, oder (zumal) für den Abbau mineralischer Schätze, wird rasch Menschen an sich ziehen, die dort direkt Nahrung finden, oder ihre Produkte und Schätze zum Tausch anbieten. Damit konkurriert aber mächtig die Lage an einer von Natur gegebenen oder künstlich hergestellten Straße des Handels und Verkehrs, daher besonders an der glatten Straße eines schiffbaren Flusses und an einer Seeküste, von wo aus andere Küstenplätze leicht durch Fahrzeuge sich bestreichen lassen. Nun hat die ganze jüngere Kulturperiode, deren Betrachtung uns hier obliegt, zunächst diesen materiellen Inhalt, daß sie einen zu-

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nehmenden Austausch zwischen Südeuropa und Nordeuropa hervorbringt, bei dem Südeuropa zugleich als Vermittler der Bedürfnisse des Orients fungiert. Bis nach Indien erstreckt sich diese große Linie, nach Indien, das einen fortwährenden Bedarf nach Silber hat und seine Specereien dafür hergibt. Auch durch Rußland – vom Schwarzen Meere den Dniepr hinauf und die Duna abwärts – und zu Lande (oder auch den Dniestr hinauf) nach der Weichsel und der Oder – zogen sich solche Handelswege, die den Bernstein der Ostsee, dazu Felle nordischer Tiere und andere Produkte halbwilder Völkerschaften (auch lebendige Menschen-Waare) suchten und erwarben; aber auf der Straße die durch das Skythenland führt erblühte keine neue Kultur oder doch unverhältnismäßig langsam. Die Bedingungen waren so viel günstiger für das Gebiet westlich von der Elbe. Während dort eine unermeßliche Tiefebene nur durch die Ströme geschieden wird, ist hier von den Alpen nordwärts eine Mannigfalt erzhaltiger Berge, denen auch die Ströme einen Kranz von Zuflüssen verdanken; in Folge dessen wird hier die große Hauptlinie des Verkehrs, die von Süden nach Norden geht, gekreuzt durch zahlreiche horizontale Striche, die westwärts alle die Richtung zu einer reichgegliederten Küste und nach den fruchtbaren britischen Inseln haben. Während dort – durch Rußland hindurch – nur die Ostsee erreicht wird, gabelt sich hier die Linie in dem Streben nach 2 Meeren, der Nordsee und der Ostsee – denn der atlantische Ozean kömmt zunächst nur in Betracht, sofern er nach dem halbwilden Irland führt –; der Verkehr durch die Ostsee nach den nordischen Ländern wird durch die Gründung und wiederholte Neugründung von Lübeck befestigt, das die kleineren, den Verkehr mit den dänischen Inseln vermittelnden Plätze überstrahlt, indem es die Verbindung mit dem östlicheren Handel des baltischen Meeres, also auch mit der großen Linie die über Trapezunt und Bagdad führt, herstellt. Überdies und nur dieser Ursachen halber ist es in diesen westlichen Gebieten Rom, das politisch entmachtet, seine kulturelle Macht nach Norden hin ausdehnt; im Osten ist es Byzanz, das politisch fortvegetierend, nur eine morsche und der Fortpflanzung schwach-fähige Kultur in seinem Schoße birgt, mit der verglichen die römische noch alle Vorzüge der Jugend hat, weil sie viel weniger eine bloß gelehrte und weit mehr eine lebendige Bildung ist, die in ihrer reifen Sattheit durch Betätigung der mechanischen und Ingenieur-Künste sich betätigt: der römische Bischof und Papst nahm als Oberpriester den geheiligten Namen des „größten Brückenbauers“ (Ponti10

das Skythenland: Der Begriff Skythenland dient hier als Oberbegriff für eine große Anzahl verschiedener barbarischer Völker.

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fex Maximus) an, den er noch heute führt. Nur soweit der Einfluß der römischen Sprache und Kirche sich nach Osten erstreckt, nimmt dieser auch in slavischen Königreichen, unter denen das polnische sich am höchsten erhebt, seinen Anteil an den Fortschritten des Westens, der aber nach wechselvollen Schicksalen schließlich dem Drängen der germanischen Colonisation erliegt.

[Die neuere wirtschaftliche und soziale Entwicklung und ihre Auswirkungen auf das Recht]

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Der Handel oder, noch allgemeiner ausgedrückt: der Tausch – ist die neu – bildende (re-formierende) wirtschaftliche Macht, deren Einfluß fortwährend wächst und mit der Volkswirtschaft auch die Politik allmählich umgestaltet. Sein Wesen enthält das, was man zugleich als Ergänzung und als Gegensatz der anderen, ihrer vollen Wirkung nach früheren Elemente der Kultur begreifen muß. Diese beruhen wesentlich in der Cooperation, der gemeinsamen Arbeit, möge diese Arbeit nun Jagd oder Pflege von Tieren, Haus- oder Ackerbau, Spinnen und Weben oder Metall- und Holzarbeit, möge sie endlich von ganz anderer Art als alle diese friedlichen Tätigkeiten, nämlich als Kampf und Raub sich darstellen. Die Cooperation, als regelmäßige Lebensweise und Mittel zur Befriedigung ursprünglicher oder erwerbbarer Bedürfnisse, bedeutet einen angepaßten Zustand von Menschengruppen in ihren Beziehungen zum Erdboden – auch zum Wasser –, im Besitze und verständigem Gebrauch gewisser Werkzeuge, also auf Grund einer von ihnen beherrschten Technik. Dieser Zustand befestigt sich bei den Individuen durch Gewöhnung und Übung, bei den Generationen durch Vererbung: die jungen Menschen werden in ihn hinein erzogen und lernen ihre Umgebung kennen wie ihre Organe – nachahmend, versuchend, wagend –: sie erwerben, was sie ererbt von ihren Vätern haben. Das Erb-Recht stellt nur als ein specieller Fall der gesamten social-natürlichen Vererbung sich dar. Diese scheint in vielen Regionen wie die Stabilität einer biologischen Art aller Veränderungen zu spotten. Sie beruht aber wesentlich in dem Beharren oder der regelmäßigen Wiederkehr der gleichen Lebensbedingungen: also in einem gegebenen Klima, meteorologischen Verhältnissen, Fruchtbarkeit (oder Unfruchtbarkeit) des Bodens, Zugänglichkeit des Wassers u. dgl. Es versteht sich von selbst, daß das Beharren und die Regelmäßigkeit niemals als absolute vorkommen. Aber teils sind die Störungen 26

was sie ererbt: „Was du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“ Johann Wolfgang von Goethe, Faust 1, Vers 682 ff.

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selber periodisch: jede Generation erlebt sie einmal oder mehreremal und jede lehrt die nachfolgende, wie ihnen zu begegnen; teils gleichen sie in der Regel sich aus, so daß sie keine dauernden Wirkungen hinterlassen. Danach ist die völlige Identität der Lebens-Weise in den auf einander folgenden Generationen, nur scheinbar; wie denn die ganze Vorstellung eines solchen Zustandes zunächst als eine rein schematische verstanden werden muß. In Wirklichkeit müssen immer Modificationen vorkommen, und bei genauer, langwieriger Beobachtung wird eine gewisse Tendenz und erste Richtung der Veränderung immer bemerkbar sein; denn der große Faktor, der Veränderungen des socialen Lebens notwendiger Weise hervorruft, kann niemals gänzlich fehlen: eben der Tausch-Verkehr, der Handel, die Bewegung von Menschen und Gütern. Am wenigsten hat er in der gesamten Entwicklung der Kultur Europas jemals gefehlt. Ja, er ist für die nordeuropäische – und früher ebenso (was uns aber hier nichts angeht) für die südeuropäische – Kultur von Anbeginn mitbestimmend gewesen; auch war sein Einfluß hier in fortwährendem Wachstum, weil eben die Städte, ihre Zahl, Volksmenge, Reichtum, Bedeutung, stätig zunehmen. Und doch bleibt er in den 900 Jahren des „Mittelalters“ (600 – 1500) ein durchaus untergeordneter Faktor für die großen Gesamt-Gebiete, die an der Kultur Anteil haben. Die überwiegende Kraft der Vererbung vermag er nicht aufzuheben. Mit dieser Kraft geht aber die Tendenz der Isolierung, und damit der Differenzierung Hand in Hand. Ein tüchtiger deutscher Forscher (Moritz Wagner) hat den Darwinismus, sogleich nach dessen Auftreten, dadurch berichtigen wollen, daß er auf die Wirkungen der Migration mit Entschiedenheit hinwies. In der Tat bedingt die Veränderung des Stand- und Wohnortes am sichtbarsten die Anpassung an neue Lebensbedingungen und einen Wettkampf ums Leben, worin die Untauglichen und der Anpassung Unfähigen zu Grunde gehen müssen, während die kräftigeren und anpassungsfähigen Individuen sich erhalten und eben diese Kräfte auf Nachkommen vererben werden; wobei die Ausschließung der freien Kreuzung als Folge der Absonderung vorausgesetzt wird. Englische Biologen (Gulick, Romanes; vgl. Romanes, Darwin und nach Darwin III. Band. Übersetzt von B. Nöldeke. Lpz. 1897. S. 18 ff.) haben diesen Gedanken dadurch erwähnt ehe sie als unerläßliche Bedingen einer, wie sie sagen, „polytypischen“ Evolution, die physiologische Isolierung und kumulative Segregation mit Nachdruck und mit gutem Grunde betonten, d. h. die tatsächliche Ausschließung jeder 22

deutscher Forscher: Moritz Wagner, Die Darwinsche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen, Leipzig 1868.

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Kreuzung zwischen differierenden Gruppen, wenn diese Kreuzung auch physiologisch vollkommen möglich wäre und an Fruchtbarkeit nichts zu wünschen übrig ließe; die Tatsache möge, wie auch immer, verursacht sein. Sie fügen also der Isolierung durch Wanderung andere Arten der Isolierung hinzu, z. B. die instinctive. Für die besonderen Entwicklungen der Menschen, an die Wagner M. immer mitgedacht hat, liegt die Bedeutung dieser Ursachen auf der Hand. Die einzelnen Männer z. B. der Germanen haben ihre eigentümlichen Charaktere erworben durch die Wirkungen des Klimas und des Bodens, auf dem sie sich niedergelassen haben, diese Wirkungen haben eben nur durch Inzucht sich kumulieren können, und die Inzucht war teils durch die ausschließlichen Gelegenheiten zur Paarung geboten, teils durch die Sitte, da Verbindungen mit Stammfremden (wenn einmal Gelegenheit dazu sich einstellte) anstößig waren, und durch die persönlichen Abneigungen gegen Ehebündnisse mit gering geachteten Nachbarn oder verachteten Beisassen, begünstigt und zur Pflicht gemacht. Dieser Prozeß wiederholt sich, wenn auch abgeschwächt – da die natürlichen Schwierigkeiten der Exogamie geringer werden – in kleineren lokalen Bezirken: Landschaften und Ortschaften. Überall kommen zu den Merkmalen der Gestalt, der Gesichtszüge, des Gesichtsausdruckes, und den entsprechenden psychischen Eigenschaften, sociale Besonderheiten, die sich bis an die Grenze, wo sie in individuelle Idiotismen übergehen, differenzieren können, hinzu: vor allem die Sprache, dieses eminent-sociale Mittel der Verständigung und Gemeinschaft, das ein vernünftiges Zusammenwirken der Menschen erst möglich macht oder doch wesentlich erleichtert: die Teilung der Arbeit innerhalb einer geschlossen-einheitlichen Gruppe, erheischt Unterscheidung der Individuen. Dieser dient die Namensgebung, und erst, wenn einer „heißt“, wird man ihn etwas Besonderes tun „heißen“: die Cooperation entwickelt die Sprache des Kommandos, die zwar nicht die ursprüngliche Sprache ist, aber viel dazu geleistet hat, diese zu entwickeln. (Die neueren Sprachforscher betrachten das Verbum als den ältesten Bestandteil der Sprache, und wenn das Verbum zunächst ein bloßes Begehren – schlechthin – ausdrückt, so erhält es doch erst seinen festen vollen Ton als Begehren dessen der will und sein Wollen mitteilt, erwartend und wollend, daß es erfüllt werde: als Begehren des Befehlshabers (und die Form des Infinitivs, die unbestimmte Verbalform, die wir als Ausdruck des Begehrens an unsern lallenden Kindern kennen, ist zugleich der älteste und sich immer miterhaltende Imperativ). Die Kommando-Sprache wird am leichtesten nachgeahmt: schon weil sie die Sprache des Älteren, des Vaters, des Fürsten ist, und so dann auch, weil sie durch ihre Energie am tiefsten sich einprägt. –

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So viele Kooperationen, so viele Sprachen; die Sprache vererbt sich durch Mitteilung und Lehen an der einen, Nachahmen und Lernen auf der andern Seite, aber auch durch die Sprachorgane und ihren Bau, so schwer dessen besondere Beschaffenheit zu konstatieren sein möge (B. Delbrück Grundfragen der Sprachforschung Straßburg 1901 S. 97 sagt wohl mit Recht, eine anatomische Verschiedenheit der Sprachwerkzeuge verschiedener Rassen oder Nationen sei bis jetzt nicht oder kaum nachgewiesen worden; ich halte dies aber, zumal bei dem unentwickelten Stande der mikroskopischen Anatomie, für keinen Grund, an dem Dasein solcher Verschiedenheiten zu zweifeln, was Ratio und Erfahrung gleichermaßen wahrscheinlich machen); sie variiert mit diesen ihren Ursachen, und diese variieren auch aber durch die besonderen Arten und Methoden der Kooperation, die sich z. B. innerhalb eines so gleichartigen Tätigkeits-Zweiges wie die Landwirtschaft ist, doch sehr mannigfach gestalten, nach Beschaffenheit des Bodens – ob Berg oder Thal, Hügelland, Hochebene, Tiefebene –, nach Nähe von Gewässern – Flüsse, Landseen, Meer –, und Wäldern; aber auch nach Intelligenz und Tatkraft der Bewohner, die aus einer Sandbüchse einen blühenden Garten machen können, während andere Bewohner, die mit solchen Tugenden schlecht ausgerüstet sind, die Fruchtbarkeit ihres Bodens nicht zu erhalten und zu vermehren, sondern nur zu genießen wissen. Wiederum sind diese Eigenschaften selber nicht zufällig: sie werden durch das Klima begünstigt oder gedrückt; Energie wird durch abhärtende Einfachheit der Lebensumstände angespornt, durch Überfluß und Üppigkeit leicht erschlafft; ebenso wirkt „Auffrischung des Blutes“ stimulierend, zu nahe Inzucht debilitierend, usw. Alle diese Umstände wirken auf die Kooperation, und daher – was wir hier ins Auge fassen – auf die Ausbildung der Sprache und der Mundart zurück. Die besonderen Wirkungen besonderer Kooperationen gesellen sich dazu: als der Metallarbeit und anderer Künste, des Seefahrerlebens, Kriegerlebens usw. Jede Lebensweise erzeugt ihre eigenen Modificationen innerhalb einer gegebenen Sprache und Mundart. Alles dies tendiert zur Differenzierung. Wie die Sprache, so die Sitte und der Beruf. Auch diese verzweigen sich mit Stämmen, Familien und ihren Wohnsitzen. Die Sitte, als Collektivbegriff genommen, umfaßt alles, was gewohnheitmäßige Geltung hat innerhalb einer Menschengruppe, also Geltung kraft Herkommens und Vererbung; denn sociale Gewohnheiten können sich nur erhalten, indem ihre Übung und Achtung von jeder Generation auf die folgende übertragen wird. Ebenso übertragen wird die Sprache und was sonst etwa an verbindenden Zeichen durch sociale Instincte geschaffen wird; aber hier ist der Grund der Geltung

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– daß ein Wort solche und solche Bedeutung hat – „selbstverständlich“; er setzt sich daher in der Regel und seinem Wesen nach nicht einem etwaigen individuellen Anderswollen oder Andersmeinen entgegen; oder wenn es geschieht, so mit der Autorität der Tatsache. „Das Ding heißt so“ – nicht: „unsere Vorfahren haben es so genannt, darum müssen wir es auch so nennen“. Diese Ausdrucksweise charakterisiert die Sitte; dem hier viel eher zu erwartenden Abweichen, der Neuerung, setzt sich die Autorität des Herkommens entgegen. „Es muß so und so geschehen, denn es ist immer, es ist von Alters her, von je her, so geschehen“. Eine solche Autorität kann, ihrer Natur nach, in jeder Menschengruppe, deren ,Verfassung‘ sich im Wechsel der Generationen erhält, die also Tradition bildet, entstehen. Ihre natürlichen Träger sind die jedesmal ältesten Mitglieder solcher Gruppen. Diese Würde des Alters kann aber auch auf besondere Familien, kann auf einen ganzen Stand übergehen. Zur Sitte gehört, das Recht, d.i. die ideelle für den Richter bindende Norm der Willensverhältnisse. Der Richter setzt Streit voraus, und in allen Verhältnissen friedlichen Charakters ist doch Streit denkbar und wirklich – um so mehr, je mehr sich Gleiche gegenüberstehen, denn je mehr Ungleichheit vorhanden und anerkannt ist, desto mehr stellt sich der Streit als Auflehnung des Geringeren dar, die von dem Größeren gebeugt wird und sich dem Richter entzieht. Der Inhalt des Rechtes ist immer die Begrenzung und Beschränkung der Willen gegen einander, die Bestimmung von Linien, deren Überschreitung als Unrecht bezeichnet wird in allgemeinen Regeln. Verhütung und Zerstörung von Unrecht ist der Zweck des Rechts. Jedem Willen wohnt ein gewisses Können oder eine Macht bei, die insofern als sie durch das Recht beglaubigt ist, sein „subjektives“ Recht, besser (der Unterscheidung halber) sein Rechtsfug heißt. Es ist dem (objektiven) Rechte wesentlich, zu gelten, d. h. gegenüber dem wirklichen Zustande und Geschehen in einer Menschengruppe (oder Gruppe menschlicher Verbände) als der (in gewissen Beziehungen) sein-sollende Zustand, als der geschehen-sollende „Richtige“ bekannt und anerkannt zu sein. Aber nicht alles was in diesem Sinne bekannt und anerkannt ist, heißt Recht, sondern nur wovon gedacht wird, daß es möglicherweise, durch einen menschlichen Richter „gefunden“ und „gesprochen“ werden kann. Es läßt sich allerdings ein schlechthin allgemeines d. h. der Idee und Vernunft nach für alle Menschen gültiges Recht konstruieren aber von diesem konstruierbaren muß das empirische Recht streng unterschieden werden, das nur als ein relativ allgemeines vorkommt und innerhalb dessen sich so viel besonderes Recht 14

Recht: Im Manuskript doppelt unterstrichen.

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ausbildet, als autonome d. h. Recht schaffende und Richter hervorbringende Lebenskreise vorhanden sind. In jeder Familie gibt es nicht nur etwas dem Strafrecht Ähnliches – die Regeln, daß gewisse Handlungen gewisse Züchtigungen nach sich ziehen, – sondern auch eine Art von Privatrecht – d. h. vorzugsweise: anerkannte Regeln über Erwerb und Verlust von „Eigentum“, die außerhalb dieses Kreises weder Geltung noch Bedeutung haben, innerhalb aber um eine Scheidemünze cirkulieren. Allerdings ist eine heutige westeuropäische Familie ein zu flüchtiges Gebilde, als daß sich in ihr leicht wirkliche Sitte und also Gewohnheitsrecht bilden könnte. Den formalen Grund der Gültigkeit von ,Gesetzen‘ pflegt hier vielmehr nur der autoritäre persönliche Wille – des Vaters, der Mutter, oder beider abzugeben. Der Richter ist auch der Gesetzgeber. Und dies ist auch in größeren Verhältnissen eine sehr gewöhnliche und sehr wichtige Complikation. Es frägt sich dabei zuerst: in welchem Sinne und in welchen Grenzen er Regeln „setzt“. Will er etwa das anerkannte Gewohnheitsrecht nur auslegen und ergänzen? oder will er es verändern und brechen? im ersten Falle wird seine Satzung leicht, im anderen schwer Anerkennung finden, also wirkliches Recht werden. Denn wann ein Befehl im einzelnen Falle oder auch dauernd Gehorsam findet – dessen alleiniges Motiv Furcht sein kann – so ist er damit noch nicht als Recht in das „Rechtsbewußtsein“ der Gehorchenden übergegangen. Denn das Recht ist, wie die Sprache, wie das Geld, und wie alles was Geltung hat, sozialpsychologisches Gebilde. Indessen kann allerdings persönliche Autorität stark genug sein, um einem solchen Gebilde, wenigstens einem zur Ergänzung dienenden Stücke, Kurs zu verleihen; selbst wenn es bis dahin gültige Stücke verdrängen will. Dies kann seinen Grund in der Sache haben – daß etwas als vernünftig und gerecht anerkannt wird, einer sinnlosen oder doch unvernünftigen Gewohnheit gegenüber: der seltene Fall. Oder – bei weitem der häufigere Fall – die Autorität gilt unbedingt und um ihretwillen auch was von ihr ausgeht. Es wird an sie geglaubt, sie hat unbeschränkten Credit.

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[Die neuere Entwicklung der abendländischen Kultur] Hier liegen nun die tiefen und mächtigen Zusammenhänge des Rechtes mit der Religion: die theokratischen und priesterlichen Einflüsse auf die Gestaltung des Rechtes. Es bedarf hier nur einer Hinweisung darauf, um in eine kurze Betrachtung des Religionswesens überzugehen. Religion unterscheidet sich von Sitte wesentlich durch eine direktere Beziehung auf den Wert

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bestimmter Handlungsweisen; insbesondere für die Abwendung und Heilung von Übeln und Gefahren. Timor est qui fecit Deos. Aber nicht die reine Furcht, sondern die Furcht vermischt mit Bewunderung, abergläubischer Anschauung, dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Gemeinschaft, daher mit Anhänglichkeit, Treue, Liebe, Hoffnung – kurz: Ehrfurcht ist die Wurzel des religiösen Glaubens; in ihr ist auch die Kehrseite der Furcht, die Hoffnung enthalten, und das Vertrauen auf die Macht des Verehrten, Wohltaten zu spenden. Daher ist in allen menschlichen Verhältnissen, wo sich Ehrfurcht bildet, das Rudiment einer Religion. Das große Gesetz der religiösen Entwicklung, das schon der Alexandriner Euhemenes geahnt, in unseren Tagen Herbert Spencer nun entdeckt hat, ist die Übertragung des Verhaltens zu Menschen auf das Verhalten zu vorgestellten menschenähnlichen Wesen; und die dem Menschen als solche am nächsten liegen, sind die Toten, die er als Lebende verehrt hat und als Weiterlebende sich vorstellt. Ein unbestimmter Geister- und Gespensterglaube, dem bloße Furcht zu Grunde liegt, wird erst durch den Totenkult und jene Elemente der Ehre, die darin enthalten sind, zur bestimmten religiösen Praxis, deren Kern überall das Opfer ausmacht, ein unmittelbarer Sprößling des Totenkults. Eine Entwicklungsgeschichte der Religionen kann hier nicht vorgetragen werden. Es soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß darin auch das Schema einer Entwicklung vom Allgemeinen zum Besonderen eine große Rolle spielt. Bei den Griechen und Römern ist dies besonders deutlich, wo mit der Entwicklung der Polis der Kultus der besonderen Stadt-Gottheiten immer größere Bedeutung gewinnt; wo jede Familie, jedes Gewerbe seine Schutzgötter hat. Aber auch in der neuen Kultur, obgleich ihre Religion prinzipiell monotheistisch ist, vollzieht sich ein analoger Prozeß als Ausbildung des Heiligen-Kults, der am meisten populär gewordenen Form Geistlichen Religionswesens. Ihrem Wesen nach sind diese großen Mächte: der ursprüngliche Consensus, die Sitte, die Religion, ohne alle Elemente des rationalen, bewußten zweckmäßig-willkürlichen Wollens. Von ihren wirkli2

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Timor est qui: „Es ist die Furcht, die Götter schuf“. Wohl eine Anspielung auf eine Passage bei Augustinus (die auch sonst schon einmal in die Vergangenheit gesetzt genutzt wird): „Quantus Deus est qui facit deos?“ (zu Psalm 94; PL 37, 1221, Zeile 9). Ferdinand Christian Baur, Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts Tübingen 1862. der Alexandriner: Eumenes von Kardia war ein Sekretär Alexanders des Großen und einer seiner Nachfolger. in unseren Tagen: Herbert Spencer, Die Prinzipien der Soziologie, nach der 3. engl. Aufl. übersetzt, 2 Bde., Stuttgart 1887. Herbert Spencer nimmt demnach den Ahnen- und Totenkult als den Ursprung aller Religionen an.

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chen Erscheinungen wird man das niemals sagen können. Aber das Neuschaffen in ihnen bleibt immer gering im Vergleich zu der Masse des Alten, es bleibt auch befangen und bedingt durch die Tradition, das Neue wird niemals zum hervorstechenden Element. Es ist der poetischen und aller künstlerischer Produktion verwandt: die Anschauung und die Phantasie überwiegen, das nüchterne Denken versieht nur die Stelle des Gehilfen. Aber dies ist der variable Faktor, dessen Bedeutung fortwährend zunimmt, bis er der bestimmende und herrschende wird. Nun wird die ganze moderne (christlich-germanische) Kulturentwicklung dadurch charakterisiert – wenn wir sie in 2 Phasen einteilen –, daß ihre erste Phase sowohl als die zweite, von der vorausgehenden großen rationalistischen Epoche so zu sagen geschwängert ist. Diese rationalistische Epoche ist die zweite Hälfte des klassischen Altertums, es ist die römische Welt. Ihr Geist erfüllt die neue Religion: es genügt, an den Papismus und an die von ihm beherrschte römisch-katholische Kirche zu erinnern. Ihr Statswesen erfüllt die neue Sitte: hier ist hauptsächlich an die Sitte und das Recht der weltlichen Herrscher zu denken; das ganze Zeitalter hindurch bleiben sie in dem Gedanken, das römische Reich fortzusetzen und zu erneuern. Sie leiten früh den Anspruch daraus ab, an die Sitte des Volkes, an das traditionelle und gemeine Recht, nicht gebunden zu sein, sondern nach Art der Imperatoren selber Recht machen zu können. „Quod principi placuit, legis habet vigorem“. Das Hofceremoniell und Majestätenwesen entlehnen sie von Byzanz, dem orientalischen Rom. Endlich geht die Sprache Roms, wie sie die konventionelle Stats- und Gesellschaftssprache des alten Orbis Terrarum geworden ist, auch in den Consensus der neuen germanischen Kultur über. So wird sie insbesondere die Sprache der geistlichen Herrscher und vermittelt dadurch auch die erhaltenen Reste der antiken Wissenschaft, Technik usw. Aber eben dieser antike Rationalismus, der zu seiner Zeit eine Anpassung an das zunehmende Handels- und Verkehrswesen der Mittelmeerländer bedeutet hatte, wirkt in der ersten Phase der neuen Kultur (dem ,Mittelalter‘) wesentlich als Vererbung: er ist zur Ruhe gekommen, er entwickelt sich nicht weiter, und tritt mit der Würde und Autorität des Alters auf. Er wird der Schulmeister der unbändigen germanischen Knaben. Noch in der Zeit, die wir durchaus dem Altertum zurechnen, hatte jene Verschmelzung hel21

Quod principi: „Was der Herrscher billigt, hat Gesetzeskraft!“ Domitius Ulpianus, ein römischer Jurist und Prätorianerpräfekt. Christian Friedrich Mühlenbruch, Lehrbuch des Pandektenrechts, 3. Aufl., 3 Bde., Halle 1839 – 1840.

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lenistischer Shilosophener mit dem semitischen Monotheismus und Heroenkult stattgefunden, deren Produkt als christliches Dogma sich krystallisiert hat; die einen wie die anderen Elemente waren im Verhältnis zur griechisch-römischen Tradition durchaus rationalistisch und negativ, und hatten erst nach Jahrhunderte dauerndem Kampfe mit ihr den Sieg davongetragen. In ihren äußeren Formen waren sie Wissenschaft und stellten sich als solche vor: nun aber mit einem Prädikat, das irgend welche Wissenschaft nur annehmen kann, indem sie auf übernatürlichem Wege dazu gelangt zu sein behauptet: als „allerheiligste“ Wissenschaft, als Theologie. Wie immer wir als wissenschaftlich Denkende von heute über sie urteilen mögen, für die sociologisch-objektive Ansicht ist dies am merkwürdigsten an ihr, daß sie der Form nach Wissenschaft ist – noch heute steht sie in den Hochschulen der Wissenschaften an ihrer Spitze –, dem Inhalt nach aber, im Widerspruch zum Wesen des wissenschaftlichen Geistes der gegen alle Tradition kritisch und revolutionär auftritt, ein Vehikel der Tradition, ja der – heiligen – Sage und des Aberglaubens geworden ist. Indessen für die Ausbreitung der alten Kultur über die jungfräulichen Gefilde des „Heidentums“ ist zunächst die ökonomische Tatsache von unmittelbarster Wichtigkeit, daß eben die Theologen, die Priester und vor allem die […]

[Das Verhältnis der Individuen zur Korporation]

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[…] Proceß der das Verhalten der Menschen zu ,ihren‘ Göttern bezeichnet, und immer ist jenes Fühlen und Denken mit dem religiösen gleichartig oder doch nahe verwandt. Der andere Fall wäre durchaus selten, wenn er durch klares und deutlich-scharfes, also begriffliches Denken der Individuen bedingt wäre; er wäre dann ebenso selten wie dieser selbst. Da hier aber das Verhältnis der Individuen zur Korporation betrachtet wird, so genügt es für unsern Begriff, daß es so beschaffen ist, als ob sie die Korporation klar und deutlich als bloßes Mittel für ihre (der Individuen) gemeinsame oder zusammentreffende Zwecke begriffen hätten und fortwährend begriffen. Es wird also jedenfalls eine Annäherung dahin stattfinden, wenn der Glaube an das wirkliche Dasein zwar beharrt, aber der Glaube an das übernatürliche 1 19 21 27

Shilosophener: Wahrscheinlich abgeleitet von Silo (Schilo, Schiloh). Es handelt sich um einen im alten Testament erwähnten Ort des alten Nordreiches von Israel. […]: Blatt 535: Danach fehlt eine Doppelseite des Manuskripts. […] Proceß: Blatt 536: Davor fehlt eine Doppelseite des Manuskripts. so beschaffen: Im Manuskript doppelt unterstrichen.

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Dasein schwindet. Denn zugleich wird das Gefühl der unbedingten Abhängigkeit von dem angeblich übernatürlichen Wesen vergehen, und die Bewußtheit der eigenen Individualität zunehmen. Dennoch bleibt das Verhältnis noch ganz und gar auf jener Seite (des ersten Falles), so lange als die „Genossenschaft“ selber, und um ihretwillen die sie vertretenden, in ihr maßgebenden Personen mit menschlichen Gefühlen, als Treue, Hingebung, Verehrung, Liebe betrachtet werden, oder als auch nur Gewohnheit das ,Band‘ darstellt, das den Einzelnen mit der Idee des Ganzen verknüpft. Um so stärker ist die Annäherung an unseren Begriff des zweiten Falles, wenn solche Gewohnheit und solche Gefühle einer Entfremdung weichen, und das geschieht notwendigerweise in dem Maße als das Individuum seines Interesses sich bewußt wird, als es daher seinen Vorteil durch die Genossenschaft mit seiner Aufwendung für sie vergleicht, und also ihren Wert an ihren Kosten mißt. Auch in dieser Beziehung ist das Verhältnis analog dem zu Göttern und Menschen, das ebensolche Entwicklung nehmen kann. Es erkaltet: in dem Maße als es ein interessiertes wird. Jedes solches Verhältnis kann auch in ein feindliches umschlagen, und dies ist der Fall, wenn Gefühle, wie Haß und Furcht bei den Individuen, deren Verhalten wir betrachten, das Übergewicht bekommen. Damit ist dann das positive Verhältnis negiert: die Individuen fühlen und denken die Korporation (ebenso den Gott oder den anderen Menschen, z. B. der Vater) nicht mehr im bisherigen Sinne als die „ihre“ („den ihren“). Indessen wird diese Negation nicht leicht rein sich darstellen, wenn einerseits die entgegengesetzten Gefühle, andererseits der Gedanke des Interesses im Hintergrund stehen. Das wirkliche Verhalten kann einer Mischung von Furcht, Hoffnung und Interesse gemäß sein, einer Mischung, die als solche wahrscheinlich nicht bewußt wird, sondern sich nur durch einen raschen und leichten Wechsel dieser Gefühle und Vorstellungen kundgibt.

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Vorteil: Im Manuskript doppelt unterstrichen. Gefühle und Vorstellungen: Das Blatt 537 hat am Ende den Vermerk in der Handschrift von F. T.: „Als große“ – Anschluss-Hinweis! Damit fängt Blatt 512 an und Blatt 538, die beide inhaltlich identisch sind.

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[Die Verbände als Idee] [Kirche und Staat]

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Als große, ihrer Tendenz nach allumfassende Verbände stehen sich in dieser Hinsicht gegenüber die Kirche und der Staat. Die Kirche repräsentiert die Gemeinschaft und darum die Überlieferung und die Vererbung, der Staat repräsentiert die Gesellschaft und darum die Neuerung und die Anpassung. Die Kirche ist wesentlich konservativ, der Staat wesentlich kommutativ und progressiv. Wir dürfen nie vergessen, daß beide nur in der Idee existieren und agieren. In der naturwissenschaftlichen Wirklichkeit sind immer nur Menschen vorhanden, die mit einander durch Abstammung, Nachbarschaft, Freundschaft zusammenhängen, einander lieben und fördern oder einander hassen und hemmen, zusammen arbeiten oder mit einander tauschen und handeln, einander richten und lehren, befehlen und gehorchen, zwingen und überreden, belügen und betrügen. Zu oberst aber muß als die naturwissenschaftliche Wirklichkeit betrachtet werden, daß Mann und Weib sich begatten, Kinder erzeugen und aufziehen, schützen und hegen und ihnen von ihren Gütern wie von ihrem Wissen und Denken mitteilen.

[Haus, Dorf und Stadt] 20

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Wenn wir von einem Haus, einem Dorf und einer Stadt sprechen, so denken wir zunächst an ein sichtbares Gebäude und an kleinere oder größere Gruppen von Gebäuden, demnächst auch an den sichtbaren Inhalt der Häuser, die Wohnräume, Küchen und Keller und was zwischen den Häusergruppen liegt, Wege und Straßen. In einem anderen Sinne sprechen wir aber von einem Haus, einem Dorf und einer Stadt, wenn wir an den besonderen, uns selber am meisten ähnlichen Inhalt der Gebäude denken, an die Menschen, die wir dann nicht nur als Bewohner dieser Räume, sondern als mit ihnen identisch uns vorstellen: „das ganze Haus, das ganze Dorf, die ganze Stadt.“ Die dadurch ausgedrückte Einheit von Menschen geht schon in eine unsichtbare über, wenn sie gedacht wird als durch mehrere Gene1

Die Verbände als Idee: Oben auf Blatt 512 steht in Tönnies Handschrift: „(altes MS: vielleicht GdN III)“ und darunter „(5/9 34)“.

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rationen beharrend: „das Haus“ wird hier gleichbedeutend mit „Familie“ (im Griechischen oWjor, im lateinischen domus), ebenso wird das Dorf und wird die Stadt vorgestellt als eine menschliche Gesamtheit, die – zwar durchaus nicht in allen Beziehungen, aber doch in gewissen wesentlichen – dieselbe bleibt, trotz des Stoffwechsels, d. h. des fortwährenden Ausscheidens verbrauchter – gestorbener – Teile und fortwährenden Anwachsens junger, neu erzeugter – geboren werdender – Teile. Die Analogie mit dem Dasein eines Organismus ist hier greifbar. Auch der pflanzliche und animalische Organismus wird durch die jedesmal sichtbaren Teile nur repräsentiert, das Gesetz des Lebens besteht aber darin, daß die Masse der bleibenden Teile fortwährend die abgestoßenen und neu produzierten bei weitem überwiegt, und daß die letzteren allmählich in die frei werdenden Stellen nachrücken, während die Relationen der Teile – Cooperation von Zellen als Gewebe, von Geweben als Organe – sich nicht verändern. Wenn wir in gleicher Art die biologische Ansicht auf das Zusammenleben der Menschen anwenden – wie es durch die sogenannten organischen Theorien geschieht – so ist das dem Principe nach durchaus berechtigt. Wir dürfen in der Tat jede solche Gesamtheit, insofern als wir sie als in Erneuerung seiner Teile beharrendes Ganze denken, auch als lebendige Einheit anschauen; und dies liegt um so näher, wenn die Erneuerung selber rein biologische ist, wie bei der menschlichen Familie der Fall, und wie wir ebenso größere Gruppen – den Stamm, das Volk (in diesem natürlichen Sinne), die Rasse – betrachten, wenn auch rein solche, je kleiner sie ist, desto schwerer sich „rein“ erhält, d. h. durch Inzucht sich fortpflanzt. Bei lokalen Einheiten hingegen, die im Dasein beharren, denken wir gar nicht ausschließlich an den natürlichen, d. h. durch Tod und Geburt von Individuen sich vollziehenden Stoffwechsel, sondern zugleich an den Abzug und Zuzug von Menschen, deren Verhältnis zu einander, ebenso wie das von Todes- und Geburtsfällen, Wachstum oder Abnahme der Gesamtmasse verursachen kann und muß, wenn sie nicht genau balancieren. Infolgedessen denken wir auch bei diesen lokalen Einheiten weniger an die biologische Identität der Bewohner-Menge zu verschiedenen Zeiten, als vielmehr an die beharrende Verbindung zwischen einem Raumteil (dem „Ort“), insbesondere einem Stücke des Erdbodens, und einer gewissen neben einander „wohnenden“ Menschengruppe, wenn gleich der Ort selber mit ihrer Menge wächst, und wenn auch etwa in dieser Menge heute kein einziger direkter (physiologischer) Nachkomme der Bewohner, die der Ort vor 100 Jahren hatte, sich befände. Wir werden freilich für die Regel halten, daß ein Kern von direkten Nachkommen (in männlicher oder weiblicher Linie) durch mehrere Generationen sich erhält, aber wir

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werden dies, um die Stadt als „dieselbe“ anzuerkennen, nicht für wesentlich halten, sondern dafür hat bei weitem die überwiegende Bedeutung, daß der Kern des Ortes, der „Ansiedlung“ geblieben ist und sich erhalten hat. Da nun aber Ort und Gegend, Luft und Klima sehr bedeutend auf die Gemütsart und Intelligenz der Einwohner wirken, und da im Ablauf mehrerer Generationen darin schwerlich eine erhebliche Veränderung eintritt, so dürfen wir füglich die Identität der Menschen, insofern sie auf der Verbindung mit einem Raumteile beruht, als psychologische begreifen.

[Die Korporation] 10

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In beiden Begriffen einer beharrenden Einheit ist aber nicht das Merkmal enthalten, daß die Einheit in der Vorstellung der Menschen, die ihr angehören, geschweige anderer Menschen, vorhanden sei: dies ist der dritte und für uns bei weitem wichtigste Begriff, der Begriff der Korporation (Gemeinde, Genossenschaft, Verein oder wie immer bezeichnet). Das Dasein der Einheit selber beruht hier wesentlich darauf, daß die Vorstellung ihres Wesens, des Bewußtsein ihres Daseins von einer Generation von ,Mitgliedern‘ auf die andere übertragen wird, was nur durch Lehre und Unterricht geschehen kann. Diese Vorstellung ist aber immer die einer von der Vielheit der Mitglieder verschiedenen Einheit, die Vorstellung eines nach Art des einzelnen Menschen zu wollen und zu handeln fähigen psychischen Körpers, die Vorstellung einer Person. Das Dasein dieser künstlichen oder ,moralischen‘ Person (wovon die ,juristische‘ Person eine Unterart) ist ein fiktives Dasein: auch sie stellt eine beharrende Einheit bei wechselnder Vielheit dar, aber diese Einheit und Identität innerhalb der Menge ist weder eine biologische noch eine direkt und eigentlich psychologische, sie ist nur eine indirekt psychologische und muß als die specifisch sociologische verstanden werden. Da nun in Wirklichkeit und von Natur nur der einzelne Mensch mit Überlegung will und handelt, oder mehrere, deren Gedanken und Wollen – zufällig oder aus irgend welcher Ursache – übereinstimmen, so ist die Frage, wie eine „moralische Person“ (nach Art eines einzelnen Menschen) als mit Überlegung wollend und handelnd gedacht werden könne? Sie kann es nur, wenn in ihrem Namen ein einzelner Mensch oder mehrere wollen und handeln. Jedenfalls muss das Wollen und Handeln dieses Einen oder dieser Mehreren durch bestimmte Merkmale von ihrem übrigen Wollen und Handeln, das sie im eigenen Namen begehen, unterschieden sein, es muß sich

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durch seine Formen davon abheben. Daß nun dies durch einen Einzelnen geschehen kann, ist von selber klar. Wie aber durch mehrere? Die Mehreren müssen konstituiert sein als eine beschlußfähige Versammlung oder Gesamtheit. Es muß durch ihren eigenen oder einen fremden Willen festgesetzt sein, unter welchen Bedingungen und in Bezug auf welche Angelegenheiten ihre gemeinsamen Beschlüsse als Willenserklärungen der durch sie vertretenen moralischen Person gelten sollen. Wir gelangen also zur Konstituierung Mehrerer in eine Einheit als zu einer vierten Art, die durch die dritte notwendig mitgesetzt ist, wenn nicht etwa die Vertretung der moralischen Person ausschließlich durch einen Einzelmenschen, als einer natürlichen Person geschieht. [Sie]konstituieren sich oder werden konstituiert zu einem Gebilde, das einer natürlichen Person in den Beziehungen, die dafür wesentlich sind, so sehr als möglich ähnlich ist. Auch diese stellt also eine Einheit dar, aber eine Einheit, die von vornherein gedacht ist als für einen bestimmten Zweck – die Vertretung einer moralischen Person – gleichsam zugeschnitten. Nur durch diese Beziehung auf eine moralische Person, die dieser an und für sich offenbar nicht eigen sein kann, unterscheidet sie sich von dieser. Wir werden also allen konstituierten Verbänden gegenüber, so auch den umfassenden, typischen: der Kirche und dem State gegenüber, uns die Fragen gegenwärtig halten: 1. was sind sie in der Idee ihrer Subjekte 2. wer repräsentiert sie? eine natürliche oder eine moralische Person? – In den Antworten auf diese Fragen werden wir die größten socialen Wandlungen sich widerspiegelnd finden. –

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unterscheidet sie sich: Ab hier Text in Tönnies Handschrift.

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[Die moderne wirtschaftliche Entwicklung – Kapitalismus und Gegentendenzen]

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[…] gar es auf kaufmännische Fähigkeiten ankömmt (vgl. Ziegler Dr. Franz, Wesen und Wert kleinindustrieller Arbeit: Gekennzeichnet in einer Darstellung der bergischen Kleineisenindustrie. Berlin 1901. Anzeige v. A. Weber in Schmollers Jahrbuch XXVI, 4 S. 1734 ff.). Ihr weitestes Feld aber hat die Specialisierung, noch auf dem Boden moderner wirtschaftlicher Bedingungen, im Klein-Handel, und zwar sowohl als Beschränkung auf wenige Artikel des Massenbedarfs, wie auf mehrere einer erlesenen Kundschaft. Es ist wahr, daß besonders in der Industrie, und mehr und mehr, durch Großmagazine, auch im Handel, dieser Richtung immer mehr Terrain durch die kapitalistischen Tendenzen abgewonnen wird; um aber das Tempo, worin der Kapitalismus mit seinen Konsequenzen fortschreitet, zu verstehen, muß man sich gegenwärtig halten, daß diese Widerstände sich noch fortwährend neu erzeugen, weil sie nicht, ihrem Wesen nach, Überreste, auch nicht Rückschläge in eine vergangene Wirtschaftsordnung darstellen, sondern gerade aus den Elementen der gegenwärtigen erwachsen, freilich insofern als diese die Fortsetzung, nicht insofern als sie einen Gegensatz der ehemaligen bedeutet; und daß sie beides ist, wird gemeiniglich übersehen oder doch nicht in gehöriger Weise erkannt. Der Kapitalismus freilich, diese überwältigende Erscheinung, enthält fast nur den Gegensatz gegen die sociale Differenzierung, insofern als diese sich in Scheidung selbständiger Künste und Berufe ausdrückt. Durch das Streben nach Gewinn, und daher nach vermehrten Mitteln zur Erzielung von Gewinn bezeichnet, muß er auf Akkumulierung, auf Vereinigung und Koncentration von Arbeitern, Arbeitssubstanten, Stoffen und Hülfsmitteln ausgehen. Diese Tendenz führt nicht nur zu Associationen des Kapitals für einzelne Unternehmungen, sondern für Unternehmung schlechthin, der ein großer Teil des modernen Bankenkapitales dient; sie führt nicht nur zu Vereinigungen gleichartiger Unternehmungen in Ringen, Kartellen, Trusts, also zu Aufhebung der Konkurrenz, die zunächst als freie notwendig aus der durch den Kapitalismus geforderten und geförderten Entfesselung der Betriebe folgte; 3

[…]: Ab hier Blatt 545-548; der vordere Anschluss fehlt; Thema, Papier und Schrift passen zu den vorherigen Blättern.

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sondern auch zur Vereinigung verschiedenartiger aber in einander greifender Betriebe unter einheitliche, nicht nur kaufmännische, sondern auch technische Leitung: die besonders sogenannte Combination, noch einer gewaltigen Fortentwicklung fähig; anstatt, daß die alte Geschäftsmaxime lautete: „Mache nie etwas was du anderswo kaufen kannst“ – ganz im Sinne des „Schuster, bleibe bei deinem Leisten“ – bildet man den neuen Grundsatz: „Kaufe nie von Anderen, was du selbst fabricieren kannst“, der offenbar in grenzenlose Consequenzen geführt werden kann (in der ökonomischen Section der British Association berichtete darüber zu Oxford 1894 S. Webb, vgl. Neue Zeit 1894/95 S. 22 ff). Seine Illustrationen beziehen sich hauptsächlich auf englische Eisenbahn-Gesellschaften, Ingenieur- und Schiffbau-Firmen, die alle sich darauf legen, ihre eigenen Produktionsmittel selbst herzustellen. (Vgl. auch J.A. Hobson The evolution of modern capitalism London 1894 S. 93 ff. Sinzheimer Über die Grenzen der Weiterbildung des fabrikmässigen Grossbetriebes in Deutschland. Stuttgart 1893. S. 20 – 30. Bekanntlich haben die großen Stahlwerke, wie Krupp und Carnegie, ihre eigenen Eisenbahnen, Dampfschiffe usw. und bauen diese wohl auch für eigene Rechnung). – Wenn aber die Frage aufgeworfen wird, wodurch denn die gesamte kapitalistische Entwicklung wie auch ihre Gegentendenzen verursacht werden, so ist zunächst auf den Markt zu verweisen, dessen Ausdehnung ebenso die Arbeitsteilung wie die Kapitalbildung bedingt; seine Ausdehnung, und damit die Schaffung großer zusammenhängender Wirtschafts- und Absatzgebiete geschieht durch die beiden einander ebenso antagonistischen, wie gegenseitig förderlichen Faktoren: Krieg und Handel. Beide würden siegreich, wie die kapitalistische Industrie selber, durch ihre erhöhte und verbesserte Technik. Woraus entspringen aber die Fortschritte der Technik? Zum guten Teil aus dem Betriebe selber, aus der Praxis, als Anpassungen und Akkommodationen an das Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, also aus der ökonomischen Tendenz der Ersparung von Arbeit. Aber diese Tendenz erfordert nicht nur ein besonderes Können, sondern weit mehr noch ein besonderes Denken, ein richtiges Denken, mathematisches Denken, allgemein gesprochen ein freies, daher insbesondere ein wissenschaftliches Denken, und dies ist in der Tat das Element, das außerhalb der eigentlichen wirtschaftlichen Sphäre gelegen, einen unermeßlichen Einfluß auf diese geübt hat, einen Einfluß wodurch deren moderne Entfaltung von allen gleichzeitigen und früheren Kulturen sich specifisch unterscheidet, vergleichbar nur mit der analogen, sie vorbereitenden des griechisch-römischen Lebens, und auch in diesen steckte die Befreiung des Denkens, das wissenschaftliche Denken, als stimulierende

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Potenz – die Philosophie pflegte man sie zu nennen, sie trug zur Ausbildung von Kriegs- und Handelstechnik mächtig bei, half also in entscheidender Weise das große Wirtschaftsgebiet des römischen Reiches herstellen; daß sie nicht so weit fortzuschreiten vermochte, um auch die Maschinentechnik für die große Industrie ins Leben zu rufen und zugleich das System der Sklavenarbeit völlig zu brechen, ist wohl dem Umstande zuzuschreiben, daß in dieser Entwicklung der Krieg noch zu sehr über den Handel prävalierte, und zu viele Kräfte in Anspruch genommen und verzehrt hatte, deren genügender Ersatz weder aus den ausgebeuteten Ländern der alten Kultur, noch aus den rohen und dünn bevölkerten Regionen der Barbaren sich gewinnen ließ. Es fehlt aber durchaus an wissenschaftlicher Entwicklung im Orient. Wohl sind dort große Anfänge astronomischer Beobachtung erstanden, aber sie blieben im Banne astrologischen Aberglaubens; wohl hat man messen und wägen und rechnen gelernt, wohl setzt der hohe Grad agrikultureller, militärischer, kommercieller und industrieller Technik, den Inder und Christen erreichen, ein gewisses Quantum freien Denkens voraus, aber alles bleibt auf der Stufe des Hauswerkes und Handwerkes, die Theorie bleibt im unmittelbaren Dienste der Praxis und Kunst, wie der Handel abhängig bleibt von der Produktion, die öffentliche Gewalt abhängig von Gewohnheitsrecht und Religion, die in der Dorfgemeinde wurzeln, trotz oder, genau besehen, wegen des monarchischen Despotismus, der nur eine priesterlich-theokratische Form jener konservativen Mächte ist; wohl hat man gleich anderen hohen Gebäuden große philosophische Systeme entworfen, metaphysische und ethische Gedankentürme, aber sie sind nicht auf das Ziel gerichtet, die Natur zu erkennen um sie zu beherrschen, sondern wollen die Weltseele und die eigene Seele ergründen, um diese in jene zu versenken; sie entspringen nicht dem titanischen Streben des Jünglinges und Mannes, sondern der Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, des Greises. Wir haben hier relativ hohe Kulturen, aber durchaus auf dörflicher Basis; denn auch die orientalischen großen Städte sind nur zusammengelagerte Dörfer. Und das ist die große Wendung der Kulturgeschichte an den Gestaden des Mittelmeeres, daß zuerst Städte mit politischer Persönlichkeit, freie Städte, die sich selbst regieren, auftreten, denn die bürgerliche Selbstregierung hat ebenso das freie Denken auf die höhere Stufe gehoben, auf der es der Wissenschaft fähig 27

dem titanischen Streben: Johann Wolfgang von Goethe, Urfaust, hier: Fausts titanisches Streben. Der Anspruch auf eigene Göttlichkeit, auf titanisches Streben zeichnet die FaustFigur in Goethes Urfaust aus, allerdings ins Positive gewendet: Diesem Menschen ging es um die übermenschliche Kenntnis der Weltformel.

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wurde, wie früher die Selbstverwaltung der Dorfgemeinde und die Autokratie des Hausvaters Vorstufen dieses freien Denkens bezeichnen, das aber selbst auf seiner dritten Stufe noch keineswegs ein allgemeines freies Denken wird, sondern nur durch wechselndes Bedürfnis der Anpassung an neue Lebens- und Machtbedingungen langsam vorwärts geschoben, unter stetem Kampfe gegen das natürlich-gebundene Denken sich entwickelt. In welchen sozialen Kräften aber hat die Autonomie der Städte ihre Wurzeln? wiederum in Krieg und Handel. Um frei zu werden und zu bleiben, müssen die Städte ummauert, müssen die Bürger wehrhaft sein; und wenn auch für den Wohlstand in erster Linie die Fruchtbarkeit des umgebenden Bodens wichtig ist, so wird doch ein Geldreichtum, also Vorrat des allgemein gültigen, beweglichsten Gutes, erst durch Tausch und Vermittlung von Tauschakten erreicht; und dieser Reichtum macht seine Träger mächtig und frei. Der Stadtmarkt geht dem Territorialmarkt vorher, wie dieser dem Weltmarkt. Marktstädte müssen, um frequentiert zu werden, an fahrbaren Straßen gelegen sein. Die eigentlichen Großverkehrsstraßen sind bis in junge Zeit (und überwiegend noch heute) die Wasserstraßen. Die gelegensten Märkte sind Punkte wo sich Straßenzüge kreuzen, vor allem also die Hafenplätze der Binnenmeere und die Furten, Isthmusplätze zwischen Meeren und zwischen Strömen, dann auch zwischen Wasser- und Landstraßen. Meeres- und andere Straßen beherrschende und sichernde Städte sind die ersten Vormächte und als solche den größten Territorialherren lange überlegen. Aber die Straße und der Markt, das Reisen und Geschäftemachen entwickeln auch das Denken, sie mehren die Vernunft selber gleichsam flüssig. Besonders die salzige Seeluft schärft die Sinne und die Kraft des Gehirns. Nicht umsonst sprach man vom attischen Salz, wie denn schon die Sprache der meeranwohnenden Ionier durch Leichtigkeit und Flottheit von den schweren Formen, […]

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vom attischen Salz: Mit Attischem Salz bezeichnet man einen geistreichen Witz oder eine scharfsinnige Rede. Es stammt von Ciceros „de oratore“ (Über den Redner, 2, 217). Tullius Cicero, De Oratore, Hg. Reinhold Klotz, Leipzig 1868. […]: Blatt 548: Anschluss fehlt.

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[…]größerung sie bedacht sein müssen. Der Begriff der Nationalwirtschaft wird dadurch von dem der Statswirtschaft abgelöst und in einen Gegensatz dazu gestellt. Zugleich ist die Lehre erste Entfaltung des Keimes, der während des 19ten Jahrhunderts zu „socialistischen“ Gedankenbildungen auswächst, indem die Frage des Anteils am Jahresprodukt der nationalen Arbeit, mithin die der Verteilung einerseits zwischen produktiven und unproduktiven Schichten (wie bei den Physiokraten), sodann aber zwischen den 3 Klassen, die an der Produktion unmittelbar oder mittelbar mitwirken, sich erhebt.

[Rationale Rechts- und Staatslehre]

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Ebenso wie die Nationalökonomie hat auch die rationale Rechts- und Statslehre von der Theologie und ihren traditionellen Fesseln sich losreißen müssen. Auch jene paßt den neu ins Leben getretenen Tatsachen sich an. Sie entwirft erst den Begriff des Naturrechts als eines gemeinsamen Gebietes individueller Willens- und Interessensphären, während die kanonistische Lehre, daß das natürliche Recht gleich dem göttlichen Rechte sei, die übersinnliche Autorität als den Grund alles Rechtes behauptet hatte. Die naturrechtliche Statslehre sodann bildet, in mannigfachen Formen, den Begriff einer auf dem Volkswillen begründeten absoluten weltlichen Autorität, und also den Begriff des modernen States. Auch in dieser Hinsicht müssen wir uns gegenwärtig halten, was ungeachtet aller Controversen, vielfacher Unentschiedenheiten und Halbheiten, die Theoretiker eint und in Gegensatz zu den Theologen und Publicisten des Mittelalters bringt. Für diese ist immer die Kirche der seinem Wesen nach höchste, seiner Bestim1

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[Entwicklung des allgemeinen geistig-moralischen Lebens]: Der Text ist in der Handschrift von Ferdinand Tönnies geschrieben mit eigenen Korrekturen. Zum ersten Blatt (552) fehlt der Anfang. Auf einer der fehlenden Seiten muss der Punkt 1. benannt sein, da Tönnies auf dem Blatt 557 mit dem Punkt 2. „Der Einfluß literarisch bedeutender Persönlichkeiten“ fortfährt. Es befindet sich oben auf dem Blatt 552 ein Vermerk in Tönnies Handschrift (allerdings in lateinischer Schrift): „(altes MS [Preisarbeit Krupp] vielleicht GdN“. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 552 bis 564). […]: Blatt 552: Anschluss fehlt.

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mung nach universale Verband, die Seele, neben der das Reich nur den Leib bedeutet; eine Ansicht, die konsequenter Weise, und gemäß der naiven Meinung, daß die Seele als Wille den Leib beherrsche, zur Behauptung der notwendigen Abhängigkeit des regnum vom sacerdotium, des Kaisers vom Papste, führte. Aber auch hier bewirkte frühzeitig die Macht der Tatsachen und das Bedürfniß der weltlichen Gewalt, sich zu behaupten und sich auszudehnen, eine partielle Anpassung der Doctrin an das Leben, so in den kühnen Streitschriften des englischen Franciskaners William von Occam, der die Sache Philipps des Schönen gegen Papst Johann XXII und Ludwigs des Bayern gegen Benedict XII vertrat. Eine solche Anpassung geschah in zunehmender und entschiedener werdender Weise seit der Reformationszeit. Die sich von der Tradition befreiende Vernunft mußte die Partei des States nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen die Stände, gegen die Korporationen und alle überkommenen Institutionen nehmen, die der Einheit des States widerstrebten; denn ihr Ideal war eine weise, ordnende vor allem aber durch einheitliche Principien der Zweckmäßigkeit bestimmte Gesetzgebung, gegenüber allem Gewohnheitsrecht, das dem Naturrechte der Freiheit und Gleichheit zu widersprechen schien. Es bildete sich die Vorstellung von einem Naturzustande freier und gleicher Individuen, die aus eigener Einsicht und freiem Entschlusse den politischen Zustand begründen, indem sie alle „Zwangsrechte“, die sie bisher gegen einander in Anspruch nahmen, auf eine von ihnen ernannte Körperschaft oder auf einen einzelnen Menschen übertragen. So wurde aus der überlieferten Idee eines Vertragsverhältnisses zwischen Volk und Herrscher, mit der sich diejenige eines Gesellschaftsvertrages der Individuen, die sich keinem Herrscher, sondern ihrer eigenen Gesammtheit unterwerfen, äußerlich verbunden hatte, die grundlegende Vorstellung eines einheitlichen sozialen Contraktes, die, auch wenn sie die Übertragung der Souveränität von der Gesammtheit auf einen Einzelnen zuläßt, jedes selbständige – privatrechtliche – Herrscherrecht, mithin jede Legitimität ,von Gottes Gnaden‘ negiert und ausschaltet. In 3

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die Seele als Wille: Der Kern der Philosophie des Geistes ist das Leib-Seele-Problem, das manchmal auch „Körper-Geist-Problem“ genannt wird. Die erste klassische Formulierung des Leib-Seele-Problems stammt von René Descartes. Sacerdotium, (seltener auch Sazerdotium) bedeutete im Lateinischen ursprünglich „Priestertum“. Im Mittelalter fasste man unter diesem Begriff jedoch die geistliche Gewalt der katholischen Kurie in Abgrenzung von der weltlichen Gewalt (regnum bzw. imperium) vor allem im Heiligen Römischen Reich zusammen. Johann: Gemeint ist Johannes XXII., der als erster Papst ausschließlich in Avignon residierte.

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dieser Gestalt wurde die Lehre, durch Rousseau propagiert, in der französischen Revolution siegreich; während die englische Revolution in ihren Motiven und Anfängen (wenn sie auch später zeitweilig zu ähnlichen radikalen Consequenzen gelangte) noch durchaus einen Proceß zwischen den Ständen und dem als legitim anerkannten Königtum darstellt. In der französischen war dies ein rasch überwundenes Moment: indem die Stände sich als „Nationalversammlung“ etablierten, erklärten sie sich zugleich als souverän, und die Gründung auf das Suffrage universel war nur eine weitere Consequenz. Die englische Revolution ist zugleich eine Auseinandersetzung zwischen der vornehmen bischöflichen Kirche und den demokratischen Secten; die französische wird von Ärzten, Advocaten, Literaten geleitet, die an die Stelle des geistlichen Kultus die Anbetung der Vernunft zu setzen sich unterfangen. – Aus dem Gegensatz gegen die Theologie muß auch die in der neuen Philosophie theoretisch, wie in der französischen und anderen Revolutionen des 18ten und 19ten Jahrhunderts praktisch hervortretende Lehre von der natürlichen Freiheit und Gleichheit verstanden werden. Daß diese Ideen so aufrührend in die Erscheinung traten, kann wundernehmen, wenn man sich erinnert, wie sie durch die ursprünglichen christlichen Anschauungen vorbereitet wurden. Indessen die Kirche hatte auch dadurch ihre soziale Macht gewonnen, daß sie die bestehenden politischen und rechtlichen Institutionen bestätigte und heiligte, so daß sogar ihr anfänglicher Protest gegen ausgesprochene Knechtschaftsverhältnisse immer schwächer geworden war. Innerhalb der großen Kirche – und in den kleinen reformierten Statskirchen wiederholte sich dies – hatte sich frühzeitig ein geistlicher Stand von den ,Laien‘ geschieden. Theokratische Gedanken waren Erbteil des Judentums. Könige waren die Gesalbten des Herrn. Der Papst nahm das Recht in Anspruch, den Kaiser zu krönen, der eben dadurch über das heilige römische Reich gesetzt war. Wenn sich die Macht des Papstes hier frühzeitig brach, so machte um so mehr der Rivale des Kaisers, der König von Frankreich – nach der strengen Theorie der Vasall jenes – den ihm gegönnten Rang als „ältester Sohn der Kirche“ sich zu Nutze. Die Reformation machte die ihr anhängenden Fürsten unmittelbar von Gott und nur von Gott abhängig. Sie schuf eine Menge von kleinen Päpsten; die Landeskirchen erschienen als Unterabteilungen des Statswesens, das zugleich als die Privatangelegenheit der Fürsten sich darstellte. Die lutherische Theologie, und nicht minder die bischöfliche Theologie der Kirche von England lehrten, daß die „von Gott gesetzte Obrigkeit“ in allen Stücken unbedingten 8

das Suffrage universel: französisch für Allgemeines Wahlrecht.

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Gehorsam der Untertanen zu fodern habe. Der Adel, der sich in den ländlichen Gemeinden immer fester als Gutsobrigkeit etablierte, hatte den Ortspfarrer immer zur Seite, um den Bauern Demut und Ergebung zu predigen. Das alte dualistische Verhältniß der „2 Schwerter Gottes auf Erden“ reproduzierte sich in jedem solchem Bezirke, protestantischer gleichermaßen wie katholischer Lande. Allerdings treten auch die demokratischen Ideen zuerst in geistlichem Gewande auf. Der Puritanismus ist die Seele der englischen „großen Rebellion“. Die bedrängten Sekten wandern hinüber in die neue Welt. William Penn, der fromme Quäker, wird bewundert und gepriesen von dem „Großmogul der Aufklärung“, Voltaire, der die Kirche verspottete, und die geistliche Tradition in allen ihren Stücken kritisch zerpflückte. So schlägt auch der von religiösen Motiven erfüllte Abfall der Colonien, deren Unabhängigkeitserklärung zugleich die Menschenrechte verkündet, nach dem rationalistischen Frankreich hinüber. Freilich war auch Rousseau eine von religiösem Gefühle durchdrungene Natur, ein Ausläufer der Schwarmgeister des 16. u. 17ten Jahrhunderts. Überall begegnet uns die nahe Verwandtschaft des specifisch religiösen Dissidententums, der mehr oder minder neptischen und pietistischen Charakter trägt, mit dem rationalistisch-wissenschaftlichen Geiste, so sehr dieser auch gleichzeitig allem Gefühlsnahen, aller Schwärmerei, allen Unklarheiten, entgegenwirkt. In England und den Vereinigten Staten hat der ganze Liberalismus religiöse Färbung behalten. Sobald auf die geistliche Moral, auf den ,Wandel‘, anstatt auf Dogma und Symbol, alles Gewicht gelegt wird, so kann man sich auf die ursprüngliche christliche Gemeinde berufen, um die „Freiheit eines Christenmenschen“ zu behaupten und mit der „Gleichheit der Menschen vor Gott“ einigen Ernst zu machen. Und die hierin enthaltene Opposition gegen die Kirche geht ganz von selbst in Opposition gegen die 4

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2 Schwerter Gottes: Die Zwei-Schwerter-Theorie (oder Zweischwerterlehre) beschreibt das Verhältnis zwischen kaiserlicher und päpstlicher Macht und Gewalt im frühen Mittelalter. Im Anschluss an die Zweischwerterlehre interpretierte der lutherische Protestantismus im Rückgriff auf Schriften und Aussagen Martin Luthers diese neu im Sinne einer Zwei-ReicheLehre. großen Rebellion: Gemeint ist der Englische Bürgerkrieg von 1642 bis 1649. neptisch: Abgeleitet vom griechischen Wort Nepsis (m/xir)=Wachsamkeit. Es bezeichnet eine Idee aus der christlich-orthodoxen Theologie und kennzeichnet einen Zustand der Wachsamkeit oder Nüchternheit. Freiheit eines Christenmenschen: Von der Freyheith eines Christenmenschen (lateinischer Titel: De libertate christiana) ist der Titel einer aus 30 Thesen bestehenden Denkschrift Martin Luthers aus dem Jahr 1520.

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Statsgewalt, die nur Anhänger dieser Kirche als Christen anerkennt, über. Bei dem vielfach schwankenden, und zwischen Duldung und Verfolgung wechselnden Verhalten der Statsgewalt gerieten aber auch die Gefühle, Ansichten und Lehren in eine permanente Unsicherheit und pendelten nicht selten von einem Extreme zum anderen. Nichts hat, nach Lecky (William Edward Hartpole Lecky, Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa. Deutsch v. Jolowicz. Leipzig u. Heidelb. 1873. II S. 155.), so nachdrücklich zur Verweltlichung der Politik beigetragen, als die Anarchie der Meinungen, die offenkundige Unterordnung der Principien unter das Interesse welche die Theologen nach allen Seiten – namentlich während der französischen Religionskriege – bekundeten. „Sie wanderten, wie Bayle sich ausdrückte, gleich Zugvögeln mit jedem Wechsel der Temperatur“. – Überhaupt aber sind die Berührungen eines entschiedenen, wenn auch antikirchlichen Glaubens mit einer entschieden ungläubigen Philosophie, durchaus bezeichnend für den gemeinsamen Charakter des Wagnisses, des Emporstrebens, den alle diese Lehren, im Gegensatze zu den herkömmlichen – durch Gesetz und Tradition geheiligten – Lehren tragen. Es ist der Wille einer gedrückten, aber allmählich aufsteigenden, Klasse, der sich aus Gefühlen und Leidenschaften in Gedanken und Ansichten übersetzt. Die Lehren sprechen von natürlicher Freiheit, aber die Adepten der Lehren meinen ihre erstrebte Freiheit von Erbuntertänigkeit, Zunftreglements, Bannrechten und Polizeivexationen. Die Lehren sprechen von natürlicher Gleichheit, aber die Altgesellen und Freimeister meinen ihre Gleichberechtigung mit den Inhabern privilegierter Gewerbebetriebe. Von Deutschland kann man sagen, was in anderen Ländern weniger scharf in die Erscheinung tritt, daß das Gefühl der Bedrückten mehr in den religiös-pietistischen, die Bewußtheit der Emporkommenden mehr in den wissenschaftlich-freidenkerischen Lehren sich ausspricht. In England, wo der Rationalismus niemals rechten Boden gewonnen hat, wird dieser Unterschied nur durch religiöse Schattierungen bezeichnet: so ist das Quäkertum sichtlich eine Sekte der Emporkommenden, jene, wie Lecky bemerkt (a.a.O. S. 64) „sonderbare Form des entstellten Rationalismus“, die für unbedingte Toleranz in die Schranken trat, also für Gewissensfreiheit und Gleichberechtigung der Confessionen. Hervorragende Quäker stehen im 19. Jahrh. an der Spitze der 13

Wechsel der Temperatur: Der französische Philosoph Pierre Bayle verglich in seinem Hauptwerk „Dictionnaire historique et critique“ die Denkbewegungen der Migranten mit der Wanderung der Zugvögel. Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique, Rotterdam 1697.

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Freihandelsbewegung, deren wissenschaftliche Vorkämpfer freidenkende Philosophen, wie Hume und Adam Smith gewesen waren. Im 19. Jahrh. sind aber, während im 18. die Freiheitslehren im Vordergrunde standen, die noch vielfach ungeklärten Gleichheitslehren – wiederum das Programm einer gedrückten aber emporkommenden Klasse – immer stärker in den Mittelpunkt der Diskussion getreten. Daß sie, ihrem Kerne nach, einen wissenschaftlichen Fortschritt bedeuten, ist auf dem Gebiete der politischen Ökonomie durch die statssocialistischen und kathedersocialistischen Schulen anerkannt worden, während sie im positiven Statsrecht den Erfolg gehabt haben, daß die Gleichheit des aktiven und passiven Wahlrechtes für die gesetzgebenden Körperschaften den Verfassungen der leitenden und ihrem Wesen nach modernen Staten einverleibt wurde.

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2. Der Einfluß literarisch bedeutender Persönlichkeiten Ein solcher Einfluß macht sich gerade auf den beiden bezeichneten Gebieten des öffentlichen Lebens – dem gesellschaftlichen und dem statlichen – vorzugsweise bemerkbar. Seine Ausbreitung auf diesen Gebieten wird aber vorbereitet und fortwährend begleitet von der allgemeinen Aufklärungsliteratur, die der Macht der Kirche und der theologischen Literatur entgegenwirkt. Mit der Buchdruckerkunst beginnt hier die Umwälzung. Die Kirchenreformation ist in ihrem ganzen Verlaufe eine literarische Bewegung, die auf das ökonomische und das politische Gebiet fortwährend hinübergreift. Die Schriften Luthers, die bald den Papst als Antichrist, die Kirche als die große Hure von Babylon denunzierten, bald Aufkäufer und Handelsgesellschaften in der heftigsten Weise angriffen, trugen gewaltig dazu bei, eine revolutionäre Stimmung im deutschen Volke anzufachen. So sehr auch Luther sich bald gegen die Bauern kehrte und für die Obrigkeit eintrat, so heftete sich doch der Aufruhr an seinen Namen. „Die Papisten“, schrieb Sebastian Franck, „geben dem Luther und seiner Lehre die Schuld, der hett diß Feuer entzündt, und darnach die Oberkeit an sie gehetzt, zu stechen, hawen, morden u. s. w. und sie beredt damit das Himmelreich zu verdienen. Zuletzt, als es allenthalben brann, hat er wieder wöllen löschen, da es nit mehr halff. Daher, so man an etlichen Orten, da des Luthers Lehr 23 28

die große Hure: In der Reformationszeit hat Martin Luther die römisch-katholische Kirche als Hure Babylon bezeichnet. Sebastian Franck: Sebastian Franck gilt als der bedeutendste mystische Schriftsteller des 16. Jahrhunderts. In seinem Eintreten für Toleranz berief er sich auf Martin Luther.

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gepredigt war, an die Predigt läutet, pflegt man zu sagen: da läut man die Mordglocken.“ (Janssen Geschichte des deutschen Volkes II S. 569) Im 17. Jahrhundert traten die großen philosophischen Systeme auf den Plan, deren Autoren, außerhalb der Universitäten stehend, von diesen leidenschaftlich bekämpft, gleichwohl, und eben dadurch, in Laienkreisen eine neue, auf Naturwissenschaft gegründete Weltanschauung pflanzten, und aller Überlieferung entgegen, ebenso die Naturreligion wie das Naturrecht als Ideal der Vernunft aufstellten. Ein Katholik, von Jesuiten erzogen (Descartes); ein Protestant, der Sohn eines Geistlichen und für den geistlichen Stand bestimmt (Hobbes), ein Jude, von der Synagoge ausgestoßen (Spinoza) bildeten die Trinität dieser Epoche machenden Philosophen. Es war ein großes Werk, daß Leibniz ihre Ideen in einer Gestalt, die einem außerkonfessionellen Christentum und dadurch doch auch der Naturreligion angenähert wurde, weltlichen und sogar geistlichen Höfen in Deutschland nahe zu bringen wußte. Die Conkurrenz wirkte dazu mit, daß schon im 17. Jahrhundert ein Lehrstuhl für das Naturrecht zu Heidelberg errichtet wurde, und daß um die Wende des Jahrhunderts die reformierte Philosophie mit Thomasius, dem bald der bedeutendere Christian Wolff folgte, das Katheder zu Halle bestieg. Ohne Zweifel hat diese offizielle Haltung, die noch sehr dadurch gewann, daß ein König und Kriegsheld persönlich sich als Freidenker bekannte, stark zur Beschwichtigung der Gemüter, und zum Glauben an eine friedliche Fortbildung des in den größeren Territorien schon mit dem Geiste der Aufklärung sich erfüllenden Statswesens gewirkt. In Frankreich hatte der monarchische Absolutismus mehr und mehr einen klerikalen und intoleranten Charakter angenommen. Die Philosophie wurde geächtet und verfolgt. Um so größer wurde, um so tiefer und aufwühlender wirkte, der Einfluß der freien Schriftsteller. Das französische Königtum, ehemals tatkräftig, weitschauend, freisinnig, war in Schlemmerei und Frömmelei versunken; es hatte versäumt, sich und die öffentlichen Einrichtungen, durch Aufnahme neuer Ideen, durch Begünstigung der antitheologischen Literatur und Bewegung, dem gänzlich veränderten, täglich mehr sich verändernden Zustande der Gesellschaft anzupassen; es konnte aber nicht verhindern, daß die wissenschaftliche Bildung, die allseitige Reflexion, die Kritik in einer Stadt wie Paris, deren ökonomisches Dasein und Blühen darauf beruhte, daß sie Gedanken- und Geschmacks-Centrum für Europa geworden war, immer mehr um sich gegriffen [haben], daß die verbotenen und gebrandmarkten Schriften freilich um so begieriger gelesen wurden, daß der tiers état, soweit er in der Hauptstadt und von der Hauptstadt her seine geistige Nahrung empfing, die ihm zusagenden Ele-

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mente des nationalen und europäischen Denkens in sich einsog, daß er die Vorstellung daraus gewann, er sei bisher zu Unrecht des Schicksals teilhaftig geworden, den beiden herrschenden Ständen gegenüber „ein Nichts“ zu sein, es komme ihm zu, nach seinen Leistungen, seiner Bildung, seinem Vermögen, „alles“ zu sein; er müsse also werden. Aus diesem Gedanken entsprang die Revolution. Man hat vielfach darüber verhandelt und gestritten, ob und wiefern die Philosophie, die Aufklärung, die Literatur, einzelne Autoren „schuld“ seien an der Revolution und den Gräueln in die sie bald ausartete. Die Einen klagen Diderot und die Encyklopaedisten an; die Anderen weisen auf Rousseau, den erklärten Gegner der Encyklopaedie, alle Schuld; und gewiß ist, daß die Führer des Schreckensregimentes, namentlich Marat und Robespierre, zu Rousseau sich hielten, Rousseaus Ideen verwirklichen wollten, und den Atheismus so heftig verabscheuten, daß er zu den vielen Dingen gerechnet wurde, die den Verdacht des Landesverrats wachriefen. Aber der Streit ist müßig (Vgl. über diesen Streit F. J. Rottenburg Vom Begriff des States. Erster Band. Leipzig 1878. Einleitung. IItes Kap. S. 159 ff.). Robespierre’s Handlungsweise war nicht durch Rousseau inspiriert, sondern durch die Bedrängnis in der er sich fand, aus der er die Republik zu retten für seine Aufgabe und Pflicht hielt, und durch die finstere Energie bedingt, die seinen Charakter bezeichnete; Rousseau half ihm nur, den Glauben an seine Sache zu behalten und die Rolle die er zu spielen sich berufen fühlte, zu idealisieren. Andere Autoren, wie der gemäßigte, vornehme Montesquieu, waren ebenso in der ersten Phase der Revolution die Evangelisten gewesen, deren Wort von den Führern wie Mirabeau und Sièges geglaubt wurde. Und Voltaire, der alle Tradition und Autorität der Kirche zwischen boshaften Fingern zerrieben hatte, war der bewunderte Lieblingsschriftsteller des französischen und des europäischen Adels, soweit dieser an den umlaufenden Ideen Anteil nahm. „Die politischen Systeme dieser Autoren waren übrigens untereinander so verschieden, daß Derjenige, welcher sie in einander schmelzen und daraus eine einzige Theorie der Regierung hätte machen wollen, nie mit einer solchen Arbeit zu Stande gekommen wäre. – Wenn man jedoch von den Nebensachen absieht, um zu den Grundideen zu gelangen, so entdeckt man leicht, daß alle Urheber dieser verschiedenen Systeme eine freilich sehr allgemeine Idee als Gemeingut hatten, eine Idee, von der sie alle ausgehen, die vor allen anderen Vorstellungen in ihrer Seele zu entstehen scheint, und welche so zu sagen deren Quell ist, der alle übrigen entfließen …: Alle glauben, daß es besser sei, 25

Siéges: Gemeint ist Emmanuel Joseph Sieyès.

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einfache und leichtfaßliche aus der Vernunft und der Natur abgeleitete Gesetze an die Stelle der komplicierten, traditionellen Satzungen treten zu lassen, welche die Gesellschaft ihres Zeitalters beherrschten“ „Nicht etwa als ob die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts aus sich selbst und willkürlich jene Begriffe hervorgerufen hätte, welche den der damaligen Gesellschaft zu Grunde liegenden so entgegengesetzt waren, sondern sie gelangten zu diesen Begriffen ganz natürlich durch Betrachtung eben jener Gesellschaft, die vor ihren Augen lebte. Den Anblick so vieler ungerechten oder lächerlichen Privilegien, deren Last man mehr und mehr fühlte, deren Ursache und Berechtigung stets mehr verschwanden, führte oder trieb vielmehr den Geist eines Jeden von ihnen gleichzeitig zur Idee der natürlichen Gleichheit der Stände“ (Tocqueville Das alte Statswesen. Deutsch v. Boscowitz Leipzig 1857. S. 162,163, (die Übersetzung berichtigt)). Deren Ursache und Berechtigung immer mehr verschwanden – d.h. die aufgehört hatten, ein angemessener, angepaßter Ausdruck der überwiegenden sozialen Bedürfnisse zu sein – darin lag das Geheimnis. Denn dies fühlten Alle, oder doch ein so großer Kreis – die Meisten waren des Lesens und Schreibens nicht mächtig – daß die Schriftsteller nur die Wortführer einer allgemeinen Empfindung, eines allgemeinen, wenn auch unklaren Willens und Unwillens waren. Wonach man Verlangen trug, war Anpassung der politischen Einrichtungen, der Gesetzgebung, an die Kräfte und Wünsche der Gesellschaft, die unter dem Drucke der vererbten Einrichtungen, der veralteten Gesetzgebung seufzte und sich in ihrem Drange, als eine Nation zu atmen und ihre Glieder zu recken, beengt und gehemmt fühlte. Starke Gefühle erregen die Phantasie. Und so erhob sich „über die wirkliche Gesellschaft ….. nach und nach eine eingebildete Gesellschaft, in der Alles einfach, wohl geordnet, gerecht und vernünftig erschien“. Aus der Literatur leuchtete den Blicken das Bild einer solchen Gesellschaft entgegen. „Allmählich wandte sich die Phantasie des Volkes von der wirklichen Gesellschaft ab, um sich in die andere hineinzuleben. Man sagte sich von dem Bestehenden los, um sich mit dem zu beschäftigen, was an dessen Stelle sein könnte, und so lebte man im Geiste in jenem idealen State, den die Schriftsteller gegründet hatten“ (Tocqueville l.c. S. 171.). Töricht und kurzsichtig ist es immer, wissenschaftliche Denker als die Volksverführer zu bezichtigen, selbst wenn jene eine leidenschaftliche und aufregende Sprache zuweilen führen; sofern sie wissenschaftlich Denkende sind, werden sie doch immer nach Klärung der 12

Das alte Statswesen: Alexis de Tocqueville, Das alte Staatswesen und die Revolution. Deutsch von A. Boscowitz, Leipzig 1857.

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Ideen streben, daher in Consequenz auch zum Verständnis und zur gerechten Würdigung des Bestehenden, wenn auch noch so sehr mit Entschiedenheit Verworfenen, sich erheben. Und wenn sie heftig enden – solche, deren Denken und Reden von Aberglauben und blindem Wahne bestimmt wird, pflegen noch heftiger, noch fanatischer zu enden. Es ist wahrscheinlich, daß die große Revolution schon in den ersten 3 Jahren, als sie ihrer Erfolge sich noch sicher fühlte, in brutalen und gewaltsamen Formen aufgetreten wäre, wenn das Volk nicht Vertrauen gehabt hätte zur Constituante, und wenn nicht eine so große Zahl von Männern dieser Versammlung angehört hätte, die aus der neuen Philosophie und Literatur einen hohen Idealismus in sich aufgenommen hatten, so daß der sicherlich nicht blindlings für die Zerstörung des alten Régimes eingenommene Graf Tocqueville sagen kann, er sei bei seinen historischen Forschungen niemals einer Revolution begegnet, bei deren Ausbruch man unter einer so großen Menge von Menschen aufrichtigeren Patriotismus, größere Uneigennützigkeit, echtere Seelengröße gefunden hätte. (a.a.O. S. 183). Selbst wer gegen den Inhalt jener Lehren, gegen ihren individualistischen, optimistischen, ideologischen und illusorischen Charakter durchaus kritisch gestimmt ist, wird als gerechter Richter zugeben müssen, daß die Philosophen, soweit es durch Schriften möglich ist, jene Eigenschaften ausgebildet und befördert haben; daß selbst Autoren, die aus wissenschaftlicher Überzeugung den Egoismus zum Princip erhoben, uneigennützige Gesinnungen selber gehegt und bei Anderen gepflegt haben; daß ein schwärmerischer Kosmopolitismus der Gedanken sich trefflich vertrug mit warmem und praktischem patriotischem Gefühle. Alle diese Zusammenhänge, Widersprüche und Wirkungen beobachten wir zu derselben Zeit und noch einige Jahrzehnte später, auch in Deutschland, das damals gar arm an materiellen Gütern, aber reich an Begeisterung für das Schöne und Gute war. Eine große Reihe durch geistige Kraft ausgezeichneter Männer hatte auch dies gemeinsame Merkmal, das sie befähigte, an der Lösung großer politischer Aufgaben mitzuwirken oder doch solche vorzubereiten, die ihrem Kerne nach dieselben waren wie die der französischen Revolution, aber erschwert durch die particularistische Zersplitterung des Reiches. Die deutsche akademische Bildung war ein mächtiges Element der Anpassung führender Geister an die Notwendigkeit der Gestaltung einer neuen preußisch-deutschen Nation; und jene akademische Bildung war zum guten Teile die Frucht des Wirkens literarisch bedeutender Persönlichkeiten, wie Kant, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Fichte, W. v. Humboldt, Niebuhr und mehrerer anderer.

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3. Die Bedeutung der Technik

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Daß auch die Ausbreitung neuer Ideen, die Propaganda theoretischer Lehren in hohem Maße durch die Fortschritte der Technik und dadurch vorzugsweise bedingte Erleichterung des Verkehres geschieht, ist auf den ersten Blick zu erkennen. Auch die Organisation des Verkehrs und des Handels trägt mächtig dazu bei. Man braucht nur an die Buchdruckerei zu denken, der im 16ten Jahrhundert zuerst ein Massenstoff durch die Religionswirren geboten wurde, die aber auch durch ihre Hülfe ihren populären Charakter erhielten; sodann für das gleiche einschneidende Jahrhundert an die Begründung der öffentlichen Post, die alsbald zur Trägerin „newer Zittunge“ wurde, und an die ersten Frankfurter Buchhändler-Meßkataloge. Man braucht ferner für das in so mancher Hinsicht analoge 19te Jahrhundert an die Schnellpresse, den Telegraphendraht, die Eisenbahn, die außerordentliche Vervollkommnung des Postdienstes und der Zeitungstechnik, an die Papierfabrikation, an Stahlfedern, Schreib- und Setzmaschinen sich zu erinnern, um auch auf diesen Gebieten ein Rad der Anpassungsfactoren ins andere greifend zu sehen. Sogleich bemerken wir aber, wie das, was den neuen Lehren, [den Ideen der Anpassung] so mächtig zur Hülfe kommt, auch von deren Gegnern, von den Vertretern der Überlieferung [der Vererbung] ergriffen und genutzt wird, so daß immer mehr die Kämpfe auf ebenem Terrain, mit gleichen Waffen ausgefochten werden, oder vielmehr ein unablässiger, immer erneuerter Streit der Parteien, vorzugsweise in der Tagespresse, sich entspinnt. So wird der chronische Zustand des literarischen Widersachertums nicht nur eine Erscheinung des nationalen Lebens, sondern reproduziert sich in allen Gegenden und Orten eines entwickelten Verkehres, entwickelter Technik, namentlich also in den großen Centren des Handels und der Industrie. Der Kampf der Meinungen, der auf vielen Gebieten den Kampf von Willensmeinungen immer nur notdürftig verborgen hatte, wird nun offensichtlich ein Streit der Interessen, und zwar in erster Linie der materiellen Interessen, d. h. er enthüllt den Widerspruch und Gegensatz der gesellschaftlichen Klassen. – Obgleich aber das Zeitungs11

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Frankfurter: Unter dem Titel „Novorum librorum, quos nundinae autumnales, Francoforti anno 1564 celebratae, venales exhiberunt, catalogus“ (Katalog der neuen Bücher, die auf der Herbstmesse Frankfurt 1564 zum Verkauf ausgestellt sind) erschien das erste Verzeichnis, das ein Buchhändler speziell für die zweimal jährlich stattfindende Frankfurter Messe erstellte. [der Vererbung]: Die eckigen Klammern stammen aus dem Manuskript von Ferdinand Tönnies, sind also nicht vom Editor gesetzt.

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wesen also auch den konservativen Mächten dient, so bleibt es doch als Gesamterscheinung höchst charakteristisch für die moderne Gestaltung des Lebens. Innerhalb des Schrifttums selber, das ein so wesentliches Mittel der Überlieferung ist, vollzieht sich die Entwicklung von Vererbung zu Anpassung. Man vergleiche etwa eine Religionsurkunde, die „heilige Schrift“ mit dem Morgen- oder Abendblatt, dem flüchtigen Erzeugnis der Stunde. Dort – der Idee nach – ein ewiges Gut, das die Substanz des geistigen Lebens ausmache oder doch dazu gehöre; entsprungen aus dem Geiste Gottes, der wol gar den Text wörtlich, ja bis zu den Interpunctionszeichen, ,inspiriert‘ habe; wahr und gültig für alle Menschen, für jede neue, wie für jede frühere Generation; bestimmt von den Lebenden, Gläubigen immer aufs Neue gelesen und beherzigt zu werden. Hier die genaue Anpassung an den Augenblick: die neuesten Nachrichten und Erörterungen, deren Interesse so rasch erlischt wie es entzündet ward; frisch mit Begierde ergriffen, einen halben Tag, oft eine halbe Stunde später Makulatur; von unbekannten, namenlosen, gleichgültigen Schriftstellern verfaßt; Nachrichten zum guten Teile nicht beanspruchend anders als mit Zweifeln aufgenommen zu werden (obgleich die zweifelhaftesten oft besser beglaubigt sind, als die angeblich gewissesten einer heiligen Urkunde); Betrachtungen nicht beanspruchend anders gültig zu sein denn als Ausdrücke einer Parteimeinung, eines „Standpunktes“, eines Klasseninteresses. – Es wäre falsch, das ganze Zeitalter nach diesen seinen Tagesprodukten, wenn sie auch als Gattung ihm wesentlich angehören, zu beurteilen. Das Zeitalter bringt auch Literaturwerke hervor, die wie von alters – wenn auch in anderem Sinne als ,heilige Bücher‘ – Anspruch auf dauernden Wert erheben können.

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[Entwicklung des allgemeinen politischen Lebens] B. Änderungen politischer Verhältnisse [Das Mittelalter – Die Herrschaft der Kirche] 5

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Wenn nun wiederum jenes Zeitalter überwiegender socialer Vererbung, das wir Mittelalter nennen, und das Zeitalter überwiegender socialer Anpassung, die noch im Flusse befindliche Periode der Neuzeit, verglichen werden, so kann ihre politische Charakteristik in den Satz zusammengefaßt werden: In jenem herrscht die Kirche, in diesem herrscht der Staat. Die Kirche ist mit ihrem Wesen und mit ihren Einrichtungen an das Beharren eines socialen Zustandes gebunden, den wir als ,kommunistisch‘ bezeichnen dürfen, wenn dieser Ausdruck auf seine eigentliche Bedeutung zurückgeführt wird, die ihm regelmäßig in der Socialwissenschaft beigelegt wird, wenn vom primitiven Kommunismus, vom Agrarkommunismus u. dgl. die Rede ist. Dieser Zustand läßt sich dahin charakterisieren, daß alle korporativen Verbindungen der Menschen der Kirche verwandt und ähnlich sind; dies aber beruht darauf, daß alle socialen Beziehungen von ihren eigenen Subjekten nach Art der von Natur gegebenen und in der Familie gesammelten empfunden und gedacht werden, und ganz nach dem zwiefachen Typus, der auch in der Kirche ausgeprägt ist: dem patriarchalischen und dem fraternalen. Jener ist die familiale Verfassung der Herrschaft, dieser der Genossenschaft. Diese Verfassungen zu erhalten, trägt die Kirche durch ihre Einflüsse mächtig bei. Wie sie selber einen unermeßlichen Grundbesitz aufhäuft, als materielle Basis ihres Lebens, d. h. Ernährung ihrer Beamten und ihres Trosses, so ist alle Herrschaft auf Grundbesitz begründet: das Wesen des Feudalismus, der nur die politisch-militärische Form eines patriarchalischen Typus der Herrschaft ist. Herrschaft als Gebietshoheit, die öffentlich-rechtliche Herrschaft über Grund und Boden, und Herrschaft als Eigentum, die privatrechtliche Herrschaft, sind in der Praxis und Idee noch 1

[Entwicklung des allgemeinen politischen Lebens]: Der Text ist in der Handschrift von Ferdinand Tönnies in reinem Sütterlin geschrieben. Er hat eigene Korrekturen vorgenommen. Außerdem hat ein Herr Schäfer auf Blatt 570 Anmerkungen gemacht. Das letzte Blatt (573) hat keinen Anschluss.(Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 566 bis 573).

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ungeschieden (undifferenziert) mit einander verbunden – dies gilt für die höheren Stufen der feudalen Verfassung. Ebenso ist erblicher Besitz mit Reallasten und kündbares Pachtverhältnis undifferenziert – dies gilt für die niedern Stufen derselben Verfassung. Jedoch sind höhere und niedere Stufen nicht eigentlich ihren Begriffen nach verschieden: die Landeshoheit selber, insofern sie durch Belehnung gewonnen wird, und zumal so lange sie nicht jure proprio erblich ist, sieht einem kündbaren Pachtverhältnis – der Überlassung gewisser Einkünfte gegen Verpflichtung zur Gefolgschaft im Kriege – ähnlicher als dem ,freien Eigentum‘. Alle Begriffe des Rechtes sind noch in einem flüssigen Aggregatzustande und gehen also leicht in einander über, wie die Wirklichkeit, zu deren Bezeichnung und Begrenzung sie eben dienen sollen. Diese Thatsache entspricht dem konkreten Charakter eines Denkens, in dem die Anschauung und das Gefühl überwiegt. – Die Herrschaft über Land schließt die Herrschaft über die auf dem Gebiete angesiedelten ,Leute‘ ein. Nur die Kirche nimmt außerdem ,geistliche‘ Herrschaft, auch über ihr eigenes Land hinaus, soweit es ,Gläubige‘ als ihre ,Glieder‘ gibt, in Anspruch. Auch der fraternale Typus, die Genossenschaft, ist in weiterem Umfange mit Grundbesitz verbunden, und in diesem ist der ,Kommunismus‘ am meisten ausgeprägt, soweit sich die Gemeinschaftlichkeit des Besitzes erstreckt: dies ist vor allem bei der Dorfgemeinde der Fall, nach deren Gestalt auch die größeren Verbände, wie in der deutschen Verfassung die Markgenossenschaft, und die aus einem oder mehreren Dörfern erwachsene Stadt, gebildet sind (denn „die Städte sind ummauerte Dörfer.“ v. Maurer). Innerhalb der kirchlichen Welt entspricht diesem Typus in erster Linie der Orden; wo die ganze Lebensweise gemeinschaftlich, wo die Ehe ausgeschlossen, wo Armut zur Pflicht des Einzelnen gemacht wird, da ist für die Entwicklung des Privateigentums und Erbrechtes kein Raum; dagegen wird die Bruderschaft als Ganzes Haus und Hof, Küche und Keller benötigen und auch Reichtum an liegenden Gründen und anderen Schätzen erwerben können, sei es für fromme Zwecke, für Gelehrsamkeit und Lehrthätigkeit, oder für den Glanz und Schmuck des Stiftes, für üppiges Leben, Reisen, Propaganda der Mitglieder. Aber auch die kirchliche Gemeinde muß wenigstens ein gemeinsames Besitztum an ihren Heiligtümern haben: Kirche und etwa auch Schule, Friedhof, Priesteracker, Pfarrgewese. – In der Stadt entwickelt sich ferner der fraternale Typus als Genossenschaft des Berufes, 24

v. Maurer: Georg Ludwig von Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland, Band 2, Erlangen 1870, S. 113 ff.

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der Kunst des Handwerks, und diese hat mit einem Orden oder anderer geistlicher Bruderschaft manche Züge gemeinsam. „Die Zunft war ferner eine religiöse Einheit. Sie hatte einen Heiligen als Schutzpatron, verfolgte kirchliche und wohlthätige Zwecke, versammelte ihre Mitglieder zu Gebet und Andacht, unterhielt oft einen eigenen Altar oder doch eigene Kerzen in der Kirche, weshalb sie einen Teil der Eintrittsgebühren und Bußen erhob, und ließ für die verstorbenen Brüder Seelenmessen singen“ (Gierke Das deutsche Genossenschaftsrecht Bd. I, S. 385 nach Arnold, Wilda, Wehrmann u. a.). Und auch an der Zunft ist der kommunistische Charakter unverkennbar. „Wenn … in wirtschaftlicher Beziehung eine Arbeitsgenossenschaft … die das gemeinsame als ein öffentliches Amt betrachtete Handwerk nach den Principien der Gleichheit und Brüderlichkeit betrieb, so war sie ebenso in vermögensrechtlicher Beziehung kein Kapitalverein, in welchem bestimmte Quoten am gemeinsamen Vermögen für die Einzelnen ausgeschieden gewesen wären, sondern das bewegliche und unbewegliche Gesamtvermögen gehörte der Genossenschaft als solcher. Das Zunftvermögen ….. war daher zwar nicht nur für die eigentlichen Einheitszwecke, wie Verhandlung, Gericht, Religion, Wohlthätigkeit, Armenunterstützung, Beerdigung, Verwaltungs- und Besoldungskosten usw. bestimmt, sondern diente auch den individuellen wirtschaftlichen und ethischen Zwecken der Genossen. Allein die Einzelnen hatten keine Privatrechte daran, sondern waren nur als Glieder der Zunft zu Gebrauch und Nutzung befugt, und ihre Anrechte waren daher rein persönlicher Art und unter einander gleich“ (Gierke a.a.O. S. 396.). „Was an genossenschaftlicher Habe, an Gerät, Vorräten oder Geld im Gemeinbesitz war, gehörte der Gesamtheit, aber es gehörte so gut der Gilde, Bruderschaft oder Gemeinschaft als den Genossen, Brüdern oder Gesellen gemeiniglich.“ (Gierke Genossenschaftsrecht Bd. 2, S. 377.).

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Der große Wandel in allen diesen erblichen Institutionen geschieht durch das Emporkommen der freien individuellen Person mit ihrem freien individuellen Eigentum, ihrem sich isolierenden Interesse und reinem Privatrecht. Für sie ist jede Art von Kommunismus eine Hemmung ihres Strebens, dies Eigentum, Interesse und Privatrecht nach ihrem Gutdünken, daher auch zu ihrem größten möglichen Vorteil anzuwenden. Sie sieht in einem Besitz, den sie mit anderen Personen gemein hat, nur ihren ausscheidbaren Anteil, dessen sie sich entledigen wird, indem sie ihn in eine andere Form umsetzt,

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sobald als diese andere Form ihr größeren Vorteil in Aussicht stellt. Mit dem ,Individualismus‘, dessen Erwachen und Fortschreiten neuere Historiker mit Vorliebe schildern, ohne daß sie ihn richtig analysieren, wird die Masse der gemeinsamen Interessen, Institutionen und Sachen nicht notwendig vermindert, sie wird eher vermehrt und vermannigfacht. Aber das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Gemeinsamen wird von Grund aus verändert: der Einzelne betrachtet sich und die anderen Einzelnen als allein wirklich; an allem, was sie mit einander gemein haben, hat jeder sein Interesse, er verhält sich zu dem Ganzen so, als ob sie es zusammengetragen hätte als Mittel für einen gemeinsamen Zweck. Ein solcher Einzelner ist oder wird jeder Mensch durch seine bewegliche Habe, am meisten durch sein Geld, das er als Mittel schlechthin in seiner Hand oder Tasche trägt, in seinem Schubfach oder in seiner ,Bank‘ liegend hat: Eigentum, das bestimmt dazu ist, aus der eigenen Hand und Verfügung in andere Hand und Verfügung überzugehen, Eigentum, dem keine andere Qualität wesentlich ist, als daß es eine quantitativ meßbare Kaufkraft in Bezug auf alle anderen Güter besitzt, darum die abstracte Form der Macht im wirtschaftlichen Leben ist. Dem Gelde am nächsten kommt die gleichfalls zum Abgestoßen-, d.i. Ausgetauscht-werden bestimmte Waare, um so mehr, je mehr sie leicht ,realisierbar‘ ist. Sodann kann als Waare zwar alles gedacht werden, was als austauschbar, daher, wenn ein allgemeines Tauschmittel vorhanden ist, als verkäuflich gedacht wird; d. h. es kann möglicherweise als Waare an den Markt kommen. In Wirklichkeit entfernt es sich aber vom Charakter als Waare, und daher auch um so mehr vom Gelde, je mehr einerseits der Besitzer es wirklich besitzt, um es zu besitzen und zu genießen – als Zweck –, je weniger leicht und sicher es andererseits ,zu Gelde gemacht‘ werden kann. Indessen als Besitzer von Geld ist der Mensch von dem Besitzer irgendwelcher andern Güter verschieden. Er ist Käufer, daher möglicherweise Herr über jedes andere Gut. Das allgemeine Gut beherrscht alle besonderen Güter und zieht sie zu sich heran. Es ist das gesellschaftliche Solvens, indem es die Menschen veranlaßt, sich von ihren Gütern zu trennen, und indem es ebenso – wenn es in hinlänglicher Menge geboten wird – sie bewegt zu anderen Thätigkeiten, die der Geldbesitzer wünscht: Processe, die gleichfalls als Trennungen aufgefaßt werden mögen, insofern als der Bewogene natürliche Unlust oder andere innere Widerstände – Scham, Stolz, Gewissen – über3

analysieren: Rechts neben „analysieren“ steht handschriftlich die Bemerkung: Durchweg falsch incl. Bezug Gierke (Schäfer). F. T. hat darunter angemerkt: Sehr witzig, das zu interpolieren, was der Verfasser selber in der gleichen Zeile ausspricht !!

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winden muß, um sich zu der Thätigkeit oder Handlung zu entschließen. Sich „entschließen“ heißt die Hemmungen wegräumen, sich öffnen, und die Thätigkeit aus sich entlassen, die, wenn sie für einen Andern geschieht, in dessen Bereich und Besitz übergeht. Durch die Sicherheit, womit der Geldbesitzer so über die Menschen verfügt, ist er selber Herr über die Menschen. Dieses begriffliche Herrentum hat also unendlich viele Grade, von dem Besitze eines Pfennigs bis zu den enormen Vermögen – von Zéro bis Unendlich. Umgekehrt kann in einem socialen System, worin alle Güter als Waaren und alle eigenen Thätigkeiten als Quasi-Waaren sich darstellen, jeder Waarenbesitzer als Diener ,der Anderen‘, des ,Publikums‘ aufgefaßt werden. Auch er will die Verbindungen der Menschen mit ihrem Gelde lösen, aber er besitzt nicht ein nach Quantität steigerungsfähiges Mittel dazu, sondern ist außer durch seine verfügbaren Quantitäten von Waaren, auch durch deren Qualitäten, die sich nicht durch bloße Addition steigern lassen, bedingt. Er ist mehr einem Bittenden als einem Befehlenden ähnlich, insofern als er anbietet; er ist abhängig von dem Gefallen, der Lust, dem Interesse des Käufers, worauf er nie mit gleicher Sicherheit – wenn auch oft mit einer ihr nahe kommenden – rechnen kann, womit der Käufer darauf rechnet, daß sein Geld – wenn und soweit es ,gutes Geld‘ ist – genommen wird, d. h. die ihm gefallende Waare löst. Auch das gesellschaftliche Dienen hat unendlich viel Grade, aber diese stufen sich mannigfach ab – je nach der Natur der Waare, je nach der ,Lage des Marktes‘: der Besitz sehr vieler, sehr wertvoller, sehr marktgängiger Waaren kommt dem Herrentum gleich, wie der Besitz sehr wenigen Geldes dem Diensttum gleich kommt. Der Gegensatz hat hier nur eine abstrakt-begriffliche Bedeutung. Erst durch die Combinierung seiner beiden Seiten gewinnen wir die Wirklichkeit. Wer kein (oder sehr wenig) Geld und auch keine oder sehr wenig, sehr wertarme, schwer absetzbare Waare, z. B. nichts als Muskelarbeitskraft in einer Periode der Handelskrisis besitzt, ist in der Gesellschaft der absolute Diener – der Pauper. Ihm steht gegenüber der mit sehr vielem Gelde und (ihm gleichwertig) sehr vielen, sehr wertvollen, sehr marktgängigen Waaren Ausgestattete – der absolute Herr, der Krösus. Das Herrentum – d.h. faktisches (nicht […]

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[…]: Nach Blatt 573 fehlt der Anschluss.

[Die Neuzeit]

Geist der Neuzeit II [Das soziale und ökonomische Leben in der Neuzeit]

Das 4te Kapitel[. Ökonomischer Fortschritt und Kapitalismus] § 44 (Der ökonomische Fortschritt) 5

Der ökonomische Fortschritt ist die Vermehrung verfügbarer Güter und Genüsse für eine vermehrte und in ihren Gewohnheiten beharrende oder veränderte Menschenmenge. Er besteht also zunächst in Vermehrung und erhöhter Produktivität der Arbeit. Die Arbeit wird dadurch produktiver, daß sie in gleicher Zeit mehr und etwa qualitativ Wertvolleres leistet und hervorbringt. Dies wird erreicht 1. durch gesteigerte Teilung der Arbeit 2. Vermehrung des Teiles der Volksmenge, der sich produktiver Arbeit, sei es der agrikolen oder der industriellen Produktion widmet, 3. durch Verbesserung der Methoden der Arbeit.

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Daneben und im nahen Zusammenhang damit sind andere Ursachen wirksam als 4. Vermehrung der Zeit, die der produktiven Arbeit gewidmet wird, 5. konzentrierte Leitung und Disziplinierung der Arbeit 6. Erleichterung und Vermehrung des Verkehrs, also der Bewegung und der Absatzwege für Produkte der Arbeit.

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Das 4te Kapitel: Die Überschrift ist handschriftlich von Ferdinand Tönnies in das Manuskript eingefügt worden. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 180) Das 4te Kapitel ist mit Schreibmaschine erstellt und enthält handschriftliche Korrekturen von Ferdinand Tönnies. Es erstreckt sich von Blatt 180 bis Blatt 210. Die Seiten sind mit „GdN II“ bzw. „GdN.II.“ links oben in der Ecke mit Schreibmaschine oder auch in der Handschrift von F. T. gekennzeichnet. Bis auf die Kapitelüberschriften hat Tönnies die Überschriften im Manuskript in runde Klammern gesetzt. Das Paragraphen-Zeichen steht jeweils außerhalb der Klammer. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/ 2134/8 Blatt 180 bis 210) § 44: Im Manuskript steht ursprünglich §39. Das ist von Ferdinand Tönnies durch §44 ersetzt worden. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 180).

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1. Teilung der Arbeit. Die Teilung der Arbeit ist zunächst Differenzierung des Könnens, also Scheidung der Künste, d.i. der durch spezielle Aufmerksamkeit, Übung und erlernte Methode also auch durch gesteigertes Wissen erworbenen Fertigkeiten: eine Scheidung, die oft auf Grund besonderer Anlagen und Neigungen sich vollzieht. Sie wird gefördert durch die Bedürfnisse großer Haushaltungen, einzelner und gemeinsamer, z. B. fürstlicher und geistlicher Höfe und Stadtgemeinden: sie haben ihre verschiedenen Künstler und geben ihnen Nahrung; je mehr sie ernähren können, desto eher werden diese sich differenzieren und auf die Ausübung besonderer Fertigkeiten sich beschränken. Wie einzelne große so wirken viele kleine Haushaltungen, sie geben zusammen einem Künstler, Handwerker oder Handlanger so viele Arbeit auf und zusammen soviel Nahrung zum Entgelt, daß er ausschließlich von einer Art der Arbeitsleistung leben kann. Ob er Nahrung in Lebensmitteln oder durch Arbeit Gegenleistungen oder eine Anweisung auf künftige Gegenleistungen – eigene oder irgendwelcher dritter – etwa in Gestalt von Geldstücken empfängt, macht für die Sache keinen wesentlichen Unterschied. Die Teilung der Arbeit ist in erster Linie Wirkung der natürlichen Eigenschaften der Menschen und des Erdbodens. Die natürlichen, auch „angeborenen“ Eigenschaften der Menschen sind verschiedene Fähigkeiten, allgemein die der Geschlechter und die der Altersklassen; besonders dann auch bei gleichem Geschlechte und ähnlichem Lebensalter die verschiedenen Anlagen und Kräfte physischer und psychischer Art. Die natürlichen Eigenschaften des Bodens sind verschiedene Lage, verschiedene Fruchtbarkeit; Gelegenheit und Reiz zu verschiedener Tätigkeit wird dadurch gegeben und gleichzeitig zu verschiedener Vermehrung der Menschen; der fruchtbare oder sonst durch Vorzüge der Lage ausgezeichnete Boden hält und erhält seine Menschen, zieht noch dazu andere aus minder begünstigten Gegenden an. Die Verschiedenheit der Menschen, die nahe zusammenwohnen, in einem Hause oder einem engen Orte, hat bei geteilter Arbeit, mehr ihr Zusammenwirken als Tausch zwischen ihnen zur Folge; auch wenn Tausch stattfindet, so ist er mehr die äußere Form eines Zusammenwirkens und eher Austausch von Gütern gegen Leistungen als von Gütern gegen Güter, der eigentliche Tausch. Dieser wird am leichtesten durch Verschiedenheit des Bodens bewirkt; vorzugsweise Austausch von Naturprodukten. Hier werden Fische gefan-

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gen, dort ist Reichtum an Holz und an jagdbaren Tieren; hier werden Eisenerze geschürft oder wird Salz gewonnen, dort gedeihen die Rinder oder Schafe; hier findet man Silber im Stein, dort bringt die Weizenaussaat vielfaches Korn. Der Überfluß sucht Gegenwerte, und je seltener ein Produkt, desto früher und allgemeiner ist der Überfluß an einigen gewissen Stellen vorhanden, wird der Mangel an anderen empfunden. An die Naturprodukte schließen aber die Künste sich an, sie zu gewinnen und zu verarbeiten; und so entsteht schon eine Mannigfaltigkeit von Künsten und Betrieben, die wesentlich durch die Möglichkeit des Austausches von Produkten bedingt sind. Namentlich bildet sich außer den Wirkungen des verschiedenen Besitzes und der Herstellungsmöglichkeit einzelner Güter eine gegenseitige Anziehung aus zwischen Gegenden, die an Menschen und an Gütern überhaupt reicher sind und solchen die es nicht sind; jene ziehen auch aus diesen Menschen und Güter an sich: ihr Motiv ist Üppigkeit, Bedürfnisse des Prunkes, der Eitelkeit, des Luxus. Diese streben nach den überflüssigen Gütern jener: das stärkste Motiv ist die Not, der Mangel an Lebensmitteln. Außerdem aber auch das Gefallen am Neuen, am Glänzenden, die Freude am Schmuck und daran, den Bewunderten, Beneideten ähnlich zu sein. Die Gewinnung fremder Güter geschieht nicht im Wege des Austausches allein, sondern auf elementarere Weise, durch Raub und Diebstahl, also im Wege der Gewalt und des Krieges. Ferner wandern nicht nur Güter, sondern auch Menschen – ob sie Gütern gleichgeachtet werden oder nicht – aus einer Gegend in die andere, sei es daß sie gerufen oder nur zugelassen werden, ebenso aber in Folge eines Kriegszustandes, als Sieger oder als Gefangene. Die absichtlichen Arten, Menschen als Güter zu Arbeiten oder Dienstleistungen zu gewinnen, machen sich um so mehr geltend, je weniger noch freiwillige Wanderungen der Menschen geschehen, die Arbeit und Dienste anbieten.

§ 45 (Scheidung höherer Berufsstände) 30

In einem noch allgemeineren Sinne, der auch auf die Biologie als psychologische Teilung der Arbeit übertragen wird, ist diese, die durch Vererbung oder durch erneute Auslese erhaltene Scheidung von Berufsständen, als welche die der Krieger und der Priester von der Masse des schaffenden Volkes sich abheben und sie als Herrenstände leiten; das arbeitende Volk 29

§ 45: Im Manuskript steht ursprünglich §40. Das ist von Ferdinand Tönnies durch §45 ersetzt worden.

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trennt sich wieder in Urproduzenten und Handwerker, von beiden sondert als viel kleinere Gruppe die der Händler sich ab, wenn sie nicht von außen herantritt und einwandert. Die Masse der Urproduzenten sondert sich in Viehzüchter, Bergleute, Köhler, Fischer, Gärtner, Imker und andere, aber ihr größter Teil wird durch den Ackerbau in Anspruch genommen der manche den anderen neben sich zuläßt. Die Masse der Handwerker sondert sich nach den Stoffen, die sie verarbeiten und nach den Leistungen, die sich darauf beziehen. Dort wie hier können ganz verschiedene Tätigkeiten von einer und derselben Person ausgeübt werden und die fortschreitende Arbeitsteilung besteht ebendarin, daß eine Person ausschließlich auf eine Art der Tätigkeit sich beschränkt und in dieser Beschränkung ihr Können zuweilen ihre Meisterschaft ausbildet. Diese Beschränkung ist ihrem Wesen nach Ergebnis eines natürlichen Prozesses, der aber bedingt ist durch Vermehrung der Menschen und der Lebensmittel, also des Reichtums, indem der Bedarf und die Nachfrage von wenigen zu vielen, von allgemeineren zu spezielleren, von gröberen zu feineren Gegenständen und Genüssen übergeht. Aber es kommt ein anderes Moment hinzu: Die Verminderung der Hauswirtschaft für den eigenen Bedarf. Auf isolierten Gehöften und in Dörfern bleibt sie auch heute noch relativ bedeutend, zumal bei wenig sich vermehrendem Bedarf. Die Produkte werden nicht nur roh gewonnen, sondern zum Teil auch verarbeitet. Die Arbeit von Handwerkern wird von Zeit zu Zeit zur Hilfe genommen, z. B. die des Webers, des Müllers, des Schmiedes, des Zimmermanns – die Axt im Hause erspart ihn – sei es, daß ein solcher zeitweilig in die Hauswirtschaft aufgenommen wird oder, daß ihm das Produkt der häuslichen Arbeit zur Vollendung oder doch zu irgendwelcher Verwandlung z. B. von Körnern in Mehl oder von Garn in Gewebe übergeben wird. Subjekte dieser, Stoffe veredelnden also gleichsam gewerblichen, häuslichen Tätigkeit sind vorzüglich die Frauen, als deren Führerin die Hausfrau: berühmteste Tätigkeit dieser Art ist das Spinnen, das Spinnen der Wolle und besonders der Leinewand; die Spindel altherkömmlich Symbol des weiblichen Hausfleißes. In der Spinnstube herrscht die Hausfrau wie in der Küche als Meisterin; die Tochter, oft schon die heranwachsende, ist ihr Geselle. In Großstädten sind nur geringe Reste solcher produktiven Haustätigkeit anzutreffen. Die Hausfrau, noch mehr die Tochter, sucht und findet den Bereich ihrer Tätigkeit zum guten Teil außerhalb der eigenen Haushaltung im Tausche, also gegen Entgelt. Die Gegenstände des häuslichen Bedarfes werden als Waren eingekauft, die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten selber 23

die Axt im Hause: „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller (erste Szene des dritten Aufzuges).

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zum Teil an Gewerbebetriebe übergeben und diesen bezahlt, wenn man sie nicht schuldig bleibt. Die Fortschritte der Teilung der Arbeit laufen allerdings mit der Entwicklung des Austausches und des Warenangebots, also des Handels als Vermittlers parallel, aber sie bedeuten noch nicht, daß der Handel ein Übergewicht bekommt und als das allgemeine Prinzip, vollends nicht, daß er als Urheber der Arbeit sich darstellt. Dies ist der Charakter des Kapitalismus, der Herrschaft des Kapitals.

§ 46 (Das Kapital) 10

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Kapital ist zunächst ein anderer Ausdruck für Geld – es ist eine Summe Geldes, die irgendwie angelegt, d. h. durch Einkauf in Waren verwandelt oder ausgeliehen vorgeschossen oder endlich durch Unternehmung in Arbeitsmittel und Arbeitskräfte zu dem Zwecke fixiert wurde, sich zu vermehren. Geld ist seinem Wesen nach ein Gedankending, der Begriff des Tauschwertes, dessen, was alle austauschbaren Gegenstände und Leistungen miteinander gemein haben, die allgemeine immer absatzfähige, also kurrenteste Ware. Empirisch ist aber Geld eine wirkliche Sache, nämlich eine allgemein begehrte Ware, wie insbesondere das edle Metall sie darstellt, zumal in seiner amtlich beglaubigten – geprägten – Form als Münze; die aber selber wieder durch eine anerkannte Stellvertretung vermittelst des Geheißes Münze für Papier zu zahlen dargestellt werden kann; endlich in der Form des Papieres schlechthin. Kapital ist mithin Geld, insofern als es sich vermehren soll: dieses Soll ist die ihm gegebene Bestimmung aus dem Wunsch und Willen, also dem Gedanken derer, die in den bezeichneten Arten Geld besitzen und anlegen. Geld und also Kapital ist wesentlich Privateigentum, wenn auch nicht immer im Eigentum dessen, der es anlegt oder weiter anlegt; und Kapital ist als Privateigentum nicht notwendig Eigentum einzelner Personen; vielmehr vereinigt sich das Geld vieler Personen, um als Kapital desto grösser, also stärker zu werden. Die Idee des Kapitals ist sein Attraktionszentrum, das mehr oder minder auf alle die Geld haben, d. h. es zurücklegen können und wollen, wirkt, und diese sind es, die auch die Möglichkeit, die Chance seiner Vermehrung durch Anlage kennen und begehren. Insofern ist Kapital gesellschaftlich erspartes Geld. Seine großen Wirkungen übt es teils als Geld, teils als Kapital. Als Geld wirkt es auf alle die Geld brauchen, sei es daß sie 8

§ 46: Im Manuskript steht ursprünglich §41. Das ist von Ferdinand Tönnies durch §46 ersetzt worden.

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Lebensmittel oder Schmuckgegenstände dafür kaufen oder Schulden bezahlen, oder das Geld zurücklegen wollen. Sie müssen Ware oder andere Leistungen (Dienste, Arbeitskraft oder anderes Geld) dafür hingeben. Somit regt das Kapital als Geld direkt und indirekt zur Dienstleistung, zur Arbeit, zur Produktion von Gütern an. Als Kapital wirkt Kapital teils ebenso wie Geld (z. B. als Geld eines anderen) teils wirkt es aufregend und bewegend auf alle, die das brauchen, was in der Anlage des Kapitals enthalten ist, z. B. Lebensmittel oder Arbeitwerkzeuge oder Rohstoffe – Ware zum Konsum oder zur Produktion – oder endlich Luxusgegenstände zum Konsum; schließlich fällt auch wiederum die Anlage mit dem Gelde zusammen: im kapitalistischen Produktionsprozeß wird die Arbeitsleistung selber als eine Ware eingekauft – der Arbeiter käuft nicht für sich Arbeitsmittel, sondern das Arbeitsmittel (d. h. das darin angelegte Kapital) käuft seine Arbeitsfähigkeit also als arbeitsfähigen und arbeitswilligen ihn selber. So reduziert sich die Wirkung des Kapitals auf seine Wirkung als Geld und seine Wirkung als Ware. In jeder Gestalt wirkt es als zentraler Motor des wirtschaftlichen Lebens (besonders der Arbeit), und zwar des Zusammenarbeitens, der planmäßigen Kooperation. Das Kapital „organisiert“ die Arbeit, indem es Mengen von Arbeit teils erst hervorruft, teils wenigstens an sich heranzieht, um ihre Produkte für sich – „im kapitalistischen Interesse“ zu verwerten; sodann aber direkt, indem es selber produktiv wirkt, wenigstens als intellektueller Urheber von Produkten oder Diensten, und die Arbeit in seinen Dienst, unter seinen Befehl nötigt, ordnet und anstellt, kommandiert und dirigiert; sei es, daß diese Tätigkeit durch einen einzelnen Kapitaleigentümer (resp. Besitzer) oder daß sie, im Namen und im Solde des Kapitals, durch beamtete, von ihm angestellte Personen vollzogen werden. Die Vernunft oder das Denken des Kapitals äußert sich vorzugsweise auf dreifache Art: 1. durch die Findung zweckmäßiger Anlagen – auf eine der hier behandelten 3 Arten –. 2. Durch die Heranziehung von Geld zum Behufe dieser Tätigkeiten – Benutzung von Kredit, 3. durch die zweckmäßigste Organisierung der Arbeit, d. h. die Anwendung von Arbeitern oder sonst Bediensteten und Beamteten, sei es zum Behufe der Warenproduktion oder irgendwelcher anderer Kooperation, die einem gleichen Zwecke wie diesem, nämlich der Vermehrung des Kapitals oder seiner Erträge zu dienen geeignet ist; die Unvernunft oder das unrichtige Denken tritt also in mangelhafter Erfüllung dieser Aufgaben und im Misslingen aus dieser Ursache zutage, wenn auch andere Faktoren noch stärker dazu wirken können; und alle Gedanken dieser Art konzentrieren sich sodann auf die Erzielung des Gewinnes oder Mehrwerts und diese geschieht durch den Absatz der einge-

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kauften oder produzierten Waren und Quasiwaren, die man verabreichte Dienste nennen mag, wozu z. B. auch die im Wechsel verkörperten Forderungen an irgendwelche Personen gehören. Die natürlichen Dinge, vor allem der Grund und Boden und die Hilfsmittel der Arbeit stehen in notwendigen und wesentlichen Verbindungen mit den Menschen, die sie besitzen und benutzen.

§ 47 (Preiskämpfe)

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Das Kapital steht in keiner notwendigen und wesentlichen Verbindung mit seinen Eigentümern. Diese, in letzter Instanz immer individuelle Personen, stehen teils im Vordergrunde, teils im Hintergrunde der Wirksamkeit des Kapitals, sie suchen und finden mannigfache Anlagen, teils solche die einander fördern, teils die einander hemmen. Denn die Kapitalien – individuelle wie gesellschaftlich vereinte kämpfen gegeneinander: 1. in Preiskämpfen, indem das eine Käufer der Ware ist, die das andere produziert oder als Händler vertreibt; indem das eine kreditsuchend billigen, das andere kreditgebend teuren Kredit will; indem jenes als produzierendes niedrige Löhne seiner Arbeit will, während ein anderes für den Absatz seiner Produkte an höheren Löhnen, als produzierende wenigstens an höheren Löhnen der anderen interessiert ist, 2. aber ganz besonders stehen sie im Konkurrenzkampf miteinander und zwar um so schärfer, je mehr die Ware, die das eine produziert oder handelt der des anderen gleich oder ähnlich ist. 3. Im Kreditkampf stehen alle Arten des Kapitals dem Bankkapital gegenüber, indem dieses zwar auch allem anderen Kapital einen hohen Ertrag gönnt, aber nur insoweit als sein eigener Gewinn selber ihn befriedigend bleibt, der ihm naturgemäß immer der wichtigste ist. 4. Steht das produzierende Kapital insbesondere dem Handelskapital gegenüber, zumal demjenigen, das mit seinen eigenen (des produktiven Kapitals) Produkten handelt und etwa durch hohe Aufschläge deren Absatz eher hemmen als fördern wird. – Der Preiskampf ist mit Warenproduktion und Handel notwendig gegeben; auf ihn beziehen sich die Kämpfe um Einschränkung oder Freilassung des Handels. Durch Freilassung wird insbesondere der Konkurrenzkampf zwischen Handelskapitalien entfesselt. Er ist es, der in Verbindung mit fortdauerndem Preiskampf und Kreditkampf das wirtschaftliche Leben der Neuzeit bezeichnet. In allen diesen Kämpfen siegen die jeweilig Stärksten, 7

§ 47: Im Manuskript stehen ursprünglich verschiedene andere § (36, 42, 46). Das ist von Ferdinand Tönnies durch §47 ersetzt worden.

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aber jeweilig stärker ist je nach der Konjunktur, die eine oder die andere Art. Im Preiskampfe siegt das zugleich massenhafte und konzentrierte Kapital, d.i. solches das sein Interesse so sehr als möglich konzentriert hat, so daß es seine sonst einander entgegengerichteten Interessen ausgleichen und in eine Richtung werfen kann. Im Konkurrenzkampfe siegt der Großbetrieb regelmäßig über kleinere Betriebe, daher immer von neuem auch der größere Großbetrieb über den geringeren. Dies gilt nicht schlechthin für die Landwirtschaft, da hier die Überlegenheit des Großbetriebes nicht eindeutig vorhanden ist, außer im Getreidebau, wenn dieser mit normalem Verstande und bei gleicher Bonität des Bodens geleitet wird. Für die Industrie gilt namentlich, daß die siegreich gewordenen Betriebe geneigt sind, den Wettbewerb aufzugeben und die Konkurrenz durch Koalition abzulösen, also gegen gemeinsame Gegner sich zu verbünden. Durch die Koalition fließt der Konkurrenzkampf in den Preiskampf zurück. Im Preiskampf strebt das Kapital immer nach dem Monopol: Befestigung oder Erhöhung der Preise für bestimmte Waren ist der nächste Zweck des Kartellsystems. Monopol bedeutet die möglichst hohen Preise: Produzenten jeder Ware erstreben diese schlechthin, Händler nur relativ zu ihrem Einkaufspreis; als Einkäufer vertreten sie mittelbar auch die Konsumenten dieser Ware und wollen auch in deren Sinne möglichst niedrige Preise. Produzenten wie Verkäufer unterbieten einander im Konkurrenzkampfe; d. h. sie handeln ihrem eigenen Streben nach hohen Preisen entgegen, um des anderen Zweckes willen, der darin besteht möglichst großen, möglichst dauerhaften Absatz zu finden, also die Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen. Wird also die Konkurrenz durch Koalition unterbunden, so kann das so koalierte Kapital ungeteilt und mit aller Kraft sich in den Preiskampf werfen und hat weitaus bessere Chancen sein Ziel – die Monopolpreise – zu erreichen. Alle Funktionen des Kapitals sind ihrem Wesen nach andere, d.i. sie werden alle um des Gewinnes willen geübt, der immer als der Unterschied zwischen Kosten und Ertrag, nämlich als das Mehr des Ertrages zustande kommt. Wenn der Handel als Berufstätigkeit selber dem System der Arbeitsteilung anzugehören scheint, so ist er zugleich seinem Wesen nach dessen Verneinung. Er macht das Allgemeine zur Spezialität. Dies Allgemeine ist im Gelde verkörpert. Jede Erwerbstätigkeit die des Marktes bedarf, sucht im Gelde den allgemeinen Tauschwert, der nach Belieben in besonderen verwandelt werden kann. Das Geld repräsentiert zugleich den dauernden Wert, den Gedanken an die Zukunft, insofern als gedacht wird, daß es zu beliebiger Zeit in Gebrauchswert umsetzbar ist; es ist nicht nur allgemeiner Tauschwert sondern auch allgemeiner Zeitwert. Diese Eigenschaft

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teilt es, hauptsächlich durch seinen metallischen Stoff, mit anderen dauerhaften und kostbaren Gegenständen, z. B. Edelsteinen, bedeutenden und seltenen Kunstwerken und Altertümern, aber auch dauerhaften Gegenständen sinnlicher Genüsse als kostbaren Weinen u. dgl. Für den Kaufmann als solchen kömmt diese Eigenschaft nicht in Betracht. Er sucht das Geld nicht, um es zu irgendwelcher Zeit in Gebrauchswert zu verwandeln, sondern um es so rasch als möglich in speziellen Tauschwert, und diesen so rasch als möglich in den allgemeinen vermehrten Tauschwert zurückzuverwandeln.

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Das Handeln steht insofern außerhalb der Arbeitsteilung als es zu allen Waren das gleiche Verhältnis hat, nämlich ein äußeres; sie zu veräußern ist sein Endzweck, alle Werte sind ihm Tauschwerte. Die Umkehr, wodurch die Neuzeit das Mittelalter verneint, stellt – wie früher bedeutet – in der Verallgemeinerung des Handels als Aufhebung der Teilung der Arbeit sich dar. Vollends und insbesondere verändert und verkehrt zuletzt die kaufmännische, also kapitalistische Leitung der ökonomischen Prozesse in dreifacher Weise die Teilung der produktiven Arbeit, wie sie bis dahin durch Tradition gegeben, also historisch überliefert war. Die erste Weise der Durchbrechung der Arbeitsteilung liegt darin, daß der kapitalistische Unternehmer sozusagen alles „kann“ und nicht kann: nämlich nichts Besonderes und nur das Allgemeine: Einkaufen, Anordnen, Verkaufen. Daß dies, wie aller Handel, unter sonst gleichen Glücksumständen um so besser gelingen wird, je mehr der Unternehmer, wenn er eine einzelne Person ist, durch Intelligenz und dazu gehörige Eigenschaften, die den tüchtigen Geschäftsmann charakterisieren, sich hervortut, versteht sich, ist aber nicht zur Sache. Fachkenntnisse sind für die Übernahme eines Geschäftes zuweilen notwendig, oft wenigstens nützlich, zuweilen gleichgültig, wie dies nicht selten ausdrücklich betont wird, wenn ein Werk, eine Fabrik oder anderes Geschäft als verkäuflich angeboten wird. Das Haupterfordernis ist jedenfalls in der Regel eine möglichst große Masse frei verfügbaren Kapitals, das naturgemäß eine sachgemäß einsichtige Leitung in Anspruch nimmt. – Die andere Weise, in der der Kapitalismus die Arbeitsteilung aufhebt, ist die schon dargestellte Teilung der Arbeit innerhalb des Betriebes, 10

§ 48: Im Manuskript steht ursprünglich §43. Das ist von Ferdinand Tönnies durch §48 ersetzt worden.

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die man auch Arbeitszerlegung und schon im XVIII. Jahrhundert Simplifikation, d. h. die Einfachermachung durch Zerlegung der sonst kunsthaft einheitlichen Arbeit genannt hat. Die dritte Weise endlich ist – ebenfalls innerhalb des Betriebes – die Überflüssigmachung ganzer Arten von handwerklicher und qualifizierter oder geschickter Arbeit durch die Maschinenarbeit, als für deren Betreibung und Überwachung eine allgemeine Arbeitsfähigkeit und allgemeine Intelligenz genügt, bis endlich die Maschine völlig automatisch wirkt also den Arbeiter als Ballast über Bord wirft. Diesen Prozessen steht freilich gegenüber, daß einige Maschinen so kompliziert werden und trotz ihrer eigenen Geschicklichkeit noch, obschon nicht in einer besonders geschickten Hand, so doch in einer so gesteigerten Aufmerksamkeit, eines so unterscheidenden Verstandes und folglich auch einer so vermehrten und geschärften Übung bedürfen, daß keineswegs jeder beliebige Arbeiter für ihren Gebrauch tauglich ist. Schulze-Gävernitz hat schon im Jahre 1892 dargestellt, welch hohen Grad von Aufmerksamkeit also auch von Fähigkeit der Konzentration die Handhabung einer modernen Spinnmaschine in Anspruch nimmt, die etwa 1000 und mehr Spindeln beherrscht. Das neueste bedeutendste Beispiel, einer Maschine, die selbst so geistreich ist, daß sie ihre merkwürdige Leistung nur mit einem gewissen Grade von menschlichem Geiste vollbringen kann, ist die Setzmaschine, die in wundervoller Weise geeignet ist, der Herstellung des so charakteristisch hochmodernen und ephemeren Produktes der Zeitung zu dienen, neben der bisher noch das Buch mühsam sich zu behaupten vermag, von dessen Massen aber ein sehr großer und wachsender Teil rascher Vernichtung anheimfällt, wie es rascher Arbeit sein flüchtiges Dasein verdankt.

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§ 49 [Vermehrung der produktiven Arbeiter] 2. (Vermehrung der produktiven Arbeiter) Die Entwicklung des Kapitals, mithin der gesamten neuzeitlichen Civilisation ist bedingt durch Entdeckungen und Erfindungen. Entdeckungen unbekannter meistens weit entfernter und nur auf dem Seewege erreichbarer Länder, daran knüpft sich deren für das Kapital in der Regel gewinnreiche 14

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Schulze-Gävernitz: Gerhart von Schulze-Gaevernitz, Der Großbetrieb – ein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt. Eine Studie auf dem Gebiet der Baumwollindustrie. Leipzig 1892, S. 112 ff. § 49: Im Manuskript steht ursprünglich §37, dann 40 und dann 44. Das ist von Ferdinand Tönnies durch §49 ersetzt worden.

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Erforschung und Erschließung: Bahnung und Vermehrung von Handelsbeziehungen, Anlage von Faktoreien und Kolonien, Gründung von Plantagen zur Ausnützung des Bodens, endlich Gewinnung von neuen Absatzwegen, wozu auch die Bevölkerung gehört, als Anfüllung der menschenleeren oft durch Gewalt menschenleer gemachten Stätten mit Menschen, die zum Verzehr, also zur Bezahlung eingeführter Güter und besonders die zur Herstellung von Gütern an Ort und Stelle, also zur Arbeit, fähig und willig sind und wenn sie es nicht sind zur Willigkeit gezwungen werden können. „Tropische Kolonisation und Sklaverei liebäugeln miteinander“, bemerkt treffend G. F. Knapp. Erfindungen dienen der Erleichterung des Verkehrs zu Wasser und zu Lande, und also des Handels – kommen auch dem Handel direkt zur Hilfe, und zwar allen drei großen Zweigen des Handels, indem sie deren Technik verbessern, das Wissen und Denken vermehren und verbreiten, dadurch die Bedürfnisse und die Bemühungen, sie zu befriedigen, mithin Güter oder Arbeitskraft dafür hinzugeben, anregen und fördern. Ganz besonders aber vermehren und verstärken sie die menschliche Arbeit selber, indem durch Erfahrung und Wissenschaft eine neue Technik der Produktion und des Verkehrs hervorgerufen wird, wodurch die beschleunigten Wirkungen und der beschleunigte Absatz massenhafter Waren ermöglicht wird. Aber auch die Hemmungen und Widerstände der kapitalistischen Entwicklung liegen zuerst in den ökonomischen Tatsachen und werden durch die natürlichen Fortschritte des Handels sowohl als durch die Elemente der Förderung dieser nur langsam überwunden. Es wurde schon auf die Bevölkerung hingewiesen. Eine dünne, ländlich verstreute, schwach oder gar nicht natürlich sich vermehrende Volksmenge beharrt in ihren verkehrsarmen Zuständen: Wege und Landstraßen sind wenige vorhanden, ihre Beschaffenheit erschwert den Transport von Gütern und Menschen, zumal im Winter und in Regenzeiten. Der Verkehr entwickelt sich leichter und früher, wo ihm Wasserstraßen zu Gebote stehen, also in Küstenländern und an schiffbaren Strömen. Die Gelegenheit und Reizung zum Austausch fördert die Arbeit und vermannigfacht sie, begünstigt also die Anhäufung und Vermehrung der Menschen. Wenn aber mehr Menschen vorhanden sind, so wird auch das Binnenland dichter besiedelt, die Bedürfnisse zu tauschen nehmen zu, man erkennt es als notwendig, die Wege zu verbessern, neue 9

Tropische Kolonisation: Georg Friedrich Knapp, Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens, Erster Theil, Ueberblick der Entwicklung, Leipzig 1887.

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Straßen anzulegen; der Handel findet Gelegenheit, vorzudringen und durch Erreichung seines ewigen Zieles immer neue Chancen dafür zu finden, also neuen Wettbewerb anzuziehen. Die Steigerung der Volksmenge kann geschehen durch Vermehrung der Geburten, Verminderung der Sterblichkeit, Vermehrung der Zuwanderung und Einwanderung, Verminderung der Abwanderung und Auswanderung. Vermehrung der Geburten wird – in den Sittenzuständen von Kulturvölkern noch – hauptsächlich und in Verbindung mit Willen und Fähigkeit, erzeugte Kinder zu pflegen und aufzuziehen, – herbeigeführt durch Erleichterung der Eheschließungen. Zu frühen Eheschließungen reizt die natürliche Neigung, die Kraft des Geschlechtstriebs; Schwierigkeit und Unsicherheit der Ernährung und der Behausung halten davon zurück. Das Kapital und, wenn es versagt, der Staat, muß also für vermehrte Nahrungsmittel und für Erleichterung des Wohnens Sorge tragen, sei es durch Beförderung des Anbaus oder der Einfuhr von Lebensmitteln; jene ist bei fruchtbarem Boden verhältnismäßig leicht durch verbesserte Geräte und Methoden zu erreichen, sie erfordert aber in erster Linie Arbeitskräfte, tierische und menschliche und an beiden fehlt es der Voraussetzung nach; ebenso ist die Einfuhr von Lebensmitteln wie von anderen Mitteln zum Behufe des Wohnens, der Kleidung, des Schmuckes durch Produktion von Gegenwerten bedingt, und diese ist wiederum nur möglich wenn Produzenten vorhanden sind, also Menschen welche diese Produktion zu leisten vermögen. – Die Verminderung der Sterblichkeit geschieht ebenfalls durch Verbesserung der Nahrung, indessen wirkt ihr gerade die Verdichtung der Bevölkerung entgegen, weil Infektionen sich leichter ausbreiten, die Erregungen des Lebens, Genüsse, Unmäßigkeiten zunehmen. Dagegen ist Unwissenheit und Aberglaube häufig Mitursache von VolksKrankheiten und großer Sterblichkeit. Erkenntnisse und Aufklärung können also entgegenwirken. Diese werden wiederum durch dichtere Bevölkerung begünstigt: wie alle Künste so auch die ärztliche Kunst, die Ausbildung, das Gedeihen, die Vermehrung von Ärzten und ihren Hilfsmitteln, von Apotheken, Hospitälern, Kliniken usw. und des hygienischen Wissens. – Vermehrung von Zu- und Einwanderung ist ebenfalls durch die vorhandenen Nahrungsspielräume bedingt und diese wiederum in erster Linie durch fruchtbaren Boden, in anderen durch Wege und Verkehr, die den Austausch der Produkte ermöglichen und begünstigen. Wenn die übrigen Bedingungen für natürliche Vermehrung vorhanden sind, so wird auch die Zu- und Einwanderung nicht fehlen, hingegen Ab- und Auswanderung gehemmt werden: die Bedingungen sind überwiegend die gleichen.

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§ 50 (Beharrung der alten Gesellschaft) (3. Verbesserte Methoden der Arbeit)

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Man muß sich immer gegenwärtig halten, daß innerhalb und unterhalb der gegenwärtig durchaus vorwaltenden Gesellschaftsordnung es noch eine andere gibt, die freilich nur unter dem Drucke jener herrschenden leben kann und in manchen Erscheinungen nicht selten gegen sie – ohnmächtig oder sogar vorübergehend übermächtig – sich empört. Ihre Merkmale und Spuren treten uns überall entgegen und stellten die wesentliche Verbindung der ersten drei Jahrhunderte der Neuzeit mit dem hohen Mittelalter in ökonomischer Hinsicht her. Es war die Ordnung eines noch überwiegenden agrarischen Zustandes, der sich in glücklichem Verhältnis durch ein freilich schon mannigfach in Zersetzung begriffenes Handwerk ergänzte. Gerade in Deutschland, das politisch bunt und ungeordnet dalag, zum Teil unter kleinen Tyrannen oder ungeschickten Bürokratien seufzte, war die Erhaltung dieses schlechten Zustandes für die stillen Jahre, die nach H. v. Treitschke noch den größeren Teil der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auszeichneten, charakteristisch. Man konnte wenigstens noch vorstellen oder glaubwürdig fingieren, daß eine Ordnung der geteilten Arbeit oder doch der geteilten Funktion nach Art der physiologischen Arbeitsteilung vorhanden gewesen sei, worin auch der Handel seine für die Gesamtheit nützliche Tätigkeit entfaltete. Der Unterschied des Zeitalters, das nun noch kaum 100 Jahre alt ist, liegt eben darin, daß dieses Bild – man mag es ein Trugbild nennen – vertilgt ist. Das Prinzip des Handels ist als Kapitalismus Alleinherrscher geworden. Je mehr es Alleinherrscher wird, um so mehr verwandelt es den ursprünglichen und eigentlichen Sinn einer berufsmäßigen Tätigkeit im System der Arbeitsteilung. Es wird nämlich das innerhalb der Arbeit oder des Betriebes sich vollziehende Geschäft zur Hauptsache. Das Geschäft besteht im möglichst günstigen Einkauf des Rohstoffs und des gesamten Apparates an Werkzeugen Maschinen Gebäuden, ganz besonders aber der Arbeitskräfte und im möglichst günstigen Absatz des Produktes, an dem die Arbeitskräfte, wie immer man über die Behauptung denken möge, daß sie allein den Wert schaffen, jedenfalls in hervorragender Weise beteiligt 2

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Verbesserte Methoden: Der in der Gliederung unter Punkt 3 angegebene Text „Verbesserte Methoden der Arbeit“ wurde zunächst handschriftlich eingefügt und dann wieder durchgestrichen. stillen Jahre: Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4, Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig 1889, S. 213.

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sind. Und ebenso jedenfalls werden sie anstatt als Urheber des Produktes auf dem Markte zu erscheinen, durch das Kapital zu einem bloßen Mittel heruntergedrückt – zu einem bloßen Mittel für das eigentliche Geschäft, das eben nun zu einer besonderen Art des Handelsgeschäftes wird. Die Tendenz dazu ist allgemein und breitet sich mehr und mehr aus. Auch auf Tätigkeiten von geistiger Art, die ihm von Haus aus am fernsten liegen. Z. B. kann die Herstellung von Ölgemälden oder anderen Kunstwerken zum Handelsgeschäft, d. h. kapitalistisch werden: es muß nur ein Unternehmer sich dazu verstehen, die nötigen Einkäufe auch an Menschenkräften, die des Malens fähig sind, zu machen und die Produkte auf den Markt zu bringen. Ebenso meint man vielfach zu beobachten, daß die ärztliche Kunst in dieser Weise Gegenstand eines einträglichen Unternehmens wird, indem sie verbunden wird mit dem Gastwirtsgewerbe und unter dem Namen von Assistenten geschulte Kräfte in den Dienst des Unternehmens stellt. Von Haus aus hat das Gewerbe, auch als handwerksmäßiges, schon eine, wenn auch zunächst leise Zuneigung zum Geschäfte: Handel und Industrie gehören zusammen. Ein Handwerksmeister kann durch seine eigene Tüchtigkeit und besonders durch seine Fähigkeit leistungsfähige Gesellen an sich zu fesseln, vollends dadurch, daß er die Arbeit innerhalb seiner Werkstätte zweckmäßig verteilt und ganz und gar auf die Herstellung einer zum Massenabsatz geeigneten Ware abstellt, ein erfolgreicher Geschäftsmann werden. Der intelligente und mit Kapital ausgestattete Meister strebt naturgemäß danach, zumal in einer Zeit, wo es wenig anderes mehr gibt außer Geschäft. Ferner steht diesem lange der Landwirt, zumal der bäuerliche nahe. Er ist eben kein Fabrikant. Dennoch kann er diesem in mancher Beziehung ähnlich werden durch Herstellung einer Ware in größerer Menge und wenn er dessen mächtig ist in einer Qualität, die auf dem Markte Ansehen und Absatz findet, zumal wenn sie zum Transport geeignet ist. So war schon im 17. Jahrhundert die Westküste von Schleswig und Holstein durch Herstellung und Versand von Käse bis an die Küsten Frankreichs bekannt und dies verschaffte den Bauern ein gutes Nebeneinkommen. Ähnliche Besonderheiten hat es, solange es Handel gibt, viele gegeben; aber hier fehlte doch die planmäßige Einstellung von Arbeitskräften; vielmehr wirkten die ohnehin vorhandenen meistens weiblichen Arbeitskräfte als Hilfskräfte der Bäuerin als der Meisterin und es blieb ein dem Handwerk mehr als dem eigentlichen Handelsgeschäft verwandter Betrieb.

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§ 51 (Kapitalismus und Landwirtschaft)

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Auch heute noch ist die kapitalistische Produktionsweise im ganzen und großen nur im beschränkten Maße auf die Landwirtschaft ausgedehnt worden. Am meisten ohne Zweifel im landwirtschaftlichen Großbetriebe und der Plantage, die eine Art davon darstellt. Indessen auch die bäuerlichen Betriebe machen in dieser Hinsicht Fortschritte. Darüber hat neuerdings Freiherr v. Bissing eine Studie verfaßt, die im Rahmen dieser Darlegungen besonderer Aufmerksamkeit wert ist. In jüngster Zeit ist die ganze Landwirtschaft fast plötzlich in den Strudel der großen weltwirtschaftlichen Krise hineingerissen worden, wovon die Hauptursache teils der immer mehr entwickelte Verkehr, teils der außerordentliche Auftrieb der Getreideproduktion durch die vermehrte Anwendung von Maschinerie auf die Ackerwirtschaft gewesen ist. Speziellere Ursachen sind dazu gekommen. So ist sogar in den Vereinigten Staaten, die doch in der glücklichen Lage sind, ihren Bedarf an Nahrungsmitteln ganz aus dem eigenen Lande zu decken, die Lage der Landwirtschaft immer schwieriger geworden. Es hat dies an einem relativ zufälligen Umstande gelegen, der aber für die Nachkriegszeit große Bedeutung hatte. Es ist hauptsächlich der starke Wechsel in der Bewertung des Geldes, indem eine Reihe von Währungen, an der Spitze die deutsche, einer nie dagewesenen Entwertung erlagen, während hingegen nachher das Gegenteil dieser Inflation als Deflation mit neuen Übeln sich bemerklich gemacht hat. Sie bestand in einer Höherbewertung des Geldes und im Sinken der Warenwerte, und dies Sinken traf die landwirtschaftlichen Werte infolge der außerordentlichen Erhöhungen der Produktivität auf diesem Gebiete am schwersten, sodaß die Preis-Schere immer weniger geklappt hat: die Agrarprodukte wurden zu wohlfeil, die Industrieprodukte waren im Verhältnisse teuer, sodaß beim Austausch die Landwirtschaft zu kurz kam. Dabei stellen aber auch manche Eigenheiten der Landwirtschaft sich in Rechnung. Zum großen Teile hat bisher, wenn auch in Europa weit mehr, als in den Kolonialländern, die Landwirtschaft der Vorzüge entbehrt, die ein entwickelter Kapitalismus der Produktion verleiht. – Man unterscheidet mit Recht den hauswirtschaftlichen und den marktwirtschaftlichen Teil der Landgutswirtschaft, obschon man erkennt, daß beide eng miteinander verflochten sind. Die Landwirtschaft kann nur in eng begrenzter Weise von ihren Naturbedingungen sich lösen. Immerhin aber wird das Verhältnis 7

eine Studie verfasst: Wilhelm Moritz Freiherr von Bissing, Der Realkredit der deutschen Landwirtschaft, Berlin 1930.

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ihres hauswirtschaftlichen und ihres marktwirtschaftlichen Teiles durch manche wirtschaftliche Faktoren bestimmt, die der Ausdehnung und hingegen der Einschränkung fähig sind. Nach der geistreichen Darstellung des Freiherrn v. Bissing ist in dieser Beziehung die Persönlichkeit des Landwirtes als subjektiver Faktor von den objektiven Faktoren zu unterscheiden. Dieser Forscher unterscheidet in Anlehnung an Untersuchungen des Statistikers Bramstedt als Wirtschaftszonen am einen Ende reine Industrie – am anderen Ende reine Agrargebiete, und dazwischen gemischte, die teils vorwiegend industriell, teils vorwiegend agrarisch sind. Das Verhältnis zwischen hauswirtschaftlichem und marktwirtschaftlichem Teil der Landgutswirtschaft sei wesentlich bedingt durch die verschiedene Struktur der Gebiete, worin die Landgüter hineingelagert sind. Die Landwirtschaft sei aber ferner bedingt in erster Linie durch die Entfernung vom Markt oder die Verkehrslage. Diese natürlichen Verhältnisse wirken vor allem auf die Betriebsgrößen, und diese beeinflussen wieder die Arbeitsverfassung. Je kleiner der Betrieb, desto eher gelinge es, die Landgutswirtschaft mit familieneigenen Arbeitskräften zu führen, während das große Gut auf fremde, entlohnte Arbeitskräfte angewiesen ist. Andererseits bestimme die Betriebsgröße Art und Umfang der Maschinenverwendung also den Aufwand langfristigen Kapitales und überhaupt eine mehr technische Art des Betriebes, infolgedessen der Getreidebau im allgemeinen, Domäne des auch dem äußerem Umfange nach „großen“ Betriebes bleibt. Aber auch die Haltung kann vom Boden gelöst und marktwirtschaftlich aufgebaut werden. Ähnlich wirkt in der Richtung auf mehr kapitalistische Rechnung das Pachtsystem; ähnlich die Belastung mit Erbgeldern. Vorwiegend aber bleibt, wie Herr v. Bissing zeigt, der Unterschied zwischen Großlandwirt und Bauer. Auch der Großlandwirt denkt von Haus aus nicht eigentlich kapitalistisch, außer unter gewissen besonderen Umständen, wie sie etwa in der Provinz Sachsen und in Anhalt vorliegen, wo ein bedeutender industrieller Einschlag vorhanden ist. Noch mehr als bei den Eigentümern bildet die kapitalistische Gesinnung bei den Großpächtern sich aus. Hingegen wurde der deutsche Bauer nur stellenweise, wie in den rheinisch-westfälischen Industriezentren, auch davon 7

Statistikers Bramstedt: Dr. Paul Bramstedt war um 1935 Leiter des Statistischen Reichsamtes. Paul Bramstedt hat mit seinen Mitarbeitern, insbesondere mit von der Gablentz, am Statistischen Reichsamt die ersten volkswirtschaftlichen Verflechtungsmodelle (InputOutput-Tabellen) aufgestellt. Siehe auch: Paul Bramstedt, Statistik der Industriewirtschaft in: Friedrich Zahn (Hrsg.), Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand, Bd. 2, München und Berlin 1911.

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angefaßt. Ebenso sei schon immer der Marschbauer in Friesland ein ausgesprochener kapitalistischer Unternehmer gewesen. Dies gelte besonders von den Gräsern der tiefen Marsch. Anders stand es um die Geestbauern und die bäuerlichen Wirte im ostdeutschen Agrargebiet. Das Verhältnis zum Kapitalismus beruht in der Landwirtschaft hauptsächlich auf dem Kredit. Die Möglichkeit Kredit aufzunehmen, fehlte dem Bauern in der Regel. Genossenschaften wollten die bäuerliche Wirtschaft vor den Auswirkungen des Kapitalismus schützen, und dies gelang ihnen in weitem Maße. In der Vorkriegszeit war Schuldenfreiheit allgemeine Bauernregel, besonders in den rein agrarischen und überwiegend agrarischen Zonen. Nur Erbgelder konnten hin und wieder einen Druck ausüben. Zusammenfassend stellt Herr v. Bissing fest: daß bis zum Kriege der Kapitalismus sehr wesentliche Teile der deutschen Agrarwirtschaft noch nicht ergriffen hatte. Aber der Verlust aller baren Ersparnisse und die enorme Steigerung der Zinssätze konnte auch auf die Landwirtschaft ihre Wirkung nicht verfehlen. Treffend bemerkt der Kritiker, die klugen Inflationsgewinnler seien in den Zeiten der Geldentwertung zu gerissenen Spekulanten und Kaufleuten geworden. Hingegen die Inflationsverlierer standen unversehens dem Kapitalismus gegenüber, als sie genötigt waren, durch hoch verzinsliche Fremdkapitalien ihr Betriebskapital zu ersetzen. Hoch verzinsliche Kredite konnten nur dann nützen, wenn eine hinlänglich breite Basis eigenen Kapitals vorhanden war und wenn das fremde Geld dahin geleitet wurde, wo es den höchsten Gewinn zu erzielen, geeignet war. Aber jedenfalls trat das Kapital in den Vordergrund, es galt nun Zinsen herauszuwirtschaften. Auch bei den Erbgeldern machten die Erhöhungen des Zinsfußes sich geltend, dazu kamen die Steuern und vielfach die Löhne, da unter den Betrieben von 20 – 50 ha schon 90 v.H. mit fremden Arbeitskräften wirtschafteten. In den verschiedenen Gegenden oder Zonen waren die Wirkungen verschieden; überall aber waren den Fortschritten des Kapitalismus die Tore geöffnet. Im Osten, in den marktfernen Agrargebieten traf er auf eine Schicht von Großlandwirten, die geistig auf sein Kommen nicht vorbereitet waren, und diesen Umstand hält Bissing für einen der Gründe der fast vernichtenden Wirkung der Agrarkrisis auf einen großen Teil des ostelbischen Großgrundbesitzes. Der Junker sehe sich genötigt, seine Betriebsführung den geldwirtschaftlichen Grundsätzen mehr anzupassen. Die Um- und Entschuldungsmaßnahmen der Ostkrise würden nur vorübergehend zur Besitzfestigung dienen können und unweigerlich werde ein starker Besitzwechsel, vor allem unter den großen Gütern Platz greifen. Für neue Eigentümer werde dann die Rentabilität anders als bisher maßgebender Gesichtspunkt werden. Auch die neuen Siedler würden dazu

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genötigt sein. Der ausgezeichnete Kenner meint, man müsse nunmehr neben dem industriellen und Handelskapitalismus einen besonderen landwirtschaftlichen in bedeutsamen Anfängen erkennen. Ihm scheine die Bestrebung, das Fortschreiten des Kapitalismus in der Agrarwirtschaft zu hemmen, oder gar eine schon vollzogene Entwicklung auch nur zum Teile rückgängig zu machen, nicht durchführbar, weil sie die komplizierte und vielgestaltige Verbindung der objektiven und subjektiven Wirtschaftsfaktoren übersehen, die man willkürlich durch gewaltsamen Eingriff lösen müßte und aus verwandten Gründen. Der Verfasser hält es im wesentlichen für unmöglich, die Agrarwirtschaft aus der Verflechtung mit dem Markte, also aus dem Geldkauf wieder zu lösen. Die Krisenfestigkeit der bäuerlichen Wirtschaft sei weniger aus Gründen verborgen, die in ihrem eigenen Gebiete lagen, als vielmehr durch die Auswirkungen, die von den grundlegenden Wandlungen im Aufbau der deutschen Volkswirtschaft auf dem Markt zurückreflektierten. Der Bauernwirtschaft naturalwirtschaftliche Experimente empfehlen, heiße ihr einen Rat geben, den sie nicht ohne weiteres befolgen könne. Auch könne man nicht die irrationalen Beweggründe für die Haltung des Bauern seiner Bequemlichkeit oder Trägheit zuschreiben, man könne sie auch deuten aus der Überzeugung daß die alten und durch viele Generationen bewährten Methoden die allein richtigen seien, und die Abweichung davon mindestens mit sehr schwerem Risiko behaftet scheine, wie die gesamte moderne Wirtschaft und Spekulation.

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§ 52 (Kredit des Kapitalismus) 2. Die ehemals durch viele Jahrhunderte gleichsam garantierte durch Gewohnheit von selbst verständlich gewordene Entwicklung des Handwerkers und nach Art des Handwerkers sich ausbildender junger Männer z. B. auch des Handlungsgehilfen und der jungen Landwirte, vom Lehrling zum Gesellen (oder wie sonst er genannt werden möge) und, wenn auch oft erst in ferner Aussicht, zum Meister und Herrn oder zum „Chef“, wird unter diesen Umständen eher zur Ausnahme als zur Regel. Wenn auch in der großen Fabrik ein Aufstieg zum Vorarbeiter und Meister nicht ausgeschlossen ist, so wird doch die soziale Lage des „Proletariers“ dadurch nicht wesentlich verändert, er bleibt eben lebenslänglicher Arbeiter, der von 24

2. Die ehemals: Die Aufzählung beginnt im Manuskript mit 2.

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seinem Lohn abhängig ist, und dieser ist nicht ein gesichertes sondern ein Einkommen, das in jeder Woche oder in jedem Monat der Gefahr ausgesetzt ist, aufzuhören; abgesehen davon daß nicht nur seine Leistung, sondern sein übriges Verhalten innerhalb und außerhalb der Arbeit der fortwährenden Kritik seines Arbeitgebers unterliegt und daß dessen Mißfallen immer über ihm schwebt, sodaß es bei einer gewissen Steigerung ihm verderblich wird. 3. Schlimmer als diese ständige Gefahr ist die periodisch wiederkehrende Abkehr ganzer Massen infolge ungünstiger Märkte, die eine Einschränkung der Produktion oder des Verkehres oder beider zugunsten des Gewinnes der Unternehmung gebieterisch fordern oder doch mittelbar notwendig machen. Die Erkenntnis der Periodizität der wirtschaftlichen Krisen mit ihren zerstörenden und verarmenden Wirkungen bedeutet ein starkes Moment in der allmählich vollkommener gewordenen Entdeckung und Enthüllung des Kapitalismus als der bestimmenden Macht der modernen, ihrem Wesen nach internationalen Gesellschaft; und zwar als negatives Moment, eine bedeutende Schwächung seines solange enorm und unüberwindlich scheinenden Ansehens, insbesondere des Glaubens, der für die öffentliche Meinung sonst so imposanten Größe neuer Werke und der oft ihnen zugrunde liegenden neuen Technik. Wenn nun dieser Minderung seines Kredites gegenüber der Kapitalismus mit gutem Grunde auf die Heilkräfte, die ihm selber inne wohnen, sich berufen und auf die beständigen Wiederherstellungen der Konjunktur, die auch den tiefsten Krisen gefolgt sind, hinweisen kann, so ist ihm andererseits durchaus schädlich der Umstand, daß leicht aus der Krise selber eine politische Veränderung, ja eine Umwälzung hervorgeht und daß die Urheber einer solchen vielleicht vermöge ihrer Unwissenheit und Gedankenlosigkeit in gutem Glauben sich anmaßen, die Urheber solcher günstigen Veränderungen zu sein, die ohne solche schwere Störungen wahrscheinlich leichter und günstiger sich entwickelt hätten; zumal wenn etwa weniger ein guter Glaube als der Wunsch zu täuschen solchen in die Augen fallenden Bemühungen ihre Schwungkraft verleiht. Diese Wirkungen werden umso mehr ins Auge fallen, wenn sie wohl gar in Nachgiebigkeit gegen die immer mehr überhaupt und

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für die öffentliche Meinung: Von Punkt 2 bis „des Glaubens, der für die öffentliche Meinung“ handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem GdN I (§45, S. 113), dessen Inhalt leicht modifiziert wurde.

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insbesondere in der Arbeiterklasse ausgebreiteten Meinungen und Wünsche selber den Kapitalismus anklagen und eben deshalb wohl gar sich selber sozialistisch nennen und etwa dieses Prädikat durch ein für die moralischen Selbstgefühle und die damit immer sich verbindende öffentliche Meinung wohlklingenderes Prädikat ihrer Ausbreitung eine freiere Bahn zu schaffen wissen. Die endliche Wirkung kann dann allerdings heilsam sich erweisen, besonders in der Richtung einer Stärkung des Kapitals durch die Merkmale, die wir als 5. Leitung und Disziplinierung der Arbeit und auch als 6. Erleichterung und Vermehrung des Verkehres bezeichnet haben. Dies Sein wie es heut gepriesen wird, kann dem forschenden Blick leicht als ein Schein sich enthüllen, indem es Wirkungen sind, die in Wahrheit die Ursachen des großen Konfliktes und Kampfes von Kapital und Arbeit verstärken und vermehren, indem eben durch diese Auffrischung des Kapitalismus auch die organisatorischen Kräfte der Arbeit erneuert und erhöht werden, insbesondere auch dadurch, daß ihre Internationalisierung mit der Internationalisierung des Kapitals, also mit der Gestaltung der Weltwirtschaft, zunimmt und fortschreitet, daß also das alte Mahnwort: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ dem so viele Hemmungen immer entgegengestanden haben, bessere Chancen der Erfüllung gewinnt. – Es ist dies ein Naturprozess der zwar vielfache große Verwunderung erregt, aber den Verstehenden nicht wundern kann, da er dem allgemeinen Gesetze folgt, das W. Wundt das Gesetz der Heterogonie der Zwecke genannt hat: eine Bezeichnung die freilich das Verständnis nicht erleichtert, da sie selber der Auslegung bedarf, und diese ist nicht ganz einfach. Denn man steht hier vor einem ungeheuren Problem, dessen Ungeheuerlichkeit in seinen Tiefen zu erkennen, nicht nur ein tiefes Nachdenken und eine gründliche Erfahrung voraussetzt, sondern auch eine spezifische Tätigkeit zur Durchdringung des scheinbaren Verhaltens der sozialen Tatsachen, um zu ihrem wahren Gehalte durchzudringen, erfordert. Diese Fähigkeit ist auch darum außerordentlich selten, weil das wissenschaftliche Studium auf diesem Gebiete im 10 20

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Verkehres bezeichnet haben: Die Punkte 5 und 6 beziehen sich auf die Aufzählung Seite 67. Bessere Chancen der Erfüllung: Das Manifest der Kommunistischen Partei, in dem Marx und Engels bereits große Teile der später als „Marxismus“ bezeichneten Weltanschauung entwickeln, beginnt mit dem heute geflügelten Wort: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ und endet mit dem bekannten Aufruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ der Auslegung bedarf: Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, 5. Aufl., Band 3, Leipzig 1902 – 1903, S. 789.

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Verhältnis zur Größe seiner Aufgaben noch wenig entwickelt ist und immer wieder vielfach durch mehr oder minder flache Redensarten zugedeckt wird, auch abgesehen von schwereren Hemmungen, die ihm ein bewusstes oder heimliches Interesse sozialer oder politischer Herrschaft entgegenwirft. Den ökonomischen Fortschritt leugnen heißt sich zu einer unsinnigen Ansicht bekennen. Ebenso aber ist es absurd, die Möglichkeit ja die Wahrscheinlichkeit eines Verfalles und einer Zerrüttung des ökonomischen Fortschrittes zu leugnen; denn dieser Leugnung gegenüber steht vor allem eine große Masse der historischen Erfahrung, die schon längst gelehrt hat, daß die großen Werke der Kultur regelmäßig in Trümmer sich verwandeln oder verwandelt werden, wenn ihre Zeit gekommen ist; und daß dieser ihr Untergang die Bedingung für ihre Erneuerung in anderer Gestalt zu sein mit gutem Grunde vermutet wird. – Nur in diesem Sinne kann von einer Erneuerung der Gemeinschaft als der Grundlage des sozialen Lebens im Ernste die Rede sein, während die kindliche Meinung, als ob so etwas wie Volksgemeinschaft im Gegensatz zu den offenbaren Tatsachen der Gesellschaft und ihrer Entwicklung durch einige Dekrete und Gesetze geschaffen werden könne an den Tatsachen zerschellt und dadurch immer in Gefahr ist mehr oder minder lächerlich zu werden und gerade auf diesem Gebiete gilt es am meisten, daß die Lächerlichkeit tötet.

§ 53 (Fernere Bedingungen des Fortschritts) 4.-6. (Vermehrung der Arbeitszeit, konzentrierte Leitung und Disziplinierung der Arbeit, Erleichterung und Vermehrung des Verkehrs –) 25

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Diese Bedingungen des Fortschrittes sind zugleich in mehr oder minder ausgesprochener Weise die Elemente der Arbeiterfrage als des Kernes der sozialen Frage überhaupt. Innerhalb der allgemeinen Unzufriedenheit, die von jeher die natürliche Gesinnung der Armen gewesen ist, zumal wenn solche sich schlecht behandelt fühlen und überzeugt sind, daß ihnen Unrecht geschehe, indem sie nicht für ihre Tätigkeit den angemessenen und eine anständige Lebenshaltung möglich machenden Lohn erhalten, erhebt sich das Problem der „Freiheit und Gleichheit“, das durch die Jahrhunderte hindurch immer 21 23

Lächerlichkeit tötet: Eine alte französische Redensart besagt, dass jemand, der nicht mehr ernst genommen wird, in allen Bereichen zum Scheitern verurteilt ist. 4.-6.: Die Punkte 4 bis 6 beziehen sich auf die Aufzählung Seite 67.

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mehr sich in den Vordergrund gerückt hat. Es ist wohl hundertmal behauptet, hundertmal auch bestritten worden; und das eine wie das andere mit guten Gründen. Es wird aber nur richtig verstanden, wenn es als Ausdruck von Tatsachen aufgefasst wird: Diese Tatsachen sind die der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung, d.i. der Entwicklung zur absoluten kommerziellen Gesellschaft hin. Diese Gesellschaft hat ein gewisses Maß von Freiheit und Gleichheit der tätigen Menschen zur Voraussetzung; denn ihre Grundlage ist der Tausch, also die Allgemeinheit der Forderung oder des Anspruchs von jedesmal zwei Seiten und also von jedermann. Freilich ragt in die moderne Gesellschaft ein anderes Element hinein, die Ordnung des Staates, die ihren höchsten und besonderen Ausdruck findet in der Heeresordnung: sei es, daß das Heer auf freier Werbung beruht, also selber durch Verträge sich bildet, sei es, daß auch die Mitwirkung erzwungen wird: in jedem Fall sind die Verhältnisse des Militärs von besonderer Art. Sie kennen Freiheit und Gleichheit nicht, und werden folglich von den dienenden minder gewerteten Gliedern entweder als die lästige Bedingung eines besonderen Arbeitsvertrages in den Kauf genommen oder als eine leidige aber ehrenhafte Pflicht ertragen, und der Eindruck durch die Möglichkeit eines Aufstieges (des Avancements) erleichtert. Umsomehr aber wird die Übertragung des militärischen Wesens in das bürgerliche Leben als eine Last empfunden und verabscheut. Wenn also überhaupt der natürliche Wunsch des Arbeiters dahin geht an der Festsetzung der Bedingungen, unter denen er die Arbeit annimmt, mitzuwirken und sie für sich möglichst günstig zu gestalten, so muß er, je mehr sich durch den Großbetrieb der soziale Abstand zwischen Kapital und Arbeit erweitert, zu dem Bewußtsein gelangen, daß er für sich allein ohnmächtig ist, und wenn er doch genötigt sich weiß, die Arbeit anzunehmen, auch genötigt ist, den vorgeschriebenen Bedingungen sich zu unterwerfen. Anders wird dies durch die Verbindung des einzelnen mit seinesgleichen, seinen Genossen: diese ist daher die große Aufgabe der Arbeiterbewegung und ihre Erfolge sind bedeutend gewesen, so sehr sie auch von den Mächten des Kapitals immer und überall bekämpft und wo immer es möglich ist niedergedrückt werden; es sei denn, daß seine Vertreter in bewußter Erkenntnis den Standpunkt der Freiheit und Gleichheit annehmen, d.i. die Vorteile, die er für die Arbeiterklasse in sich trägt, ihr zu gönnen und zu gewähren, entschlossen sind. Solange als dies nicht vollkommen und allgemein der Fall ist, wird der naturnotwendige Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit auch auf diesen Grundsatz sich beziehen, und folglich mittelbar alle jene Fragen des sozialen Fortschrittes, die eine persönliche Abhängigkeit des Arbeiters in sich schließen, ferner als fragwürdig ablehnen oder doch nicht ruhen lassen. Das letzte dieser Elemente des

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Fortschrittes – das Verkehrswesen – hat dadurch für den Arbeiter, zumal den der Großstadt, seine Bedeutung, daß es immer mehr eine weite Entfernung der Wohnstätte von der Arbeitsstätte zuläßt, die dem Arbeiter in gewisser Hinsicht offenbar erwünscht sein muß, aber wie auch für andere Erwerbstätige den Nachteil in sich hat, die gesamte Zeit, die er dem Erwerbe widmet, zu vermehren; was umso weniger erträglich wird, je länger schon die Arbeitszeit ist, also umso mehr auf deren Verkürzung hindrängt, die überhaupt ein altes längst in seiner Wichtigkeit richtig gewürdigtes Element des Streites zwischen Kapital und Arbeit ist. Zeugnis dessen sind die neuen internationalen Verhandlungen über den 8 Stunden Tag und die Widerstände, die gegen die Ratifizierung der in Washington gefaßten Beschlüsse mehr oder minder in allen Ländern von Seiten des Kapitals geleistet wurden. Was die Ordnung und Disziplin im Betriebe angeht, so liegt ihr Sinn und ihre Notwendigkeit offen zutage, und es ist nicht zu verwundern, daß in der Regel der oder die Leiter des Betriebes ausschließlich ihre Sache darin erblicken, d. h. daß sie die Regeln der Ordnung und Disziplin nach ihrem Gutdünken und im besseren Falle nach ihrer Einsicht in die Anforderungen der Arbeit für sich in Anspruch nehmen. Ebenso natürlich ist jedoch, daß eine Arbeiterschaft die zur Erkenntnis ihres Interesses, d.i. ihrer Freiheit und Gleichheit sich erhoben hat, eine Mitwirkung auch an dieser Seite der Arbeitsbedingungen verlangt und daß tatsächlich in mehreren Ländern schon bedeutende Fortschritte, obschon den Vertretern des Kapitals unwillkommene in dieser Hinsicht gemacht worden sind. Freilich sind gerade diese Veränderungen jenen, d.i. dem Kapital ganz besonders verhaftet, und wie alle diese Streitfragen fortwährend auf die Politik, reflektieren, umsomehr zur Geltung gelangen, je mehr der Natur der Sache nach die politische Macht, der politische Einfluß des Kapitals der Macht und dem Einfluß der Arbeit überlegen ist. Indessen muß dem Beobachter, der etwa die Entwicklung der sozialen Frage in seinem eigenen Lande und etwa auch in einigen anderen Ländern zu übersehen vermag und etwa zu einem größeren Teil erlebt hat, die Wahrnehmung unendlich merkwürdig sein, daß der sogenannte Sozialismus, lange Zeit Gegenstand eines verständnislosen Gelächters oder der ausgelassenen Schmähung und Entrüstung, mehr und mehr nicht nur wie es schon längst war Gegenstand ernster wissenschaftlicher Erörterung und zugleich Gegenstand des Strebens starker Parteien geworden ist, sondern wenigstens dem Namen nach sich „möglich“ gemacht hat, wenn auch teilweise unter anderem Namen, z. B. dem 11

in Washington gefaßten Beschlüsse: Washingtoner Abkommen über die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit von 1919.

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deutschen Worte Planwirtschaft, das schon in andere Länder übergegangen ist, z. B. in die Vereinigten Staaten von Amerika, die als Kolonialland erst verhältnismäßig spät den großen Industriestaaten Europas ebenbürtig, ja sie in manchen Stücken übertreffend zur Seite getreten sind.

Das 5te Kapitel. Soziale Reform und Sozialismus § 54 (Geld und Sozialgeschichte)

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Das Geld – worin die Gesellschaft ihren lebendigen Ausdruck hat – ist von Alters her verrufen und oft verflucht worden, auch vor dem Christentum, von der antiken Gesellschaft als die Scheidemünze ihrer ökonomischen und sittlichen Ordnung (Marx Kapitel I S. 96). Und heute, wo das echte Geld relativ selten ist, ist der Gebrauch für Täuschung und Betrug um so mehr erleichtert und daher unermeßlich häufiger geworden. Kein Wunder daß auch heute noch im Gebrauche des Geldes weite Kreise die Wurzel aller sozialen Übel sehen. Aber der Besitz des Geldes ist in zwiefacher Hinsicht von besonderer Bedeutung, von unbedingtem Werte: 1. indem man frei darüber verfügen kann und nach Belieben darüber verfügt, kann man es auch zu Kapital machen: will sagen, zur Ursache seines eigenen Wachstums, nämlich durch die beiden Methoden des Darlehens und des Handels. 2. Die andere Eigenschaft des Geldes ist, daß beliebige Mengen davon, die einer besitzt mit beliebigen Mengen, die ein anderer und die mehrere andere besitzen, zusammengefügt werden können, sowohl zu dem gewöhnlichen Zwecke des Geldes, Gegenstände zum Gebrauch und Genuß durch Tausch zu erwerben 1

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Das 5te Kapitel. Soziale Reform und Sozialismus: Die Überschrift ist handschriftlich von Ferdinand Tönnies in das Manuskript eingefügt worden. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 319) Das 5te Kapitel ist mit Schreibmaschine erstellt und enthält handschriftliche Korrekturen von Ferdinand Tönnies. Es erstreckt sich von Blatt 319 bis Blatt 342. Die Seiten sind teilweise mit „GdN II“ bzw. „GdN“ links oben in der Ecke handschriftlich gekennzeichnet. Bis auf die Kapitelüberschriften hat Tönnies die Überschriften im Manuskript in runde Klammern gesetzt. Das Paragraphen-Zeichen steht jeweils außerhalb der Klammer. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 319 bis 342) §54 (Geld und Sozialgeschichte): Handschriftlich von Ferdinand Tönnies eingefügt. Ebenso der 1. Absatz. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 319). Aber der Besitz des Geldes: Ab hier (Blatt 319 bis Blatt 328) ist der Text ebenfalls in GdN III vorhanden (Blatt 386 bis Blatt 396). Die Formulierungen weichen allerdings erheblich voneinander ab, sodass die Editoren beide Texte zum Vergleich anbieten. So heißt es z. B. in GdN II „Aber der Besitz des Geldes ist in zwiefacher Hinsicht von besonderer Bedeutung, von unbedingtem Werte“ und in GdN III „Aber der Besitz des Geldes ist in vielfacher Hinsicht von besonderer Bedeutung“.

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als auch zu dem darauf beruhenden, dem des Handels. So wird Geld Gegenstand eines im soziologischen Sinne echten Besitzes und Eigentums. Dieses also teilt mit dem gemeinschaftlichen Eigentum das Merkmal des sozialen Wertes, es steht im Gegensatz zu ihm gemäß dem anderen Verhältnis zwischen Individuum und Mehrheit. Im gemeinschaftlichen Eigentum ist das gemeinsame früher, das Privateigentum beruht darin und folgt aus ihm; im gesellschaftlichen Eigentum ist das Verhältnis umgekehrt: das Privateigentum erhält sich als Anteil innerhalb des sozialen Eigentums, das auch erst durch Zusammenfügen solcher Teile gebildet oder doch als dadurch gebildet gedacht wird. Die Sozialgeschichte wird bezeichnet durch diese Entwicklung vom gemeinschaftlichen zum gesellschaftlichen Eigentum, die wie alle sozialen Entwicklungen mit außerordentlich starken Hemmungen zu kämpfen hat und gegen solche langsam sich durchsetzt. Es ist die Entwicklung des Kapitals in seinen beiden Gestalten, aber als eine besondere und am tiefsten in die bisherigen Gestaltungen des sozialen Lebens eingreifende Art des Handels erscheint erst die kapitalistische Produktion, deren epochemachende Bedeutung sie zum wichtigsten Gegenstande des Studiums und der Kritik gemacht hat. Die Entwicklung ist also eine Eroberung. Das Kapital ist schließlich von Sieg zu Sieg fortgeschritten. Eine soziale Verfassung, in der es keine oder eine geringe Rolle spielte, hat sich innerhalb und unterhalb dieser Entwicklung erhalten, ist aber durchaus überwunden worden. Dies ist es, was in großen Zügen, aber auch mit tiefgehenden Einzelausführungen, nach dem bahnbrechenden Werk von Karl Marx, sein Jünger Werner Sombart als den modernen Kapitalismus geschildert hat – ein Prozeß, dessen Keime schon im Städteleben der letzten Jahrhunderte des vorausgehenden Zeitalters, das wir Mittelalter nennen, gelegt waren, dessen enorme Fortschritte und Erschütterungen dann die neueren Jahrhunderte immer mehr erfüllen, bis sie erst in unsern Tagen zu ihrer Vollendung gelangt sind. Der Prozeß ist mit Recht als ein großer Befreiungskampf gedeutet und gefeiert worden. In erster Linie ist es eben die Befreiung des Privateigentums, die so ungeheure Wirkung ausgelöst hat. Seiner Natur nach war immer das Eigentum an Geld das freieste, also das Eigentum des Kaufmanns, ob er nun 5 26

Individuum und Mehrheit: Siehe dazu: Ferdinand Tönnies, Einführung in die Soziologie, 3. Buch: Soziale Werte, Kiel 1931, S. 133 ff. modernen Kapitalismus: Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, 2 Bde., Leipzig 1902 (+ 2. neu bearb. Aufl., 2 Bde./3. Bde., München, Leipzig 1916 – 1917).

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Waren eingekauft hat, um durch Verkauf derselben, seien sie unverändert oder vermischt oder anderen Veränderungen unterworfen, zu seinem Vorteile zu verkaufen; oder möge er als Geldhändler eine Geldsorte gegen eine andere eintauschen, möge er Geld gegen die Aussicht mehr Geld zu erhalten, ausleihen, oder möge er endlich statt fertige Waren sich einzukaufen, selber ihre Herstellung veranlassen und etwa auch unterstützen – die einfachste Form der kapitalistischen Produktion. Zu allen diesen Zwecken können auch Menschen beliebig sich verbinden, Compagnien bilden und Handelsgesellschaften begründen. Der Handel hängt aufs engste mit dem Verkehr zusammen, zumal als Warenhandel, d.i. mit Überwindung der Schranken, die von Natur, zuweilen auch gemäß menschlichem Willen und seiner Arbeit zwischen den Plätzen der bewohnten Erde vorhanden sind; daher sind auch die natürlichen Straßen und zwar vor allem die Wasserstraßen, zunächst die der Flüsse, sofern sie schiffbar sind, alsdann der Landseen, ferner der Binnenmeere, endlich der Ozeane, Fahrstraßen, auf denen der Handel am leichtesten fortschreitet, und zugleich, weil es nicht jedermanns Sache ist, auf solchen mehr oder minder gefährlichen Straßen sich zu bewegen, die günstigsten Chancen hat, Ziele zu erreichen, deren Erreichung dem Unternehmer dadurch einen Vorzug verleiht, daß er keine oder wenige Mitbewerber hat. Denn die natürlichen Landwege sind knapp und gering, am günstigsten und dankbarsten als Gebirgspfade, die aus einer Gegend in eine andere, fremde durch das Gebirge sonst getrennte Gegend führen, wie es zum guten Teile auch der Vorzug des Wassers ist. Landstraßen müssen erst gebaut werden, und diese Bauten unterliegen großen Schwierigkeiten, haben daher eine lange Geschichte, bis sie stark und fest dem Unwetter trotzen, und bis endlich neben ihnen Schienenwege gebaut werden. Wege durch die Luft sind weder von Natur vorhanden noch künstlich zu machen, sie sind ganz und gar durch das Fahrzeug bedingt, dessen Entwicklung erst in jüngster Zeit begonnen und für den Handel bisher noch keine erhebliche Bedeutung gewonnen hat. – Alle Entwicklungen des Verkehrs sind wie die des Handels Ergebnisse ungeheurer Anstrengungen, die im Laufe von 4 Jahrhunderten stetig sich vermehrt, und von Europa aus über die ganze Ökumene sich verbreitet, ja gerade in gewissen Kolonialgebieten eine gewaltige Steigerung erfahren haben. In allen diesen Vermehrungen und Verstärkungen des Handels und des Verkehres ist naturgemäß das Kapital unablässig tätig gewesen, z. T. aus der Urheberschaft einzelner Personen, aber zum größten Teil als associiertes gesellschaftliches Kapital. Alle diese Fortschritte sind durch die Befreiung des Privateigentums erzielt worden.

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§ 55 (Die Freiheit des Eigentums) Die Freiheit des Eigentums ist ein wesentliches Stück allgemeiner menschlicher Freiheit, die als Freiheit der Person in ihren mannigfachen Auswirkungen als Freizügigkeit, Wanderfreiheit, insbesondere Freiheit der Ein- und Auswanderung, als Religions- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Eheschließung und der persönlichen Gesellung überhaupt, von der wissenschaftlichen und philosophischen Denkungsart des Zeitalters getragen, Postulate der Öffentlichen Meinung geworden sind. Alle diese Freiheiten wurden zusammen mit der Freiheit des Eigentums als notwendige Lebensbedingungen gedacht, die es ermöglichen würden, für jeden vernünftigen und rechtschaffenen Mann – die Frauen wurden mitgedacht, insofern sie den Männern sich in diesen Beziehungen anähnlichen würden – auch wirtschaftlich sich zu erhalten und fortschreitend sich zu entwickeln. Die Freiheit des Eigentums wurde auch nicht nur als die des Handels, also des Kapitals verstanden, sondern vor allem auch als die des Grundeigentums, und sollte jedem freien Eigentümer eines wenn auch noch so bescheidenen Grundstückes zugute kommen; folglich auch die Bewegung der Güter zum „besten Wirt“ begünstigen. Die eigentliche soziale Macht aber, die hinter dieser gesamten Ideologie wirksam war, und sie zwar nicht ausschließlich bestimmte, aber doch wesentlich förderte, war eben das Kapital, auch wenn es rein unpersönlich gedacht wird. Aber als die Interessenten und Nutznießer dieser Freiheiten [sind] die Eigentümer oder Kapitalisten [anzusehen], und dies tritt mit der fortschreitenden Entwicklung immer mehr dadurch zutage, daß eine immer größer werdende Menge des gesamten Volkes in einem Lande alles Besitzes, namentlich alles Anteils am Kapital und Grund und Boden ledig wird, weil sie keinen solchen Anteil weder durch Erbschaft noch durch kapitalistisches Geschäft zu erwerben vermag, während das große Eigentum an Boden und Kapital auf beiden Wegen in den Händen einer verhältnismäßig kleinen 1

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Die Freiheit des Eigentums: Handschriftlich von Ferdinand Tönnies eingefügt; die Teile, die das Eigentum betreffen, sind abgeleitet aus „Das Eigentum“ von Ferdinand Tönnies, erschienen in „Soziologie und Sozialphilosophie“, Schriften der soziologischen Gesellschaft in Wien, Leipzig und Wien 1926 (DSN 675). besten Wirt: Vor allem Friedrich August von Hayek hat darauf hingewiesen, dass sich die Aufgabe einer Wirtschaftsordnung nicht in der Allokation erschöpft. Es genügt für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes also nicht, dass die knappen Güter zum „besten Wirt“ wandern. Friedrich August von Hayek, Geldtheorie und Konjunkturtheorie. Wien und Leipzig 1929.

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Minderheit sich sammelt. So wird das Privateigentum ein Mittel der Herrschaft über die große Menge derer, die ihre Arbeitskraft oder geistige Leistungsfähigkeit darbieten müssen, um ihren Lebensunterhalt und einen Anteil an den Gütern und Genüssen, die sie selber hervorbringen, zu erhalten. So entwickeln sich die beiden einander entgegengesetzten Ansichten des Privateigentums. Die eine sieht es im Lichte der Freiheit, die für natürlich und vernünftig gehalten wird, mit Einschluß der Freiheit des Wettbewerbs, und läßt den Erfolg in Gestalt eines wachsenden Reichtums ohne Grenzen, sofern aller Erwerb innerhalb der förmlichen Grenzen des Rechtes geschieht, als unanfechtbar und in dem Sinne als Eigentum gelten, wie überhaupt Rechte erworben werden, zugleich aber behauptet sie auch, die vollkommene ökonomische Zweckmäßigkeit des kapitalistischen Systemes, innerhalb dessen so die Leistung der Klugheit in Verwaltung des Bodens und des realen Kapitals ihre Krönung empfange, das Wagnis seine Prämie, und im ganzen vermöge dieser Leistungen und Wagnisse die beste überhaupt mögliche Ordnung des wirtschaftlichen Zusammenlebens sich ergebe, die beste weil die gerechteste. – Die andere Ansicht leugnet alle Voraussetzungen dieser Gedankenfolge. Sie erklärt es für unnatürlich, daß Arbeitskräfte und Arbeitsmittel voneinander getrennt seien, daß die Privateigentümer über die Arbeitsmittel verfügen können für ihren eigenen Nutzen, also um Gewinne zu erzielen und eben diese Herrschaft immer mehr zu erweitern, wenn es ihnen möglich ist, Arbeitskräfte zu diesem Zwecke in ihre Gewalt zu bekommen, und diese mit einem so sehr als möglich zu beschränkenden Anteil an der Gesamtheit der Produkte – dem „Sozialprodukt“ – abzufinden, auf Grund dessen sie in der Lage sind, sich fortzupflanzen, ohne daß sie aber mehr als eine geringe Chance gewinnen, an der Verfügung über die Arbeitsmittel einen Anteil zu erhalten. Unter diesem Gesichtspunkte nennt man alsdann alles Einkommen das in Gestalt von Grundrente, Zinsen, Unternehmergewinn und Profit des Handels aus einer Volkswirtschaft dem Privateigentum zufließt arbeitsloses Einkommen, und im moralischen Sinne unverdienten wenn auch rechtmäßig angeeigneten Mehrwert. Diese Ansicht beruft sich darauf, daß nur ein gegebenes gesetzliches und positives Recht eine solche Verteilung der Güter bewirke und möglich erhalte, dieses Recht aber sei nicht das natürliche Recht, also nicht das moralisch gerechtfertigte Recht, sondern es beruhe nur in der tatsächlichen Macht und Gewalt der Privateigentümer selbst, die ihre Herrschaft als die des Staates darstellen und befestigen. Es ergebe sich also der Widerspruch, daß die Privateigentümer selber eine Ordnung als notwendig und

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natürlich verkünden und erhalten, die sie ideell zu ihrem Nutzen gemacht haben, obwohl es offenbar sei, daß andere Kräfte und Interessen eine andere Ordnung zu schaffen fähig seien, und diese mit mehr Recht als natürlich und notwendig behaupten könnten, wenn sie zu dieser Erkenntnis gelangt wären und als die Mehrheit im Volke ebenfalls im Stande sein müßten, ihren Willen durchzusetzen und der geringen Minderheit aufzuzwingen. Offenbar bewegt sich in der Richtung dieses Gedankenganges seit bald 100 Jahren und allmählich mit der zunehmenden Beschleunigung des freien Falles wachsend, die Entwicklung des politischen Lebens in Europa und darüber hinaus. Die demokratische Gestaltung der Staaten muß diesem Gedankengange zu gute kommen, sofern nicht andere Momente, die mit dem politischen Fortschritt einher gehen, in entgegengesetzter Wirkung, also hemmend wirken. Und dies ist allerdings in hohem Maße der Fall. Zunächst verhüllen viele Elemente die wahre Gestalt der Dinge, vor allem die Tradition, und die hergebrachten, zumeist durch religiösen Glauben mitbedingten Meinungen. Auch darauf, und unmittelbar, erhält sich Einfluß und Autorität der besitzenden Klassen als derer, die in der Regel auch die am meisten wissenden oder gebildeten sind, [und auch] Gedanken wissenschaftlicher Art und ihre Träger in diesem ihnen so nahe liegenden Gebiete. Hinzu kommt eine begründete Furcht vor den Folgen einer großen Veränderung in den Grundlagen des wirtschaftlichen Lebens und die ebenso begründete Sorge, daß die starken Motive der Not auf der einen, des Strebens nach Besitz und Vermehrung des Reichtums auf der anderen Seite, nicht hinlänglich und nicht rasch genug ersetzt werden können durch Motive des Pflichtgefühls der Menschen oder durch Vaterlandsliebe und Restauration von Gemeinschaft, die seit Hunderten von Jahren minder wahrscheinlich geworden ist, und der auch die äußere Entfremdung der Menschen voneinander und von ihrer Heimat entgegenwirkt. Die Kräfte der Erhaltung haben in diesem Gebiete eine überwältigende Macht, [eine] viel stärkere als in dem rein politischen und sogar als in dem des Glaubens und der Weltanschauung. Sie enthalten auch große Reste des gemeinschaftlichen Fühlens und Denkens, die also den gesellschaftlichen Motiven, die in einer neuen Ordnung mit enthalten sein müßten, sich entgegensetzen. Unter den Theoretikern des Eigentums hat mehr und mehr die Überzeugung sich festgesetzt, daß die hergebrachten naturrechtlichen Begründungen, soweit sie in ihrem Sinne überhaupt noch gelten können, auf die höchst entwickelten Eigentumsverhältnisse der heutigen Gesellschaft nicht anwendbar sind. Dies läßt sich insbesondere von der sogenannten Arbeitstheorie sagen, die das Privateigentum auf das unmittelbare Verhältnis

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des Menschen zu seinem Werke, also zu dem was er seiner Arbeit verdankt, ableitet. Sie ist allerdings auch auf die heutige Eigentumsordnung anwendbar, insofern als diese, in Konflikt mit den Lehren der Juristen, ein geistiges Eigentum behauptet, als Eigentum an Schriften, Kunstwerken, Erfindungen und ausgesprochenen Gedanken anderer Art. Wenn das geistige Eigentum als ein Erzeugnis des positiven Rechtes gedeutet wird, so ist dies nur ein Korrelat der allgemeinen These, daß das bestehende Eigentum überhaupt nicht naturrechtlich, sondern nur positiv rechtlich begründbar ist, also prinzipiell der Veränderung durch Gesetzgebung anheim gegeben werden muß. In der Praxis bewährt sich diese „Legaltheorie“, wie Adolph Wagner sie nennt, in mannigfacher Weise, am stärksten durch die Enteignung, die längst als eine mögliche und unter Umständen notwendige Beschränkung oder schlechthin als Aufhebung des Privateigentums, insbesondere an Grundstücken anerkannt worden ist. Lebhaft nachgewirkt hat in dieser Hinsicht die liberale sonst dem Privateigentum günstige Denkungsart durch ihre überlieferten Gegensätze gegen den Feudalismus und das große Bodeneigentum, zumal gegen die Anhäufung des Besitzes großer Landgüter zu Latifundien, in den Händen weniger Herren – einer Anhäufung, die ehemals in Preußen und anderen deutschen Staaten, sogar durch Privilegierung der Fideikommisbildungen begünstigt worden ist. Demgegenüber hat Art. 155 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 die Verteilung und Nutzung des Bodens der Wachsamkeit des Staates unterstellt, und die neuen Grundsätze festgelegt, die Auflösung aller Fideikommisse, unter Zulässigkeit von Enteignung solchen Grundbesitzes heischen, dessen Erwerb zur Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, zur Förderung der Siedlung und Urbarmachung, oder zur Hebung der Landwirtschaft notwendig sei. Im Zusammenhange damit hat auch das von der Verfassung in der deutschen Nationalversammlung vom 11. August 1919 beschlossene Reichssiedelungsgesetz – die schon am 29. Januar erlassene Siedelungsordnung bestätigt 10

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In der Praxis bewährt: Die Legaltheorie ist eine weitere Theorie zu der Frage der ursprünglichen Entstehung von Eigentum. Die Legaltheorie geht davon aus, dass Eigentum durch die staatliche Rechtsordnung geschaffen wird. Vertreter u. a.: Hobbes, Montesquieu, Bentham, und Stammler. insbesondere an Grundstücken: Adolph Wagner, Allgemeine oder theoretische Volkswirthschaftslehre. Erster Theil. Grundlegung, Leipzig und Heidelberg 1876, S. 431 ff. Fideikommisbildungen: Das Fideikommiss war eine Einrichtung des Erb- und Sachenrechts, wonach durch Stiftung das Vermögen einer Familie, meist Grundbesitz, auf ewig geschlossen erhalten werden sollte und immer nur ein Familienmitglied allein, der Fideikommissbesitzer, das Nießbrauchsrecht innehatte.

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und erweitert, auch die Bundesstaaten verpflichtet, neue Ansiedelungen zu schaffen, und hat zu diesem Behuf nicht nur den Siedelungsunternehmen ein Vorkaufsrecht verliehen, sondern auch mit Hilfe von Enteignung die Erwerbung besiedelungsfähiger großer Güter durch die sogenannten Landlieferungsverbände als Aufgabe hingestellt, namentlich solcher Güter 1. die während des Krieges von Nicht-Landwirten erworben waren, 2. walzender Güter, die während der letzten 20 Jahre den Besitzer mehrmals gewechselt haben und 3. besonders schlecht bewirtschafteter, 4. solche die in Abwesenheit der Eigentümer bewirtschaftet werden, 5. endlich solcher die zu Besitzungen von ungewöhnlich großem Umfange, eben zu Latifundien gehören. – Es ist hiermit ein großer, ja entscheidender Schritt geschehen, wenn auch der Fortgang der Wege einstweilen durch die allgemeine Tendenz, in jener Richtung geschehene oder geplante Veränderungen zurückzudrängen und zurückzuwerfen, stark gehemmt worden ist und noch gehemmt wird. In nicht ferner Zeit wird das Prinzip der Enteignung aus sozialpolitischen Gründen, wie Wagner es genannt hat, wieder aufleben und sich durchsetzen, um als 4. Hauptgebiet des Enteignungsrechtes noch für längere Zeit, als jener gründliche Denker am Ende des vorigen Jahrhunderts für wahrscheinlich erklärte, sich [zu] erweitern. Und doch hatte schon Wagner es für ebenso berechtigt erklärt als es in einem der älteren Fälle gewesen sei, wo es generell zur Anwendung gekommen ist, z. B. in agrarischen und gewerblichen Entlastungen und Ablösungen.

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Die vorausgehenden Erörterungen sind aus einer Zusammenfassung der Entwicklung gedacht worden, die sich über einen Zeitraum von vier Jahrhunderten erstreckt und vorwiegend eine Verstärkung der gleichen Tendenzen aufweist, wenngleich diese in mancher Hinsicht eine verschiedene Gestalt dargestellt haben. Es ist dabei nicht vergessen worden, daß neben den fortwährenden Hemmungen, denen diese Entwicklung durch das Widerstreben der hergebrachten und älteren Ordnungen, auch im Recht und in der Moral[, ausgesetzt waren] – Widerständen, die nie geruht haben und wenn auch stark modifiziert bis in unsere Tage und in allen betroffenen Ländern fortdauern – daß außer diesen Widerständen ganz neue und anders geartete Widerstände wenn auch vielfach in Fühlung mit jenen früheren sich gebildet und teilweise sogar in siegreich gewordenen Verfassungs- und Rechtsformen sich niedergeschlagen haben: dies ist im allgemeinen der Charakter der Arbeiterbewegung und ihres Sozialismus, der nicht wie jene anderen Ideen, obwohl er manche Berührungen mit ihnen hat, in den alten Herrschaftsgewalten, also den ehemals herrschenden Ständen und deren Überlieferungen oder Ansichten und Ideen, sondern zum weit überwiegenden Teile in der neuen großen Schicht, die sich selber gern das Proletariat nennt und schon durch ihre immer wachsende Zahl in allen beteiligten Ländern, besonders der großen Industrie durch ihre Organisationen eine große Macht entfaltet hat; mithin auch in deren Denkungsart und in ihren Willenstendenzen beruht. Ihre Denkungsart ist nun keineswegs in ihrem hauptsächlichen Inhalt eine Verjüngung jener älteren traditionellen und zum guten Teil gemeinschaftlich bedingten Denkungsart, sondern entwickelt sich vielmehr unmittelbar aus der inzwischen emporgekommenen und stark gewordenen Denkungsart, die für die gleichfalls junge Schicht des Kapitalismus charakteristisch ist, welche mit dem französischen Worte Bourgeoisie abgestempelt ist, obschon dies seinem Ursprunge nach allgemein das städtische Bürgertum, also mithin selten das Kleinbürgertum bezeichnet. Diese Entwicklung wird völlig verkannt, wenn die Öffentliche Meinung gerade neuerdings die Tatsache dieser Entwicklung dahin deutet, als ob kein we1

§ 56 (Krise des Liberalismus): Der irrtümlich von Ferdinand Tönnies per Hand eingefügte §55 müsste der Reihenfolge nach der §56 sein. Bis auf die Kapitelüberschriften hat Tönnies die Überschriften im Manuskript in runde Klammern gesetzt. Das Paragraphen-Zeichen steht jeweils außerhalb der Klammer. Da Tönnies im Manuskript diesen Paragraphen auf einer neuen Seite (auch auf neuem Blatt) beginnt, hat der Editor das übernommen. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 329 bis Blatt 334).

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sentlicher Unterschied zwischen der einen und der andern Tendenz vorhanden wäre, als ob m.a.W. liberal und sozialistisch gleichartige Blüten desselben „individualistischen“ Baumes wären: dies ist eine Deutung, die ihre Wurzeln in den Resten einer alten und nur noch in Überresten lebendigen Auffassung hat, die im allgemeinen den ständisch bedingten Konservativismus zur Wurzel hat und in der Regel in der politischen Romantik ihren Niederschlag findet – diese aber kann in der wirklichen Politik nur verwirrend wirken. Vielmehr ist die Negation des Liberalismus durch den Sozialismus, sogar wenn dieser sich wie z. B. bei Adolf Wagner in ein konservatives Gewand hüllt, radikaler als der alt herkömmliche Gegensatz zwischen der konservativen und der liberalen Gedankenwelt, nachdem jene mehr und mehr nachgiebig und mürbe geworden ist, sodaß sie ihre eigentümliche Schärfe eingebüßt hat, wie dies vielleicht am deutlichsten in der politischen Haltung der deutschen Zentrumspartei und der ihr angegliederten Bayerischen Volkspartei erkennbar war: was freilich auch damit zusammenhängt, daß die alte Kirche aus der die Weltanschauung dieser Parteien hervorgegangen ist, immer eine starke Portion des Liberalismus in sich getragen hat, weil sie in erster Linie Freiheit der Kirche verlangen mußte, also diese gegen den Staat zu behaupten als eine ständige Aufgabe vor sich sah. Es kommt hinzu, daß gerade in dem wichtigsten Postulat der Handelsfreiheit das Interesse der Landwirtschaft insbesondere der Großbetriebe, die der Natur der Sache nach vorzugsweise dem Adel und anderen großen Herren angelegen waren, mit dem durchgehenden Interesse des Kapitals, das freilich am entschiedensten aber auch vielfach am meisten erfolgreich, als das spezifische Interesse der eigentlichen Handelsklasse, mit Einschluß etwa des Bankwesens als der Welthandelsklasse zur Geltung kam, zusammentraf: dies Zusammentreffen hat bekanntlich seinen klassischen Ausdruck im Physiokratismus gefunden, dem Adam Smith und seine Schule lediglich sich anzuschließen nötig hatten. Aber gerade in den neuen Ländern, die wir im allgemeinen als Kolonialländer verstehen, wirkt diese natürliche Verbindung noch in bedeutender Weise nach, was auch daraus zu erklären sein mag, daß eben in diesen Ländern die älteren konservativen Tendenzen und 28

Physiokratismus: Physiokratie ist eine von François Quesnay im Zeitalter der Aufklärung begründete ökonomische Schule mit der Annahme, nach welcher allein die Natur Werte hervorbrächte, der Grund und Boden der einzige Ursprung des Reichtums eines Landes sei. Auf die Wirtschaftspolitik des absolutistischen Frankreich hatten die Physiokraten zwar keinen großen Einfluss, dafür aber auf die späteren Theorien von Adam Smith, der während eines Aufenthalts in Paris 1764 – 1766 Kontakt zu den Physiokraten hatte.

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Mächte ihrer Natur nach schwach sind, während hingegen umsomehr das Bild des Liberalismus in der Politik dieser Länder einheitlich und stark sich ausgebildet hat und beharrt. Diese Gestaltung gehört zu den Voraussetzungen jeder richtigen Erkenntnis der gegenwärtigen Zustände und der neuen Elemente in ihrer Entwicklung. Indessen sind alle diese neuen Staaten denen die der ältesten Länder des Orientes guten Teiles sich anzuschließen geneigt und bereit sind, wesentlich einmütig geblieben in ihrer Schätzung der Freiheit – der bürgerlichen und der diese mitbedingenden politischen Freiheit, die auch als Summe der bürgerlichen Ehrenrechte gilt – als der notwendigen Grundlage eines Zusammenlebens und Zusammenwirkens in dem großen Stile, den die Weltverhältnisse offenbar notwendig machen, den auch der neue Völkerbund in Anspruch zu nehmen scheint. Gleichwohl ist es sehr merkwürdig, wie eine Gegenbewegung gegen diese Prinzipien gerade in ihrer Hochburg, den Vereinigten Staaten Amerikas zur Geltung gekommen ist, soweit diese bisher sich beobachten läßt. Denn es handelt sich zunächst um die Aktion eines Präsidenten der Union und es ist schon lange merkwürdig gewesen, daß die Kompetenz dieses Amtes nicht unerheblich über die der bisherigen europäischen Monarchen hinausging. Freilich bezog diese Politik sich wesentlich und nach dem Gesetze der Arbeitsteilung auch unter den politischen Funktionen, auf die Exekutive, und zwar beschränkte sich der ausgedehnte Gebrauch, den das Präsidium davon unangefochten machte, auf die auswärtige Politik; dagegen ist nun das neue an dem „New Deal“, daß er sich durchaus auf die innere Politik bezieht und hier allerdings als etwas schlechthin Neues erscheinen muß. Denn bisher kannte die Union als Reich keine Sozialpolitik und verschmähte sie grundsätzlich. Freilich war sie den Einzelstaaten freigegeben, und diese gingen in ihr weiter, wenn sie industriell schon eine hohe Entwicklung aufwiesen wie Massachusetts. Diese Gesetzgebung der Einzelstaaten stand überdies immer unter der Gefahr des Richtschwertes der Justiz: denn das höchste Gericht hat tatsächlich für eine Reihe von Staaten die Bestimmungen solcher Gesetze außer Kraft gesetzt, weil sie nach dem Urteil des höchsten Gerichtes die natürliche und garantierte Freiheit des amerikanischen Bürgers angriffen oder doch gefährdeten. Und damit begegnete sich das Urteil der öffentlichen Meinung, sofern die besitzenden und gebildeten Schichten deren Träger sind, daß solche Ge23

New Deal: Der New Deal war eine Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen, die in den Jahren 1933 bis 1938 unter US-Präsident Franklin Delano Roosevelt als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise durchgesetzt wurden.

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setzgebung schädlich sei, weil sie eben der Selbständigkeit und Freiheit des Geschäftsmannes also auch seiner moralischen Verantwortlichkeit entgegen sei. Charakteristisch für diese Kritik pflegte noch vor kurzem das Urteil zu sein, daß es sich um eine väterliche (paternale) Gesetzgebung handele, also um eine Bevormundung, die der freie Bürger sich nicht gefallen lassen dürfe. Es ist mir nicht bekannt, wie weit und wie oft dieses Urteil heute noch vernehmbar wird, angesichts des „New Deal“; ich vermute aber, daß es sehr viel stiller geworden ist und nur noch in vertrauten Zirkeln laut wird, während es bisher gerade dem Ausländer gegenüber trotzig sich behauptete. Immerhin darf man nicht außer Acht lassen, daß durch eine neue Präsidentenwahl auch die Geltung des „New Deal“ rasch wieder zunichte werden kann, und daß die Bedeutung der Präsidentenwahl in diesem Sinne sicherlich nicht geringer geworden ist. Man darf daher einstweilen sagen, der Ausgang dieser Kontroverse sei ungewiß: obgleich die Arbeiterbewegung in ihrem sozialistischen Charakter politisch und moralisch in hohem Grade angewachsen ist, sodaß auch dem Marxismus ein gründliches Studium zuteil wird und die Beobachtung des Großen Experimentes im östlichsten Reiche Europas wohl nirgendwo so intensiv gepflegt wird wie in den Vereinigten Staaten Amerikas. Es ist mehr als ein Zufall, daß diese Entwicklung, obgleich sie dort einstweilen mehr bedeutet als den Durchbruch dessen, was in den europäischen Ländern, besonders den deutschen, Jahrzehnte hindurch seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit großen theoretischen Mitteln und mit allem Eifer durch die Gruppen von Gelehrten, die zuerst unter dem Namen der „Kathedersozialisten“ bekannt und sanft beschrieen wurden, erstrebt worden ist. Heute ist es auch in Deutschland still davon geworden und zwar durch eine Einschränkung der politischen Freiheit, die in anderen Ländern, nicht am wenigsten in den Vereinigten Staaten, mit Mißfallen betrachtet wird; 13 25

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nicht geringer geworden ist: Ferdinand Tönnies hat den Satz ab „Immerhin“ am Rand mit einem Strich markiert (Blatt 333). Kathedersozialisten: Mit dem Ausdruck Kathedersozialismus hat der Rechtswissenschaftler und liberale Politiker Heinrich Bernhard Oppenheim zuerst in einem Artikel der Nationalzeitung vom 7. Dezember 1871, dann in seiner 1872 erschienenen Schrift „Kathedersozialismus“ die Professoren der Nationalökonomie polemisch charakterisiert, die sich seinerzeit vehement für eine staatliche Sozialpolitik einsetzten. Siehe auch: Heinrich Bernhard Oppenheim, Kathedersozialismus, Berlin 1872. Heute ist: Ferdinand Tönnies hat den Satz ab „Heute ist“ am Rand mit einem Strich markiert (Blatt 334).

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aber dies ist Gegenstand von Tageskämpfen, die noch nicht abgeschlossen sind weil sie noch kaum begonnen haben. Und so muß unser abschließendes Urteil dahin gehen, daß die Bewegung in Amerika zunächst nur die Bedeutung hat, den Anschluß des großen Kolonialreiches an die europäische innere Politik anzukündigen: ein Anschluß, der vielleicht sogar dahin wirken kann, auch in Ländern wie Italien und dem Deutschen Reiche die Verhältnisse wieder herzustellen, die bisher einer positiven und arbeiterfreundlichen Sozialpolitik günstiger zu sein schienen als sie es in andern Ländern offenbar waren. Sodaß vermutet werden kann, es werde der Lauf der Dinge in den alten europäischen Ländern übrigens nicht in wesentlichen Stücken verändert werden, und es werde vielleicht, was bis zur Stunde als eine ungeheure Neuerung sich darstellt, später als eine nicht sehr bedeutende Episode erscheinen, wenngleich die Erwartungen davon, wie sie in weiten Kreisen gehegt werden, noch so weit gehen mögen und wiederum anderen Urteilenden als ausschweifend erscheinen.

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§ 57 (Der Sozialismus) Der Sozialismus hat in der Tat enorme Fortschritte gemacht, als deren unmittelbare Ursache man die Erschütterungen des Bewußtseins in allen Klassen ansehen muß, die der Weltkrieg hervorgebracht und hinterlassen hat. Wenn auch die Bewegung sich allen Ländern mitteilt und gerade durch ihre Ausdehnung auf das zuvor ihr noch so fremde Amerika am merkwürdigsten ist, so zeigen sich doch von den großen Staaten Großbritannien und das Deutsche Reich als diejenigen, in denen die politische Bedeutung am stärksten zur Geltung gelangt ist. Dennoch wäre es ein großer Irrtum, darin einen entscheidenden Sieg der sozialistisch gesinnten Arbeiterparteien zu erblicken. Freilich haben sie allen Grund, ihre Beteiligung an der Regierung, deren förmliche Leitung sie sogar in England gewonnen haben, als einen Erfolg für sich zu buchen; aber die Deutung wäre richtiger, hierin eine kluge Betätigung und Politik des Kapitalismus zu erblicken, der seiner schließlichen Überlegenheit sich noch sicher fühlt, wie in der neuesten deutschen Entwicklung dies noch weit stärker dadurch hervortritt, daß die kapitalistisch gerichtete und gesinnte Gegenrevolution sogar den Sozialismus in ihren Namen aufgenommen hat und durch agitatorische Geschicklichkeit erreicht, daß dieser Schein in den weitesten Kreisen als Wirklichkeit empfangen und anerkannt wird. In Wirklichkeit ist eine Entwicklung durch diesen erfolgreichen Gegenstoß unterbrochen worden, die nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den skandinavischen Ländern ihre Parallele hatte und eine solche auch in Frankreich wahrscheinlich bald finden wird. Diese Entwicklung enthielt in sich eine Vereinigung und damit darf man sagen, eine Aussöhnung von Elementen, die einander bis dahin feindlich gewappnet gegenübergestanden hatten. Um zu verstehen, daß dies ein Erfolg des Sozialismus bedeutete, muß man darüber zur Klarheit gelangen, 1

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§ 57 (Der Sozialismus): Ferdinand Tönnies hat den § 56 handschriftlich eingefügt, siehe dazu Bemerkungen zu § 56 Fußnote S. 99. Der § 57 geht bis zum Blatt 342. Links oben in der Ecke steht jeweils handschriftlich „GdN II“. Der Text ist mit Schreibmaschine erstellt und mit Korrekturen und Anpassungen von Ferdinand Tönnies versehen. Bis auf die Kapitelüberschriften hat Tönnies die Überschriften im Manuskript in runde Klammern gesetzt. Das Paragraphen-Zeichen steht jeweils außerhalb der Klammer. Da Tönnies im Manuskript diesen Paragraphen auf einer neuen Seite (auch auf neuem Blatt) beginnt, hat der Editor das übernommen. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 335 bis Blatt 342). Geschicklichkeit: Ferdinand Tönnies hat die Zeilen, die mit „daß die kapitalistisch“ (Zeile 16) beginnen durch einen Strich markiert (Blatt 335).

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was man unter Sozialismus verstehen will, denn darüber herrscht durchaus Ungewißheit und Unklarheit. Wenn man unter entwicklungstheoretischem Gesichtspunkt die politischen Vorgänge ermißt, so wird man zu der Überzeugung gelangen, daß alle starken und drängenden Elemente der Neuzeit, die im 19. Jahrhundert, großenteils noch unter der Hülle des Liberalismus, so stark auch dieser entgegen gerichtet schien, erwachsen waren, einhellig in die Richtung des Sozialismus weisen; auch solche, denen darum zu tun war und ist, die Wirkungen des Liberalismus auf die geistige Kultur, also auch auf die Religion einzudämmen, also wo diese schon mächtig geworden waren, zu bekämpfen. Die aber doch in der Förderung der Arbeiterbewegung, sofern diese erwünschte und erreichbare Ziele sich gesetzt hatte, die aber deutlich dem unbeschränkten Kapitalismus zuwider waren, ihre natürliche Aufgabe erblickten. Das Zusammengehen des Zentrums mit der Sozialdemokratie ist in Deutschland vielleicht die auffallendste Erscheinung des politischen Lebens in neuerer Zeit gewesen, hat aber ihre Analogie in der gegenwärtig (1934) noch beharrenden Koalition der britischen Konservativen Partei, mit der Arbeiter-Partei, die sich als die eigentlich regierende darstellt: denn ihr alter Parteiführer hat die bedeutende Stellung des Prime Minister. In der Tat wird man in soziologischer Betrachtung als sozialistisch, d. h. auf den Sozialismus abzielend alle Tendenzen verstehen müssen, die das kapitalistische Übergewicht in der Gesellschaft und im Staate verneinen und ihm Eintrag zu tun beflissen sind. In dieser Tendenz aber sind aus dem Liberalismus selber so gut wie aus den konservativen Richtungen starke Strömungen hervorgegangen, die wohl als Sozialliberalismus verstanden werden, von dem man sagen kann, daß er wohl zum größeren Teil mit der praktischen Politik der Arbeiterbewegung Fühlung suche und leicht finde. Der dänische Philosoph Höffding, dessen Ansehen in der Welt unbestritten ist, unterscheidet in seiner Ethik im Gegensatz zum „spekulativen“, für den er die deutschen Theoretiker vorzugsweise verantwortlich macht, den „empirischen“ So19

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ihr alter Parteiführer: Weimarer Koalition ist die zusammenfassende Bezeichnung für die Koalitionen aus SPD, katholischem Zentrum und linksliberaler DDP (Deutsche Demokratische Partei), die während der Weimarer Republik Regierungen auf Reichs- und Länderebene stützten. Auf Reichsebene regierte sie 1919/1920 und 1921, in Preußen 1919 – 21 und 1925 – 32 sowie in Baden 1919 – 31. sozialistisch: Ferdinand Tönnies hat die Zeilen, die mit „beharrenden Koalition“ beginnen durch einen Strich markiert (Blatt 336). in seiner Ethik: Harald Höffding, Ethik. Eine Darstellung der ethischen Prinzipien und deren Anwendung auf besondere Lebensverhältnisse, 2. Auflage, Leipzig 1901.

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zialismus, der mehr als irgendeine andere Form die Freiheit sowohl als Mittel wie als Zweck anerkenne und allen Nachdruck auf die Selbstverwaltung in Gewerkschaften und Konsumvereinen, in Kommune und Staat lege, mithin eben in dieser Beziehung dem Individualismus entgegen komme, oder vielmehr aus ihm herauswachse. In Wahrheit ist die Empirie immer die unerläßliche und unbedingt die zuverlässigste Grundlage jeder wissenschaftlichen Theorie und kann von einem Sozialismus der gerade in Deutschland sich wissenschaftlich genannt hat, nicht vernachlässigt und nicht verkannt werden. Wenn Höffding den Marxismus für einen Ausläufer der deutschen spekulativen Philosophie erklärt hat, so hat er zwar recht, wenn er damit das Verhältnis von Marx zu Hegel bezeichnen will, aber er vergißt, daß Marx sowohl als Engels für ihre Aufgabe hielten, die Hegel’sche Dialektik in der sie den bleibenden Wert dieser Lehre sahen, „umzustülpen“, um den rationalen Kern darin zu finden und zur Geltung zu bringen. In Wahrheit weicht der Sozialismus, den Marx gepflegt und gefördert hat, durchaus nicht so stark wie Höffding offenbar meinte, vom empirischen Sozialismus ab. Man hat schon eine evolutionäre Meinung von der revolutionären im marxischen System unterschieden. Die evolutionäre Richtung ist nun ohne Zweifel dieser Realdialektik, um hier einen Kunstausdruck des von Schopenhauer ausgehenden Philosophen Julius Bahnsen anzuwenden, allein angemessen. Freilich hätte Marx keinen Gegensatz oder Widerspruch zwischen Evolution und Revolution anerkannt; aber seine aus der französischen Entwicklung geschöpfte revolutionäre Denkungsart war in der späteren Periode, derjenigen seines großen Schaffens durchaus verblichen: nicht mehr in Frankreich, sondern in England sah er den Typus der sozialen Entwicklung überhaupt, die klassische Stätte der kapitalistischen Produktionsweise und der ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Und er anerkannte, daß dort schon in den ersten Zweidritteln des 19. Jahrhunderts entscheidende Wendungen eingetreten seien, daß „der Umwälzungsprozeß mit Händen greifbar sei“. Schon damals

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allein angemessen: Die realdialektische Seite seiner Lehre hat Bahnsen u.a. in seinem Hauptwerk „Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt“ (1880/1882) niedergelegt. französischen Entwicklung: Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, erstmalig veröffentlicht in: „Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue“, Hamburg 1850, unter der Überschrift „1848 bis 1849“. In: Karl Marx - Friedrich Engels Werke, Band 7, Berlin/DDR 1960, S. 9-107. mit Händen greifbar: Aus dem Vorwort zur ersten Auflage „Das Kapital“ von Karl Marx, Band I (Kritik der politischen Ökonomie): „In England ist der Umwälzungsprozeß mit

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berief er sich darauf, daß in einem offiziellen Buche der britischen Regierung, deren auswärtige Vertreter mit dürren Worten ausgesprochen hatten, in Deutschland, Frankreich, in allen Kulturstaaten des europäischen Kontinents sei eine Umwandlung der bestehenden Verhältnisse von Kapital und Arbeit ebenso fühlbar und ebenso unvermeidlich wie in England. Er folgerte daraus mit gutem Grunde, daß selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmere, die jetzige Gesellschaft sei kein fester Kristall sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus. Daß ein System der sozialistischen Volkswirtschaft nur im Zusammenhang mit der schon entwickelten sogenannten Weltwirtschaft entstehen und leben kann, ist eine Überzeugung, der die denkenden Sozialisten sich niemals entzogen haben. Umsomehr müssen solche den Versuchen eines einzelnen, wenn auch großen Landes, gewaltsam eine Planwirtschaft einzuführen, mit starkem Zweifel begegnen und sie etwa nur als möglicherweise für eine gewisse Zeit und bei verhältnismäßig geringer Exportindustrie gelingend gelten lassen, wenn auch andere außerordentliche Zustände hinzukommen; immerhin wird dies ein lehrreiches Experiment darstellen, ohne daß es gestattet ist, aus dem scheinbar günstigen Erfolge Schlüsse zu ziehen, die für ein großes führendes Gebiet gültig sein wollen. In England oder in Deutschland würden solche Versuche einer plötzlichen Einführung des Sozialismus eine große Reaktion zur Folge haben und als die ärgsten Feinde einer allmählichen und gründlichen sozialen Reform sich erweisen mithin auch als die Feinde der Arbeiterklasse und ihren legitimen Bestrebungen. Solche Versuche würden also sich selber ins Gesicht schlagen: sie würden das Endziel viel weiter hinauszustecken nötigen, wenn überhaupt noch von einem solchen würde die Rede sein können. Hingegen wäre auch das Gelingen großer Neuerungen auf diesem Gebiete nur denkbar unter der Voraussetzung eines dauernden und gesicherten Völkerfriedens und eines Verständnisses zwischen den Nationen, wie es bisher nicht besteht, aber vielleicht in einigen Menschenaltern ausgebildet werden kann. Es folgt hieraus, welche verhängnisvolle Störung einer Entwicklung, die im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts und im ersten Jahrzehnt des gegenwärtigen sich mühsam durchrang, der Weltkrieg und seine fortdauernden schweren Folgen durch unfriedliche Friedensschlüsse gehabt hat, sodaß die Wahrscheinlichkeiten solcher Verständigung einstweilen nicht sich vermehrt, sondern sich stark vermindert haben. Diese schlimmere Gestaltung der internationalen und dadurch der nationalen Schicksale würde noch offenbarer und Händen greifbar“, Hamburg 1867. Auch die folgenden Gedanken stammen aus diesem Vorwort.

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verderblicher sich herausstellen, wenn etwa noch in diesem Jahrhundert, das die Aufgabe hätte, dem Weltfrieden alle seine Gedanken zu widmen, ein neuer Weltkrieg dem gewesenen folgen würde, sei es, daß er dessen Wirkungen zum großen Teile wieder umkehren oder sie noch erhöhen und verstärken würde. In einem merkwürdigen und bedeutenden Gegensatz zu den offenbaren Tendenzen der Internationalität, die z. T. noch vom Römischen Reiche her in Europa überliefert sind und auch durch die christliche Religion bewahrt und gefördert wurden, zu einem anderen Teil aber das unmittelbare Ergebnis der gesamten ökonomischen und anderen Entwicklung Europas, die auf die anderen Erdteile sich ausgedehnt hat, ist der in mancher Hinsicht sich immer mehr ausprägende Nationalismus, an dem sogar ein ganz und gar international zusammengesetzter Staat wie die Vereinigten Staaten Amerikas einen ausgesprochenen Anteil hat. Diese Bestrebungen sind zum guten Teile Wirkungen der modernen Staatenbildung: indem die groß gewordenen Staaten auch das Streben haben, sich zu vergrößern, sich auszudehnen: ein Bestreben, das wesentlich durch wirtschaftliche Motive bedingt ist, und so hängt der Nationalismus mit dem Imperialismus nahe zusammen, dessen Befriedigung in der Regel nur durch Krieg möglich ist. Krieg ist nach einer tief begründeten allgemeinen Überzeugung gerechtfertigt, wenn er ausschließlich der Landesverteidigung gilt, und der feindliche Angriff nicht durch die eigene Verhaltungsart des angegriffenen Staates hervorgerufen wurde. Sogar ein Angriffskrieg aber ist – eben dieser Denkungsart gemäß – eher gerechtfertigt als ein Krieg der Vergeltung, zumal, wenn ein feindlicher Friedensschluß unter Bedingungen aufgezwungen wurde, die einer Vernichtung nahe kommen oder wenigstens ähnlich sind. Da nun heute nur die größten Staaten durch Angriffskriege bedroht werden, und wenn sie einen solchen bestehen und darin unterliegen, feindselige Friedensschlüsse erdulden müssen, so besteht nach einem solchen Kriege die Gefahr, daß er erneuert werde, fort, wenn nicht etwa der feindselige und aufgezwungene Friedensschluß durch einen friedlichen und freundlichen, also vereinbarten Friedensschluß ersetzt wird, – worauf hinzuwirken alle diejenigen Menschen und Mächte als ihre Aufgabe erkennen müssen, die entweder den Krieg grundsätzlich und unbedingt bekämpfen oder wenigstens einen zweiten Krieg, der dem gewesenen wahrscheinlich an Ausdehnung und an Schrecken übertreffen würde, nicht zu erleben und ins Unbestimmte hinauszuschieben wünschen. Bestrebungen dieser Art als pazifistische der Feigheit zu bezichtigen ist durchaus absurd, zumal nachdem mit ungeheurem Eifer und ungeheuren Anstrengungen ein ungeheurer Krieg bestanden wurde, und da niemand leugnen kann, daß das dringende Bedürfnis des

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Das 5te Kapitel. Soziale Reform und Sozialismus

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dauernden Friedens in jedem großen Volke allgemein ist und daß hie und da, sei es aus selbstsüchtigem Interesse oder aus minder unlauteren Beweggründen vorhandene oder sich wiederherstellende Bedürfnis [eines] neuen Krieges soweit überwiegt, daß dies Bedürfnis zum mindesten auf einen der erwähnten Gründe sich zurückverwiesen finden, um sich in einem gewissen Maße zu rechtfertigen. Insofern als aber der Nationalismus nicht unmittelbar in irgendeinem Sinne mit dem Streben nach Krieg identisch ist oder doch dies Streben hervorruft, kann er doch, auch wider seinen Willen, die Gefahr des Krieges in sich tragen, zumal solange als die großen Staaten durch ungeheure Rüstungen schon auf den künftigen Krieg sich gefaßt machen und vorbereiten, wenn auch etwa nur in defensiver Meinung.

Geist der Neuzeit III [Staat und Gesellschaft in der Neuzeit]

[Die Phasen des modernen Staates] [Der moderne Staat – ein neuzeitliches Wesen] 5

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Der Staat, den man wohl den modernen Staat nennt, um ihn von früheren mehr gemeinschaftlichen Gestaltungen des politischen Zusammenwollens zu unterscheiden, ist wesentlich ein neuzeitliches Wesen. Er ist in diesen vier Jahrhunderten durch drei bedeutende Phasen hindurch gegangen und zwar noch in mangelhafter Weise; denn keine Phase ist ganz und definitiv überwunden und die jüngste ist noch weit entfernt davon, wenigstens in Europa, überall durchgedrungen zu sein und selbst wo sie durchgedrungen ist, hat sie noch nicht ihre endliche und auch nur leidlich gesicherte Gestalt gewonnen. Die erste Phase ist die des monarchischen Absolutismus; die andere die des Rechts-Staates, ihrer Tendenz nach eine Mischung der Monarchie mit aristokratischen und mit bürgerlich-demokratischen Elementen und Tendenzen unter dem Gesamtnamen des Liberalismus und Konstitutionalismus. Die dritte Phase ist die der Republik, und diese wird ihre Vollendung vielleicht als ein demokratischer Absolutismus finden oder als Cäsarismus zur Ausgangsform zurückkehren. Wir betrachten hier diese drei Phasen in einem historischen Überblick.

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[Die Phasen des modernen Staates]: Es sind weder Kapitel- noch Paragraphen-Überschriften vorhanden. Der Text des „1. Teiles von GdN III“ (Blatt 275 bis Blatt 305) ist in Schreibmaschine erstellt und enthält handschriftliche Bemerkungen von Ferdinand Tönnies. Die Seiten sind mit „GdN III“ links oben in der Ecke mit Schreibmaschine gekennzeichnet. Außerdem befindet sich darunter eine teils handschriftliche teils mit Schreibmaschine (ab 23, Blatt 297) erstellte Durchnummerierung von 1 bis 31. Das Papier, auf dem geschrieben wurde, ist teilweise die Rückseite von Ferdinand Tönnies Briefpapier mit dem Briefkopf Ferdinand Tönnies

Kiel, den Niemannsweg 61

(Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 275 bis 305).

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[Geschichte des neuzeitlichen Absolutismus] Der monarchische Absolutismus ging unmittelbar aus dem Mittelalter hervor, wo sich schon mehrere Ansätze und Versuche, ihn zu etablieren, vorgefunden hatten. Er erhielt seine klassische Ausbildung im Frankreich des Louis XIV., eines Königs, der seine Person mit der ideellen Person des Staates identifizierte. Sein Ziel war, die Regierung des großen Landes in seiner Hand und in den Händen seiner Beamten zu versammeln. Der nächste und mächtigste Zweck, zu dem er diese Vereinigung und Stärkung der Staatsgewalt benötigte, war der Krieg. Und zwar war der Krieg auf Eroberung von Land gerichtet. Der Wille zum Kriege entsprang den königlichen Wünschen, seine Macht über Land und Leute zu erweitern und zu befestigen. Der König hatte großen Erfolg mit diesen Bestrebungen, ganz besonders nach dem Deutschen Reich hin, auf dessen Verkleinerung, wenn nicht gar Zertrümmerung, schon früher die Tendenzen der französischen Monarchie rastlos gerichtet waren. Aus diesem dauernden Willen ging in erster Linie die Ausbildung, Vermehrung und Stärkung eines stehenden Heeres hervor, und zu dessen Unterhaltung im Frieden sowohl als zur Vermehrung und Vergrößerung dieser Aufgabe war eine bedeutende Verstärkung der finanziellen Kräfte notwendig; diese wiederum rief das Bestreben hervor, die Steuerfähigkeit der Einwohner und Untertanen zu erhöhen. Diese Zwecke machten eine ausgedehnte und planmäßige Staatsverwaltung notwendig und eine innere Politik, die vorzugsweise darauf gerichtet sein mußte, wenigstens gewisse Teile des Volkes so zu bereichern, daß sie desto mehr zu Abgaben an die königlichen Kassen geneigt und fähig würden. Dies war zugleich die Politik des sogenannten Merkantilismus. Wie ein einzelner Kaufmann darauf erpicht ist, seinen Reichtum zu vermehren und ihm so sehr als möglich eine dauernde Form zu geben, so wollten die merkantilistischen Politiker den Staat bereichern. Darum war das Prinzip, den auswärtigen Handel so vorteilhaft als möglich für das eigene Land zu gestalten, welches Bestreben von daher noch heute regelmäßig ein normal geleiteter Staat verfolgt. Der Merkantilismus legt darum das Hauptgewicht auf den Besitz des Landes an natürlichen Bodenschätzen, auf deren Pflege und Erhaltung, also zumal auf den etwaigen Besitz an Goldund Silberminen, wie auch an Kohlen, an Eisenerzen und anderen unedlen Metallen. Ferner war und ist die in der Theorie nur sich wiederspiegelnde Praxis darauf aufgebaut, daß man diese Rohprodukte, besonders auch die von Ackerbau und Viehzucht im Lande behalten müsse, teils um damit das Volk zu ernähren, besonders zum besten der zunehmenden und bewußt

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geförderten größeren Industrie, teils um diese Produkte im Lande selber zu veredeln, sie dann etwa auch in andere Länder zu überführen. Indessen sollte für die Ausfuhr immer den Fabrikaten der Vorzug gegeben werden: sie sollten das Geld ins Land bringen, d. h. den Überschuß der Geldeinnahmen über die Geldausgaben, wenn möglich in Gestalt von fremder Münze oder den Barren der edlen Metalle. Das war die günstige Handelsbilanz, die auch heute noch (oder heute wieder) der Kern der handelspolitischen Weisheit der Staaten ist. Um diese und verwandte Tendenzen erwarb sich ein historisches Verdienst als Minister Ludwigs XIV. Colbert. Colbert hatte sich zum Ziel gesetzt dem Elende des Volkes abzuhelfen. In diesem Sinne hatte er die Gabelle (Salzsteuer) gemildert und die Verpachtung der indirekten Steuern reformiert. Er wünschte in Frankreich alle Manufakturen einzurichten, deren Produkte bisher aus fremden Ländern kamen. Im gleichen Sinne wollte er ein einheitliches Wirtschaftsgebiet schaffen. Die Idee seines Schutzzolles war der Erziehungszoll. Die ganze merkantilistische Politik, die für den Absolutismus schlechthin charakteristisch ist, war den Gedanken der überlieferten Politik nachgebildet, die für die Städte sich sozusagen von selbst verstanden hatte. Die Ämter oder Zünfte der Städte wurden auf die Verhältnisse der großen Staaten übertragen, und somit auch das Handwerk, dessen Zünfte erhalten wurden, ebenso wie die neuen und mehr begünstigten Industrien, sei es im Verlagssystem (manufacture séparée) oder im Manufaktursystem (manufacture réunie) gleichermaßen unter den Schutz und den Befehl der Zentralgewalt genommen. Als Organe der Zentralgewalt wurden besonders in finanzieller Absicht die Intendanten und Unterintendanten ernannt. Diese Ämter waren nicht käuflich. Von ihnen sagt Alexis de Tocqueville: diese Beamten seien regelmäßig junge Männer von geringer Herkunft gewesen; sie stammten aus einer anderen Provinz und waren darauf erpicht, ihr Glück zu machen. Sie wurden unter den geringeren Mitgliedern des Staatsrates ausgelesen und die Ernennung war widerruflich. Getrennt vom Staatsrat wurde er dessen Vertreter und hieß ein abgeordneter commissaire. Er hatte fast ebenso viel Recht und Macht wie der Rat selber. Justiz und Verwaltung sind in ihm ungeschieden. Neben den Intendanten gab es noch im 18. Jahrhundert die sogenannten gouverneurs de province, 11

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Gabelle: Der Begriff Gabelle oder Gabella (vom mittelalterlich-lateinischen gabulum) wurde in Frankreich ursprünglich für Steuern auf jegliche Art von Waren verwendet. Sie beschränkte sich aber allmählich auf eine Salzsteuer. diese Beamten: Alexis de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, 2 Bde., Bruxelles 1835.

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die als Männer aus dem hohen Adel geehrt wurden, aber keine wirkliche Macht hatten: diese lag nur in der Hand der bürgerlichen Intendanten. Diese wurden nicht selten nobilitiert; die subdelegés aber, ihre ständigen Gehilfen, waren immer bürgerlich (roturier). Dem Adel war der Hof und die Gesellschaft vorbehalten, in Heer und Flotte die höchsten Stellen. Der echte Edelmann, meint Tocqueville, hätte den Antrag, die Stelle eines Intendanten anzunehmen, mit Entrüstung abgelehnt. Und doch fiel es schon Law (dem Schotten) auf, daß Frankreich von den Intendanten regiert wurde. So wurde dies System des Ancien Régime die erste Ausbildung der Bürokratie, die in ihrem echten und alten Sinne den Gegensatz gegen das Kollegialsystem bedeutet, das z. B. im Deutschland des 18. Jahrhunderts noch durchaus vorherrschte. Die Beamtenschaft wird in diesem System ein willenloses Werkzeug der Staatsgewalt, also auch des Einzelherrschers, wenn dieser sie in Händen hat. Hingegen besaß das Kollegialsystem, gegenüber der Bürokratie – auch das Provinzialsystem und die Vereinigung von Justiz und Verwaltung gegenüber dem Fachsystem –, einen mehr aristokratischen Charakter, der freilich auch der Einheit weniger günstig war, weil er den absoluten Staatswillen begrenzte. W. Roscher hat in der Geschichte des neuzeitlichen Absolutismus drei Entwicklungsstufen entdeckt, die zeitlich aufeinander folgen und, wie er meint, diese Staats- oder Regierungsform immer höher treiben, indem jede folgende den Fürsten unbeschränkter hinstelle. Nach ihm hat Reinhold Koser von neuem diese Einteilung geprüft. Er meint, wie ich finde mit Recht, dass zwar vom 16. bis ins 17. Jahrhundert der praktische Absolutismus zum grundsätzlichen sich steigerte, aber dann sei im 18. Jahrhundert insofern eine Rückbildung eingetreten als der sogenannte aufgeklärte Absolutismus auf die einseitige Betonung seiner Rechte verzichtete und die Pflichten vor die Rechte gestellt wurden: das Naturrecht habe als Grundprinzip der Monarchie Anerkennung gefunden. Ich meine allerdings, daß der Absolutismus in dem, was Roscher die „höfische“ Monarchie nennt, seine Voll3 6 8 22

die subdelegés: Gemeint ist subdélégués = Subdelegierte, Unterabgeordneter. Siehe dazu auch: Alexis de Tocqueville, Das alte Staatswesen und die Revolution, Leipzig 1857, S. 41. Der echte Edelmann: Ebda., S. 42. Hier heißt es allerdings „der ärmste Edelmann“. von den Intendanten: John Law, Money and Trade Considered – With a Proposal for Supplying the Nation with Money, Edinburgh 1705. den Fürsten: Wilhelm Roscher, Umrisse zur Naturlehre der drei Staatsformen, in: Allgemeine Zeitschrift für Geschichte 7, Berlin 1847, S. 79-88, 322-365 u. 436-473; Reinhold Koser, Die Epochen der absoluten Monarchie in der neueren Geschichte, in: Historische Zeitschrift 61, München und Leipzig 1889, S. 246-287.

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endung gefunden hat. Subjektiv empfing er seine höchste Steigerung durch die persönliche Sicherheit und Gewißheit, mit der Ludwig ihn verkündete, und woran auch ein Stück des vermeintlichen göttlichen Rechtes haften blieb, wenngleich dies nicht so sehr geglaubt, als zur Blendung des Volkes tauglich befunden wurde. Die Vernünftigkeit der letzten Gestalt des Absolutismus bedeutete zugleich den entschiedenen Zweifel an der natürlichen oder gar göttlichen Autorität des geborenen und durch Erbrecht eingesetzten Fürsten. Diese Gestalt bedeutet den Übergang zur Setzung des Staates – d.h. der Republik – an seine Stelle.

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[Entwicklung zum neuzeitlichen Rechtsstaat]

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Diese gewinnt ihren ersten Erfolg im liberalen oder Verfassungsstaat: nämlich zunächst in der Teilnahme der besitzenden Klasse, mit Einschluß des Adels, nicht nur wie bisher am Kriegsstaat, an Verwaltung und Justiz – in den beiden ersten Sparten behielt sogar der Adel einen offenbaren Vorrang unter der Ägide des Königs – sondern an der Gesetzgebung – eine Entwicklung, die zunächst eine Reaktion bedeutete, indem sie den Dualismus des ständischen Gemeinwesens wieder aufnahm, wenn auch der ständische Charakter der Kirche in den Hintergrund gedrängt wurde und der Adel zwar wieder zu vermehrter Geltung gelangte, aber doch die Mitwirkung und den Wettbewerb des gebildeten und wohlhabenden Bürgertums sich gefallen lassen mußte, das ihn oft an theoretischer Erkenntnis weit übertraf, wenn auch nicht immer an praktisch politischer Geschicklichkeit und der Fähigkeit, der großen Menge des Volkes gegenüber die Miene des wohlwollenden Herrentums anzunehmen, um in diesem Sinne seine Rolle zu spielen. Sehr merkwürdig ist in dieser Hinsicht die besondere Entwicklung Großbritanniens, dessen, wenn auch ungeschriebene und durchaus mittelalterlichständische Verfassung den neueren Theoretikern, die eine Volksvertretung in parlamentarischen Körperschaften wie auch die Vertretung des Laienelementes in der Rechtsprechung und die Selbstverwaltung der Bürger, vorzüglich in den Städten, forderten, als Ideal erschien. Indessen soll hier nicht darauf eingegangen werden. Wenn also eine gemischte Staatsform, die der Logik des Philosophen Hobbes im 17. ebensowenig wie der des Auguste Comte im 19. Jahrhundert standzuhalten vermochte, eine Weile als die eben wegen der Mischung als schlechthin vernünftige gegolten hat, so ist gerade das gegenwärtige Jahrhundert schon dadurch merkwürdig geworden, daß es wieder zu einer reinen

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Form durchgedrungen ist, indem in der Geschichte des absoluten Staates – denn als solcher ist der Staat prinzipiell zur Anerkennung gelangt – anstatt des Monarchen das „Volk“ sich setzt. Nachdem es durch das allgemeine und geheime Wahlrecht der Männer schon in der konstitutionellen Volksvertretung eine mitwirkende Persönlichkeit geworden war, macht es nun sich zur alleinwirkenden oder versucht wenigstens, sich so zu behaupten. Die Idee des über sich selbst herrschenden Volkes ist die Idee des rationalen Staates und also des Rechtsstaates. Tocqueville spricht seine Verwunderung aus, daß im Preußischen Landrecht – er nennt es das Gesetzbuch Friedrichs des Großen – das Wort Staat schon der einzige Ausdruck sei, dessen man sich bediene, um die königliche Gewalt zu bezeichnen, und wundert sich andererseits, daß derselbe König trotz seines starken Geistes die Wendung der Dinge nicht vorausfühlte. Er stehe an ihrer Schwelle und sehe sie nicht. Ja, er handle im Voraus nach ihrem Geiste, er sei ihr Vorläufer und schon sozusagen ihr Agent. Er erkennt sie nicht bei ihrer Annäherung und als sie endlich da ist, tritt sie mit so neuen und außerordentlichen Zügen auf, daß sie sich rasch den Blicken entzieht. In Wahrheit trat in Frankreich frühreif die Republik und bald die Militärdiktatur als Cäsarismus auf, dann folgte die Restauration, zuerst unter einem König, der allenfalls noch als Vertreter des aufgeklärten Absolutismus, sogar schon mit einer geschriebenen Verfassung sich ausstattend, gelten konnte, bald unter seinem Bruder und Nachfolger die nackte und dreiste Reaktion, die dann zu einem echten Bürgerkönigtume führte, das sich zum Anwalt und Herold des wachgewordenen Kapitalismus aufwarf. Dann folgte wieder die Republik und über den Weg der Präsidentschaft das zweite Kaiserreich, ein neuer Cäsarismus, und endlich die dritte französische Republik, die nun schon seit zwei Menschenaltern Bestand gehabt hat. In der Theorie erlebte inzwischen die beschränkte und konstitutionelle Monarchie ihre Blüte. Dabei wird die parlamentarische Gestaltung als die fortgeschrittene Form nach englischem Vorbilde gefeiert, nachdem inzwischen das Wahlrecht in Großbritannien mehr und mehr dem allgemeinen Wahlrecht, auch durch Ausdehnung auf die Frauen sich angenähert hat. Zu gleicher Zeit unter den Einflüssen des Weltkrieges, wohl auch unter den Einflüssen der Vereinigten Staaten Amerikas, hat Gedanke und Wirklichkeit der republikanischen Staatsform höchst bedeutende Fortschritte gemacht in Europa. Von der Prophezeiung Napoleons, daß Europa hundert Jahre nach 17

außerordentlichen Zügen auf: Alexis de Tocqueville, Das alte Staatswesen und die Revolution, a.a.O., S. 265 ff.

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ihm republikanisch oder kosakisch sein werde, hat in der Tat die eine Alternative sich fast erfüllt: der Zarismus ist nicht mehr; der deutsche Kaisertraum, der mehr einen Namen für den Primat des Königsreichs Preußen in einem neuen Bundesstaat bedeutet als eine wirkliche Monarchie, ist bis zu dem Augenblick, in dem dies geschrieben wird, noch nicht erneuert worden, und wenn es gelingen sollte, ihn wieder lebendig zu machen, so wird er doch keine lange Dauer behalten können. Denn das Gedächtnis des alten Reiches ist erloschen, und das neue wird schwerlich für lange Zeit zufrieden sein, in einem erblichen Königtum, das seine wirklichen Wurzeln nur in dem Teile eines Teiles besitzt – nämlich im altpreußischen Adel und dem sich an diesen anschmiegenden Hochbürgertum (der Bourgeoisie) – seinen echten Ausdruck gefunden zu haben; wie man vor 60 Jahren allerdings noch glauben konnte.

[Der Rechtsstaat] 15

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Der Gedanke des Rechtsstaates ist ein bedeutender Gedanke. Er hat seinen Ausdruck darin, daß Recht als das herrschende Prinzip hingestellt wird im Gegensatz zu Willkür und Gewalt. Demnach soll die Staatsverfassung oder das Grundgesetz unbedingt, auch in der Gesetzgebung seine Geltung behalten solange es nicht durch einen der verfassungsgemäß gültigen Willen abgeändert ist, und solche Abänderung pflegt in den besonders ausgedachten und beschlossenen, daher auch geschriebenen und gedruckten Verfassungen an erschwerende Bedingungen geknüpft zu werden und diese Bedingungen sind nicht in allen modernen Staaten gleich. Für gesichert kann man aber eine Verfassung dadurch nicht halten: es bleibt immer die Möglichkeit einer unrechtmäßigen also gewaltsamen Veränderung, sei es durch eine einfache Mehrheit, wenn der Verfassung gemäß eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, oder auch durch eine Minderheit, wenn ihre Häupter rücksichtslos genug sind, sich durchzusetzen, und stark genug, sich zu behaupten. In diesem Sinne ist die Lehre des Ferdinand Lassalle berühmt geworden, daß in einer jeden Gesellschaft die bestehenden Machtverhältnisse die tätig wirkende Kraft seien die alle Gesetze und rechtlichen Einwirkungen dieser Gesellschaft so bestimme, daß sie im wesentlichen gar 1

kosakisch sein: Emmanuel de Las Cases teilt im „Mémorial de Sainte Hélène“ (Paris 1823– 1824) unter dem 8. April 1816 folgendes Wort mit, das Napoleon I. ihm gegenüber aussprach: „Bei dem gegenwärtigen Zustande der Dinge kann ganz Europa binnen zehn Jahren kosakisch sein oder ganz republikanisch.“ Über die Jahreszahl bei dem Zitat gibt es verschiedene Varianten: 10, 50 oder 100 Jahre.

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nicht anders sein können als sie eben sind. Hier wird doch zu gering geschätzt, daß die Überzeugung von der sittlichen Notwendigkeit des Rechtsgedankens, und daß dieser eben im Staatsleben verwirklicht werden müsse, in einem alten Kulturvolke zu tiefe Wurzeln geschlagen hat als daß in offener und ausgesprochener Weise dawider gehandelt werden könnte, ohne Empörung und Bürgerkrieg hervorzurufen. Lassalle hat auch seine Lehre anders gemeint. Er will sagen, daß die sozialen Verhältnisse ein natürliches Übergewicht über die politischen Regeln haben, daß also diese Regeln mit förmlicher Genauigkeit beobachtet werden können und doch ihre Wirkung durch die sozialen Einflüsse so bestimmt wird, daß die sozial Mächtigen auch die politische Macht in ihrer Hand behalten, obgleich jene Regeln dem sozial ohnmächtigen oder minder mächtigen Volke gestatten würden, ihrerseits die politische Macht gesetzlich zu erwerben. In dieser Fassung ist die Lehre ohne Zweifel richtig und von hoher Bedeutung. Es besteht aber immer eine Wahrscheinlichkeit, daß die Tatsachen dieser Art auch die ihnen entgegenstehenden Formen nicht dauernd ertragen, sondern abzuändern und sich anzupassen streben werden, und daß dies Streben auch ihnen gelingen wird. Dies macht sich besonders geltend in der Gestalt, daß die äußerste Demokratie in den Cäsarismus übergeht, der am leichtesten in Gestalt der Militärdiktatur, sei es durch einen General oder durch einen Volkstribunen sich durchsetzt. Dieser Diktator wird immer genötigt sein, den Willen der sozial herrschenden Klasse auszuführen aber den Schein zu wahren und zu pflegen, als sorge er für das Wohl des ganzen Volkes gleichmäßig. Er knüpft an den aufgeklärten Absolutismus wieder an, dessen Merkmale er scheinbar für sich in Anspruch nimmt. Roscher meint: „Wenn die Parteikämpfe der Demagogen untereinander, der wechselseitige Haß der Armen und Reichen, die despotischen Launen einer zügellosen Menge, die gar nicht mehr erträglich sind, wenn sich fast kein Gebildeter mehr seiner eigenen Freiheit gewachsen fühlt: da sehnen sich die meisten am Ende nach Ruhe um jeden Preis“. Um der Ruhe und Sicherheit willen werde dem als tüchtig erkannten Führer der Umwälzung, wenn er niemanden beraubt oder tötet, mit der Gesinnung entgegengetreten: „Von denen die ihn am meisten gefürchtet 1

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anders sein können: Ferdinand Lassalle, Über Verfassungswesen. Ein Vortrag, gehalten am 16. April 1862 in einem Berliner Bürger-Bezirksverein, erschienen in: Eduard Bernstein (Hg.), Ferdinand Lasalle. Gesammelte Reden und Schriften, 2. Bd.: Die Verfassungsreden, Berlin 1919, S. 23-61. Ruhe um jeden Preis: Wilhelm Roscher, Naturgeschichte der Monarchie, Aristokratie, Demokratie, Stuttgart und Berlin 1908, S. 588.

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hatten, wird er am meisten geliebt werden (nach einem Briefe Ciceros)“. Dazu möge nur bemerkt werden, daß die Erkenntnis der Tüchtigkeit eines Führers sehr fragwürdig ist, und nicht nur die große Menge, sondern auch die meisten derer, die ihr als urteilsfähig gelten und vorangehen, urteilen nach dem Scheine und oft einem Aberglauben gemäß, der immer geneigt ist, einer Führergestalt, wenn sie einmal dafür – obschon zuweilen ganz törichter Weise, wie ein wertloses Geldstück für bare Münze – gehalten wird, und sich selber als solche aufspielt, einen überirdischen Schimmer zu verleihen ja sie bis zur Göttlichkeit zu verklären. – Roscher schreibt richtig dem Cäsarismus ein Janushaupt zu, in dem das eine Antlitz ein extrem monarchisches, das andere ein extrem demokratisches sei. So, wußte der erste Napoleon allen Parteien Dinge zu sagen, die ihnen schmeichelhaft waren und ihnen versprachen, daß ihre Grundsätze und Lieblingsvorstellungen nunmehr zu entschiedener Geltung gelangen würden. Der Cäsarismus hat im alten Rom, wenn auch in wechselnden Gestalten, aber durch die Neuerungen des Diocletian zur vollendeten und absoluten Monarchie gesteigert, eine lange und folgenreiche Dauer gehabt, obgleich er seinem Wesen nach eine durch permanente Revolution gemäßigte Autokratie gewesen ist, denn er habe von Rechtswegen, dies ist die These Theodor Mommsens, durch den Volkswillen immer gestürzt werden können. Der Cäsarismus erlangt seine Stärke dadurch, daß er die verschiedenen Arten der absoluten Monarchie in sich zu vereinigen weiß. Die aufgeklärte nimmt er in sich auf, durch das Prinzip „Panem et circenses“. An Brot durfte es nicht fehlen. Mommsen stellt es so dar, daß Rom seine alte Freiheit um die Lieferung des täglichen Brotes verkauft habe: vor der Kornflotte vom Nil habe Rom kapituliert. Für Vergnügungen wurde gern gesorgt und dem Volke zu seinem Vergnügen sogar in politisch minder wichtigen Dingen der Schein einer souveränen Herrlichkeit gegönnt. Andererseits durfte an der höfischen Pracht nichts 1 11

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geliebt werden: Marcus Tullius Cicero, Briefe an Atticus, Dreizehnter Brief. Siehe auch Roscher: a.a.O., S. 589. extrem demokratisches: Wilhelm Roscher, Umrisse zu einer Naturlehre des Cäsarismus, in: Abhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Band 23, Leipzig 1888, S. 646. durch den Volkswillen immer gestürzt: Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, Leipzig 1875, S. 1034 ff. panem et circenses: Stammt vom römischen Dichter Juvenal. Es bedeutet „Brot und Zirkusspiele“. Kornflotte vom Nil: Theodor Mommsen, Römische Geschichte, 5. Bd. Die Provinzen von Caesar bis Diocletian, Berlin 1885, S. 572.

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fehlen, die immer der Menge gefällt und ihr auch Gelegenheit gibt, auf ehrliche Art zu etwas mehr als den der Armut gespendeten Brot zu gelangen. Der konfessionelle Absolutismus wird vom Cäsarismus übertrieben oder vielmehr ersetzt durch die neue Religion, in deren Mittelpunkt eben der Cäsar stand. Wenn bisher in der Monarchie immer direkte Vergötterung des Monarchen vermieden war, so war diese für den Cäsar eine Notwendigkeit. Unter dieser politischen Leitung kehrt also das religiöse Gefühl und sogar der religiöse Gedanke in seine elementarste und roheste Form zurück: zum Aberglauben an die sichtbare Gottheit wirklicher Menschen.

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[Der Cäsarismus]

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Der Cäsarismus ist, trotz seiner blendenden Seiten und obgleich er in der Gestalt des Kaisers bis in die neueste Zeit zauberhafte Wirkungen gehabt hat, die noch in drei europäischen Reichen überlebten, von denkenden Kennern der Menschen und ihres Staatswesens immer als die verderblichste Gestalt der politischen Herrschaft erkannt worden. Sie vereinigt in sich die Übel und Hässlichkeiten aller möglichen Arten der Regierung. Die Entwicklung des späteren römischen Kaisertums ist eine Geschichte von Greueln, entstellt wird diese Art der Herrschaft immer durch ein ausgedehntes Spionagesystem: das Denunziantenwesen entwickelt sich von selbst, es führt zu der regelmäßigen Erscheinung, daß die Polizei selber, durch Anstiftung von Verbrechen, zumal von Staatsverbrechen, ihre Unentbehrlichkeit zu beweisen, ein großes Interesse gewinnt. Als eine der merkwürdigsten Eigentümlichkeiten des römischen Cäsarismus bezeichnet Roscher die furchtbare Häufigkeit des Selbstmordes in den oberen Schichten der damaligen Gesellschaft. In der späteren Zeit tritt die nackte Soldatenherrschaft immer mehr in den Vordergrund, von der Gibbon sagt, daß sie die Hauptursache des Sinkens und Falles des Reiches gewesen sei. Nun wurde auch wer wegen Majestätsverbrechen gegen die Person des Cäsars angeklagt war, gleich einem Sklaven gefoltert, Verbannung und Vermögenskonfiskation bildeten bald eine regelmäßige Erscheinung. Einen dem Cäsarismus verwandten Namen trägt der Imperialismus. Dieser ist vom Cäsarismus 25 27 30

der damaligen Gesellschaft: Wilhelm Roscher, Naturgeschichte der Monarchie, Aristokratie, Demokratie, a.a.O., S. 658. Sinkens und Falles: Edward Gibbon, History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 8. Bd., Hg. William Smith, London 1854 – 1855, S. 1. regelmäßige Erscheinung: Ebda. S. 92.

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durchaus verschieden, vielmehr ist das Trachten nach ausgedehnter Herrschaft über große Länderstrecken und besonders über fremde Gebiete und minder kultivierte Völker, eine Erscheinung, die von den empirischen Formen der inneren Herrschaften unabhängig, wesentlich handelspolitisch bedingt ist: sie soll den Reichtum des herrschenden Landes, das sich gern als Mutterland erscheint, vermehren und sichern; oder aber durch erzwungene Tribute die Staatsfinanzen des erobernden Staates verbessern. Das dringende Interesse ist hier, das fremde Land nicht zum Konkurrenten des Mutterlandes werden zu lassen, sondern ihm nur diejenige Güterproduktion zu gestatten, die dem Interesse des Herrscherlandes gemäß ist, besonders also solche Produktion, deren das Herrscherland gar nicht fähig, sei es aus natürlichen oder aus sozialen Ursachen, oder die es nicht will, weil es jedenfalls solche Produktion mit exotischen Arbeitskräften wohlfeiler zu bewirken vermag. Es ist im Grunde die freie und in der Form abweichende Darstellung des Gedankens, der als die ursprüngliche und merkantilistische Kolonialpolitik bekannt ist. Der Cäsarismus und der Imperialismus begegnen sich gleichwohl nicht nur in dem Namen. Der Imperialismus wird auch durch die cäsarische Gestaltung des Staates begünstigt. Diese ist schon ihrem Wesen nach rücksichtslos egoistisch im Interesse des Monarchen und etwa auch seiner Dynastie; und die rücksichtslose Beherrschung ferner und fremder Länder kömmt auch diesen beiden mittelbar zugute, wenn im Innern des Herrscherlandes die Meinung des Volkes immer gefürchtet wird, wenn ihr gern die Annehmlichkeit des Wahnes gegönnt wird, daß sie selber an der „Weltherrschaft“ teilhabe, so kann diese Weltherrschaft umsomehr ohne alle Rücksicht und Scham durch Gewalt ausgeübt werden. Die Tendenz zur Weltherrschaft als einem Mittel der Einigung eines großen Teiles der Menschheit, wenn nicht der gesamten, erfüllt die Tendenzen der Bourgeoisie und des Kapitalismus, insofern als diesen die Einheit der Gesetzbücher, der Justiz, der Münz-, Maß- und Gewichtsysteme entsprechen würde. Sicherlich war es aber sehr verfrüht, wenn Napoleon I. auf der Insel St. Helena meinte, voraussagen zu dürfen, daß es früher oder später keine Gegensätze von Nationalitäten mehr geben würde. Jedenfalls hätte er allen Grund gehabt, das Später von dem er offenbar glaubte, daß es nahe sei, in die Entfernung einiger Jahrhunderte auszudehnen. Daß die Bedingungen seiner Rivalen, der Briten, für Erreichung und Erhaltung einer Weltherrschaft viel günstiger lagen, als die der Franzosen, zumal außerhalb Europas, hätte er erkennen können und müssen. – Daß es möglich ist, der Gefahr des Verfallens der neuzeitlichen Staaten in Cäsarismus zu widerstehen, darf nicht geleugnet werden. Aber dieser Widerstand wird außerordentlich schwierig

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sein. Es wird dazu einer ungemeinen und tiefen Verbreitung des politischen Wissens und der politischen Erkenntnis bedürfen; welche Verbreitung für die meisten Arten der Herrschaft von Menschen über Menschen, zumal solche die eine cäsaristische Neigung in sich tragen, durchaus nicht erwünscht sein kann, sodaß sie alle ihre vorhandene Macht anwenden werden, um eine solche Verbesserung des öffentlichen Erziehungswesens zu verhüten. Ein unwissendes und unreifes Volk kommt ihren Bedürfnissen unzweifelhaft am meisten entgegen.

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[Die republikanische Staatsform und das Wahlrecht] Die republikanische Staatsform ist denkbar als eine aristokratische oder als eine demokratische. Die aristokratische ist einfacher und natürlicher insofern als in ihr der Kreis der Individuen, die zur Regierung berufen sind, beschränkt ist und die Auslese unter ihnen leicht von statten geht. Es sind dann regelmäßig gewisse Familien, aus denen sich die regierenden Personen rekrutieren. Viel schwieriger ist die demokratische Republik schon durch ihr Prinzip, da sie zwar durchaus nicht alle Mitbürger zur Regierung heranziehen will oder kann, aber sie aus einer großen Menge von Männern und in neuester Zeit auch von Frauen auszulesen genötigt ist. Die Auslese ist schon sehr schwierig insofern sie auf freier Wahl beruhen will. Da ist die Frage, wer das Recht habe, an der Wahl teilzunehmen. Lange Zeit hat man das Prinzip maßgebend sein lassen, daß das politische Recht der politischen Leistung entsprechen solle, und als politische Leistung galt die Steuer. Dies das Prinzip des politischen Liberalismus, das darauf hinauskommt, den reichen Personen ein Übergewicht und jedem eine Mitwirkung an der vernünftigen Willensbildung zu gönnen, das zu seinem Vermögen oder Einkommen im Verhältnis stehe. Dies Wahlrecht also ist in scheinbarer demokratischer Form ein aristokratisches und die Aristokratie ist ausdrücklich als Plutokratie gestaltet. Erst in jüngster Zeit haben allmählich Erweiterungen des Wahlrechtes einstweilen ihr Ziel darin gefunden, das Wahlrecht auf alle Männer eines gewissen Alters auszudehnen, endlich auch es den Frauen gleichen Alters zu verleihen. Diese Neuerung ist offenbar Erfüllung der Forderungen einer großen Menge gewesen, die besonders in großen Städten ihre Ansprüche stürmisch geltend machten. Weniger kann man dies vom Wahlrechte der Frauen sagen, als wofür nur in Großbritannien und in manchen einzelnen Staaten der amerikanischen Union eine verhältnismäßig lebhafte Bewegung unter den Frauen selber sich

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geregt hat. In der Hauptsache ist es lediglich eine Konsequenz des auf politische Rechte ausgedehnten „Individualismus“ und des damit gegebenen Prinzips der Gleichheit. Eine große Schwierigkeit hat dabei immer noch die Altersgrenze geboten. Es wurde für folgerichtig und radikal gehalten, wenn sie möglichst tief nach unten gesetzt wurde, wobei für die jungen Männer auch der Gesichtspunkt mitbestimmend war, daß sie zur Verteidigung des Landes berufen seien und darum auch schon berufen sein müßten, an der Gesetzgebung mitzuwirken. Diese Folgerung hat keine logische Kraft. Für die eine Leistung – die der Landesverteidigung – ist außer dem männlichen Geschlecht nur körperliche Tüchtigkeit erforderlich und eine normale, dem Alter entsprechende geistige Fähigkeit, das was die Vernunft und das Herkommen in seltener Übereinstimmung in Anspruch nehmen, zu leisten. Nun ist die körperliche Tüchtigkeit viel früher auf der Höhe als die geistige Reife. Jene kann schon mit dem vollendeten 18. oder 19. Lebensjahre vollkommen sein. Diese niemals. Die Aufgabe des Wählers ist aber die, aus einer gewissen Menge seiner Mitbürger eine oder mehrere geeignete Personen herauszufinden, die ihm geeignet scheinen, an der Gesetzgebung des Staates mitzuwirken. Es ist unvermeidlich, daß der Wähler vor diese Frage gestellt sich frage, was ihm persönlich, vielleicht auch, was seiner Familie, seiner Sippe, seiner Schicht oder Klasse nützlich sein werde. Er wird in der Regel sich fragen, welcher Kandidat oder welche Kandidaten seines Vertrauens wert seien und dem Urteil darüber wird der Grad seines Verstandes für politische Fragen, insbesondere also für solche der Gesetzgebung, zutage treten. Die Frage ist ob jungen in der Regel unbeweibten Männern und jungen unbemannten Frauen in dieser Hinsicht das gleiche Urteil zuzutrauen sei, wie solchen Männern und Frauen, die man als gereifte zu verstehen pflegt, die auch ihrer Mehrzahl nach teils als Männer und Frauen in dauernden Verbindungen, insbesondere in der Ehe leben, teils auch als Väter und Mütter ihrer Kinder ein Gefühl der Verantwortung für deren Leben, Gedeihen und Zukunft haben. Die Setzung der Altersgrenze unterhalb deren die Staatbürger nicht als zur Mitwirkung an der Wahl der Gesetzgeber befugt gelten sollen, ist jedenfalls ein schlechthin willkürlicher Akt der vernünftigen Erwägung. Dieser Akt kann also auf Grund mehr oder minder richtiger Überlegung geschehen und wird als politischer Akt sich nicht durch bloße Gefühle oder gar durch Sentimentalität bestimmen lassen, sondern, wenn diese Erwägung von staatsmännisch vorbereiteten Personen angestellt wird, lediglich von der Frage geleitet werden, welche Bestimmung die für das Gedeihen des Staates nützlichste sei. Hier aber wird mit Recht geltend gemacht werden, daß das Verständnis für die Bedeutung der öffentlichen

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Angelegenheiten besonders für die Wirkung von Gesetzen nicht gleichbedeutend und gleichzeitig entwickelt sein kann mit dem Verständnis für persönliche und private Angelegenheiten, sondern einen höheren Grad von Reife und des Verstandes, auch von erworbenem Wissen, zur notwendigen Voraussetzung hat. Ganz besonders muß dafür ins Gewicht fallen, daß ein gewisses Maß von Erfahrung und zwar von politischer Erfahrung in dieser Hinsicht notwendige Voraussetzung des Urteils [ist], daß also alle diese Momente dafür sprechen, die Altersgrenze der politischen Fähigkeit und also des Wahlrechtes keinesfalls mit der Altersgrenze der zivilrechtlichen Mündigkeit, geschweige mit derjenigen der sogenannten Strafmündigkeit gleichzusetzen, sondern einen höheren Grad der Altersreife dafür zu fordern. Die Praxis in irgendwelchen vermeintlich halb oder ganz demokratischen Gemeinwesen oder Staaten kann über dies Problem nicht entscheiden. Entscheidend darf nur die schon herangezogene politische Zweckmäßigkeit sein. Der heutige Staat ist immer mehr ein äußerst kompliziertes politisches Gebilde geworden. Seine richtigen Leiter und Lenker auszusuchen, ist keine geringe Sache. Sie bedarf einer strengen und scharfen Erwägung. Der Besitz des politischen Wahlrechts sollte daher sich verstehen als ein Ziel, das nicht geringe Voraussetzungen hat. Diese sind nicht mit der Pubertät gegeben; nicht mit der Fähigkeit, Kriegsdienst zu leisten; auch nicht mit der Fähigkeit, seine eigenen Angelegenheiten namentlich ökonomische selbständig zu verwalten, wofür es in der Regel an Rat und Beistand (auch unentgeltlichen) nicht fehlen wird, sondern als eine besondere Ehre, deren würdig zu werden man sich gehörig vorbereiten soll. Erst wenn unter diesem Gesichtspunkte die Altersgrenze festgesetzt würde, hätte die politische Gleichheit ihren vollkommenen Sinn zugleich mit ihrer Begrenzung erhalten. Sowenig als es innerhalb eines Heereskörpers jemals die Meinung gewesen ist, leitende Stellen – denn sowenig wie die Posten der Unteroffiziere können die der Subalternoffiziere dafür gelten – jungen Menschen von 25 und weniger Jahren anzuvertrauen, ebensowenig sollten mit einem so wichtigen Recht wie dem der Wahl der Gesetzgeber so junge Menschen belehnt werden. Denn der Gesetzgeber – und das ist jeder Abgeordnete – ist berufen, im Namen des Staates geltendes Recht zu schaffen, also auch geltendes Recht abzuschaffen, und beide Funktionen haben eine große unter Umständen eine unermeßliche Tragweite. Gerade die Demokratie, die sonst keine Hemmungen mehr hat, muß wenn sie die Vernunft zu ihrem Leitsterne macht, besorgt sein, sie nicht zum Spielball jugendlichen Leichtsinns und jugendlicher Torheit werden zu lassen. Die an Wissen und Erfahrung gereiften Männer müssen die Autorität, kraft deren sie die geborenen Häupter und

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Führer der jüngeren und unerfahrenen Elemente sind, sich nicht entreißen lassen: diese Gefahr ist aber sehr viel geringer, wenn in diesem Sinne auch das Wahlrecht begrenzt ist. Es wird sich dabei von selbst verstehen, daß eine noch höhere Altersgrenze für die Wählbarkeit eines Gesetzgebers angesetzt werden sollte. Denn dies entspräche den verstärkten und erhöhten Anforderungen, die an das politische Urteil dessen gestellt werden müssen, der unmittelbar an der gesetzgeberischen Arbeit mitzuwirken berufen und angestellt wird. Den Grundgedanken des Theorems muß auch der junge noch nicht als politisch mündig gesetzte Mensch erkennen lernen, wenn ihm nicht sein Verstand unmittelbar die dazu nötige Einsicht verleiht. Er wird umsomehr die Erlangung dieser Reife zu würdigen und als seine Freude und Ehre zu schätzen wissen, je mehr er weiß, daß mehr dazu gehört, als die bloße Fähigkeit, einer Volksversammlungsrede zu folgen und sich in irgend einem Sinne bestimmen oder umstimmen zu lassen, oder die Fähigkeit, einen Stimmzettel abzugeben, resp. ein Zeichen an einer bestimmten Stelle einzuzeichnen. Auf diese Fähigkeiten kann niemand stolz sein, wie in der Tat der Staatsbürger in der Demokratie stolz darauf sein muß, an der Auslese derer, die zu seinen politischen Führern bestimmt werden sollen, teilzunehmen. Treffend hat Max Weber das Wesen der modernen Demokratie dahin bestimmt, daß sie eine „Führerauslese“ sei. Daher läßt sich die Frage nicht umgehen, ob die Auslesenden denn wirklich dieser Tätigkeit des Auslesens gewachsen sind. Und diese [Fähigkeit] wird man im allgemeinen jungen Menschen absprechen müssen, die noch mit ihrer persönlichen Ausbildung und mit den Verhältnissen zum anderen Geschlechte, als der Vorbereitung zur Schaffung einer besonderen und eigenen Haushaltung, hinlänglich zu tun haben und in der Regel vom Staate kaum mehr als den Namen kennen. In der Monarchie werden sie in der Regel mehr kennen, nämlich wenigstens den Namen des Königs oder anderer regierender Fürsten, den sie als ihren Herren anzuerkennen geneigt sein werden, und dem sie auch, wenn er ein nicht sehr junger Mensch sein sollte, zu gehorchen oder wenigstens in Ehrerbietung zu ihm emporzuschauen, leicht überredet werden können, wenn sie nicht etwa schon ihrem Gefühle nach hinlänglich darauf vorbereitet sind. Die Demokratie stellt viel höhere Anforderungen und zwar umsomehr, je mehr wirklich die Staatsgewalt vom Volke ausgehen soll. Dies ist eine sehr junge Institution. Sie ist in einem modernen Staate 21

Führerauslese Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 47, hrsg. von Werner Sombart, Max Weber u. a., o.O. 1921, S. 76.

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wenig erprobt. Der einzige Großstaat, der in dieser Hinsicht schon eine bedeutende Vergangenheit hat, ist die Union der Staaten Amerikas. Diese war bis in allerjüngste Zeit, noch weit entfernt sogar vom allgemeinen Stimmrecht der Männer, und sogar jetzt noch ist es vielfach eingeschränkt. Vollends unerprobt ist die Wahlfähigkeit und Wählbarkeit der Frau. Überdies ist dort eine stärkere monarchische Gewalt des erwählten Präsidenten geblieben als sie bisher in den Staaten erblicher aber eingeschränkter Monarchie vorhanden war. Den demokratischen Gedanken kann diese Ausdehnung des Rechtes der Präsidenten keineswegs sympathisch sein. Denn die demokratische Republik will Selbstbeherrschung sein. Daß in dieser Hinsicht die der ständischen Verfassung Englands nachgebildete gesetzgeberische Herrschaft des amerikanischen Kongresses und seiner „Politiker“ keineswegs musterhafte Leistungen aufzuweisen hat, darf als eine notorische geschichtliche Tatsache ausgesprochen werden.

[Die Wirkungen der politischen Parteien] Das heutige politische Leben, zumal das der großen gesetzgebenden Körper, ist nicht denkbar ohne die Wirkungen der politischen Parteien. Die Partei bedeutet an und für sich nichts als einen Teil und die Teilung einer gewissen Menge von Menschen hat immer einen gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit, die durch alle Arten von Verschiedenheit der Menschen bedingt ist. Denn die vielen wollen Verschiedenes – dies ist die allgemeine Tatsache, deren Ursachen offen zutage liegen. Die Parteiung kommt umso mehr zur Geltung, wenn eine gewisse zumeist kleinere Menge vor die Aufgabe gestellt wird, als eine Einheit zu wirken, d. h. einen Beschluß zu fassen. In der Beratung, die dem Beschlusse vorherzugehen pflegt, stoßen die Meinungen aufeinander. Die Meinungen können bloße Meinungen sein, die ausschließlich auf einer verschiedenen Art zu denken beruhen; aber auch die verschiedene Art zu denken hat ihre bestimmten Ursachen, die oft deutlich genug sich offenbaren. So ist es mit den „Meinungen“, die in der Weltanschauung begründet sind: ein großer Teil davon ist schon mit der Herkunft der Menschen gegeben und rührt von der frühesten Jugenderziehung her – namentlich die Parteiung der Religionen. Sie hat eine schwere Bedeutung in der menschlichen Entwicklung gehabt und zwar gerade in der Geschichte der Neuzeit eine verhängnisvolle: nämlich in der christlichen Religion hat das Schisma eine so große und tiefgehende Rolle gespielt wie kaum in einer anderen Religion. Freilich die alte Scheidung zwischen der griechischen

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orthodoxen und der römischen der Autorität des Bischofs von Rom gehorchenden Kirche hat nur geringe historische Bedeutung gewonnen, weil bis in die neueste Zeit die der einen und die der anderen Kirche angehörigen Nationen nicht in nahem Verkehr miteinander standen und zu einander im ganzen eine achtungsvolle Entfernung blieben, wenngleich sie einmal verbündet gewesen sind gegen den gemeinsamen Feind, den Islâm, der dem Christentum ein großes schon durch die Jahrhunderte von ihm behauptetes Gebiet wieder entrissen hatte und auch über die gemeinsame Ursprungstätte, das sogenannte Heilige Land Palästina, mit dem Grabe des Stifters, die Herrschaft behauptete. Die große religiöse Parteiung der Neuzeit ist aus dem Abfall teils ganzer Länder, teils großer Volksteile von der römisch-katholischen Kirche und ihrem Haupte, dem Papste entsprungen. Nachdem die ersten heftigen Stürme und Kämpfe sich gelegt hatten ist daraus das Bestreben hervorgegangen, die politischen Einheiten mit denen der Religion oder Konfession gleichzusetzen: nicht ohne Grund hielt man das politische Zusammenleben der einander feindlichen Bekenntnisse für kaum erträglich oder doch für unheilvoll und zumindesten für höchst gefährlich. Allmählich aber, und mehr und mehr schon nachdem etwa 100 Jahre seit der Kirchenspaltung vergangen waren, haben die Leidenschaften, nämlich Haß, Neid, Fanatismus zwischen den Bekenntnissen wenn auch nicht aufgehört, so doch sich bedeutend vermindert und die Wirksamkeit des Staates nahm an Stärke zu, sodaß das Zusammenleben religiös anders Denkender unter der gleichen politischen Herrschaft möglich schien, auch wenn diese dem einen Bekenntnis durchaus zugetan war und sogar wenn etwa die Monarchie und ihr nächster Anhang nur eine geringe Minderheit vertrat. Die Toleranz wurde das politische Prinzip, die Gleichgültigkeit gegen das Religionsbekenntnis und gegen die Religionsübung des einzelnen und ganzer Mengen folgte, wurde herrschend und wandte sich mehr und mehr nicht nur gegen die Unterschiede der Lehren, sondern sogar gegen die weit voneinander abweichenden Richtungen vermeintlich gemeinsamer Religion überhaupt. So hat die religiöse Parteiung im Laufe der Neuzeit zuerst einen hohen Gipfel erreicht und ist dann auf dem tiefen Standpunkt geblieben – sie hat sich verflacht. Um so stärker ist die politische Parteiung emporgekommen und hat besonders seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts, wo sie zuerst in der großen Revolution emporflammte, eine immer wachsende, zum Teil, wie ehemals die religiöse Parteiung, in Bürgerkriegen emporlodernde Bedeutung gewonnen. Auch die religiöse Parteiung hat einen guten Teil ihrer Ursachen in den sozialen Scheidungen des Volkes, die am schärfsten durch die klaffenden Unterschiede von Reichtum und Armut bezeichnet werden; neben

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diesen freilich und in ihnen ist es der Unterschied von Stadt und Land, der Unterschied der Stände besonders der eines bevorzugten privilegierten vorzugsweise politisch herrschenden oder doch einflußreichen Adels vor der großen Menge des gemeinen Volkes, was hervorragend sich geltend macht, mit ihnen konkurrierend, aber eben auf Grund des Christentums, das versucht hatte, Unterschiede dieser Art auszugleichen, der Unterschied eines moralisch-gebieterischen geistlichen Standes von den Laien, der in der römisch-katholischen Kirche zwar auch während der letzten Jahrhunderte sich abgeschwächt hat, aber doch bedeutsam geblieben ist, während er in den protestantischen Landeskirchen nur noch dazu dient, neben dem Reste des Adels und der mehr oder minder ihm sich anschmiegenden stärkeren sozialen Schichten, der politischen Herrschaft zur Stütze zu dienen, insbesondere der monarchischen, wo diese noch dauert, selbst wenn sie zur leeren Form geworden ist. – Das vorwaltende Motiv der politischen Parteiung ist aber in der Neuzeit eben seit dem Jahrhundert der Aufklärung, vor dem die alten Farben der Konfessionenfeindschaft verblaßten, der Gegensatz zwischen den herrschenden Ständen, die ihrem Wesen nach vom Mittelalter überkommen waren, einerseits, dem übrigen Volke andererseits, innerhalb dessen aber die Stadtbürger, besonders die der großen Städte, zumal der Hauptstädte unbestrittene Führung hatten; innerhalb ihrer wiederum die Schicht, die auch in anderen als der französischen Sprache durch den charakteristischen Namen der Bourgeoisie ausgezeichnet worden ist, einen Namen, an dessen Stelle wohl auch das Wort Plutokratie sich drängt, um den Reichtum , durch den diese Schicht dem glänzendsten Teile des Adels (auch des höheren Kirchentums) nicht nur gleichkommt, sondern ihn weit übertrifft, getragen durch die Entwicklung der Volkswirtschaft, die den Großhandel dem Geldhandel und den Kapitalismus schlechthin, auch in Produktion und Verkehr, immer mehr zu den herrschenden Tendenzen des gesamten Volkslebens und politischen Lebens gemacht hat. Diese Entwicklung vertrug die alte in den einfacheren, wenn auch vielfach längst entarteten Zuständen des ländlichen Zusammenlebens gegründeten Verhältnisse der Herrschaft, nicht mehr. Die neuen sozialen Herren tätigten immer mehr das Streben, auch politisch selber zu herrschen, und dies Streben ist erfolgreich gewesen. Erfolgreich wurde es zunächst vorzugsweise dadurch, daß es die politischen Rechte besonders das Wahlrecht und die Wählbarkeit an Vermögen und Einkommen anknüpfte, d. h. die große Menge des Volkes davon fernhielt; sodann dadurch, daß es seine mannigfachen Mittel des sozialen Einflusses zu mächtiger Geltung bringt, ganz besonders durch Beherrschung der Presse, die übrigens aus den allgemeinen

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Bedürfnissen des modernen Lebens, wenn auch besonders eben aus den Bedürfnissen der Bourgeoisie hervorgegangen und genährt worden ist.

[Parteikämpfe] 5

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Die Empörungen der Bauern, die in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit vom Mittelalter her überlebten, waren keine Parteikämpfe; sie waren ohnmächtige zunächst mit den religiösen Dissensen und Streitigkeiten nahe zusammenhängende Versuche, der Entwicklung des Handels und des Kapitales sich entgegenzustemmen. Sie entbehrten der Grundlage des politischen Lebens, weil solches fast nur in den Städten vorhanden war und hier waren es hauptsächlich die Kämpfe zwischen dem Patriziat als der regierenden Minderheit und den Zünften, die an der Stadtregierung ihren Anteil zu gewinnen trachteten und zum Teil mit diesem Streben Erfolg hatten. Daneben gingen oft blutige Kämpfe gegen die Tyrannis, die in vielen Städten sich entwickelte, hin und wieder zur Landesherrschaft in den deutschen Territorien. In der späteren Neuzeit bis in die große Revolution und über diese hinaus kreuzten sich guten Teils die Kämpfe zwischen den monarchischen Regierungen und ihren Untertanen mit denen der bürgerlichen Untertanen gegen die Adligen; denn diese Adligen fühlten sich ungeachtet ihrer Privilegien als gezwungene Untertanen und fühlten sich aus den leitenden Ämtern des Staates mehr und mehr durch die bürgerlichen Elemente verdrängt. Ein dritter und zwar der bedeutendste Gegensatz der Parteien ist erst im 19. Jahrhundert zum Durchbruch gelangt: der Kampf der Arbeiterbewegung, welcher allmählich andere Bestandteile des Volkes sich anschließen, gegen das Kapital und seine Träger und Anwälte. Diese Parteikämpfe sind es, die wir um die Wende des 20. Jahrhunderts zu einer nicht geringen Höhe und Stärke entwickelt finden. Sie scheinen durch den Weltkrieg in einigem Maße verdunkelt zu sein und haben groteske unwahrscheinliche Gestalten angenommen durch die Vermischung nationalistischer mit den kapitaltreuen Gesinnungen der mehr oder minder besitzenden Klasse.

[Die Zukunft Europas liegt in tiefstem Dunkel] Schäffle urteilt: „Die Mittel der Agitation (der Parteien) sind auf alle schlechten und auf alle guten Eigenschaften, auf die niedrigsten Interessen und Leidenschaften, wie auf die heiligsten Gefühle derer berechnet, welche

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man durch die Agitation zu einer ausschlaggebenden sozialen Willenskraft vereinigen will. Die Parteiagitation wirkt auf die Furcht und die moralische Schwäche durch Schmähung, Demonstration, Einschüchterung und Terrorismus, wie auf die freie Überzeugung, auf Jeden nach dessen Art“. Die Parteiagitation habe Erkenntnis und Wertbestimmungen nicht zum Zweck sondern zum Mittel; „sie wirkt auch mit größtem Nachdruck auf das Gefühl, indem sie ihr Ziel als allein wertvoll nützlich, gut, gerecht, wahr, schön, wirtschaftlich erklärt, während sie oft mit ausgesuchter Niedertracht den Wert des gegnerischen Strebens in den Kot zieht und verleumdet, es als gemeinschädlich, unmoralisch, lügenhaft, schamlos, als Ruin alles Wohlstandes und Bürgerglückes darstellt, und oft in demselben Augenblick, da die Partei selbst alle Moral und alle Rücksicht auf den gemeinen Nutzen mit Füssen tritt.“ Es darf bezweifelt werden, ob Schäffle, der freilich Handelsminister im Östreichischem Staate gewesen war, wirklich über eine Erfahrung verfügte als er dies schrieb – vor 1875 – die ihm das Recht gab, eine so allgemeine Schilderung des Parteiwesens und Parteigeistes auszusprechen. Die Frage ob es nach den ungeheuren Erschütterungen eines Weltkrieges die Erscheinung eines solchen Parteiwesens und Parteigeistes gegeben hat und noch gibt, wird man eher Grund haben zu bejahen, auch wenn man etwa der verfehlten und durchaus verfrühten Institution eines über alle vernünftigen Grenzen hin ausgedehnten allgemeinen Wahlrechtes die Hauptursache dieser Verwilderung und Zerrüttung mit Recht zuschreiben mag. Der gegenwärtige Staat sieht sich vor neue und ungeheure Aufgaben gestellt, deren Lösung ein im höchsten Grade konzentriertes und besonnenes Denken, wie es nur an der wissenschaftlichen Logik geschult werden kann, in Anspruch nimmt. Diese Aufgabe ist bekanntlich die der sozialen Frage oder wenn man lieber will der vielen sozialen Probleme, die gleichermaßen an Verstand und Einsicht wie an Gemüt und Gewissen jedes politischen Denkers also auch jedes Staatsmannes appellieren. Hier müssen die früheren Erörterungen über die soziale Entwicklung der Neuzeit in Erinnerung gebracht werden. Eine höchst merkwürdige Erfahrung ist durch den Ausgang des Weltkrieges und den Untergang der letzten monarchisch absolutistischen Staatsform in Europa, des Zarismus hervorgerufen worden. Mit einem radikalen Eifer, der daran erinnert, daß Bluntschli in den Spuren der Gebrüder Rohmer den 4 13

nach dessen Art: Albert Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers, Band 1, Tübingen 1875, S. 561. mit Füssen tritt: Ebda., S. 561.

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Radikalismus aus der Knabennatur ableiten wollte und demgemäß zu schildern versuchte, scheint in dem ungeheuren und bis dahin noch wenig im Geiste der Neuzeit fortgeschrittenen Reiche der Versuch gemacht zu werden, den Wirkungen einer kapitalistischen Herrschaft, die sich zu regen eben begonnen hatte, zu wehren und sie ehe sie sich entfalten konnte, mit der Wurzel auszutilgen – ein Experiment, dem die gesamte Kulturwelt mit gespannter Aufmerksamkeit und nicht ohne Bewunderung zuschaut, wie schwach auch der vorwaltende Glaube an ein Gelingen gerade im fortgeschrittenen und unterrichteten Teile des industriellen Proletariats der höher entwickelten Länder sein möge. Es ist möglich, und nicht unwahrscheinlich, daß dies Experiment und seine Folgen spurlos wieder verschwinden werden. Der Fortgang der Dinge in den ausgesprochen kapitalistischen Staaten, besonders auch jenseits des Ozeanes ist davon nicht abhängig. Wohl aber darf als epochemachend verstanden werden, was in diesen Ländern jüngst als die große industrielle Krise, die man als Weltkrise dem Weltkriege anzureihen genötigt ist, erlebt wurde und erlebt wird. Mit gutem Grunde wird dies Ereignis nicht nur als eine Krise, sondern als eine große historische Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung, die oft als eine große Unordnung charakterisiert worden ist, angesehen und beurteilt. Sie bezeichnet eben den Punkt, an dem der Geist der Neuzeit angelangt ist und über den hinwegzukommen die politischen Toren für allzu leicht, die politischen Denker vielleicht für allzu schwer erachten. Es ist in der Tat die soziale Weltordnung, die hier in Frage gestellt ist: um zerstörerischen Kämpfen zu wehren, wäre ein gewisses Maß von Verständigung zwischen den wissenschaftlich und technisch am meisten fortgeschrittenen Teile der Bourgeoisie und dem ebenso – wenn auch in anderem Geiste – fortgeschrittenen Teile des Proletariates das Mittel, von dem man sich am meisten Heil versprechen dürfte, wenn darin der Geist zur Humanität, der Freiheit und der Gedanke des Gemeinwohles leitend würden; und in dieser Richtung hat im Deutschen Reiche die Entwicklung während der vierzehn schweren Jahre sich bewegt, die einem verlorenen Kriege folgten. Diese Entwicklung ist unterbrochen worden und mit einer Flut von faden allem wissenschaftlichen Geiste hohnsprechenden Reden ertränkt worden. Daß sie wieder zum Leben gelange ist unwahrscheinlich. Die Zukunft Europas liegt in tiefstem Dunkel.

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Knabennatur ableiten: Johann Caspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Erster Band, 2. Auflage, München 1857, S. 161.

[Besitz und Eigentum als soziale Werte] [Das gemeinschaftliche Eigentum] 5

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Das Eigentum ist an sich ein Rechtsbegriff, ihm liegt aber die Tatsache des Besitzes zugrunde, die im Rechte, d. h. einer geltenden Rechtsordnung regelmäßig auf Sachen beschränkt wird, an sich und im Sprachgebrauch aber auch auf Personen und rein geistige Dinge sich bezieht. So besitzt man seine Kinder, seine Freunde, man ist im Besitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte, besitzt seinen Ruf, sein Ansehen, Talente usw. – Hier aber werden Besitz und Eigentum betrachtet, insofern als sie soziale Werte darstellen. Jedes Zusammenleben, jedes soziale Verhältnis, jede Samtschaft, jede Körperschaft haben und schätzen gemeinsame Werte, die als solche Sozialwerte sein sollen. Als solche werden hier in erster Linie Sachen betrachtet, die auch im Sinne des Rechtes Gegenstände des Eigentums sind, demnächst aber alles andere was ein Mensch besitzen kann, daher auch mehrere zusammen besitzen können. Als gemeinsames Eigentum betrachten wir daher wegen ihrer vorzüglichen Wichtigkeit: l. das von Ehegatten, 2. Familieneigentum, 3. Gemeindeeigentum – das der Dorfgemeinden und der Stadtgemeinden. In allen diesen Fällen handelt es sich um den Begriff des gemeinschaftlichen Eigentums: daß nämlich die Gemeinsamkeit als das frühere – ursprüngliche – gedacht wird, das vereinzelte, individuelle Eigentum als abgeleitet oder sekundär. Eine gewisse Gütergemeinschaft gehört zum Wesen der Ehe. Denn sie folgt aus dem Zusammenwohnen, das seiner Natur nach und in der Regel die Gemeinschaft und Tisch und Bett einschließt: gemeinsame Mahlzeiten und 1

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Besitz und Eigentum als soziale Werte: Es sind weder Kapitel-Überschriften noch weitere Untergliederungen vorhanden. Der Text des „2. Teiles von GdN III“ (Blatt 382 bis Blatt 396 und Blatt 437 bis 443) liegt transkribiert vor. Die Seiten sind teilweise mit „GdN III“ links oben in der Ecke handschriftlich bzw. in Maschinenschrift gekennzeichnet. Außerdem befindet sich darunter bzw. rechts oben eine zum Teil handschriftlich erstellte Durchnummerierung von 1 bis 22, die teilweise durch eine andere Paginierung überschrieben ist. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 382 bis Blatt 396 und Blatt 437 bis 443). soziale Werte darstellen: Siehe dazu: Ferdinand Tönnies, Einführung in die Soziologie, Kiel 1931, S. 133 ff.

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gemeinsames Lager. Wenn die Ehefrau Kinder gebiert, so schätzt und hält auch der Ehemann sie als die seinen: sie sind ein gemeinsames Gut, gemeinsamer Besitz. Ebenso alles was zur gemeinsamen Haushaltung gehört, also Menschen, Tiere und tote Gegenstände, sofern sie als Güter geschätzt werden, insbesondere etwa ein Stück Grund und Boden. Ob dieses nun im Rechtssinne Eigentum ist, oder aus einem anderen Grunde besessen wird. Das gilt auch von dem Hause, oder dem Teil eines Hauses, der bewohnt wird. – Die verschiedenen Systeme des ehelichen Güterrechts bleiben hier außerhalb der Betrachtung. Indessen ist von diesen das System der vollen Gütergemeinschaft dasjenige, dem soziologisch die größere Bedeutsamkeit zukommt. Es ist dasjenige, welches in bezug auf alle Gegenstände des haushälterischen Gebrauches und Genusses das allein mögliche ist: hier ist offenbar das Gemeinsame die Regel, das Gesonderte sekundär. Jedoch findet sich sehr häufig, daß das eigentliche Vermögen in der Regel eine Mannigfalt von Gütern, die räumlich zerstreut sind, der Frau vorbehalten bleibt, wenn auch dem Manne dem Rechte nach die Verwaltung zusteht. Jenes aber bedeutet vielfach, daß die Familie der Frau ihre Rechte sich vorbehalten will, es [ist] also nicht schlechthin auf eine gesellschaftliche (individualistische) Ansicht der Ehe zurückzuführen, sondern beruht historisch, und noch in der Praxis, vielfach darauf, daß Frauen ihrer eigenen Familie gegenüber minder leicht die volle Selbständigkeit des sozial wirksamen, also auch der erwerbstätigen Person, mithin die Selbständigkeit im Rechte gewinnen –. Familieneigentum ist in erster Linie das ungeteilte Gut einer Erbschaft, und hier unterscheidet sich der altherkömmliche und auch heute noch in der weit größeren Menge der Menschheit herrschende soziale Zustand dadurch, daß sehr oft das hinterlassene Gut ungeteilt bleibt, daß die Erben auch nach dem Tode des Erblassers fortfahren, zusammen zu wohnen, woraus das System des Familienbundes (joint family des englischen Rechtes auf Grund der Tatsachen in Indien) entstand, daß auch in den deutschen Gan-Erbschaften des Mittelalters überlebte. Einige Forscher wie Sir Henry Maine lassen das ganze Clansystem, die Gens oder Sippe aus solchen patriarchalischen Verbänden entstehen, wie andere wohl mit Recht diese für älter halten, weil man sie schon aus der Mütterfolge sich ergebend 28 30

joint family: Im Original steht „joined family“. Die „joint family“ bezeichnet eine gemeinsame Familie oder ungeteilte Familie, ist also eine Großfamilie. Gan-Erbschaften: Eine Ganerbschaft war nach altdeutschem Erbrecht das gemeinsame Familienvermögen, vorwiegend Grundbesitz, über das die Ganerben nur gemeinsam verfügen konnten.

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findet und weil diese durchaus als die frühere und ältere Institution gegenüber der vaterrechtlichen Klein- oder Großfamilie verstanden werden muß. Gewisser ist der tatsächliche Übergang des Planverbandes in die Dorfgemeinde, denn das Dorf ist in seinen Anfängen vielfach eine Sippe, d.i. eine Geschlechtsgenossenschaft oder das Glied einer solchen, das sich auf einem gewissen Boden niedergelassen hat, und dieser heißt dann Dorfmark und stellt ein natürliches gemeinschaftliches Eigentum dar. Oft ist sie freilich nur Teil einer größeren Mark, deren Inhaber im deutschen Recht sich Markgenossenschaft nennt, und ihrem überwiegenden Bestande nach ebenfalls ihrem überwiegenden Bewußtsein nach, ebenfalls auf Blutsverwandtschaft beruhen. Hier tritt überall das Gemeineigentum an Grund und Boden entgegen, wenn auch frühzeitig die Zuteilung des Ackerlandes und der Wechsel des Besitzes wie der Bearbeitung, dem festen Besitz der Familien gewichen ist – die Feldgemeinschaft bleibt als wirtschaftliche Einheit der Dorfgemeinde solange Ausdruck der Gemeinschaft im soziologischen Sinne, als sie durch Gemengelage und Flurzwang, also durch gemeinsame Ordnung die Wirtschaft jedes Genossen oder Hufners von sich abhängig erhält, also beherrscht und bedingt; auch die der etwaigen weltlichen oder geistlichen Herren, die ihre Anteile an dem gemeinschaftlichen bebauten und gepflegten Acker haben und schätzen. Ferner aber bleibt als Gemeineigentum das nicht urbare Land, Wald, Weide, dazu Wasser, oft auch Wiesen: Güter wie vor allem auch für mitgebrachte oder später angesiedelte Hintersassen, die sonst arm, weil ohne Anteil an Ackerland und abgeteilten Wiesen, oder mit schlechtem und zu geringem Anteil abgefunden, bei vermehrter Bevölkerung immerhin einen gewissen Rückhalt behielten, besonders an der gemeinen Weide, solange als diese ihnen offen stand wie das Stoppelfeld nach getätigter Ernte. Diese in einigen Beziehungen kommunistische Ordnung des Eigentums, deren eine große Bedeutung darin schon besteht, daß ursprünglich wie etwa noch heute in Indien, Rußland, in südslavischen Ländern das Dorfleben den bei weitem größten Teil des Volkslebens ausmacht, geht zunächst auch in die Städte über, denn die Städte sind ihrem Ursprunge nach ummauerte Dörfer und sie pflegen ihre Mark, ihren Wald, ihre Weide gleich den Dorfge2

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Klein- oder Großfamilie: Henry Sumner Maine, Lectures on the Early History of Institutions, London 1875. Unter dem Einfluss von Maine sah Tönnies den Tausch als gesellschaftlichen Akt, der auf Kontrakt und nicht auf Status begründet ist. Planverbandes: Wahrscheinlich handelt es sich um einen Schreibfehler und soll „Clanverbandes“ heißen.

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meinden. Aber das städtische Zusammenleben ist nur bei dünner Bevölkerung mit Ackerwirtschaft vereinbar und beschränkt sich meistens bald auf Hauswirtschaft und Gartenwirtschaft – die Bürger gewinnen mehr und mehr ihre Nahrungsmittel wie andere Gegenstände ihres Bedarfes auf dem Markte als Entgelt für ihre eigene Leistung, die von ihnen hergestellten Güter. Es erhalten und bewähren aber die Zusammenhänge und Einigungen der Familien als Brüderschaften und Gilden, die ihre größte Bedeutung gewinnen in den Gewerbsgilden der Handwerker, in dem die freie Einung der Genossen und die Verleihung des Handwerks als eines Amtes von der Gemeinde an die Genossenschaft zur Bildung des Zunftwesens zusammenwirken.

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[Das gesellschaftliche Eigentum] Wie sich das Eigentum enger Kreise, z. B. eines Ehepaares innerhalb des gemeinsamen Eigentums weiterer Kreise erhält, so erhält sich auch innerhalb aller Gemeinsamkeiten das schlechthin private individuelle Eigentum. Am meisten natürlich ja notwendig ist solches an den Gegenständen des unmittelbaren persönlichen Gebrauches und Genusses, demnächst auch an den Mitteln und Stoffen der eigenen Arbeit als Besitz und natürliches Eigentum, auch wenn etwa von rechtswegen solche Sachen einem anderen gehören. Im gleichen Sinne, nämlich als Substrat seiner Arbeit betrachten wir auch ein Grundstück als Privateigentum, wenn auch gedacht werden mag, daß der einzelne Mann nur als Haupt seiner Familie der Inhaber und Besitzer ist. Als solcher aber mag er auch andere Gegenstände von Wert, d. h. die in einem weiten Kreise geschätzt und begehrt werden, endlich eine Menge Geldes als des Mittels andere Gegenstände aller Art zu erwerben besitzen. Aber der Besitz des Geldes ist in vielfacher Hinsicht von besonderer Bedeutung: indem man frei darüber verfügen kann und nach Belieben darüber verfügt, kann man es auch zu Kapital machen, will sagen zur Ursache seines eigenen Wachstums, nämlich durch die beiden Methoden des Darlehens und des Handels. Die andere Eigenschaft des Geldes ist, daß beliebige Mengen davon die einer besitzt, mit beliebigen Mengen, die ein anderer und mehrere andere besitzen zusammengefügt werden können, 12 26

[Das gesellschaftliche Eigentum]: Bei diesem Kapitel handelt es sich um eine Paraphrase des Paragraphen 5 im dritten Buch von „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Aber der Besitz: Ab hier (Blatt 386 bis Blatt 396) ist der Text noch einmal in GdN II 5tes Kapitel §54 (Blatt 319 bis Blatt 328). Siehe dazu auch die Hinweise auf Seite 91. Die Fußnoten gelten auch für diesen Text.

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sowohl zu dem gewöhnlichen Zwecke des Geldes, Gegenstände zum Gebrauche und Genuß im Tausch zu erwerben, als auch zu dem darauf beruhenden Zwecke des entgeltlichen Darlehens und des Handels. So wird Geld Gegenstand eines im soziologischen Sinne gesellschaftlichen Besitzes und Eigentums. Dieses also teilt mit dem gemeinschaftlichen Eigentum das Merkmal des sozialen Wertes; es steht im Gegensatz zu ihm gemäß dem anderen Verhältnis des Individuums zu einer Mehrheit. Im gemeinschaftlichen Eigentum ist das Gemeinsame früher, das Privateigentum beruht darin und folgt aus ihm; im gesellschaftlichen Eigentum ist das Verhältnis umgekehrt; das Privateigentum erhält sich als Anteil innerhalb des sozialen Eigentums, das auch erst durch Zusammenfügen solcher Teile gebildet oder doch als dadurch gebildet gedacht wird. Die Sozialgeschichte wird bezeichnet durch diese Entwicklung, die gleich allen sozialen Entwicklungen mit sehr starken Hemmungen zu kämpfen hat, gegen solche nur langsam sich durchsetzt. Es ist in erster Linie die Entwicklung des Kapitals in seinen beiden Gestalten als Darlehen und als Handel, endlich als eine besondere und am tiefsten in die bisherigen Gestaltungen des sozialen Lebens eingreifende Art des Handels erscheint die kapitalistische Produktion, deren epochemachende Bedeutung sich [zum] wichtigsten Gegenstande der Politik und des kritischen Studiums gemacht hat. Die Entwicklung ist also eine Eroberung. Das Kapital ist schließlich von Sieg zu Sieg fortgeschritten. Eine soziale Ordnung, in der es keine oder eine geringe Ordnung spielte, hat innerhalb und unterhalb dieser Entwicklung sich erhalten, ist aber in ihrem Kerne gebrochen und überwunden worden. Dies ist es, was in großen Zügen, aber auch mit tiefgehenden Einzelausführungen, nach dem bahnbrechenden Werke von Karl Marx, Werner Sombart als den modernen Kapitalismus geschildert hat – als einen Prozeß, dessen Keime schon ins Städteleben der letzten Jahrhunderte des Mittelalters gelegt waren, dessen enorme Fortschritte und Erschütterungen aber die Neuzeit, daher auch die Gegenwart immer tiefer erfüllen und vermutlich noch nicht auf ihren Höhepunkt gelangt sind. Diese Entwicklung ist mit gutem Grunde als ein großer Vorgang der Befreiung gedeutet und gefeiert worden. In erster Linie ist es eben die Befreiung des Privateigentums was so ungeheure Wirkungen ausgelöst hat. Seiner Natur nach war es immer das Eigentum an Geld das freieste, also das Eigentum des Kaufmanns, ob er nun Waren eingekauft hat, um durch deren 27

Karl Marx, Werner Sombart: Im Manuskript schreibt Tönnies Carl Marx und Werner Sombarth.

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Verkauf, seien sie unverändert oder vermischt oder anderen Veränderungen unterworfen, zu seinem Vorteile zu verkaufen; oder möge er als Geldhändler eine Geldsorte gegen eine andere eintauschen, möge er Geld gegen die Aussicht mehr Geld zu erhalten, ausleihen, oder möge er endlich anstatt fertige Waren einzukaufen ihre Herstellung veranlassen und etwa auch unterstützen – die einfachste Form dieser ihrem Wesen nach sehr alten Produktionsweise. Der Handel hängt aufs engste mit dem Verkehr zusammen, zumal als Warenhandel d.i. mit Überwindung der Schranken, die von Natur zwischen den Plätzen der gewohnten Erde vorhanden sind, daher sind auch die natürlichen Straßen und zwar neben den Landwegen bald die Wasserstraßen, zunächst die der Flüsse, sofern sie schiffbar sind, sodann der Landseen, ferner der Binnenmeere, endlich der Ozeane, Fahrstraßen, auf denen der Handel am leichtesten fortschreiten kann, und zugleich weil nicht jeder fähig und geneigt ist auf solchen mehr oder minder gefährlichen Straßen sich zu bewegen. Denn die natürlichen Landwege sind knapp und gering. Am günstigsten und dankbarsten als Gebirgspfade, die aus einer Gegend in eine andere fremde führen, wie es zum guten Teile auch der Vorzug des Wassers ist. Landstraßen, breite und festere müssen erst nach dem Muster städtischer Straßen gebaut werden, und so haben diese Landstraßen eine lange Geschichte, bis sie stark genug sind, dem Unwetter und anderer Zerstörung zu trotzen und bis endlich neben ihnen Schienenwege gebaut werden, besonders um Wagen die durch mechanische Kraft bewegt werden leichtere und geschwindere Fahrt zu gestatten. Wege durch die Luft sind weder von Natur vorhanden noch künstlich zu schaffen, sie sind ganz durch das Fahrzeug bedingt, dessen Entwicklung erst in jüngster Zeit begonnen und bisher für den Handel nur geringe Bedeutung gewonnen hat. Alle Entwicklungen des Verkehrs sind gleich denen des Handels Ergebnisse schwerer Anstrengungen, die im Laufe von 4 Jahrhunderten sich immer vermehrt haben und von Europa aus über die ganze Ökumene verbreitet wurden, ja in gewissen Kolonialgebieten eine gewaltige Steigerung erfahren haben. In allen diesen Vermehrungen und Verstärkungen des Handels und Verkehrs ist das Kapital und also das Erwerbsinteresse unablässig tätig gewesen, teils aus der Urheberschaft einzelner Personen, aber zum größten und immer wachsenden Teile als assoziiertes gesellschaftliches Kapital. Alle diese Fortschritte sind durch das befreite Privateigentum erzielt worden.

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[Die Freiheit des Eigentums]

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Die Freiheit des Eigentums ist ein wesentliches Stück allgemeiner menschlicher Freiheit, die als Freiheit der Person in ihren mannigfachen Auswirkungen als Freizügigkeit, Auswanderungsfreiheit und Freiheit der Wanderung und des Reisens überhaupt; als Religions- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Eheschließung, endlich der ökonomischen Betätigung und als Wechselfreiheit, von der wissenschaftlichen und philosophischen Denkungsart des ganzen Zeitalters getragen, Postulate der öffentlichen Meinung geworden sind, die selber durch die Pressefreiheit eine stark erhöhte Macht gewonnen hat. Alle diese Freiheiten wurden zusammen mit der Freiheit des Eigentums und mit den politischen Freiheiten als notwendige Lebensbedingungen gedacht, die es ermöglichen würden, für jeden vernünftigen und rechtschaffenen Mann (an Frauen wurde zunächst selten gedacht) auch wirtschaftlich sich zu erhalten und sich fortschreitend zu entwickeln. Die Freiheit des Eigentums wurde auch nicht bloß als die des Handels, also des Geldes und des Kapitals verstanden, sondern vor allem auch als die des Grundeigentums, und sollte jedem freien Besitzer eines wenn auch noch so bescheidenen Grundstückes zugute kommen. Die eigentliche soziale Macht aber die hinter dieser gesamten Ideologie wirksam war und sie zwar nicht ausschließlich bestimmte, aber doch wesentlich förderte und mittelbar beherrschte, war die Macht des Kapitals also der Kapitalisten als der Interessenten und Nutznießer dieser Freiheiten, und unter ihnen vorzugsweise der schon durch Erbschaft oder andern Erwerb Vermögenden: sie waren und sind die Interessenten und Nutznießer dieser Freiheiten in erster Linie, dies tritt mit der fortschreitenden Entwicklung immer mehr dadurch zutage, daß eine immer größere größer werdende Menge des gesamten Volkes alles Besitzes wenigstens alles Anteils an Grund und Boden und an Kapital ledig wird, während das große Eigentum in den Händen einer kleinen Minderheit sich sammelt. So wird das Privateigentum ein Mittel der Herrschaft über die große Menge derer die ihre Arbeitskraft oder geistige Leistungsfähigkeit darbieten, um ihren Lebensunterhalt und einen Anteil an den Gütern und Genüssen die sie selber hervorbringen zu gewinnen. So entwickeln sich die zwei einander entgegengesetzten Ansichten des Privateigentums. Die eine sieht es im Lichte der Freiheit als der für natürlich und vernünftig gehaltenen Sonne des sozialen Lebens, mit Einschluß der Freiheit des Wettbewerbs, und läßt den Erfolg in Gestalt eines wachsenden Reichtums ohne Grenzen, sofern nur der Erwerb innerhalb der förmlichen Schranken des Rechtes, als unanfechtbar und in dem Sinne als Eigentum geltend wie überhaupt

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Rechte erworben werden; zugleich aber behauptet sie auch die vollkommene ökonomische Zweckmäßigkeit des kapitalistischen Systemes innerhalb dessen die Leistung der Klugheit in Verwaltung des Kapitals und Bodens ihre Krönung empfange, das Wagnis seine Prämie und im ganzen vermöge dieser Leistungen und Wagnisse die beste überhaupt mögliche Ordnung des wirtschaftlichen Zusammenlebens, also der Gesellschaft sich ergebe. Die andere Ansicht leugnet alle Voraussetzungen dieser Gedankenfolge. Sie erklärt es für unnatürlich, daß Arbeitskräfte und Arbeitsmittel voneinander getrennt sind, daß die Privateigentümer über die Arbeitsmittel verfügen können zu ihrem eigenen Nutzen also um Gewinne zu erzielen, und eben diese Herrschaft immer mehr zu erweitern, wenn es ihnen immer gelingt, Arbeitskräfte dafür in ihre Gewalt zu bekommen und diese mit einem Anteil an der Gesamtheit des Produktes abzufinden, auf Grund dessen die in der Lage sind, sich fortzupflanzen, ohne daß sie aber mehr als eine geringe Chance gewinnen, an der Verfügung über irgendwelche Arbeitsmittel einen Anteil zu erhalten. Unter diesem Gesichtspunkte nennt man alles Einkommen, das in Gestalt von Grundrente, von Zinsen, von Unternehmergewinn und Handelsgewinn aus einer Volkswirtschaft oder gar aus der gesamten Weltwirtschaft dem Privateigentum zufließt arbeitloses Einkommen und im moralischen Sinne zwar als rechtmäßig angeeigneten Mehrwert aber je nach dem Urteil darüber als verdient oder unverdient. Diese Ansicht beruft sich darauf, daß nur ein gegebenes gesetzliches und positives Recht eine solche Verteilung der Güter bewirke und möglich erhalte: dies Recht aber sei nicht das natürliche, also nicht das moralisch und logisch gerechtfertigte Recht, sondern es beruhe nur in der tatsächlichen Macht und Gewalt der Privateigentümer selbst als der besitzenden und herrschenden Klasse. Es ergebe sich also der Widerspruch, daß die Privateigentümer selber eine Ordnung als notwendig und natürlich verkünden und erhalten, die sie zu ihrem Nutzen ideell gemacht haben, obwohl es offenbar sei, daß andere Kräfte und Interessen eine andere Ordnung zu machen fähig seien und diese mit mehr Recht als natürlich und notwendig darstellen könnten, wenn sie zu dieser Erkenntnis gelangt wären und als die Mehrheit im Volke jedenfalls imstande sein müßten, ihren Willen durchzusetzen und einer geringen Minderheit aufzuzwingen. Offenbar bewegt sich in der Richtung dieses Gedankenganges seit bald 100 Jahren, allmählich aber mit der zunehmenden Beschleunigung des freien Falles wachsend die Entwicklung des politischen Lebens und der politischen Meinungen. Die demokratische Gestaltung des Staates muß dem Gedanken zugute kommen, sofern nicht andere Momente, die mit diesem politischen Fortschritt einhergehen hemmend und sogar aufhebend wirken. Und dies ist allerdings in hohem Maße der Fall. Zunächst verhüllen viele Elemente die wahre Gestalt der

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Dinge, vor allem die Tradition und die hergebrachten, zumeist auch durch religiösen Glauben mitbedingten Meinung. Auch darauf, und unmittelbar erhält sich Einfluß und Autorität der besitzenden Klassen: auch auf die Gedanken wissenschaftlicher Art und ihrer Träger wirken diese auf verschiedenen Wegen mehr von unbewußter als von bewußter Art. Hinzu kommt eine begründete Furcht vor den Folgen großer Veränderungen in den Grundlagen des wirtschaftlichen und also des täglichen Lebens, und die begründete Sorge, daß die starken Motive der Not auf der einen, des Strebens nach Reichtum und nach Vermehrung des Reichtums auf der andern Seite nicht hinlänglich und nicht rasch genug ersetzt werden können durch Motive des Pflichtgefühls, der Gewohnheit und der Einsicht: die Kräfte der Erhaltung haben in diesem Gebiete eine überwältigende Macht, viel stärkere als in dem rein politischen, und sogar als in dem der Weltanschauung und des Glaubens.

[Die positiv rechtliche Begründung des Eigentums] 15

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Unter den Theoretikern des Eigentums hat sich mehr und mehr die Überzeugung festgesetzt, daß die hergebrachten naturrechtlichen Begründungen, soweit sie ihrem Sinne nach richtig sind, auf die höchstentwickelten Eigentumsverhältnisse der modernen Gesellschaft nicht schlechthin anwendbar sind: dies gilt insbesondere von der sogenannten Arbeitstheorie, die das Privateigentum auf das unmittelbare Verhältnis des Menschen zu seiner Schöpfung also seinem Werke ableitet, daher allerdings auch auf die heutige Eigentumsordnung anwendbar ist, insofern als diese in Widerspruch gegen die Lehren der Juristen ein geistiges Eigentum behauptet als Eigentum der Verfasser und Urheber von Schriften, Büchern, Kunstwerken, Erfindungen und Schöpfungen des Geistes überhaupt. Wenn das geistige Eigentum als Erzeugnis des positiven Rechtes gedeutet wird, so ist dies nur ein Korrelat zu der allgemeinen These, daß das bestehende Eigentum nicht naturrechtlich sondern durchaus positiv rechtlich begründet ist, also prinzipiell der Veränderung durch die Gesetzgebung ausgesetzt ist und anheimgegeben werden muß. In der Praxis aber bewährt sich diese „Legaltheorie“ in mannigfacher Weise, am stärksten durch die Tatsachen der Enteignung, die längst als eine mögliche und unter Umständen notwendige Beschränkung, ja Aufhebung des Privateigentums insbesondere an Grundstücken anerkannt worden ist. Lebhaft nachgewirkt hat in dieser Hinsicht die liberale, sonst allem Privateigentum günstige Denkungsart durch ihre überlieferten und wesentlichen Gegensätze gegen den Feudalismus und das große erbliche Bodeneigentum, zumal die Anhäufung des Besitzes großer Landgüter

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zu Latifundien in den Händen weniger Herren und weniger Familien – eine Anhäufung, die ehemals in Preußen und anderen deutschen Staaten sogar durch die Privilegierung der Fideikommisbildung begünstigt worden ist. Demgegenüber hat Art. 155 RV die Verteilung und Nutzung des Bodens der Wachsamkeit des Staates unterstellt und die neuen Grundsätze der Auflösung aller Fideikommisse und der Zulässigkeit der Enteignung solchen Grundbesitzes verkündet, dessen Erwerb zur Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses, zur Förderung der Siedelung und Urbarmachung des Bodens oder zur Hebung der Landwirtschaft als notwendig erkannt wird. Im Zusammenhange damit hat auch das von der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung am 11. August 1919 beschlossene Reichssiedelungsgesetz, das die schon am 29. Januar 1919 Reichssiedelungsverordnung bestätigen und erweitern will, die Einzelstaaten verpflichtet, neue Ansiedelungen zu schaffen, und zu diesem Behufe nicht nur den Siedelungsunternehmen ein Vorkaufsrecht verliehen, sondern auch mit Hilfe von Enteignung die Erwerbung besiedlungsfähiger großer Güter vermittels der Landlieferungsverbände aufgegeben namentlich solcher Güter 1. die während des Krieges von Nicht-Landwirten erworben waren; 2. walzender Güter (die während der letzten 20 Jahre den Besitzer mehrmals gewechselt haben); 3. besonders schlecht bewirtschafteter; 4. solcher die in Abwesenheit der Eigentümer bewirtschaftet werden; 5. endlich solcher, die zu Besitzungen von ungewöhnlich großem Umfange (Latifundien) gehören. – Es ist hiermit ein großer ja entscheidender Schritt geschehen, wenn auch der Fortgang auf diesem Wege einstweilen durch die allgemeine Tendenz zu revolutionären und gegenrevolutionären Veränderungen stark gehemmt worden ist. In nicht ferner Zeit wird das Prinzip der Enteignung aus sozialpolitischen Gründen, wie Adolf Wagner es genannt hat wieder aufleben und sich durchsetzen. Wagner der dieses Hauptgebiet des Enteignungsrechtes, als das 4. noch für lange Zeit am Ende des vorigen Jahrhunderts noch für unwahrscheinlich erklärte, obgleich es ebenso berechtigt sei als in einem der älteren Fälle, würde wenn er noch am Leben wäre, heute die Anwendung durchaus für geboten halten und für ebenso berechtigt wie in einem der älteren Fälle, wo es generell

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RV: Im Original schreibt Tönnies R.V. Der Artikel 155 der Weimarer Reichsverfassung beginnt folgendermaßen: Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise überwacht, die Mißbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien, besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechende Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu sichern.

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zur Anwendung gekommen ist, z. B. in agrarischen und gewerblichen Entlastungen und Ablösungen. ***

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Entlastungen und Ablösungen: Auf Blatt 396 endet die teilweise Textgleichheit mit GdN II 5tes Kapitel §54 ff.

[Entwicklung der Zivilisation] [Kultur und Zivilisation] 5

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Mit dem Begriffe der Kultur konkurriert der Begriff der Zivilisation, und hat in der Tat zum guten Teile, zumal in den romanischen Sprachen und in der englischen denselben Inhalt. Freilich hat man auch längst einen Unterschied gefühlsmäßig erkannt, neuerdings auch wohl auszuprägen versucht, wie ich es schon in der ersten Auflage des Buches „Gemeinschaft und Gesellschaft“ gewagt habe, indem ich Kultur in eine wesentliche Beziehung zur Gemeinschaft, Zivilisation in eine ebensolche zur Gesellschaft als vorwaltender Gestalt des menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens gesetzt hatte. Wenn wir dies Wagnis wieder aufnehmen, so dürfen wir an die Etymologie anknüpfen, die den Civis oder städtischen Bürger als den Träger der Zivilisation herausstellt womit nicht gemeint ist, daß Kultur und Gemeinschaft der Stadt getrennt sei – im Gegenteil. Die historische Erfahrung lehrt, daß die höheren Elemente der gemeinschaftlichen Kultur in den Städten zu ihrer höchsten Blüte und Geltung gelangen; zugleich jedoch die Elemente des gesellschaftlichen Lebens, die in einem möglichen Gegensatz zu denen des gemeinschaftlichen durch die Bedingungen des dichteren und dadurch fremderen Zusammenwohnens ihre Nahrung finden zum guten Teile in den Ausdrücken der Kultur selber zu ihrer Geltung gelangen. Es versteht sich, daß dies im strengsten Sinne objektiv verstanden werden muß, ohne daß eine etwaige höhere oder geringere Schätzung der einen oder der anderen Elemente dabei in Frage kommt.

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Mit dem Begriffe: Ab Blatt 396 und ab Blatt 437 bis 443 ist der Text noch einmal in GdN IV B (Blatt 311 bis Blatt 318) vorhanden. Die Texte weisen allerdings erhebliche Unterschiede auf. Gemeinschaft und Gesellschaft: Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887.

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[Wirkungen des städtischen Lebens] Die Wirkungen des Werdens und Wachsens der Stadt auf das politische Leben sind mit Händen zu greifen. In allen modernen Sprachen hat die Politik ihren Namen von der Polis empfangen, nachdem in dieser zuerst ein Gemeinwesen, das durchaus auf vernünftige Einung gegründet sein will, sich entfaltet hat. Das freiere und lebhaftere geistige Leben knüpft z. T. an die politischen, zum großen Teil aber schon an die allgemeinen und sozialen Wirkungen des städtischen Lebens sich an. Was in dieser Beziehung die Erfahrung lehrt, läßt sich auch als wahrscheinlich ableiten. Das dichtere und nähere Zusammenleben fördert das Gespräch, mithin auch die Disputation, begünstigt eben dadurch das Denken, und zwar besonders das Denken in seiner entwickelten Gestalt als diskursives und der Anlage nach logisches ja dialektisches Denken. Die Stadt läßt ferner manche Künste, die dem Landleben ferner bleiben, also die bildenden und gestaltenden mehr noch als die redenden und tönenden wachsen und gedeihen, weil das dichtere Zusammenwohnen sie dringender erfordert, weil die Fülle der Güter des Reichtums, der so oft die entwickelte Stadt zeichnet, die Befriedigung der Bedürfnisse besonderer Art, die Erfüllung der Wünsche phantastisch daher auch vornehm und reich Personen leichter und wahrscheinlicher erscheinen läßt. Dazu tritt als ein wesentliches Element, daß das städtische Handwerk den Geist in eine Richtung entwickelt, die den Übergang zur Kunst erleichtert. Aber in noch höherem Grade charakteristisch als die Kunst ist für den Fortschritt des städtischen Lebens, und gerade für den in gesellschaftlicher Tendenz, die Wissenschaft, wissenschaftliche Tätigkeit und wissenschaftliches Denken. Denn die Wissenschaft hängt auf besonders nahe und starke Art mit dem Handel zusammen, weil [sie] mit Transport, Reise und Verkehr besonders mit der Schiffahrt [verbunden ist]. Die Astronomie ist aus dem Bedürfnis der Schiffahrt, nachdem sie auf die offene See sich hinausgewagt hatte, entstanden. Vollends die Buchstabenschrift, das Rechnen mit Zahlen, die Ziffer und die zweckmäßige Gliederung der Ziffer durch Erfindung der Null sind von Handelsvölkern teils erfunden, teils begierig aufgenommen und verbreitet worden. Sogar die Sprache des Handels, wie sie vereinfacht und in zweckmäßiger Ausprägung sich bewährt, hat mußte erst in den oberitalienischen Städten ausgebildet werden, um in Europa allgemeine Annahme, allgemeinen Gebrauch zu finden in ihrer Terminologie. Wieviel aus diesen Elementen sich ergeben hat, werde hier nur angedeutet. Wenn eingeräumt wird, daß an Dasein und Wachstum von Städten die gesamte Zivilisation sich emporgerankt hat, so darf man aus dieser

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Voraussetzung schließen, daß jede bedeutende Phase in der Entwicklung des Städtewesens eine Phase in der Entwicklung der Zivilisation hervorgerufen, eingeleitet und begründet hat. Dies ist eine Tatsache, wodurch der gesamte Geist der Neuzeit, d. h. ihr Werden und ihre Blüte erklärt und beleuchtet wird. Betrachten wir in diesem Lichte zuerst die großen Ereignisse, die als Erfindungen und Entdeckungen die Neuzeit sozusagen eröffnen und in jeder Darstellung, die ihr gewidmet wird, hervorgehoben werden. Die eine dieser Tatsachen ist eine politische: es ist die Einnahme und dauernde Eroberung der Kaiserstadt, die nach einem Monarchen benannt war, der für die Entwicklung des Christentums Epoche machte: und man verstand ja Konstantinopel auch als das Rom des Ostens; die Osmanen aber waren ein in Europa fremdes und für das europäische Denken heidnisches, weil dem Islam ergebenes Volk, von dem L. Ranke sagt, daß die wesentliche Kraft ihrer Macht, die für Jahrhunderte sie gefürchtet machte, in drei Gestalten beruhte: im Lehensystem, im Institut der Sklaverei und in der Stellung des Oberhaupts; deren Zusammenwirken aber, wie er selber schildert, bedingt war durch eine strenge Zucht: was ein deutscher Philosoph – Ranke hat hier Fichte im Auge – zur Bildung von Sittlichkeit, Religion und Gemeinschaft in der Idee vorgeschlagen habe, sei hier Jahrhunderte vor ihm, zur Entwicklung eines zugleich sklavischen und doch kriegerischen Sinnes in Ausführung gebracht. Was sie bewirkten, war ein neuer langwieriger, lange erfolgreicher und folgenreicher Angriff Asiens auf Europa, des Islam auf das christliche und römische System der Kultur.

[Wirkungen des Angriffs der Osmanen auf Europa] 25

Die Bedeutung war die einer großen Reaktion. Dennoch ist die überlieferte Meinung, daß sie den Übergang zur Neuzeit gefördert habe. Es pflegt dafür angeführt zu werden die Verbreitung griechischer Gelehrter, die aus Konstantinopel über Italien flohen und zum großen Teil nach dem Norden von Europa, sodaß der belebende Hauch des klassischen Altertums durch er18

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Bildung von Sittlichkeit: Emil Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte, Tübingen und Leipzig 1902, S. 230 ff. Tönnies Text nimmt keinerlei Bezug auf Fichtes „Deutsche Ideologie“. Für Fichte, dessen Moralphilosophie in hohem Maße von Kant beeinflusst wurde, spielen die Begriffe der Freiheit und der Handlung eine zentrale Rolle. Die Freiheit ist für Fichte die fundamentale Bestimmung des Menschen. christliche und römische System: Leopold von Ranke, Die Osmanen und die spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert, 3. Aufl., Berlin 1857, S. 5 ff.

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weiterte und vertiefte Kenntnis der griechischen Schriftsteller und Dichter neu in die Bildungswelt sich ergossen habe. Die Tatsache ist ohne Zweifel richtig: das Studium des Griechischen war bis dahin schwach gewesen, man kannte Virgil viel besser als Homer, die Tragödien des Seneca eher als die des Äschylos, die Werke des Aristoteles, der den Zeitgenossen noch die gesamte weltlich wissenschaftliche Kultur vertrat (den Meister derer die da wissen hatte ihn Dante genannt) nur aus lateinischen Übersetzungen der Araber, die ja nebst den Juden von Spanien aus der wissenschaftlichen Förderung mächtig geholfen hatten. Daß diese Entwicklung der griechischen Philologie ohne jenes epochemachende Ereignis von 1453 viel langsamer vor sich gegangen wäre, darf man mit einiger Sicherheit sagen. Aber eine wichtigere Wirkung, die der Fall des bycantinischen Reiches und die Türkengefahr durch ihre wirklichen großen Erfolge gehabt hat, dürfte doch die gewesen sein, daß sie noch einmal die Wirkung hatten, dem verfallenden Bewußtsein und der Einheit der Christenheit in der römischen katholischen und apostolischen Kirche, wie sie selber als die des fortdauernden römischen Reiches sich verstanden hatte, nochmals eine letzte große Gestalt zu geben, zu einer Zeit, als die Reformation dieser Kirche an Haupt und Gliedern allgemein als notwendig verkündigt wurde und doch fast verzweifelt zu liegen schien. Denn dahinter stand das große Schisma, das wir die Reformation nennen, als Bildung neuer Kirchen, die also jener Illusion ein rasches Ende machte, aber doch nicht ohne Nachwirkungen blieb, denn der Türke galt immerhin mit gutem Grunde als Feind der Christenheit schlechthin. Aber die Erfolge der Türken und die Entfaltung ihrer Macht im Mittelmeer hatten viel größere andere Wirkungen. Sie hemmten den Verkehr Asiens durch Europa der durch Jahrhunderte die Städte Oberitaliens ernährt und bereichert hatte. Sie unterbrach also deren Einflüsse, die bis dahin ungeachtet der großen Fortschritte ihre Blüte, zumal die von Florenz der Förderung einer freien und künstlerischen Denkungsart hatte angedeihen lassen, dennoch dem päpstlichen Ansehen und somit der römischen Kirche mehr zur Stütze als zum Schaden gereicht hatten. Der Rückgang dieser Städte wirkte folglich schädlich auf die Kirche, und trug dazu bei, dem längst vorbereiteten Abfall zunächst der deutschen und der skandinavischen Länder die Bahn zu bre6

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die da wissen: „Nachdem das Aug’ ich etwas mehr erhoben, Sah’ ich den Meister derer die da wissen, Inmitten philosoph’scher Schüler sitzen,“ heißt es im 4. Gesang (Hölle) der „Göttlichen Komödie“ von Dante Alighieri. Ereignis von 1453: Die Eroberung von Konstantinopel 1453 durch die Osmanen beendete das Byzantinische Reich.

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chen. Also waren die mittelbaren Wirkungen der Tatsache, daß es nunmehr zwar das eine römische Reich noch gab, dennoch ungünstig für das verbleibende Corpus Christianum, dem sie zunächst eine Stärkung also eine verlängernde Frist zu geben schienen. Man wird nun mit Grund die Frage aufwerfen, welche denn die ökonomischen Ursachen der politischen Erfolge der Türken gewesen seien? Lagen sie auch in einem Fortschritt des städtischen Wesens? Offenbar nicht. Im Verhältnis zu Bycanz und seinem mächtigen Reiche bedeuten sie vielmehr die Überwindung eines städtischen Wesens, das hochgesteigert war, durch ein elementareres ländliches Wesen, das noch auf einer niedrigen Stufe der Ackerbaukultur stand, wie die der Türken zum guten Teile noch heute verblieben ist. Als ein Produkt relativer städtischer Entwicklung mag man allerdings die große und sehr leistungsfähige militärische Organisation der Osmanen würdigen, die allerdings die unmittelbare Ursache ihres Erfolges, freilich in Verbindung mit ihrer verhältnismäßigen Roheit gewesen ist: hatten sie doch in ihren Janitscharen so etwas wie ein stehendes Heer und wurden z. T. wohl dadurch Anreger und Förderer zur Errichtung stehender Heere in der europäischen Staatenwelt, wo aber noch fast zwei Jahrhunderte vergingen, bis zuerst Frankreich damit zur Stütze seiner absoluten Monarchie Ernst gemacht hat, wenngleich geringere Anfänge schon anderswo vorhanden waren. Eine ganz andere und tiefergehende Bedeutung für die städtische Entwicklung hat jedenfalls die Vermehrung und Ausbreitung von Büchern und anderen Schriften, endlich der Zeitungen gehabt die im Laufe der Neuzeit auf alle Teile der bewohnten Erde sich erstreckt und zurückgewirkt hat. „Das geistige Leben des deutschen Volkes, wie das der christlichen Menschheit überhaupt, trat seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in ein neues Zeitalter der Entwicklung ein durch Johann Gutenbergs Erfindung der Buchdruckerpresse und der Verwendung gegossener, einzeln beweglicher Typen zum Drucke von Büchern“ (Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgangs des Mittelalters Bd. 1, S. 9).

[Wirkungen der Erfindung der modernen Buchdruckerpresse]

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Der bedeutende Geschichtsforscher, der mit Recht als ein Verteidiger des Ultramontanismus gilt, ist davon erfüllt, daß diese Neuerung, die schon 10 Jahre vor den Thesen Luthers als die Kunst der Künste, die Wissenschaft der Wissenschaften gepriesen wurde – es gab schon mehr als 1000 Buch-

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drucker, zum größten Teile deutschen Ursprunges – vor allem auch der alten Kirche zugute gekommen sei und einem Teile der Geistlichkeit, der mit besonderem Eifer der Sache sich angenommen habe, hauptsächlich die begeisterte Aufnahme, die sie fand, verdankt habe, was man allerdings als wahrscheinlich anerkennen muß. Es ist aber nicht zweifelhaft, daß das Übergewicht ihrer Wirkungen mehr wider als für die Kirche, nämlich zunächst zugunsten der Ketzerei und somit einer weltlichen Wissenschaft und weltlichen Bildung ausgefallen ist. Auch die großen Wirkungen Luthers sind zu einem guten Teile auf sie zurückzuführen. Seine eigene Propaganda ist vorzugsweise durch Flugschriften geschehen, dergleichen man bisher nur als Bilderhefte – die Biblia Pauperum – gekannt hatte; und daß die gedruckte Bibel, vollständig übersetzt in ungezählte Hände kam, und auch in Stadt und Land mit steigendem Eifer gelesen wurde, ist in Deutschland wie in England und Skandinavien ein wesentlicher und tief wirkender Erfolg des Protestantismus gewesen, der also auch der Verallgemeinerung des Lesens und fernerhin des Schreibens zugute gekommen ist. Durch das gedruckte Buch ist aber überhaupt die Literatur eine schlechthin volkstümliche Sache geworden, und wenn sie in den ersten 200 Jahren nach der Kirchenspaltung noch zum größten Teile theologisch, ob im katholischen, lutherischen oder calvinistischen oder sektiererischen Sinne blieb, so hat mit dem Jahrhundert der Aufklärung eine gegen die gesamte Theologie kritische Tendenz und ein mehr und mehr freisinniges, auf alle Gebiete der Belehrung und Unterhaltung sich ausdehnendes Schrifttum die Oberhand gewonnen. Weder die Gegenreformation, so sehr sie einen gewaltigen Rückstoß der alten Kirche und dadurch der mittelalterlichen Bildung bedeutete, noch die späteren romantischen und reaktionären Kundgebungen einer anders gerichteten Gesinnung haben diesen großen Zug der Entwicklung rückgängig zu machen oder auch nur zu hemmen vermocht. Man wird daher die Lobpreisung jener so höchst bedeutenden Erfindung nicht bei allen kirchlich anerkannten Schriftstellern wiederfinden.

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Biblia Pauperum: Als Armenbibel (lateinisch Biblia Pauperum = Bibel für die Armen) wird die mittelalterliche Sammlung einer bestimmten Anzahl von Blättern bezeichnet, auf denen bildlich meistens jeweils eine Szene aus dem Neuen Testament oder einer ihm zugeordneten Überlieferung umrahmt wird von Szenen und Texten aus dem Alten Testament.

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[Politik des Staates] [Das Heer als Werkzeug der Politik] 5

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Schon die erste Phase des Staates, wie er in Frankreich und fast gleichzeitig in Brandenburg-Preußen ausgebildet wurde, hat gleich allen späteren einen ausgeprägt militärischen Charakter. Freilich war die innere Politik der einheitlichen Verwaltung mindestens gleichzeitig und wurde ebenso lebhaft betrieben; aber diese Politik steht immer im engsten Zusammenhange mit der auswärtigen Politik, die wenigstens für die größeren Länder immer ausgesprochen auf den Krieg abzielt und kann daher auch als dessen Vorbereitung verstanden werden. So ist die große entscheidende Neuerung immer der Miles Perpetuus das stehende Heer als Werkzeug des Staates und seiner Lenker. Merkwürdig und bedeutungsvoll ist in dieser Hinsicht das politische Testament des Kardinals Richelieu aus dem die eigentümlichen und fruchtbaren inneren Zusammenhänge zwischen Heeresverfassung und Staatsverfassung deutlich hervorleuchten. Das hier zu betrachtende Heer besteht ganz vorzugsweise aus Infanterie und zwar eigentlichen Soldaten, nämlich gemieteten Söldnern, wie dies Bestehen in dem nur kurze Zeit und unvollkommen absolutistischem England sich erhalten und auch auf die Vereinigten Staaten Amerikas sich übertragen hat. In Frankreich ist es zwar schon mit der ersten Republik aufgehoben und durch die massenhafte Konskription ersetzt worden. Dann ist das System der allgemeinen Wehrpflicht als das preußische berühmt und in Europa verallgemeinert worden. Seiner Idee nach sollte nunmehr das Heer ausschließlich der Landesverteidigung dienen. In Wirklichkeit aber ist es ebenso ein Werkzeug der Politik zur Bedrohung, und gegebenen Falles zum Angriff geworden wie es die 1

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[Politik des Staates]: Es sind weder Kapitel- noch weitere Unter-Überschriften vorhanden. Der Text des „3. Teiles von GdN III“ (Blatt 423 bis Blatt 425) ist in Maschinenschrift erfasst und mit handschriftlichen Bemerkungen von Ferdinand Tönnies versehen. Die Seiten sind mit „GdN III“ links oben in der Ecke handschriftlich gekennzeichnet. Außerdem befindet sich daneben eine handschriftliche erstellte Durchnummerierung von a bis c. Auf Blatt 423 steht außerdem oben links „GdN III und (oder „oder“) II. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 423 bis Blatt 425). politische Testament: Cardinal duc de Richelieu, Maximes d’État, ou Testament politique d’Armand du Plessis, Cardinal duc de Richelieu, Pair & Grand Admiral de France, Premier Ministre d’État sous le Règne de Louis XIII. du nom, Roi de France & Navarre. Paris 1764.

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früheren stehenden Heere waren, die auch damals beim Ausbruch eines Krieges durch Einberufung von Reserven ergänzt worden sind. Im Weltkriege von 1914 hat auch England es für notwendig gehalten, die Konskription ein- und so streng als möglich durchzuführen. Ebenso ist es dann in den Vereinigten Staaten geschehen.

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[Monarchie und Militär] Das stehende Heer und das ganze große Militärwesen tritt in der Neuzeit wie in früheren Epochen im engen Zusammenhange mit den monarchischen Regierungen auf. Die historischen Gründe dafür liegen klar zutage. Der König fühlt sich in erster Linie als König der Ritter, als Haupt des Adels, der zum großen Teile aus seinen Dienern sich bildet oder sonst nach seinem Belieben von ihm geschaffen wird: welche Nobilitierung zwar von manchen mit gutem Grunde gering geschätzt und belächelt, von der Menge aber immer als eine hohe Ehre geschätzt, beneidet und erstrebt wird. Fast denselben Rang aber empfangen durch die Monarchie die Führer des Heeres als ein besonderer Berufsstand der Offiziere, an dessen bevorzugter Stellung auch die Unteroffiziere, solange sie im Dienste sind, einen gewissen wenn auch erheblich abgeschwächten Anteil gewinnen. Ein kleiner Staat, dem nur wenige Millionen von Menschen angehören, und ein kleines Heer wirken komisch, wenn sie Machtansprüche erheben; nicht anders wie ein kleiner Kaufmann oder Kapitalbesitzer, die versuchen Haltung und Luxus des Millionärs nachzuahmen. Eine gewisse Macht muß schon da sein, um eines Königs, und ein König, um der Macht würdig zu erscheinen. Dann erst wird er seine tausend Arme, zu denen seine Diener und Soldaten auswachsen am liebsten bis hinüber in fremdes Land ausstrecken, an dem er kein Recht hat aber doch auch solches behauptet, wenn kein anderes so das Recht der Macht d.i. der Eroberung. Ein solcher Staat ist auf Krieg erpicht und wird immer agressiv verfahren, auch wider Willen. Für diese Tendenz braucht er den monarchischen Führer wie dieser ihn, der die Geräte und Waffen zu handhaben weiß oder wenigstens vorgibt, dessen fähig zu sein und Glauben findet. Die Geräte werden ihn also suchen, wenn er etwa nicht da ist oder abgesetzt wurde. Teils sind es alte Helfer teils neue, die den neuen Führer suchen und von ihm gesucht werden. Daher ist der Cäsarismus immer Militärdiktatur oder bemüht sich doch, es wenigstens scheinbar zu werden. Alles was von der Monarchie gilt, wendet sich spezifisch auf die absolute Monarchie an und gilt in gesteigertem Maße vom Cäsarismus. Die Mili-

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Politik des Staates

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tärtyrannei ist unter sonst gleichen Umständen umso eher haltbar, je größer ihr Gebiet – eine Bemerkung, die von dem großen Historiker Gibbon stammt. Eine alte Rede, die Voltaire zugeschrieben wird, geht dahin, der erste, der sich zum König aufwarf, sei ein glücklicher Soldat gewesen. Ein glücklicher, d. h. siegreicher Feldherr ist immer noch wie die Menge des Volkes unwiderstehlich, sogar wenn seinen Siegen tiefe Niederlagen folgten. Erst in einem hohen Grade der Zivilisation hat auch ein bezwingender durch seine Worte siegreicher Redner ähnliche Wirkungen, und es scheint, als ob die Phrase allmählich die Tatsache des Erfolges übertreffe. Der Erfolg wird von der Phantasie ergänzt. Indessen behält der Waffenzwang, behalten Trommeln und Trompeten, Fahnen und Wimpel ihren Zauber für Kinder, wie für Große, die Kinder geblieben sind. Dieser Zauber hängt nahe damit zusammen, daß Cäsarismus und Tyrannei immer eine starke […]

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je größer ihr Gebiet: Edward Gibbon, The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire, 1. Bd. 1776, 2.–3. Bd. 1781, 4.–6. Bd., London 1788. glücklicher Soldat: Johann August Freiherr von Starck, Der Triumph der Philosophie im achtzehnten Jahrhunderte, Erster Teil, o.O. 1804, S. 100. […]: Der Anschluss fehlt.

Geist der Neuzeit IV [Wissenschaft und Religion in der Neuzeit]

[Der unablässige Kampf des Geistes der Neuzeit] [Erneuerung aus dem Geiste der Wissenschaft] 5

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Als den dritten Hauptfaktor des Geistes der Neuzeit müssen wir neben Gesellschaft und Staat die Wissenschaft begreifen, insofern als diese ein Gemeingut der geistigen Bildung und als die höhere Bildung über ein ganzes Volk sich ausbreitet und ein geschätztes Gut des Volkes selber wird, ohne daß dies ihrem eigentlichen Wesen, das allgemein menschlich ist, Eintrag tat. Ihr Geist ist tatsächlich in der gesamten Entwicklung vorhanden: fortschreitend, je mehr er den überlieferten Geist, daher insbesondere den theologischen Geist überwindet, um endlich rein auf seinen eigenen Voraussetzungen zu ruhen. Er beherrscht längst das ökonomische Zusammenleben; er dringt immer tiefer in des politische ein; in seinem eigenen Bereiche findet er als das notwendige soziale Gebiet vor allem die Erziehung: die intellektuelle und die moralische, beide als Bedingungen eines schlechthin vernünftigen Zusammenlebens. Ohne Zweifel ist eine Vollendung dieses Geistes denkbar, wenn auch etwa im Laufe der Entwicklung dieser noch obwaltenden Kulturperiode nicht wahrscheinlich. Diese min1

[Der unablässige Kampf des Geistes der Neuzeit]: Es sind weder Kapitel- noch weitere UnterÜberschriften vorhanden. Der Text GdN IV A (Blatt 343 bis Blatt 381) ist in Maschinenschrift erfasst und mit handschriftlichen Bemerkungen von Ferdinand Tönnies versehen. Die Seiten sind mit „GdNA.“ links oben in der Ecke mit Schreibmaschine gekennzeichnet. Auf dem 1. Blatt (Blatt 343) ist das A mit Schreibmaschine durchgestrichen und in IV geändert worden. Außerdem befindet sich jeweils oben mittig eine mit Schreibmaschine erstellte Durchnummerierung von 1 bis 39. Blatt 343 bis 361 ist auf dünnem Durchschlagpapier geschrieben. Es wurde ein blaues Farbband verwendet. Blatt 362 bis 365 hat auf der Rückseite den Briefkopf Ferdinand Tönnies o. Prof. a. d. Universität Kiel

Kiel, den Niemansweg 61 Fernruf 319 Postscheckkonto: Hamburg 75242

Auf Blatt 363 steht auf der Rückseite als Datum „25.IV.32“. Ab Blatt 366 wird normales Schreibpapier verwendet. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 343 bis 381).

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dere Wahrscheinlichkeit gilt ebenso von der Vollendung der Gesellschaft und des Staates. Wahrscheinlich ist hingegen, daß die Tendenzen dieser drei Entwicklungen nach wie vor einander unterstützen und fördern werden, ja daß sie immer inniger miteinander verwachsen, je mehr jede von diesen Potenzen mit den gleichen oder nahe verwandten und demgemäß auch miteinander verbündeten Potenzen als ihren Widerständen zu kämpfen genötigt ist. Durch den Bereich der moralischen Erziehung nähert sich am meisten der Geist der Wissenschaft dem Verständnis und dadurch möglicherweise der Erneuerung des Wesens der Gemeinschaft, insofern als dies Wesen bis an die Grenzen, innerhalb deren es mit einer ihren letzten Folgerungen gemäß ausgebildeten Gestaltung der Gesellschaft vereinbar ist; um so mehr, je mehr etwa die Vollendung oder auch nur die Tendenz zur Vollendung der Gesellschaft und Staat mit der Erkenntnis sich verbindet, daß dies Verständnis und diese Erneuerung der Gemeinschaft ein für ihr eigenes Dasein notwendiges Element bedeutet. Ansätze zu einer solchen Erneuerung aus dem Geiste der Wissenschaft sind in der ganzen Entwicklung der Neuzeit enthalten und sind überall, wo dieser um sich gegriffen hat, erkennbar; sie werden um so mehr wachsen können, je mehr die mannigfachen Gebiete der gegenwärtigen Zivilisation, je mehr Gesellschaft und Staat in jedem [von] ihnen die Notwendigkeit ihrer Solidarität erkannt haben [und] in ihrer unerläßlichen Kooperation dauerhafte Fortschritte gemacht haben werden. Daß sie auch hier nach wie vor ungeheuren Hemmungen begegnen, ist so gut wie gewiß: der Geist der Neuzeit wird unablässig zu kämpfen genötigt sein. Im Kampfe selber wird er ferner erstarken. Die gegnerischen Kräfte werden auch ihrerseits immer neue Gestalten annehmen, immer mehr sich verbinden und Einheit zu gewinnen trachten; sie werden aber gleichzeitig in ihren Elementen oder doch in deren Kern schwächer und widerstandsunfähig werden. Jedenfalls wird diese ganze Epoche die eines vielleicht durch ein Jahrtausend hindurchgehenden Kampfes der Neuzeit und ihres Geistes sein. Zum Teil wird es noch Kampf gegen den Geist des Mittelalters, der als Vergangenheit hinter diesem noch gegenwärtigen Zeitalter liegt, der aber auch in ihr selber als Gegenwart enthalten ist, ja an den Zukunftstendenzen einen gewissen Anteil für sich in Anspruch nimmt – es wird diese ganze Periode der „Weltgeschichte“ einmal erkennbar werden als eine Periode, die zu einer höheren Gestaltung des menschheitlichen, d. h. des sozialen Daseins hinüberführt, wenn nicht etwa die gesamte Kulturentwicklung schließlich als eine Episode aufhören sollte, die von neuem, und vielleicht in einer reineren und edleren Gestalt, nur durch eine neue Entwicklung der Species Homo sapiens in einer oder

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mehreren Millionen von Jahren, wenn der Schauplatz des Erdballs lange genug aushalten sollte, wirklich werden könnte. Das hiermit angedeutete Problem haben einzelne und einsame Denker des öfteren erwogen. Im allgemeinen lebt der gebildete Mensch zwar nicht mehr so im Tage wie der ungebildete, der aber doch schon in einem frühen Zustande hinlänglich gebildet ist, um wenigstens das Dasein von zwei Generationen zu bedenken – außer seiner eigenen –: derjenigen die vor ihm war und derjenigen, die nach ihm sein wird. Das heutige gebildete Bewußtsein an die historische und neuerdings in einigem Maaße an die soziologische Erkenntnis sich haltend, denkt höchstens etwa 12 000 Jahre, also wenn auf ein Jahrhundert rund drei Generationen gerechnet werden etwa vier bis fünfhundert Generationen rückwärts, aber kaum dreihundert vorwärts, obwohl ihrer Sorge dies Vorwärtsdenken viel näherliegen muß, wenn anders ihr auch das Dasein später Nachkommen nicht gleichgültig ist. Und freilich ist wenigstens ein nationales Bewußtsein geneigt, das Dasein der eigenen Nation für unzerstörbar und ewig zu halten, so wenig Wahrscheinlichkeit diese Unzerstörbarkeit und Ewigkeit für eine objektive Betrachtung auch haben möge. Andere Sorgen liegen eben viel näher.

[Kämpfe unter dem Gesetz der Zeit] 20

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Die geschichtliche Erfahrung lehrt uns gleich der Natur, zumal der Natur der Lebewesen, nicht nur der Individuen, sondern auch der Sippen, der Arten, nichts kennen als Werden und Vergehen, Entstehen und Verschwinden, Leben und Sterben. Alles Geschehen, wovon die Geschichte der Menschheit nur einen kleinen Ausschnitt bildet, steht unter diesem Gesetze, unter dem Gesetze der Zeit; und zwar in unablässigen Kämpfen für das Werden und das Dasein, gegen das Vergehen und das Nichtsein. Diese Kämpfe sind uns hier nur oder doch hauptsächlich von Bedeutung als Kämpfe der Menschen gegeneinander, in ihren mannigfachen Gestalten, unter denen die Machtund Gewaltkämpfe für die äußere Betrachtung bei weitem vorwalten. Aber es gibt bekanntlich viele andere Arten von Kämpfen innerhalb der menschlichen Verbundenheiten: der Völker und Stämme, der Gemeinwesen, der Staaten, der Geschlechter und Familien, und innerhalb aller Arten von Gemeinschaft und Gesellschaft – Kämpfen, die auch nicht selten in Macht- und Gewaltkämpfe übergehen, deren Absicht und Ziel in der Regel 2

wirklich werden könnte: Mit den letzten zusammenfassenden Sätzen haben wir es mit nicht weniger als mit der Essenz der Tönnies’schen Geschichtsphilosophie zu tun.

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die Vernichtung des Gegners ist. So ist überall der Kampf zwischen Überlieferung und Neuerung, dem Streben, das Alte fortleben zu lassen und nachzuahmen auf der einen Seite, dem Wunsche abzuweichen, Eigenes, Besonderes hervorzurufen und zu pflegen und das Alte zu verdrängen und zu ersetzen auf der anderen: ein Prozeß und Kampf, der fortwährend neu sich entwickelt innerhalb einer Generation von zusammenlebenden Menschen zwischen ihren Teilen, und zwischen den Generationen, so daß eine gegenwärtig lebendige die vergangenen bekämpft, sofern deren Erfindungen, Institutionen, Sitten in ihrer Denkungsart, ihrem Stil nachwirken und von den Lebenden als Hemmung als fremd geworden, als zur Vernichtung reif empfunden werden. Es ist innerhalb einer zusammenlebenden Familie regelmäßiger Vorgang des Gegensatzes von Alten und Jungen, indem die Alten zu erhalten, die Jungen zu verändern wünschen (jene sind ,konservativ‘, diese ,mutativ‘ oder ,progressiv‘). Diesem Gegensatz aber entsprechen mehrere andere, die ihm innerlich verwandt sind. So der Gegensatz des weiblichen und des männlichen Geistes: das weibliche Geschlecht wird mit seiner Seele in der Regel auf Seiten der erhaltenden Elemente, also der älteren Generation stehen – die Männer sind als die zum äußeren Wirken, zum Kämpfen, zum Handeln Berufenen in dieser Hinsicht eher jugendlich bedingt, finden sich oft, auch wider ihre Wünsche zu Neuerungen genötigt, weil sie deren Notwendigkeit gerade zum Behuf einer lebendigen Erhaltung erkannt haben. Soziologisch betrachtet, sind die ganzen Schichten eines Volkes in dieser Hinsicht Parteien, aber in verschiedenem Sinne. Ein seßhaft gewordenes Volk liebt die Beharrung, nicht die Veränderung. Seine Häupter, Führer, als die vorzugsweise Handelnden sind zunächst viel eher auf neue Formen, neue Mittel und Methoden bedacht und führen solche oft gewaltsam ein, vermöge ihrer Macht, ihres Einflusses. Folglich stoßen sie oft auf den Widerstand der Menge, die Herren auf den Widerstand der Dienenden, die Regierenden auf den der Untertanen: zumal wenn diese bemerken und empfinden, daß die Herren zu ihrem eigenen Vorteil ihnen, den Untertanen, vermehrte Lasten auflegen und sie so härter zwingen wollen. Indem sie sich widersetzen, lernen sie selber das Neue und dessen Wert erkennen, sie lernen aus der Verteidigungsstellung in die Angriffsstellung überzugehen, sie lernen, was sie von den Herren gelernt haben, gegen diese kehren und anwenden: auch Waffen und Werkzeuge, Methoden und Listen des Kampfes, die immer der Schwächere von dem Stärkeren, daher oft auch der Überwundene von dem Überwinder nachahmend entlehnt, vielleicht um diese zu übertreffen und selber ein Überwinder zu werden. Ein analoger Vorgang, aber von eigener Art, ergibt sich dann auch aus dem Zusam-

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menleben der Städter mit den Landbewohnern in einem Volke: diese entsprechen mehr dem Alter, jene mehr der Jugend. Hingegen das Verhältnis des Herrentums ist verschieden: teils und zunächst ist es auf der Seite des Landes, von dem in einem bedeutenden Sinne immer die Städte ökonomisch abhängig sind und bleiben. Eben dies Verhältnis aber kehrt sich um in dem Maaße, als die Städte und die Städter reich werden und die eigentlichen Träger der Kultur, an Kenntnis und Urteil überlegen, und um so einflußreicher werdend, je mehr sie auch die Mehrheit in einem Volke darstellen, gegenüber dem ursprünglichen und lange fortwirkenden Verhältnis, worin sie als Ausnahme erscheinen – das Landvolk als Regel – dies ist im gesamten Orient und in einem großen Teile Europas noch immer das überwiegende Verhältnis.

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Wir betrachten nun unter diesem Gesichtspunkte das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, von Glauben und Denken, als für den Geist der Neuzeit von kapitaler Wichtigkeit, weil in jeder Hinsicht folgenreich. Der Wert und die Bedeutung des religiösen Glaubens, und des dazu gehörigen Ritus, ist für alles Volksleben, ländliches und städtisches, für alle Schichten des Volkes, Herren und Gemeine, für alle Lebensalter, für Männer wie für Frauen bisher zu allen Zeiten, stark und tief gewesen. Jedoch in vieler und mannigfacher Art verschieden im Wechsel der Zeiten, verschieden in der Intensität des Gefühles und der Leistung. Ganz anders verhält es sich mit Wesen und Wirken des wissenschaftlichen Denkens, das im allgemeinen immer als das relativ neue und junge zur Religion als dem relativ alten und überlieferten sich verhält: spät, langsam und allmählich, fast nur in erheblichen Städten sich entwickelnd. So stehen auch ganze Zeitalter einander gegenüber: ein früheres, älteres als Zeitalter der Religion, ein späteres jüngeres als Zeitalter der Wissenschaft. So war im klassischen Altertum das frühere Zeitalter, das der Religion auf seiner Höhe das eigentlich klassische, das der großen, besonders der kunsthaften Leistungen; das spätere darf und muß, so gering auch heute uns die Wissenschaft jener Jahrhunderte erscheinen mag, als Zeitalter der Wissenschaft charakterisiert werden. Und so verhalten sich zueinander Mittelalter und Neuzeit: wenn wir auch nur unbestimmt vermuten können, wie sich die Wissenschaft insonderheit ihr Verhältnis zur Religion in dem Teile der Neuzeit, der noch vor uns liegt, entwickeln wird; und hier liegt eine ungeheure Masse der Leistungen, die zwar zum Teile schon den letzten Jahrhunderten des Mittelalters, aber auch

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älteren Einflüssen besonders solchen der Antike zuzuschreiben ist, ihrer überwiegenden und überwältigenden Masse nach aber während der viereindrittel Jahrhunderte, die wir als die Neuzeit begreifen (weil wir nur dies Fragment von ihr kennen) erarbeitet und aufgehäuft worden sind.

[Bedeutung der mosaischen Religionen] Die Religion sei hier gedacht als der Inbegriff der gläubigen Vorstellungen von unsichtbaren, aber mehr oder minder unbegrenzt mächtigen menschenähnlichen Wesen. Sie wird immer von den Menschen, die sich in solchem gemeinschaftlichen Glauben vereint fühlen, als ein Schatz und ein unentbehrliches Gut verstanden und behauptet. Dies erklärt sich leicht aus dem Begriffe der Schutzgottheit; denn wer möchte ein schützendes Obdach, welche Familie möchte den Mann, in dem sie ihren Beschützer kennt und ehrt, entbehren? Die christliche Religion hebt von den früheren sich ab, die in dem südlichen Europa und in den es umgebenden Küsten die großen Träger jener Gesittung gewesen sind, die als höhere Gestaltung des Menschentums bis heute gegolten hat und nachwirkend lebendig ist – sie hebt sich ab durch ihren Anspruch eine allgemein menschliche Religion zu sein oder doch zu werden. Sie hat diesen Anspruch gleich anderen Eigenschaften, von der Synagoge übernommen: das Judentum war in diesem Sinne weltbürgerlich, daß es seinen Gott als den einzigen wirklichen Gott verkündet und dem Glauben ergeben ist, er werde einst der Gott der Menschheit sein. Dieser Glaube ist auf beide Tochterreligionen der mosaischen Religion übergegangen: auf die christliche und auf den Islâm. So sind diese drei Religionen zunächst noch in der antiken Welt miteinander bedeutend gewesen. Heute ist neben dem Christentum der mosaische Glaube, obschon mit einer viel geringeren Zahl von Bekennern, über den Erdball hin ausgebreitet; der Islâm bedroht nicht mehr die christlichen Kirchen und Staaten; mittelbar hat er aber noch für Europa manche Bedeutung und seine unmittelbare politische auch kriegerische Bedeutung hat noch stark in die ersten Jahrhunderte der Neuzeit hineingewirkt. Der weltbürgerliche Charakter des Juden- und folglich des Christentums, eine Wirkung der Unterwerfung des jüdischen Staates und Syriens unter die römische Weltmacht, Ergebnis dann der jüdischen Diaspora, kam dem sich entwickelnden Verfall des Römischen Reiches, dem Verlust seines römischen Charakters, dem allmählichen Untergang einer Religion, in der schon lange die pflichtmäßige Anbetung von Kaisern, d. h. ihren „Genien“, und

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zwar von zum Teil abscheulichen zum Teil lächerlichen Personen, das einzige ernst genommene Stück geblieben war, entgegen. Die Frage, wie es möglich war, daß ein so sonderbarer Glaube, der noch als der ehemalige Pharisäer ihn verkündete, den Juden ein Ärgernis, den Hellenen eine Torheit war, über den Erdball sich ausgebreitet hat, ist oft erörtert worden. Adolf Harnack, der einer rein wissenschaftlichen Auffassung dieser Dinge mit Ernst sich befleißigt hat, meint das Problem zu lösen, indem er darauf hinweist, daß am Ende der Epoche, die er geistvoll geschildert hat, nämlich der drei ersten Jahrhunderte, eine mächtige Kirche mit einem eindrucksvollen Kultus, mit Priestern und Sakramenten vorhanden war und daß sie eine Glaubenslehre und Religionsphilosophie „umschließe, die mit jeder anderen siegreich zu rivalisieren vermag“. Er knüpft daran den im Druck herausgehobenen Satz: „Diese Kirche wirkt durch ihr bloßes Dasein missionierend, weil sie auf allen Linien als der zusammenfassende Abschluß der bisherigen Religionsgeschichte erscheint. In diese Kirche gehörte die Menschheit am Mittelmeerbecken um das Jahr 300 einfach hinein, sofern ihr Religion, Sittliches und höhere Erkenntnis überhaupt Werte waren.“ – Es folgt dann noch der Satz, das Paradoxe und Erschütternde, das noch immer vorhanden war, sei umspannt gewesen von einem breiten Rahmen des bekannten und gewünschten Natürlichen und sei in eine Form von Mysterien gekleidet, in der man alles außerordentliche gern aufnahm oder doch ertrug. Die Frage müsse lauten, wie das Christentum selbst so sich ausgestaltet habe, daß es die Weltreligion werden mußte, die übrigen Religionen durch Aussaugung mehr und mehr zum Absterben brachte und wie ein Magnet die Menschen an sich zog? Er habe diese Frage überall berücksichtigt aber in diesem seinem Werke nicht erschöpfen können. Die Frage wie das Christentum so viele Griechen und Römer gewonnen habe, daß es zuletzt die auch numerisch stärkste Religion geworden sei, lehnt der große Theologe – denn Theologe wollte er bleiben – ab, qualifiziert aber diese Ablehnung durch den Satz, daß sie wenigstens in erster Linie nicht so gestellt werden dürfe. Für einen Denker verstand es sich von selbst, daß die auch in den protestantischen Kirchen 4 12 18 22 31

ehemalige Pharisäer: Gemeint ist der „ehemalige Pharisäer“ Paulus von Tarsus. siegreich zu rivalisieren vermag: Adolf Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Bd. 1, Leipzig 1906, S. 419 f. höhere Erkenntnis: Ebda. S. 419. Links neben dem Manuskript-Text ab „Diese Kirche“ steht: Kleindruck! bis „waren“. gern aufnahm oder doch ertrug: Ebda. S. 419 f. in erster Linie: Ebda. S. 420.

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noch vorwaltende Erklärung aus übernatürlichem Einfluß keine Geltung haben konnte. Die natürlichen Erklärungen aber waren zum großen Teile für die christliche Lehre so wenig ehrenvoll, großenteiles eher beschämend als ehrenvoll, daß ein Theologe Bedenken tragen mußte, sie darzustellen. W. H. Lecky, der ein nicht eben heterodoxer Anhänger der Kirche von England, aber nicht Theologe war, urteilt infolgedessen mit größerer Unbefangenheit über diese Tatsache. Ein anderes Problem ist, wie es möglich war, daß diese neue Religion eine Reihe von Jahrhunderten später es vermochte, die ungebildeten Barbaren, die das Römische Reich eroberten oder vernichteten, zu bekehren. Es scheint zunächst viel einfacher zu sein. Den Barbaren mußte die römische Zivilisation einen überwältigenden Eindruck machen: es war für jene die (einzige vorhandene) Zivilisation schlechthin. Und zu ihr gehörte der christliche Glaube, der christliche Kultus, wenn auch lange Zeit hindurch nur in der um einen Grad weniger supranaturalistischen, weniger unglaublichen Gestalt des Arianismus. Aber die einfacheren Menschen, deren Ehrlichkeit, wenn sie auch nicht gegen den Feind galt, die verdorbenen Römer erschütterte, besaßen ihre eigene Religion – eine Religion von größerem Ernst und Tiefsinn als die hellenische und römische, nicht ohne poetische Erhabenheit, wenn auch von minderer Grazie. Diese ihre Religion wurde von christlichen d. h. zumeist römischen Missionaren und Priestern mit Schimpf und Schmach bedeckt. Die Völker mußten sich dies gefallen lassen. Ihren Fürsten und Häuptlingen dürfte es weniger schwer geworden sein. Sie mußten wohl glauben, daß ihre Götter schwächer und kleiner seien als der Gott der Römer, der in Wahrheit der Judengott war. Er erschien ihnen so viel größer, weil alles was gebildet war und also mit den Künsten der römischen Zivilisation kriegerischen und friedlichen unter ihnen sich festsetzte, ihnen gegenüber und ihrem kindlichen Aberglauben als Greisenaberglaube entgegentrat und eben darum von den Mächtigen unter ihnen angenommen und unterstützt wurde. Die Überwindung der einheimischen Denkweise und Gläubigkeit ist freilich – es würde sich von selbst verstehen, auch wenn es 7

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mit größerer Unbefangenheit: William Edward Hartpole Lecky, Sittengeschichte Europas von Augustus bis auf Karl den Großen, (nach der 2. Aufl. übersetzt v. Jolowicz), 2. Bd. ineins, Leipzig und Heidelberg 1879. Gestalt des Arianismus: Supranaturalismus ist die Annahme einer Existenz von Übernatürlichem. Der Arianismus ist eine christliche theologische Lehre, die nach einem ihrer frühen Vertreter, Arius, benannt ist. Arius lehrte, dass Gott selbst nicht gezeugt und ohne Ursprung sei. Der Sohn Gottes, die zweite Gestalt der Dreieinigkeit, könne also, weil er gezeugt worden sei, nicht Gott im selben Sinn wie der Vater sein.

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nicht aus vielen Spuren erkennbar wäre – ein Vorgang gewesen, der durch eine Reihe von Jahrhunderten sich erstreckt hat und außer Zwang und Gewalt, die in weitem Umfange gebraucht wurden, auch die große Kunst der Überredung, Deutung und Umdeutung in Anspruch nahm, die eine besondere Kunst des Priestertums ist, das immer auf Simulation und Dissimulation, auf feine Täuschung und leisen Betrug angewiesen war und in diesem Falle noch die römische advokatorische und rhetorische Bildung benutzen konnte, um das Unglaubwürdige glaubhaft zu machen. Es hat sich aber in der Überwindung des „Heidentums“, um die noch heute christliche Sendboten eines sehr verschieden verstandenen und gedeuteten Christentums sich bemühen, etwas vollzogen, was dem Christentum selber verhängnisvoll werden, also zu seinem Untergange beitragen kann. Es ist der politischen Revolutionierung durch Antirevolutionäre, – Fürsten und Staatsmänner – vergleichbar. Wenn solche bis dahin als legitim, ja als für heilig und gesalbt verehrten Monarchen absetzen und verjagen, deren Untertanen ihrer Eide entbinden und auch die ohne Eid gehaltene Treue ächten und mit Strafe verfolgen, so wirken sie ohne Zweifel mit in einer allgemeinen revolutionären Bewegung die das Zeitalter erfüllt, so wenig ihnen diese Mitwirkung erwünscht sein kann. In Wahrheit ist die revolutionär religiöse Unruhe die der Antike verhältnismäßig wenig bekannt war, aus dieser neuen Kultur, die ihre Religion aus dem Erbgut Roms bezog, niemals gewichen. Die Ecclesia militans hat wenig Waffenstillstände gekannt. Sie hat sich ihres Daseins niemals sicher gefühlt. Mit dem altgermanischen oder altslavischen und altkeltischen Glauben, so oft und so stark er als Teufelswerk verflucht wurde, hat sie auf die mannigfache Art sich abfinden müssen, wie es die Tatsachen des Lebens Jahrhunderte lang forderten. „In den Formen des ganzen kirchlichen Lebens, der Gestaltung kirchlicher Feste und Gebräuche, der literarischen, bildlichen und im Leben selbst zutagetretenden Ausdrücke und Betätigungen, religiöser Gefühle und Gedanken, hat das germanische Heidentum mit seinen Kultgewohnheiten, seiner Götterwelt und Naturanschauung zunächst in sehr starker, erst nach und nach schwächer werdenden, nie ganz ausgerotteten Einwirkungen fortgelebt: ihre Bekämpfung und Beseitigung hat die Kirche insbesondere in den Zeiten stark pulsierenden religiösen Lebens, mit Eifer und zum Teil mit grausamer Strenge sich angelegen sein lassen. Völlige Ausrottung und Überwindung ist ihr hier so wenig wie auf anderen Kulturgebieten gelungen“ (K. Jacob, Der Einfluß des 22

Ecclesia militans: Die streitende Kirche kämpft auf dieser Erde gegen Sünde und Teufel.

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Morgenlands auf das Abendland, vornehmlich während des Mittelalters. Hannover 1924).

[Christentum, Renaissance und Humanismus] Eine ganze Reihe von Jahrhunderten hindurch blieb die Christianisierung Europas, besonders aber Deutschlands und des Nordens, vollends die des Ostens so weit hier nicht die byzantinische Kirche zuvorgekommen war, mangelhaft. Nicht nur der unablässige Streit, Zank, teilweise Krieg mit der weltlichen Gewalt beeinträchtigte das Walten der Kirche und die Obödienz, auf die sie mit unablässiger Tatkraft ihre Ansprüche erneuerte, von Zeit zu Zeit durch Scheiterhaufen bekräftigte; auch abweichende Meinungen, teils ungläubige, teils andersgläubige glühten in der Stille fort und ließen nur mit Feuer und Schwert sich unterdrücken. In Gestalt des Islam war längst ein neues wenn auch phantasiearmes Heidentum entstanden, das vom Süden Europas her die römische wie die griechische Kirche bedrohte. In den Kreuzzügen glaubte das christliche Europa einig zu werden und zu bleiben. Sie bedeuteten aber wie die erste so auch die letzte Einigkeit; und während die päpstliche Kirche auf den Höhepunkt ihrer Herrschaft gelangte, mehrten sich schon die drohenden Zeichen ihrer Zerrüttung. Der Islam war nicht ein so schlichtes und poetisches Heidentum wie das der Germanen oder der Slaven. Es war in die reifen Gedanken der antiken Philosophie eingetaucht. So kamen von dort die Anregungen, das christliche Gedankensystem durch antike Gedanken zu begründen und zu verteidigen. Es ereignete sich, daß Aristoteles, der von den Arabern erst wieder entdeckt werden mußte, durch lateinische Übersetzungen in den Gesichtskreis des christlichen Theologen trat und daß er den Averroës (Ibn Ruschd) wie einen überirdischen Propheten verehrte, daß Aristoteles auch „der Philosoph“ des Christentums 2

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Hannover 1924: Neben dem Zitat „In den Formen …“ (ab Zeile 21) hat Tönnies die Bemerkung „Kleingedruckt!“ geschrieben. Fälschlich schreibt Tönnies den Namen Georg Jacob als K. Jacob. Obödienz: Gehorsamspflicht eines Klerikers gegenüber den geistlichen Oberen bzw. Anhängerschaft eines Papstes während des Schismas. „der Philosoph“ des Christentums: Da für Aristoteles die Seele sterblich ist, widerspricht dies den christlichen Vorstellungen. Doch Thomas von Aquin gelingt es, die Grundgedanken der aristotelischen Philosophie mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen. Die Geschichte der islamischen Philosophie präsentierte sich als eine hochdramatische Abfolge der Auseinandersetzungen um gerade diese Frage. Dabei sticht Averroës (Ibn Ruschd) hervor, der nur als „Kommentator“ bezeichnet wurde und Aristoteles als „der Philosoph“. Einige

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wurde, und in großen Systemen wußten die Scholastiker seine Weltweisheit als die wahre Wissenschaft, daher als vereinbar mit der Heilswahrheit darzustellen, die allerdings der notwendigen Ergänzung – als bloße Ratio – durch die Offenbarung – Revelatio – bedurfte. In den Systemen selber, so warm sie von ihren Adepten umhegt wurden, lag der Keim ihres Unterganges, so groß auch ihre Wirkungen blieben, so lange bis in unsere Tage der Wissenschaft ihre Dauer und für die alte Kirche ihre Geltung geblieben ist. Wenn in diesen gelehrten Kämpfen die mehr und mehr die Disputationen der seit dem Ende des 12. Jahrhunderts rasch sich vermehrenden und entwickelnden Hochschulen erfüllten, die Gläubigkeit im ganzen unerschüttert blieb und also die christliche Dogmatik meinen konnte, siegreich daraus hervorzugehen, so drohten doch dieser und der Zumutung, sie als wirkliche Wahrheit anzuerkennen, schlimmere Gefahren: einmal die Renaissance und der mit ihr eng verbundene Humanismus – sie fanden ihre Hauptsitze in dem Italien, das nunmehr vom Geiste des hellenischen Altertums her eine dritte Flutwelle empfing: die erste infolge der römischen Eroberung als mit der Freiheit und der Blüte unzähliger Städte das echte Hellenentum schon im Vergehen war und unter den Römern gelehrige aber kaum kongeniale Schüler fand; die andere in Gestalt des Hellenismus, der besonders von Anatolien her mit der griechischen Bildung das Christentum, wenn auch nicht erst brachte, so doch den Römern mundgerechter machte. Und die dritte Woge wirkte so auf das Gesichtsfeld des Italikers, dessen Gesittung nunmehr in den fruchtbaren Gegenden des Nordens, besonders in Toskana, wo die germanische Wanderung und Eroberung so reiche Früchte getragen hatte, daß die große Wiedergeburt der antiken Kunst und Wissenschaft daraus entsprang. Ihr konnte auch die Kirche und das Papsttum sich nicht entziehen, obschon ihr Geist, wenn auch selten ihre Rede, durchaus widerchristlich war. Die christliche Vorstellungswelt und Mythologie konnte freilich in dieser überwiegend ästhetischen Atmosphäre sich erhalten, ja diese Elemente gaben den sich erneuernden schönen Künsten und der Literatur einen reichen Stoff, so daß in diesen Sphären der christliche Glaube erst zu seiner Vollendung aufstieg und seine klassischen Denkmäler hinterlassen hat: die Divina commedia und als diese Entwicklung auf ihre Höhe

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Philosophen wie Siger von Brabant folgten diesen Gedankengängen und liessen die kirchlichen Glaubenssätze nur vage gelten. Die kirchliche Obrigkeit verurteilte den Averroismus als ketzerisch. Divina commedia: Die Divina Commedia (,Göttliche Komödie‘) ist das Hauptwerk des italienischen Dichters Dante Alighieri (1265 – 1321).

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kam, die großen Werke der Malerei, der Plastik und der Architektur, bald auch durch den Humanismus Werke des wissenschaftlichen Gedankens – Werke überhaupt, die Italien zum Mutterlande der Kunst machten, wie es tausend Jahre früher das Mutterland der christlichen Lehre und inzwischen auch das der wissenschaftlich behandelten Jurisprudenz geworden war.

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[Kampf der Weltanschauungen] Eine andere Entwicklung aber, wenn sie auch zum Teil der gleichen Quelle entsprang, andererseits aber auch der Renaissance zugrunde lag, begann noch in den letzten Zeiten des Mittelalters gewaltigere Wirkungen auszuüben: das Studium der Mathematik, der Astronomie der Mechanik und im Gefolge dieser Studien die Entstehung einer neuen Philosophie, die außerhalb der Theologie stand und sich ihr wie der Jahrhunderte lang für sie gültigen Autorität des Stagiriten und seiner peripatetischen Schule entgegenwarf. Alle diese Theorie entsprang aus der Praxis, d.i. aus praktischen Bedürfnissen, die durch den Fortschritt des städtischen Lebens gegeben waren. Es ist merkwürdig und wichtig, die immer erneute Revolutionierung des materiellen und des geistigen Lebens durch die Städte der sammelnden Betrachtung zu unterwerfen: sie scheint sich wie von selbst du verstehen und birgt doch unzählige Probleme in sich. Karl Marx (Kapital I, 317) hat es ausgesprochen, daß die Scheidung von Stadt und Land die Grundlage aller entwickelten und durch Warenaustausch vermittelten Teilung der Arbeit sei: man könne sagen, daß die ganze ökonomische Geschichte der Gesellschaft in der Bewegung dieses Gegensatzes sich resümiere. Wir fügen hinzu, sie besteht in völliger Übereinstimmung mit den bekannten Grundsätzen der historischen Ansicht, die Marx neubegründet hat: nicht nur die ganze ökonomische, sondern mit ihr und durch sie auch die politische und die geistige Entwicklung des sozialen Lebens, die uns hier als die Entwicklung von Gemeinschaft zu Gesellschaft erscheint: eine Entwicklung die unter unablässigen Kämpfen vor sich gegangen ist. Es handelt sich hier, wie schon 13

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Autorität des Stagiriten: „Der Stagirit“ der Beiname des Aristoteles nach dem Geburtsort von Aristoteles Stageira auf der griechischen Halbinsel Chalikide. Peripatos ist der Name der philosophischen Schule des Aristoteles. Stadt und Land: Stadt und Land werden in GuG an betonter Stelle erwähnt. Siehe dazu 1. Buch § 10. in der Bewegung: Gemeint ist von Karl Marx „Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie“, Erster Band, 5. Auflage, Hamburg 1903, S. 317.

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bedeutet wurde, um den Kampf zwischen Glauben und Denken, zwischen Theologie und Wissenschaft, also wie heute gesagt zu werden pflegt, um den Kampf der Weltanschauungen. Die Neuzeit, soweit wir sie bisher kennen, weist ein unablässiges Ansteigen des wissenschaftlichen Denkens und Erkennens, ein unablässiges Absteigen des theologischen Glaubens und Meinens auf, also den allmählich gesteigerten Sieg jener neuen Motive. Wir kommen nochmals auf die Frühzeit der christlichen Propaganda zurück. Harnack, der am Schlusse seines bedeutenden Werkes sorgfältig prüft, wieweit das Christentum am Ende des dritten Jahrhunderts es in Stärke, Zahl und Einfluß gebracht habe, betont, daß eine kleinere Zahl sehr einflußreich sein könne, wenn sie in den führenden Ständen ihre Stärke habe, und eine große Zahl könne wenig bedeuten, wenn sie in den untersten Schichten oder hauptsächlich auf dem Lande sich findet. „Das Christentum war Städte-Religion: je grösser die Stadt, desto stärker – wahrscheinlich auch relativ – die Zahl der Christen. Auf der ersten Seite des Buches bezeichnet er als die wichtigste Frage, welche die innere Geschichte der drei ersten Jahrhunderte des römischen Kaisertums, die ja auch diejenigen des Christentums sind, wie ein roter Faden durchziehe: welche Religion fähig war die Religion der Bürger des Weltstaates, die selbst begriffen waren, zu werden, da der Bankrott der alten römisch griechischen Religion von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer offenbarer wurde und der Kaiserkult keinen befriedigenden Ersatz zu bieten vermochte, ebensowenig aber auch die Religionsphilosophie …?“

[Reformbewegungen und Reformation] 25

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Daß wiederum die Renaissance durchaus eine Frucht des städtischen Lebens war, liegt auf der Hand. Aber die Renaissance vertrug sich mit dem Papsttum. In ihrer entwickelten Gestalt nahm sie es nicht ernst, aber es war in ihr kaum ein Bedürfnis ihm entgegen zu sein, sie bedurfte seiner vielmehr, und ihre großen Künstler haben offenbar nicht daran gedacht, daß das Papsttum nicht sein könne, das gerade um die Wende des Quattro- zum 3

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Weltanschauungen: Vergleiche dazu auch: Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919 und Wilhelm Dilthey, Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den Metaphysischen Systemen, in: M. Frischeisen-Köhler (Hg.), Weltanschauung, Philosophie und Religion, Berlin 1911, S. 3-51. Zahl der Christen: Adolf Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Bd. 2, Leipzig 1906, S. 278.

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Cinquecento so viele Künstler beschäftigte und ihnen die Muße verlieh, unsterbliche Werke zu schaffen. Tiefer als in der Renaissance war die Wirkung der Städte auf die kirchliche Reformbewegung, die ungefähr gleichzeitig sich entwickelte und zunächst in den Reformkonzilien niederschlug. Charakteristisch für diese Entwicklung war etwa dreihundert Jahre vor dem Ende des Mittelalters und der großen Kirchenspaltung die wir die Reformation nennen, das Aufkommen der Bettelorden, die eine Begleiterscheinung zur großen Entwicklung der Städte, in den Hauptländern Europas, in Deutschland besonders der reichsunmittelbaren Städte darstellt. Die bedeutendsten dieser Orden sind die der Franziskaner und der Dominikaner, von denen aber der erstgenannte der wichtigste ist. Im Gegensatz zur Verweltlichung der Kirche, die sich längst auch dem Mönchstum mitgeteilt hatte und schon früh zur Reform des burgundischen Klosters Cluni und zur Ablösung von den Bischöfen geführt hatte, auch in nahem Zusammenhange mit Bildung der Ritterorden stand, knüpfte das Mendikantenwesen an das fast vergessene Vorbild des Stifters der Religion an, nach dessen Herkunft die ersten Christen sich die Nazarener genannt hatten. Daß hier das Thema: die „Armut Christi“ in den Mittelpunkt der Betrachtung gelangte, war offenbar charakteristisch für den in den Städten rasch wachsenden Wohlstand der Bürger, der, wie es immer der Fall ist, in einem Gegensatze steht zu der allem religiösen Wesen eigenen Demut, als welche immer dem priesterlichen Einfluß mithin der Herrschaft des Klerus erwünscht sein muß und auch ein Gegengewicht gegen die natürliche und sich erhebende Scheidung der Reichen von der Menge des armen Volkes darstellt. So bildet das neue Mönchstum eine Kontrasterscheinung zum Bürgertum, die sich als solche den neuen Lebensbedingungen der Kirche anpassen wollte und sollte. Es wird als die große welthistorische Mission der Bettelorden gerühmt, daß sie der geistlichen Not des verlassenen Volkes sich erbarmte und dadurch den Bruch mit der Kirche zu hemmen gewußt habe; die so erzielten Wirkungen auf die große Menge bedeuteten in der Tat einen neuen Erfolg des Priestertums auf Grund seiner Erkenntnis der Gefahren, von denen die Kirche innerlich und äußerlich bedroht war, halfen dieser auf eine letzte Höhe zu 13

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Cluni: Gemeint ist das Kloster Cluny. Die Cluniazensische Reform war eine vom burgundischen Benediktinerkloster Cluny ausgehende geistliche Reformbewegung der katholischen Kirche des Hochmittelalters. Mendikantenwesen: Der Begriff Bettelorden (Mendikanten, von Lateinisch mendicare „betteln“) bezeichnet Ordensgemeinschaften, die ihrer Regel zufolge kein Eigentum besitzen dürfen.

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gelangen, in der das hierarchische System noch während der nächsten Jahrhunderte sich erhalten konnte, aber auch mehr und mehr in die Verweltlichung zurücklenkte. „Die militärische Organisation erfüllte sie mit dem Geist, der sie vorzugsweise geeignet machte, die Weltherrschaft des Papsttums zu schützen und auszubreiten. Wie dieses mit dem politischen Erbe des alten Römertums das welterobernde Prinzip in sich aufgenommen hatte, so fand es in den Bettelorden gleichsam ein stehendes Heer, auf der breiten Grundlage der niederen Volksschichten errichtet, an Entsagung gewöhnt, in soldatischem Gehorsam geschult. …. So hat denn dies Heer in der Kutte, Hand in Hand mit den meist aus seiner Mitte hervorgegangenen Ausnahmegerichten, die ketzerische Bewegung der romanischen Länder niedergeworfen. Und dann haben sie an jedem gefährdeten Punkt auf Posten gestanden, wachsam und treu, eher auch bissig wie der Hund, das Wappentier des Dominikanerordens, bis der Sturm hereinbrach der ihr Gebell übertönen sollte“ (R. W. Dove Bluntschlis Staatswörterbuch s.v. Orden). – Das fünfzehnte Jahrhundert zeigt die Kirche noch in ihrer vollen Einheit, Herrlichkeit und Kraft, ungeachtet des Schismas, so sehr dieses wie schon früher solche Ereignisse die im Denken fortgeschrittenen Gläubigen erschüttern mußte. Die „Reform an Haupt und Gliedern“ bedeutete allerdings daß das Haupt durch die Glieder bedrängt, in seinem Ansehen vermindert wurde, der bis dahin gesteigerte monarchische Charakter der Kirchenverfassung wurde in Frage gestellt, der Episkopat hatte guten Grund, sich dem Heiligen Stuhl nicht nur ebenbürtig sondern in letzter Instanz überlegen zu fühlen, ungeachtet der Stärkung, die der Kurie gleichzeitig durch die Bettelorden zuteil wurde. Die Opposition gegen die Kirche, als Ketzerei immer in einer sehr gefährdeten Lage, da sie von der weltlichen, wie von geistlichen Gewalt gleichermaßen verabscheut und bedroht war, hatte von jeher in den Städten, und zwar vorzugsweise unter Handwerkern ihren meistens verborgenen und stillen Anhang. Ludwig Keller, der diesen Bewegungen mit sorgfältiger Aufmerksamkeit nachgegangen ist (Die Reformation und die älteren Re15

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R. W. Dove: Richard Wilhelm Dove hat in der „Zeitschrift für Kirchenrecht“ (erschien in Tübingen beim Verlag der H. Laupp’schen Buchhandlung, 1.1861 – 15.1880), deren Mitgründer und Herausgeber er ist, über geistliche Orden geschrieben. Bluntschlis Staatswörterbuch: Johann Caspar Bluntschli, Deutsches Staatswörterbuch, 7. Bd., Stuttgart und Leipzig 1862, S. 403 f. Reform an Haupt und Gliedern: Das Konzil von Konstanz von 1414 bis 1418 sollte die dreifache Einheit wieder herstellen und die Reform an „Haupt und Gliedern“ bewerkstelligen.

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formparteien, 1885), weist oft darauf hin, daß im städtischen Bürgertum die vornehmsten Träger des Waldensertums lebten. Petrus Waldus, eine halbmythische Gestalt, die den Waldensern des südlichen Frankreichs, wie es scheint, ihren Namen gegeben hat, soll ein „reicher“ Kaufmann in Lyon gewesen sein. Seine Nachfolger und Anhänger verbreiteten sich hauptsächlich in Oberitalien und in den Alpentälern; sie bekämpften die Mißbräuche der Kirche als unevangelisch, vollzogen aber keine volle Trennung von der Kirche, obgleich sie von ihr verfolgt wurden. Keller zitiert einen Satz des Theologen T. W. Röhrich: In weiter Verzweigung von Spanien bis nach Böhmen, von Kalabrien bis in die Niederlande, zog sich im 14. Jahrhundert eine Reihe verborgener Vereine wie auch kleinerer oder größerer Gemeinden, die vornehmlich auch unter dem freisinnigen gewerbfleißigen und regsamen Bürgerstande der Städte zahlreiche Anhänger fanden. Keller erinnert an die Tatsache, daß im 14. Jahrhundert viele Handwerker, besonders die Gilden der Steinmetzen, Bauleute, Goldschmiede usw. technisch und geistig auf einer Höhe gestanden haben, daß späterhin ganze Generationen geistig von ihnen abhängig gewesen sind. Die Waldenser vermischten sich bald mit anderen Ketzern, die ebenso wie sie verfolgt wurden als den Katharern, die der Ketzerei den Namen gaben, den Begharden, den Fratricellen, die sich oft einfach Brüder, Apostel, auch Brüder vom armen Leben nannten und als die Stillen im Lande Sekten bildeten, die offenbar weit über die große Menge der Gläubigen und Abergläubigen hinausragten. In der Kirche gewannen sie wohl einen gewissen Halt an den Mystikern: dies scheint besonders im Elsaß bemerkt werden zu sein: so scheint es, daß der Meister Eckhart zu den „Waldensern“ und deren Aposteln in einem nahen Verhältnis gestanden hat. Auch gingen von den Franziskanern oder Minoriten manche Strahlen aus, die sich mit der Sekte des freien Geistes nahe berührt haben. Die ganze vornehmlich in alten Städten heimische Neigung, den Wert der äußerlich nach wie vor in ihren Formen beobachteten Religion in die Befolgung christlicher Moralvorschriften zu setzen, die notwendig einige Gleichgültigkeit, wenn nicht Abneigung, gegen den priesterlichen Zauber und die Einschärfung unglaubwürdiger Lehren mit sich brachte, bildet die breite Basis, auf der ein Gebäude zwar noch nicht des Unglaubens, aber doch des Hasses und der Verachtung ganzer Kategorien von Priestern und Mönchen, sich erheben konnte, obschon die Bettelorden gerade in diesen Jahrhunderten unermüdlich tätig waren, solche Tendenzen zu bezwingen, 13

zahlreiche Anhänger fanden: Timotheus Wilhelm Röhrich, Die Gottesfreunde, in: Zeitschrift für die historische Theologie, Band 10, Leipzig 1840, S. 144.

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indem sie ihnen mit Vorsicht entgegenkamen. So brachten sie die in den Niederlanden stark ausgebreiteten religiösen Genossenschaften der Beghinen und Begharden von sich in Abhängigkeit, so daß diese in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts vielfach den Strafgerichten der Inquisition verfielen, während gleichzeitig andere Erscheinungen der Ketzerei wie die des Wycliffe in England, des Jan Hus in Böhmen kühner sich erhoben. In Deutschland insbesondere hatten solche Stimmungen weithin ihre Wurzeln geschlagen, waren auch mit sozial aufrührerischen Bewegungen, die auf Oberitalien sich ausdehnten, den Erhebungen des „Bundschuh“ und des „armen Kunrad“ in Verbindung getreten, die sich ebenso gegen Geistlichkeit, zumal die Klöster wie gegen den Adel richteten. Immer bleibt es eine kühne und gewaltige Tat, mit der ein Augustinermönch, Martin Luther, meinte im Namen Gottes gegen die Kirche, die doch auch ihm noch als die heilige Stiftung seines Gottes erschien, sich erheben zu sollen, kühner werdend in dem gewaltigen Widerhall, den er fand. Dieser Widerhall aber rührte hauptsächlich von den Städten, zumal den deutschen Reichsstädten her, wenn auch außerdem die Sympathie anderer Reichsstände, besonders der freien Reichsritterschaft und einiger Fürsten ihm zugute kam, die von der städtischen Bildung erfaßt und durch ihre Interessen mit ihr verbunden waren.

[Der neue Geist der Aufklärung]

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Die Städte verloren in der Neuzeit ihre Freiheit und Selbständigkeit zum größten Teile; nur einige Kategorien nahmen an Einwohnerzahl, an Geist und Bedeutung zu, besonders unter den Einfluß des Fortschrittes der mechanischen Wissenschaften, der an sie anknüpfenden reformierten Philosophie, deren Wesen die Absage an den Geisterglauben und die Feststellung der einheitlichen unverbrüchlichen Kausalität des ganzen Weltgeschehens war. Es waren neben Universitätsstädten, in denen hin und wieder der neue Geist sich regte, die durch den Verkehr, zumal den überseeischen, wachsenden Handelsstädte, mehr aber noch die Haupt- und Residenzstädte, die in der gleichen Richtung während des XVII. Jahrhunderts wirkten und sich entwickelten, um das durchaus städtische bürgerliche Zeitalter der Aufklärung, das XVIII. Jahrhundert, herbeizuführen, wenngleich auch der Adel, 10

armen Kunrad: Gemeint ist der „arme Konrad“. Als Armer Konrad (auch Armer Kunz) bezeichnete sich ein Bündnis des Gemeinen Mannes, das 1514 im Herzogtum Württemberg aufbegehrte.

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sofern er vielfach von dieser Kultur auch der wissenschaftlichen, berührt ja nicht selten erfüllt war, und die Geistlichkeit (wenn auch die der alten Kirche verhältnismäßig wenig) Anteil nahm und sogar darin mitwirkte. Obschon die Reformation, d. h. die Kirchenspaltung einer freien Denkungsart vorgearbeitet hatte, so wuchs doch diese zu entscheidender Kraft in dem Lande, das die Reformgesinnung in Gestalt des Calvinismus gewaltsam unterdrückt hatte, in Frankreich. Sie blieb freilich zunächst die Denkungsart einer kleinen Minderheit, und nach einem tiefen Verfall durch das erleuchtete Jahrhundert und vollends durch die Revolution, kam die Kirche wiederum zu Kräften, wenngleich ihr die Lebensbedingungen durch das Konkordat Bonapartes erschwert wurden. Wenn auch hier schon in jeder Hinsicht eine Reaktion gegen die dem ungeheuren Sturm zugrundeliegende negative Gesinnung vorlag, so nahm doch erst nach dem Sturz Napoleons diese Reaktion eine Gestalt und Kraft an, die zunächst mit großer Wirkung der Gestalt und Kraft des Sturmes zu entsprechen und sie aufzuheben schien. Diese Wirkungen waren in Deutschland so stark wie in Frankreich, hinterließen auch in anderen europäischen Ländern tiefe Spuren. Dennoch ist im ganzen Verlauf des 19. Jahrhunderts und bis ins 20. hinein der Fortschritt des Unglaubens und vielleicht noch mehr der Gleichgültigkeit außerordentlich groß geworden, und zwar wiederum am entschiedensten im katholischen Frankreich, dem neuerdings auch Spanien sich gesellte, das bisher mit gutem Grunde als die Hochburg der alten Kirche gegolten hatte. In Italien, wo vielleicht die tiefste Kluft sich aufgetan hat zwischen der Ungläubigkeit der besitzenden Klasse, also besonders der Städter und der beharrenden Unwissenheit der großen Menge des südlichen Teiles der Halbinsel blieb immerhin die „Ewige Stadt“ auch die Heilige Stadt und wurde zugleich die Hauptstadt des so spät geeinigten Königreichs. In fast komischer Weise ist neuerdings der Versuch gemacht worden, eine weltliche Herrschaft des Papsttums wiederherzustellen, während die geistliche Herrschaft immer mehr Spuren des nahenden Unterganges trägt. – Kaum läßt sich mehr über den bleibenden Stand des Christentums in seinen gegenwärtigen Spaltungen und im Rest seiner Wirkungen aussagen. Einen 11

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Konkordat Bonapartes: Das Konkordat vom 15. Juli 1801 war ein Staatskirchenvertrag zwischen Frankreich und dem Heiligen Stuhl. Napoleon beendete damit den geistlichweltlichen Kampf mit der katholischen Kirche in seinem Sinne. Ewige Stadt: Gemeint ist Rom. Rom wurde erstmals im 1. Jahrhundert v. Chr. vom Dichter Tibull „Ewige Stadt“ genannt. weltliche Herrschaft des Papsttums: Ferdinand Tönnies meint die Gründung des Staates „Vatikanstadt“ 1929.

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verdienstvollen Versuch angemessener Schätzung macht die „Konfessionskunde“ Hermann Mulerts. Er legt zunächst Wert darauf, daß in der Neuzeit die christlichen Völker gewonnen haben, während der ehemals ihnen so gefährliche Islâm seine Macht zum großen Teile einbüßte; ebenso betont er gewiß richtig die Ausdehnung der Christenheit von Europa her auf die alten und die neuen Weltteile, obschon gerade in Asien die Hauptmasse der nichtchristlichen Menschheit wohne. Von den christlichen Völkern werde die Welt beherrscht und Japan sei die einzige nichtchristliche Großmacht. Indessen sieht Mulert deutlich, daß der „Atheismus“ gerade im XIX. Jahrhundert weite Verbreitung gewonnen hat, und zwar (wie er meint) als „Materialismus“. Ob es richtig sei, diese beiden -ismen miteinander zu identifizieren, wird an anderer Stelle gefragt werden. Unser Autor faßt sie als Ablehnung der Religion zusammen und meint richtig, die Verbreitung solcher Denkweise sei statistisch noch lange nicht ausreichend zu erfassen, weil die meisten der Religion [sich] ganz entfremdeten „doch nicht aus der Kirche austreten … Gewohnheit, Pietät gegen Kindheitserinnerungen, die Rücksicht auf Frauen und sonstige Angehörige, die man durch solchen Austritt verletzen würde, lassen viele den formalen Schritt nicht vollziehen“. Man habe irgendwelche Gründe, wenigstens durch Zahlung von Kirchensteuer sein Verbleiben in der Kirche zu bezeichnen, wenn auch oft sehr minderwertige Gründe. „Und so behält der ganze Zustand etwas Unwahres und Peinliches“. Es könne freilich nicht immer als Gottlosigkeit gelten, wenn starke theoretische Zweifel laut werden: dann nämlich nicht, wenn dabei die Lebensführung sittlich ernst bleibe. Weder die römische noch die protestantischen Kirchen halten es für geboten, solche Mitglieder von sich auszuschließen. – Es ist wichtig, in diesem Zusammenhange darauf aufmerksam zu machen, daß die entschiedenste Negation in diesem Gebiete seit einer Reihe von Jahrzehnten wenigstens in Deutschland von der Arbeiterbewegung, also vom industriellen, zumal großstädtischen Proletariat ausgeht, innerhalb dessen das unwahre und peinliche der Lage hier am schwersten empfunden zu werden scheint, und die öffentliche Meinung, von der Mulert richtig sagt, daß sie noch ein Gegengewicht gegen die ausdrückliche Ablehnung bedeutet, wenig mehr ins Gewicht fallen dürfte, nachdem man gerade in Deutschland durch schwere Kämpfe die hohe Anforderungen an 2 18 22

Konfessionskunde: Hermann Mulert, Konfessionskunde – christliche Kirchen und Sekten heute, Gießen 1927. Siehe dazu insbesondere das zweite Kapitel, S. 21-37. Schritt nicht vollziehen: Hermann Mulert, a.a.O., S. 21. Unwahres und Peinliches: Hermann Mulert, a.a.O., S. 21.

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Aufopferung und Entsagung stellten, sich gewöhnt hat, auf dem Gebiete der sozialen und politischen Meinungen der Öffentlichen Meinung zu trotzen. Daß hier der Zersetzungsprozeß noch im Laufe dieses Jahrhunderts sehr starkes Wachstum aufweisen werde, ist doch bedeutender Grund vorhanden zu vermuten, ja mit Zuversicht vorauszusagen. Mulert meint, es sei eine zumindest nicht sichere Ansicht, daß das Christentum, wenn es auch durch Mission bei kulturell tiefstehenden Völkern sich noch verbreite, doch mit seiner Macht in den Ländern des europäisch-amerikanischen Kulturkreises unaufhaltsam abnehme. Der ernstlich um die Wahrheit sich bemühende Verfasser gibt zu, daß der Weltkrieg gezeigt habe, wie wenig Gewalt die sittlichen Motive des Christentums über das politische und das wirtschaftliche Leben haben, und durch ihn sei das Ansehen des Christentums in der nichtchristlichen Welt schwer erschüttert worden. Auch sei es richtig, daß die Abwendung von der Religion wesentlich durch Fortschritte der Wissenschaft bewirkt werde und daß diese bei vielen Menschen die Gottesvorstellung in den Hintergrund treten lasse. Aber wo starkes religiöses Empfinden sei, da stehe noch heute Gottesglaube tausendfach neben wissenschaftlicher Arbeit. Denn die Welt bleibe dem nachdenklichen Menschen auch unserer Tage im Grunde voll der Geheimnisse und alle höherstehende Religion sei einheitliche Deutung der als geheimnisvoll empfundenen Welt. Aber eine andere Gefahr sei tatsächlich wohl schwerer: sie liege in der Zersplitterung des modernen Lebens, in der Heimatlosigkeit der Massen. Allen Gefahren gegenüber will unser Verfasser der Meinung, die Zeit des Glaubens gehe zu Ende, entgegenhalten, daß in anderem Sinne diese Zeit erst anfange. Er beruft sich darauf, daß die Tatsachen, die wir erkennen und mit unserem Verstande ordnen, nicht das Ganze und die Erkenntnisse unseres Verstandes nicht das Höchste seien. Wer wirklich an die Wahrheit des Christentums glaube, wer etwas von der Kraft des Evangeliums erlebt habe, dem werde es nicht zweifelhaft sein, daß das Evangelium uns auch wirklich retten wird, dem wird es um die Zukunft der Religion, des Christentums nicht bange werden „Wäre mehr Nachfolge Jesu, mehr wirkliche Liebe unter den Christen, so stünde das Christentum anders vor der Welt da“. Der Theologe geht hier nicht auf die Tatsache ein, daß Maß und Art religiöser Gläubigkeit wesentlich durch die allgemeinen Lebensbedingungen 2

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Öffentlichen Meinung: Tönnies unterscheidet zwischen der öffentliche Meinung mit kleinem „ö“ und mit großem „Ö“. Siehe dazu Ferdinand Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922. anders vor der Welt da: Hermann Mulert, a.a.O., S. 24.

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im einen und anderen Sinne bestimmt wird. In einfachen und einfältigen Verhältnissen, also in solchen ruhiger, zumal ländlicher Arbeit, gedeiht sie am besten, und wird durch Unwissenheit am besten geschützt; oft besteht damit ein wohlwollendes, wohlmeinendes im kindlichen Glauben mit Willen beharrendes Seelenhirtentum zusammen. Schon die bloße Verdichtung des Zusammenwohnens macht in dieser Hinsicht bedeutende Unterschiede. Solange als die Menschen nicht viele andere Menschen kennen, mit den wenigen in gemeinschaftlichen Verhältnissen leben, so können zwar Feindseligkeiten neben den und in den Verhältnissen, die ihrem Wesen nach solche gemeinschaftlicher Bejahung sind, bestehen; es bestehen auch in der Regel schon weite Kluften zwischen einer kleinen Zahl reicher Häupter und dem Volke, das diese Häupter und ihre Macht mehr oder minder willig erträgt, oft sogar sich gern gefallen läßt. Alles wird anders in dem Maße, als die Kreise sich erweitern. Die Menge des Volkes nimmt zu, teils durch natürliche Vermehrung (Überschuß der Geborenen) teils durch Zuwanderungen; noch mehr aber nimmt durch den Verkehr die Zahl der inneren, noch mehr die Zahl der äußeren Beziehungen der einzelnen Menschen zu anderen zu und manche solche Beziehungen, wenn auch die meisten nur flüchtig und vergänglich sind, werden dauernde. Es entwickelt sich, was hier Kürwille genannt wird, mit der Isolierung des Individuums inmitten Fremder. Die Willigkeit, geborenen und gekorenen Oberen und den Göttern, auf die sie sich berufen, deren angebliche Gebote sie zu den ihren machen, zu gehorchen, nimmt ab, ungeachtet aller Stärke der Gefühle, der Gewohnheit und Überlieferung, der Lehre und Unterweisung. Allen diesen Mächten gegenüber werden denkende Männer – seltener die Frauen – selbständiger werden. Dieser Prozeß läßt sich vorübergehend hemmen, er kann nicht wirklich aufgehalten werden. Tatsächlich wird er seit Jahrhunderten gefördert und gesteigert durch die Verallgemeinerung der Geschäfte, die Ausdehnung des Handels. Die Männer haben keine Zeit, an etwas anders zu denken als an ihr Soll und Haben. Darum ist die Gleichgültigkeit ein so viel gefährlicherer Gegner der religiösen Gläubigkeit als der offenbare Unglaube. Jene gilt durchaus nicht ausschließlich, und in der breiten Masse des Geschäftslebens nicht hauptsächlich den religiösen, sondern schlechthin alle Arten des geistigen Lebens, der moralischen Angelegenheiten. Dieser Umstand kömmt andererseits wenn nicht der Religion – als einer Denkungsart – so doch der Kirche – als einer Praxis und Institution – insofern zu gute, als der 27

Tatsächlich wird er: Ab hier handschriftliche Passage in Ferdinand Tönnies Schrift, Blatt 370 und 371.

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Gedankenlose immer bereit ist, ihr die von irgendwelchem Publikum verlangten oder doch ihm willkommenen Reverenzen zu machen, also auf Verlangen die „kirchlichen Pflichten“ zu erfüllen, und übrigens von „all diesen Dingen“ so viele Notiz zu nehmen als von dem allzu – alltäglichen Zeitungleser erwartet werden mag und als die konventionell-konservative Denkungsart erheischt. Aus dieser Lage der Dinge ergibt sich ein seltsamer Tatbestand. Im städtischen, bürgerlichen Denken haben die frühen Formen, zumal die antikirchlichen, der Skepsis ihre Wurzel. Ein guter Teil – der intelligentere und reichere – des Herrenstandes, weltlicher zunächst, aber auch, (zweiterer sogar am meisten), der geistlichere, nimmt daran Teil und, weil diese höher gebildet, vor allem buchgebildet, sind, mit größerer Kraft und Entschiedenheit. Dieser Teil des Adels erschrickt bald vor den Folgen, zugleich mit deren größerem, einfältigeren Teil, der an der Gegenbewegung keinen Teil gehabt hat, überhaupt dem Typus des Philisters entspricht. Zu gleicher Zeit erhält sich noch und setzt sich fort die bürgerliche Kritik, soweit sie eben „Zeit“ hat, aber mit der Zeit wird auch die „Lust“ weniger und schwächer. War der Protestantismus die Umgestaltung der Kirche, die Vernüchterung und Vereinfachung sowohl des Glaubens als des Kultus, so will der theologische Rationalismus als Ausläufer des und in Verbindung mit dem Pietismus, einen gangbaren Weg in gleicher Richtung fortschreitend gehen, aber bald überwältigt ihn als gar zu verständig, und als verständnislos für das göttliche Geheimnis des Wunders, die gegenrevolutionäre Bewegung des Supranaturalismus – in verjüngtem Maßstabe die Gegenreformation und den Jesuitismus reproduzierend –, und nur leise, vorsichtig kann als erneuerter Rationalismus der minder volkstümliche, aber von kritischer Gelehrsamkeit erfüllte liberale Protestantismus sich hervorwagen. Auch er hatte seine „gute Zeit“: in Deutschland, ehe sich des Bürgertums eine ähnliche Angst vor dem „Proletariat“ bemächtigt hatte wie sie den Adel und den Klerus nach den Ereignissen der Revolution und des Napoleonismus ergriff, und unter den Nachwirkungen der klassischen Epoche deutscher schöner Literatur und Philosophie. In Groß-Britannien war eine analoge Befreiung von dem dort schwereren Kirchen- und nicht leichten SektenDruck die Folge eines tief verbreiteten politischen und ganz besonders wirtschaftspolitischen Liberalismus und eines phänomenalen Glanzes zunehmenden Reichtums und gesteigerter politischer Machtstellung. Bald aber entwickelte sich ein anderer Geist mit der Steigerung des Geschäfts, der Entwicklung von höheren kapitalistischen Produktions- und Verkehrsweisen, und für Deutschland im Gefolge des Erreichens einer bedeutenden politischen Machtstellung und Weltstellung. Mit dem Kapitalismus [ent-

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stand eine] gewaltige Zunahme, ja sogar die erste Entwicklung des (eigentlichen, industriellen) Proletariats, die freie Gestaltung seines Selbstbewußtseins, seiner Bewußtheit als ökonomischer Macht die nach politischer Macht strebt. Es ist nicht zu verwundern, daß die in ihre eigenen Gemächer, ihre Stadtteile und „Mietkasernen“ eingesperrte Arbeiter-Klasse über die Dinge der Welt wie des Jenseits anders denkt, als Adel und Bürger, auch als das ihr äußerlich am nächsten stehende Kleinbürgertum, das schüchtern und gehorsam in seinen Niederungen sich bewegt; aber den Anspruch nicht leicht aufgibt, höher zu steigen und schon dem Herrentum zuzugehören.

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Der Theologe Tröltsch, dem Mulert nahestehen dürfte, legt großes Gewicht auf die Bedeutung des christlichen Naturrechts durch die ganze bisherige Kirchengeschichte hindurch. Er sagt (Art. in „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“): „In der heutigen Sozialdemokratie, der Erbin des radikalen Naturrechts der Freiheit, Gleichheit und Besitzgemeinschaft, sind die religiösen Begründungen völlig verschwunden, und wird die Geltung dieser naturrechtlichen Ideale mit einem materialistisch deterministisch gedachten Entwicklungsprozeß der Wirtschaft verbunden, der an einem gewissen Punkte die Verwirklichung der Ideale von selbst hervorbringt und sie dem kämpfenden Proletariat mit dem günstigen Moment, der seine Diktaturen möglich macht, in den Schoß wirft“. – Da Tröltsch zum Schluß seiner Abhandlung noch in wenigen Zeilen das von ihm sogenannte profane und spezifisch juristisch sozialphilosophische Naturrecht, als dessen eigentlichen Urheber er richtig an erster Stelle Hobbes nennt, erörtert, indem er ihm auch richtig zuschreibt, daß es eine von der christlichen Idee sehr unabhängige Entwicklung genommen habe, so wäre es, wenn er schon auf das Verhältnis der Sozialdemokratie zum christlichen Naturrecht als einem negativen Verhältnis zu sprechen kam, angezeigt gewesen, auch das Verhältnis der anderen Parteien, mithin der hinter ihnen sich bewegenden sozialen Klassen heranzuziehen und er hätte dann gefunden, daß schon der bürgerliche Liberalismus die religiösen Begründungen völlig hatte verschwinden lassen; ja 14

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Religion in Geschichte und Gegenwart: Die Lexikonreihe „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (abgekürzt RGG; in den ersten drei Auflagen noch „Die Religion …“) ist ein Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. in den Schoß wirft: Ernst Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Vierter Band, Tübingen 1925, S. 165 ff.

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er hat dies erkannt und spricht es aus in den erwähnten Worten über die Unabhängigkeit von der christlichen Idee. Inwiefern übrigens die Bezeichnung des Verhältnisses der Sozialdemokratie zum Naturrecht und zum Christentum zutreffe, werde hier einer späteren Prüfung vorbehalten. Tröltsch scheint nicht bemerkt zu haben, daß in der vorwaltenden Theorie des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus die naturrechtliche Begründung von Idealen in der bestimmtesten Weise abgelehnt wird: daß eben diese Begründung für Marx und Engels eine unwissenschaftliche war, denn die Begründung des Sozialismus, auf die sie allein Wert legten, ist die evolutionistische, die darauf beruht, daß sie die gesamte historische Entwicklung als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßten und aus der Hegelschen Dialektik gelernt haben wollten, daß ein solcher Entwicklungsgang sich in Widersprüchen bewege, indem die sozialen Gebilde an ihren inneren Widersprüchen zugrunde gehen und zwar so, daß die veränderten Produktionsverhältnisse und darin beruhenden menschlich-sozialen Verhältnisse sich primär verändern, und die Veränderungen des „Überbaus“ teils sehr allmählich, teils in Katastrophen nach sich ziehen. Ungeachtet dieser klaren und schlichten Theorie, in der die menschlichen Ansprüche und Ideale, so weit sie nicht in den Dingen begründet sind, nur den Hintergrund bilden, hat eine ungenügende Kenntnis und ein ungenügendes Verständnis die Sache in ihr Gegenteil verdreht: dies hätte einem Gelehrten wie Tröltsch nicht entgehen dürfen; denn ein richtiges Urteil über den Marxismus ist ohne die Grundlage dieser Erkenntnis schlechthin unmöglich. Tatsächlich spielt freilich die naturrechtliche Denkungsart auch unter den Marxisten oder doch unter denen, die als Redner und Politiker im Gefolge des Marxismus wandeln, eine große Rolle: Auffassungen und Folgerungen, die den Menschen natürlicher gewohnter und einleuchtender sind, weil sie nach dem Schema sich gebildet haben: es ist verkehrt also muß es verändert, es ist ungerecht, also muß es zurecht gemacht werden. Marx und Engels meinten einfach: wenn man die gesetzliche Notwendigkeit des Verlaufs eines Stromes oder des Wachstums eines Baumes einsieht, so wird man in der Regel für richtig halten, diesen Verlauf oder dies Wachstum nicht zu hemmen, sondern zu fördern: so handelt der vernünftige Ingenieur auch wenn er einen Strom regulieren, ihm ein neues Bette graben will, so handelt der vernünftige Gärtner und Landmann. So sollen und werden, wenn sie vernünftig sind, die 17

Katastrophen nach sich ziehen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, Näherer Begriff und Einteilung der Logik, § 79, 3. Ausgabe, Heidelberg 1830.

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Arbeiter denken und handeln, indem sie sich zusammenschließen, um wirtschaftliche und politische Macht zu erringen; je mehr sie solche gewinnen, um so mehr wird durch sie die Gesellschaftsordnung umgestaltet werden: also ist Tröltsch auch im Irrtum, wenn er die Lehre so deutet, daß der Entwicklungsprozeß der Wirtschaft die Ideale eines Tages in den Schoß werfen müsse und werde. Denkende und vernünftig handelnde Menschen, organisierte und disziplinierte, wohl auch enthusiasmierte hat die Lehre immer vorausgesetzt; und keineswegs Quietismus anbefehlen wollen.

[Gemeinsamer religiöser und wissenschaftlicher Besitz] 10

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Wir kommen auf die Konfessionskunde zurück. Der Verfasser [Mulert] legt nicht geringen Wert auf den gemeinsamen religiösen Besitz der Christenheit und ohne Zweifel ist diese eine wichtige Tatsache. Aber es gibt auch einen gemeinsamen wissenschaftlichen Besitz, nicht nur der Christenheit sondern der Menschheit, soweit sie an der technischen und gelehrten Kultur Anteil hat. Man darf sagen, daß auf ein- bis zweihundert Jahre vorausgesehen, jener religiöse Besitz immer mehr zusammenschmelzen, der wissenschaftlich technische Besitz immer stärker werden, daß ihn immer tiefer die Menschheit, es sei denn, daß sie gänzlich verkomme und verdumme, sich aneignen wird. Der Streit ist durch die Jahrhunderte der Neuzeit hindurch geführt worden, die religiös begründeten Meinungen haben immer weiter zurückweichen müssen, sie sind matt und schwach geworden, die wissenschaftliche Denkweise hat immer neue Triumphe gefeiert, es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie im Laufe des kommenden Jahrtausends nicht noch viel stärker, noch viel wahrer und tiefer werden wird als sie bisher geworden ist. Nachdrücklich hat der gelehrte Däne Troels Lund (Himmelsbild und Weltanschauung im Wechsel der Zeiten, Leipzig 1910) darauf hingewiesen, daß die christlichen Lehren durchaus auf Voraussetzungen aufgebaut sind, von denen keine mehr für uns gelten kann: er hebt besonders die kindliche Kosmologie hervor, die ihr zugrunde liegt. Noch auffallender ist aber, was man die psychologischen Voraussetzungen nennen kann: der Geister- und Gespensterglaube und der dazu gehörige Wunderglaube. Das Wunder ist gewiß des Glaubens liebstes Kind, aber es ist auch ein gefährliches Kind: wenn man es wild wachsen läßt, so schlägt es seine Eltern tot, indem es selbst umgebracht wird und den Glauben in seinen Untergang fortreißt. Das ist es, 26

im Wechsel der Zeiten: Gemeint ist: Troels Troels-Lund, Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der Zeiten, übersetzt von Leo Bloch, Leipzig 1910.

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was wir tatsächlich erlebt haben. Denn wenn die Einsicht tiefe Wurzeln geschlagen hat, daß alle Erscheinungen, alle Erfahrungen natürlich sind und durch Naturgesetze miteinander verbunden, daß Ursachen und Wirkungen niemals durch Eingriffe unbekannter erdichteter Wesen, mögen sie als menschenähnlich vorgestellt werden oder nicht, mögen sie als noch so mächtig nach Art der allergroßmächtigsten Könige vorgestellt werden, verändert werden können, so hört der eigentliche Sinn auf, in dem von jeher die Menschen zu ihren Göttern oder zu ihrem Gotte gebetet haben, der Sinn, worin sie glaubten durch Opfer und Spenden, durch Demut und durch anderes ihm vermeintlich wohlgefälliges Leben und Tun seine Gunst und seine Gnade zu verdienen, ihm für seine vermeintliche Güte für Sieg, Reichtum, Gesundheit und andere Gaben der Natur zu danken. Auch der letzte und einzige Gott geht unter, wenn er im ewig unbegreiflichen Weltall in der Unermeßlichkeit des Geistes, die wir im Weltall ausgebreitet oder mit ihm identisch denken mögen, aufgeht. Unser Gewährsmann [Mulert] legt hohen Wert darauf, daß in einigen wichtigen sittlichen Gedanken Einmütigkeit aller christlichen Gruppen herrsche: man könne nur dann ein Jünger Jesu sein, wenn man Nächstenliebe übe, und es sei zu keiner Zeit und in keiner Gruppe ganz vergessen worden, was in den Geschichten vom barmherzigen Samariter an Schönheit und Weisheit enthalten ist, von Petrus, der seinem Bruder immer wieder verzeihen sollte, von Jesu Sanftmut und Demut, von seinen Worten: es werde beim Weltgericht danach geurteilt werden, was wir einem der Geringsten unter seinen Brüdern getan haben. Ferner verbinde auch der Dekalog. – Ohne Zweifel ist die Meinung und wird auch an anderer Stelle angedeutet, daß eben in diesen moralischen Wirkungen der eigentliche und bleibende Wert der christlichen Religion enthalten sei. Mir ist die Erzählung vom barmherzigen Samariter darum immer merkwürdig gewesen, weil sie ausdrücklich zu verneinen scheint, daß eine moralische Betätigung dieser Art irgendwie durch die richtige Gläubigkeit bedingt sei, denn Samariter war tatsächlich bei den Juden gleichbedeutend mit Verrückter und jedenfalls wurden sie gehaßt und verachtet. Auch darf man mit Zuversicht behaupten, daß keine einzige Tugend, die im „Evangelium“ gerühmt und empfohlen wird, den Christen eigentümlich sei, oder auch nur mit besonderer Vorliebe von ihnen geübt werde. Wohl von manchen Individuen – ob aber von ver15 24

aufgeht: Tönnies nimmt hier unmittelbar Bezug auf Baruch de Spinoza. seinen Brüdern getan: Matthaeus 25, Vers 40: Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

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hältnismäßig größerer Zahl verhältnismäßig öfter als von Bekennern anderer Religionen oder keiner Religion – das darf man getrost bestreiten. Die Erfahrung bestätigt es nicht, daß auch nur Christen gegen Christen gütiger und aufopfernder sich verhalten, geschweige denn Christen gegen Nichtchristen, seien es Juden oder sogenannte Heiden. Es muß überhaupt als ein Irrtum bezeichnet werden – und dies schließt die Erzählung vom Samariter offenbar in sich ein – daß das gute Handeln wesentlich durch irgendwelche aufgenommene und geglaubte Lehren bedingt werde. Es ist in erster Linie bedingt durch das Temperament, in anderer durch den Charakter der Menschen, dann erst durch seine Denkungsart; und die Denkungsart ist ihrerseits teils durch Temperament und Charakter, teils durch Lebenserfahrung und von vielen Seiten herankommende Meinungen bedingt, unter denen bei manchen Menschen freilich auch heute rein die religiösen im Vordergrunde stehen; unabhängig Denkende denken mehr an den Wert dessen, was sie denken und tun, wollen oder sollen, und dieser Wert ist teils ein Wert für die eigene Person, teils für ihre Freunde und Genossen, teils für Sachen denen sie zugetan sind; dazu kann natürlich auch das religiöse Bekenntnis; der religiöse Verein, kann auch die Kirche gehören. Aber notwendig sind diese Motive nicht, ja sie bewirken auch das Gegenteil: Herzenshärtigkeit, Roheit, hochfahrende Dünkel, und – was das übelste ist – Heuchelei und Lüge. – Gleichwohl ist es durchaus nicht unbegründet, wenn ehrliche Bekenner einer Religion oder auch einer von ihnen für besonders richtig und wertvoll gehaltenen Spielart allgemeinerer Religion solche wenigstens für die günstigste Lehre zur Erhaltung oder sogar zur Verbesserung der Moralität halten. Sie pflegen eine leichtfertige frivole Auffassung sittlicher Probleme, oft auch ein dementsprechendes Tun und Treiben in Verbindung mit dem Unglauben schlechthin oder wenigstens mit einer von der ihrigen abweichenden Meinung anzutreffen: kein Wunder, daß sie ein strenges Festhalten am hergebrachten Dogma, das sie wohl sogar für übernatürlich offenbart und geheiligt halten, als geboten und als unbedingt heilsam hinstellen und mit Eifer vertreten. Irgend etwas allgemein Gültiges kann aber daraus nicht gefolgert werden. Sie selber, die Christen, wissen wohl, daß oft auch die gewissenhaftesten Vertreter der richtigen Lehre bis auf den Buchstaben, alle möglichen moralischen Schwächen und Gebrechen teils offen zur Schau tragen, teils mühsam verstecken, und daß es keineswegs 10

Charakter der Menschen: Wille und Handlung sind erklärbar aus dem Charakter eines Menschen. Siehe dazu: Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, in: Arthur Schopenhauer, Werke in zehn Bänden, 6. Bd. Zürich 1977, S. 82.

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ratsam ist, irgendeinem Menschen wegen gewisser, wenn auch einem selber noch so sympathischer Redeweise und Gebärden über den Weg zu trauen. – Die allgemeine Regel ist und bleibt, daß die Menschen wie in ihrer Beschaffenheit, ihrer Gesundheit, ihrer Abstammung nach, und nach allen Voraussetzungen ihrer Stellung und ihrer Umgebung höchst mannigfach sind, so auch nach ihren Sym- und Antipathien in bezug auf die Mitmenschen: die Regel bleibt immer, daß der Mensch geneigt ist für seine Freunde, abgeneigt gegen seine Feinde, zweifelhaft bis mißtrauisch gegen Fremde und daß er auch sonst zuerst durch seine Gefühle, sodann durch seine Gedanken sich führen läßt. Sein eigenes persönliches Wohl beschäftigt ihn immer und er sucht dessen Verbesserung, vielleicht Rettung. Manche denken wohl auch, wenigstens von Zeit zu Zeit, an ihr Wohlsein oder Nichtwohlsein in einem anderen Leben. In dem Zeitalter eines ausgeprägten Individualismus und Egoismus ist der christliche Glaube emporgekommen und hat sich unermüdlich immer darauf berufen. Auch heute noch beruht die Kraft jeder christlichen Kirche darauf, daß sie verspricht, den gläubigen Menschen „selig“ zu machen und zu warnen vor dem Verderben als vor bitteren Leiden und Qualen und dem ewigen – vollständigen – Tode. So lauten die Eingangsworte des Athanasianum: Jeder, der selig sein will, hat vor allem nötig den allgemeinen (katholischen) Glauben. Wenn jemand diesen nicht vollständig und unverletzt bewahrt haben wird, so wird er ohne Zweifel in Ewigkeit zugrunde gehen. So wird es besonders verheißen im Ausblick auf das Jüngste Gericht, wo die Menschen über ihre Taten Rechenschaft geben sollen. „Und die Gutes getan haben, werden ins ewige Leben eingehen, die Böses, in das ewige Feuer“. Für diejenigen, die das glauben, scheint es also ein sehr dringendes persönliches Interesse zu sein, Gutes zu tun und Böses nicht zu tun. Eine Wirkung in diesem Sinne läßt sich nur in verschwindendem Umfange beobachten. Die Christen hoffen unablässig, daß ihnen das Böse, was sie tun und getan haben, verziehen werde und wenigstens die Römische Kirche sichert ihren Gläubigen diese Verzeihung zu. Luther hat dagegen im Anschluß an den Apostel Paulus zur Lehre seiner Gemeinden und Kirchen gemacht, daß der „Glaube“ ganz allein die Menschen rechtfertige, daß also irgendwelche Werke dazu nicht nötig seien. Auf Fragen dieser Art bezieht sich hauptsächlich die sogenannte theologische Wissenschaft, der noch heute an den meisten Hochschulen eine ganze oder sogar 25

das ewige Feuer: „Und die Gutes getan haben, werden ins ewige Leben eingehen, die hingegen Böses [getan haben], in das ewige Feuer.“ Vers aus dem so genannten Athanasischen Glaubensbekenntnis.

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zwei einander feindliche Fakultäten gewidmet werden. Die Christenheit seufzt unter diesen verschiedenen Theologien, die sie im allgemeinen unfähig und unlustig ist: teils immer war, teils immer mehr geworden ist, zu verstehen, um so mehr da auch innerhalb dieser selben Sparte kaum zwei Verkünder des gleichartigen Christentums miteinander einig sind über die wirkliche richtige Lehre. Ja sie sind von jeher verrufen, nicht nur wegen ihrer Uneinigkeit im Geiste sondern auch wegen des Hasses, den sie im Gemüte gegeneinander hegen, wegen der moralischen Anklagen und Verdächtigungen, die sie von jeher gegeneinander schleudern. Der sanfte und versöhnliche Philipp Melanchthon soll auf seinem Sterbebette ausgesprochen haben, daß er zufrieden sei, nunmehr der Wut der Theologen (rabies theologorum) zu entfliehen. Tatsachen dieser Art dienen nicht dazu, die moralischen Wirkungen der in jeder Hinsicht zweifelhaften und zweideutigen vielmehr vieldeutigen Lehren dieser Religion zu empfehlen, sie lassen sie eher als schädlich erscheinen, so daß man sagen kann, es werde zum Heile der Menschheit, zu ihrer sittlichen Verbesserung dienen, wenn mit diesen strittigen Lehren gänzlich Schluß gemacht würde und man einhellig und außerhalb alles Kirchentums, ja außerhalb aller bisherigen Religion, wenn auch etwa mit der Bereitwilligkeit, aus jeder etwas Gutes und Wahres zu entnehmen, sich entschließen möchte, mit einer einfachen unmittelbar selbst sich empfehlenden Sittenlehre zu beginnen, deren Einführung und Pflege jedoch – dessen müßte man sich bewußt sein – keine Aussicht hätte auf besseren Erfolg als alle bisherigen religiösen oder unreligiösen Sittenlehren, wenn nicht wenigstens gleichzeitig mit allem Ernste versucht würde und es auch in einigem Maße gelänge, ein seinem Wesen und seiner innersten Tendenz nach friedliches Zusammenleben und Zusammenwirken zu begründen, zu fördern und fruchtbar zu machen. Jede Stunde, die solcher Bemühung gewidmet wird, hat den tausendfachen Wert jeder Stunde die einer erbaulichen Rede oder gar einem theologischen Gezänk gewidmet werden mag. Eine Erkenntnis dieser Art müßte zuerst Gemeingut der denkenden Menschheit werden.

[Veränderungen, Neuerungen und Umwälzungen in der Neuzeit] [Folgen der Vermehrung und Verdichtung zusammenwirkender Menschenmengen]

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Wenn die Vermehrung der Bewohner eines bestimmten Gebietes der Erde den ersten Anstoß gibt, der notwendige Veränderungen des sozialen Lebens in diesem Gebiete bewirkt, so ist diese Vermehrung nicht nur ein natürliches Ereignis dadurch, daß mehr Menschen geboren werden als mit Tode abgehen, sondern es bildet auch heute das Überwiegen der Ein- und Zuwanderung über die Aus- und Abwanderung aus diesem Gebiete einen wichtigen Faktor der Vermehrung. In vergangener Zeit war es außerdem fast ein regelmäßiges Vorkommnis, was heute nur vorübergehend durch Krieg sich ereignet, daß Menschen mit Gewalt im Lande festgehalten, wohl auch ausgestoßen und umgesiedelt werden; sei es weil sie bezwungen und gefangen wurden, oder weil man sie gekauft hatte und etwa sie ins Ausland wieder verkaufte; diese Art des Erwerbes ist auch für Europäer und vollends für Amerikaner noch unvergessen. Die Verdichtung des Zusammenwohnens ist eine unmittelbare Folge der Volksvermehrung, und hat als solche immer irgendwelche soziale und antisoziale Wirkungen: an die Stelle loser Gehöfte und Zelte treten Dörfer, sei es daß sie als solche angelegt werden, oder durch ein Zusammenwachsen der Hofsiedelungen sich bilden. Dieser Prozeß setzt sich fort in der Bildung von Marktflecken und vollends durch die von Städten. Aus Städten endlich werden größere, zuletzt Massen- und Weltstädte. Die Wirkungen dieser allmählichen Veränderungen sind so leicht erkennbar, daß sie sich von selbst zu verstehen scheinen. Es hat zwar schon in relativ sehr frühen Zeiten, auch im Orient – dem nahen und dem fernen – volkreiche Städte gegeben; aber die asiatische Stadt bleibt im Stadium einer 2

Umwälzungen in der Neuzeit: Es sind weder Kapitel- noch weitere Unter-Überschriften vorhanden. Der Text GdN IV „B“ (Blatt 306 bis Blatt 318) ist in Maschinenschrift erfasst. Das letzte Blatt enthält am Schluss eine handschriftliche Ergänzung von Ferdinand Tönnies. Die Seiten sind mit „GdN IV“ links oben in der Ecke mit Schreibmaschine gekennzeichnet. Auf dem 1. Blatt (Blatt 306) steht „GdN IV „B“ links oben. Außerdem befindet sich jeweils oben rechts eine mit Schreibmaschine erstellte Durchnummerierung von 18 bis 30. (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 306 bis 318)

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Agglomeration von Dörfern. Die Gestaltung der Stadtgemeinde als der Polis ist eines der großen Geistesprodukte der Griechen: daran hat der Handel, der Gewerbe- und Kunstfleiß ebenso mitwirkenden Anteil wie der Krieg und die Konzentration der Kräfte, die umso mehr zur dauernden wird, wenn die kriegerische Tätigkeit aus dem freien Willen der Bürger als Verteidigung der Hausaltäre und des eigenen Landes hervorgeht. Darin tritt zugleich das politische Zusammenwirken und mit ihm ein moralisches Bewußtsein der Gemeinde hervor, das dann auch in künstlerischen Werken aller Art Licht und Leben ausbreitet, wie es von den in so großer Zahl blühenden Städten Griechenlands an den Rändern des Mittelmeeres – nicht nur wenn auch in erster Linie von Athen aus – durch die Jahrtausende leuchtet. Von ihren Anfängen her hat diese große hellenische Gesittung Elemente orientalischer Herkunft in sich: phönikische, ägyptische und solche fernerer Provenienzen hat sie in sich getragen und aus sich entwickelt. Aber sie hat auch einen Grad von Spontanität besessen, wie er sonst wohl einfacheren und weniger lichtvollen Kulturen eigen gewesen ist, seither aber nicht sich wiederholen konnte. Rom war nur im militärischen und im Rechtswesen und im Grunde seines unbedingten und herrschbegierigen Egoismus originell. Der Literatur und Kunst hat es nur vermöge seiner allmählich vollkommener gewordenen Herrschaft über den damaligen Orbis Terrarum als der Mittler des griechischen Werkes, endlich auch des orientalischen, zuletzt besonders des jüdischen Geistes zu dienen vermocht. Alles aber was seitdem Kultur heißt in Europa und in seinen Pflanzstädten, ist von Rom hergekommen, ernährt und befruchtet, kann aber nur verstanden werden, auch was primitiv und einfach daran ist, als durch eine große und mächtige Stadt hervorgebracht oder doch mit ihrem Geiste erfüllt. Dennoch ereignet sich in der neuen großen Kulturphase, die unter dem Einflusse Roms und seines Christentums im ganzen Europa von Süden nach Norden und von Osten nach Westen ihren Fortgang genommen hat, derselbe Prozeß der Vermehrung und Verdichtung zusammenwirkender Menschenmengen, also auch der Prozeß der Städtebildung und zuletzt der Verstädterung auch der Landbewohner aufs neue, und zwar in vielen Bezirken, in Arten und Weisen, die von einander wesentlich unabhängig sind, wenngleich sie in höchst mannigfachen Wechselwirkungen zueinander sich gestalten. Es darf daher auf Grund dieser großen historischen Erfahrungen die Verallgemeinerung gewagt werden, daß diese natürlichen Gründe Entstehung und Fortschritt nicht nur des ökonomischen Lebens, sondern vermittels dessen auch des politischen und des geistigmoralischen Lebens wesentlich bedingen. Darin versteht es sich auch, daß es die aus dem näheren Zusammenwohnen hervorgehenden Arten des Zu-

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sammenwirkens sind, die in dieser Hinsicht teils kontinuierlich, teils gleichsam stoßweise, in allen Gebieten und dadurch im Ganzen, die tiefgehenden Veränderungen, ja vollkommene Neuerungen und Umwälzungen bewirken. – 5

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[Geschichtliche Entwicklung des Menschen] Es hat sich längst als Ergebnis emsiger prähistorischer Forschungen herausgestellt, daß man in jenen Urzeiten, da der Mensch noch kaum auf dem immer noch zweifelhaften Vorzug ein Mensch zu heißen Anspruch machte, schon Werkzeuge, Waffen, Geräte gekannt und gebraucht hat, und daß er durch die Kraft seines Denkens, so gering sie dem der heutigen Epigonen erscheinen mag, gelernt hatte, solche aus dem Material, das ihm zur Verfügung stand, zu verfertigen: demgemäß das ältere und das jüngere Steinzeitalter, das Bronzezeitalter etwa auch in mehreren Phasen, und das Zeitalter des Eisens unterschieden werden. Es ist zu verwundern, daß nicht die allzu geistreichen oder ungeistreichen Scheinphilosophen und Schriftsteller diese Unterscheidung als eine in ausgeprägtem Grade materialistische und daher des menschlichen Geistes unwürdige Denkungsart angeklagt und verworfen haben; denn in jenen spukt noch die poetische und fromme Idee von der hehren übersinnlichen Seele, die in der unwürdigen Hülle des Leibes wie in einem Gefängnis eingeschlossen sei; und daß also der Geist den ein späteres Denken längst als mit dem lebendigen Leibe identisch erkannt hat, etwas von ihm ganz und gar Verschiedenes, auch ohne ihn und außer ihm Existierendes, unendlich viel Feineres und Edleres, daher auch ihn zu beherrschen Fähiges und Berufnes sei und bedeute; während wir wissen, daß dieser Schein daher entspringt, daß keine wissenschaftliche Erkenntnis bisher fähig ist, das materielle Äquivalent des Denkens und der Gehirntätigkeit so nachzuweisen, wie das materielle Äquivalent des Sehens und des Hörens und der anderen Sinnestätigkeiten wenigstens so weit zu gewahren und zu verstehen ist, daß diese nach Analogie anderer mechanischer und chemischer Veränderungen der Materie deutlich werden. – Eine schwache Vorstellung vom äußeren Leben, also von Wirtschaften des prähistorischen Menschen läßt aus manchen anderen Spuren außer seiner Werkzeuge und dgl. sich gewinnen. Von seinem anderen Zusammenleben und was darin an Keimen von politischem oder gar geistig moralischem Leben entdeckt werden möchte, wissen wir nicht. Auch von den historischen Menschen in den ersten Jahrtausenden seines Daseins wissen wir überaus wenig. Aber einen Schimmer im Dunkel gewährt uns die begründete Vermutung, die in

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der Geologie als der Lehre von der Erdgeschichte Epoche gemacht hat, daß die heute noch wirksamen Ursachen – Lyells causes now at work – immer und von jeher wirksam gewesen sind. Darum gewährt die selten verstandene, oft geschmähte „materialistische Ansicht der geschichtlichen Entwicklung des Menschen“ einen brauchbaren Schlüssel zum Verständnis der höchst mannigfachen und sonst noch rätselhafteren Zusammenhänge der Dinge. Eine andere längst ausgeprägte Form besitzt dieser Schlüssel in der Einteilung der menschlichen Geschichte nach der vorwaltenden Art der Ernährung, die den Zusammenlebenden möglich war und auf die sie angewiesen waren oder noch sind, nämlich 1. und ursprünglich mittels des Pflückens und Sammelns von Früchten, die aus sich selbst gewachsen waren, des Tötens und Fangens von Tieren und des Genusses ihrer Leiber. Sie zum Genusse zu bereiten dient das Feuer, und Feuer zu machen, ist eine Epoche machende Erfindung und Kunst gewesen, die als solche von den Hellenen einem vorausdenkenden, als Mensch denkenden Titanen zugeschrieben wurde. 2. Vermöge der großen Kunst der Zähmung von Tieren, die ohne Zweifel viele Jahrhunderte in Anspruch genommen hat, zu erlernen, wurde deren Milch als eine nahrhaftere Art ihres Blutes ein Lebensmittel, an dessen Kenntnis die Kunst sich anschloß, ihm eine dauerhaftere Form zu geben und so mit mannigfaltiger, dadurch auch schmackhafter gemacht. 3. Wenn auch das Pflanzen und Säen und eine Bearbeitung der Erde zur Aufnahme von Pflanzen und Samen als ursprünglich gedeutet wird und werden muß, so hat doch die planmäßigere und vollständigere Erziehung von Halmfrüchten in der menschlichen Geschichte von neuem Epoche gemacht, und diese wurde nur möglich durch die Pflugschar, deren Voraussetzung, wie die Voraussetzung vieler anderer wirksamer und mehr wirksam gemachter Werkzeuge, Waffen und Geräte, das Eisen ist, das selber erst aus einem rohen Zustande in einen Zustand übergeführt werden mußte, der es schmelzbar und zur Verarbeitung geeignet macht.

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Lyells causes now at work: Charles Lyell, Principles of Geology, Volumes 1 – 3, London 1830.

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[Der Begriff der Kultur]

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Es ist nicht Zufall, daß das Wort und die Würde der Kultur, wenigstens in der deutschen Sprache und Philosophie die allgemeine Bedeutung des Unterschiedes und möglichen Gegensatzes zur Natur und zum Naturzustande wie er in gleichem Sinne mit dem Sinne der Wildheit und Barbarei verstanden wird, angenommen hat; denn es wird dabei an eine durch Jahrtausende fortgesetzte Pflege und Bearbeitung des menschlichen Denkens und des menschlichen Wollens, die wir als Geist zusammenfassen, gedacht, und die Erscheinung unter den Begriff eines erhöhten und veredelten Menschentums gebracht, mithin als ein Fortschritt, den man wohl allgemein, wo er gerühmt und anerkannt wird, zugleich als ungenügend empfindet und erkennt, und dessen Vergrößerung und Verstärkung der einzelne zwar nicht zu erleben hoffen darf, aber doch in fernen Generationen zu sehen meinte. Es würde sich lohnen, diese tief verbreitete Idee der Kultur in anderen damit zusammenhängenden Formen als Sitte, Religion, Humanität, Volkstum, Bildung, Kunst und Wissenschaft, Gesellschaft und Staat zu messen, und die Faktoren zu erkennen, die förderlich oder hemmend auf Entwicklung und Fortschritt der Kultur in dem Sinne zu begreifen wie der ideelle Begriff solche Entwicklung und solchen Fortschritt meint. Die Vorstellungen in dieser Art sind nicht nur zum großen Teile unklar und verworren, sie widersprechen auch oft sich selber, sodaß diejenigen nicht selten am emsigsten beflissen sind, die wirkliche Kultur zu hemmen, die am eifrigsten sich zu bemühen scheinen, sie zu fördern, und etwa sogar in hohem Ansehen um dieser vermeintlichen Förderung willen stehen.

[Der Begriff der Zivilisation]

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Mit dem Begriffe der Kultur konkurriert der Begriff der Zivilisation, und hat in der Tat zum guten Teile, zumal in den romanischen Sprachen, wie auch zumeist in der englischen, denselben Inhalt. Freilich hat man auch längst, und nicht nur im deutschen Sprachgefühl, einen bedeutenden Unterschied dunkel erkannt, neuerdings auch wohl auszuprägen versucht. So ist er schon vom Verfasser selber auf die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft bezogen worden, d.i.: Kultur in eine wesentliche Beziehung zu Gemeinschaft, 26

Mit dem Begriffe: Ab Blatt 311 bis Blatt 318 ist der Text noch einmal in GdN III (Blatt 396 und ab Blatt 437 bis 443) vorhanden. Die Texte weisen allerdings erhebliche Unterschiede auf. Die editorischen Fußnoten sind entsprechend anzuwenden.

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Zivilisation ebenso in eine wesentliche Beziehung zu Gesellschaft als vorwaltender Gestalt des menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens gesetzt worden. Dies werde hier wieder aufgenommen. Wir werden an die Etymologie anknüpfen, die den Civis oder städtischen Bürger als den Träger der Zivilisation betrachtet, womit aber durchaus nicht gemeint ist, daß Gemeinschaft und Kultur dem Leben der Stadt fremd sei – im Gegenteil. Die historische Erfahrung lehrt, daß die besonderen Elemente der gemeinschaftlichen Kultur in den Städten zu ihrer höchsten Blüte und Geltung gelangen; zugleich jedoch jene Elemente des gesellschaftlichen Lebens, die in einem möglichen Gegensatz zu denen des gemeinschaftlichen Lebens durch die Bedingungen des dichteren, zahlreicheren und fremderen Zusammenwohnens ihre Nahrung finden, zum guten Teile in den Ausdrücken der Kultur selber zu ihrer Geltung gelangen. Es versteht sich, daß dies im strengsten Sinne objektiv verstanden werden muß, ohne daß eine etwaige höhere oder geringere Schätzung der einen oder der anderen Elemente dabei in Frage kommt.

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[Wirkungen des Werdens und Wachsens der Städte] Die Wirkungen des Werdens und Wachsens der Städte auf das politische Leben sind mit Händen zu greifen. Wohl in allen modernen Sprachen hat die Politik sowohl als Lehre vom Staate selber wie als Lehre von der Praxis des Staatsmannes, ihren Namen von der Polis, nachdem in dieser zuerst ein Gemeinwesen, das auf vernünftige Einung sich gründen will, sich entfaltet hat. Das freiere und lebhaftere geistige Leben knüpft z. T. an die politische zum größeren Teile aber schon an die allgemeine und soziale Bedeutung des städtischen Lebens sich an. Was in dieser Beziehung die Erfahrung lehrt, läßt sich auch als höchst wahrscheinlich ableiten. Das dichtere und engere Leben fördert das Gespräch, also auch die Disputation, fördert eben dadurch das Denken, und zwar besonders das Denken in seiner entwickelten Gestalt als diskursives und der Möglichkeit nach logisches, ja dialektisches Denken. Die Stadt läßt manche Künste, die dem Landleben ferner bleiben, also die bildenden und gestaltenden mehr noch als die redenden und tönenden wachsen und gedeihen, weil das dichtere Zusammenwohnen sie dringender erfordert, weil die Fülle der Güter und gar des Reichtums, wodurch so oft die entwickelte Stadt bezeichnet wird, die Befriedigung der Bedürfnisse besonderer und erlesener, die Erfüllung der Wünsche auch fantastischer, auch vornehmer und reicher Personen leichter und wahrscheinlicher macht. Aber

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noch in höherem Grade charakteristisch als die Kunst ist für den Fortschritt des städtischen Lebens die Wissenschaft, die wissenschaftliche Tätigkeit und das wissenschaftliche Denken. Denn die Wissenschaft hängt auf besonders nahe und starke Art mit dem Handel und dadurch mit dem ganzen städtischen Leben zusammen, weil auch mit dem gesamten Transport und Verkehr, besonders mit der Schiffahrt, je mehr diese zur Seeschiffahrt sich ausbildet. Die Astronomie ist aus dem Bedürfnis der Schiffer, nachdem sie auf das offene Meer sich hinausgewagt haben, entstanden. Die Buchstabenschrift, vollends das Rechnen, Bezahlen, die Ziffer und die zweckmäßige Gliederung der Ziffern durch Erfindung oder wenn man will, durch Entdeckung der Null, sind von Handelsvölkern teils erfunden, teils gern aufgenommen und verbreitet worden. Sogar die „Sprache“ des Handels, wie sie vereinfacht und in zweckmäßiger Ausprägung sich bewährt hat, mußte erst in den oberitalienischen Städten ausgebildet werden, um in Europa allgemeine Annahme und allgemeinen Gebrauch zu finden in ihrer Terminologie. Wieviel aus diesen Elementen sich ergeben hat, darauf werde hier nur hingewiesen. Wenn es zugegeben wird, daß am Dasein und Wachstum von Städten die Zivilisation sich emporgerankt hat, so darf man aus dieser Voraussetzung schließen, daß jede bedeutende Phase in der Entwicklung des Städtewesens eine Phase in der Entwicklung der Zivilisation hervorgerufen, eingeleitet und begründet hat. Dies ist eine Tatsache, wodurch der gesamte Geist der Neuzeit, nämlich ihr Werden und ihre Blüte erklärt und beleuchtet wird. Betrachten wir in diesem Lichte zuerst die großen Ereignisse, die als Entdeckungen und Erfindungen die Neuzeit sozusagen eröffnen und bisher noch immer mit ihr fortgegangen sind, sodaß sie wohl in jeder Darstellung, die ihr gewidmet wird, ihre Würdigung findet. Die eine dieser Tatsachen ist scheinbar eine politische: es ist die Einnahme und dauernde Eroberung der Kaiserstadt Konstantinopel, die man auch als das Rom des Ostens verstand, durch die Osmanen, ein europafremdes und für europäisches Denken heidnisches, weil dem Islam ergebenes Volk, von dem L. Ranke sagt, daß die wesentliche Kraft ihrer Macht die für Jahrhunderte sie gefürchtet machte, in drei Gestalten beruhte: im Lehensystem, im Institut der Sklaverei, und in der Stellung des Oberhaupts; deren Zusammenwirken aber, wie Ranke selber es schildert, war durch ihre strenge Zucht bedingt: was ein deutscher Philosoph – er meint Fichte – zur Bildung von Sittlichkeit, Religion und Gemeinschaft in der Idee vorgeschlagen habe, sei hier, Jahrhunderte vor ihm, zur Entwicklung eines zugleich sklavischen und doch kriegerischen Sinnes in Ausführung gebracht. Was sie bewirkten, war ein neuer langwieriger lange

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erfolgreicher Angriff Asiens auf Europa, des Islam auf das römische und christliche System der Kultur. Die Bedeutung war die einer großen Reaktion. Dennoch ist die überlieferte und begründete Meinung, daß sie den Übergang zur Neuzeit wesentlich gefördert habe. Es pflegt dafür angeführt zu werden die Verbreitung griechischer Gelehrter, die aus Konstantinopel flohen über Italien und von da auch nach dem Norden von Europa, sodaß der belebende Hauch des klassischen Altertums durch erweiterte und vertiefte Kenntnis der griechischen Autoren und der Reste griechischer Kunst neu in die Bildungswelt sich ergossen habe. Die Tatsache ist ohne Zweifel richtig: das Studium des Griechischen war bis dahin im christianisierten Europa schwach gewesen, man kannte Virgil weit besser als Homer, die Tragödien Senekas eher als die des Äschylos, die Werke des Aristoteles der den Zeitgenossen noch die gesamte wissenschaftliche Bildung vertrat (den Meister derer die da wissen, hat ihn Dante genannt) nur aus lateinischen Übersetzungen der Araber, die ja nebst den Juden, von Spanien aus, der wissenschaftlichen Förderung mächtig vorgearbeitet hatten. Daß diese Entwicklung der griechischen Philologie ohne jenes Ereignis von 1453 sehr viel langsamer vor sich gegangen wäre, darf man wohl mit Sicherheit sagen. Aber eine wichtigere Wirkung, die der Fall des byzantinischen Reiches und die Türkengefahr durch ihre wirklichen großen Erfolge gehabt hat, dürfte doch die gewesen sein, daß sie dahin wirkten, dem verfallenden Bewußtsein der Christenheit, wie sie selber als die Religion des römischen Reiches sich verstanden hatte, noch einmal eine letzte und starke Gestalt zu geben, zu einer Zeit, als die Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern allgemein als notwendig verkündet wurde, und doch fast verzweifelt zu liegen schien. Denn dahinter stand das große Schisma, die „Reformation“ als Bildung neuer Kirchen, die also jener Illusion ein rasches Ende gemacht hat, aber doch nicht ohne Nachwirkungen blieb, denn der Türke war immerhin ein Feind der Christenheit, die sich also als angegriffene einig fühlte. Aber die Erfolge der Türken und die Entfaltung ihrer Macht im Mittelmeer, hatten viel größere andere Wirkungen. Sie hemmten den Verkehr Asiens mit Europa, der durch Jahrhunderte die Städte Oberitaliens vermehrt und bereichert hatte. Sie unterbrachen also deren Einflüsse, die bis dahin, ungeachtet der großen Fortschritte ihre Blüte, zumal die von Florenz, der Förderung einer freieren und einer künstlerischen Denkungsart hatten angedeihen lassen, dennoch dem päpstlichen Ansehen und somit der römischen Kirche mehr zur Stütze als zum Schaden gereicht haben. Der Rückgang dieser Städte wirkte folglich schädlich durch die Kirche und trug dazu bei, dem längst vorbereiteten

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Veränderungen, Neuerungen und Umwälzungen in der Neuzeit

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Abfall zunächst der deutschen und der skandinavischen Länder, bald auch des schon seemächtigen England die Bahn zu brechen. Also waren die mittelbaren Wirkungen der Tatsache, daß es nunmehr nur noch das eine römische Reich gab, dennoch ungünstig für das verbleibende corpus christianum, dem sie zunächst eine Stärkung, also eine verlängernde Frist zu geben schienen. Man wird nun mit Grund die Frage aufwerfen, welche denn die ökonomischen Ursachen der politischen Erfolge der Türken gewesen seien. Lagen sie auch in einem Fortschritt des städtischen Wesens? Offenbar nicht. Im Verhältnis zu Byzanz und seinem großen Reiche bedeuten sie viel mehr die Überwindung eines städtischen Wesens durch ein elementareres, ländliches, das noch auf einer niedrigen Stufe der Ackerbaukultur steht. Als ein Produkt relativer städtischer Entwicklung mag man allerdings die große und sehr leistungsfähige militärische Organisation der Osmanen würdigen, als die unmittelbare Ursache ihrer Erfolge, – hatten sie doch in den Janitscharen so etwas wie ein stehendes Heer und gaben dadurch wohl vermehrte Anregung zur Errichtung stehender Heere in der europäischen Staatenwelt, wo aber noch fast zwei Jahrhunderte vergingen, bis zuerst Frankreich damit Ernst gemacht hat, wennschon geringere Anfänge auch anderswo vorhanden waren. Eine ganz andere und tiefer gehende Bedeutung für die städtische Entwicklung hat jedenfalls die Vermehrung und Ausbreitung der Bücher und Flugschriften, endlich und ganz besonders der Zeitungen und periodischen Druckschriften überhaupt gehabt, die im Laufe der Neuzeit auf alle Teile der bewohnten Erde sich erstreckt und durchgesetzt hat. „Das geistige Leben des deutschen Volkes, wie das der christlichen Menschheit überhaupt, trat seit der Mitte des 15. Jahrhunderts in ein neues Zeitalter der Entwicklung ein durch Johann Gutenbergs Erfindung der Buchdruckerpresse und der Verwendung gegossener, einzeln beweglicher Typen zum Druck von Büchern“. (Joh. Janssen: Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters Bd. 1 S. 9) Der ausgezeichnete Geschichtsschreiber, dessen Name mit der Verteidigung des Ultramontanismus eng verbunden ist, macht mit guten Gründen geltend, daß der Buchdruck, der schon 10 Jahre vor den Thesen Luthers als die Kunst der Künste die Wissenschaft der Wissenschaften gepriesen wurde (es gab schon mehr als 1000 Buchdrucker, zum größten Teile deutschen Ursprunges) vor allem auch der Kirche zu gute gekommen sei, und auch einem Teile der Geistlichkeit, der mit Eifer der Sache sich angenommen habe, die mit Begeisterung die Aufnahme verdankt habe, was als wahrscheinlich anerkannt werden muß; denn es gab ja doch

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wenig andere Gelehrte außer den Geistlichen. Es ist aber nicht zweifelhaft, daß das Übergewicht der Wirkungen, die von dieser Technik ausgegangen sind, mehr wider als für die Kirche, zugunsten einer weltlichen Wissenschaft und weltlichen Bildung ausgefallen ist. Eben die Wirkungen Luthers sind zu einem guten Teile auf sie zurückzuführen. Seine eigene Propaganda ist vorzugsweise durch Flugschriften geschehen, die man bisher nur als Bilderhefte – die Biblia Pauperum – gekannt hat; und daß die gedruckte Bibel in ungezählte Hände kam und in Stadt und Land emsig gelesen wurde, ist in Deutschland wie in England und Skandinavien ein wesentlicher und tief wirkender Erfolg des Protestantismus gewesen. Durch das gedruckte Buch ist überhaupt erst die Literatur eine schlechthin volkstümliche Sache geworden, und wenn sie in den ersten 200 Jahren nach der Kirchenspaltung noch zum größten Teile theologisch, ob im katholischen, lutherischen oder calvinistischen Sinne, blieb, so hat mit dem Jahrhundert der Aufklärung die außer- und mit ihr auch die anti-theologische Tendenz, also mehr und mehr auch ein freisinniges Schrifttum die Oberhand gewonnen und auf alle Gebiete der Belehrung und der Unterhaltung sich ausgedehnt. Weder die Gegenreformation, noch die späteren romantischen und reaktionären Kundgebungen einer anders und sogar feindlich gerichteten Gesinnung haben diesen großen Zug der Entwicklung rückgängig zu machen vermocht. Man wird daher die Lobpreisung jener Epoche machenden Erfindung nicht bei allen kirchlich anerkannten Schriftstellern wiederfinden. Vielmehr wird man denen, die darauf hinweisen, daß der Buchdruck viel Übles, Häßliches und Abscheuliches vervielfältigt und verbreitet hat, nicht nur dies zugeben, und es mit ihnen bedauern, sondern auch über die Ausdehnung dieses Gebietes in einem weitem Umfange übereinstimmen, wie sehr man ihnen sonst widersprechen möge. Das Zeugnis des ultramontanen Historikers.

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des ultramontanen Historikers: Siehe dazu: Julius Köstlin, Luther und J. Janssen, der deutsche Reformator und ein ultramontaner Historiker, Halle/Saale 1883. Janssen war einer der Hauptvertreter der so genannten ultramontanen Geschichtsschreibung. Der Ultramontanismus war eine politische Haltung des Katholizismus, die sich auf Weisungen der päpstlichen Kurie des „jenseits der Berge“ liegenden Vatikan stützte.

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[Die Urkatastrophe der Neuzeit]

[Der 1. Weltkrieg und die Neuzeit]

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Für die ruhige Weiterentwicklung der Gesellschaft in den bisherigen Bahnen, die auf leidlichen inneren Frieden beruhte, war der Ausbruch des Weltkrieges eine ungeheure Störung. Freilich entsprang der Weltkrieg unmittelbar aus dem Gegensatz und der Konkurrenz der zwei höchstentwickelten kapitalistischen industriellen Staaten: des gewaltigen britischen Reichs, das den Rang eines Weltreiches mit gutem Grunde in Anspruch nahm und darum nicht den Anspruch aufgeben konnte, geschweige denn wollte, die Herrschaft über die Meere und also eine unüberwindliche Flotte zu besitzen; demgegenüber erhob sich nicht nur die industrielle sondern zugleich die maritime Konkurrenz des Deutschen Reiches, das mit Recht den Stand seiner militärischen Macht ebenso hoch schätzte wie Groß-Britannien den seiner Flotte und überdies den Anspruch machte, durch seine eigene Flotte mit der britischen zu wetteifern. Der Konflikt war unvermeidlich und er hat seinen Ausgang gefunden mit der schweren Niederlage des Deutschen Reiches, die äußerlich durch einen Friedensvertrag in die Erscheinung trat, bei dem Frankreich, das mehr als 40 Jahre lang auf die Vergeltung für seine Niederlage gewartet hatte und nunmehr die Gelegenheit wahrnahm, sich in seinem Umfange von 1814 wiederherzustellen, obschon die Gewinnung des Territoriums zum guten Teil gerade in bezug auf das Elsaß und das ehemalige Herzogtum Lothringen eine außerordentlich morsche Basis besaß. Dagegen war das dritte große Reich, das auf der Gegenseite beteiligt war, das Russische, selber besiegt worden, und zwar eben durch das damals noch starke Deutsche Reich. Die kapitalistische Entwicklung konnte von diesem ungeheuren Ereignis nicht unberührt bleiben. Schon vorher hatte sich ihr Fortgang an die Assoziation des Kapitals geknüpft, die scheinbar unwiderstehlich war. Sie ist dann weiter ihres Weges gegangen und hat sich vermannigfacht: neben den Kartellen, die ursprünglich nur zur Befestigung der Preise, der Einschränkung des Wettbewerbs dienen sollten, haben unter dem Namen der Trusts, der Konzerne, der Syndikate andere und gewaltige 1

Der 1. Weltkrieg: Dem transkribierten Text ist die folgende handschriftliche Bemerkung von Ernst Jurkat vorangestellt: „Diktiert von Tönnies geschrieben von Jurkat bei dessen letztem Besuch in Kiel“ (Nachlass Ernst Jurkat, Bundesarchiv Berlin, Signatur N/2134/8 Blatt 488-491).

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Zusammenballungen des Kapitals sich gebildet, die vielfach eine Monopolstellung gewonnen haben, wodurch ein starkes Übergewicht des Kapitals über die Arbeit gewonnen worden ist, das mehr und mehr zu offenbarer Geltung gelangt ist und außer seinen natürlichen Trägern eine große Sympathie in der öffentlichen Meinung [gewonnen hat], soweit diese die mit dem Kapital zusammenhängenden Kreise der Gebildeten und Intellektuellen als ihre Urheber oder doch Vertreter gelten lassen muß. In dieser Hinsicht kann man durchaus sagen, daß es sich um eine rückschrittliche Entwicklung gehandelt hat, die schon während des Krieges ihren Ausdruck fand und nach dessen Ende in der Verelendung des Deutschen Reiches und Österreichs zu uneingeschränkter Geltung gelangte. Inzwischen hat der produktive Kapitalismus zeitweilig stark an Boden gewonnen: durch den Untergang der deutschen Währung wurde der deutsche Warenexport erleichtert und vermehrt; diesem Ereignis folgte bald die große Wertverminderung anderer Währungen, zunächst die des Pfundes, an die sich die des Dollars bald anschloß. Die Folgen dieses Prozesses sind noch unabsehbar. Es ist aber nicht fraglich, daß sie mit den inneren politischen Bewegungen, die in allen kapitalistischen Ländern mehr und mehr zutage treten, nahe zusammenhängen, wenn auch diese zu gleicher Zeit durch andere Antriebe und Motive befördert wurden. Sie haben zum Teil auch auf die große Politik, und zwar unmittelbar auf die Regierungen gewirkt, so zunächst, und dies ist das wichtigste, auf die Politik der Vereinigten Staaten Amerikas, dann auch auf diejenige Englands und in verstärkter Weise auf diejenige Italiens, und ganz besonders endlich auf die des Deutschen Reiches, von denen die beiden letzten Staaten einer reinen und vollkommenen Parteiregierung unterliegen, die als eine arbeiterfreundliche auftritt, ganz besonders als eine solche, die das äußerste Elend, das ehemals als das des Lumpenproletariats bezeichnet wurde, zu unterdrücken sich anheischig macht. Damit Hand in Hand geht aber eine Wiederaufnahme der Ansprüche, die vor dem Weltkriege das damals tatsächlich starke und mächtige Deutsche Reich erhoben hat und die besonders in dem Anspruch auf überseeische Kolonien zum Ausdruck gelangen. Die Lage der Dinge ist freilich heute außerordentlich verschieden von der damaligen. Das Deutsche Reich ist durchaus arm und elend und die politische Klugheit würde gebieten, danach solange als möglich sich zu verhalten. Man kann entweder in solchem Falle Geduld üben und die Erwartung besserer Zeiten und einer besseren Konjunktur sich angelegen sein lassen oder man kann aber ein für allemal den ganzen Schwerpunkt der Politik in das Innere verlegen und schlechthin darauf verzichten, in absehbarer Zeit irgendwelche Machtpolitik zu treiben oder zu fördern. Anstatt

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dessen will man die alten Ideale nicht aufgeben und hält es für eine moralische Pflicht, an der Herstellung oder Wiederherstellung derjenigen Machtmittel zu arbeiten, die den ehemaligen Glanz bewirkt haben. Wahrscheinlich ist der Erfolg solcher Bestrebungen nicht. Aber auch wo diese Einsicht Platz greift, wird sie geringe Wirkung haben. Man kann in der Tat in der Anlehnung an andere Mächte einen Ausweg suchen, der nicht völlig aussichtslos ist: man kann hoffen, wiederzugewinnen, was verloren war, durch einen neuen großen Krieg, an dem man nicht notwendig teilnehmen müßte, um doch seine Ergebnisse mit zu genießen. – Für die soziale Frage, die nach wie vor die große Crux im europäischen mehr und mehr aber auch jenseits der Meere, sogar im fernen Osten in den alten Kulturländern des Orients geworden ist, ragt in seiner unheimlichen Größe dieses Gespenst empor. Es schien einer friedlichen Entwicklung fähig zu sein und ihr entgegenzugehen: das war nicht nur die Hoffnung von Menschenfreunden, Pazifisten, Freunden der Humanität, sondern auch von ernsten Politikern, die glaubten, daß die Entwicklung der stärksten Arbeiterpartei gerade im Deutschen Reiche auf der Basis einer so weit als möglich geführten Demokratie die günstigen Momente dafür enthalte. Dieser Prozeß ist, wenn er je möglich war, schlechthin unmöglich geworden. Er hatte und hat noch im Deutschen Volke eine starke Basis: einen natürlichen Anhang unter allen Staatsbürgern, zu denen heute auch die Frauen gehören, die [eine] natürlichen Scheu vor den Gräueln politischer Aufstände und wilder Rebellionen hegen, unter allen Umständen also einer friedlichen Entwicklung den Vorzug geben.

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Editorischer Bericht Der „TG Band 22,2“ (1932–1936 Geist der Neuzeit (GdN) Teile II, III und IV) war ursprünglich nicht geplant. Als der Bandeditor des TG Bandes 22 Lars Clausen den Band bearbeitete ging er davon aus, dass die „Zweite Abteilung von GdN als verloren gelten muss“.1 Durch die in der Folge dieses Editorischen Berichtes beschriebene Auffindung des verschollenen Manuskriptes, können die zwar lückenhaften, aber authentischen und autorisierten Texte von Ferdinand Tönnies aus seinen letzten fünf Lebensjahren wiedergegeben werden. Zur Genese und zum inhaltlichen Vorgehen des Werkes GdN sei auf den Editorischen Bericht von Lars Clausen im TG Band 22 verwiesen. Auch in den Teilen II, III und IV behält Tönnies inhaltlich den von Clausen beschriebenen Rhythmus bei. Dass eine durchgehend von „gesellschaftlich“ geprägten Auffassungen sozialer Vergesellung (Bejahung) geprägte „Neuzeit“ ihr Ende nehmen werde, sieht Tönnies voraus. Verstärkt wird diese pessimistische Aussage durch die aktuelle Entwicklung in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, die Tönnies zu der Einschätzung kommen lässt, dass „die Zukunft Europas in tiefstem Dunkel liegt“2. Wirkungsgeschichtlich blieb „Der Geist der Neuzeit“ von Tönnies allerdings ohne Echo, da sie beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit erschien und auch nicht rezensiert wurde. Erst 1971 schloss die eingehende Studie von Eduard Georg Jacoby „Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies“ diese Rezeptionslücke3. Das wiederentdeckte Manuskript von GdN weist einige Besonderheiten auf, die zunächst beschrieben werden sollen. Die im Bundesarchiv Berlin verwahrte Archivalie (N 2134/ 8) trägt die Kennung „90 Ju 2 Nachlaß E. Jurkat“ und beinhaltet die GdN Teile II, III und IV (künftig GdN Teil II). Vom Teil I GdN sind Druckfahnen und Manuskripte vorhanden, die durch handschriftliche und transkribierte Texte ergänzt wurden. Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Band 22 (1932 – 1936), Geist der Neuzeit / Schriften / Rezensionen, hrsg. von Lars Clausen, Berlin / New York 1998, S. 520. 2 Siehe dazu Seite 131 ff. in GdN III. 3 Eduard Georg Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, Stuttgart 1971. 1

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Apparat

Das Gesamtmanuskript besteht aus 573 paginierten Blättern (lt. Archiv Findbuch 574 – eine Seite fehlt). Die Paginierung ist nachträglich erfolgt und stimmt mit der Chronologie des Textes nicht überein. Ein großer Teil der transkribierten Texte weist umfangreiche Korrekturen und Textänderungen von der Hand Ferdinand Tönnies auf. Insgesamt konnten 256 Blätter eindeutig dem GdN II, III und IV zugeordnet werden. Von diesen 256 Blättern sind 78 komplett handschriftlich erstellt. 12 Manuskript-Blätter stammen aus dem Text „Die Lehre von den Volksversammlungen und die Urversammlung in Hobbes’ Leviathan“ (DSN 800) und 4 von Tönnies handschriftlich verfasste Blätter aus der Schrift „Sitte und Freiheit“4 (DSN 866). Die übrigen Blätter sind Manuskripte und Druckfahnen aus GdN Teil I. Schon bei einer ersten oberflächlichen Überprüfung konnte festgestellt werden, dass die offensichtlich durch ein Archiv durchgeführte Paginierung nicht die tatsächliche chronologische Abfolge der Texte wiedergibt. Zudem waren durch Ferdinand Tönnies und seine Mitarbeiter mehrere eigene Paginierungen durchgeführt worden, die äußerst unterschiedlich sind und kaum eine Chronologie erkennen lassen. Die Bandeditoren mussten aus diesem Grunde am Anfang der Editionsarbeiten das vorhandene Manuskript nach unterschiedlichen Gesichtspunkten ordnen. Zunächst galt es, der durch Ferdinand Tönnies vorgegebenen Kennzeichnung zu folgen (z. B. GdN II, GdN III, GdN IV). Innerhalb dieser Reihe dann nach arabischen Zahlen (denen zumeist ein „§“ beigefügt war) und / oder Buchstaben nach dem Alphabet. Wo dies nicht möglich war, konnte die Kontinuität weitgehend durch die Art des Papiers hergestellt werden (Briefpapier, Schreibhefte, Notizblöcke etc.). Selbstverständlich war jederzeit dem Inhalt der Texte zu folgen, obwohl dem Text insgesamt eine endgültige Strukturierung durch Ferdinand Tönnies fehlt. Zum Beispiel fehlen dem Manuskript über weite Strecken noch die Überschriften. Alle Überschriften in eckigen Klammern [] wurden durch die Bandeditoren erstellt. Als Beispiel mag hier die Seite 11 ff. gelten, auf der Tönnies lediglich die Gliederung des Textes durch die Buchstaben A und B vorgibt und diese weiter mit Ziffern unterteilt. Das vorgefundene Manuskript weist Lücken auf, die durch entsprechende Bemerkungen von den Editoren gekennzeichnet sind. Zwei Hauptschwierigkeiten sahen sich die Bandeditoren also gegenüber: die überwiegend recht schwierige Transkribierung der Handschriften sowie eingefügten Korrekturen und die Auffindung der Textchronologie. Dass der Text nicht voll4 Vgl. dazu, Rolf Fechner, Ferdinand Tönnies Werkverzeichnis, Berlin / New York 1992, DSN

800 S. 137 und DSN 866 S. 147.

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ständig vorliegt, ist aber den Umständen geschuldet, denen das Manuskript ausgesetzt war und die hier nun im Einzelnen bis zur Auffindung des Manuskriptes beschrieben werden sollen. Das Manuskript weist einige Eigenheiten der tönniesschen Schreibweisen auf. Die Bandeditoren haben diese Eigenheiten weitestgehend beibehalten. Als Beispiel mag hier das Wort „Staat“ dienen, das Tönnies sowohl mit einem als auch mit zwei „a“ schreibt. Das gleiche gilt für das Wort „Ware“. Wie bei Tönnies üblich sind auch eigene Wortkreationen im Text enthalten. So z.B. „Rechtsfug“ auf S. 31. Wie in den Editorischen Richtlinien festgelegt, wurden Textverderbnisse und Fehler in der Zeichensetzung korrigiert. Wenn im Manuskript Zitate mit eindeutiger Quellenangabe versehen waren, haben wir keine zusätzlichen editorischen Fußnoten gesetzt. Am 10. Januar 1935 schrieb Jan Friedrich Tönnies an Rudolf Heberle u. a.: „Lieber Rudolf! Vor einigen Tagen war ich mit Jurkat und Jacoby zusammen. Wir haben beschlossen, als Geburtstagsgabe zum 26.7. den „Geist der neuen Zeit“ als Privatdruck drucken zu lassen und dieses zu finanzieren durch eine Spende von etwa 40.– Mk., zu der wir ausser den Schülern die engsten persönlichen Freunde und ausserdem gleichgesinnte Fachgelehrte auffordern wollen.“5 Heinrich Striefler, ebenfalls Assistent von Tönnies, verfasste folgenden Aufruf, der hier wiedergegeben wird: „

Berlin, den Januar 1935

Sehr geehrter Herr! Am 26. Juli 1935 wird Herr Geheimer Regierungsrat Professor Dr. phil. Dr. jur. h.c. Dr. sc. pol. h.c. Ferdinand Toennies in Kiel seinen 80. Geburtstag begehen. Die Unterzeichneten, die zu der jüngsten Generation seiner Schüler und Freunde zu zählen die Auszeichnung haben, und sowohl mit Herrn Prof. Toennies wie untereinander in engem persönlichen und wissenschaftlichen 5 Jan Friedrich Tönnies war das dritte Kind von Marie und Ferdinand Tönnies. Rudolf

Heberle war letzter Assistent und Schwiegersohn (verheiratet mit Franziska Tönnies) von Ferdinand Tönnies. Ernst Jurkat und Eduard Georg Jacoby waren Assistenten von Tönnies.

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Austausch stehen, haben den Wunsch, dem deutschen Soziologen und Philosophen bei diesem Anlass durch eine besondere Ehrung einen Teil der Schuld abzutragen für das, was alle seine Freunde und Schüler von ihm empfangen haben; sie wenden sich deshalb an Sie mit einem Vorschlag, durch den sie glauben, Ihrer und unserer Verehrung für Ferdinand Toennies in angemessener Weise einen bleibenden Ausdruck geben zu können. Ferdinand Toennies, der am Schlusse seines Lebens seine Stellung als Hochschullehrer verlor, hat zwar nie in dem Lichte einer breiten Oeffentlichkeit gestanden, aber jedem der ihm persönlich Verbundenen wissenschaftlich zutiefst verpflichtet. Ueberdies ist es, wie die Erfahrung gezeigt hat, nahezu unmöglich und aussichtslos geworden, die Ergebnisse seiner Forscherarbeit zu veröffentlichen. Dies ist umso mehr zu beklagen, als Toennies in den letzten Jahren unter anderem an einem grösseren historisch-soziologischen Werke gearbeitet hat, das nahezu abgeschlossen vorliegt und den Titel „Geist der Neuzeit“ tragen soll. Dies Werk bedeutet nach unserer Kenntnis des Manuskriptes den Abschluss einer Linie seiner wissenschaftlichen Wirksamkeit, die mit dem Buche „Gemeinschaft und Gesellschaft“ anhebt, in der systematischen „Einführung in die Soziologie“ sich fortsetzt und in eine entwicklungsgeschichtliche Kennzeichnung des sozialen Lebens der Neuzeit einläuft. Diese äusseren und inneren Umstände haben uns im Verein mit seinem zweiten Sohn, Herrn Jan Friedrich Toennies, auf den Gedanken gebracht, Ferdinand Toennies durch einen Druck wenigstens des ersten grundlegenden in sich abgeschlossenen Teils zu seinem Geburtstag zu überraschen. Um seiner eigenen Entschliessung über eine Gesamtveröffentlichung nicht vorzugreifen, glauben wir dies am besten durch einen Privatdruck im Umfang von etwa 16 Bogen und in einigen hundert numerierten Exemplaren tun zu können, die ihm als gemeinsames Geschenk zur Verteilung an einen kleinen Kreis überreicht werden sollen. Die Fassung des Manuskriptes soll unverändert gelassen werden, aber durch Einfügung von Hinweisen auf die übrigen Werke von Toennies den Zusammenhang mit seinem Gesamtschaffen besonders verdeutlichen. Nach reiflicher Überlegung meinen wir, von denen jeder seine Zeit in der Studierstube dem Lehrer hat an die Hand gehen und seine Arbeitsweise kennen lernen dürfen, dadurch dem Werke eine mit den Wünschen des Verfassers übereinstimmende Gestalt zu geben. Die gesamten Kosten haben wir etwa auf RM 2000.– veranschlagt und bei dem Kreise von Freunden und Schülern, an den wir uns hiermit wenden, einen Betrag von RM 40.– als die untere Grenze des Anteils eines Jeden ausgeworfen.

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Wir bitten Sie uns auf anliegendem Formular recht bald wissen zu lassen, ob Sie diesem Vorschlag, den wir vertraulich zu behandeln bitten, Ihre Zustimmung geben, und mit welchem Betrag wir auf Ihre Beteiligung rechnen dürfen. gez. Dr. Georg Jacoby Dr. Ernst Jurkat Heinrich Striefler“6 Bekanntermaßen ist es anders gekommen. Der Verleger Hans Buske vom „Hans Buske Verlag“ aus Leipzig hatte den Mut, den ersten Teil von „Geist der Neuzeit“ im Juli 1935 zu veröffentlichen. Trotzdem blieb Ferdinand Tönnies zu seinem 80. Geburtstag nicht ohne „Festschrift“. Unter der Redaktion von dem bereits genannten Ernst Jurkat entstand die Schrift: „Reine und Angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstage am 26. Juli 1935“. Jurkat schrieb in den Einleitungsworten: „Hochverehrter Herr Professor Tönnies! Mit großer Genugtuung können Sie auf eine lange Zeit soziologischer Arbeit zurückblicken. Als Sie zu wirken begannen, bestand die Aufgabe, die Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben als besonderes Erkenntnisgebiet zu begründen. Dazu war es notwendig, mannigfache Gegenstände, die unter anderen Gesichtspunkten von den verschiedensten Disziplinen behandelt wurden, neu zu erforschen, um sie unter einem neuen einheitlichen Gesichtspunkt zusammenzufassen: Sie wandten sich zu den Gegenständen der Philosophie, Religionswissenschaft, Staats- und Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft, und zwar sowohl in Ihrer theoretischen wie historischen Problematik. In klarem Bewußtsein der Begrenztheit und Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis haben Sie sich stets von Spekulationen ferngehalten und in immer wacher Selbstkritik die exakte wissenschaftliche Methode angewendet. Ihre besondere Liebe gehörte dabei der statistischen Methode, die Sie für die Soziographie fruchtbar machten. Man würde Ihrer wissenschaftlichen Persönlichkeit nicht voll gerecht werden, wenn man unberücksichtigt ließe, in welchem Maße Sie zu den großen Problemen Ihrer Zeit Stellung nahmen. Hier suchten Sie Erkenntnis zu gewinnen und zu verbreiten, um der Moral zu dienen. Zeugnis davon 6 Alle zitierten Unterlagen sind im Privatbesitz von Frau Janette Flöel, der Tochter von Jan

Friedrich Tönnies.

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geben Ihre Schriften über ethische Kultur, zur sozialen Frage und nicht zuletzt zur Erkenntnis der Kriegsschuld. Um Ihr wissenschaftliches Werk anläßlich Ihres achtzigsten Geburtstages zu ehren, haben sich mit dem Verleger ältere und jüngere Gelehrte als Mitarbeiter einer Ihnen gewidmeten Festschrift vereinigt, die sie Ihnen am 26. Juli 1935 unter dem Titel „Reine und Angewandte Soziologie“ durch eine Adresse ankündigten und jetzt mit diesem Bande vorlegen. Sie hoffen, daß Sie ein bescheidenes Zeugnis ablegen von der Tiefe und Weltweite Ihrer wissenschaftlichen Leistung.“7 Allerdings ist eine Festschrift mit 28 Autoren nicht eben leicht aus der Taufe zu heben. So kam der Monat März 1936 heran, in dem Tönnies schwer erkrankte und man um sein Leben bangen musste – die Festschrift war immer noch beim Leipziger Verlag von Hans Buske. Getrieben von der Nachricht der Erkrankung schaffte Hans Buske es, Tönnies die Festschrift am 7. April 1936 zu überreichen. So konnte sie Tönnies noch „in Händen“ halten, was Franziska Tönnies Heberle eindringlich beschreibt: „Ja, die Festschrift also kam und Papa hat sie noch in vollem Bewußtsein und mit großer Freude empfangen“.8 Ferdinand Tönnies starb am 9. April 1936. Was aber war mit den übrigen Teilen vom GdN geschehen? Dies galt es nun zu recherchieren und der Ausgangspunkt war der „Geist der Neuzeit“ Teil I, der als allererster Bd. der TG veröffentlicht worden war. Der erste Band der „Tönnies Gesamtausgabe“ (TG) war der Band 22 (1932–1936) und wurde vom 2010 verstorbenen Präsidenten der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft und federführenden Herausgeber der TG, Prof. Dr. Lars Clausen, ediert. Das „Hauptthema“ des Bandes 22, der 1998 veröffentlicht wurde, war der „Geist der Neuzeit“ (GdN). In seinem „Editorischen Bericht“ schreibt Lars Clausen u. a.: „Nach allem ist GdN nur die – freilich in sich sorgsam abgeschlossene – Erste Abteilung eines umfassender angelegten Werkes, das durchaus schon weiter 7 Redaktion Ernst Jurkat, Reine und Angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand

Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstage am 26. Juli 1935 dargebracht von Albrecht, Boas, Bohnstedt, Bosse, Brenke, Baron v. Brockdorff, Colm, Günther, Harms, Heberle, Hermberg, Jahn, Jurkat, Kanellopoulos, Löwith, Meinecke, Niceforo, v. Reichenau, Schmalenbach, Sorley, Sorokin, Steinmetz, Stoltenberg, Takata, Thurnwald, Wernicke, v. Wiese, Wilbrandt, Leipzig 1936. 8 Uwe Carstens, Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger. Eine Biographie, zweite erweiterte Auflage, Bredstedt 2013, S. 311.

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gediehen war: „Das MS von GdN II befindet sich bei mir.“ (So eine hs. Postkarte Jurkats an Tönnies vom 14.6.35, alles Cb54.50:56.) […] Ernst Jurkat ist dann ausgewandert, und kein Hinweis über den Manuskriptverbleib im Deutschen Reich oder später den Vereinigten Staaten existiert, auch nicht aus seinem Nachlass. Die Zweite Abteilung von GdN muss als verloren gelten.“9 Jürgen Zander schreibt im „Editorischen Bericht“ zum Band TG 23,2: „Ein nie geklärtes Problem ist der Verlust der Manuskripte des letzten großen Werkes „Geist der Neuzeit“. Nur die Vorlage zum 1. Band, der 1935 erschien, befand sich im Niemannsweg, ist aber nicht mehr vorhanden. Die nachweislich vollendeten Manuskripte zu den weiteren, nicht mehr publizierten Teilen, sind nie aufgefunden worden. Sie sind vermutlich in Berlin bei Ernst Jurkat verblieben, und nach dessen überstürzter Flucht aus Deutschland (1938) in Berlin dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen.“10 Ähnliches schreibt Rolf Fechner, der 2010 als Band 17 der Schriftenreihe „Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle“ den GdN herausgab, in seiner „Editorischen Nachlese“: „„Geist der Neuzeit“ ist ein unvollendet gebliebenes Spätwerk. Gedacht als Einleitung zu einem seit Jahrzehnten geplanten und vorbereiteten Werk ist das Erscheinen dieses ersten Teiles besonders dem Mut seines Verlegers Hans Buske zu verdanken, der auch die achte und letzte Ausgabe von Tönnies’ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ 1935 verlegte. […] Tatsächlich war das Buch [GdN] bereits im April 1933 verlagsreif, erschien aber erst kurz vor dem Tode Tönnies. Die weiteren Teile des Werkes sind weder veröffentlicht noch bekannt. Teil II sollte sich im Besitz Ernst Jurkats befunden haben; es gilt als verschollen; inwieweit die Teile III und IV gediehen waren, ist unbekannt.“11

9 Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Band 22 (1932 – 1936), Geist der Neuzeit / Schriften /

Rezensionen, hgg. von Lars Clausen, Berlin / New York 1998, S. 520.

10 Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Band 23,2 (1919 – 1936), Nachgelassene Schriften, hgg.

von Brigitte Zander-Lüllwitz und Jürgen Zander, Berlin / New York 2005, S. 608.

11 Rolf Fechner (Hg.), Ferdinand Tönnies Geist der Neuzeit, München 2010, S. 238 f.

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Was nun aber stand genau auf der schon zitierten Postkarte von Jurkat an Tönnies vom Juni 1935: „14.VI.35 Lieber Herr Prof. Tönnies Das MS vom GdN II befindet sich bei mir. Sie hatten es an Herrn Buske geschickt, der es mir übergab. Er wird es selbstverständlich erst drucken, wenn Sie es abschließend durchgesehen bzw. überarbeitet haben. – Ich hatte Sie gebeten, mir die Umbruchbogen von GdN I zu übersenden, damit wir Ihre Verbesserungen wie bei der Korrektur auf dasselbe Exemplar des Umbruchs übertragen können, auf dem sich unsere Verbesserungen befinden. Herzliche Grüsse Ihr Ernst Jurkat“12 Klar war zunächst nur: Das MS von GdN Teil II ist bei Ernst Jurkat zu suchen. Allerdings hatte im April 1991 der damalige Mitarbeiter der Landesbibliothek, Dr. Jürgen Zander, mit Peter Jurkat, dem Sohn von Ernst Jurkat, der in Hoboken, New Jersey lebte, Kontakt aufgenommen. Aber weder Peter Jurkat, noch sein Vater Ernst, der zu diesem Zeitpunkt noch lebte, konnten etwas über den Verbleib des verschollenen Manuskriptes mitteilen.13 Wir begannen nun, uns nachdrücklich mit der Person Ernst Jurkat und den Geschehnissen ab 1935 auseinanderzusetzen. Da der Ansatz „Peter Jurkat“ bereits abgeklärt war, suchten wir nach weiteren Verwandten im Umkreis von Ernst Jurkat. Mit Bension Varon14 fanden wir nicht nur einen exzellenten Kenner von Ernst Jurkat, sondern auch jemanden, der durch seine Frau Barbara Frass 12 Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Tönnies-Nachlass, Cb54.56:440III. Diese

Mitteilung von Ernst Jurkat bekommt erst nach der Auffindung des Manuskriptes ihre eigentliche Bedeutung: So wie Jurkat den „Zustand“ des MS beschreibt – also ohne die Einarbeitung der Korrekturen von Tönnies – befand sich das MS bei der Auffindung. 13 Siehe u. a. dazu den Brief von Jürgen Zander an Peter Jurkat vom 3. 5. 1991 (Kopie des Briefes im Besitz der FTG). 14 Bension Varon ist in Istanbul geboren und aufgewachsen. Er studierte Ökonomie und lernte auf der „University of Pennsylvania“ Barbara Frass kennen, die er 1962 heiratete. Barbara Frass war die Tochter von Elisabeth Jurkat (Ernst Jurkats ältere Schwester) und Herbert

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mit Jurkat verwandt war. Folgt man der Geschichte von Bension Varon, so war das Leben von Ernst Jurkat in Deutschland mehr als aufregend. Ernst Hermann Jurkat wurde am 7. Juni 1905 in Ottlotschin (heute Otłoczyn in Polen), einem kleinen Grenzort im Landkreis Thorn (Westpreußen), geboren und ist dort aufgewachsen. Mit neunzehn Jahren begann Ernst Jurkat 1924 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ein Studium in den Fächern Soziologie, Philosophie, Ökonomie und Jura, das er bald abbrach (Studienplatzwechsel), um an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Rechte und Staatswissenschaften zu studieren. Jurkat kehrte allerdings nach drei Semestern 1926 nach Kiel zurück, um sein Studium hier fortzusetzen. In Kiel nun besuchte Jurkat im Sommersemester 1926 eine Veranstaltung von Ferdinand Tönnies. Jurkat, der von Tönnies tief beeindruckt war, suchte diesen nach der Veranstaltung auf und es kam zu einem längeren Gespräch. Ferdinand Tönnies, der seit 1921 im Kieler Niemannsweg Nr. 61 wohnte, bot eine Übung über „Moralstatistik Schleswig-Holsteins“ an, der im Wintersemester 1926 / 27 philosophische und soziologische Übungen folgten (siehe Vorlesungsverzeichnis der CAU vom Wintersemester 1926 / 27, S. 38) – auch diese belegte Jurkat.15 Tönnies war von dem stillen, ernsthaften Jurkat beeindruckt und schon bald war dieser im Niemannsweg ein gerngesehener Gast. Dass Tönnies Ernst Jurkat die Stelle eines Assistenten bei ihm anbot, war beinahe eine logische Folge und so hatte Tönnies nicht nur einen zuverlässigen Mitarbeiter, sondern schon bald einen nicht minder zuverlässigen Freund gewonnen, der seinen Frass. Varon arbeitete für die „World Bank“ in Washington, D.C. und ist Autor mehrerer Monographien. Er lebt seit dem Tode seiner Frau im Jahre 2003 in Fairfax, Virginia. 15 Über den Hochschullehrer Ferdinand Tönnies hatte Cay v. Brockdorff u. a. geschrieben: „Wer (dagegen) einer sich sogar noch während eines Vortrages fortsetzenden höchst originalen Gedankenentwicklung zu folgen vermochte und den Reiz unmittelbarer Gedankeneingebungen zu genießen verstand, wird sich mit der größten Dankbarkeit der Stunden erinnern, in denen Tönnies über „Moralstatistik“ oder über ein volkswirtschaftliches Thema las. Nicht alle Zuhörer dürften damals gewußt haben, daß sie zu Füßen des großen Begründers der deutschen Soziologie saßen. Nun gehört das Lesen von Kollegien und Abhalten von Übungen immer nur zu den Vorbereitungen für die eigentliche Aufgabe der Lehrtätigkeit Tönnies’. Das, worauf es ihm wesentlich ankam, war die Heranziehung, Schulung und Förderung jüngerer Gelehrter. Von diesem Gesichtspunkte aus konnte man keine einführenden Vorlesungen für „Anfänger“ von ihm erwarten. Wer sich aber in seine Forschungsund Lehrweise eingearbeitet hatte, den zog er gern zur Mitarbeit heran und half ihm, je nachdem, ob das Forschungs- oder das Organisationstalent größer war, weiter.“ Ernst Jurkat (Redaktion), Reine und Angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstage am 26. Juli 1935, Leipzig 1936, S. 363.

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Lehrer bedingungslos verehrte. Aber auch mit den übrigen Freunden, Schülern und Mitarbeitern Tönnies’ verstand Jurkat sich problemlos. Zu nennen wären da u. a. Eduard Georg Jacoby, Rudolf Heberle, Heinrich Striefler, Cay von Brockdorff, Max Graf zu Solms, Lauritz Lauritzen und Else Brenke. Jurkat war neben seinem eigenen Studium voll in die wissenschaftliche Arbeit von Ferdinand Tönnies eingebunden. Tönnies Werke wie „Über die Demokratie“ (1927), „Der Selbstmord in Schleswig-Holstein“ (1927) oder „Die schwere Kriminalität von Männern in Schleswig-Holstein“ (1929) entstanden unter Mithilfe von Ernst Jurkat. Aber auch bei Vorbereitungsarbeiten fand Tönnies in Jurkat eine wichtige Stütze. An Max Graf zu Solms schrieb Tönnies 1928: „Diesen Nachm. fahre ich nach Berlin, um am Mittwoch Nachm. 17 U. im Statistischen Reichsamt einen Vortrag über die Bevölkerungsfrage zu halten, wofür ich mit Hilfe meines jungen Freundes Jurkat während der letzten Monate umfangreiche Forschungen gemacht habe.“16 Ebenfalls im Jahre 1928 begleitete Ernst Jurkat seinen Lehrer in das „Forscherheim“ im Schloss Assenheim, in dem u. a. der Tönnies-Schüler und -Assistent Heinrich Striefler über eine längere Zeit gemeinsam mit dem Hausherrn Graf zu Solms arbeitete. Der „Verein Forscherheim Assenheim“ war im Gefolge des Ersten Weltkrieges auf Initiative von Max Graf zu Solms entstanden, der nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1923 als Hausherr des Schlosses Assenheim eine Erholungs- und Begegnungsstätte für Gelehrte einrichtete. Das „Forscherheim Assenheim“ sollte ein Ort sein, „an dem sich Gelehrte und geistig interessierte Menschen zusammenfinden sollten zur Erholung und ruhiger Arbeit und zu gegenseitigem Austausch“; es war als eine Stätte gedacht, „an der sich Einzelfach-Wissenschaftler mit anderen Einzelfach-Wissenschaftlern sowie mit denen treffen möchten, die den Versuch einer zusammenfassenden Darstellung der Sozial- und Kulturwissenschaften machen, sowie den Historikern und Systematikern“, wie auf einem Pergament im Stil mittelalterlicher Handschriften zu lesen ist, das Ferdinand Tönnies zu seinem 70. Geburtstag von Max Graf zu Solms überreicht bekam.17 Das am 1. April 1924 eröffnete „Forscherheim Assenheim“ war in erster Linie den Angehörigen und Freunden der Deutschen 16 Postkarte vom 12. 3. 1928, in: Freda Gräfin zu Solms (Hg.), Max Graf zu Solms. Ein Le-

bensgang. Briefe. Selbstzeugnisse. Berichte, Marburg 1982, S. 193.

17 Siehe dazu: Uwe Carstens, Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger. Eine Biographie,

a.a.O., S. 242.

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Gesellschaft für Soziologie (DGS) vorbehalten, darüber hinaus den Angehörigen des Lehrkörpers der Universitäten Berlin und Gießen, der Technischen Hochschule Darmstadt sowie den Angehörigen der preußischen Archiv- und Universitätsbibliotheksbeamtenschaft. Zum sogenannten Auswahlkollegium gehörte neben dem Vorstand der DGS (Tönnies, Eckert und von Wiese) der Soziologe Hans Lorenz Stoltenberg, der Historiker Paul Kehr und der Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek Berlin Fritz Milkau. Dass Solms gerade bei Tönnies auf eine intensive Zustimmung und Förderung des „Forscherheimes“ stieß, wird verständlich, wenn man weiß, dass Tönnies mehr als vierzig Jahre zuvor – damals im gleichen Alter wie jetzt Solms – aus den gleichen Beweggründen eine „Philosophische Gemeinde“ gründen wollte. Tönnies teilte diesen Gedanken seinem Freund Paulsen im März 1881 mit: „Ich kann mich doch nicht enthalten, Dir mein neues großes Projekt mitzuteilen. […] Über 5 Jahre oder früher werden die Universitäten, als für Philosophie ungeeignet, verlassen. Es wird auf dem Lande, in anmutigster Gegend, eine Gruppe von Häusern gebaut, welche wir mit Familien beziehen, dazu ein Lykeion, Stoa oder Akademie; alljährlich werden 20 Adepten für Philosophie (junge Männer entweder vor Beginn ihrer Fachstudien oder nach Vollendung derselben) für mindestens einen Jahreslauf aufgenommen. Für den Anfang müssen 2 – 3 Jahrgänge gesichert sein, nachher wird sich der Ruhm der Anstalt bald verbreiten.“18 Eine weitere Reise von Tönnies und Jurkat führte 1929 nach Oxford. Jurkat war in diesem Jahr insbesondere in die Tönniessche „Soziographie“ eingebunden. Tönnies schrieb an Solms: „Ich hoffe, Ihnen bald den III. Band meiner „Soziolog. Studien und Kritiken“ überreichen zu können, der im letzten Vierteljahr ziemlich viel Mühe machte. Jurkat war inzwischen fast ganz mit Entstehung und Verarbeitung meiner Verbrecherstudien in Anspruch genommen, wo der nächste Ge-

18 Brief Ferdinand Tönnies an Friedrich Paulsen vom 27. 3. 1881, in: Olaf Klose / Eduard

Georg Jacoby / Irma Fischer (Hg.), Ferdinand Tönnies Friedrich Paulsen Briefwechsel 1876 – 1908, Kiel 1961, S. 120.

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genstand die Familienherkunft diverser Tausender dieser richtigen armen Teufel sein wird.“19 Cay von Brockdorff, Ernst Jurkat und Ferdinand Tönnies reisten 1929 in die englische Universitätsstadt Oxford. Die auf Initiative von Cay von Brockdorff und Ferdinand Tönnies ins Leben gerufene „Hobbes-Gesellschaft“ feierte im September 1929 ihren Gründungsanlass mit einer „Gedächtnisfeier“ zum 250. Todestag von Thomas Hobbes in Oxford, der Stadt also, an deren Universität Hobbes mit 14 Jahren vor allem Logik und Physik studiert hatte. Die „Gedächtnisfeier“ war Bestandteil eines „Internationalen Hobbes-Kongresses“. Am Schlusstag der Feier, an der 69 Gelehrte aus 19 Staaten teilnahmen, stand die Gründung der „Hobbes-Gesellschaft“. Die in „Latein“ verfasste Satzung sah als Ziele der Gesellschaft „die Erkenntnis des Anteils, den Hobbes an der modernen Kultur-Entwicklung hat, die Aufweisung der Bedeutung seiner Hauptprobleme für die Gegenwart und das Verständnis seines Systems vom Standpunkt der Einheitlichkeit seiner Weltanschauung aus“. Weiter heißt es: „Die Gesellschaft hält daran fest, daß sich aus Hobbes’ Lehre der Gedanke an einen Völkerbund ableiten lasse, und daß die gleichen Prinzipien der Gerechtigkeit auf die Beziehungen unter den Völkern anwendbar sind“. Ferdinand Tönnies wurde zum Präsidenten und Cay von Brockdorff zum stellvertretenden Präsidenten der „Internationalen Hobbes-Gesellschaft“ gewählt.20 Ernst Jurkat, der aufgrund seines Studienganges auch eine enge Beziehung zum Institut für Weltwirtschaft, das 1914 als „Königliches Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel“ gegründet worden war,21 pflegte, promovierte 1931 mit einer sozio19 Brief Ferdinand Tönnies an Max Graf zu Solms vom 6. Juli 1929, in: Freda Gräfin zu Solms

unter Mitarbeit von Irmgard Foerster (Hg.), Max Graf zu Solms, a.a.O., S. 203.

20 Siehe dazu: Uwe Carstens, Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger. Eine Biographie,

a.a.O., S. 259 ff.

21 Der erste Direktor, Bernhard Harms, leitete den Aufbau einer Forschungsbibliothek ein, die

ab 1924 vom langjährigen Direktor der Bibliothek, Wilhelm Gülich systematisch zur weltweit größten Fachbibliothek auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften weitergeführt wurde. Darüber hinaus widmete Harms sich der Herausgabe verschiedener Zeitschriften und der Errichtung eines Wirtschaftsarchivs. Harms legte von Anfang an großen Wert auf die Verbindung von Forschung und Praxis sowie die Weitervermittlung an Studierende. Kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurden jüdische und sozialdemokratische Mitarbeiter aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (am 7. April 1933 erlassen) mit sofortiger Wirkung beurlaubt und aus dem Institut vertrieben. Die Vertreibung der Wissenschaftler erfolgte teilweise unter tätiger

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logischen Arbeit zum Thema: „Die soziologische Fragestellung in der Werttheorie und die Theorie der sozialen Werte“. Der „Doktorvater“ hieß natürlich Ferdinand Tönnies. Die 1931 bei Schmidt & Klaunig, Kiel veröffentlichte 52 Seiten starke Dissertation, die eindeutig den Gedankengängen des Doktorvaters entsprach, wurde insbesondere von Rudolf Heberle gelobt.22 Die Tätigkeit von Ernst Jurkat bei Ferdinand Tönnies beinhaltete auch, an den zahlreichen Publikationen von Tönnies mitzuwirken. Diese Tätigkeit war allerdings hauptsächlich auf das Abtippen oder Anfertigen einer Reinschrift von Tönnies-Manuskripten reduziert – soweit diese Tätigkeit nicht von der Tönnies-Mitarbeiterin Else Brenke erledigt wurde. Dies führte aber dazu, dass Jurkat bestens mit dem Schrifttum von Ferdinand Tönnies vertraut war. Ein Jahr nach seiner Promotion heiratete Ernst Jurkat am 3. September 1932 die 1904 in Berlin geborene Dorothy Bergas, die Tochter von Therese Feilchenfeld und Albert Bergas. Albert Bergas besaß eine erfolgreiche Firma, die Silberwaren herstellte.

Mithilfe ihrer eigenen Kollegen und ermöglichte diesen Tätern in der Folge entscheidende Karrieresprünge. Zudem kamen neue Wissenschaftler ans Institut, von denen sich eine Reihe später aktiv an der deutschen Vernichtungspolitik beteiligten. Bernhard Harms, der anfangs noch die NS-Machtübernahme begrüßte, blieb zuerst noch Institutsleiter, widersetzte sich kurzzeitig der Vertreibung der jüdischen Mitarbeiter des IfW durch die SA und gab im Juni die Leitung aufgrund massiven Drucks auf. Formal behielt er die Professur an der Universität, wirkte aber faktisch bis zu seinem Tod 1939 nur noch als Honorarprofessor in Berlin. 22 „Through his Ph.D. dissertation, D. Jurkat has made a real contribution to theoretical sociology“ (Brief von Dr. Heberle an das „Emergency Rescue Committee (ERC) in New York City vom 10. 4. 1941, im Bestand des ERC). Das ERC war eine Hilfsorganisation für deutsche und österreichische Flüchtlinge in Frankreich in der Zeit von 1940 bis 1942. Es wurde im Juni 1940 in New York auf Initiative u. a. der österreichischen Emigranten Karl Frank und Joseph Buttinger mit Unterstützung von Thomas und Erika Mann gegründet. Dramatischer Anlass war die vorausgegangene militärische Niederlage des republikanischen Frankreichs gegen die nationalsozialistische deutsche Wehrmacht. In dem aufgezwungenen Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 wurde Frankreich genötigt, jede Person auszuliefern, wenn die deutschen Behörden es verlangten. Damit waren vor allem die politischen Emigranten aus Deutschland und Österreich in Gefahr, in die Fänge von Gestapo und SS zu geraten. Das ERC verhalf von seiner Gründung bis zur kompletten Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen Ende 1942 intellektuellen Gegnern der Nationalsozialisten zur Flucht in die USA. Die Mehrzahl der Emigranten war mit Beginn der Kriegshandlungen in miserabel ausgestatteten Lagern interniert und zusammengepfercht worden und musste die Überführung in Konzentrationslager, Folter und Tod befürchten.

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Die politische aber auch die wirtschaftliche Situation 1932 in Deutschland war für Jurkat – zumal mit einer jüdischen Frau – außerordentlich schwierig. Aber auch Ferdinand Tönnies, mit dem Jurkat, wann immer es ging, in Kontakt blieb und aushalf wo er konnte, verlor 1933 nicht nur seinen Lehrauftrag an der Universität Kiel, auch die ihm zustehende Pension wurde zunächst völlig gestrichen und später, auf ein Minimum begrenzt, wieder ausgezahlt. Tönnies musste Teile seiner Bibliothek verkaufen und konnte nur, trotz der Unterstützung durch seine Kinder, wirtschaftlich stark reduziert leben. Jedenfalls war es Tönnies nicht möglich, seine geschätzten Mitarbeiter weiter zu alimentieren. Um seine Frau und sich ernähren zu können (der Sohn Peter Jurkat wurde 1935 geboren), sah sich Jurkat gezwungen, in eine der nationalsozialistischen Organisationen einzutreten. Nur noch über diesen „Umweg“ war es möglich, eine adäquate Stellung zu bekommen. Da Jurkat auch Jura studiert hatte, kam für ihn nur der „Bund Nationalsozialistischer Juristen“ in Frage.23 Mittels dieses „Tricks“ konnte Jurkat ab Juni 1933 für den „Verein Berliner Kaufleute und Industrieller“ (VBKI) arbeiten.24 Somit musste Jurkat Kiel verlassen und zog nach Berlin. Der Kontakt zu Tönnies riss aber nie ab. Jurkats Leben teilte sich ab 1933 in drei Teile: er arbeitete – wann immer es ging – weiter für Ferdinand Tönnies, arbeitete als Sekretär und Publizist für eine Handelszeitung im VBKI und er begann aktiv gegen das Naziregime zu arbeiten. Dabei bot sich der VBKI, der komplett „arisiert“ worden war, als Tarnung nicht nur für seine Beziehung zu dem durch die Machthaber verfemten Tönnies, sondern auch für Jurkats nun beginnende Untergrundarbeit an. Die Publikation, die Jurkat monatlich anzufertigen hatte, nannte sich „VBKI Spiegel“. Dabei achtete Jurkat peinlich genau darauf, keinen „Anti-Nationalistischen“ Artikel zu veröffentlichen. Erst als der NS-Wirtschaftsideologe

23 Bereits 1928 wurde der Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen (BNSDJ) als Or-

ganisation innerhalb der NSDAP durch Hans Frank gegründet. Frank war bemüht, den Juristenbund zu einer großen Organisation auszubauen. Ursprünglich hatten dem Juristenbund überwiegend Rechtsanwälte angehört. Später erfasste der Bund alle Juristen. Ab 1936 wurde der Bund in „Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund“ umbenannt. 24 Am 6. Oktober 1879 gründeten 329 überwiegend jüdische Berliner Kaufleute den Verein Berliner Kaufleute und Industrieller. Entstanden ist der VBKI in der ersten Berliner Gründerzeit, einer Zeit des Aufschwungs für Handel, Gewerbe und Baubranche, in der Impulsgeber, wie Walther Rathenau, Werner von Siemens, Ernst Christian Friedrich Schering oder die Industriellenfamilie Borsig mit ihrem unternehmerischen Elan eine brandenburgische Kleinstadt in eine Weltmetropole verwandelten.

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Heinrich Hunke 1938 Präsident des VBKI wurde, konnte sich auch Jurkat nicht mehr im VBKI halten. Als Ferdinand Tönnies im Februar 1933 nach Berlin kam, um ein Referat auf dem Kongress „Das Freie Wort“ zu halten, war auch Jurkat dabei.25 Tönnies schrieb an Solms: „Ich war von einem Comité an dessen Spitze u. a. Einstein war, gebeten worden, bei einem „Congress“ des vorigen Sonntags ein Referat über „Rede- und Lehrfreiheit“ zu geben und habe es getan. […] In der Versammlung überwogen Proletarier. Von meinen Freunden waren Dr. Jacoby, Jurkat u. Frau, der ehem. Minister Südekum, W. Schlüter, mein Sohn Jan Friedrich, zugegen. Nachdem ich ausgeredet und noch Grimme die Botschaft von Th. Mann mitgeteilt hatte, und während noch Heine über Freiheit der Kunst sprach, erschien ein strenger u. hoher Mann, die Versammlung war aufgelöst.“26 Wieder nutzten Jurkat und Jacoby die Gelegenheit, mit Tönnies über die Veröffentlichung des Buches „Geist der Neuzeit“, an dem Tönnies bereits viele Jahre mit Unterbrechungen geschrieben hatte, zu sprechen. Und tatsächlich gelang es, Tönnies von diesem Vorhaben zu überzeugen. Zwischen Kiel und Berlin begann jetzt ein reger Austausch von Manuskriptseiten. Tönnies ergänzte und aktualisierte Texte, die in der Regel von Else Brenke abgetippt worden waren, und so manches vor Jahren Geschriebene wurde komplett verworfen. Lars Clausen, der in dem 1998 veröffentlichten Band 22 (1932 – 1936) der Tönnies Gesamtausgabe auch den „Geist der Neuzeit“ aufgenommen hatte schrieb in seinem „Editorischen Bericht“ u. a.: „Als das MS dann erstellt, d. h. nach der ganzen Zeit doch auch übers Knie gebrochen wurde, wanderten seine Einzelpartien zwischen Kiel (wo im Hause Tönnies Else Brenke die Übersicht zu halten suchte) und Berlin hin und her, wo Ernst Jurkat, Georg Jacoby und Heinrich Striefler Abschriften fertigten und das MS insgesamt einrichteten, mit durchaus auch erfolgreichen Rückbitten an Tönnies, ggf. Einführendes oder Übergänge zu verfassen […] Diese Leistung der Teils eben verheirateten, unter dem herrschenden 25 Uwe Carstens, „Das Freie Wort“ vom 19. Februar 1933 im Spiegel der Presse, in: Tönnies-

Forum 1/2013, S. 55-79.

26 Brief Ferdinand Tönnies an Max Graf zu Solms vom 24. Februar 1933, in: Freda Gräfin zu

Solms unter Mitarbeit von Irmgard Foerster (Hg.), Max Graf zu Solms, a.a.O., 230 f.

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Antisemitismus bereits in akuter Berufsnot stehenden jungen Männer verdient eine eigene Würdigung“.27 Tatsächlich erschienen 1935 bei dem Leipziger Hans Buske Verlag aber nicht nur der Teil I des Buches „Geist der Neuzeit“, sondern auch die 8. Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Dazu schrieb Eduard Georg Jacoby: „Es gelang schließlich noch im Jahre 1935, guten teils durch die Beharrlichkeit des früheren Assistenten und letzten Doktoranden von Tönnies, Ernst Jurkat, eine achte Auflage in dem neugegründeten Verlag von Hans Buske in Leipzig herauszubringen; dort erschien auch der einzige Band des „Geist der Neuzeit“ und, wenige Tage vor Tönnies’ Tod, die Festgabe zum 80. Geburtstag.“28 Dabei war die Verlagsentscheidung zunächst gar nicht so eindeutig. Clausen schrieb: „Hans Buske als Verleger stand nicht unbedingt fest, Jurkat und Jacoby empfahlen Ernst Reinhardt in München […] Buske (seit 1932 Max Solms’ Verleger und vielleicht sogar von ihm angeregt) wandte sich aber direkt an Tönnies.“29 Insbesondere die Vorrede zur 8. Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ bereitete Buske nicht geringe Sorge. Dazu schrieben Brigitte Zander-Lüllwitz und Jürgen Zander im Band 23,2 (Nachgelassene Schriften 1919 – 1936): „Die letzte (8.) Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ konnte – ebenso wie sein letztes Werk „Geist der Neuzeit“ und die für ihn veranstaltete Festschrift „Reine und angewandte Soziologie“ – aus politischen Gründen nicht mehr in den Verlagen erscheinen, denen Tönnies zuvor verbunden war, sondern nur noch in dem neu gegründeten Verlag von Hans Buske in Leipzig, dem Tönnies sich daher besonders zu Dank verpflichtet fühlte. Buske hatte sich nach der Lektüre des Typoskripts der „Vorrede zur 8. Auflage“ (Cb 54.32:1.06A) an Max Graf Solms gewendet, da er Be27 Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 22 (1932 – 1936). Geist der Neuzeit, Schriften,

Rezensionen, hgg. von Lars Clausen, Berlin / New York 1998, S. 519 ff. Der Schriftverkehr dieser Zeit – auch bzgl. der Wahl des Verlages – wird unter Cb54.50:56 im TönniesNachlass der Landesbibliothek verwahrt. 28 Eduard Georg Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, Stuttgart 1971, S. 84. 29 Editorischer Bericht von Lars Clausen, in: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Band 22 (1932 – 1936), Geist der Neuzeit / Schriften / Rezensionen, hgg. von Lars Clausen, Berlin / New York 1998, S. 519.

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denken wegen einiger Formulierungen in der „Vorrede“ trug. Solms, der daraufhin um Einsicht in den Entwurf gebeten hatte, schlug Tönnies beträchtliche Streichungen vor, zum Schutze sowohl der Person des Verfassers als auch im Interesse seines Werkes „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Diese Streichungen und Veränderungsvorschläge des Grafen Solms haben sich beim Manuskript im Nachlass Tönnies (TN) erhalten und können dort eingesehen werden. Tönnies, der sich wohl nur schwer auf eine Veränderung des Entwurfes der „Vorrede“ einlassen konnte, schrieb eine erweiterte Fassung der „Vorrede“ […] Am Ende jedoch hat Tönnies beide Typoskriptfassungen zurückgezogen und eine kurze, neue Einleitung („Vorwort zur achten Auflage“) verfasst, die dann (1935) zum Abdruck kam.“30 Der 80. Geburtstag, den Ferdinand Tönnies im Juli 1935 begehen konnte, war unter den gegebenen Umständen sehr viel ruhiger als die vorangegangenen vor 1933. Auch war die Schar der Gratulanten – ob durch öffentliche Bekundungen oder privater Briefe und Telegramme – merklich zurückgegangen. Ferdinand Tönnies, der noch wenige Wochen vor seinem Geburtstag ernstlich erkrankt war und mehrere Tage im Krankenhaus verbringen musste („Mir will ein junger Arzt jetzt die Blutarmut gründlich vertreiben, und ich gebe mich gern seinen Experimenten hin. Die Skepsis überwinden, ist für mich immer eine harte Aufgabe gewesen, obgleich ich von Natur beinahe vertrauensselig bin!“)31, gab Max Graf zu Solms, mit dem er im beständigen Briefwechsel stand, einen kleinen Bericht über seinen Geburtstag: „Ich habe nun den Übergang ins 81. Lebensjahr hinter mir und hatte die Freude, viele Begrüßungen von nah und fern zu empfangen, darunter nicht wenige die mir sonderlich wertvoll erschienen. Eine besondere Befriedigung wurde mir zu Teil durch den Besuch meines alten und geschätzten Freundes, des Neurologen Prof. Oskar Vogt, Begründer des Institutes für Hirnforschung, und seiner Frau, einer Französin. Unser Sohn II [gemeint ist Jan Friedrich Tönnies] leitet in diesem Institut die technische Abteilung […] Zu meiner großen Freude waren auch meine beiden früheren Assistenten Dr. 30 Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 23,2 1919 – 1936, Nachgelassene Schriften, hgg.

von Brigitte Zander-Lüllwitz und Jürgen Zander, Berlin / New York 2005, S. 657.

31 Brief Ferdinand Tönnies an Max Graf zu Solms vom 19. Juni 1935, in: Freda Gräfin zu

Solms unter Mitarbeit von Irmgard Foerster (Hg.), Max Graf zu Solms, a.a.O., S. 252.

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Jurkat und Herr Striefler, zwei Tage hier, und wir hatten manche gute auch für mich wertvolle Gespräche. Jacoby, der früheste dieser Gehilfen, war leider nicht abkömmlich, er hatte mir aber einen lieben langen Brief geschickt […] Wenn man sich mit einem viel größeren Manne vergleichen darf, so möchte ich anmerken was Goethe einmal über sein Verhältnis zu Schiller schreibt, es habe sich ergeben „daß wir uns auch da verstanden wo wir nicht einig waren …“32. Das scheint mir ein höchst wünschenswerter Zustand der Freundschaft“.33 Ferdinand Tönnies war in der zweiten Märzhälfte des Jahres 1936 ernstlich erkrankt. Zu einer Nierenbeckenentzündung trat eine Affektion der Lunge hinzu und man fürchtete um das Leben des Patienten. Noch einmal aber flackerte das Leben auf, als Hans Buske ihm, von den schlimmen Nachrichten getrieben, am 7. April die Festschrift „Reine und Angewandte Soziologie“, die zu Tönnies’ 80. Geburtstag angekündigt worden war, überreichen ließ. Auch Ernst Jurkat hatte einen Text für die Festschrift geliefert: „Die Soziographie des moralischen Lebens (Gegenstand und Aufgabe)“. Jurkat ging in seiner Arbeit der Frage nach, inwiefern soziale Gebilde zum Inhalt menschlicher Bejahungen und von Handlungsweisen, die diesen entsprechen, werden. Dabei will die Soziographie Entstehen und Vergehen sozialen Wollens und Verhaltens beschreiben und ursächlich erforschen. Vorausgesetzt wird dabei, dass man auf Grund soziologischer Wesenserkenntnis sagen kann, welche menschlichen Bejahungen und Verhaltensweisen zum positiven Bestandteil sozialer Verbundenheiten gehören. Gegenstand der Soziographie ist der Kollektiveinzelne. In diesem Kontext wird eine Klassifizierung moralischer Persönlichkeiten als Bestandteile sozialer Verbundenheiten vorgenommen (Genosse – Fremder, Freund – Feind). Diese Strukturanalyse von Verbundenheiten dient dazu, eine Deutung menschlicher Bejahungen und sonstiger Verhaltensweisen in Bezug auf ihre moralische Relevanz im Lebenszusammenhang sozialer Verbundenheiten zu ermöglichen. Jurkat weist im Weiteren auf die statistische Methode und die 32 Siehe dazu auch „Biographische Einzelheiten“, „Jacobi“, in: Goethe’s Werke. Vollständige

Ausgabe letzter Hand. 60. Bd. Stuttgart und Tübingen 1842, S. 273. Das vollständige Zitat lautet: Mit Schiller, dessen Charakter und Wesen dem meinigen völlig entgegen stand, hatte ich mehrere Jahre ununterbrochen gelebt, und unser wechselseitiger Einfluß hatte dergestalt gewirkt, daß wir uns auch da verstanden wo wir nicht einig waren. 33 Brief Ferdinand Tönnies an Max Graf zu Solms vom 29. Juli 1935, in: Freda Gräfin zu Solms unter Mitarbeit von Irmgard Foerster (Hg.), Max Graf zu Solms, a.a.O., 255 f.

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teilnehmende Beobachtung als Erkenntnismittel für Prozesse kollektiver Bejahung und moralischen Verhaltens hin. Schließlich wird nach Erkenntnis und Ursachen sozialer Pathologien gefragt. Es wird unterschieden zwischen sozialen Ursachen und Bedingungen für moralisches oder unmoralisches Verhalten, die in den Verbundenheiten, als deren Bestandteil es auftritt, selber liegen und solchen, die in anderen Verbundenheiten begründet sind. Die ältere der beiden Tönnies-Töchter Franziska hat die Momente festgehalten, in denen Ferdinand Tönnies sich an der Festschrift erfreuen konnte: „Am Dienstag hatte Papa dann noch eine große Freude: der Verleger Buske schickte mit Eilboten – denn er wusste wie es stand – die Festschrift, die zum 80. Geburtstag geplant war und an deren wirkliches Erscheinen wir trotz Korrekturen doch immer noch nicht recht zu glauben wagten. Ja, die Festschrift also kam und Papa hat sie noch in vollem Bewusstsein und mit großer Freude empfangen. Immer wieder bat er mich, ihm das Buch zu geben, ihm daraus vorzulesen und mehrfach musste ich es irgendwo aus den Decken herauswühlen, weil es ihm dann vor Schwäche oder im Schlaf, der ihn fortwährend übermannte, aus der Hand gefallen war“.34 Am Gründonnerstag den 9. April 1936 um 8 Uhr morgens ist Ferdinand Tönnies gestorben. Für Ernst Jurkat und natürlich auch für den Verleger Hans Buske war es kein geringes Risiko, sich mit Arbeiten von oder über den von den NSMachthabern verfemten Ferdinand Tönnies zu beschäftigen. Darüber hinaus waren in der Festschrift Autoren wie z. B. Franz Boas vertreten, der als eindeutiger Regimegegner galt. Der deutschstämmige US-amerikanische Ethnologe und Geograph Boas, der für die Festschrift einen Text über „Die Individualität primitiver Kulturen“ geschrieben hatte, stammte aus einer Familie mit langer jüdischer Glaubenstradition. Schon vor der Machtergreifung sprach er sich entschieden gegen Rassismus aus. Zwei Monate danach, am 27. März 1933 protestierte er in einem offenen Brief an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg gegen den Antisemitismus der Nationalsozialisten. Tönnies hatte ihm daraufhin eine Solidaritätsbekun-

34 Franziska Tönnies-Heberle in einem Brief an ihre Geschwister vom April 1936. Tönnies-

Nachlass der Landesbibliothek Kiel, Cb54.18:1.01 – 5.04.

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dung zugesandt.35 Tönnies hatte u. a. geschrieben: „Ihr Ansehen als Gelehrter steht völlig fest und kann durch die traurigen Umstände nicht vermindert werden.“ Ernst Jurkat, der an der Beerdigung von Ferdinand Tönnies am 14. April 1936 auf dem Kieler Eichhof teilgenommen hatte (siehe Kondolenzbuch abgedruckt in der Tönnies-Biographie von 2013) war 1935 Vater eines Sohnes (Peter) geworden und veröffentlichte neben seiner Tätigkeit bei der VBKI Artikel in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik.36 Aber auch seine aktive Beteiligung am Widerstand gegen die Nationalsozialisten hatte Jurkat nicht eingestellt. Dieser Widerstand fand insbesondere seinen Ausdruck in der Mitarbeit der 1936 gegründeten „Deutschen Volksfront“. Die Deutsche Volksfront, auch „Zehn-Punkte-Gruppe“ genannt, wurde unter anderem von dem ehemaligen USPD-Mitglied, Buchhändler und Gewerkschafter Otto Brass und dem ehemaligen Ministerialdirektor des Thüringischen Innenministeriums und SPD-Mitglied Dr. Hermann Brill gegründet. Die zehn Punkte entstanden als Gemeinschaftsarbeit von Hermann Brill, Otto Brass, Oskar Debus und Franz Petrich, die den Kern einer als „Deutsche Volksfront“ firmierenden sozialistischen Oppositionsgruppe bildeten. Diese Bezeichnung war allerdings mehr Programm als Realität. Den Initiatoren der Gruppe, den beiden ehemaligen Reichstagsabgeordneten Hermann Brill und Otto Brass, schwebte nach der Zerschlagung der linkssozialistischen Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“ durch die Gestapo vor, die liberalen demokratischen, sozialistischen und kommunistischen Gruppen Deutschlands nach dem Vorbild Frankreichs und Spaniens in einer „Volksfront“ zusammenzuschließen und damit eine Basis zum Sturz des Hitlerregimes zu schaffen. Der britisch-amerikanische Schriftsteller Christopher Isherwood, der u. a. durch seine „Berlin Stories“37 bekannt wurde, schrieb über Ernst Jurkat:

35 Uwe Carstens, Franz Boas „Offener Brief“ an Paul von Hindenburg, in: Tönnies-Forum 2/

2007, S. 70-75.

36 So z. B. „Demodynamik: Bemerkungen zu dem gleichnamigen Buche von Mächler“ und

„Die soziale Verbundenheit und ihre Gestaltungen“.

37 Die „Berlin Stories“ bestehen aus zwei kurzen Romanen von Christopher Isherwood:

„Goodbye to Berlin“ und „Mr. Norris Changes Trains“. Die „Berlin Stories“ wurden vom „TIME Magazine“ 2010 zu den 100 besten englischsprachigen Romanen des 20. Jh. (von 1923, dem Gründungsjahr des Magazins an) gewählt. Die Figur der „Sally Bowles“ ist die

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“Ernst Jurkat was another non-Jewish refugee. A pale, fairhaired, bespectacled little shrimp of a man with a big adam’s apple, quite young. When you looked at him more closely, you saw that he was muscular and tough. He had bad teeth, no chin, a long nose and immense boyish charm. His grey eyes behind his glasses were courageous and serene. He was an expert on statistics, and had worked in Berlin at a government institute which dealt with trade and economics. When the Nazis took over, Ernst stayed at his job. But at night he went home and printed pamphlets, inciting the nation to revolt against Hitler. The penalty for this kind of illegal work was to be beheaded, facing up towards the axe. Ernst lasted quite a long time – until shortly before the outbreak of war. One day, while he was at his office, his wife called him on the phone and gave him the prearranged signal. The Gestapo were watching his home. Ernst always carried his passport in his pocket, so there was nothing to take with him but his hat. He got out of Berlin by tram, found his way down to the Swiss frontier and dodged over the line in the twilight, when the guards can’t see so well to shoot and the searchlights don’t help much. The Nazi consulate at Bern hadn’t been advised of his escape, and he was able to walk boldly in and get money and permits to go to France. In Paris, he offered his services to the Second Bureau, on condition that they smuggle his wife out of Germany to join him. This the French did. During the war, he had fought in the French army. He was now badly worried about his wife and child, who were still interned in France. The wife was Jewish.”38 Ob Ernst Jurkat, der spätestens ab 1936 von der Gestapo observiert wurde, wegen einer besonderen Aktion verhaftet werden sollte oder als Mitglied der „Deutschen Volksfront“, deren Mitglieder 1938 beinahe vollständig inhaftiert wurden, lässt sich bestenfalls vermuten.39 wohl bekannteste Figur aus den „Berliner Geschichten“. Verfilmt wurden die Geschichten 1972 in dem Musikfilm „Cabaret“ mit Liza Minnelli, Michael York und Joel Grey. 38 Christopher Isherwood, Diaries, Volume One: 1939 – 1960, edited and introduced by Katherine Bucknell, London 1996, S. 190 f. Der Bericht ist glaubwürdig, da ihn Isherwood unmittelbar von Jurkat gehört und in sein Tagebuch geschrieben haben muss. 39 Am 21. September 1938 wurde Brill verhaftet; am 29. Juli 1939 wurden er und Brass vom Volksgerichtshof zu je zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Bis Ende 1943 war Brill im Zuchthaus Brandenburg-Görden inhaftiert, anschließend im KZ Buchenwald. Dort entwickelte er in Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen, kommunistischen und christlichen Häftlingen programmatische Grundlagen für eine Nachkriegspolitik. Unmittelbar

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Im Holocaust Memorial Center in Michigan in dem u. a. Dokumente des „Reichssicherheitshauptamts“ zu finden sind, gibt es bei den RSHA-Akten folgenden Eintrag: „Category 1.2.5.1 – Allgemeines, politische Organisationen [Miscellaneous, Political Organizations] Fiche Page Date Description Translation R58/453/ 83 1937–1939 Zehnpunktgruppe (Dr. Jurkat).“ Damit ist nachgewiesen, dass Ernst Jurkat in der Prinz-Albrecht-Straße 8 aktenkundig und damit im höchsten Maße gefährdet war. Seine Flucht via Schweiz nach Frankreich geschah im letzten Moment. Da Ernst Jurkat seit den Berliner Jahren wichtige Unterlagen stets bei sich trug, u. a. Manuskripte von Ferdinand Tönnies, war die Gefahr groß, dass diese bei einer eventuellen Festnahme in die Hände der Gestapo fallen könnten. Jurkat übergab sämtliche Unterlagen an das politische Zentrum der Volksfront, das sich in Moskau befand und dort wurden sie zunächst aufbewahrt, verschwanden aber mit dem Ende der „Deutschen Volksfront“ und waren nicht mehr auffindbar. Ernst Jurkat bemühte sich verzweifelt, seine Frau und seinen Sohn ebenfalls nach Frankreich zu holen. Aber der Krieg machte dieses Unterfangen zu nichte. Zwar gelang es Dorothy und Peter Jurkat nach Dünkirchen zu kommen, aber durch den Westfeldzug ab Mai 1940 und der Niederlage Frankreichs am 22. Juni 1940 (Waffenstillstand von Compiègne) kam eine Familienzusammenführung nicht zustande, weil sich Jurkat in die sogenannte „unbesetzte Zone“ Frankreichs (Régime de Vichy) abgesetzt hatte und somit keinerlei Kontakt zu seiner Familie aufnehmen konnte. Trotzdem musste Ernst Jurkat, der zwar in der französischen Armee gedient aber an keiner Kampfhandlung teilgenommen hatte, täglich mit seiner Verhaftung rechnen. Es lag darum nahe, Frankreich, in dem keiner der vor dem HitlerRegime geflüchteten Deutschen mehr sicher war, zu verlassen. Das Ziel konnten nur die USA sein, aber das war leichter gesagt als getan. Jurkat wandte sich an das „Emergency Rescue Committee“ (ERC), das eine der nach der Befreiung verfasste Brill mit seinen Freunden das „Buchenwalder Manifest“. Im Juni 1945 wurde er Regierungspräsident in Thüringen, allerdings bald von der sowjetischen Besatzungsmacht im September 1945 abgesetzt. Von 1946 bis 1949 war Hermann Brill Staatssekretär und Chef der hessischen Staatskanzlei, zwischen 1949 und 1953 Mitglied des Bundestages für die SPD, danach Hochschullehrer in Frankfurt am Main und Speyer. Hermann Brill starb 1959 in Wiesbaden.

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Hilfsorganisationen für deutsche und österreichische Flüchtlinge in Frankreich in der Zeit von 1940 bis 1942 war. Über diese Organisation versuchte Jurkat nun für sich, seine Frau und deren Mutter und seinen Sohn Visa für die USA zu erhalten. Allerdings bekam nur der ein Einreisevisum, der nachweisen konnte, dass sowohl die Passage als auch der übrige Unterhalt bestritten werden konnte. Das ERC forderte Jurkat auf, Bürgen in den USA zu benennen, die dieses gewährleisten könnten. Jurkat reichte eine Liste mit acht Namen ein, die ausgesprochen interessant ist: • Dr. Gerhard Colm, ein deutsch-amerikanischer Volkswirt und Finanzwissenschaftler, der am Institut für Weltwirtschaft von 1927 bis 1933 auch mit Jurkat gearbeitet hatte. Er trug zudem zur Festschrift für den achtzigsten Geburtstag von Ferdinand Tönnies mit dem Text „Probleme der Finanzsoziologie“ bei. Als Berater des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman wirkte er am „Colm-Dodge-Goldsmith-Plan“ für die Währungsreform von 1948 im Nachkriegsdeutschland mit.40 • Dr. Fritz Levy, Pathologe und Schwager von Ernst Jurkat. Dr. Levy war mit einer Schwester von Jurkats Frau verheiratet. • Prof. Rudolf Heberle, der Schwiegersohn von Ferdinand Tönnies, der an der Louisiana University in Baton Rouge lehrte. Nach einer Mitgliedschaft der „Rockefeller-Stiftung“ (1926–1929) unterrichtete Heberle fast ein Jahrzehnt lang an der CAU in Kiel (1929–1938). Er heiratete 1923 die Tochter von Ferdinand Tönnies. Franziska Tönnies-Heberle war als Sozialpädagogin ausgebildet worden. Dr. Heberle emigrierte 1938 mit seiner Familie in die USA. • Dr. Paul Hertz, ein SPD-Politiker, der Anfang Mai 1933 zusammen mit Otto Wels, Erich Ollenhauer und einigen anderen SPD-Parteivorstandsmitgliedern mit der Errichtung einer Auslandsstelle beauftragt worden war. Ende 1939 konnte Paul Hertz zusammen mit seiner Frau Hanna und ihren beiden Kindern – sie alle waren von den Nazis längst ausgebürgert und enteignet – in die USA entkommen. Von 1955 bis zu seinem Tod 1961 war Hertz in der Westberliner-Regierung unter Willy Brandt Wirtschaftsminister. • Dr. Gerrit Tönnies, Tönnies’ ältester Sohn, der als Chemiker in Philadelphia lebte. 40 Sowohl Gerhard Colm als auch Rudolf Heberle hatten an der Tönnies-Festschrift mitge-

wirkt.

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• Dr. Dr. Jan Friedrich Tönnies, der zu dieser Zeit als Techniker in den USA lebte. • Prof. Paul Hermberg, ein Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, der 1940 in die USA gelangte und als staatlich angestellter Volkswirt bei der Entwicklung des Marshallplanes beschäftigt war. 1946 kehrte er als Angestellter der Abteilung für Handel und Industrie der amerikanischen Militärverwaltung nach Deutschland zurück. Auch Paul Hermberg hatte zur Tönnies-Festschrift einen Beitrag geleistet („Über das Rechnen mit Erscheinungen“). • Hedwig Wachenheim, eine engagierte Sozialpolitikerin, die 1933 zunächst nach Frankreich und 1935 in die USA emigriert war. Insbesondere Rudolf Heberle setzte sich für Ernst Jurkat bei der ERC ein. Aber auch seine Frau Franziska, die ältere der beiden Tönnies’ Töchter wurde aktiv. Sie schrieb einen Brief an den bereits erwähnten Franz Boas, der inzwischen in die USA emigriert war. Da Boas ebenfalls bei der Tönnies’ Festschrift mitgewirkt hatte, war ihm Jurkat bestens bekannt. Die Bedingungen für Jurkats Einreise in die USA konnten so restlos erfüllt werden und am 6. Mai 1941 verließ Jurkat Marseille Richtung Amerika. Allerdings hatte er keinen Kontakt zu seiner Familie aufnehmen können, die drei Wochen nach Jurkats Abreise ebenfalls nach Marseille gelangte. Das Schicksal wollte es, dass noch weitere fünf Jahre vergehen sollten, bis die Familie Jurkat wieder zusammen war. Als das Dampfschiff „Winnipeg“ am 6. Mai mit 750 Passagieren (davon waren ca. 300 deutsche und österreichische Emigranten) an Bord Marseille verließ, war die Atmosphäre sehr angespannt. Varian Fry, ein amerikanischer Journalist und Freiheitskämpfer, der in Marseille ein Rettungsnetzwerk für von den Nazis bedrohte Personen aufgebaut hatte, das die Flucht von etwa 2.000 Menschen ermöglichte, war ebenfalls gekommen. Es sollten dies die letzten Emigranten sein, die Fry verabschieden konnte. Im Dezember 1940 war er schon einmal inhaftiert worden, wurde aber überraschenderweise wieder entlassen. Nach 13 Monaten Arbeit in Marseille wurde er im August 1941 durch einen Hinweis der US-Botschaft endgültig von der französischen Polizei festgenommen und in die USA abgeschoben.41 Mit Jurkat waren u. a. Lothar Popp, ein deutscher Revolutionär und Führer des Kieler Matrosenaufstands, Wilhelm Herzog, ein Literatur- und Kulturhistoriker, Erhardt Konopka, ein Hitler-Gegner mit Verbindungen 41 Varian Fry, Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille

1940/41, New York 1945.

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zum französischen Untergrund und Eduard Fendler ein berühmter Dirigent an Bord. Zu den politischen Flüchtlingen auf der „Winnipeg“ zählten auch die Frauen von Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding, zwei langjährige Gegner der Nationalsozialisten.42 Die Winnipeg hatte zwei Touren mit Spanienkämpfern nach Südamerika gemacht, eine geplante dritte Tour konnte nicht mehr stattfinden, weil die Nordküste blockiert wurde. Die Organisation von Eleanor Roosevelt nutzte dann das Schiff um Verfolgte aus Deutschland herauszuschaffen. Durch einen ihm bekannten Matrosen konnte Lothar Popp einen Tag vor dem Auslaufen an Bord geschmuggelt werden. Allerdings wurde Rudolf Breitscheid verhaftet, bevor er an Bord gelangte und später an die Nazis ausgeliefert.43 Die Winnipeg kam aber nicht in Martinique an sondern wurde von einem britischen Kriegsschiff aufgebracht und nach Trinidad geleitet. Dort wurden die Emigranten in ein Lager gesperrt. Nach einiger Zeit durften jedoch jene, die US-Visa besaßen, ihre Reise fortsetzen. Ernst Jurkat betrat am 13. Juni 1941 nach 39 Tagen amerikanischen Boden. Er war jetzt ein freier Mann, aber seine Sorge galt seiner Familie, die noch in Frankreich war. Auf Empfehlung des „Jewish Labor Committee“ (JLC) kam Ernst Jurkat zum „American Friends Service Committee“ (AFSC). Das AFSC wurde während des Ersten Weltkriegs 1917 gegründet. Seine Mitglieder sind 42 Der in Österreich geborene Rudolf Hilferding war sozialdemokratischer Politiker in

Deutschland und marxistischer Theoretiker (Staatsmonopolistischer Kapitalismus). Er hatte 1904 Margarete geb. Hönigsberg geheiratet und nach der Scheidung 1922 Rose Lanyi. Breitscheid war in 2. Ehe mit Tony Drevermann verheiratet. Margarete war an Bord der Winnipeg und wurde wie Tony verhaftet. 43 Breitscheid war nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Frankreich emigriert. Nachdem ihm im Herbst 1940 unter der deutschen Besetzung von den französischen Behörden Arles als Zwangswohnsitz zugewiesen worden war, wurde er dort von französischen Anhängern des Vichy-Regimes verraten, verhaftet, nach Vichy gebracht und der Gestapo ausgeliefert. Seine Frau, Tony, geb. Drevermann, die die Winnipeg verlassen musste, wurde ebenfalls an die Gestapo ausgeliefert. Beide kamen in das KZ Buchenwald. Im August 1944 starb Breitscheid bei einem alliierten Fliegerangriff auf das Konzentrationslager. Seine Frau überlebte mit schweren Brandwunden. Tony Breitscheid lebte nach dem Krieg in Dänemark, in der Nähe von Kopenhagen in Hellerup. Rudolf Hilferding war in Marseille von den französischen Behörden verhaftet und am 9. Februar 1941 an die Gestapo ausgeliefert worden. Zwei Tage später starb er unter ungeklärten Umständen im Pariser Gestapo-Gefängnis, nachdem er schon auf dem Weg dorthin schwerer Folter ausgesetzt war. Seine erste Frau Margarete, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und im selben Jahr in Treblinka ermordet.

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Quäker, die aus Glaubensgründen den Wehrdienst verweigern. Das AFSC organisierte zivile Friedensdienste. Dabei konzentrierten sie sich auf medizinische Versorgung und die Verteilung von Lebensmitteln und Kleidung. Hierbei machten sie keinen Unterschied zwischen Siegern und Besiegten. Auch oder gerade nach Ende des Ersten Weltkriegs sorgten sie für das Überleben von vielen Kindern in Deutschland.44 Damit wurde Haverford Hostel in Pennsylvania, dem von William Penn gegründeten Bundesstaat im Osten der Vereinigten Staaten von Amerika und einer ihrer dreizehn Gründerstaaten die neue Heimat für Ernst Jurkat. Mit der Hilfe des ERC war es Jurkat gelungen, Kontakt zu seiner Familie in Marseille herzustellen. Nach der Kriegserklärung Deutschlands und Italiens an die Vereinigten Staaten am 11. Dezember 1941 war an eine Einreise der Familie, die inzwischen wieder in der Schweiz war, in die USA nicht zu denken. Jurkat, der beim AFSC arbeitete, schickte seiner Familie Geld – zumeist über den AFSC. Im November 1944 erkrankte Jurkats Schwiegermutter und verstarb im Juni 1945. Erst im November 1945 gelang es Jurkat, für seine Frau und seinen Sohn Visa für die USA zu bekommen. Dorothy und Peter Jurkat verließen Luzern am 23. Januar 1946. Aber erst am 4. Februar gelang es ihnen von Antwerpen aus mit dem Dampfer „Edward Steppard“ eine Passage nach Boston zu bekommen. Nach einer stürmischen Überfahrt konnte das Schiff am 24. Februar 1946 am Boston Dock im Bundesstaat Massachusetts festmachen. Natürlich war Ernst Jurkat bei der Ankunft seiner Familie dabei und voller Dankbarkeit schrieb er am folgenden Tag an die Organisationen, die diese Familienzusammenführung möglich gemacht hatten: „My wife and son arrived in good condition, healthy and happy. I suppose my wife will 44 Das „Hilfskomitee der Freunde“ wandte sich nach dem Ende des Krieges an Herbert Ho-

over, den späteren US-Präsidenten und damaligen Direktor der American Relief Administration, mit der Bitte um Zuweisung einer Aufgabe in Europa. Er übertrug ihnen für Deutschland die Organisation des zur A.R.A. gehörenden Kinderhilfswerks. Hoover schickte ihnen Fachleute, die wussten, wie man eine derartige Aktion zu Wege bringt, und führte einen Kontakt zwischen den Quäkern und der deutschen Regierung herbei. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der AFSC das zweite Mal in ein vom Krieg zerstörten Deutschland, um erneut zunächst tausende Kinder vor dem Verhungern und Erfrieren zu bewahren. Diese beiden Hilfeleistungen blieben über Jahrzehnte im kollektiven Gedächtnis der Deutschen und wurden zu dem stehenden Begriff „Quäkerspeisung“. 1947 wurde dem AFSC gemeinsam mit der britischen Quäkerorganisation Quaker Peace and Social Witness, stellvertretend für die unermüdlichen Bemühungen verschiedenster organisierter und nicht organisierter Quäker, der Friedensnobelpreis verliehen.

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write you herself as soon as she gets to letter writing. She is full of praise and thankfulness as to the splendid job your people abroad did in her case.“45 Die Jurkats ließen sich in Haverford, Pennsylvania nieder. Und schon bald darauf überwies Jurkat die ersten 10 Dollar an das „International Relief and Rescue Committee“ (IRRC46), das die Überfahrt bezahlt hatte. Bereits ein Jahr später trat die Familie Jurkat in die Glaubensfamilie der Quäker ein (Religious Society of Friends at Haverford) und blieben es Zeit ihres Lebens. Zwar wechselte Jurkat zeitweilig die berufliche Tätigkeit und nahm den damit verbundenen Ortswechsel in Kauf, aber insgesamt blieb man dem Staat Pennsylvania treu. Als 1980 die Quäker in Newtown, einer kleine Stadt ca. 45 Minuten von Philadelphia und 90 Minuten von New York entfernt, eine Altersresidenz „Pennswood Village“ errichteten, gehörten die Jurkats zu den ersten Bewohnern der Residenz. Ernst Jurkat starb am 2. Mai 1994 mit 88 Jahren, vier Jahre nach seiner Frau Dorothy, die am 30. April 1990 verstorben war. Beerdigt wurden sie auf den „Newton Friends Meeting House Grounds“. Die vor langer Zeit an Moskau übergebenen Manuskripte und sonstigen Unterlagen hat Ernst Jurkat trotz mehrfacher Nachfrage nicht wieder zu Gesicht bekommen. Sie gelten als verschollen. Das war der Stand bis zum Jahre 2005. Als wir aus Anlass des 150. Geburtstages von Ferdinand Tönnies eine Tönnies Biographie veröffentlichen wollten, begannen wir parallel dazu die Suche nach dem verschollenen Manuskript. Da der Ausgangspunkt der Suche durch die Jurkat-Postkarte an Tönnies festgelegt war, konnte nur die Person Ernst Jurkat zum Ziel führen. Wir begannen uns intensiv mit Jurkat auseinanderzusetzen. Bereits der erste Schritt war überraschend genug: Ernst Jurkat hatte in den 30er Jahren aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gekämpft und musste aus Deutschland fliehen. Dass sich Jurkat der „Deutschen Volksfront“ von Hermann Brill und Otto Brass angeschlossen hatte, war allerdings für einen ehemaligen Schüler von Ferdinand Tönnies nicht überraschend. Überraschend war aber, dass Jurkat sämtliche Unterlagen und Manuskripte, die er seit 1935 bei sich hatte, in 45 Bension Varon, The Promise of the Present and the Shadow of the Past. The Journey of

Barbara Frass Varon, USA 2011, S. 219.

46 Das IRRC war auf Vorschlag von Albert Einstein 1933 gegründet worden. Wie das

Emergency Rescue Committee (ERC) von Varian Fry. Mehr als 2.000 Emigranten, die in „Vichy-Frankreich“ in der Falle saßen, (insbesondere aus Deutschland), konnten durch die Committees gerettet werden.

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Moskau, dem politischen Zentrum der Volksfront, deponiert hatte. Zwar rettete er damit die Dokumente, konnte aber nicht ahnen, dass nach 1945 ein Wiedererlangen unmöglich war. Der bereits von der Gestapo observierte Jurkat musste 1938 aus Deutschland fliehen und emigrierte schließlich nach langer Irrfahrt mit seiner Familie in die USA. Ob sich der „Jurkat Nachlass“ bis 1945 überhaupt in dem durch die deutsche Wehrmacht bedrohten Moskau befand, lässt sich nicht mehr ermitteln, jedenfalls landeten alle requirierten Bestände in einem „Archiv“ in Moskau. Das Archiv unterstand dem NKWD (später KGB). Es war zunächst nur Mitarbeitern des Geheimdienstes sowie der Staatsanwaltschaft bekannt und zugänglich. Offiziell unterstützte das Archiv sowjetische Behörden bei der Auffindung und Verurteilung von Kriegsverbrechern. Zugleich diente es aber auch der Geheimdienstarbeit im Ausland und der Suche nach „Volksfeinden“ und „Verrätern“. Im Februar 1989 erfuhr die Öffentlichkeit erstmals durch einen Artikel der sowjetischen Tageszeitung Iswestija (Nachrichten) von der Existenz des Archivs. 1992 folgte seine vollständige und dauerhafte Öffnung. Im selben Jahr erhielt es den neuen Namen „Zentrum zur Aufbewahrung historisch-dokumentarischer Sammlungen“. Heute ist das Archiv eine staatliche russische Institution zur Aufbewahrung von Dokumenten nichtrussischer, vor allem deutscher Herkunft („Beuteakten“) in Moskau. Sie war ursprünglich selbständig und ist heute dem Russischen Staatlichen Militärarchiv (RGWA) zugeordnet, hat allerdings weiterhin einen autonomen Status mit eigener Adresse, eigenem Gebäude, eigenem Personal, eigenen Beständen und eigenen Zugangsregeln. Als wir 2005 nach intensiver Recherche von diesem Archiv erfuhren, war an eine Kontaktaufnahme noch nicht zu denken.47 Sämtliche Versuche schlugen fehl und erst durch einen Mittelsmann, der „vor Ort“ suchte, gelang es, an ein „Findbuch“ zu kommen. Und siehe da: unter der Nummer 669/4/1 befand sich ein „Nachlaß Ernst Jurkat, Soziologe“. Das war für lange Zeit erst mal alles. Was sich im Nachlass verbarg, blieb zunächst ein Geheimnis. Aber steter Tropfen höhlt den Stein: Es gelang eine Aufzählung der Dokumente zu bekommen. Die Enttäuschung war groß: Kein Manuskript vom GdN Teil II. Über die Jahre war die Kommunikation mit dem Archiv erheblich verbessert worden: Man antwortete! So gingen zwar wieder Jahre ins Land, 47 Heute kann man bequem via Internet mit dem Archiv Kontakt aufnehmen und auch Jurkat

findet man heute dort ohne Schwierigkeiten. Das war vor wenigen Jahren noch unmöglich.

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aber schließlich kam die Nachricht, dass Teile des Jurkat-Nachlasses bereits in den 50er Jahren an das „Zentrale Staatsarchiv“ der DDR in Potsdam gegangen waren. Das Zentralarchiv wurde am 1. Juni 1946 als „Zentralarchiv in der Sowjetischen Besatzungszone“ gegründet. Bezüglich der Bestände trat es damit die Nachfolge des ehemaligen „Reichsarchivs Potsdam“ und des „Preußischen Geheimen Staatsarchivs“ an. Es sammelte zunächst die Akten der aufgelösten zentralen Reichsbehörden, der archivreifen Bestände der Sowjetischen Besatzungszone aus den unterschiedlichen Auslagerungsorten ein. Das DZA war zuständig für die auf dem Gebiet der DDR gebildeten zentralen Organe und Einrichtungen des Staatsapparates, die wirtschaftsleitenden Organe sowie für die zentralen Organe und Einrichtungen des ehemaligen Deutschen Reiches, des ehemaligen Staates Preußen und für die zentralen Organe und Einrichtungen der Wirtschaft vor 1945. Da im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands die Eingliederung der zentralen Archive der DDR (Zentrales Staatsarchiv, Militärarchiv in Potsdam und Staatliches Filmarchiv in Berlin) in das Bundesarchiv übernommen worden waren, musste also dort gesucht werden – von Kiel aus nicht ganz leicht, weil die Bestände sehr umfangreich sind. Wieder hakte zunächst die Kommunikation, bis endlich Ende 2012 eine Mail kam: „Der Jurkat Nachlass liegt hier“. Das besagte zunächst aber noch gar nichts, jetzt glühten allerdings die Drähte. Die entscheidende Nachricht kam am 11. Juli 2013: „Sehr geehrter Herr Dr. Carstens, das gesuchte Manuskript von Ferdinand Tönnies „Geist der Neuzeit“ liegt hier im Nachlass Ernst Jurkat.“ Um sicher zu gehen, dass es sich um den verschollenen Teil II handelt, baten wir den Archivmitarbeiter, die erste Seite des Manuskriptes als Fotokopie an uns zu schicken. Wenige Wochen später lag diese Seite vor und die Enttäuschung war groß! Das Manuskript begann mit den Worten: „Das Wort ist beinahe nichtssagend, jedes Zeitalter ist für sich selber ein neues […]“. Das war natürlich das Manuskript des bereits 1935 veröffentlichten Teil I vom GdN. Auch weitere Manuskriptseiten bestätigten diesen Sachverhalt. Damit schien die Suche am Ende zu sein. Wir fuhren jetzt selbst nach Berlin und blätterten Seite für Seite des bereitgelegten Manuskriptes durch. Nahezu jede Seite war bedeckt mit Korrekturen von Tönnies, ja, ganze Seiten waren durchgestrichen und mit neuem Text in der kleinen aber markanten Handschrift von Tönnies ver-

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sehen – und dann war es schnell klar, hier liegt nicht nur GdN Teil II, sondern hier liegen auch die Teile III und IV. Ein Teil der Manuskriptseiten sind in der Handschrift von Ernst Jurkat abgefasst (am Rand steht: geschrieben von Ernst Jurkat, von Tönnies diktiert), jedoch nahezu alle Seiten weisen Korrekturen und Erweiterungen in der Handschrift Tönnies’ auf. Das Zusammensetzen des Manuskriptes zu einem Buch gestaltete sich dann auch als äußerst schwierig. Nicht nur weil ganze Seiten und damit die „Anschlüsse“ fehlen, sondern auch, weil die Vorarbeiten zur Veröffentlichung offensichtlich noch nicht weit gediehen waren und damit die Chronologie nicht immer logisch ist – schon gar nicht anhand der Paginierung durch das Archiv. Da es sich aber um „unbekannte Tönnies-Texte“ handelt und eine komplette Herausgabe nur durch die Zeitumstände verhindert worden war, haben sich die Gesamtherausgeber und der Verlag zur Veröffentlichung der Schrift entschlossen. Mit diesem Teil vom GdN rundet sich trotz der fehlenden Seiten das Gesamtwerk, das von Ferdinand Tönnies immer als Ergänzung zu „Gemeinschaft und Gesellschaft“ verstanden wurde.

Bibliographie Die Namen folgen einander alphabetisch, ungeachtet der Adelsprädikate. Diakritische Zeichen sind dabei außer Acht gelassen worden. Ligaturen werden aufgelöst. Abkürzungen siehe S. VII. Bahnsen, Julius, 1880/1882: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Berlin und Leipzig. Baur, Ferdinand Christian, 1862: Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. Tübingen. Bayle, Pierre, 1697: Dictionnaire historique et critique. Rotterdam. Bernstein, Eduard (Hg.), 1919: Ferdinand Lasalle. Gesammelte Reden und Schriften. 2. Bd. Die Verfassungsreden. Berlin. Bibel [1912]: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Revidierte Fassung der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Berlin. Bickel, Cornelius, 1991: Ferdinand Tönnies. Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus. Opladen. Freiherr von Bissing, Wilhelm Moritz, 1930: Der Realkredit der deutschen Landwirtschaft. Berlin. Bluntschli, Johann Caspar, 1857: Allgemeines Staatsrecht. 1. Bd. 2. Auflage. München. Bluntschli, Johann Caspar, 1862: Deutsches Staatswörterbuch. 7. Bd. Stuttgart und Leipzig. Bramstedt, Paul, 1911: Statistik der Industriewirtschaft. In: Friedrich Zahn (Hg.). Die Statistik in Deutschland nach ihrem heutigen Stand. München und Berlin. Bryce, James, 1864: The Holy Roman Empire. Oxford. Bucknell, Katherine (Hg.), 1996: Christopher Isherwood. Diaries. Volume One: 1939 – 1960. London. Carstens, Uwe, 2007: Franz Boas „Offener Brief“ an Paul von Hindenburg. In Heft 2/2007 Tönnies-Forum. Kiel. Carstens, Uwe, 2013: Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger. Eine Biographie. Zweite erweiterte Auflage. Bredstedt.

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Carstens, Uwe, 2013: „Das Freie Wort“ vom 19. Februar 1933 im Spiegel der Presse. In Heft 1/2013 Tönnies-Forum. Kiel. Cicero, Tullius, 1868: De Oratore. Reinhold Klotz (Hg.). Leipzig. Cicero, Tullius, 1893: Briefe an Atticus. Dreizehnter Brief. Otto Eduard Schmidt (Hg.). Leipzig. Dante, Alighieri, 1876: La Divina Commedia, übersetzt von Karl Streckfuß, neu hgg. von Rudolf Pfleiderer. Leipzig. Delbrück, Berthold, 1901: Grundfragen der Sprachforschung. Straßburg. Dilthey, Wilhelm, 1911: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den Metaphysischen Systemen. In M. Frischeisen-Köhler (Hg.). Weltanschauung, Philosophie und Religion. Berlin. Dove, Richard Wilhelm, 1861 – 1880: Geistliche Orden. In Zeitschrift für Kirchenrecht. Tübingen. Duden, 1996: Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich. Fechner, Rolf, 1992: Ferdinand Tönnies. Werkverzeichnis. Berlin/New York. Fechner, Rolf (Hg.), 2010: Ferdinand Tönnies. Geist der Neuzeit. München. Feuerbach, Ludwig, 1924: Pierre Bayle. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Menschheit. Leipzig. Gibbon, Edward, 1776: History of the Decline and Fall of the Roman Empire. 1. Bd. London. Gibbon, Edward, 1781: History of the Decline and Fall of the Roman Empire. 2.–3. Bd. London. Gibbon, Edward, 1788: History of the Decline and Fall of the Roman Empire. 4.–6. Bd. London. Gibbon, Edward, 1854 – 1855: History of the Decline and Fall of the Roman Empire. 8. Bd. William Smith (Hg.). London. von Gierke, Otto, 1868: Das deutsche Genossenschaftsrecht. 1. Bd. Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. Berlin. von Gierke, Otto, 1873: Das deutsche Genossenschaftsrecht. 2. Bd. Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs. Berlin. von Goethe, Johann Wolfgang, 1887: Faust. Der Tragödie Erster Theil. S. 25-212, in Goethes Werke. Hgg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abteilung, 14. Bd. Weimar.

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Apparat

Jurkat, Ernst, 1931: Die soziologische Fragestellung in der Werttheorie und die Theorie der sozialen Werte. [Dissertation von Ernst Jurkat.] Kiel. Jurkat, Ernst (Redaktion), 1936: Reine und Angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstage am 26. Juli 1935, dargebracht von [Gerhard] Albrecht, [Franz] Boas, [Werner] Bohnstedt, [Ewald] Bosse, [Else] Brenke, [Cay] Baron v. Brockdorff, [Gerhard] Colm, [Adolf] Günther, [Bernhard] Harms, [Rudolf] Heberle, [Paul] Hermberg, [Georg] Jahn, [Ernst] Jurkat, [Panajotis] Kanellopoulos, [Karl] Löwith, [Friedrich] Meinecke, [Alfredo] Niceforo, [Charlotte] v. Reichenau, [Herman] Schmalenbach, [William Ritchie] Sorley, [Pitirim A.] Sorokin, [Sebaldus Rudolf] Steinmetz, [Hans Ludwig] Stoltenberg, [Yusama] Takata, [Richard Chr.] Thurnwald, [Wolfgang] Wernicke, [Leopold] v. Wiese, [Robert] Wilbrandt. [Hans Buske / Verlag.] Leipzig. Keller, Ludwig, 1885: Die Reformation und die älteren Reformparteien in ihrem Zusammenhange. Leipzig. Klose, Olaf, Eduard Georg Jacoby und Irma Fischer (Hg.), 1961: Ferdinand Tönnies – Friedrich Paulsen – Briefwechsel 1876 – 1908. Kiel. Knapp, Georg Friedrich, 1887: Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens. Erster Theil. Ueberblick der Entwicklung. Leipzig. Koser, Reinhold, 1889: Die Epochen der absoluten Monarchie in der neueren Geschichte. In Historische Zeitschrift 61. München und Leipzig. Köstlin, Julius, 1883: Luther und J. Janssen, der deutsche Reformator und ein ultramontaner Historiker. Halle/Saale. Lask, Emil, 1902: Fichtes Idealismus und die Geschichte. Tübingen und Leipzig. Law, John, 1705: Money and Trade Considered – With a Proposal for Supplying the Nation with Money. Edinburgh. Lecky, William Edward Hartpole, 1873: Geschichte des Ursprungs und Einflusses der Aufklärung in Europa. Deutsch v. Jolowicz. 2. Auflage. Leipzig und Heidelberg. Lecky, William Edward Hartpole, 1879: Sittengeschichte Europas von Augustus bis auf Karl den Großen. Nach der 2. Aufl. übersetzt v. Jolowicz. 2. Bd. ineins. Leipzig und Heidelberg. Lorenz, Ottokar, 1899: Lehrbuch der wissenschaftlichen Genealogie. Berlin.

Bibliographie

241

Luther, Martin, 1520: Von der Freyheith eines Christenmenschen. Wittenberg. Lyell, Charles, 1830: Principles of Geology. Volumes 1 – 3. London. Maine, Henry Sumner, 1875: Lectures on the Early History of Institutions. London. Marx, Karl und Friedrich Engels, 1848: Das Manifest der Kommunistischen Partei. London. Marx, Karl, 1850: Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. In Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue. Hamburg. Marx, Karl, 1867: Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. 1. Bd. Hamburg. Marx, Karl, 1903: Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. 1. Bd. 5. Auflage. Hamburg. von Maurer, Georg Ludwig, 1870: Geschichte der Städteverfassung in Deutschland. 2. Bd. Erlangen. von Mayr, Georg, 1897: Statistik und Gesellschaftslehre. 2. Bd. Bevölkerungsstatistik. Freiburg i.B. Merz-Benz, Peter-Ulrich, 1995: Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies’ begriffliche Konstitution der Sozialwelt. Frankfurt am Main. Meyer, 1971 – 81: Meyers Enzyklopädisches Lexikon in 25 Bänden, Bde. 1 – 25, 26 (Nachträge), 28 (Register). 9. völlig neubearbeitete Auflage. Mannheim/Zürich/Wien. Mommsen, Theodor, 1885: Römische Geschichte. 5. Bd. Die Provinzen von Caesar bis Diocletian. Berlin. Mommsen, Theodor, 1875: Römisches Staatsrecht. Leipzig. Mühlenbruch, Christian Friedrich, 1839 – 1840: Lehrbuch des Pandektenrechts. 3. Aufl. 3 Bde. Halle. Mulert, Hermann, 1927: Konfessionskunde – christliche Kirchen und Sekten heute. Gießen. Oppenheim, Heinrich Bernhard, 1872: Kathedersozialismus. Berlin. von Ranke, Leopold, 1857: Die Osmanen und die spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert. 3. Aufl. Berlin. Cardinal duc de Richelieu, Armand-Jean du Plessis, 1764: Maximes d’État, ou Testament politique d’Armand du Plessis, Cardinal duc de Richelieu, Pair & Grand Admiral de France, Premier Ministre d’État sous le Règne de Louis XIII. du nom, Roi de France & Navarre. Paris.

242

Apparat

Röhrich, Timotheus Wilhelm, 1840: Die Gottesfreunde in: Zeitschrift für die historische Theologie. 10. Bd. Leipzig. Romanes, George John, 1897: Darwin und nach Darwin. Eine Darstellung der Darwinschen Theorie und Erörterung darwinistischer Streitfragen. III. Band. Darwinistische Streitfragen. Isolation und physiologische Auslese. Aus dem Englischen übersetzt von Dr. B. Nöldeke. Leipzig. Roscher, Wilhelm, 1847: Umrisse zur Naturlehre der drei Staatsformen. In Allgemeine Zeitschrift für Geschichte 7. Berlin. Roscher, Wilhelm, 1888: Umrisse zu einer Naturlehre des Cäsarismus. In Abhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften. 23 Bd. Leipzig. Roscher, Wilhelm, 1908: Naturgeschichte der Monarchie, Aristokratie, Demokratie. Stuttgart und Berlin. Rottenburg, Franz Johannes, 1878: Vom Begriff des Staates. 1. Bd. Leipzig. Schäffle, Albert, 1875: Bau und Leben des socialen Körpers. 1 Bd. Tübingen. von Schiller, Friedrich, 1871 [1804]: Wilhelm Tell. S. 401 ff. in Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Hgg. von Karl Goedeke. Elfter Theil. Gedichte, hgg. von Karl Goedeke. Stuttgart. Schopenhauer, Arthur, 1977: Preisschrift über die Freiheit des Willens. In Arthur Schopenhauer, Werke in zehn Bänden, 6. Bd. Zürich. von Schulze-Gaevernitz, Gerhart, 1892: Der Großbetrieb – ein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt. Eine Studie auf dem Gebiet der Baumwollindustrie. Leipzig. Sinzheimer, Ludwig, 1893: Über die Grenzen der Weiterbildung des fabrikmässigen Grossbetriebes in Deutschland. Stuttgart. zu Solms, Freda, Irmgard Förster (Hg.) 1982: Max Graf zu Solms. Ein Lebensgang. Briefe. Selbstzeugnisse. Berichte. Marburg. Sombart, Werner, 1902 [1916]: Der moderne Kapitalismus. Historischsystematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. 1. Bd. Leipzig. Sombart, Werner, 1917: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Bd. Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert. 1. Halbband. Zweite, neubearbeitete Auflage. München/Leipzig. Sombart, Werner, [1902] 1928: Der moderne Kapitalismus. Historischsystematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens

Bibliographie

243

von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. 3. Bd. Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus. 1. Halbband. Die Grundlagen – Der Aufbau. München/Leipzig. Sombart, Werner, Max Weber, u. a. (Hg.), 1921: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 47 Bd. o.O. Spencer, Herbert, 1887: Die Prinzipien der Soziologie. Nach der 3. engl. Aufl. übersetzt. 2 Bde. Stuttgart. Freiherr von Starck, Johann August, 1804: Der Triumph der Philosophie im achtzehnten Jahrhunderte. Erster Teil. o.O. de Tocqueville, Alexis, 1835: De la démocratie en Amérique. 2 Bde. Bruxelles. de Tocqueville, Alexis, 1857: Das alte Staatswesen und die Revolution. Deutsch von A. Boscowitz. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1887: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1909: Die Sitte. Frankfurt am Main. Tönnies, Ferdinand, 1922: Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1926: Das Eigentum. In Soziologie und Sozialphilosophie. Schriften der soziologischen Gesellschaft in Wien. Leipzig und Wien. Tönnies, Ferdinand, 1930: Die Lehre von den Volksversammlungen und die Urversammlung in Hobbes’ Leviathan. In Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. 89 Bd. Tönnies, Ferdinand, 1931: Einführung in die Soziologie. Stuttgart. Tönnies, Ferdinand, 1932/33: Sitte und Freiheit. In Archiv für angewandte Soziologie. Jg. 5. Berlin. Tönnies, Ferdinand, 1935: Geist der Neuzeit. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1935: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 8., verbesserte Auflage. Leipzig. Tönnies, Ferdinand, 1998: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 22. 1932 – 1936. Geist der Neuzeit. Schriften. Rezensionen. Hgg. von Lars Clausen. Berlin/New York. Tönnies, Ferdinand, 2005: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 23,2. 1919 – 1936. Nachgelassene Schriften. Hgg. von Brigitte Zander-Lüllwitz und Jürgen Zander. Berlin/New York. von Treitschke, Heinrich, 1889: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. 4. Bd. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig.

244

Apparat

Troeltsch, Ernst, 1925: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. 4. Bd. Tübingen. Troels-Lund, Troels, 1910: Himmelsbild und Weltanschauung im Wandel der Zeiten. Übersetzt von Leo Bloch. Leipzig. Varon, Bension, 2011: The Promise of the Present and the Shadow of the Past. The Journey of Barbara Frass Varon. o.O. Varon, Bension, 2013: Hoffnungsvolle Gegenwart – Schattenreiche Vergangenheit. Die Lebensreise von Barbara Frass Varon. Aus dem Englischen von Hanna Swartzendruber. o.O. Verfassung des Deutschen Reichs, 1919: Die Verfassung des Deutschen Reichs. „Weimarer Reichsverfassung“ vom 11. August 1919. Wagner, Adolph, 1876: Allgemeine oder theoretische Volkswirthschaftslehre. Erster Theil. Grundlegung. Leipzig und Heidelberg. Wagner, Moritz, 1868: Die Darwinsche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen. Leipzig. Webb, Sidney James, 1894: The economic heresies of the London County Council. A paper read before the Economic Section of the British Association for the Advancement of Science, Oxford, August 13th, 1894. Reprinted from „London,“ August 16th, 1894. London. Webb, Sidney James, 1894/95: Die Geschichte des Britischen Trade Unionismus. In der Wochenschrift „Die Neue Zeit“. Hg. E. Bernstein. Stuttgart. Weber, Alfred, 1902: Deutschland am Scheideweg. In Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. 26. Jg. 4. Heft. Leipzig. Weber, Max, 1921: Wissenschaft als Beruf. In Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 47. Bd. Wundt, Wilhelm, 1902 – 1903: Grundzüge der physiologischen Psychologie. 5. Bd. 3. Auflage. Leipzig. Ziegler, Franz, 1901: Wesen und Wert kleinindustrieller Arbeit: Gekennzeichnet in einer Darstellung der bergischen Kleineisenindustrie. Berlin.

Register der Publikationsorgane Periodika und Hand(wörter)bücher wurden berücksichtigt. Die Wörter folgen einander alphabetisch, grammatikalische Artikel wurden mit eingeordnet.

Allgemeines Statistisches Archiv [offizielles Publikationsorgan der Deutschen Statistischen Gesellschaft, Herausgeber: Dr. Georg von Mayr] 21 Allgemeine Zeitschrift für Geschichte – Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 116, 242 Archiv für angewandte Soziologie 243 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 127, 243, 244 Berliner National-Zeitung

102

Deutsches Statistisches Zentralblatt [zweites offizielles Publikationsorgan der Deutschen Statistischen Gesellschaft und des Verbandes Deutscher Städtestatistiker] 21 Die Neue Zeit 42, 244 Historische Zeitschrift 116, 240 Iswestija (Nachrichten) [Sowjetische Tageszeitung]

234

Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 226 Le Mémorial de Sainte Hélène

119

Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue

106, 241

Religion in Geschichte und Gegenwart (in den ersten drei Auflagen noch „Die Religion …“) ist ein Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft VIII, 181 Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 41, 244

246

Apparat

Soziologie und Sozialphilosophie [Schriften der soziologischen Gesellschaft in Wien] 94, 243 Tönnies-Forum VBKI Spiegel

221, 226, 237, 238 220

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 243 Zeitschrift für die historische Theologie [Organ der Historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig] 174, 242 Zeitschrift für Kirchenrecht [Organ der Gesellschaft für Kirchenrechtswissenschaft in Göttingen] 173, 238

Personenregister Die Namen folgen einander alphabetisch, ungeachtet der Adelsprädikate. Diakritische Zeichen sind dabei außer Acht gelassen worden; Ligaturen werden aufgelöst.

Das Personenregister erfasst grundsätzlich alle Namen Lebender oder Toter, die in den edierten und erläuterten Texten und Passagen vorkommen. Gegebenenfalls wurde orthographisch korrigiert, z. B. fremdländische Namen eingedeutscht. Adelsprädikate werden den Namen vorangestellt, ohne die alphabetische Anordnung zu beeinflussen. Schreibvarianten der Namen stehen in runden Klammern. Die Lebensdaten erscheinen kursiv. Dem schließen sich kurze Angaben zum beruflichen Wirkungskreis an; gelegentlich erstrecken sich die Hinweise auf den Kontext der vorliegenden Ausgabe. Namen jedoch, die sich in Bd. 1 – 26 von Meyers Enzyklopädischem Lexikon (Meyer 1971 – 81) finden, sind nach ihren Lebensdaten mit einem Asterisk (*) versehen worden und wurden nicht weiter erläutert, sofern sich kein besonderer editorischer Anlass ergab. Die Namen der Herausgeber von Sammelwerken oder Verlagsnamen sind vernachlässigt worden, soweit sie nicht in den Tönniesschen Texten auftauchen oder von keinem editorischem Nutzen gewesen sind.

Albrecht, Gerhard (1889 – 1971), deutscher Volkswirt und Sozialpolitiker 212, 240 Alexander der Große (356 v. Chr.–323 v. Chr.)*, König von Makedonien und Hegemon des Korinthischen Bundes 33 Aristoteles (384 – 322 v. Chr.)*, griechischer Philosoph 150, 168, 170, 196 Arius (um 260 – 336)*, christlicher Presbyter 166 Arnold, Wilhelm (1826 – 1883)*, deutscher Jurist und Kulturhistoriker 59 Äschylos (Aischylos) (525 – 456 v. Chr.)*, griechischer Dichter 150, 196 Augustinus von Hippo (auch Aurelius Augustinus) (354 – 430)*, römischer Kirchenlehrer und Philosoph 33

Averroës (Ibn Ruschd) (1126 – 1198)*, arabischer Philosoph und Arzt 168 Bahnsen, Julius (1830 – 1881)*, deutscher Philosoph 106, 237 Baur, Ferdinand Christian (1792 – 1860)*, deutscher evangelischer Kirchen- und Dogmenhistoriker 33, 237 Bayle, Pierre (1647 – 1706)*, französischer Schriftsteller und Philosoph 49, 237, 238 Benedict XII. (1285 – 1342)*, residierte von 1334 bis zu seinem Tode als Papst in Avignon 46 Bentham, Jeremy (1748 – 1832)*, englischer Jurist, Philosoph und Sozialreformer 97

248

Apparat

Bernstein, Eduard (1850 – 1932)*, sozialdemokratischer Theoretiker und Politiker in der SPD und zeitweilig der USPD 120, 237, 244 Bickel, Cornelius (1945 – ), deutscher Soziologe, Mit-Gesamt-Hg. der TG II, XIII, XIV, 237 Freiherr von Bissing, Wilhelm Moritz (1891 – 1975), deutscher Wirtschafts- und Staatswissenschaftler 81, 82, 83, 237 Bloch, Leo (1864 – 1920), Altertumsforscher, Übersetzer des dänischen Kulturhistorikers Troels Frederik Troels-Lund 183, 244 Bluntschli, Johann Caspar (1808 – 1881)*, Schweizer Staatsrechtler 132, 133, 173, 237 Boas, Franz (1858 – 1942)*, deutschamerikanischer Ethnologe 212, 225, 226, 230, 237, 240 Bohnstedt, Werner (1899 – 1971), deutschamerikanischer Volkswirt 212, 240 Bonaparte, Napoleon (1769 – 1821)*, französischer General, revolutionärer Diktator und Kaiser 118, 119, 121, 123, 176 Boscowitz, Arnold (1826 – nach 1890), französischer Autor und Übersetzer 53, 243 Bosse, Ewald (1880 – 1956), norwegischer Volkswirt und Soziologe, Übersetzer Tönnies ins Norwegische 212, 240 Bramstedt, Paul (bl. 1911), Leiter des Statistischen Reichsamtes um 1935 82, 237 Brandt, Willy (Geburtsname Herbert Ernst Karl Frahm) (1913 – 1992)*, deutscher Politiker und vierter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland 229 Brass, Otto (1875 – 1950), deutscher sozialistischer Politiker 226, 227, 233 Breitscheid, Rudolf (1874 – 1944), deutscher linksliberaler und später sozialdemokratischer Politiker, im KZ Buchenwald ermordet 231 Breitscheid, Tony (1878 – nach 1958), geb. Drevermann, aktiv in der Frauenbewegung 231

Brenke, Else (1874 – 1945), Lehrerin, Tönnies’ letzte wissenschaftliche Sekretärin, NS-Gegnerin 212, 216, 219, 221, 240 Brill, Hermann (1895 – 1959), deutscher Politiker (USPD, SPD) und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus 226, 227, 228, 233 Baron von Brockdorff, Cay (1874 – 1946), deutscher Philosophiehistoriker, mit Tönnies befreundet und 1929 Gründer, dann bis 1946 Leiter der HobbesGesellschaft 212, 215, 216, 218, 240 Bryce, James (1838 – 1922)*, britischer Jurist, Historiker und Politiker 24, 237 Bucknell, Katherine (1957 – ), amerikanische Schriftstellerin 227, 237 Buske, Hans (1903 – nach 1950), Buchhändler und Tönnies’ letzter Verleger XII, 211, 212, 213, 214, 222, 224, 225, 240 Buttinger, Joseph (alias Gustav Richter) (1906 – 1992), österreichischer Politiker, Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten 219 Carstens, Bärbel (1951 – ), IT-Expertin und Hg. Bd. 22,2 III, XIV Carstens, John (1987 – ), IT Experte XIV Carstens, Uwe (1948 – ), deutscher Soziologe und Politikwissenschaftler, Geschäftsführer der FTG, Mit-GesamtHg. der TG, Hg. Bd. 22,2, Verfasser der Tönnies-Biographie 2005 und 2013 II, III, V, 216, 218, 221, 226, 235, 237, 238 de Las Cases, Emmanuel (1766 – 1842)*, französischer Marineoffizier und Staatsmann 119 Cicero, Marcus Tullius (106 – 79 v. Chr.)*, römischer Politiker, Anwalt, Schriftsteller und Philosoph 44, 121, 238 Clausen, Bettina (1941 – ), deutsche Literaturwissenschaftlerin, Hg. Bd. 2 TG XIV Clausen, Lars (1935 – 2010), deutscher Soziologe, 1978 – 2010 Präsident der FTG, federführender Mit-Hg. der TG, Hg.

Personenregister Bd. 22 II, XI, XII, XIV, 207, 212, 213, 221, 222, 243 Colm, Gerhard (1897 – 1968), deutschamerikanischer Finanzwissenschaftler 212, 229, 240 Colbert, Jean-Baptiste Marquis de Seignelay (1619 – 1683)*, französischer Staatsmann und Begründer des Merkantilismus (Colbertismus) 115 Comte, Auguste (1798 – 1857)*, französischer Mathematiker, Philosoph und Religionskritiker 117 Dante Alighieri (1265 – 1321)*, italienischer Dichter und Philosoph 150, 169, 196, 238 Deichsel, Alexander (1935 – ), deutscher Soziologe, Begründer der FerdinandTönnies-Arbeitsstelle der Universität Hamburg, seit 2010 Präsident der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft II, XIV Darwin, Charles Robert (1809 – 1882)*, britischer Naturforscher 28, 242, 244 Debus, Oskar (1886 – 1942), deutscher Funktionär der Konsumgenossenschaft und zur Zeit des Nationalsozialismus Mitbegründer der Widerstandsgruppe Deutsche Volksfront 226 Delbrück, Berthold Gustav Gottlieb (1842 – 1922), deutscher Sprachwissenschaftler 30, 238 Descartes, René (1596 – 1650)*, französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler 46, 51 Diderot, Denis (1713 – 1784)*, französischer Schriftsteller, Philosoph, Aufklärer und einer der wichtigsten Organisatoren und Autoren der Encyclopédie 52 Dilthey, Wilhelm (1833 – 1911)*, deutscher Theologe, Gymnasiallehrer und Philosoph 171, 238 Diocletian (eigentlich Diokletian) (244 – 313), römischer Kaiser 24, 121, 241 Domitius Ulpianus (170 – 228), römischer Jurist und Prätorianerpräfekt 34 Dove, Richard Wilhelm (1833 – 1907)*, deutscher Kirchenrechtslehrer 173, 238

249

Eckert, Christian (1874 – 1952), deutscher Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften 217 Einstein, Albert (1879 – 1955)*, deutscher Physiker 221, 233 Engels, Friedrich (1820 – 1895)*, deutscher Unternehmer, Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, Historiker, Journalist und kommunistischer Revolutionär 86, 106, 182, 241 Eumenes von Kardia (362 oder 361 – 316 v. Chr.)*, Sekretär Alexanders des Großen 33 Fechner, Rolf (1948 – 2011), deutscher Soziologe, bis 2006 Mit-Gesamt-Hg. der TG, Mit-Hg. der TG Bde. 7, 9, 10 und 14 208, 213, 238 Fendler, Edvard (1902 – 1987), deutscher Dirigent 231 Feuerbach, Ludwig Andreas (1804 – 1872)*, deutscher Philosoph und Anthropologe 238 Fichte, Johann Gottlieb (1762 – 1814)*, Philosoph des deutschen Idealismus 54, 149, 195, 240 Fischer, Irma (bl. um 1960), deutsche Bibliothekarin XIV, 70, 217, 240 Flöel, Janette (1941 – ), deutsche Musikerin, Tochter von Jan Friedrich Tönnies 211 Franck, Sebastian (1499 – 1542)*, deutscher Chronist, Publizist, Geograph und Theologe 50 Frank, Hans (1900 – 1946), nationalsozialistischer deutscher Politiker 220 Frank, Karl (alias Paul Hagen) (1893 – 1969), österreichisch-deutsch-amerikanischer politischer Publizist, Politiker und Psychoanalytiker, Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten 219 Frischeisen-Köhler, Max (1878 – 1923), deutscher Philosoph, Psychologe und Pädagoge 171, 238 Friedrich der II., der Große (1712 – 1786)*, König von Preußen 118

250

Apparat

Fry, Varian Mackey (1907 – 1967), amerikanischer Journalist und Freiheitskämpfer 230, 233 Gibbon, Edward (1737 – 1794)*, britischer Historiker 122, 155, 238 von Gierke, Otto (1841 – 1921)*, deutscher Rechtshistoriker und Politiker 11, 59, 60, 238 Goedeke, Karl (1814 – 1887)*, deutscher Schriftsteller und Literaturhistoriker 242 von Goethe, Johann Wolfgang (1749 – 1832)*, deutscher Dichter 27, 43, 54, 224, 238 Goldschmidt, Levin (1829 – 1897)*, deutscher Jurist und Handelsrechtler 16, 239 Grey, Joel (eigentlich Joel David Katz) (1932 – ), amerikanischer Schauspieler 227 Grimme, Adolf (1889 – 1963)*, Preußischer Kulturminister 221 Gülich, Wilhelm (1895 – 1960), deutscher Politiker und Direktor der Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel 218 Gulick, John Thomas (1832 – 1923), amerikanischer Missionar 28 Günther, Adolf (1881 – 1958), deutscher Volkswirt und Soziologe 212, 240 Gutenberg, Johannes (Johann Gensfleisch) (1398 – 1468)*, Erfinder des modernen Buchdrucks 151, 197 Hamacher, Ulf Gregor (1969 – ), deutscher Altphilologe 4, 239 Häring, Oscar (1843 – 1931), deutscher Buchhändler, Schriftsteller und Verleger XII Harms, Bernhard (1876 – 1939)*, deutscher Volkswirt, Professor und langjähriger Gründungsdirektor des Instituts für Seeverkehr und Weltwirtschaft in Kiel 212, 218, 219, 240 von Harnack, Adolf (1851 – 1930)*, deutscher protestantischer Theologe und Kirchenhistoriker 165, 171, 239

von Hayek, Friedrich August (1899 – 1992), österreichischer Ökonom und Sozialphilosoph 94, 239 Heberle, Rudolf (1896 – 1991), deutschamerikanischer Soziologe, Schwiegersohn von Ferdinand Tönnies 209, 212, 216, 219, 229, 230, 240 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770 – 1831)*, deutscher Philosoph 106, 182, 239 Heine, Wolfgang (1861 – 1944), Preußischer Politiker 221 Herder, Johann Gottfried (1744 – 1803)*, deutscher Theologe und Kultur-Philosoph 54 Hermberg, Paul (1888 – 1963), deutscher Statistiker und Volkswirt 212, 230, 240 Hertz, Paul (1888 – 1961), deutscher Politiker 229 Herzog, Wilhelm (1884 – 1960), deutscher Literatur- und Kulturhistoriker 230 Hilferding, Margarete (1871 – 1942), geb. Hönigsberg, 1. Ehefrau von Rudolf Hilferding, österreichische Lehrerin, Ärztin, von den Nationalsozialisten ermordet 231 Hilferding, Rose (1881 – 1959), geb. Lanyi, 2. Ehefrau von Rudolf Hilferding, deutsche Ärztin 231 Hilferding, Rudolf (1877 – 1941), deutschösterreichischer Politiker und Publizist, von den Nationalsozialisten ermordet 231 von Hindenburg, Paul (1847 – 1934)*, deutscher Generalfeldmarschall und Reichspräsident 225, 226, 237 Hobbes, Thomas (1588 – 1679)*, englischer Mathematiker, Staatstheoretiker und Philosoph 51, 97, 117, 181, 208, 218, 243, 267 Hobson, John Atkinson (1858 – 1940)*, englischer Publizist und Ökonom 42, 239 von Hochheim, Eckhart (auch „Meister Eckhart“) (um 1260 – vor dem 30. April 1328), spätmittelalterlicher Theologe und Philosoph 174

Personenregister Höffding (Høffding), Harald (1843 – 1931)*, dänischer Philosoph, mit Tönnies befreundet 105, 106, 239 Homer (zw. 750 u. 650 v. Chr.)*, griechischer Dichter 150, 196 Hoover, Herbert Clark (1874 – 1964)*, amerikanischer Politiker, von 1929 bis 1933 der 31. Präsident der Vereinigten Staaten 232 von Humboldt, Wilhelm (1767 – 1835)*, preußischer Gelehrter, Schriftsteller und Staatsmann 54 Hume, David (1711 – 1776)*, schottischer Philosoph, Ökonom und Historiker 50 Hunke, Heinrich (1902 – 2000), deutscher Wirtschaftsideologe, Propagandist und Parteipolitiker der NSDAP 221 Hus, Jan (auch Johannes Huss genannt) (1369 – 1415)*, Theologe, Prediger und Reformator 175 Isherwood (Bradshaw-Isherwood), Christopher William (1904 – 1986), britisch-amerikanischer Schriftsteller 226, 227, 237, 239 Jacob, Georg (1862 – 1937), Islamwissenschaftler und Orientalist 167, 168, 239 Jacoby, Eduard Georg (1904 – 1978), deutsch-neuseeländischer Soziologe und Bevölkerungswissenschaftler, Schüler und Assistent von Tönnies, Mitredakteur an GdN XII, XIII, XIV, 207, 209, 211, 216, 217, 221, 222, 224, 239, 240 Jahn, Georg (1885 – 1962), deutscher Sozialhistoriker, Volkswirt und Soziologe 212, 240 Janssen, Johannes (1829 – 1891)*, deutscher katholischer Priester und Historiker 51, 151, 197, 198, 239, 240 Jaspers, Karl (1883 – 1969)*, deutscher Psychiater und Philosoph 171, 239 Jesus Christus (7 v.Chr. – 30)* 172, 178, 184 Johannes XXII. (1249 – 1334)*, Papst 46

251

Jolowicz, Heimann (1816 – 1875), Schriftsteller und Übersetzer 49, 166, 240 Jurkat, Dorothy (1904 – 1990), geborene Bergas, verheiratet mit Ernst Jurkat 219, 228, 232, 233 Jurkat, Ernst (1905 – 1994), deutscher Soziologe, Schüler von Tönnies XII, 3, 11, 18, 19, 21, 45, 57, 67, 91, 99, 104, 113, 135, 153, 159, 189, 201, 207, 209, 211222, 224-236, 240 Jurkat, Martin Peter (1935 – ), Sohn von Dorothy und Ernst Jurkat 214, 220, 226, 228, 232 Juvenal (Decimus Junius Juvenalis) (um 60 – 138)*, römischer Satirendichter 121 Kanellopoulos, Panayotis (1902 – 1986)*, griechischer Soziologe und Politiker 212, 240 Kant, Immanuel (1724 – 1804)*, deutscher Philosoph der Aufklärung 54, 149 Karl der Große (747/48 – 814)*, König der Franken 24, 166, 240 Kehr, Paul (1860 – 1944)*, deutscher Historiker, Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive 217 Keller, Ludwig (1849 – 1915)*, deutscher Archivar und bedeutender FreimaurerHistoriker 173 f., 240 Klose, Olaf (1903 – 1987), deutscher Bibliothekar XIV, 217, 240 Klotz, Reinhold (1807 – 1870), deutscher Philologe und Herausgeber zahlreicher lateinischer Editionen 44, 238 Knapp, Georg Friedrich (1842 – 1926)*, Professor der Nationalökonomie und Rektor an der Universität Straßburg 77, 240 Konopka, Erhardt (1906 – 1976), HitlerGegner mit Verbindungen zum französischen Untergrund 230 Köstlin, Julius (1826 – 1902)*, deutscher evangelischer Theologe und Kirchenhistoriker 198, 240 Koser, Reinhold (1852 – 1914)*, deutscher Historiker 116, 240

252

Apparat

Lassalle, Ferdinand (1825 – 1864)*, deutscher sozialistischer Politiker 120, 237 Lask, Emil (1875 – 1915), deutscher Philosoph 149, 240 Lauritzen, Lauritz (1910 – 1980), deutscher Jurist und Politiker, Schüler von Tönnies, war u. a. Minister für Post- und Fernmeldewesen 216 Law, John (1671 – 1729)*, schottischer Nationalökonom und Bankier 116, 240 Lecky, William Edward Hartpole (1838 – 1903)*, irischer Historiker und Publizist 49, 166, 240 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646 – 1716)*, deutscher Philosoph, Mathematiker, Diplomat, Historiker und politischer Berater der frühen Aufklärung 51 Lessing, Gotthold Ephraim (1729 – 1781)*, deutscher Dichter der Aufklärung 54 Levy, Fritz (1887 – 1957), deutschamerikanischer Mediziner (Pathologe) 229 Lorenz, Ottokar (1832 – 1904)*, österreichisch-deutscher Historiker und Genealoge 21, 240 Louis XIII. (1601 – 1643)*, 1610 – 1643 König von Frankreich und Navarra 153, 241 Louis XIV. (Ludwig XIV.) (1638 – 1715)*, 1643 – 1715 König von Frankreich und Navarra 114 f., 117 Löwith, Karl (1897 – 1973), deutscher Philosoph 212, 240 Ludwig IV. (bekannt als Ludwig der Bayer) (1282 oder 1286 – 1347)*, aus dem Haus Wittelsbach war ab 1314 römischdeutscher König und ab 1328 Kaiser im Heiligen Römischen Reich 46 Luther, Martin (1483 – 1546)*, deutscher Theologe und Reformator 48, 50, 151 f., 175, 186, 197 f., 237, 240 f. Sir Lyell, Charles (1797 – 1875), britischer Geologe 192, 241

Maine, Sir Henry Sumner (1822 – 1888)*, britischer Kulturanthropologe, Jurist und Rechtshistoriker 136 f., 241 Mann, Erika (1905 – 1969), deutsche Schauspielerin, Tochter von Thomas Mann 219 Mann, Thomas (1875 – 1955)*, deutscher Schriftsteller 219, 221 Marat, Jean Paul (1743 – 1793)*, französischer Arzt, Naturwissenschaftler und Journalist 52 Marx, Karl (1818 – 1883)*, deutscher Philosoph und Ökonom 86, 91 f., 106, 139, 170, 182, 241, 267 von Maurer, Georg Ludwig (1790 – 1872)*, deutscher Rechtshistoriker 58, 241 von Mayr, Georg (1841 – 1925)*, deutscher Statistiker und Volkswirt 21, 241 Meinecke, Friedrich (1862 – 1954)*, deutscher Historiker 212, 240 Meister Eckhart siehe Eckhart von Hochheim Melanchthon, Philipp (1497 – 1560)*, deutscher Philologe, Philosoph, Humanist, Theologe, Lehrbuchautor und neulateinischer Dichter 187 Merz-Benz, Peter-Ulrich (1953 – ), schweizer Soziologe XIII f., 241 Milkau, Fritz (1859 – 1934), Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin 1921 – 1925 217 Minnelli, Liza (1946 – ), amerikanische Schauspielerin 227 Comte de Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti (1749 – 1791)*, französischer Politiker 52 Mommsen, Theodor (1817 – 1903)*, deutscher Historiker 121, 241 Baron de Montesquieu, Charles de Secondat (1689 – 1755)*, französischer Schriftsteller, Philosoph und Staatstheoretiker der Aufklärung 52, 97 Mühlenbruch, Christian Friedrich (1785 – 1843), deutscher Rechtswissenschaftler 34, 241 Mulert, Hermann (1879 – 1950), evangelischer Theologe 177 f., 181, 183 f., 241

Personenregister Napoleon I. siehe Bonaparte, Napoleon Niceforo, Alfredo (1876 – 1960), italienischer Statistiker, Kriminologe und Soziologe 212, 240 Niebuhr, Barthold Georg (1776 – 1831)*, deutscher Althistoriker 54 Nöldeke, Bernhard (1868 – 1900), deutscher Zoologe 28, 242 Occam, William of (in Deutschland Wilhelm von Ockham) (um 1288 – 1347)*, mittelalterlicher Philosoph und Theologe 46 Ollenhauer, Erich (1901 – 1963)*, von 1952 bis 1963 SPD-Parteivorsitzender 229 Oppenheim, Heinrich Bernhard (1819 – 1880)*, deutscher Liberaler 102, 241 Paulsen, Friedrich (1846 – 1908)*, deutscher Pädagoge und Philosoph, mit Tönnies befreundet XIV, 217, 240 Paulus von Tarsus (vor 10 – nach 60)*, Missionar des Urchristentums 165, 186 Penn, William (1644 – 1718)*, gründete die Kolonie Pennsylvania 48, 232 Petrich, Franz (1889 – 1945), deutscher Gewerkschafter und sozialdemokratischer Politiker, 1945 im Zuchthaus Sonnenburg erschossen 226 Simon Petrus (unbekannt – um 65 – 67), Apostel Jesu Christi 184 Pfleiderer, Rudolf Immanuel Gottlieb (1841 – 1917), deutscher Kunsthistoriker, Erzieher und Pfarrer 238 Philipp IV. (genannt Philipp der Schöne) (1268 – 1314)*, französischer König 46 Popp, Lothar (1887 – 1980), deutscher Revolutionär und ein Führer des Kieler Matrosenaufstands 230 f. Quesnay, François (1694 – 1774)*, französischer Arzt und Ökonom 100 von Ranke, Leopold (1795 – 1886)*, deutscher Historiker 149, 195, 241 Rathenau, Walther (1867 – 1922), deutscher Industrieller, Schriftsteller und liberaler

253

Politiker, als Reichsaußenminister wurde er Opfer eines politisch motivierten Attentats 220 von Reichenau, Charlotte (1890 – 1952), deutsche Volkswirtin und Hauswirtschaftswissenschaftlerin 212, 240 Reinhardt, Ernst (1872 – 1937), deutscher Verleger 222 Duc de Richelieu, Armand-Jean du Plessis (1585 – 1642)*, französischer Aristokrat, Kirchenfürst und Staatsmann 153, 241 de Robespierre, Maximilien (1758 – 1794)*, französischer Rechtsanwalt und Politiker 52 Röhrich, Timotheus Wilhelm (1802 – 1860), deutscher Theologe 174, 242 Rohmer, Friedrich (1814 – 1856), deutschschweizerischer Philosoph und Politiker 132 Rohmer, Theodor (1820 – 1856), politischer Publizist und Literat 132 Romanes, George John (1848 – 1894)*, britischer Evolutionsbiologe 28, 242 Roosevelt, Eleanor (1884 – 1962), amerikanische Menschenrechtsaktivistin und Diplomatin, Ehefrau des Präsidenten Franklin D. Roosevelt 231 Roosevelt, Franklin Delano (1882 – 1945)*, 32. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 101 Roscher, Wilhelm (1817 – 1894)*, deutscher Historiker und Ökonom 116, 120 – 122, 242 Rottenburg, Franz Johannes (1845 – 1907), preußischer Jurist und Diplomat 52, 242 Rousseau, Jean-Jacques (1712 – 1778)*, französischsprachiger Genfer Schriftsteller, Philosoph und Pädagoge der Aufklärung 47 f., 52 Schäffle, Albert (1831 – 1903)*, deutscher Nationalökonom 131 f., 242 Schering, Ernst Christian Friedrich (1824 – 1889), deutscher Apotheker und Industrieller 220

254

Apparat

von Schiller, Johann Christoph Friedrich (1759 – 1805)*, deutscher Dichter, Philosoph und Historiker 54, 70, 224, 242, 267 Schlüter, Willy (1873 – 1935), deutscher Schriftsteller, Tönnies Gehilfe in Eutin 221 Schmalenbach, Herman (1885 – 1950), deutsch-schweizerischer Sozialphilosoph 212, 240 Schopenhauer, Arthur (1788 – 1860)*, deutscher Philosoph 185, 242 von Schulze-Gävernitz, Gerhart (1864 – 1943)*, deutscher Nationalökonom und Politiker 76, 242 Seneca (Seneka) (4 – 65 v. Chr.)*, römischer Philosoph, Dramatiker, Naturforscher, Staatsmann 4, 150, 196, 239 von Siemens, Werner (1816 – 1892)*, deutscher Erfinder, Begründer der Elektrotechnik und Industrieller 220 Sieyès, Emmanuel Joseph (1748 – 1836)*, französischer Priester (Abbé) und Staatsmann 52 Siger von Brabant (um 1235/1240 – 1284), Philosophielehrer an der Pariser Artistenfakultät 169 Simonis, Heide (1943 – ), sozialdemokratische Politikerin und von 1993 bis 2005 Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein XI Sinzheimer, Ludwig (1868 – 1922), deutscher Nationalökonom 42, 242 Smith, Adam (1723 – 1790)*, schottischer Moralphilosoph, Aufklärer und gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie 50, 100 Smith, Sir William (1813 – 1893)*, britischer Klassischer Philologe und Lexikograf 122, 238 Gräfin zu Solms, Freda (1901 – 1992), geb. von Gersdorff, seit 1937 zweite Ehefrau von Max Graf zu Solms, Herausgeberin einer Biographie über Max Graf zu Solms XII, 216, 218, 221, 223 f., 242

Graf zu Solms, Max (1893 – 1968), deutscher Soziologe, promovierte bei Tönnies XII, 216-218, 221-224, 242 Sombart, Werner (1863 – 1941)*, deutscher Soziologe 92, 127, 139, 242 f. Sorley, William Ritchie (1855 – 1935), englischer Philosophiehistoriker 212, 240 Sorokin, Pitirim Alexandrowitsch (1889 – 1968)*, russisch-amerikanischer Soziologe 212, 240 de Spinoza, Baruch (1632 – 1677)*, niederländischer Philosoph 51, 184 Spencer, Herbert (1820 – 1903)*, englischer Philosoph und Soziologe 33, 243 Springer, Julius (1817 – 1877), deutscher Verleger XII Stammler, Rudolph (1856 – 1938)*, deutscher Rechtsphilosoph 97 von Starck, Johann August (1741 – 1816), deutscher Schriftsteller 155, 243 Steinmetz, Sebaldus Rudolph (1862 – 1940)*, niederländischer Soziologe 212 240 Stoltenberg, Hans Lorenz (1888 – 1963), deutscher Soziologe, Tönnies’ Schüler, zeitweise Sekretär des Forscherheimes Assenheim von Max Graf Solms 212, 217, 240 Streckfuß, Carl Adolf Friedrich (1779 – 1844)*, deutscher Schriftsteller, Übersetzer und Jurist 238 Striefler, Heinrich (1905 – nach 1975), deutscher Soziologe und Siedlungspolitiker, Assistent von Tönnies, Mitredakteur an GdN XII, 209, 211, 216, 221, 224 Südekum, Albert (1871 – 1944), deutscher Volkswirtschaftler, 1918 – 1920 Preußischer Finanzminister 221 Takata, Yasuma (1883 – 1972), japanischer Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler 212, 240 Thomasius, Christian (1655 – 1728)*, deutscher Jurist und Philosoph 51

Personenregister Thurnwald, Richard (1869 – 1954)*, deutscher Ethnologe und Soziologe 212, 240 Tibullus, Albius (eingedeutscht Tibull) (um 55 – 19/18 v. Chr.)*, römischer Elegiker der augusteischen Zeit 176 de Tocqueville, Alexis (1805 – 1859)*, französischer Publizist, Politiker und Historiker 53 f., 115 f., 118, 243 Tönnies, Ferdinand (1855 – 1936)* passim Tönnies, Gerrit Friedrich Otto (1898 – 1978), Chemiker, Tönnies’ erster Sohn 229 Tönnies, Jan Friedrich (1902 – 1970), Physiker, Unternehmer, Tönnies’ zweitältester Sohn 209-211, 221, 223, 230 Tönnies, Marie (1865 – 1937), Ehefrau von Ferdinand Tönnies, geborene Sieck 209 Tönnies-Heberle, Franziska (1900 – 1997), Sozialpädagogin, Tochter von Ferdinand Tönnies 209, 212, 225, 229 f. von Treitschke, Heinrich (1834 – 1896)*, deutscher Historiker, politischer Publizist und Mitglied des Reichstags 79, 243 Troels-Lund, Troels Frederik (1840 – 1921)*, dänischer Historiker 183, 244 Tröltsch (Troeltsch), Ernst (1865 – 1923), deutscher protestantischer Theologe, Kulturphilosoph und liberaler Politiker 181-183, 244 Truman, Harry S. (1884 – 1972)*, amerikanischer Politiker, von 1945 bis 1953 der 33. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 229 Varon, Bension (1932 – ), türkischamerikanischer Ökonom, ist mit Ernst Jurkat verwandt 214 f., 233, 244 Varon, Barbara (1940 – 2003), geb. Frass, Ehefrau von Bension Varon, Nichte von Ernst Jurkat, deutsch-amerikanische Übersetzerin 214 f., 233, 244 Virgil, Publius Maro (Vergilius bzw. Virgilius) (70 – 19 v. Chr.)*, lateinischer Dichter 150, 196 Vogt, Oskar (1870 – 1959)*, deutscher Hirnforscher und Freund Tönnies 223

255

de Voltaire, François Marie Arouet (1694 – 1778)*, französischer Autor der Aufklärung 48, 52, 155 Wachenheim, Hedwig (1891 – 1969), deutsche Sozialpolitikerin und Historikerin 230 Wagner, Adolph (1835 – 1917)*, deutscher Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler 97 f., 100, 144, 244 Wagner, Moritz (1813 – 1887)*, deutscher Reisender, Geograph und Naturforscher 28 f., 244 Waldus, Petrus (Peter) (1140 – 1218)*, Kaufmann in Lyon und begründete als religiöser Laie und Wanderprediger die Glaubensgemeinschaft der später nach ihm benannten Waldenser 174 Webb, Sidney (1859 – 1947), britischer Sozialist und Ökonom 42, 244 Weber, Alfred (1868 – 1958)*, deutscher Nationalökonom und Soziologe 41, 244 Weber, Max (1864 – 1920)*, deutscher Soziologe, Jurist und Nationalökonom 127, 243 f. Wehrmann, Carl Friedrich (1809 – 1898), deutscher Pädagoge und Historiker 59 Wels, Otto (1873 – 1939)*, deutscher sozialdemokratischer Politiker 229 Wernicke, Wolfgang (1908 – ?), deutscher Volkswirt 212, 240 von Wiese (und Kaiserswaldau), Leopold (1876 – 1969)*, deutscher Soziologe und Volkswirt, Hochschullehrer und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 212, 217, 240 Wilbrandt, Robert (1875 – 1945), deutscher Volkswirt und Sozialpolitiker 212, 240 Wilda, Wilhelm Eduard (1800 – 1856), deutscher Jurist 59 Freiherr von Wolff, Christian (1679 – 1754)*, deutscher Universalgelehrter, Jurist und Mathematiker sowie einer der wichtigsten Philosophen der Aufklärung 51 Wundt, Wilhelm Maximilian (1832 – 1920)*, deutscher Physiologe, Psychologe und Philosoph 86, 244

256

Apparat

Wyclif, John (auch Wicliffe, Wiclef, Wycliff, Wycliffe, genannt Doctor evangelicus) (1320 – 1384)*, englischer Philosoph, Theologe und Kirchenreformer 175 York, Michael (eigentlich Michael Hugh Johnson) (1942 – ), britischer Schauspieler 227 Zahn, Friedrich (1869 – 1946), deutscher Professor für Sozial- und Wirtschaftsstatistik 82, 237

Zander, Jürgen (1939 – ), deutscher Soziologe, Archivar, erschloss Tönnies’ Nachlass, Hg. von TG Bd. 23,2 213 f., 222 f., 243 Zander-Lüllwitz, Brigitte (1941 – ), deutsche Germanistin und Pädagogin, Hg. von TG Bd. 23,2 213 f., 222 f., 243 Ziegler, Franz Carl (bl. 1901), deutscher Autor 41, 244

Sachregister Die Wörter folgen einander alphabetisch; diakritische Zeichen werden dabei außer Acht gelassen, Ligaturen werden aufgelöst. In diesem (sog. „denkenden“) Sachregister sind die Hinweise nicht mechanisch generiert worden, sondern nach dem Urteil des Herausgebers. Die sehr ausgearbeitete, oft scheinbar umgangssprachliche Terminologie Tönnies’ ist sorgfältig berücksichtigt. Manche Schlagworte, die Tönnies zuweilen exakt, zuweilen nachlässig benutzte (z. B. Französische Revolution), sind etlicher Zweifelsfälle halber getrennt vom Oberbegriff (z. B. Revolution) ausgewiesen. Die Einordnung zusammengesetzter Schlagworte richtet sich nach den Substantiven auch bei festen Fügungen („Französische Revolution“ suche also unter „Revolution, frz.“), ausgenommen sind Eigennamen (z. B.: Bürgerliches Gesetzbuch). Alle Worte, die der alphabetischen Reihung nicht dienen, sind kursiv abgesetzt; also auch alle Weiterverweise. Fette Seitenzahlen geben an, dass ein ganzer (Teil-)Beitrag zu diesem Schlagwort dort beginnt. (Innerhalb des Beitrags wurde dasselbe Schlagwort dann nicht noch einmal vergeben.)

Absolutismus 51 f., 100, 113, 114, 118, 119, 132 Abweichen 31, 129, 168, 185 Ackerbau 70, 114, 151, 197 s.a. Agrarwirtschaft Adel 48, 52, 100, 114, 117, 124, 130, 154, 175 f., 180 f. Agitation (der Parteien) 131 f. Agrarkommunismus 57 Agrarwirtschaft 81 s.a. Landwirtschaft Akkommodation 42 Altertum 23, 34 f., 149 f., 163, 169, 196 Anatomie, mikroskopisch 30 Ancien Régime 116 f. Angriffskrieg 108 f. s.a. Krieg Anpassung 22, 25, 28, 34, 37, 42, 44, 46, 53 f., 55

Ansehen 17, 135, 150, 173, 196 Anteil am (Jahres-)Produkt 45, 95, 142 Antike 24 f., 91, 164, 167-169 Araber 150, 168, 196 Arbeit 13, 27, 67, 138, 202 Arbeit, Einfachermachung durch Zerlegung 75 f. Arbeit, Ersparung von 42 f. Arbeit, nationale 45 Arbeit, Teilung der Arbeit s. Arbeitsteilung Arbeit, Simplifikation von s. Arbeit, Einfachermachung durch Zerlegung Arbeiter 41, 72, 76, 84 f., 88 f., 182 f. Arbeiterbewegung 88, 99, 102, 105, 131, 177 f. Arbeiterfrage 87 Arbeiterklasse 86, 88, 107, 181 s.a. Klasse

258

Apparat

Arbeiterpartei 104 f., 203 Arbeitskräfte 15, 71, 78-80, 95, 123, 142 s.a. Arbeiter Arbeitsteilung 13, 29, 42, 68, 75, 79, 170 Arianismus 166 Aristokratie s. Adel Armut 58, 121 f., 129 Armut Christi 172 Astronomie 148, 195 Athanasianum 186 Atheismus 52, 177 Athen 190 Asien 149, 177, 195 f. Aufhebung 41 f., 45, 97, 143 f. Aufklärung 48-52, 100, 130, 152, 175, 198 Auflehnung 31 Austausch 25 f., 60, 68, 69, 71, 77, 78, 81, 170 s.a. Handel; s.a. Tausch Autorität 31 f., 45, 52, 96, 126 f., 143, 170 Autorität, göttlich 117 Autorität, übersinnlich 45 Autorität des Alters 34 f. Autorität des Herkommens 31 Autorität der Tatsache 31 Bank 17 f., 100 Bankenkapital 41 Bankier 16 f., 73 Bankkapital s. Bankenkapital Barbarei 193 Bauer(n) 13, 48, 50, 77, 80, 81, 131 s.a. Agrar[…]; s.a. Land[…]wirtschaft; s.a. Dorf; s.a. Pächter Beamte 72, 114 Beamtenschaft 116 Bedeutung 18, 22, 30 f., 38 f., 55, 57, 91 f., 102 f., 104, 125 f., 128 f., 149, 164, 181, 196 Bedürfnis(se) 25 f., 27, 44, 46, 68, 77, 97, 108 f., 130 f., 144, 148, 171 f. Bedürfnisse, soziale 53 Bejahung 179 Beruf 13, 30, 41, 58, 69, 74, 79, 127 Berufsstand 154 Besitz 13, 17, 27, 58, 59, 69, 71, 83, 91, 94, 114, 126, 135, 181, 183 s.a. Grundbesitz; Gemeinbesitz

Betrieb 15 f., 41 f., 49, 69, 74-76, 79 f., 81, 89 s.a. Großbetrieb Bevölkerung 21, 77 f., 137 f. Bewegung 49 f., 101-103, 104, 124 f., 167, 171, 180, 202 s.a. Arbeiterbewegung Bewusstsein 11 f., 23, 32, 36, 39, 88, 104, 137, 150, 161, 181, 190, 196 Beziehung 12, 27, 31-33, 40, 57, 77, 179, 193 Bibel 152, 198 Biblia Pauperum 152, 198 Bildung 26 f., 51 f., 54, 149 f., 152, 159 f., 166 f., 169, 175, 196, 198 s.a. Erziehung Boden 25, 27, 29 f., 38, 57, 68, 73, 82, 94 f., 97 Boden, fruchtbar 25, 44, 78 Bodeneigentum s. Eigentum an Boden Bourgeoisie s. Bürgertum Brüderlichkeit 59 Bruderschaft 58 f., 138 Buchdruck 50, 55, 151, 197 f. Bücher, Heilige 56 Bundesstaat 98, 119 Bürger 13, 44, 101 f., 117, 125, 127, 130, 138, 147, 171 f., 181, 190, 194, 203 Bürgerkönigtum 118 Bürgerkrieg 48, 120, 129 Bürgertum 99, 117, 119, 123, 130 f., 133, 172-174, 180 f. Bürokratie 79, 116 Byzanz 24, 26, 34, 197 s.a. Konstantinopel Cäsarismus 113, 118, 120 f., 122, 154 f. Christianisierung Europas 168, 196 Christen s. Christentum Christenheit 150 f., 177, 183, 187, 196 f. Christentum 24, 34, 47 f., 51, 129 f., 149, 164 f., 167, 168, 171 f., 175, 183, 190 Civis 147, 194 s.a. Bürger Clansystem 136 f. Commissaire 115 f. Compagnie 93 Corpus christianum 151, 197 Dasein, fiktiv 39 Dasein, übernatürlich 35 f. Defensive 22

Sachregister Deflation 81 Demagogen 120 Demokratie 120, 126 f., 203 Denken 11-15, 44, 52, 58, 77, 96, 128, 132, 148, 173, 179 f., 183, 185-187, 191, 193, 194 Denken, abstrakt 11 Denken, begrifflich 35 Denken, frei 42-44, 50 Denken, nüchtern 34 Denken, wissenschaftlich 35, 42 f., 53 f., 148, 163, 171 Denunziantenwesen 122 Deutschland 21, 49, 51, 54, 79, 102 f., 105107, 116, 152, 168, 172, 175-177, 180 f., 198 Dialektik 106, 182 Dienen 17, 61, 162 Dienstleistung 69, 72 Differenzierung, soziale 41 Diktator 120 Divina commedia 169 f. Dogma 34 f., 48, 185 Dogmatik 169 Dominikaner 172 f. Dorf, Dorfgemeinde 37, 43 f., 58, 135, 137, 189 f. Ecclesia militans 167 Egoismus 54, 123, 186, 190 Ehe 29, 58, 78, 94, 125, 135 f. Ehre 17, 33, 126 f., 154 Ehrenrechte, bürgerliche 101 Ehrfurcht 33 Eigentum 57-60, 71 f., 91, 94, 135, 172 Eigentum an Boden 97, 135, 141, 143 s.a. Grundbesitz Eigentum, geistiges 97, 143 Eigentum, gemeinschaftliches 92, 135, 139 Eigentum, gesellschaftliches 92, 138 Einheit 37, 39, 46, 116, 123, 128, 137, 160 Einheit, religiöse 59, 129, 150, 173 s.a. Zunft Einheitszweck 59 s.a. Zweck Einkommen, arbeitsloses 95, 142 Einsicht 46, 89, 127, 132, 143, 184, 203 Empirie 106

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England 47-50, 104, 106 f., 128, 152 f., 154, 175, 197 f., 202 s.a. Großbritannien Entwicklung, kapitalistische 41, 76 f., 84, 92, 94 f., 130 f., 139, 141, 180 f., 201 f. Entwicklung, soziale 21, 89 f., 92, 104, 132 f., 139, 170 f., 182 f. Encyklopaedie 52 Encyklopaedisten 52 Episkopat 173 Erbrecht 27, 58, 117, 136 Erb – Recht s. Erbrecht Erfahrung 30, 77, 86 f., 126 f., 147, 161, 184 f., 194 Erfindung 76 f., 149, 151, 162, 192, 195, 197 f. Erkenntnis 25, 78, 85, 88 f., 96, 101, 117, 124, 132, 142, 160 f., 165, 178, 182, 187, 191 Ernährung s. Nahrung Erziehung 124, 128, 159 f. Ethik 105 f. Etymologie 147, 194 Europa 3 f., 23, 51 f., 81, 93, 96, 102 f., 108, 113, 118 f., 131, 140, 148 f., 149, 153, 163, 164, 168, 172, 177, 189 f., 195 f., 203 Evolution 106 Evolution, polytypisch 28 f. Ewige Stadt s. Rom Exekutive 101 Experiment, Großes 102, 132 f. s.a. Marxismus Familie 30-33, 37, 57, 124 f., 138, 162, 164 Familienbund 136-138 Feind(e) 107 f., 129 f., 150, 166, 186 f., 196 Fideikommis 97, 143 f. Feudalismus 57 f., 97, 143 f. Forscher 28 Fortschritt 42 f., 50, 55, 92 f., 139, 140, 148, 150, 160, 175 f., 178, 193-197 Fortschritt, ökonomischer 67 Fortschritt, politischer 96, 142 Frage, soziale 87, 132, 203 s.a. Arbeiterfrage

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Apparat

Frankreich 47 f., 51, 100, 104, 106 f., 114, 118, 151, 153, 174, 176, 197, 201 Frau(en) 70, 94, 118, 124 f., 128, 136, 141, 177, 179, 203 Freihandelsbewegung 49 f. Freiheit 23, 49 f., 94, 100, 106, 121, 133, 141, 149, 175, 181 Freiheit, bürgerliche 101 f. Freiheit, politische 101 f., 141 Freiheit eines Christenmenschen 48 f. Freiheit und Gleichheit 46 f., 87 Freizügigkeit 94, 141 Frieden 107-109, 114, 201 s.a. Völkerfrieden Friedensschluss 107 f. Friedensschlüsse s. Friedensschluss Friedensvertrag 201 Führer, Führerschaft 11, 52, 105, 120 f., 126 f., 154, 162 s.a.Herrschaft Führerauslese 127 Funktion 74, 79, 101, 126 Fürst 17, 29, 47, 116 f., 127, 166 f. Gabelle 115 Gebrauchswert 14, 74 f. Gefühl, menschliches 36 Gegenrevolution 104, 144, 180 Gehorsam 32, 47 f., 168, 173, 181 Geist 11, 17, 33 f., 46, 51, 53, 56, 76, 118, 143, 193 Geist der Neuzeit 132 f., 149 f., 151, 159, 195 Geist, wissenschaftlicher 35, 48, 160 Geister- und Gespensterglaube 33, 175, 183 f. Geistlichkeit 47 f., 58 f., 130, 152, 163, 176, 197 f. s.a. Klerus Geld 15-17, 32, 44, 60 f., 71, 73, 81 f., 91, 114 f., 130, 138-141 Gelehrtenrepublik 13 Geltung 30-32, 89, 130, 147, 169, 181, 194, 202 Gemeinbesitz 59 Gemeinde 39, 48, 138, 190 s.a. Dorfgemeinde Gemeinde, kirchliche 58 Gemeineigentum 135

Gemeinschaft 29, 33, 135 f. Gemeinschaft, Erneuerung der 87, 96, 160 Gemeinschaft und Gesellschaft 37, 147, 161 f., 170, 193 f. Gemeinwesen 117, 126, 148, 161, 194 Generationen 27 f., 30 f., 38 f., 161 f. Genien 164 f. Genossenschaft 36, 39, 57-59, 83, 137 f., 175 Genuss 12, 70, 192 Gesamtheit 38, 95, 142 Gesamtheit, beschlußfähige s. beschlußfähige Versammlung Geschichte 18, 23, 91, 114, 160 f., 170 f., 181, 191 f. Geschlecht 68, 162 Geschlechtstrieb 78 Gesellschaft 13, 18, 37, 51-53, 87, 91, 105, 111, 193 f., 201 Gesellschaft, alte 79 Gesellschaft, moderne 88 Gesellschaftsordnung 133, 183 Gesellschaftsvertrag 46 Gesetz 32 f., 53, 87, 101, 119 Gesetzgeber 32, 126 f., 128 Gesetzgebung 46, 53, 97, 101, 117, 125 Gesetzgebung, paternale 102 Gesinnung 54, 82, 87, 131, 152, 176, 198 Gespräch 148, 194 Gewalt 95, 99, 114 f., 119, 161 f., 178 Gewalt, öffentliche 43 Gewalt, weltliche 46, 168, 173 Gewerkschaft(en) 106 Gewinn 13, 15 f., 41, 69, 72-74, 83, 85, 95, 142 Gewissensfreiheit 49, 94, 141 Gewohnheit 30, 36, 67, 84, 143, 167, 177, 179 Gewohnheitsrecht 32, 43, 46 Gilde 59, 138, 174 Glaube 33, 35 f., 49, 96, 143, 164 f., 178 f., 183, 186 s.a. Religion Gleichgültigkeit 129, 174, 176, 179 Gleichheit 49 f., 59, 88, 125 f., 181 Gleichheit der Menschen vor Gott 48 f. Glücksumstände 75 Götter 17, 33, 35 f., 166 f., 179, 184

Sachregister Gouverneurs de Province 115 f. Griechen 23 f., 33 f., 165 f., 190 Griechenland 190 Großbetrieb 15, 74 f., 88 Großbetrieb, landwirtschaftlich 48, 81 f., 97 f., 100, 137, 143 f. Großbritannien 104, 117 f., 124 f. s.a. England Grund der Geltung s. Bedeutung Grundbesitz 57 f., 83 f., 97 f., 143 f. Grundgesetz 119 Gruppe menschlicher Verbände s. Menschengruppe Gut, großes s. Großbetrieb, landwirtschaftlich Handel 13, 27 f., 34, 41, 55, 71, 73-75, 7780, 91 f., 114, 148, 179, 190 Handeln 37, 39, 162, 182 f., 185 Handelsbilanz 115 Handelsgesellschaft 16, 50, 93 Handelskapital(ismus) 73, 84, 94 f., 130 f., 138 f. Handelsweg 25 f., 140 Händler 14, 17, 69 f., 73 f., 93, 140 Handwerk 43, 58 f., 79, 115, 138, 148 Handwerker 14, 68-70, 80, 84, 173 f. Haus 25, 37, 58, 78 Haushaltung 68, 127, 136 Hauswirtschaft 70, 81 f., 138 Heer, stehendes 114, 151, 153 f., 173, 197 Heeresverfassung 153 Heidentum 35, 167 f. Heilige Stadt s. Rom Hellenen 165, 169, 192 Herkommen 30 f., 125 Herrenstand 17, 69, 180 Herrschaft 12, 17, 24 f., 57 f., 59, 95, 141 f., 201 Herrschaft, geistliche 57, 129, 168, 172, 176 f. Herrschaft, kapitalistische 71, 133 Herrschaft, patriarchalische 57 Herrschaft, politische 87, 122 f., 128-130 Herrschaft, Weltherrschaft 123 f., 173 Herrscherrecht 46 f. Heterogonie der Zwecke 86

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Hochschule 35, 169, 186 f. Höfe, geistliche 51, 68 Höfe, weltliche 51, 68 Holstein 80 Homo sapiens s. Mensch Humanismus 168 Humanität 133, 193, 203 Ideal(e) 46, 51, 117, 181, 202 f. Idealismus 54, 149 Ideologie 94, 141, 149 Imperativ 29 f. s.a. Sprache Imperialismus 108, 122 f. Indien 26, 136 f. Individualismus 11, 60, 105 f., 125, 186 Individuum, Individuen 12 f., 27-29, 35, 38, 46, 60, 92, 124, 139, 161, 179, 184 f. Industrie 41-43, 55, 74, 80-84, 99, 107, 114 f., 133, 201 Inflation 81, 83 Intelligenz 30, 39, 75 f. Institution 13, 17 f., 46 f., 59 f., 127 f., 132, 136 f., 179 Intendant 115 f. Interesse s. Vorteil Interessen, materielle 55 Internationalität 108 Inzucht 29 f., 38 Irland 26 Islam 129, 149, 164, 168, 177, 195 f. Italien 24, 103, 148-150, 169 f., 174-176, 195 f., 202 Japan 177 Jenseits 181 Joint family 136 s.a. Familienbund Juden 150, 165, 184 f., 196 Judengott 166 Judentum 47, 164 Jurisprudenz 170 Jüngstes Gericht 186 Kaisertum 122, 171 Kampf zwischen den Mächten der Vererbung und der Anpassung 22

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Apparat

Kapital 15 f., 41, 71, 73 f., 75 f., 78, 80, 82 f., 86, 88 f., 91-95, 100, 107, 131, 138142, 201 f. Kapitalismus 16 f., 41, 67, 92, 94 f., 99, 104 f., 118, 123, 130, 139, 142, 180 Kapitalisten s. Kapitalismus Kartell s. Vereinigung von Unternehmungen Kaufkraft 60 Kaufherr s. Kaufmann Kaufleute s. Kaufmann Kaufmann 13 f., 16, 18 f., 75, 83, 92 f., 114, 139 f., 154 s.a. Händler Kausalität 175 Kathedersozialisten 102 Keim 45, 92, 139, 169, 191 Ketzerei 152, 173 f., 175 Kind 29, 37, 78, 125, 135 f., 155 Kirche 27, 34, 37, 40, 45-50, 52, 57, 100, 117, 128-130, 150, 152, 164-169, 172177, 179 f., 185 f., 196-198 s.a. Christentum Kirchentum 130, 187 Klasse 13, 45, 49 f., 96, 104, 117, 125, 131, 142 f., 176, 181 Klasse, gesellschaftliche 55 Klasse, sozial herrschende 107, 120 Klassenkampf 88, 106 Kleinbürgertum 99, 181 s.a. Bürgertum Klerus 172, 180 Koalition 74, 105 Kolonialgebiet 93, 140 Kolonialländer 81, 90 100 Kommando 15, 29 s.a. Sprache Kommune 106 Kommunismus 57-59, 137 Konfessionenfeindschaft 130 Konfessionskunde 176 f., 183 Konflikt 12, 86, 97, 201 Königtum 47, 51, 118 f. s.a. Monarchie Konjunktur 73 f., 85, 202 Konkurrenz, Aufhebung von 41 f., 74 Konkurrenzkampf 73 f. s.a. Preiskampf Konservativismus 37, 100 f., 105 Konstantinopel 24, 149 f., 195 f. s.a. Byzanz Konstituierung 40

Konstitutionalismus 113 Konsum 72 Konsument(en) 13 f., 74 Konsumverein 105 f. Konzern s. Vereinigung von Unternehmungen Kooperation(en) 30, 72, 160 Körper, psychischer 39 Körper, gesetzgeberischer 128 Körperschaft 11, 46, 135 Körperschaften, parlamentarische 50, 117 Korporation 25, 35, 39, 46, 72 Kosten 18, 36, 74 Kosmopolitismus 54 Kredit 16 f., 72 f., 83, 84 Kreuzzüge 168 Kreuzung, freie 28 f. Krieg 21, 42-44, 49, 58, 69, 98, 108 f., 114, 144, 153 f., 168, 189 f. s.a. Weltkrieg Krieg: Nachkriegszeit 81, 133 Krieg: Vorkriegszeit 83 Kriegsdienst 126 Kriegsstaat 117 Kriegstechnik 42 f. Krise 99, 133 Krise, wirtschaftliche 81, 83-85 Kritik 22, 51, 85, 92, 101 f., 133, 180 Kultur 23, 26, 43, 87, 147, 150, 163, 167, 176, 183, 193 f., 196 Kultur: Elemente der Kultur 27 Kultur, geistige 105 Kultur, römische 190 Kultur: Unterbrechung der wahren Kultur 23 Kulturentwicklung 22, 28, 32, 160 f. Kulturgebiet 25, 167, 178 Kultus 33, 47, 165 f., 180 Kunst 25 f., 34, 43, 50, 58 f., 68 f., 78, 80, 143, 148, 151 f., 163, 167, 169 f., 190-197 Kürwille 12, 179 Lage 25, 61, 68, 82 Laie(n) 47, 51, 117, 130 Land 17, 25, 48, 58, 81, 114 f., 118, 137, 163, 170, 179 Landwirtschaft 30, 74, 81, 97, 100, 144 Landgutswirtschaft s. Landwirtschaft

Sachregister Leben, politisches 12, 57, 96, 105, 128, 130 f., 142, 148, 194 Leben, soziales 12, 21, 87, 92, 139, 141, 170, 189, 194 Lebensmittel 68-72, 78, 192 Lebensprozeß der Völker 24 f. Legaltheorie 97, 143 Lehensystem 149, 195 Leidenschaft 49, 129, 131 Leihkapital 15 f. Leistung 19, 52, 68, 72, 85, 95, 125, 138, 141 f., 163 Liberalismus 48, 99, 105, 113, 124, 180 f. Liebe unter den Christen 178 s.a. Nächstenliebe Literatur 5056, 152, 169, 180, 190, 198 Logik 117, 132, 182 Lohn 73, 83, 85, 87 Lübeck 26 Macht, Mächte 12 f., 15, 17, 26, 33, 44, 46 f., 50, 85, 88 f., 94-96, 114-116, 119, 120, 124, 141-143, 149 f., 154, 161 f., 177-181, 195, 201 Macht des Willens 31, 99 s.a. Wille; s.a. Wollen Macht, wirtschaftliche 27, 60, 182 f. Mächte, konservative 43, 55 f. Mächte, Vererbung und Anpassung 22 Mann, Männer 16, 25, 29, 37, 43, 54, 84, 94, 115 f., 118, 124-128, 136, 138, 141, 162-164, 179 Manufaktursystem 115 Mark 137 Markgenossenschaft 58, 137 Markt 18, 42, 44, 60, 74, 80, 84 f., 138 Markt, Lage des Marktes 61, 82 f. Marxismus 86, 102, 106, 182 Maschine 15, 43, 55, 76, 79, 81 f. Maschinenarbeit 76 Materialismus 177 Meer 195, 201 Meinen, Meinung 4, 31, 45 f., 49, 55 f., 87, 96, 106, 109, 123, 126, 128, 143, 149, 168, 169, 171, 178, 183-185, 196 Meinung, öffentliche (auch: Öffentliche) 85 f., 94, 99 f., 101 f., 141, 177 f., 202

263

Mendikantenwesen 172 Mensch(en) 11 f., 25, 27, 29, 33, 35-40, 46, 54, 56 f., 60 f., 67-70, 73, 77 f., 88, 93, 96 f., 108, 122, 124, 126-128, 135, 143, 160-162, 166, 178 f., 182 f., 184-186, 191, 193 f. Menschengruppe 30 f., 38, 154, 189 Menschenhandel 18 f., 28 Menschenrecht 48 Menschenware 26 Menschen-Waare s. Menschenware Menschheit 123, 136, 151, 161, 164 f., 177, 183, 187, 197 Menschliche Gesamtheit 38 Merkantilismus 114 Mietkaserne 181 Miles Perpetuus s. Heer, stehendes Militär 88, 154 f. Militärdiktatur 118, 120 Migration 28 Mittel und Zweck 12-15, 60, 71, 95, 106, 132 Mittelalter 12, 16, 21 f., 23 f., 28, 34, 45 f., 57, 75, 79, 82, 114, 130 f., 136, 139, 151 f., 160, 163, 170, 172 Monarchie 113 f., 116, 118 f., 122, 127129, 154 Monarchie, absolute s. Absolutismus Monarchie, höfische 116 f. Monopol 74, 202 Moral 48, 99, 132, 149 Moralvorschriften, christliche 174 Nächstenliebe 184 Nahrung 25, 57, 68, 78, 81, 138, 147, 192, 194 Nationalwirtschaft 45 Nationalversammlung, deutsche 97, 144 Nationalversammlung, französische 47 Nation 23, 53 f., 107, 123, 129, 161 Nationalismus 108 f. Nationen s. Nation Natur 14, 25, 31, 39, 43, 48, 52 f., 57, 86, 89, 92 f., 100 f., 132 f., 135 f., 139 f., 161, 167, 184, 193 Naturrecht 45 f., 96 f., 116 f., 143, 181 Naturreligion 51

264

Apparat

Naturwissenschaft 37, 51 New Deal 101 f. Niederlande 174 f. Notwendigkeit 54, 89, 120, 122, 160, 162, 182 Nutzen 95 f., 132, 142 Oberitalien 148, 150, 174 f., 195 f. Obödienz 168 Orbis Terrarum 34, 190 Orden 25, 58 f., 172-174 Ordnung 13, 79, 88 f., 91, 95 f., 99, 137, 139, 142 s.a. Gesellschaftsordnung; s.a. Wirtschaftsordnung Organisation des Handels 55 Organisation des Verkehrs 55 Organisation, militärische 151, 173, 197 Organismus 38, 107 Orient 26, 43, 101, 163, 189 f., 203 Ort 13, 28 f., 38 f., 55, 68, 77 Opfer 33, 184 s.a. Totenkult Österreich 202 Pächter, Pachtsystem 58, 82 f., 115 Palästina 129 Panem et circenses 121 Papst 26 f., 46 f., 50, 129 Papsttum 150, 168 f., 171-173, 176, 196 Paris 51 f. Partei(en) 46, 55 f., 89, 104, 120 f., 131 f., 162, 173 f., 181 f., 202 f. Partei, politische 128 Partei: Bayerische Volkspartei 100 Partei: Britische Arbeiter-Partei 105 Partei: Britische Konservative Partei 105 Partei: Deutsche Zentrumspartei 100 Parteiung 128-130 s.a. Partei Patriziat 131 Person 15, 17, 36, 39, 59, 70-73, 75, 93 f., 114, 122, 124 f., 135 f., 141, 164 f., 185 Person, künstliche 39 Person, moralische 39 f. Person, natürliche 40 Phantasie 12, 34, 53, 155, 168 Pharisäer 165 Philologie, griechische 150, 196

Philosoph 49-51, 54, 106, 117, 149, 168 f., 191, 195 Philosophie 42 f., 49, 51-53, 161, 165, 168, 171, 175, 180, 193 Philosophie, neue 47, 54, 170 Philosophie, spekulative 43, 106 Physiokraten 45 Physiokratismus 100 Planwirtschaft 89 f., 107 Plutokratie 124, 130 Polis 33, 148, 190, 194 Politik 27, 49, 89, 100-105, 114 f., 123, 139, 148, 153, 194, 202 Politiker 102, 128, 182, 203 Präsidentenwahl 102, 128 s.a. Wahl Preiskampf 73 Preiskämpfe s. Preiskampf Presse 55, 130, 141 Preußen 77, 97, 119, 144, 153 Preußisches Landrecht 118 Priestertum 46, 167 Prime Minister 105 Privateigentum 58, 71, 92 f., 95-97, 138143 s.a. Eigentum Privatrecht 32, 46, 57-59 s.a. Recht Privilegien 53, 131 Produkt 13 f., 18, 25 f., 35, 68-70, 72 f., 76, 78-81, 95, 114 f., 142, 151, 190, 197 Produktion 13 f., 34, 42 f., 45, 72 f., 77 f., 81, 85, 92 f., 106, 123, 130, 139 f., 180 Produktivität der Arbeit 67, 75 Produzent 13 f., 74, 78 s.a. Urproduzent Proletariat 99, 133, 177, 180 f., 202 Proletarier 84, 86 Propaganda, christliche 58, 152, 171, 198 Protestantismus 48, 180, 198 Puritanismus 48 Quäkertum 49 f. Qualität 12, 18, 60 f., 80 Quasiwaren 72 f. Rabies theologorum 187 Ratio 12, 30, 34 f., 45, 118, 168 f. Rationalismus, antiker 34 Rationalismus, theologischer 180

Sachregister Reaktion 107, 117 f., 149, 152, 176, 196, 198 Recht 16, 18 f., 25, 27, 32, 45, 58, 95-97, 99, 116, 124-128, 135-138, 141 f., 143, 154 s.a. Erbrecht Recht, allgemeines 31 f., 34 Recht, empirisches 31 f. Recht, göttliches 45, 117 Recht, objektives 31 Recht, subjektives 31 Rechtsfug s. subjektives Recht Rechtsstaat 117, 119 Reform 115, 171 Reform, soziale 91 Reformation 46 f., 50 f., 150, 171, 176, 180, 196, 198 Reformkonzilien 172 Regeln 13, 31 f., 89, 120 Regierung 43 f., 104, 114, 116, 122, 124, 131, 154, 202 Reich, Deutsches 97 f., 103 f., 114, 133, 144, 175, 201 Reich, Heiliges Römisches 46 f. Reich, Römisches 16, 22-24, 34, 42 f., 108, 122, 150 f., 164-166, 196 f. Reichtum 17, 28, 44, 58, 68 f., 70, 100, 114, 123, 129 f., 141, 143, 148, 180, 184, 194 Religion 32, 43, 55, 59, 94, 122, 128 f., 141, 149, 157 Religion, christliche 24, 108, 128, 164, 178, 184, 187, 196 Religion, allgemein menschliche 164 Religion: Städte-Religion 171 Religionsphilosophie 165, 171 Religionsurkunde s. Heilige Schrift Renaissance 168, 170-172 Republik 13, 52, 105, 113, 117-119, 124, 153 Restauration 96, 118 Revelatio 168 f. Revolution 50, 106, 121, 129, 131, 167, 170 Revolution, Englische 47 Revolution, Französische 46 f., 51-54, 176, 180 Richter 31 f.

265

Ring s. Vereinigung von Unternehmungen Risiko 15, 84 Rom 25 f., 34, 121, 149, 167, 176, 190 Romantik, politische 100 Salzsteuer s. Gabelle Samtschaft(en) 135 Schiffahrt 16, 148, 195 s.a. Verkehr Schisma 128 f., 150, 168, 173, 196 Schrift, Heilige 56 Sekte(n) 48 f., 174, 180 Selbstregierung/-verwaltung der Bürger 43 f., 106, 117 Sippe 125, 136 f., 161 Sitte 29-34, 78, 162, 187, 193 Skandinavien (auch: skandinavische Länder) 104, 150 f., 152, 196-198 Sklavenhandel 18 s.a. Menschenhandel Sklaverei 43, 77, 149, 195 Sozialdemokratie 105, 181 f. Sozialgeschichte 91, 139 Sozialliberalismus 105 Sozialismus 89, 91, 182 Sozialismus, empirischer 105 f. Sozialismus, spekulativer 105 Sozialist 107 Sozialpolitik 101-103, 144 Sozialprodukt 95 Sozialreform s. New Deal Spanien 150, 174, 176, 196 Spekulation 84 Sprache 27, 29 f., 32, 34, 44, 53 f., 130, 147 f., 193-195 Sprache, ursprüngliche 29 Staat 17 f., 37, 40, 45 f., 50, 52 f., 57, 59, 78, 88, 95-97, 100 f., 105 f., 108 f., 111, 159 f., 164, 193 f. Staat: Kulturstaat 107 Staat: Rechts-Staat (auch: Rechtsstaates) 113, 117, 119 Staat: Verfassungsstaat 117 Staat, absoluter 117 f. Staat, moderner 45, 50, 108, 113 Staaten, Vereinigte, von Amerika 48, 81, 89 f., 101 f., 108, 118, 153 f., 202 Staatsform 117 f., 132 Staatsform, republikanische 124

266

Apparat

Staatsgewalt 13, 18, 48 f., 114, 116, 127 Staatskirche 47, 176 s.a. Kirche Staatslehre 45 Staatsrat 115 Staatsverfassung 119, 153 s.a. Verfassung; s.a. Grundgesetz Staatsverwaltung 114 Staatswesen 34, 47, 51, 122 Staatswirtschaft 45 Stadt 16, 25, 28, 37, 43 f., 58, 70, 88 f., 115, 117, 124, 129-131, 137 f., 147, 148, 162 f., 169-177, 189 f., 194 Städte s. Stadt Städte, oberitalienische 148, 150, 195 f. Städtewesen 148 f., 151 Stand 17-19, 31, 46 f., 51-53, 69, 99 f., 117, 128, 130, 154, 171, 174 f., 180 s.a. tiers état Stände s. Stand Stat s. Staat Stoffwechsel einer menschlichen Gesamtheit 38 s.a. menschlichen Gesamtheit Stör als Arbeitsform 14 Strafrecht 32 s.a. Recht Streben, nach 13, 41, 69, 74, 96, 109, 143 Subdelegés 115 f. Supranaturalismus 166, 180 Synagoge 51, 164 Syndikat s. Vereinigung von Unternehmungen System, kapitalistisch s. Kapitalismus Systeme, philosophische 43, 51 Tagespresse 55 Tätigkeit 12-16, 27, 68, 70, 72, 79 f., 86 f., 127, 148, 190 f., 195 Tatsache 28 f., 30 f., 45 f., 86-88, 120, 128, 135, 143, 148 f., 155, 167, 178 f., 187, 195 f. Tatsache, ökonomische 35, 77 Tausch 25, 27 f., 44, 68-71, 88, 91, 138 f. Tauschmittel 60 Tauschwert 14, 71, 74 f. Technik 15, 27, 34, 42 f., 55, 77, 85, 197 f. Theologie 35, 45, 47 f., 152, 170 f., 186 f. Theoretiker 45 f., 96 f., 105, 117, 143

Theorie 38, 43, 47, 52, 94, 96 f., 100, 106, 114, 116, 143, 170, 182 Tiers état 51 Tradition 22, 31, 34 , 46, 48 f., 52, 75, 143 Tradition, griechisch-römische 35 Trust s. Vereinigung von Unternehmungen Tod 38, 136, 186, 189 Tote 33, 87 s.a. Totenkult Totenkult 33 Türke(n) 150 f., 196 f. Überbau 182 Überlieferung 37, 51, 55 f., 99, 152, 162, 179 Ultramontanismus 151, 197 f. Unglaube 174, 176, 179, 185 s.a. Religion Unterbrechung 23 Ungleichheit 31 Unternehmer 16, 75, 80, 83, 93 Untertan 17, 47 f., 114, 131, 162, 167 Urproduzent 70 Unrecht 18, 31, 51 f., 87, 119 Ursache 26, 29 f., 39, 53, 67, 72, 78, 81, 86, 91, 104, 122 f., 128 f., 132, 138, 184, 192 Ursache, ökonomische 151, 197 Verbände 31, 37, 45 f., 58, 98, 137, 144 Verbände existieren nur als Idee 37 Verbände, patriarchalische 136 Verbindung, Verbindung von Ort und Menschengruppe 16, 18, 26, 29, 38 f., 57, 61, 73, 78 f., 84, 88, 125, 151, 175, 180, 185 Verbum 29 s.a. Sprache Verein 13, 39, 59, 106, 120, 174, 185 s.a. Korporation Vereinigung von Unternehmungen 41 f., 74, 116, 201 f. Vererbung 22, 27 f., 30, 34, 37, 55-57, 69 s.a. Tradition Verfassung 31, 50, 57 f., 97, 99, 117-120, 128, 144, 153 Vergehen, gegen das 161 Verhalten 33, 35 f., 49, 85 f. Verhältnis, feindliches 36 Verhältnis, Götter zu Menschen 35 f.

Sachregister Verhältnis, Individuum zur Korporation 35, 60 Verhältnis, Landwirtschaft zum Kapitalismus 81-83 Verhältnis, positives 36 Verkehr 13, 16, 25 f., 34, 55, 67, 77 f., 81 f., 85 f., 89, 93, 106, 129 f., 140, 148, 175, 179 f., 195 Verlag(s)system 14, 115 Vernunft 11, 29, 31 f., 44, 46 f. 51, 52 f., 72, 117, 124-126, 132 Vernünftigkeit des Absolutismus 117 s.a. Absolutismus Versammlung, beschlußfähige 40 Versand von Käse s. Ware: Versand von Waren Verständigung 29, 107, 133 Vertrag 13, 88, 176, 201 Vertragsverhältnis 46 Vertrauen 3, 33, 54, 125 Verweltlichung der Politik 49 Volk 11, 25 f., 34, 38, 46, 50 f., 53 f., 69 f., 94, 96, 108 f., 114 f., 117 f., 120 f., 123 f., 127, 129-131, 141 f., 149, 151, 155, 159, 161-163, 166, 172, 177-179, 195, 197, 203 Völkerbund 101 Völkerfrieden 107 Volksgemeinschaft 87 Volksmenge 21, 25, 28, 67, 77 f. Volkstribun 120 Volksvermehrung 21, 189 Volksvertretung 117 f. Volkswille 45 f., 121 Volkswirtschaft 27, 82, 84, 95, 107, 130, 142 Vorstellung 11, 17, 23 f., 28, 36, 39, 46, 121, 164, 168 f., 178, 191, 193 Vorteil 36, 59 f., 88, 92 f., 114, 139 f., 162 Wachstum 25, 28, 38, 91, 138, 148, 178, 182, 195 Wahl 102, 124 Wählbarkeit 128, 130, 127 f. Wahlrecht 47, 50, 118, 124, 130, 132 Wahlrecht für Frauen 118 Waare s. Ware

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Wahn, blinder 54, 123 Wahrheit des Christentums 178 Waldenser 174 s.a. Waldensertum Waldensertum 174 Wandlungen 11, 40, 84 Wanderung 29, 49, 69, 78, 94, 141, 169, 179, 189 s.a. Migration Ware 13-19, 26, 60 f., 70-75, 77, 80 f., 92 f., 115, 139 f., 170, 202 Ware: Herstellung von Waren 15 Ware: Versand von Waren 80 Warenhandel 93, 140 s.a. Handel Weltanschauung 51, 86, 100, 143, 170, 183 s.a. Meinung Weltfrieden 108 Weltgeschichte 160 Weltkrieg, Erster 104, 107 f., 118, 131133, 154, 178, 201 Weltkrieg, neuer 108 Weltmarkt 44 s.a. Weltwirtschaft Weltreich 23, 201 Weltwirtschaft 81, 86, 101, 107, 142 Wende des Quattro- zum Cinquecento 171 Werden, für das 161 Wert(e) 14, 18, 32, 36, 41, 56, 74 f., 79, 81, 100, 106, 132, 165, 174, 184 f. Wert, sozialer 92, 135, 162 Widerstand 60, 77, 89, 99, 123, 160 f. Widerwille 12 s.a. Wollen Wildheit 193 Wille 31 f., 40, 45 f., 49, 55, 78, 93, 96, 109, 114, 116, 119 f., 132, 142, 179, 185, 190 Wille zum Kriege 114 Willenserklärung 40 Willensmeinung 55 Willensverhältnis 31 Willkür 11 f., 33, 53, 84, 119, 125 s.a. Kürwille Wirklichkeit, naturwissenschaftliche 37 Wirtschaftsordnung 41, 94, 142 Wissenschaft 25, 34 f., 42-44, 48-50, 57, 77, 86 f., 89, 94, 96, 106, 127, 132 f., 141, 143, 148, 150-152, 157 Wollen 12 f., 29, 33, 39, 43, 52, 113, 193 s.a. Wille

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Apparat

Wunder 180, 183 Würdigung, gerechte 54, 195 Zeitalter 22 f., 34, 53, 56 f., 79, 92, 94, 100, 141, 151, 160, 163, 167, 175, 186, 197 Zeitung 55 f., 76, 151, 180, 197 Zivilisation 147, 155, 160, 166, 193 Zunft 49, 59, 115, 131, 138 Zusammenarbeit s. Kooperation

Zusammenleben, friedliches 187 Zustand 27 f., 31, 46, 48, 51, 55, 57, 78 f., 101, 107, 119, 130, 136, 161, 177, 192 Zwangsrechte 46 f. Zweck(e) 12-15, 35 f., 40, 46, 58-60, 71 f., 74 f., 80, 86, 91, 93, 95, 106, 114, 126, 132, 139, 142, 148, 195 Zweck des Kartellsystems 74 Zweck des Rechts 31

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band 1

Band 2 Band 3

Band 4

Band 5

Band 6 Band 7

Band 8 Band 9

Band 10

Band 11 Band 12

Band 13 Band 14

1875 – 1892: Eine höchst nötige Antwort auf die höchst unnötige Frage: „Was ist studentische Reform“ – De Jove Ammone quaestionum specimen · Schriften · Rezensionen 1887: Gemeinschaft und Gesellschaft 1893 – 1896: „Ethische Cultur“ und ihr Geleite – Im Namen der Gerechtigkeit – L’évolution sociale en Allemagne – Hobbes · Schriften · Rezensionen 1897 – 1899: Der Nietzsche-Kultus – Die Wahrheit über den Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg – Über die Grundtatsachen des socialen Lebens · Schriften · Rezensionen 1900 – 1904: Politik und Moral – Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit – L’évolution sociale en Allemagne (1890 – 1900) · Schriften 1900 – 1904: Schriften · Rezensionen 1905 – 1906: Schiller als Zeitbürger und Politiker – Strafrechtsreform – Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht · Schriften · Rezensionen 1907 – 1910: Die Entwicklung der sozialen Frage – Die Sitte · Schriften · Rezensionen 1911 – 1915: Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie – Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung · Schriften · Rezensionen 1916 – 1918: Die niederländische Uebersee-Trust-Gesellschaft – Der englische Staat und der deutsche Staat – Weltkrieg und Völkerrecht – Frei Finland – Theodor Storm – Menschheit und Volk · Rezensionen 1916 – 1918: Schriften 1919 – 1922: Der Gang der Revolution – Die Schuldfrage – Hochschulreform und Soziologie – Marx – Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914 · Schriften 1919 – 1922: Schriften· Rezensionen 1922: Kritik der öffentlichen Meinung

270 Band 15

Apparat

1923 – 1925: Innere Kolonisation in Preußen insbesondere der ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen – Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung I · Schriften Band 16 1923 – 1925: Schriften · Rezensionen Band 17 1926 – 1927: Das Eigentum – Fortschritt und soziale Entwicklung – Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung II – Der Selbstmord in Schleswig-Holstein Band 18 1926 – 1927: Schriften · Rezensionen Band 19 1928 – 1930: Der Kampf um das Sozialistengesetz 1878 – Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung III · Schriften Band 20 1928 – 1930: Schriften · Rezensionen Band 21 1931: Einführung in die Soziologie · Schriften · Rezensionen Band 22 1932 – 1936: Geist der Neuzeit · Schriften · Rezensionen Band 22,2 1932 – 1936: Geist der Neuzeit – Teil II, III und IV Band 23 Nachgelassene Schriften Teilband 1: 1873 – 1918 Teilband 2: 1919 – 1936 Band 24 Schlussbericht zur TG · Gesamtbibliographie und -register