Gesamtausgabe (MEGA): Band 26 Friedrich Engels: Dialektik der Natur (1873-1882) 9783050076218, 9783050033631

Dieser thematische Band vereinigt die von Engels hinterlassenen Planskizzen, Aufsätze, Fragmente und Notizen zu seinem u

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German Pages 1183 [1187] Year 1985

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Gesamtausgabe (MEGA): Band 26 Friedrich Engels: Dialektik der Natur (1873-1882)
 9783050076218, 9783050033631

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(MEGA]

KARLMARX FRIEDRICH ENGELS GESAMTAUSGABE (MEGA) ERSTE ABTEILUNG WERKE ARTIKEL ENTWÜRFE 0

o

BAND 26

Herausgegeben vom Institut ftir Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und vom Institut ftir Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands

FRIEDRICH ENGELS DIALEKTIK DER NATUR

(1873-1882) TEXT

DIETZ VERLAG BERLI N 1985

Redaktionskommission der Gesamtausgabe: Günter Heyden und Anatoli Jegorow (Leiter), Erich Kundel und Alexander Malysch (Sekretäre), Georgi Bagaturija, Rolf Dlubek, Heinrich Gemkow, Lew Golman, Michail M tschedlow, Richard Sperl Redaktionskommission der Ersten Abteilung: Rolf Dlubek (Leiter), Erich Kundel, Alexander Malysch, Richard Sperl, lnge Taubert Bearbeitung des Bandes: Anneliese Griese (Leiter), Friederun Fessen, Hella Hahn, Karl Heinig, Martin Koch und Gerd Pawelzig Gutachter: Georgi Bagaturija, Renate Merkel und Richard Sperl

Marx, Kar! : Gesamtausgabe : (MEGA) I Kar! Marx ; Friedrich Engels. Hrsg. vom lnst. für Marxismus-Leninismus beim ZK d. KPdSU u. vom Inst. für Marxismus-Leninismus beim ZK d. SED. - Berlin: Dietz Ver!. [Sammlung]. Abt. I. Werke, Artikel, Entwürfe : Bd. 26 : Dialektik der Natur (1873-1882) I Friedrich Engels Text. - 1985. - 72, 558 S. : 35 Abb. Apparat.- 1985.- S.559-1111. Text und Apparat Mit 35 Abbildungen © Dietz Verlag Berlin 1985 Lizenznummer I LSV 0046 Technische Redaktion: Friedrich Hackenberger, Heinz Ruschinski und Waltraud Schulze Korrektur: Renate Kröhnert, Lilo Langstein und Annelies Schwabe Einband: Albert Kapr Typografie: Albert KapriHorst Kinkel Schrift: Times-Antiqua und Maxima Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: INTERDRUCK Graphischer Großbetrieb Leipzig, Betrieb der ausgezeichneten Qualitätsarbeit Papierherstellung: VEB Druck- und Spezialpapiere Golzern Best.-Nr.: 7448160 13500

Inhalt Einleitung

17*

Editorische Hinweise

59*

DIALEKTIK DER NATUR (Chronologische Anordnung der Manuskripte) Büchner Dialektik der Naturwissenschaft Teilbarkeit- ein Säugetier Kohäsion Aggregatzustände Secchi Newtonsehe Attraktion und Zentrifugalkraft Laplaces Theorie Bei der Prätention des Büchner Reibung und Stoß Causa finalis Die Entwicklungsform der Naturwissenschaft Umschlag der Attraktion Die Gegensätzlichkeit der verständigen Denkbestimmungen Wer Kausalität leugnet Ding an sich Die wahre Natur der .,Wesens"bestimmungen Die mathematischen sog. Axiome Teil und Ganzes Identität - abstrakte Positiv und negativ Leben und Tod Schlechte Unendlichkeit

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10 10 10 10 10 10 11

11 11

12 13 13 13 13 14 14 14 14 15 16 16

5*

Inhalt

Identität. Zusatz Einfach und zusammengesetzt Urmaterie Die falsche Porositätstheorie Kraft. Wenn irgendwelche Bewegung Die Unzerstörbarkeit der Bewegung Ihr (der Bewegung) Wesen Kraft (s. oben) Bewegung und Gleichgewicht Kausalität Newtonsehe Gravitation Kraft. - Auch die negative Seite Wechselwirkung Unzerstörbarkeit der Bewegung Mechanische Bewegung Teilbarkeit der Materie Naturforscherliches Denken Induktion und Deduktion Bei Oken Causae finales und efficientes Gott wird nirgends schlechter behandelt Anläufe in der Natur Einheit von Natur und Geist Klassifizierung der Wissenschaften Ende des vorigen Jahrhunderts Protisten Individuum Wiederholung der morphologischen Formen Auf die ganze Entwicklung der Organismen Die ganze organische Natur Kinetische Gastheorie Der Satz der Identität Die Naturforscher glauben Historisches Gegensätzlichkeit der theoretischen Entwicklung Generatio aequivoca Kraft. Hegel Haeckel Antrop. 707 Mayer Mech. Th. d. W. 328 Beispiel der Notwendigkeit des dialektischen Denkens Moritz Wagner, Naturwissensch. Streitfragen Reaktion Identität und Unterschied -das dialektische Verhältnis Mathematisches Asymptoten

6•

17 17 17 17

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21 21

23 23 23 24 24

25 25 25 25 26 26 27 27 28 28 28

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32 32 34 34

35 36 36 36 36

41 41 41 42

Inhalt

Potenzen hoch Null Grad und krumm Äther Vertebrata Wärmestrahlung in den Weltraum Newtons Parallelogramm der Kräfte Bathybius Verstand und Vernunft Den All-lnduktionisten Kinetische Theorie Clausius - if correct Die Vorstellung Hard and fast lines Die Dialektik, die sogenannte objektive Struggle for life Licht und Finsternis Arbeit Induktion und Analyse Die sukzessive Entwicklung Clausius II. Satz Unterschied der Lage bei Ende der Alten Welt Historisches- Erfindungen Mädler, Fixsterne Nebelflecke Secchi : Sirius Nature N2 294ff. Hegel Gesch. d. Phil. Leucippus und Democrit Die Naturforscher mögen Einleitung Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen Die ewigen Naturgesetze Sklaverei Hegel, Logik. Bd. I Fourier (Nouveau Monde ind . et soc.) Unsinn von Haeckel Durch Induktion gefunden Polarisation Polarität Andres Exempel der Polarität Kostbare Selbstkritik Wenn Hegel vom Leben zum Erkennen 1) Der unendliche Progreß Quantität und Qualität

43

43 44 44 44

45 45 45 46 47 47 47 47 48

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101 102 103 104 104

106 106 106 107 107

108 108

7*

Inhalt

Zahl Mathematik Erhaltung der Energie Null Eins

F1

Anwendung der Mathematik Die Differentialrechnung Daß positiv und negativ Die Verachtung der Empiriker Attraktion und Gravitation Die erste, naive Anschauung Der geozentrische Standpunkt Wie wenig Comte Physiographie Neue Epoche beginnt Hege! konstruiert Wenn Coulomb Elektrizität. Zu den Räubergeschichten Hegels Einteilung Elektroehernie Wie alte, bequeme, auf die bisher übliche Praxis Statische und dynamische Elektrizität Kampf ums Dasein Molekül und Differential Kraft und Erhaltung der Kraft Trigonometrie Verbrauch kinetischer Energie ln der Bewegung der Gase Kugel

8*

109 109 109 110 112 114 115 115 115 116 116 116 117 117 117 117 118 119 121 121 121

122 123 124 126 126 126 127 127 128

F (x+ h, y+ k)

130

Über Nägelis Unfähigkeit, das Unendliche zu erkennen Zufälligkeit und Notwendigkeit Darwinsche Theorie Was Hege! die Wechselwirkung nennt Umschlag von Quantität in Qualität: einfachstes Exempel Wenn Hege! die Natur Die Empirie der Beobachtung Ad vocem Nägeli Hege! Enc. I, 205/6 Die Schwere Stoß und Reibung Descartes entdeckte Theorie und Empirie Aristarch von Samos

133 137 141 141 141 141 142 142 142 142 143 143 143 143

Inhalt

Hübsches Stück Naturdialektik Noten Über die Urbilder des mathematischen Unendlichen in der wirklichen Welt Über die .. mechanische" Naturauffassung Die Naturforschung in der Geisterwelt Alte Vorrede zu Dühring. Über Dialektik Plan 1878 Dialektik Plan 1880 Schluß für Thomson, Clausius, Loschmidt Cu - CuS04 1) Bewegung der Weltkörper Grundformen der Bewegung Maß der Bewegung - Arbeit 10kg gehoben Masse 4 1) v= ct

w

.

H' ./Be1 absolut

oo

mVZ auch bewiesen Flutreibung. Kant und Thomson-Tait Umschlag von Quantität in Qualität = .,mechanische" Weltanschauung Identität und Unterschied Wie Fourier Wenn Hegel Kraft und Äußerung Die Entwicklung eines Begriffs Abstrakt und konkret Bedeutung der Namen Den Wert einer Sache Erkennen Die dialektische Logik Einzelheit, Besonderheit, Allgemeinheit Oben aber auch nachgewiesen Hofmann Wärme Elektrizität Ausgelassenes aus .,Feuerbach" Dialektik und Naturwissenschaft Naturforschung und Dialektik Dialektik der Natur Mathematik und Naturwissenschaft. Diversa

143 144 146 151 155 165 173 175 183 183 184 184 187 202 215 216 218 219 219 220 225 225 225 225 225 226 226 227 228 229 231 231 231 232 236 284 288 288 288 288

9*

Inhalt

DIALEKTIK DER NATUR (Systematische Anordnung der Manuskripte) Plan 1878

293

Historische Einleitung Historisches Einleitung Notizen und Fragmente Die sukzessive Entwicklung Hegel Gesch. d. Phil. Leucippus und Democrit Aristarch von Samos Unterschied der Lage bei Ende der Alten Welt Historisches- Erfindungen

295 295 298 317 317 318 321 322 322 323

Gang der theoretischen Entwicklung seit Hegel. Philosophie und Naturwissenschaft

325

Alte Vorrede zu Dühring. Über Dialektik Die Naturforschung in der Geisterwelt Notizen und Fragmente Büchner Bei der Prätention des Büchner Ausgelassenes aus ,.Feuerbach" Die Naturforscher glauben Die Naturforscher mögen Wie Fourier Die falsche Porositätstheorie Hegel Enc.l, 205/6 Wenn Hegel die Natur Hofmann Theorie und Empirie Hegel konstruiert Die Verachtung der Empiriker Bei Oken Naturforscherliches Denken Gott wird nirgends schlechter behandelt Secchi Den Wert einer Sache

325 335 345 345 347 347 351 351 351 351 352 352 352 352 352 352 353 353 353 354 354

Dialektik als Wissenschaft

355

Dialektik Notizen und Fragmente Gesetze und Kategorien

355 361 361

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Inhalt

Die Dialektik, die sogenannte objektive Hard and fast lines Fourier (Nouveau Monde ind. et soc.) Die Gegensätzlichkeit der verständigen Denkbestimmungen Polarität Andres Exempel der Polarität Polarisation Die wahre Natur der "Wesens"bestimmungen Daß positiv und negativ Positiv und negativ Teil und Ganzes Einfach und zusammengesetzt Identität und Unterschied Der Satz der Identität Identität- abstrakte Identität. Zusatz Zufälligkeit und Notwendigkeit Wechselwirkung Kausalität Die Empirie der Beobachtung Wer Kausalität leugnet Causae finales und efficientes Hegel, Logik. Bd. I Erkennen Einheit von Natur und Geist Verstand und Vernunft Die Entwicklung eines Begriffs Abstrakt und konkret Erkennen Die dialektische Logik Oben aber auch nachgewiesen Einzelheit, Besonderheit, Allgemeinheit Unsinn von Haeckel Durch Induktion gefunden Induktion und Deduktion Den All-lnduktionisten Induktion und Analyse Die Entwicklungsform der Naturwissenschaft Ding an sich Kostbare Selbstkritik Die ewigen Naturgesetze Der geozentrische Standpunkt Über Nägelis Unfähigkeit, das Unendliche zu erkennen Ad vocem Nägeli Schlechte Unendlichkeit 1) Der unendliche Progreß

361 362 362 363 363 363 364

365 365 365 365 365 365 366 366 367 368 371 372

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388 388 11*

Inhalt

Bewegungsformen der Materie und Zusammenhang der Wissenschaften Dialektik der Naturwissenschaft Klassifizierung der Wissenschaften Ende des vorigen Jahrhunderts Wie wenig Comte Hegels Einteilung Noten Über die "mechanische" Naturauffassung Umschlag von Quantität in Qualität = "mechanische" Weltanschauung

389 389 390 390 390 395 395 396 399

Dialektischer Inhalt der Wissenschaften

400

Plan 1880 Grundformen der Bewegung Notizen und Fragmente Causa finalis Urmaterie Die Schwere Attraktion und Gravitation Umschlag der Attraktion Teilbarkeit der Materie Teilbarkeit- ein Säugetier Ihr (der Bewegung) Wesen Kraft. Hegel Haeckel Antrop. 707 Mechanische Bewegung Bewegung und Gleichgewicht 1) Bewegung der Weltkörper Die Unzerstörbarkeit der Bewegung Erhaltung der Energie Unzerstörbarkeit der Bewegung Kraft und Erhaltung der Kraft Kraft. Wenn irgendwelche Bewegung Kraft (s. oben) Wenn Hegel Kraft und Äußerung Kraft.- Auch die negative Seite Maß der Bewegung - Arbeit Notizen und Fragmente mo? auch bewiesen 10kg gehoben Masse 4 1)v=ct Zur Mathematik Über die Urbilder des mathematischen Unendlichen in der wirklichen Welt

400

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401 416 416 416 416 417 417 417 418 418 418 418 418 419 420 420 420 421 421 421 423 423 423 424 437 437 437 438 440 443 443

Inhalt

Die mathematischen sog. Axiome Identität und Unterschied - das dialektische Verhältnis Mathematisches Die Differentialrechnung Molekül und Differential Quantität und Qualität Zahl Null Eins Potenzen hoch Null

F1

Mathematik Asymptoten Grad und krumm Trigonometrie Anwendung der Mathematik Kugel F (x + h, y+ k) Zu Mechanik und Astronomie Beispiel der Notwendigkeit des dialektischen Denkens Newtonsehe Attraktion und Zentrifugalkraft Newtonsehe Gravitation Newtons Parallelogramm der Kräfte Laplaces Theorie Mädler, Fixsterne Nebelflecke Secchi: Sirius Flutreibung. Kant und Thomson-Tait Descartes entdeckte Mayer Mech. Th. d. W. 328 Verbrauch kinetischer Energie Stoß und Reibung Reibung und Stoß Zur Physik Wärme Elektrizität Notizen und Fragmente Die erste, naive Anschauung Wärmestrahlung in den Weltraum Clausius - if correct Clausius II. Satz Schluß für Thomson, Clausius, Loschmidt Aggregatzustände Kohäsion ln der Bewegung der Gase

448 448 448 449

449 449 450 450 452 453 453 454 454 454 455 455 455 457 458 458 458 458 459 459 459 460 461 462 466 466 467 467 467 468 468 471 516 516 517 517 517 518 518 518 518

13*

Inhalt

:./Bei absolut 0°

518

Kinetische Theorie Kinetische Gastheorie Gegensätzlichkeit der theoretischen Entwicklung Äther licht und Finsternis Wenn Coulomb Elektrizität. Zu den Räubergeschichten Statische und dynamische Elektrizität Hübsches Stück Naturdialektik Elektrochemie Cu- CuS04 Zur Chemie Die Vorstellung Neue Epoche beginnt Umschlag von Quantität in Qualität: einfachstes Exempel Wie alte, bequeme, auf die bisher übliche Praxis Bedeutung der Namen Zur Biologie Physiographie Reaktion Leben und Tod Generatio aequivoca Moritz Wagner, Naturwissensch. Streitfragen Protisten Bathybius Nature N2 294 ff. Individuum Die ganze organische Natur Wiederholung der morphologischen Formen Auf die ganze Entwicklung der Organismen Vertebrata Wenn Hegel vom Leben zum Erkennen Was Hegel die Wechselwirkung nennt Anläufe in der Natur Darwinsche Theorie Kampf ums Dasein Struggle for life Arbeit

519 519 519 519 519 520

Natur und Gesellschaft

540

Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen

540

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522 522

523 523 523 524 524 524 524 524 525 526 526 526 526 527 528 532 534 534

535 535 535 535 535 535 536 536 536 536 537 538

Inhalt

Titel der Umschläge, Inhaltsverzeichnisse Dialektik und Naturwissenschaft Naturforschung und Dialektik Dialektik der Natur Mathematik und Naturwissenschaft. Diversa

554 554 554 554 554

Apparat

559

Register

1039

Verzeichnis der Abbildungen Naturdialektik 1. Seite [1]

7

Naturdialektik 1. Seite [2]

8

Leucippus und Democrit. Seite [1] in der Handschrift von Marx

63

Einleitung. Seite [1]

69

Zeichnung auf der Rückseite eines Blattes mit dem Text [174]

131

Dialektik. Seite [1]

177

Seite mit dem "Plan 1880"

185

Elektrizität. Seite [1]

237

Plan 1878

291

Alte Vorrede zu Dühring. Über Dialektik. Seite 1

327

Engels an Marx, 30. Mai 1873. Seite [1] mit Randbemerkungen von Carl Schorlemmer

391

Engels an Marx, 30. Mai 1873. Seite [2]

392

Engels an Marx, 30. Mai 1873. Seite [3]

393

Berechnungen zum Kapitel "Maß der Bewegung- Arbeit". Seite [2]. Text [173]

441

Berechnungen zum Kapitel "Maß der Bewegung- Arbeit". Seite [3]. Text [173]

442

Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. Seite 1

541

Text [194] auf Umschlag Nr. 31

555

Text [195] auf Umschlag Nr. 30

556

Text [196] auf Umschlag Nr. 32

557

Text [197] auf Umschlag Nr. 28

558

Engels an Marx, 14. Juli 1858. Seite [1]

573

Engels an Marx, 14. Juli 1858. Seite [2]

574

Engels an Marx, 14. Juli 1858. Seite [3]

575

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Inhalt

Titel der Umschläge, Inhaltsverzeichnisse Dialektik und Naturwissenschaft Naturforschung und Dialektik Dialektik der Natur Mathematik und Naturwissenschaft. Diversa

554 554 554 554 554

Apparat

559

Register

1039

Verzeichnis der Abbildungen Naturdialektik 1. Seite [1]

7

Naturdialektik 1. Seite [2]

8

Leucippus und Democrit. Seite [1] in der Handschrift von Marx

63

Einleitung. Seite [1]

69

Zeichnung auf der Rückseite eines Blattes mit dem Text [174]

131

Dialektik. Seite [1]

177

Seite mit dem "Plan 1880"

185

Elektrizität. Seite [1]

237

Plan 1878

291

Alte Vorrede zu Dühring. Über Dialektik. Seite 1

327

Engels an Marx, 30. Mai 1873. Seite [1] mit Randbemerkungen von Carl Schorlemmer

391

Engels an Marx, 30. Mai 1873. Seite [2]

392

Engels an Marx, 30. Mai 1873. Seite [3]

393

Berechnungen zum Kapitel "Maß der Bewegung- Arbeit". Seite [2]. Text [173]

441

Berechnungen zum Kapitel "Maß der Bewegung- Arbeit". Seite [3]. Text [173]

442

Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. Seite 1

541

Text [194] auf Umschlag Nr. 31

555

Text [195] auf Umschlag Nr. 30

556

Text [196] auf Umschlag Nr. 32

557

Text [197] auf Umschlag Nr. 28

558

Engels an Marx, 14. Juli 1858. Seite [1]

573

Engels an Marx, 14. Juli 1858. Seite [2]

574

Engels an Marx, 14. Juli 1858. Seite [3]

575

15*

Inhalt Engels an Marx, 14. Juli 1858. Seite [4]

576

Exzerptheft XVI. Inhaltsverzeichnis

591

Exzerptheft XVIII. Seite [1]

592

Elektrizität. Seite [34]

789

Elektrizität. Seite 35 mit überklebter Stelle in der Mitte der linken Spalte

790

ludwig Büchner : Der Mensch und seine Stellung in der Natur ... Seite 170 mit einer Anstreichung von Engels

831

ludwig Büchner : Der Mensch und seine Stellung in der Natur ... Seite 171 mit einer Anmerkung von Engels

832

[neTp naapoaH4 naapoa :] OnbiTb HCTopiH MbiCnH. T. 1. Seite 102

885

[neTp naapOBH4 naapoa :] OnbiTb HCTOpiH MbiCnH. T. 1. Seite 103

886

Hermann Helmholtz: Populäre wissenschaftliche Vorträge. Heft 2. Seite 103 mit einer Anmerkung von Engels

989

Hermann Helmholtz : Populäre wissenschaftliche Vorträge. Heft 2. Seite 166 mit einer Anmerkung von Engels

990

Hermann Helmholtz : Populäre wissenschaftliche Vorträge. Heft 2. Seite 53 mit einer Anmerkung von Engels

1011

16*

Einleitung Der vorliegende Band enthält die "Dialektik der Natur", die von Friedrich Engels zwischen 1873 und 1882 niedergeschrieben wurde. Zur "Dialektik der Natur" gehören eine Fülle einzelner Notizen, Studien zu Detailproblemen, konzeptionelle Entwürfe und Texte mit Exzerptcharakter, aber auch größere, relativ geschlossene Ausarbeitungen, die vom Autor gelegentlich als Kapitel bezeichnet wurden. Es handelt sich um fast 200 einzelne Textstücke. Das Werk blieb unvollendet und wurde daher zu Engels' Lebzeiten nicht publiziert. Im Prozeß der Arbeit an der "Dialektik der Natur" lassen sich zwei große Arbeitsperioden unterscheiden, die ihrerseits jeweils vier einzelne Arbeitsphasen umfassen (siehe S. 57~594). Während in der ersten Arbeitsperiode (Anfang 1873 bis Mitte 1878) vor allem Notizen und kleinere Studien entstanden, ist für die zweite Arbeitsperiode (Sommer 1878 bis Sommer 1882) die Orientierung auf größere Manuskripte charakteristisch. Zum unmittelbaren Ausgangspunkt für Engels' Arbeit an der "Dialektik der Natur" wurde der Text "Büchner" (S. 5-9), der vermutlich Anfang 1873 als vorläufige Konzeption zu einer größeren, später nicht ausgeführten Streitschrift gegen Ludwig Büchner entstand (siehe S. 571 /572) und in dem Engels bereits die Erkenntnis formulierte, daß die des Mystizismus entkleidete Dialektik "eine absolute Nothwendigkeit für die Naturwissenschaft" wird, wenn diese das Gebiet verlassen hat, wo die festen Kategorien ausreichen (S. 6). Damit knüpfte Engels an frühere Überlegungen an, wie er sie bereits in seinem Brief an Karl Marx vom 14. Juli 1858 formuliert hatte (siehe Erl. 6.24--29). Ausgehend von "Büchner" reiften bei Engels die konzeptionellen Vorstellungen, die der "Dialektik der Natur" zugrunde liegen. Dies wird vor allem in seinem Brief an Marx vom 30. Mai 1873 deutlich, der offenbar auf

17*

Einleitung

der Grundlage des Textes "Dialektik der Naturwissenschaft" (S. 9/10) niedergeschrieben wurde und in dem Engels erstmals seine Absicht erkennen läßt, eine selbständige theoretische Arbeit über den Zusammenhang von Dialektik und Naturwissenschaft zu schreiben (siehe Erl. 9.11-10.10). Eine konkretere inhaltliche Orientierung für die Texte der zweiten Arbeitsperiode geben der "Plan 1878" (S. 173/174) sowie der "Plan 1880" (S. 183). Engels arbeitete in der Zeit von 1873 bis 1882 nicht nur an seinem "naturphilosophischen Werk", wie Karl Marx die "Dialektik der Natur" einmal bezeichnete (Marx an Wilhelm Alexander Freund, 21. Januar 1877), sondern war auch mit vielfältigen anderen wissenschaftlichen und politischen Aufgaben beschäftigt, die ihren Niederschlag in verschiedenen Schriften finden (siehe MEGA@ 1/24 und MEGA@ 1/25). Enge inhaltliche Zusammenhänge gibt es zwischen der "Dialektik der Natur" und der von 1876 bis 1878 entstandenen polemischen Schrift "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft", besonders dem Abschnitt "Philosophie" (siehe MEGA@ 1/27). Beide Werke sind auch hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte miteinander verflochten (siehe S. 582-584). ln der Auseinandersetzung mit Eugen Dühring konnte sich Engels auf bereits vorliegende Texte der "Dialektik der Natur" stützen. Aus der Polemik mit Dühring ergaben sich Anregungen für die weitere Arbeit an der "Dialektik der Natur" (siehe die Texte [104]-[158], darunter besonders [112]-[120]). Einige der zu ihr gehörenden Texte entstanden im Zusammenhang mit der Schrift gegen Dühring und wurden der "Dialektik der Natur" erst später zugeordnet (siehe [159]-[161] und [163]). Die "Dialektik der Natur" ist ein grundlegendes philosophisches Werk des Marxismus. Durch die Verarbeitung vor allem neuerer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gelangte Engels darin zu einer wesentlichen Bereicherung und Vertiefung der materialistischen Dialektik. Zusammen mit "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" repräsentiert dieses Werk eine neue Entwicklungsetappe der marxistischen Philosophie, die unlösbar mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungen besonders im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verbunden ist. Mit der "Dialektik der Natur" trug Engels objektiven Erfordernissen sowohl der Arbeiterbewegung als auch der Wissenschaftsentwicklung Rechnung. Mit Beginn der siebziger Jahre trat die Arbeiterbewegung in den fortgeschrittenen Ländern Europas in eine neue Periode ein. Es begann "die Phase der ,friedlichen' Vorbereitung auf die Epoche künftiger Umgestaltungen" (W. I. Lenin: Die historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx. ln: Werke. Bd.18. Berlin 1984. S.577). Diese Phase wird nach Lenin durch folgende Prozesse bestimmt: "Überall entstehen sozialistische, ihrer Grundlage nach proletarische Parteien ... Die Marxsche Lehre trägt den

18*

Einleitung

vollen Sieg davon und - wächst in die Breite. Langsam, aber beharrlich geht der Prozeß der Sammlung und Zusammenfassung der Kräfte des Proletariats, seiner Vorbereitung auf die künftigen Schlachten vor sich." (Ebenda. S. 577 /578.) Mit dem Eintritt in diese neue Periode ergaben sich auch höhere Anforderungen an die Theorie des Marxismus, an ihre Propagierung in der Arbeiterbewegung. Es wurde notwendig, sie allseitig und systematisch auszuarbeiten und gegen die intensiver werdenden Angriffe und Verleumdungen zu verteidigen. Die neue Periode der Arbeiterbewegung setzte die volle Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise und deren allmählichen Obergang in das imperialistische Stadium voraus. Dieser Prozeß war von einer stürmischen Entwicklung der Produktivkräfte geprägt, die sich im Ergebnis der industriellen Revolution vollzog und ihren sichtbaren Ausdruck in der Maschinenindustrie, im Hüttenwesen, in der Nachrichtentechnik sowie in der chemischen Industrie fand. So wie die Dampfmaschine - zusammen mit den Werkzeugmaschinen - im 18. Jahrhundert die industrielle Revolution eingeleitet und den Obergang von der Manufaktur zur mechanischmaschinellen Großproduktion ermöglicht hatte, so führten Eisenbahnlokomotive und Dampfschiffkessel im 19. Jahrhundert zu einer Revolution im Verkehrswesen. War 1850 für das Eisenbahnwesen in Europa mit ca. 15000 Streckenkilometern das Versuchsstadium beendet, so existierten 1900 mit über 280000 Streckenkilometern bereits mehr als 80 Prozent des gegenwärtigen Streckennetzes Europas. Die industrielle Revolution bedingte eine großartige Entwicklung der Naturwissenschaften vor allem seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, in deren Verlauf bedeutende Entdeckungen, insbesondere in Physik, Chemie und Biologie, gemacht wurden. Dazu gehören auch die von Engels mehrfach hervorgehobenen drei großen Entdeckungen: Energiesatz, Zellentheorie und Darwinsche Entwicklungstheorie (siehe S. 284-287). Es entstanden neue Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft, Produktion und Technik. ln Industrie, Verkehrswesen, Landwirtschaft und anderen Bereichen wurden zunehmend natur- und ingenieurwissenschaftliches Denken gefordert und eine immer größere Zahl technisch gebildeter Fachkräfte verlangt. Erstmalig führten naturwissenschaftliche Entdeckungen wenn auch mit zeitlicher Verzögerung- direkt zum Entstehen neuer Industriezweige (Elektroindustrie). Im Ergebnis der industriellen Revolution vollzogen sich weitreichende Veränderungen im Bildungswesen. Die Erfordernisse von Bergbau, Industrie und modernem Verkehrswesen bedingten das Interesse der Bourgeoisie an einem umfangreicheren naturwissenschaftlichen Unterricht in den allgemeinbildenden Schulen und führten zur Errichtung spezieller natur-

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Einleitung

wissenschaftlich-technischer Bildungseinrichtungen. An den Universitäten nahm die Zahl der naturwissenschaftlichen Lehrstühle und die Differenzierung der Lehrfächer zu. Lehrstühle für Physik und Chemie wurden mit Laboratorien ausgerüstet. Es stieg die Anzahl der naturwissenschaftlichen Zeitschriften. Bürgerlich-demokratisch eingestellte hervorragende Gelehrte wurden mit Wort und Schrift für ein größeres Publikum wirksam- es entstand die populärwissenschaftliche Bildungsbewegung, die besonders auf dem Gebiet der Naturwissenschaften stärkeren Einfluß auch auf die sich formierende selbständige Arbeiterbildungsbewegung gewann. Das wachsende öffentliche Interesse für naturwissenschaftliche Erkenntnisse und ihre weltanschaulichen Konsequenzen widerspiegelte sich in den siebziger Jahren auch in der sozialdemokratischen Presse. Der für das 19. Jahrhundert charakteristische naturwissenschaftliche Erkenntnisfortschritt war mit neuen Formen des Zusammenwirkens der Wissenschaftler verbunden. Die wissenschaftlichen Reiseexpeditionen in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts trugen ausgesprochen multidisziplinären Charakter. Eine herausragende Bedeutung für Wissenschaftsentwicklung und Bildungspolitik erlangten nationale Wissenschaftlerforen, wie z. B. die Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, die erstmals 1822 von Lorenz Oken in Leipzig organisiert und in der Regel jährlich durchgeführt wurde, oder die wenige Jahre später in England ins Leben gerufene British Association for the Advancement of Science. Diese Foren hatten eine ausgesprochen integrative Funktion. ln ihnen wurden viele der bedeutendsten Gelehrten der einzelnen Länder wirksam. So nahmen an den Versammlungen deutscher Naturforscher und Aerzte Alexander von Humboldt, Hermann von Helmholtz, Emil Du Bois-Reymond, Ernst Haeckel, Rudolf Virchow und Carl Wilhelm von Nägeli teil. Daraus wird verständlich, warum Engels den Materialien dieser Foren große Aufmerksamkeit schenkte. Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungen vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts machten es möglich und notwendig, die marxistische Philosophie als theoretisches Fundament des wissenschaftlichen Sozialismus weiterzuentwickeln. Unter dem Eindruck der gewaltigen Fortschritte in Wissenschaft, Technik und materieller Produktion begann Engels mit einem umfassenden und systematischen Studium der Naturwissenschaften und der Mathematik und gewann so einen spezifischen Zugang zur Philosophie. Einen höheren Stellenwert erlangte für ihn die Frage, was eine materialistische und dialektische Auffassung von der Natur eigentlich beinhaltet, welchen Platz sie in der einheitlichen wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse einnimmt und inwiefern sie als eine Konsequenz aus den Naturwissenschaften abgeleitet werden kann. ln der Lösung

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dieser Frage sah Engels den Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen. Nach seinem Verständnis kann man die marxistische Philosophie umfassend und in sich konsistent nur dann entwickeln, wenn auch die Naturwissenschaften und die Mathematik zum Gegenstand philosophischer Behandlung werden. Grundlegende theoretische Positionen einer weltanschaulich-philosophischen Auffassung überdie Naturund die Naturwissenschaft entwickelten Marx und Engels bereits im Prozeß der Herausbildung ihrer einheitlichen, Natur, Gesellschaft und Denken umfassenden dialektisch-materialistischen Weltanschauung. Ein wesentlicher Ausgangspunkt für sie war in diesem Zusammenhang Ludwig Feuerbach, der mit seiner Schrift "Das Wesen des Christenthums" (1841)- wie Engels später rückblickend einschätzte"den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob" (Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Stuttgart 1888. S. 12). Damit wurde auch die Rückkehr zu einer materialistischen Naturauffassung vollzogen: "Die Natur existirt unabhängig von aller Philosophie; sie ist die Grundlage, auf der wir Menschen, selbst Naturprodukte, erwachsen sind; ausser der Natur und den Menschen existirt nichts" (ebenda). Diesen philosophischen Materialismus führten Marx und Engels in neuer Qualität weiter. Bereits in den vierziger Jahren erkannten sie, daß eine wissenschaftliche Erklärung für die Entstehung und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft die Untersuchung des Verhältnisses des Menschen zur Natur unter verschiedenen Gesichtspunkten einschließt. Mehr noch: Der Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, die materielle Produktion, ist vom Standpunkt der materialistischen Geschiehtsauffassung die Grundlage aller gesellschaftlichen Entwicklung. Unterdiesem Gesichtspunkt interessierten sich Marx und Engels von Anfang an auch für die Naturwissenschaften. So kritisierte Marx bereits in den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" von 1844 die bisherige Geschichtsschreibung, die "auf die Naturwissenschaft nur beiläufig Rücksicht" genommen habe, und stellte ihr die eigene Position entgegen, wonach die Industrie als das "wirkliche geschichtliche Verhältniß der Natur und daher der Naturwissenschaft zum Menschen" betrachtet werden muß (MEGA@ 1/2. S. 271/272). Zur gleichen Zeit entwickelte Engels in seiner ersten ökonomischen Arbeit "Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie" (1844) in Auseinandersetzung mit Thomas Robert Malthus seine Auffassung von der dem Gesellschaftsfortschritt dienenden Kraft der Wissenschaft und charakterisierte die Widersprüchlichkeit dieses Fortschritts unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise (siehe MEGA@ l/3). 1n seinem Aufsatz

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"Die Lage Englands. II. Das achtzehnte Jahrhundert" (1844) gelangte Engels zu der Erkenntnis, daß mit der Eriindung der Dampfmaschine und der Maschinen zur Verarbeitung der Baumwolle der Anstoß zu einer industriellen Revolution gegeben worden sei, die die ganze bürgerliche Gesellschaft umwandelte (MEGA® 1/3. S. 548-557). Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang ebenfalls "Die deutsche Ideologie" (1845/1846), in der Marx und Engels die ganze bisherige Geschichtsauffassung der Kritik unterwarien, auch insofern diese das Verhältnis des Menschen zur Natur von der Geschichte ausgeschlossen und somit den Gegensatz von Natur und Geschichte erzeugt habe. Demgegenüber betonten sie, "daß die vielgerühmte ,Einheit des Menschen mit der Natur' in der Industrie von jeher bestanden und in jeder Epoche je nach der geringeren oder größeren Entwicklung der Industrie anders bestanden hat ebenso wie der ,Kampf' des Menschen mit der Natur, bis zur Entwicklung seiner Productivkräfte auf einer· entsprechenden Basis" (Karl Marx, Friedrich Engels : Die deutsche Ideologie. S. 9). Ihre Entwicklung und Präzisierung fanden die ersten Überlegungen über das Verhältnis des Menschen zur Natur und über den Zusammenhang von Naturwissenschaft und materieller Produktion in den ökonomischen Arbeiten von Marx, beginnend mit den "Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" (1857 /1858) (siehe MEGA® 11/1) über "Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript1861-1863)" (siehe MEGA® 11/3.1-6) biszum "Kapital", dessen erster Band 1867 erschien (siehe MEGA® 1115). Dort begründete er, daß die Produktivkraft menschlicher Arbeit unter anderem durch die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und deren technologische Anwendbarkeit bestimmt wird, daß sich mit der Entwicklung der Maschinerie und großen Industrie die Wissenschaft in eine selbständige Produktionspotenz verwandelt und daß die Arbeiterklasse in der sozialistischen Revolution ein neues Verhältnis zu den Naturwissenschaften realisiert. Marx und Engels verbanden ihre Untersuchungen über den Zusammenhang von Naturwissenschaft und materieller Produktion stets mit dem Bemühen, den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß sowie seine philosophischen Voraussetzungen und Konsequenzen tiefer zu verstehen. Weitsicht und Gründlichkeit waren von Anfang an Merkmale ihrer wisse':lschaftlichen Arbeit. Zeugnis hieriür sind unter anderem Engels' Aufsatz über "Die Lage Englands. II. Das achtzehnte Jahrhundert" (MEGA® 1/3), die erste von Marx und Engels gemeinsam veriaßte Arbeit "Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten" von 1845 und nicht zuletzt die zwischen ihnen oder mit dritten Personen gewechselten Briefe. Sie lassen erkennen, daß die naturwissenschaftlichen Studien von Marx und Engels am Ende der fünfziger Jahre in eine neue Phase ein-

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traten. Es begann- wie vor allem Engels' Brief an Marx vom 14. Juli 1858 dokumentiert- die eigentliche Vorgeschichte der "Dialektik der Natur". ln der "Dialektik der Natur" wurden die frühen Auffassungen vo~:~ Marx und Engels über Natur und Naturwissenschaft unter allgemeinen weltanschaulich-philosophischen Gesichtspunkten weitergeführt und in Verbindung mit den nun systematisch betriebenen naturwissenschaftlichmathematischen Studien von Engels konkretisiert. Auf diese Weise vollzog Engels entscheidende Schritte zur Weiterentwicklung der marxistischen Philosophie. Mit der "Dialektik der Natur" wird im Detail nachgewiesen, daß der dialektische Materialismus eine einheitliche wissenschaftliche Weltanschauung darstellt, die es gestattet, Natur und Gesellschaft von den gleichen Prinzipien ausgehend als ein Ganzes zu erfassen. Diesen Nachweis zu führen war, wie Engels später rückblickend erklärte, das Anliegen seiner Beschäftigung mit den Naturwissenschaften und der Mathematik. "Es handelte sich bei dieser meiner Rekapitulation der Mathematik und der Naturwissenschaften selbstredend darum, mich auch im Einzelnen zu überzeugen - woran im Allgemeinen kein Zweifel für mich war - daß in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen; dieselben Gesetze, die, ebenfalls in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens den durchlaufenden Faden bildend, allmälig den denkenden Menschen zum Bewußtsein kommen; die zuerst von Hegel in umfassender Weise, aber in mystifizirter Form entwickelt worden, und die aus dieser mystischen Form herauszuschälen und in ihrer ganzen Einfachheit und Allgemeingültigkeit klar zur Bewußtheit zu bringen, eine unserer Bestrebungen war." (Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft. 2. Aufl. Hottingen-Zürich 1886. S. XII/XIII.) Indem Engels dieses Anliegen realisierte, begründete er die Allgemeingültigkeit der zuvor gemeinsam mit Marx erarbeiteten philosophischen Positionen und entwickelte eine materialistische und dialektische Auffassung von der Natur, ohne die die wissenschaftliche Weltanschauung der Arbeiterklasse unvollständig bliebe . Dabei ging es ihm primär um die Aufdeckung der objektiven Dialektik der Natur, d. h. "der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen in einander resp. in höhere Formen, eben das leben der Natur bedingen" (S. 48). Eine philosophische Naturauffassung in diesem Sinne beinhaltet die Idee von der Selbstbewegung und Entwicklung der Natur. Insofern die Entstehung des

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Menschen die Naturgeschichte zur Voraussetzung hat und die Gesellschaft in ihrer Entwicklung unlösbar mit der Natur verbunden bleibt, ist diese Idee Grundlage auch für das Verständnis der Geschichte der Gesellschaft (siehe S. 67-87). Bei der Ausarbeitung der philosophischen Naturauffassung als Lehre von der Selbstbewegung und Entwicklung der Natur gelangte Engels zur Bereicherung und Vertiefung grundlegender Aussagen des philosophischen Materialismus. Sie betreffen vor allem die Einheit von Materie, Bewegung, Raum und Zeit, für deren Begründung Engels schon 1873 neue Ansatzpunkte formulierte. Es ist dies insbesondere seine Idee, daß es qualitativ verschiedene Bewegungsformen der Materie gibt und diese unter bestimmten Bedingungen ineinander übergehen (siehe S. 9/10 und Engels an Marx, 30. Mai 1873). Die später gegebenen Bestimmungen von Bewegung als "Daseinsweise, als inhärentes Attribut der Materie" (S. 187) und von Raum und Zeit als "Existenzformen der Materie" (S. 135) lassen sich nur unter Voraussetzung dieser Idee und ihrer Präzisierung im Prozeß der Arbeit an der "Dialektik der Natur" richtig verstehen und werten. Engels wandte sich auch gegen die vereinfachende Annahme, man könne Materie, Bewegung, Raum und Zeit als solche sinnlich erkennen. Es handelt sich- wie er ausdrücklich betonte - um Abstraktionen, um "Abkürzungen, in die wir viele verschiedne sinnlich wahrnehmbare Dinge zusammenfassen nach ihren gemeinsamen Eigenschaften" (S. 136). Mit der "Dialektik der Natur" leistete Engels einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung der materialistischen Dialektik. Bei der philosophischen Behandlung der Naturwissenschaften wurde die Dialektik als allgemeine philosophische Theorie und Methode weiter ausgearbeitet. Auch dies entspricht der erklärten Zielstellung von Engels, wie der "Plan 1878" (S. 173/174) deutlich erkennen läßt. Dialektik als Wissenschaft war für Engels nur auf materialistischer Basis möglich. Diesen fundamentalen Gesichtspunkt entwickelte er unter Bezug auf Feuerbach vor allem in der Auseinandersetzung mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der die Gesetze der Dialektik als bloße Denkgesetze auffaßte, während Engels sie aus der Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft und des Denkens ableitete und als wirkliche Entwicklungsgesetze begriff (siehe S.170/171 und S.175/176). Durchführung dieser materialistischen Ausgangsposition heißt in seinem Verständnis, die Philosophie mit den empirischen Wissenschaften zu verbinden. Die objektive Dialektik der Natur läßt sich nur vermittelt über die Erkenntnisse der Naturwissenschaften begreifen. Er stimmte in dieser Frage voll mit Marx überein, der dialektische Beziehungen in der Gesellschaft auf dem Wege einer historisch konkreten Analyse der Geschichte, vor allem ökonomischer Prozesse, aufdeckte. 24*

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Ausarbeitung der Dialektik als Wissenschaft heißt nach Engels, den ganzen Reichtum ihrer Gesetze und Kategorien zu entfalten. Von diesem Gesichtspunkt ließ er sich bereits in den ersten Arbeitsphasen leiten, in denen er sich intensiv mit dem Studium der Hegeischen Dialektik beschäftigte. ln den vorliegenden Texten sind daher Betrachtungen über eine große Vielfalt von philosophischen Begriffen und Kategorien und über ihre Beziehungen untereinander enthalten. Hierzu gehören Identität - Unterschied -Gegensatz- Widerspruch, Quantität- Qualität, NotwendigkeitZufälligkeit, Kausalität- Wechselwirkung, Teil und Ganzes, EndlichkeitUnendlichkeit und viele andere. Engels zeigte, inwiefern mit diesen Begriffen und Kategorien gesetzmäßige Zusammenhänge der Naturwirklichkeit widergespiegelt werden. Sein besonderes Interesse galt jenen Gesetzen, die schon Hegel als grundlegend für die Dialektik betrachtet hatte. Im "Plan 1878" notierte Engels : "Hauptgesetze : Umschlag von Quantität Und Qualität- Gegenseitiges Durchdringen der polaren Gegensätze und Ineinander-Umschlagen wenn auf die Spitze getrieben - Entwicklung durch den Widerspruch oder Negation der Negation-spirale Form der Entwicklung" (S. 173). Im Kapitel "Dialektik" stellte er fest, daß sich die Gesetze der Dialektik der Hauptsache nach auf drei reduzieren: "das Gesetz des Umschiagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze, das Gesetz von der Negation der Negation" (S. 175). Den Inhalt dieser Gesetze hatte er schon zuvor in "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" dargelegt und verteidigt. Dort findet man auch die Bestimmung der Dialektik als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens, die sich als gleichbedeutend mit entsprechenden Formulierungen im vorliegenden Band erweist (S. 173 und 175), insofern Engels den Zusammenhang als Aufeinandereinwirken, d. h. als Bewegung begriff (S.188). Engels wies nach, daß für die Dialektik als Theorie und Methode die Widerspruchsauffassung zentrale Bedeutung hat. Im Anschluß an Hegel begründete er, inwiefern das Wesen die Einheit von Identität und Unterschied verkörpert und somit der Widerspruch vor allem als Widerspruch im Wesen zu fassen ist (siehe die Texte (17], (20], (24], [55] und [179]). Die Widerspruchsauffassung bildete für Engels den theoretischen Ausgangspunkt für die Analyse der Bewegung in "Grundformen der Bewegung" und den folgenden Kapiteln (siehe S.187ff.). Auch in "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" wird sie zu Beginn des Kapitels "Dialektik. Quantität und Qualität" als grundlegend für die Dialektik behandelt. Auf der Basis der Widerspruchsauffassung unterschied Engels metaphysisches

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und dialektisches Denken. Diese Unterscheidung gehört zu den grundlegenden Ideen des vorliegenden Werkes, erste Überlegungen dazu sind bereits im Text "Büchner" enthalten. Metaphysisches Denken arbeitet nach Engels mit fixen Kategorien, dialektisches Denken hingegen mit flüssigen, d. h., hier werden die gegensätzlichen Bestimmungen des DenkensEngels verwies auf Grund und Folge, Ursache und Wirkung, Identität und Unterschied, Schein und Wesen- miteinander vermittelt (siehe S. 5-9 und 47-49). Mit der "Dialektik der Natur" gab Engels Antwort auf weltanschauliche, erkenntnistheoretische und methodologische Fragen der Naturwissenschaften seiner Zeit. Dabei wird deutlich, auf welche Weise materialistische Dialektik und Naturwissenschaft zusammenhängen. Die Natur ist ihrem Wesen nach dialektisch. Wenn die Naturwissenschaften wahre Aussagen über die Natur machen, so widerspiegeln sie die objektive Dialektik der Natur, d. h. sie haben einen dialektischen Inhalt und ermöglichen so den Zugang zum Verständnis der dialektischen Beschaffenheit der Naturwirklichkeit (siehe S. 173). Von diesen Grundideen ließ sich Engels bei der philosophischen Behandlung der Naturwissenschaften leiten. Sein Anliegen bestand darin, die Widerspiegelung der objektiven Dialektik der Natur in den Naturwissenschaften genauer zu untersuchen. Er kam zu dem Resultat, daß sich diese Widerspiegelung in einer komplizierten, widerspruchsvollen Bewegung vollzieht, die die Vereinfachung und Vereinseitigung der Wirklichkeit, die "Ertötung des Lebendigen" als wesentliches Moment einschließt, aber der dialektischen Beschaffenheit der Naturwirklichkeit insofern Rechnung trägt, als dieses Moment wieder atlfgehoben wird . Die Einheit der beiden gegensätzlichen Prozesse bestimmt den historischen Gang der menschlichen Erkenntnis und ist immer gegenwärtig. Ein wesentlicher Ausdruck der Vereinfachung und Vereinseitigung sind einzelne Begriffe, Gesetze und Theorien (alle sogenannten festen Bestimmungen der Wissenschaft). Aufhebung dieses Moments bedeutet, die einzelnen Erkenntnisresultate als historisch Gewordene zu betrachten, ihre Voraussetzungen und Konsequenzen zu analysieren, sie mit ihrem Gegensatz zu vermitteln, d. h. mit "flüssigen Kategorien" zu arbeiten (S. 5-9, 45/46, 47-49 und 67-80). Diese Art und Weise des Denkens wird praktiziert, solange Naturwissenschaft existiert. Das theoretische Denken und methodische Vorgehen der Naturwissenschaftler werden durch die objektive Dialektik der Natur bestimmt, bringen diese - vorwiegend spontan - zum Ausdruck. Die innere Widersprüchlichkeit des Erkenntnisprozesses wird dabei aber nicht immer richtig verarbeitet. Die bewußte Anwendung der Dialektik kann helfen, der

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immer vorhandenen Gefahr metaphysischen Denkens zu begegnen, das entsteht, wenn der Forscher einzelne Erkenntnisresultate verabsolutiert, sie aus ihren Zusammenhängen löst und sie mit der Wirklichkeit gleichsetzt, wenn er bestimmte Erkenntnismethoden verabsolutiert, sie mit wissenschaftlichem Vorgehen überhaupt identifiziert. Engels anerkannte die Berechtigung und Notwendigkeit, einzelne Seiten, Beziehungen und Prozesse isoliert vom Gesamtzusammenhang zu betrachten. Die im 19. Jahrhundert vor den Naturwissenschaften stehenden Aufgaben in der theoretischen Zusammenfassung ihrer Resultate machen es nach seiner Ansicht notwendig, das dialektische Denken bewußt anzuwenden (siehe S. 5-9). Hier ordnen sich auch seine Gedanken über den Zusammenhang der Wissenschaften (siehe S. 9/10 und 151/152) und über die immer stärkere Tendenz zur Integration verschiedener Gebiete (siehe S.121/122) ein. Engels konstatierte eine Wandlung im theoretischen Denken der Naturwissenschaftler, eine "Rückkehr zur Dialektik" (S. 173), jedoch vollzog sich diese widerspruchsvoll und langsam . Er hob verschiedene Tendenzen hervor : naturwissenschaftlichen oder naturhistorischen Materialismus bei der Mehrzahl der Naturforscher, der sich im Bemühen um die Durchsatzung der Atomistik als Basis einer einheitlichen wissenschaftlichen Naturerklärung in Physik und Chemie sowie um die Anerkennung der Darwinschen Theorie als Ausdruck für das Entwicklungsdenken in den Naturwissenschaften äußert; Verbindung von naturwissenschaftlichem Materialismus und Atheismus vor allem bei der Propagierung neuer Erkenntnisse; Schwierigkeiten in bezug auf die Lösung komplizierter erkenntnistheoretischer Fragen mit der möglichen Tendenz zum Agnostizismus, den Engels später als verschämten Materialismus charakterisierte (siehe Frederick Engels : Socialism utopian and scientific. London 1892. S. XIV); Ablehnung der spekulativen Naturphilosophie im Sinne von Friedrich Wilhelm joseph Schelling und Lorenz Oken und Unverständnis für den rationellen Kern der Hegeischen Dialektik, verbunden mit der Gefahr, das theoretische Denken zu unterschätzen und in Empirismus, in Spekulation, ja sogar in Spiritismus abzugleiten; Grenzen im Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse und Versuche zur Übertragung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Gesellschaft. ln der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten im naturwissenschaftlichen Erkennen formulierte Engels grundlegende Positionen der dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie (siehe vor allem S. 104/105, 133-136 und 228-231). Mit der "Dialektik der Natur" wandte sich Engels auch an die Adresse der Naturwissenschaftler. Er wollte Einfluß auf deren philosophische Anschauungen nehmen und ihnen helfen, ein richtiges Verständnis für das eigene methodische Vorgehen und für die weltanschaulichen Konsequen-

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zen ihrer Erkenntnisse zu gewinnen. Auf diese Weise demonstrierte er, welche Aufgabe die marxistische Philosophie im Verhältnis zu den Naturwissenschaften zu lösen vermag und inwiefern marxistische Philosophen mit Naturwissenschaftlern zusammenarbeiten können und müssen. Um den realen naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß zu begreifen, reicht es allerdings nicht aus, Natur und Naturwissenschaft (gefaßt im Sinne der fertigen Erkenntnisresultate) einander gegenüberzustellen. Engels kritisierte, daß Naturwissenschaft wie Philosophie den Einfluß der Tätigkeit des Menschen auf sein Denken bisher ganz vernachlässigt haben, nur Natur einerseits und Gedanken andererseits kennen. Demgegenüber betonte er, gerade "die Veränderung der Natur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein", sei die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens (S. 22). Daraus leitet sich das TheoriePraxis-Verständnis der marxistischen Philosophie und somitdie Begründung für die reale Möglichkeit der Erkenntnis und praktischen Veränderung der Natur durch den Menschen ab. Die bewußte Anwendung der materialistischen Dialektik betrachtete Engels als Voraussetzung für den weiteren Erkenntnisfortschritt und für die umfassende praktische Nutzung der neuen Erkenntnisse. Die philosophische Behandlung der Natur und der Naturwissenschaft wurde für ihn zu einer fundamentalen Aufgabe, die es vom Standpunkt der Arbeiterklasse in Vorbereitung auf die sozialistische Revolution und die klassenlose Gesellschaft zu lösen gilt. Nach seiner Ansicht kommt es darauf an, daß die Arbeiterklasse, die in der materiellen Produktion die Einheit des Menschen mit der Natur praktisch realisiert, auch ein richtiges Bewußtsein über die Natur sowie über die Naturwissenschaft und ihre Bedeutung für die materielle und geistige Kultur der Gesellschaft erlangt. Die Entwicklung der Naturwissenschaft hat entscheidend zu jener Wandlung der Produktivkräfte beigetragen, die eine "bewußte Organisation der gesellschaftlichen Produktion" verlangt. Von dieser "wird eine neue Geschichtsepoche datiren in der die Menschen selbst, und mit ihnen alle Zweige ihrerThätigkeit, namentlich auch die Naturwissenschaft, einen Aufschwung nehmen werden der alles Bisherige in tiefen Schatten stellt" (S. 83). Mit der "Dialektik der Natur" nahm Engels zu den geistigen Kämpfen seiner Zeit Stellung. Unter den neuen historischen Bedingungen der siebziger Jahre verschärften sich die Angriffe auf den wissenschaftlichen Sozialismus. Dabei wurden in wachsendem Maße naturwissenschaftliche Erkenntnisse herangezogen und zur Entstellung oder scheinbaren Widerlegung der Marxschen Lehre mißbraucht. Es liegt auf der Hand, daß sich Engels in der "Dialektik der Natur" dieser Tendenz nachdrücklich entgegenstellte.

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Mehr noch: Seine Einsicht in die Notwendigkeit der weiteren Ausarbeitung der marxistischen Philosophie unter Berücksichtigung der Erkenntnisfortschritte in den Naturwissenschaften erwuchs aus seiner Teilnahme am politischen und ideologischen Kampf um die Ziele der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung. Dieser Zusammenhang wird bereits am Beginn der Arbeit an den Manuskripten deutlich. Im Text "Büchner" (S. 5-9) wandte sich Engels gegen Ludwig Büchner, vor allem gegen dessen Versuch, die Darwinsche Evolutionstheorie auf die Gesellschaft zu übertragen (siehe auch S. 571/572). ln Auseinandersetzung mit Büchner entwickelte er erste konzeptionelle Überlegungen zur "Dialektik der Natur". Wie eng in diesem Werk positive Darstellung und Kritik miteinander verbunden sind, zeigt sich auch in jenen Texten, die in Beziehung zur Auseinandersetzung mit Dühring stehen. Polemische Aspekte findet man in allen Arbeitsphasen. Von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Verteidigung der Marxschen Lehre ist die an "Büchner" anknüpfende prinzipielle Kritik früher Ansatzpunkte des Sozialdarwinismus (siehe S. 49/50), aber auch die Würdigung der Rolle der Theorie und die Ablehnung aller Formen des Empirismus und der Metaphysik. Engels verteidigte dabei die klassischen deutschen Philosophen, besonders Hegel. die "trotz alledem den Ruhm Deutschlands bilden" (S. 5). Eine wesentliche Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Dialektik in der vorliegenden Arbeit besteht darin, daß sich Engels im Zusammenhang mit seinen naturwissenschaftlichen und mathematischen Studien erneut der klassischen deutschen Philosophie und vor allem Hege I zuwandte und dabei ein neues Verständnis für diese theoretische Quelle des Marxismus gewann. Ein großer Teil der Manuskripte ist der Auseinandersetzung mit Hegel gewidmet, bei der es Engels vor allem darum ging, den rationellen Kern der Hegeischen Naturphilosophie aus seiner idealistischen Umhüllung zu befreien. Engels betrachtete die Philosophie dieses großen Denkers als ein einheitliches Ganzes und bestimmte von daher Inhaltund Bedeutung seiner Naturphilosophie. Erstens beschränkt sich die Naturphilosophie Hegels nicht auf den Teil seines Systems, der mit diesem Wort bezeichnet wird, sondern die wahre Naturphilosophie ist in der Logik enthalten, insbesondere in der Lehre vom Wesen, die nach Engels' Einschätzung den Kern der Hegeischen Philosophie bildet (siehe Engels an Friedrich Albert Lange, 29. März 1865). Zweitens ist auch die Naturphilosophie im engeren Sinne ungeachtet aller Schwächen im Detail ebenso wie die anderen Teile des Systems Ausdruck der großartigen philosophischen Erkenntnisse von Hegel. Die dialektische Denkweise wird auch hier entwickelt. Diese Einstellung Engels' zur Hegeischen Naturphilosophie bildete sich in einem

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langen Prozeß, der in den vierziger Jahren begann und wesentlich durch die gemeinsame Arbeit mit Marx bestimmt wurde. Schon 1842 interessierte sich Engels für die Hegeische Naturphilosophie. Die seit 1831 um die Hegeische Philosophie geführte Auseinandersetzung erlebte einen Höhepunkt, als zu Beginn dieses Jahres der Hegei-Schüler Carl Ludwig Michelet die "Vorlesungen über die Naturphilosophie" als Band 7.1 der vollständigen Werkausgabe herausgab. DieserTeil der Hegeischen Philosophie rückte in das Zentrum einer philosophischen Auseinandersetzung, die nicht zuletzt auch durch die von Michelet verfaßte Vorrede provoziert wurde, einer Auseinandersetzung, die der junge Engels zur Kenntnis nahm und an der er sich in gewisser Hinsicht beteiligte. ln seiner "Polemik gegen Leo" in der "Rheinischen Zeitung" vom 10. Juni 1842 wandte sich Engels mit einer kurzen ironischen Bemerkung gegen eine unter dem Stichwort "Naturphilosophie" anonym in der Berliner "Literarischen Zeitung", Nr. 9 vom 2. März 1842, erschienenen Rezensionder Hegeischen "Vorlesungen über die Naturphilosophie" und die darin getroffene abwertende Einschätzung derselben (MEGA® 113. S. 358). Mit dem von Leo entwickelten Programm einer totalen Revolution der Medizin wurde nach seiner Ansicht ein ähnlich gelagerter Angriff auf die Hegeische Schule geführt, denn der Inhalt der von Leo geforderten Revolution sollte darin bestehen, die pantheistische und heidnische Richtung der Naturforschung zugunsten der Einführung christlicher Prinzipien zu überwinden. (Siehe Heinrich Leo: [Rezension zu:] Geschichte der Gesundheit und der Krankheit von Dr. Joh. Mich. Leupoldt. Erlangen 1842. In: Evangelische Kirchenzeitung. Berlin. Nr.36, 4. Mai 1842.) Engels betrachtete die pantheistischheidnische Richtung der Naturforschung als eine entscheidende Konsequenz der Hegeischen Philosophie, die es zu verteidigen galt. Bemerkenswert erscheint die Tatsache, daß Marx in seiner ersten größeren wissenschaftlichen Arbeit, der Doktordissertation, die bekanntlich einem naturphilosophischen Thema gewidmet war, nicht nur Hegels "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" auswertete (siehe MEGA® IV /1. S. 99, 101-103 und 108), sondern sich in Vorbereitung auf die Dissertation auch mit dessen Naturphilosophie beschäftigte (siehe MEGA® IV/1. S.111-117). Die Auseinandersetzung um die Hegeische Naturphilosophie fiel zeitlich mit dem öffentlichen Auftreten Schellings gegen Hege I in Berlin zusammen. Ein Bekenntnis zu Hegel war in dieser Zeit daher zwangsläufig mit der Kritik an Schelling verbunden. Engels hatte schon im Dezember 1841 Schelling als bedeutenden Vorgänger Hegels gewürdigt, zugleich aber erklärt, daß der erstere als Nachfolger des letzteren nur auf einige Pietät Anspruch erheben könne und daß er - Engels - für Hegel eintreten wolle

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(siehe Friedrich Engels: Schelling über Hegel. ln: MEGA® 1/3. S. 259-263). ln der 1842 in Leipzig erschienenen Schrift"Schelling und die Offenbarung" verteidigte Engels die "freie Wissenschaft des Denkens" gegen Schellings Philosophie der Offenbarung, die auf eine Versöhnung von Glauben und Wissen ziele. Er warf dem Vorläufer Hegels vor, er könne das Verhältnis der Idee zu Natur und Geist nicht fassen, stelle sich die Idee zu Unrecht als ein extramundanes Wesen vor, was Hegel gar nicht eingefallen sei. "Die Realität der Idee ist bei Hege I nichts Anderes als- Natur und Geist . . . Das ideal-reale, in sich vollendete Absolute ist eben nur die Einheit von Natur und Geist in der Idee." (MEGA® 1/3. S. 291.) Mitdieser Argumentation stand Engels auf dem Boden der Hegeischen Naturphilosophie. Er hob jene Gesichtspunkte hervor, die für die Verteidigung Hegels im Jahre 1842 wesentlich waren und auf deren Basis es später möglich wurde, über Hege I hinauszugehen. Engels erkannte zu dieser Zeit noch nicht die aus dem Idealismus erwachsenden grundsätzlichen Mängel der Hegeischen Naturphilosophie. Dennoch deutete sich in seinen Überlegungen keimhaftein neues Verständnis von Natur und Naturwissenschaft an. Dies zeigt sich vor allem in seinem leidenschaftlichen Bekenntnis zur Einheit des Menschen mit der Natur im letzten Teil von "Schelling und die Offenbarung". Damit erhält die Natur in seiner philosophischen Betrachtung einen neuen, höheren Stellenwert. Offenbar zeigt sich hier der Einfluß von Feuerbach, dessen Kritik des Christentums Engels in dieser Schrift als notwendige Ergänzung zu Hegel würdigte. An seiner Meinung über Schelling hielt Engels auch später fest. ln der "Dialektik der Natur" findet dieser keine Erwähnung. Auch in Briefen und anderen Quellen gibt es keine Hinweise darauf, daß sich Engels irgendwann erneut mit Schelling beschäftigt hätte. Vergleicht man Schellings Naturphilosophie mit den in der "Dialektik der Natur" entwickelten konzeptionellen Ideen, so zeigen sich einige gravierende Unterschiede. Sie betreffen die Erkenntnisauffassung, insbesondere die Auffassung von der Erkenntnismethode in der Philosophie. Für Schelling beruhte philosophisches Denken auf der sogenannten intellektuellen Anschauung. Er stellte diese dem begrifflichen Denken entgegen; sie führe zu einem absolutfreien Wissen, d. h. zu einem Wissen, "wozu nicht Beweise, Schlüsse, überhaupt Vermittlung von Begriffen" nötig seien. (Friedrich Wilhelm joseph von Schelling: Sämmtliche Werke. Abth. 1. Bd. 3. Stuttgart 1858. S. 369.) Sie sei daher auch nichts, was gelehrt werden könne. Diese Erkenntnisauffassung finden wir- wenigstens im Ansatz- bereits in den frühen Arbeiten von Schelling. ln dieser Hinsicht erreichte er in seiner Naturphilosophie ungeachtet aller wertvollen Ideen nicht das Niveau wie später Hegel. Es ist namentlich diese Erkenntnisauffassung, die für Engels unannehmbar

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war. Philosophisches bzw. dialektisches Denken war für Engels- und hier stimmte er mit Hege I und nicht mit Schelling überein-ein Denken, das auf Begriffen, Schlüssen und Beweisen beruht. Es ist in diesem Sinne wissenschaftliches Denken. Nur unter dieser Voraussetzung vermag das philosophische Denken den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß zu fördern. 1858 wandte sich Engels erneut der Hegeischen Naturphilosophie zu, nun allerdings unter neuen theoretischen Voraussetzungen, die ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit Hegel und Feuerbach waren und durch konsequenten Materialismus geprägt wurden. Marx hatte in einem Brief an Engels darüber berichtet, daß er Hegels "Logik" wieder durchgeblättert habe und ihm dies für die Methode der Kritik der bisherigen Lehre vom Profit von großem Nutzen gewesen sei. Wenn es zeitlich möglich werde, habe er große Lust, "in 2 oder 3 Druckbogen das Rationelle an der Methode, die H[egel] entdeckt, aber zugleich mystificirt hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu machen" (Marx an Engels, 16. Januar 1858). Im Juli 1858 bat Engels Marx um die Übersendung der versprochenen Hegeischen "Naturphilosophie" . Er schilderte ausführlich seine naturwissenschaftlichen Studien, hob die Entwicklung der organischen Chemie, die Begründung der Zellentheorie als Grundlage der vergleichenden Physiologie und schließlich den physikalischen Satz von der Erhaltung und Umwandlung der Energie hervor und formulierte erstmalig die Einschätzung, daß Grundgedanken der Hegeischen Philosophie durch neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse ihre Bestätigung erfahren (siehe Engels an Marx, 14. Juli 1858. Siehe auch Erl. 6.24-29). ln dem bereits erwähnten Brief an Lange vom 29. März 1865 wurde diese Einschätzung weitergeführt und präzisiert. Engels kennzeichnete darin Hegels Lehre vom Wesen als besonders bedeutsam für die Naturwissenschaften. Die Arbeit an der "Dialektik der Natur" schloß von Anfang an ein intensives Hegei-Studium ein. Deutlich wird dies im Text "Büchner" (S. 5-9), aber auch in der Notiz "Dialektik der Naturwissenschaft" (S. 9/10) und in dem mit ihr weitgehend übereinstimmenden Brief an Marx vom 30. Mai 1873 (siehe Erl. 9.11-10.10). Engels orientierte sich in der "Dialektik der Natur" vorrangig auf die Logik, vor allem auf die Lehre vom Wesen. Dies betonte er in einem Brief an Marx vom 21 . September 1874, als er sich nach mehr als einjähriger Pause erneut dem "dialektischen Thema" zuwandte (siehe Erl. 12.1-37). Seinen Niederschlag fand das so orientierte Hegei-Studium in den von ihm hinterlassenen Manuskripten. Insbesondere die Ausarbeitungen der ersten großen Arbeitsperiode (187~1878) enthalten vielfältige direkte und indirekte Bezüge auf die Lehre vom Wesen, wie sie in der "Wissenschaft der Logik" und in der "Encyclopädie der philosophischen

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Wissenschaften im Grundrisse. Theil1 . Die Logik" dargelegt ist. Allerdings beschränkte sich Engels keinesfalls hierauf. Auch Hegels "Vorlesungen über die Naturphilosophie" wurden immer wieder im Hinblick auf ihren rationellen Kern in die Untersuchung einbezogen. Darüber hinaus studierte Engels auch die der antiken Naturphilosophie gewidmeten Abschnitte aus Hegels "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" . Engels ließ keinen Zweifel daran, daß es notwendig ist, Hegel materialistisch zu verstehen. ln diesem Zusammenhang berief er sich in der "Dialektik der Natur" erneut auf Feuerbach und dessen Kritik am Hegeischen Idealismus (S. 171 und 28+-287). Allerdings akzeptierte er nicht, daß Feuerbach Hege I einfach verwarf, ohne dessen Erkenntnisse aus ihrer idealistischen Form herauszuschälen (S. 286), und vermerkte einschränkend, daß die epochemachenden Fortschritte der Naturwissenschaft an Feuerbach vorübergegangen seien, ohne ihn wesentlich zu berühren (S. 287). Warum betrachtete Engels die Lehre vom Wesen als den Kern der Hegeischen Philosophie? Welche Aspekte dieser Lehre sind für seine philosophische Auffassung von der Natur und der Naturwissenschaft bedeutsam? ln der lehre vom Wesen begründete Hegel, daß der Widerspruch das Prinzip aller Selbstbewegung darstellt. Das Wesen ist das Sein in seiner inneren Vermittlung, Beziehung auf sich selbst (Reflexion in sich). Es stellt keine reine Identität dar, sondern enthält zugleich die Bestimmung des Unterschiedes. Den Unterschied im Wesen faßte Hegel als Entgegensetzung, nach welcher das Unterschiedene nicht ein Anderes überhaupt, sondern sein Anderes sich gegenüber hat. Die entgegengesetzten Bestimmungen des Wesens sind in ihrer inneren Einheit zu betrachten, haben nur Gültigkeit in ihrer Beziehung aufeinander. Insofern das Wesen sowohl mit sich identisch als auch in sich unterschieden ist, trägt es den Widerspruch in sich. Dieser aber "ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Thätigkeit" (Georg Wilhelm Friedrich Hege I : Wissenschaft der Logik. Th. 1. Die objective Logik. Abth. 2. Die lehre vom Wesen. 2., unveränd. Aufl. Berlin 1841 . S.66). Engels knüpfte an diese Gedanken an. ln verschiedenen Notizen stellte er die inneren Beziehungen von Identität und Unterschied dar (S. 14/15, 17, 31132 und 41) und wies nach, daß sowohl in der organischen als auch in der anorganischen Natur die Kategorie der abstrakten Identität nicht angewendet werden kann, daß der "alte abstrakte formelle ldentitätsstandpunkt" mit dem naturwissenschaftlichen Entwicklungsdenken-er verweist dabei vor allem auf Sachverhalte in der Biologie und Geologie- unvereinbar ist (S. 14/15). Die Naturforschung habe neuerdings im Detail nachgewiesen, daß die wahre konkrete Identität den Unterschied, die Veränderung in sich einschließt.

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Vor dem Hintergrund der lehre vom Wesen entwickelte Engels, was dialektisches Denken eigentlich beinhaltet. Ein Grundgedanke der Hegeischen Philosophie ist die Unterscheidung von Verstand und Vernunft. "Der Verstand bestimmt und hält die Bestimmungen fest; die Vernunft ist negativ und dialektisch, weil sie die Bestimmungen des Verstands in Nichts auflöst; sie ist positiv, weil sie das Allgemeine erzeugt, und das Besondere darin begreift." (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Th. 1. Die objective Logik. Abth. 1. Die lehre vom Seyn. 2., unveränd. Aufl. Berlin 1841 . S. 7.) Diese Unterscheidung findet in der lehre vom Wesen ihre Begründung : Verständiges Denken orientiert sich nach Hege I an der Identität, die nur eine Seite des Wesens ausmacht. Vernünftiges Denken zielt auf die Einheit von Identität und Unterschied, d. h. auf den Widerspruch im Wesen der Erscheinungen. Vernünftiges Denken arbeitet mit flüssigen Kategorien, vermittelt die Gegensätze miteinander, macht den Widerspruch zu seinem eigenen Prinzip. Engels' grundsätzliche Ausführungen zur Dialektik zeugen von der Verarbeitung dieser Hegeischen Ideen (S. 5-9, 13/14 und 45-49). Unter bewußtem dialektischem Denken in der Naturwissenschaft verstand Engels vernünftiges Denken im Hegeischen Sinne. ln der Hegeischen lehre vom Wesen wird die Idee der Einheit von Wesen und Existenz entwickelt. Das Wesen geht nach Hegel in die Existenz über. Diese ist die unmittelbare Einheit der Reflexion-in-sich und der Reflexion-in-anderes. Das Existierende ist relativ, es bildet eine Welt gegenseitiger Abhängigkeit, aber es enthält die Relativität und den mannigfachen Zusammenhang mit anderen Existierenden an sich selbst. ln diesem Zusammenhang setzt sich Hegel mit dem Kantschen Ding-an-sich auseinander, das auf der Trennung von Wesen und Existenz beruhte. Dieser Begriff hatte für Hegel nur insofern eine Berechtigung, als dam it die wesentliche Identität des Existierenden zu fassen ist. Man darf aber nicht zulassen, daß die Mannigfaltigkeit der Eigenschaften vom Ding-an-sich getrennt wird. Diese Argumentation griff Engels in mehreren Notizen auf (S. 12-14 und 107). ln der Kritik an Tendenzen zum Agnostizismus bei zeitgenössischen Naturwissenschaftlern hob er hervor, Hegel sei in der Frage nach der Erkennbarkeit ein "entschiednerer Materialist als die modernen Naturforscher" (S.14) . Mit anderen Worten: Die Einheit von Wesen und Existenz betrachtete Engels als Argument zugunsten des philosophischen Materialismus, vor allem zugunsten der These von der Erkennbarkeit der Welt, deren Anerkennung Voraussetzung jeder sinnvollen Tätigkeit auf naturwissenschaftlichem Gebiet ist. Neben der lehre vom Wesen wurden von Engels auch Hegels "Vorlesungen über die Naturphilosophie" in vielfältiger Hinsicht kritisch verarbeitet. Prinzipielle Kritik erfuhr die idealistische Ausgangsposition, wie sie in den

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allgemeineren Ausführungen Hegels über den Begriff der Natur zum Ausdruck kommt. "Die Natur hat sich als die Idee in der Form des Andersseyns ergeben .... die Aeußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist." (Georg Wilhelm Friedrich Hege I: Vorlesungen über die Naturphilosophie als der Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse zweiterTheil. Berlin 1842. S.23.) Hegel folgerte daraus, daß die Natur "ein System von Stufen" sei, "deren eine aus der andern nothwendig hervorgeht, und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultirt: aber nicht so daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der innern, den Grund der Natur ausmachenden Idee" (ebenda. S. 32). Im Vorwort zur zweiten Auflage von "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" hob Engels als entscheidenden Mangel der Hegeischen Naturphilosophie die Tatsache hervor, daß darin der Natur keine Entwicklung in der Zeit, kein Nacheinander, sondern nur ein Nebeneinander zugestanden wird. Gegenüber Kant sei dies ein wesentlicher Rückschritt. Die Leugnung der realen Entwicklung in der Natur folgt nach Engels' Einschätzung vor allem aus dem Hegeischen Idealismus, wonach nur der Geist eine geschichtliche Fortentwicklung erfahren kann. Allerdings gilt es zu beachten, daß entscheidende Erkenntnisse über die reale Entwicklung in der Natur erst nach Hegels Tod gewonnen wurden. Wenn auch der philosophische Idealismus Hegel daran hinderte, die Dialektik konsequent zu entwickeln, und sich dies besonders in seiner Naturphilosophie zeigt, so bedeutet dies nicht, daß in ihr keine Dialektik enthalten ist. Im Gegenteil, sie bricht sich auch hier Bahn. Die von Hegel einleitend entwickelte Naturauffassung wurde von ihm nicht konsequent durchgeführt. Engels hat in der "Dialektik der Natur" mehrfach die Bedeutung Hegels für die enzyklopädische Zusammenfassung der Naturwissenschaften gewürdigt (S. 9, 28, 75 und 121). Kritisch vermerkte er, daß die dialektischen Übergänge von einer Wissenschaft zur anderen bei Hegel "kunststücklich" gemacht würden, es aber darauf ankomme, die natürlichen Übergänge zu erfassen (S. 28). Hegel unterschied drei Stufen bzw. drei eigenständige Naturreiche: 1. die Natur in der Bestimmung des Außereinander, der unendlichen Vereinzelung, die Materie und ihr ideelles System - die Mechanik; 2. die Natur in der Bestimmung der Besonderheit, die natürliche Individualität- die Physik; 3. die Natur in der Bestimmung der Subjektivität, in welcher die realen Unterschiede der Form zur ideellen Einheitzurückgebracht sind- die Organik. Beim Übergang von einer Stufe zur anderen wird die ursprüngliche Bestimmung, die Natur sei durch die Äußerlichkeit, durch das Auseinanderfallen der Gegensätze gekennzeichnet, schrittweise aufgehoben. Beim Aufbau seiner Naturphilosophie wandte Hegel die in

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der "Wissenschaft der Logik" entwickelte dialektische Methode an. Der Zusammenhang der drei Naturreiche ergibt sich bei Hege I als Resultat der Entwicklung des Begriffs. Werden seine diesbezüglichen Ideen materialistisch interpretiert, so kann man sagen, Hegel habe damit die Existenz der Bewegungsformen der Materie und das Vorhandensein dialektischer Beziehungen zwischen ihnen und zwischen den sie abbildenden Wissenschaften genial erraten. ln diesem Sinne kann man die von Engels in seinem Brief an Marx vom 30. Mai 1873 entwickelten Ideen als materialistische Weiterführung von Hegel verstehen (siehe auch S. 9/10). Hegel stellte in seiner Naturphilosophie vielfältige Bezüge zu den Naturwissenschaften her. Er kritisierte Einseitigkeiten und Begrenztheiten des naturwissenschaftlichen Denkens seiner Zeit und forderte dialektisches Denken in der Naturwissenschaft. Für ihn war dialektisches Denken die höchste Form des theoretischen Denkens. Hier lassen sich seine kritischen Bemerkungen zu den sogenannten Imponderabilien, seine Überlegungen über das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen sowie über die Beziehung von Kraft und Äußerung einordnen. Ein Schwerpunkt seiner Überlegungen ist die Kritik an der metaphysischen bzw. mechanistischen Behandlung der Mechanik (siehe Erl. 10.28-31). Hegels Kritik an Einseitigkeiten und Begrenztheiten des naturwissenschaftlichen Denkens wurde von Engels sehr sorgfaltig geprüft und mit neueren naturwissenschaftlichen Quellen konfrontiert. Viele der Hegeischen Ideen wurden von Engels materialistisch aufgehoben (siehe unter anderem S. 17-19, 20 und 23). Die Lehre vom Wesen blieb für Engels auch nach Beendigung der Arbeit an der "Dialektik der Natur" von grundlegender Bedeutung. Noch 1891 charakterisierte er sie als den Hauptteil der Logik und faßte ihren Grundgedanken in folgender Weise zusammen : "die Auflösung der abstrakten Gegensätze in ihre Haltlosigkeit wo, sobald man die eine Seite allein festhalten will, sie sich unvermerkt in die andre verwandelt" (Engels an Conrad Schmidt, 1. November 1891). Neben Feuerbach und Hegel war lmmanuel Kant philosophische Quelle für Engels. Die philosophische Revolution in Deutschland, die die politische Revolution in Frankreich begleitete und in Hegel ihre Vollendung fand, begann mit Kant. Dies haben Marx und Engels seit den vierziger Jahren immer wieder hervorgehoben. Für die "Dialektik der Natur" bedeutsame Ideen Hegels wurden bei Kant vorbereitet oder durch Kants Thesen bzw. Problemstellungen provoziert. Engels hat vor allem frühe Arbeiten von Kant unmittelbar ausgewertet. Es waren dies die "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" aus dem Jahre 1755, aber auch die früheren Schriften "Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die

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Abwechselung des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Veränderung seit den ersten Zeiten ihres Ursprunges erlitten habe" (1754) und "Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" (1746). Engels' intensive Beschäftigung mit der Kantschen Naturphilosophie begann 1873 bzw. 1874, also während der Arbe"it an der "Dialektik der Natur". Bis dahin hatte er sich in seinen philosophiegeschichtlichen Studien auf Hegel konzentriert. Zur intensiveren Beschäftigung mit Kant kam Engels unter dem Einfluß seiner naturwissenschaftlichen Studien, vor allem auf dem Gebiet der Astronomie. Am 19. August 1865 sprach Marx in einem Brief an seinen Freund über eine neue Entdeckung auf diesem Gebiet und betonte, daß Engels PierreSimon de Laplaces Theorie über die Bildung des Sonnensystems ja kenne. Möglicherweise las Engels damals bereits das Buch Johann Heinrich Mädlers "Der Wunderbau des Weltalls, oder Populäre Astronomie". Aus dieser Zeit gibt es aber keine Hinweise auf ein besonderes Interesse von Engels an den Arbeiten des jungen Kant. Eine Anregung für das intensivere Studium dieser Arbeiten ergab sich aus dem Werk des italienischen Astronomen Angelo Secchi "Die Sonne" (Braunschweig 1872) und aus der Schrift von William Thomson und Peter Guthrie Tait "Treatise on natural philosophy" (Oxford 1867). Diese beiden Quellen repräsentieren jene neuartige Einschätzung Kants aus naturwissenschaftlicher Sicht, auf die sich Engels in der "Alten Vorrede zu Dühring. Ober Dialektik" stützte (siehe S. 170). Sie war das Ergebnis einer langwierigen Entwicklung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, zu der durch seine empirischen Untersuchungen wohl William Herschel als erster Astronom beigetragen hat. ln dem bereits erwähnten Buch von Secchi wird die kosmogonische Theorie von Kant-Laplace als eine wenigstens partiell bestätigte Theorie charakterisiert und in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung der Spektralanalyse (Robert Bunsen und Gustav Kirchhoff, 1860) hervorgehoben. Ähnliche Einschätzungen finden sich auch in der Schrift "OnbiTD 1.1CTOpi1.1 Mb1cn1.1" von Pjotr Lawrowitsch Lawrow, die in Patersburg 1875 anonym erschien (siehe S. 580). Übrigens hatte 1855 schon Helmholtz in seiner Königsbarger Rede "Ober das Sehen des Menschen" anläßlich der Enthüllung eines KantDenkmals - genau 100 Jahre nach Erscheinen der "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" -die Kantsche Kosmogonie gewürdigt. Die große Wirksamkeit der Ideen von Kant um die Mitte des 19. Jahrhunderts zeigte sich auch in den Arbeiten von Carl Friedrich Zöllner, der in seinen astrophysikalischen Untersuchungen direkt an Kant anschloß, und in der "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" von Haeckel. Von dieserneuen Situation ging auch Engels aus, als er sich zu Beginn seiner Arbeit an der

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"Dialektik der Natur" dem Studium Kantscher Originalarbeiten zuwandte und dabei die "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" in das Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte. Er gelangte schon 1874 zu einer Einschätzung dieser Schrift, die für die damalige Zeit wohl einmalig war und von ihm in der Folgezeit mehrfach wiederholt wurde. Es ist dies der Gedanke, daß Kant die erste Bresche in die versteinerte, metaphysische Naturanschauung geschossen habe. Er findet sich im Entwurf der "Einleitung" zur "Dialektik der Natur" (S. 32-34), in der "Einleitung" (S. 75/76) sowie in "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft". Die Einschätzung gilt insofern, als von Kant zum ersten Male "an der Vorstellung gerüttelt" wurde, "als habe die Natur keine Geschichte in der Zeit" (Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring' s Umwälzung der Wissenschaft. Leipzig 1878. S. 37). Damit wurde der Entwicklungsgedanke in der Astronomie und in der Naturwissenschaft überhaupt unausweichlich (S. 76). Engels charakterisierte die "Kantische Theorie von der Entstehung aller jetzigen Weltkörper aus rotirenden Nebelmassen" als den größten Fortschritt, den "die Astronomie seit Kopernikus gemacht" hat. (Friedrich Engels : Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft. S. 37.) ln der Tat hat Kant in seiner "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" den copernicanischen Gedanken der naturgesetzliehen Einheit von Erde und Kosmos (siehe Erl. 33.1G-12) weitergeführt und vertieft. Die Weiterführung des copernicanischen Gedankens liegt vor allem in Kants Auffassung, alle Bereiche des Kosmos befänden sich in einer systematischen Verfassung, d. h. in gesetzmäßiger Ordnung, und auch die Fixsterne, ja selbst die Galaxien seien davon nicht ausgenommen. Der wesentliche neue Gesichtspunkt, mit dem Kant den copernicanischen Gedanken vertieft hat, ist, daß auch Entstehung und Entwicklung der Himmelskörper uneingeschränkt auf der Grundlage von Naturgesetzen erklärbar sind. Nach seiner Vorstellung sollten dies die Newtonsehen Gesetze sein, die er nicht nur als einheitliche Bewegungsgesetze für Planeten und irdische Massen, sondern als einheitliche Entwicklungsgesetze des gesamten Kosmos interpretierte. Das Systematische, das die großen Glieder der Schöpfung miteinander verbindet, und das Historische, die Bildung der Weltkörper und der Ursprung ihrer Bewegungen, lassen sich nach Kant aus denselben Gesetzen erklären. Das Studium der "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" war somit eine der Voraussetzungen für die von Engels in kritischer Auseinandersetzung mit Hegel begründete dialektisch-materialistische Naturauffassung, die der Natur eine reale Entwicklung, eine Geschichte zuschreibt. Auch eine zweite naturwissenschaftliche Hypothese Kants (Fiutreibung) wurde von Engels anhand neuerer naturwissenschaft-

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licher Konzeptionen und empirischer Befunde diskutiert (siehe S. 220 bis 224). Wenn auch die klassische deutsche Philosophie den unmittelbaren Ausgangspunkt für Engels bildete, so waren doch seine philosophiegeschichtlichen Studien nicht auf diese Periode beschränkt. Sein Interesse galt darüber hinaus der antiken griechischen Philosophie, vor allem den ältesten griechischen Philosophen, die gleichzeitig Naturforscher waren: Thai es, Anaximandros, Anaximenes und Pythagoras. Den Zugang zu ihren Anschauungen gewann er über Hegels "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in denen Schriften von Aristoteles, Cicero, PseudoPiutarchos und Diogenes Laertios verwendet werden. Ein zweiter Schwerpunkt in diesem Zusammenhang war die griechische Atomistik mit Leukippos, Demokritos und Epikuros. Eine zusammenfassende Einschätzung der griechischen Philosophie gab Engels in dem Manuskript "Alte Vorrede zu Dühring. Über Dialektik" (S. 169/170). Ihre Bedeutung liegt für ihn erstens darin, daß hier das dialektische Denken geformt wurde, wenngleich noch in naturwüchsiger Einfachheit. Zweitens finden sich in der griechischen Philosophie "fast alle späteren Anschauungsweisen bereits im Keim, im Entstehen" (S.170). Dahermuß auch die theoretische Naturwissenschaft, will sie die Entwicklungsgeschichte ihrer neueren Erkenntnisse verfolgen, auf die Griechen zurückgehen. ln der "Dialektik der Natur" finden wir eine ganze Reihe weiterer philosophiegeschichtlicher Bezüge, ohne daß sich dafür immer das Studium der jeweiligen Originalquellen nachweisen läßt. Viele dieser Bezüge ergaben sich für Engels vermutlich über Hegel. Eine gründliche Kenntnis der Naturwissenschaften und der Mathematik war für Engels nach seinen eigenen Worten unerläßliche Voraussetzung für die Lösung jener Aufgabe, die er sich in der "Dialektik der Natur" gestellt hatte : "Aber zu einer dialektischen und zugleich materialistischen Auffassung der Natur gehört Bekanntschaft mit der Mathematik und der Naturwissenschaft." (Friedrich Engels: HerrnEugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft. 2. Aufl. Hottingen-Zürich 1886. S. XII.) ln den siebziger Jahren begann Engels mit den hierzu erforderlichen intensiven Studien und orientierte sich dabei vor allem auf jene Entwicklungsrichtungen, die das naturwissenschaftliche Denken im 19. Jahrhundert revolutionierten und so den weiteren Erkenntnisfortschritt ermöglichten. Seine grundlegenden Ideen über die objektive Dialektik der Natur und ihre Widerspiegelung in den Naturwissenschaften formulierte er im Zusammenhang mit diesen Entwicklungsrichtungen.

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ln einem Brief an Nikolai Franzewitsch Danielson vom 15. Oktober 1888 charakterisierte Engels das 19. Jahrhundert als "century of Darwin, of Mayer, Joule and Clausius, of evolution and the transformation of energy". Ganz ähnlich schätzten auch führende Naturwissenschaftler die damalige Zeit ein. So betonte Helmholtz 1892 in einer in Weimar gehaltenen Rede über "Goethe's Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen", daß sich die in den zurückliegenden vierzig Jahren vollzogenen Veränderungen im Gesamtbild der Natur erkennen lassen, wenn man an "Darwins Ursprung der Arten und an das Gesetz von der Konstanz der Energie" denke. Ludwig Boltzmann, der ähnlich wie Helmholtz Wesentliches zur Weiterentwicklung jener Engels besonders interessierenden physikalischen Theorie leistete, kam 1886 in seinem Wiener Akademie-Vortrag "Der zweite Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie" zu folgender Feststellung: "Wenn Sie nach meiner innersten Überzeugung fragen, ob man es [das 19. Jahrhundert] einmal das eiserne Jahrhundert oder das Jahrhundert des Dampfes oder der Elektrizität nennen wird, so antworte ich ohne Bedenken, das Jahrhundert der mechanischen Naturauffassung, das Jahrhundert Darwins wird es heißen." Auch Haeckel gelangte 1898/1899 zu analogen Wertungen. Vor allem auf diese beiden Linien sind die naturwissenschaftlichen Studien von Engels in der Zeit der Arbeit an der "Dialektik der Natur" gerichtet; ihnen hatte schon in denfünfzigerund sechziger Jahren sein Interesse gegolten. Auf der Verarbeitung dieser beiden Entwicklungslinien beruhen die in den Manuskripten enthaltenen philosophischen Ideen. Die Lehre von der Konstanz bzw. Umwandlung der Energie wird in der sogenannten mechanischen Wärmetheorie begründet. Sie geht davon aus, daß Wärme nichts anderes als eine ungeordnete Bewegung von Molekülen darstellt. Damit ist die noch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vorherrschende Meinung, es handle sich bei der Wärme wie auch bei den elektrischen und magnetischen Erscheinungen um die Wirkungen eines besonderen unwägbaren Stoffes, überwunden. ln der mechanischen Wärmetheorie führt man die Wärme, eine nichtmechanische makroskopische Erscheinung, auf Elementarprozesse mechanischer Art und deren Gesetze zurück. Auf dieser Voraussetzung beruhen die beiden Hauptsätze der Thermodynamik. Der 1. Hauptsatz ist der (auf die Wärmelehre angewandte) Satz von der Erhaltung der Energie: ln einem abgeschlossenen System ist die Summe aller Energien (kinetische und potentielle Energie, Wärmeenergie, elektrische Energie usw.) konstant. Die verschiedenen Energieformen können sich in bestimmten Verhältnissen ineinander umwandeln, ohne daß sich die Quantität der Gesamtenergie verändert. Der 2. Hauptsatz besagt, daß alle nach dem 1. Hauptsatz möglichen Prozesse so ablaufen, daß die Entropie stets zunimmt (siehe Erl. 44.25-45.14). 40*

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Die Herausbildung der mechanischen Wärmetheorie erfolgte in mehreren Schritten, die von Engels nachvollzogen wurden. Von grundlegender Bedeutung ist die Arbeit "Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur" von Julius Robert Mayer aus dem Jahre 1842. Darin wurde erstmalig der zunächst nur für die Mechanik geltende Energiesatz in seiner allgemeinen physikalischen Bedeutung gefaßt. Ausgangspunkt waren für Mayer allgemeine Betrachtungen über die Eigenschaften von Ursachen, die er als quantitativ unzerstörbar und als qualitativ wandelbar charakterisierte. Insofern Kräfte nach seinem Verständnis Ursachen sind, läßt sich das "Gesetz der Erhaltung lebendiger Kräfte" aus dem Gesetz der Unzerstörbarkeit der Ursachen begründen. Mayer stellte in dieser Arbeit die qualitativ verschiedenen Formen mechanischer, physikalischer und chemischer Kräfte dar, die ineinander umwandetbar sind unter der Voraussetzung, daß die Quantität der gegebenen Kraft erhalten bleibt. Nur ein Jahr später veröffentlichte James Prescott Joule eine Arbeit, die eine genaue Bestimmung des mechanischen Wärmeäquivalents bzw. Daten zur experimentellen Bestätigung des Energiesatzes (in seiner verallgemeinerten Form) enthält. Helmholtz gab 1847 in seinem Vortrag "Über die Erhaltung der Kraft" eine präzise mathematische Formulierung des Energiesatzes für mechanische Systeme. Sie beruht auf einem klaren Verständnis des Begriffs der mechanischen Energie, obwohl Helmholtz dieses Wort noch nicht verwandte, sondern im Sinne der älteren Terminologie stets von Kraft sprach. Helmholtz unterschied zwei Formen von mechanischer Kraft bzw. Energie - die sogenannte lebendige Kraft : ;

v2 , später als

kinetische Energie bezeichnet, und die sogenannte Spannkraft: mgx, später als potentielle Energie bezeichnet. Das Anliegen von Helmholtz bestand darin, durch eine Präzisierung der begrifflichen Grundlagen der Mechanik auch der Thermodynamik ein festes Fundament zu geben. Die Formulierung des 2. Hauptsatzes in seiner ursprünglichen Fassung erfolgte 1850 durch Rudolf Clausius in seiner Arbeit "Ueber die bewegende Kraft der Wärme und die Gesetze, welche sich daraus für die Wärmelehre selbst ableiten lassen", in der erstmalig das Prinzip der Äquivalenz von Wärme und Arbeit mit dem Carnotschen Prinzip des Wärmeübergangs von höherer zu tieferer Temperatur in Zusammenhang gebracht worden ist. Thermodynamik und Elektrodynamik bildeten die Schwerpunkte dertheoretischen Entwicklung in der Physik des 19. Jahrhunderts. ln der mechanischen Wärmetheorie wird das auf der klassischen Mechanik beruhende Programm einer Mechanisierung der Physik realisiert und damit in seiner heuristischen Funktion bestätigt. Dies ist gleichbedeutend mit der Übertragung der Atomistik aus der Mechanik auf einen neuen Anwendungs-

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bereich. Dabei gilt es zu beachten, daß die von der Mechanik ausgehende und sich auf ihrem Boden vollziehende Entwicklung über diesen Rahmen hinausführte und Voraussetzungen für künftige revolutionäre Wandlungen schuf. Bedeutung in diesem Zusammenhang erlangte vor allem die seit den siebziger Jahren entwickelte statistische InterpretationderThermodynamik von James Clerk Maxwell und Ludwig Boltzmann, die von Engels allerdings nicht reflektiert wurde. ln ihren Arbeiten w ird deutlich, daß die mit der mechanischen Wärmetheorie verbundene Verallgemeinerung der Atomistik zu neuenEinsichten in das dialektische Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in der Struktur der Materie führte. Der Übergang von einer endlichen Anzahl diskreter Teilchen zu den kontinuierlichen Größen auf phänomenologischer Ebene erfolgt mit Hilfe wahrscheinlichkeitstheoretischer Methoden. Die meßbaren Größen der makroskopischen Theorie haben keine direkte Entsprechung im mikroskopischen Bereich. Das Kontinuum ist keine einfache Summation diskreter Elemente, sondern stellt eine neue Qualität dar, d. h., es ist durch spezifische Wechselwirkungen zwischen den Elementen bzw. durch Gesetzmäßigkeiten charakterisiert, die nur für das Kontinuum typisch sind und sich nicht auf Elementargesetze reduzieren lassen. Vor dem Hintergrund der Thermodynamik gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfältige Diskussionen über Möglichkeiten und Grenzen der Mechanisierung der Physik, über Inhalt und Bedeutung der physikalischen Atomistik. Von Boltzmann, aber auch von anderen Physikern wurde das atomistische Konz.ept gegenüber allen Angriffen verteidigt und der Nachweis geführt, daß eine Weiterentwicklung der Physik ein Festhalten an diesem Konzept erforderte. ln seiner verallgemeinerten Fassung erlaubt es, den Zusammenhang zwischen verschiedenen physikalischen Strukturebenen bzw. zwischen den verschiedenen Arten physikalischer Bewegung (Energieformen) und darüber hinaus den Übergang von der Physik zur Chemie zu erfassen. Die zweite herausragende Entwicklungslinie des naturwissenschaftlichen Denkens im 19. Jahrhundert ist vor allem mit Charles Darwin verbunden. 1859 legte er in der Schrift "On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life" seine Theorie über die Entwicklung der organischen Formen mittels natürlicher Ursachen dar, deren Grundzüge er bereits in den vierziger Jahren ausgearbeitet hatte. Darwin setzte die Variabilität der Organismen als gegeben voraus und wies nach, daß diejenigen Veränderungen, die einzelnen Individuen einen Vorteil hinsichtlich ihrer Erhaltung in den vielfältigen Wechselwirkungen mit der Umwelt verschaffen, dazu führen, daß diese Individuen sich eher und stärker vermehren als andere . Die besser an-

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gepaßten Individuen setzen die Art fort, und so verändere sich im Laufe der Zeit deren Charakter. Die offensichtliche Zweckmäßigkeit der Organismen, ihre Angepaßtheit an ihre Lebensbedingungen erweise sich als das Ergebnis natürlicher Auslesevorgänge, der "natural selection" im "Kampf ums Dasein" (struggle for life). Damit war es Darwin gelungen, die offensichtliche Tatsache der Entwicklung, über deren Ursachen und deren Verlauf vor ihm nicht wenige Vermutungen und Hypothesen aufgestellt worden waren- Darwin selbst nannte eine Vielzahl von Vorläufern-, als einen naturgesetzliehen Prozeß nachzuweisen, der zu seiner Erklärung keines immateriellen Wesens oder teleologischen Prinzips bedarf. Mit der Einführung der historischen Methode in die Wissenschaften vom Leben erhielten diese ihre theoretische Grundlage, wurde es möglich, von der Beschreibung der einzelnen Lebensformen und Lebensvorgänge zu ihrer wissenschaftlich begründeten Erklärung überzugehen. Die in der Evolutionstheorie liegenden weltanschaulichen Konsequenzen, die Darwin allerdings selbst nicht aussprach, waren sicher der Grund für die relativ späte Veröffentlichung, die erst erfolgte, als der britische Zoologe Alfred Russel Wallace unabhängig von Darwin das Selektionsprinzip gefunden hatte. 1859 hielt letzterer aber noch seine Erkenntnisse darüber zurück, daß auch der Mensch ein Produkt des natürlichen Entwicklungsprozesses sei. Erst nachdem Anhänger und Fortsetzer seiner Theorie, vor allem Thomas Henry Huxley und Ernst Haeckel, diese Konsequenz begründet und in die öffentliche Diskussion gebracht hatten, legte Darwin 1871 die Schrift "The descent of man, and selection in relation to sex" der Öffentlichkeit vor. Es lag in der Natur der Darwinschen Theorie, daß sich im Kampf um ihre Anerkennung die Fachvertreter in zwei Lager spalteten und in die weltanschaulichen Auseinandersetzungen besonders seit den siebziger Jahren breite Kreise der Öffentlichkeit einbezogen wurden. Darwin und seine Anhänger konnten sich auf die neuasten Ergebnisse der Wissenschaftsentwicklung stützen. Obwohl Caspar Friedrich Wolff bereits 1759 in seiner "Theoria generationis" die theoretischen und experimentellmethodischen Grundlagen für die Embryologie gelegt hatte, kann man erst seit den fundamentalen Untersuchungen von Christian Pander und Karl Ernst von Baer in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von einer wissenschaftlichen Embryologie sprechen. 1838/1839 wurde durch Matthias Jakob Schleiden und Theodor Schwann die Zellentheorie begründet, wonach alle vielzelligen Organismen durch Vervielfältigung und Differenzierung von Zellen entstehen. Im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts bildete sich die Paläontologie als Wissenschaft heraus. Entscheidenden Anteil daran hatte Georges de Cuvier durch die Entwicklung der ver-

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gleichend-anatomischen Methode. Allerdings wirkte sich seine theoretische Deutung, die Kataklysmentheorie, durch ihren antievolutionistischen Charakter für Geologie und Biologie hemmend aus. Sie wurde durch Charles Lyell (Principles of geology. Vol. 1-3. London 183(}--1833) überwunden. Er führte die Entwicklungsidee in die Geologie ein und vertrat in diesem Zusammenhang das Prinzip des Aktualismus, wonach in der Erdgeschichte keine anderen als die auch heute feststellbaren Ursachen wirksam gewesen sind, deren kleine Wirkungen durch ihre Summierung über viele Jahrmillionen zu den gewaltigen geologischen Veränderungen geführt haben. Obwohl mit diesem Prinzip die Naturgesetze noch als ahistorisch angesehen wurden, war es der entscheidende Beitrag zur Begründung des naturhistorischen Materialismus in den geologischen Wissenschaften. Schließlich war durch William Hersehe! und Pierre-Simon de Laplace der Entwicklungsgedanke in der Kosmologie zum Durchbruch gelangt und die kühne Hypothese von Kant aus dem Jahre 1755 zu Ansehen und Ehren gekommen. Für den durchgängigen Entwicklungszusammenhang in der Natur war eine der grundlegenden Fragen noch offen : Der Übergang von der Chemie zum Leben oder die Entstehung des Lebens auf der Erde. Mit der ersten Synthese eines organischen Stoffs, des Harnstoffs, aus anorganischem Ausgangsmaterial (der Zyansäure) war es aber Friedrich Wöhler 1828 gelungen, die vordem für prinzipiell unüberbrückbar gehaltene Kluft zwischen organischen und anorganischen Stoffen zu überwinden. Die organische Chemie entwickelte sich danach außerordentlich schnell. Die inhaltliche Analyse der Manuskripte zeigt, daß Engels' Auffassungen über die objektive Dialektik der Natur und ihre Widerspiegelung in den Naturwissenschaften aus der philosophischen Verarbeitung der beiden dargestellten Entwicklungslinien des naturwissenschaftlichen Denkens im 19. Jahrhundert erwachsen sind. Die Charakterisierung der Natur unter dem Gesichtspunkt ihrer objektiven Dialektik ist immanenter Bestandteil vieler Manuskripte, insbesondere der relativ geschlossenen Ausarbeitungen, der "Einleitung" und der Kapitel. Zwei Grundgedanken sind bestimmend: Erstens. Die Natur ist ein System, ein Gesamtzusammenhang von Körpern. Dieser Gedanke wurde insbesondere in "Grundformen der Bewegung" entwickelt. Unter Körpern versteht Engels .,alle materiellen Existenzen, vom Gestirn bis zum Atom, ja bis zum Aethertheilchen, soweit dessen Existenz zugegeben. Darin, daß diese Körper in einem Zusammenhang stehn, liegt schon einbegriffen, daß sie auf einander einwirken, und diese ihre gegenseitige Einwirkung ist eben die Bewegung" (S.188). Bewegung

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wurde von Engels differenzierter betrachtet. Er unterschied qualitativ verschiedene Bewegungsformen : mechanische Bewegung, physikalische Bewegung (dies sind Erscheinungen wie Schall, Wärme, licht, Elektrizität und Magnetismus), chemische Veränderungen und organisches Leben. Diese Bewegungsformen sind für Engels an bestimmte materielle Strukturen oder Strukturebenen der Materie gebunden. Mechanische Bewegung ist die Bewegung von irdischen und himmlischen Massen, physikalische Bewegung die von Molekülen, chemische Veränderungen sind eine Bewegung der Atome, und Leben schließlich ist die Daseinsweise der Eiweißkörper oder des Protoplasmas. Die verschiedenen Bewegungsformen gehen ineinander über. Dies ist ein Fortschreiten vom Einfachsten zum Verwikkelten, vom Niedrigsten zum Höheren. Dabei bleibt das Einfachere als Moment im Verwickelten enthalten. Diese Überlegungen entwickelte Engels - Hegels Auffassung über die Natur als ein System von Stufen aufhebend -vor dem Hintergrund der mechanischen Wärmetheorie und der mit ihr verbundenen neueren Atomistik. Der Ausdruck .,Art der Bewegung", .,mode of motion" bzw . .,Bewegungsform" war in der damaligen physikalischen Literatur schon vorhanden (siehe Erl. 9.11-10.10). Er wurde von Engels in verallgemeinerter Form in die Philosophie eingeführt. Die naturwissenschaftliche Basis bleibt dabei aber stets sichtbar. Dies wird besonders deutlich auch dort, wo Engels die spezifische Natur einzelner Bewegungsformen untersuchte (siehe S. 232-283). Engels faßte Bewegung als Einheit zweier Grundformen, Attraktion und Repulsion (Annäherung und Entfernung bzw. Zusammenziehung und Ausdehnung). Er leitete dies aus der Feststellung ab, daß jede Bewegung mit irgendwelcher Ortsveränderung verbunden sei, diese aber nur darin bestehen könne, daß sich die Körper einander nähern oder voneinander entfernen, und zwar in der Richtung der ihre Mittelpunkte verbindenden Linie. Interessanterweise berief sich Engels in diesem Zusammenhang auf Helmholtz und den von ihm erbrachten mathematischen Beweis, daß .,centrale Wirkung und Unveränderlichkeit der Bewegungsmenge sich gegenseitig bedingen" (S.189). Wenn alle Bewegung im Wechselspiel von Attraktion und Repulsion besteht, so müssen sich - wie Engels betonte - alle Attraktionen und alle Repulsionen im Universum gegenseitig aufwiegen. Erhaltung der Energie bedeutet, daß die Summe aller Attraktionen im Weltall gleich ist der Summe aller Repulsionen. Bei der genaueren Bestimmung des Verhältnisses von Attraktion und Repulsion knüpfte Engels an Kant, vor allem aber an Hegel an. Er faßte wie diese Attraktion und Repulsion als polaren Gegensatz. Ihre Trennung und Entgegensatzung besteht nur .,innerhalb ihrer Zusammengehörigkeit und Vereinigung und umgekehrt ihre Vereinigung nur in ihrer Tren-

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nung, ihre Zusammengehörigkeit nur in ihrer Entgegensetzung" (S. 190). Daraus folgerte er, daß es keinen endgültigen Ausgleich von Repulsion und Attraktion, keine endgültige Verteilung beider auf je eine Hälfte der Materie geben könne. Zweitens. Die Natur hat eine Geschichte. Im zweiten Teil der "Einleitung" entwarf Engels ein eindrucksvolles Bild der Naturgeschichte von der Entstehung der zahllosen Sonnen und Sonnensysteme aus wirbelnden glühenden Dunstmassen über die Entstehung des Lebens auf der Erde bis zu jenem Differenzierungsprozeß, aus dem der Mensch und seine soziale Geschichte hervorgegangen sind. Engels bezog den Gedanken der Geschichte auf die uns umgebende Natur, auf einen endlichen Ausschnitt aus der unendlichen, unerschöpflichen materiellen Welt. Die so verstandene Naturgeschichte hat Anfang und Ende. Sie ist eingebettet in den ewigen Kreislauf, in dem sich die Bewegung der Materie vollzieht. ln diesem Kreislauf ist jede endliche Daseinsweise der Materie in gleicher Weise vergänglich; ewig sind nur die "ewig sich verändernde, ewig sich bewegende Materie und die Gesetze nach denen sie sich bewegt und verändert" (S. 86). Für Engels ist das Vorhandensein eines ewigen Kreislaufs Bedingung für die Entwicklung endlicher Systeme. Ewiger Kreislauf der Materie heißt, "daß die Materie in allen ihren Wandlungen ewig dieselbe bleibt, daß keins ihrer Attribute je verloren gehn kann" (S. 87). Sie hat die Fähigkeit, die Bedingungen für die ihr eigenen Bewegungsformen immer wieder aus sich selbst zu erzeugen. Seide Gedanken erarbeitete Engels in einem langen Prozeß, der bereits in den fünfziger Jahren begann und wesentlich durch die Diskussion mit Marx gefördert wurde. Von großer Bedeutung für Engels war in diesem Zusammenhang auch die langjährige Freundschaft mit dem Chemiker Carl Schorlemmer, der ihn wie auch Marx über neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse informierte und beiden als Autorität ersten Ranges galt (siehe auch S. 577). Auf den Satz von der Erhaltung und Umwandlung der Energie nahm Engels schon in seinem Brief an Marx vom 14. Juli 1858 Bezug und würdigte ihn dort als eine der bedeutendsten naturwissenschaftlichen Entdeckungen nach Hegels Tod (siehe Erl. 6.24-29). Gegenüber Lange erwähnte er 1865 erstmalig das Buch "The correlation of physical forces" von William Robert Grove (Engels an Friedrich Albert Lange, 29. März 1865, siehe Erl. 171 .11-19). ln einem Brief an Marx vom 4. Januar 1866 empfahl er die Lektüre einer entsprechenden Arbeit von John Tyndall (siehe Erl. 9.11-10.10). Mit der Lehre von der Verwandlung der Energie beschäftigte sich in den sechziger Jahren auch Marx. Offenbar war er es, der Engels zum Studium von Grove anregte. Schon in einem Brief an seinen Freund vom 31 . August 1864 heißt es: "Es ist mir durch die Hände gegangen Grove's

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,Correlation of Physical Forces' . Er ist unbedingt der philosophischste unter den englischen (und auch deutschen!) Naturforschern." Am 17. August desselben Jahres sprach er in einem Brief an Lion Philips über das gleiche Buch: "Ein sehr bedeutendes naturwissenschaftliches Buch, Grove's ,Correlation of physical forces' ist mir kürzlich durch die Hände gegangen. Er zeigt nach, wie mechanische Bewegungskraft, Wärme, Licht, Electricität, Magnetismus und Chemical affinity, eigentlich alle nur Modificationen derselben Kraft sind, sich wechselseitig erzeugen, ersetzen, in einander übergehn usw. Die widerlich metaphysisch-physikalischen Hirngespinste, wie ,latente Wärme' (so gut wie ,unsichtbar Licht'), elektrisches ,Fluid' u. dgl. pis aller, um zur rechten Zeit Worte einzustellen, wo Gedanken fehlen, beseitigt er sehr geschickt." Marx' Äußerungen zu Grove sind ein Beleg dafür, daß er sich im Prinzip für die gleichen naturwissenschaftlichen Entdeckungen bzw. Entwicklungslinien wie Engels interessierte, daß sie einander wechselseitig auf neue Publikationen aufmerksam machten und ihre Meinungen darüber austauschten. Beide orientierten sich an naturwissenschaftlichen Originalarbeiten bzw. an Schriften, die für die Propagierung neuer Ideen besondere Bedeutung hatten. Eine erste intensivere Beschäftigung von Engels mit dem Energiesatz läßt sich für September/Oktober 1874 nachweisen. Die mit ihm verbundenen Probleme beschäftigten Engels bis in die achtziger Jahre. Sie wurden systematisch in den ab 1880 entstandenen Kapiteln der "Dialektik der Natur" behandelt. Ausgangspunkt waren in diesem Zusammenhang für Engels die inzwischen klassisch gewordenen Arbeiten von Julius Robert Mayer, James Clerk Maxwell, Rudolf Clausius und Hermann von Helmholtz. Von einer Reihe Arbeiten fertigte sich Engels Exzerpte an (Auszüge aus Büchern von William Thomson und Peter Guthrie Tait, Hermann von Helmholtz sowie Jean Le Rond d' Alembert. Siehe S. 589). Diese Studien ermöglichten Engels ein tiefes Verständnis der mechanischen Wärmetheorie, der für sie grundlegenden physikalischen Begriffe und Größen {siehe S. 202-214) und der ihr zugrunde liegenden physikalischen Konzeption, die er als "neuere Atomistik" charakterisierte {S.117) und ohne die- wie er in Übereinstimmung mit vielen führenden Gelehrten des 19. Jahrhunderts feststellte - modernes wissenschaftliches Denken in Physik und Chemie unmöglich ist (S.151-154). ln seinem Brief an Marx vom 14. Juli 1858 hob Engels auch die Fortschritte in der organischen Chemie, die systematische Nutzung des Mikroskops und die dadurch ermöglichte Begründung der Zellentheorie hervor. Namentlich diese Erkenntnisse würden nach seiner Ansichtdenalten Hegel gefreut haben. Engels' Beschäftigung mit Darwin begann unmittelbar nach

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dem Erscheinen dessen berühmter Schrift am 24. November 1859, und bereits am 11. oder 12. Dezember desselben Jahres gab er in einem Brief an Marx eine erste Einschätzung : "Übrigens ist der Darwin, den ich jetzt grade lese, ganz famos. Die Teleologie war nach einer Seite hin noch nicht kaput gemacht, das ist jetzt geschehn. Dazu ist bisher noch nie ein so großartiger Versuch gemacht worden, historische Entwicklung in der Natur nachzuweisen, und am wenigsten mit solchem Glück. Die plumpe englische Methode muß man natürlich in den Kauf nehmen." Ein Jahr später formulierte Marx eine analoge Wertung. Er schrieb an Ferdinand Lassalle: "Sehr bedeutend ist Darwin's Schrift und paßt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes. Die grob englische Manier der Entwicklung muß man natürlich mit in den Kauf nehmen. Trotz allem Mangelhaften ist hier zuerst der ,Teleologie' in der Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationelle Sinn derselben empirisch aus einander gelegt." (Marx an Ferdinand Lassalle, 16. Januar 1861.) ln kurzer Form hatte er diese Meinung gegenüber Engels schon im Dezember 1860 formuliert (siehe Marx an Engels, 19. Dezember 1860). Bei seinen ökonomischen Arbeiten von 1861 bis 1863 entdeckte Marx, daß Darwin die Malthussche Bevölkerungstheorie obwohl er sich auf diese stützte- faktisch widerlegte (siehe MEGA® 11/3.1 bis 6. S. 772/773). Während der Arbeit an der "Dialektik der Natur" wertete Engels die "Natürliche Schöpfungsgeschichte" von Ernst Haeckel (4. Aufl. Berlin 1873) aus, in der Vorgeschichte, Inhalt und Konsequenzen der Darwinschen Theorie dargelegt und weltanschaulich interpretiert werden. Erste Bezüge auf Haeckel finden sich in den im Oktober 1874 entstandenen Notizen (S. 25/26 und 28-31). Die "Natürliche Schöpfungsgeschichte" bildete in der gesamten ersten Arbeitsperiode eine der wichtigsten naturwissenschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Quellen für Engels. Von seiner Sachkenntnis in biologischen Fragen zeugt auch die Verteidigung der Darwinschen Theorie in der Polemik gegen Dühring, die ein tiefes Verständnis für deren historische Bedeutung, aber auch für deren nur relative Gültigkeit erkennen läßt (siehe Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft. Leipzig 1878. S.46-55). Engels betrachtete die Darwinsche Theorie als deutlichsten Ausdruck einerneuen naturwissenschaftlichen Denkweise, die sich im gleichen historischen Zeitraum auf verschiedenen Gebieten Bahn brach. Nach seiner Einschätzung erlangte das Entwicklungsdenken vor allem in der Kosmologie, in den geologischen und biologischen Disziplinen wachsende Bedeutung. ln diesen größeren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang ordnete er seine Studien zu Darwin ein (S. 75-79).

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Engels' Orientierung auf diese beiden Entwicklungslinien im naturwissenschaftlichen Denken des 19. Jahrhunderts kommt auch in der Ende 1885/ Anfang 1886 gegebenen Einschätzung zum Ausdruck, der Aufschwung der Naturwissenschaft werde vor allem durch drei große Entdeckungen gekennzeichnet, durch den sich von der Berechnung des mechanischen Wärmeäquivalents herleitenden Nachweis der Umwandlung der Energie, durch die Entdeckung der organischen Zelle als Einheit, aus der alle Organismen entstehen und herauswachsen, und schließlich durch die Darwinsche Entwicklungstheorie (siehe S. 2~287). Ein großer Teil der vorliegenden Manuskripte ist der Frage gewidmet, inwiefern die objektive Dialektik der Natur in den Naturwissenschaften widergespiegelt wird, inwiefern diese einen dialektischen Inhalt haben. Entsprechende Ausarbeitungen entstanden in allen Arbeitsphasen. Für Engels erlangte dieser Gesichtspunkt wachsende Bedeutung. 1880 ging er zur systematischen Darstellung des dialektischen Inhalts der Wissenschaften über. Dies war sein Hauptanliegen in den nun entstehenden Kapiteln. Noch im "Plan 1878" waren nur "Aperc;us über die einzelnen Wissenschaften und deren dialektischen Inhalt" (S. 173) vorgesehen. Grundlage für die Realisierung dieser Aufgabe war für Engels die Analyse der Theorienentwicklung in verschiedenen Wissenschaften. Viele Gebiete wurden einbezogen; das Spektrum reicht von der Mathematik über die Mechanik und Astronomie, Physik und Chemie bis zur Biologie. Allerdings gibt es hier auch gewisse Unterschiede. Die 1880 beginnende systematische Darstellung des dialektischen Inhalts der Wissenschaften bezieht sich nur auf die Wissenschaften der anorganischen Natur. Ein Kapitel zur Biologie existiert nicht. Es wäre aber falsch, diesen Sachverhalt so zu interpretieren, als habe Engels die Frage nach dem dialektischen Inhalt der Biologie überhaupt ausgeschlossen oder erst relativ spät in seine Untersuchungen einbezogen. Die noch im Brief an Marx vom 30. Mai 1873 geäußerte Zurückhaltung in bezug auf die Dialektik im Bereich des Organischen wurde relativ schnell aufgegeben. Ab 1874 entstanden viele Texte gerade zur Biologie. Sie betreffen die Darwinsche Theorie, aber auch die weiterführenden Annahmen Haeckels bezüglich der einfachsten Lebensformen, der sogenannten Protisten, den Entwicklungsverlauf von Lebensformen, die Frage nach der Entstehung des Lebens bzw. nach dem Übergang von der Chemie zum Leben. ln seiner Schrift "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" wurden die darin enhaltenen Erkenntnisse benutzt und weitergeführt. Wenn Engels in "Grundformen der Bewegung" erneut die Biologie ausdrücklich aus seinen Betrachtungen ausklammerte, so hatte dies einen spezifischen Grund. Systematische

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Darstellung des dialektischen Inhalts der Wissenschaften bedeutete für Engels insbesondere, den Übergang von einer Wissenschaft zur anderen zu vollziehen. ln diese Betrachtung konnte Engels die Biologie nicht einbeziehen, weil hier die theoretische Entwicklung noch nicht weit genug war (siehe S. 187). Unterschiedlich ist in den einzelnen Wissenschaften auch die Auswahl des Materials, bei der sich Engels stets von der ihn interessierenden philosophischen Fragestellung leiten ließ. Seine Betrachtungen zur Mathematik zielen letztlich auf die Beantwortung der Frage, inwiefern diese in den Naturwissenschaften verwendet wird, um die Gesetze der realen Bewegung und Entwicklung zu erfassen. Die in der Physik des 19. Jahrhunderts vornehmlich verwendete Mathematik wurde im 17. und 18. Jahrhundert begründet. Auf diesen Erkenntnisstand richtete Engels daher seine Aufmerksamkeit. Hervorragende Bedeutung maß er der Differential- und Integralrechnung bei, durch sie wurde es - wie er betonte - möglich, Prozesse darzustellen (S. 41 /42). Voraussetzung für die Klärung obiger Frage war für Engels die Untersuchung des Verhältnisses der Mathematik zur Wirklichkeit und der Nachweis der Dialektik auch in der Mathematik. Diese Probleme lassen sich nach seiner Ansicht schon an elementaren Sachverhalten dieser Wissenschaft erörtern. (Siehe auch Friedrich Engels : Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft, Leipzig 1878. S. 96 bis 105.) Engels betonte mit allem Nachdruck, daß auch die Mathematik, insofern sie die objektive Realität widerspiegelt, einen dialektischen Inhalt hat, d. h., auch in ihr werden die Gegensätze vermittelt. Bei der philosophischen Behandlung der Mathematik schloß Engels ähnlich wie bei der Mechanik an diesbezügliche Ausführungen von Hegel an (siehe auch Erl. 41 .22--44.5 und 43.9). Indem Engels die theoretische Entwicklung auf verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebieten analysierte und dabei herausarbeitete, was es bedeutet, auf diesen Gebieten dialektisch zu denken, entwickelte er Ideen, die über den naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand seiner Zeit hinausreichen. Dies zeigt sich vor allem in seiner Polemik gegen die Hypothese vom Wärmetod des Weltalls, in seinen Überlegungen zur Darwinschen Theorie, zum Übergang von der Natur zur Gesellschaft, zur Entstehung und zum Wesen des Lebens und schließlich zur Herausbildung von Wissenschaften, die verschiedene Gebiete miteinander verbinden. Zur Hypothese vom Wärmetod des Weltalls war Clausius gelangt, als er den 2. Hauptsatz der Thermodynamik, ein für endliche abgeschlossene Systeme gültiges Naturgesetz, auf das ganze Universum übertrug (siehe Erl. 44.25-45.14). Engels erkannte als einer der ersten, daß ein solches Vorgehen zum Widerspruch mit dem 1. Hauptsatz führt, wenn man diesen als

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Einheit quantitativer und qualitativer Bestimmungen versteht. Diesen Gesichtspunkt betont er im Anschluß an Mayer in der Auseinandersetzung mit Clausius (S. 54). Den gleichen Gedanken finden wir schon in einer zuvor entstandenen Notiz (S. 47). Er kehrt auch in der "Einleitung" wieder: "Die Unzerstörbarkeit der Bewegung kann nicht bloß quantitativ, sie muß auch qualitativ gefaßt werden" (S. 85). Unter Voraussetzung der Gültigkeit des 1. Hauptsatzes und bei strenger Bewahrung seiner atomistischen Grundlage kann es nach seiner Ansicht im Universum nur zyklische Prozesse geben (siehe S. 47, 54 und 83--87). Engels hielt an der Anerkennung der Atomistik als Voraussetzung der mechanischen Wärmetheorie und ihres 1. Hauptsatzes fest und interpretierte den 2. Hauptsatz in dem Sinne, daß die Prozesse im Universum zu einem umfassenden ewigen Kreislauf zusammengeschlossen sind . Damit kam er zu ähnlichen Überlegungen wie Boltzmann, der 1877 die statistische Interpretation des 2. Hauptsatzes begründete (siehe Erl. 44.25 bis 45.14). Engels stellte der physikalischen Forschung der Zukunft die Aufgabe, die Wiederverwertbarkeit der in den Weltraum ausgestrahlten Wärmeenergie zu zeigen: "Der Kreislauf ist nicht hergestellt und wird es nicht bis die Wiederverwerthbarkeit der ausgestrahlten Wärme entdeckt werden wird." (S. 45.) Engels war sich dessen bewußt, daß es zwischen dem 2. Hauptsatz und dem Tatbestand der biologischen Evolution nur zeitweilig einen unüberbrückbaren Gegensatz geben kann. Die nach seiner Ansicht das 19. Jahrhundert bestimmenden naturwissenschaftlichen Entwicklungsrichtungen wurden von ihm in ihrem inneren Zusammenhang betrachtet. Im Unterschied dazu konstatierten viele Denker seiner Zeit einen vermeintlich unlösbaren Gegensatz zwischen der Darwinschen Theorie der progressiven Evolution der Organismen und der mechanischen Wärmetheorie, die mit ihrem 2. Hauptsatz den Übergang zu immer größerer Unordnung, d. h. den Abbau von Strukturen, auf den theoretischen Begriff bringt. Indem sich Engels gegen eine metaphysische Deutung dieses Satzes wandte und den Blick auf offene naturwissenschaftliche Fragen richtete, leistete er einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung beider Entwicklungsrichtungen, die im Detail erst in der Folgezeit- vor allem mit der Thermodynamik irreversibler Prozesse seit M itte unseres Jahrhunderts - realisiert zu werden begann. ln der dialektisch-materialistischen Naturauffassung von Engels sind die Geschichtlichkeit der Natur und ihr Systemcharakter bzw. ihre Strukturiertheit unlösbar miteinander verbunden, sie bedingen einander wechselseitig. Entwicklung wird zur Bedingung für die Erhaltung der qualitativen Mannigfaltigkeit und diese Erhaltung zur Bedingung für Entwicklung. Von weitreichender Bedeutung sind auch Engels' Ausführungen zur

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Darwinschen Theorie. Er erfaßte ihre weltanschauliche Bedeutsamkeit und ihren umwälzenden Charakter für die biologischen Wissenschaften - er wies mehrfach ausdrücklich darauf hin, daß die Darwinsche Theorie alle bisherigen Klassifikationen und den bisherigen Artbegriff über den Haufen geworfen hätte- und deckte in ihrtiefer liegende dialektische Beziehungen auf. Die Texte "Hard and fast lines", "Die Dialektik, die sogenannte objektive" und "Struggle for Life" sind Ausdruck für Engels' Bemühen, anhand von wesentlichen naturwissenschaftlichen Sachverhalten die Notwendigkeit des dialektischen Denkens für die Naturwissenschaften herauszuarbeiten. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Anerkennung der objektiven Dialektik der Natur (siehe S. 48). Dabei beruft sich Engels insbesondere auf die Darwinsche Theorie, welche jeden Fortschritt aus dem fortwährenden Widerstreit von Anpassung und Vererbung erklärt und für deren Verständnis solche Kategorien wie "positiv" und "negativ" unzureichend sind. "Hard and fast lines" sind "mit der Entwicklungstheorie unverträglich", da durch sie immer mehr "alle Gegensätze durch Zwischenglieder in einander übergeführt werden" (S. 47 /48). Nur die Dialektik, die die fixen metaphysischen Unterschiede ineinander überführt, die Gegensätze vermittelt, ist die dieser Theorie in höchster Instanz angemessene Denkmethode (S.48). Anwendung der dialektischen Methode auf die Biologie heißt, die Darwinsche Evolutionstheorie als eine sich entwickelnde Theorie zu betrachten. Von Anfang an hatten Marx und Engels bei aller Wertschätzung ein kritisches Verhältnis zu Darwin. Das zeigt sich auch in den Notizen aus dem Jahre 1875, zu deren Verständnis Engels' Brief an Pjotr Lawrowitsch Lawrow vom 12.-17. November desselben Jahres beiträgt. Engels wandte sich gegen einseitige Interpretationen der Darwinschen Lehre, in denen der "Kampf ums Dasein" verabsolutiert und dem "Zusammen-Wirken der organischen Natur" entgegengesetzt wurde (S. 49/50. Siehe auch Erl. 49.15 bis 50.26). Weiterführende Überlegungen zu Darwin entwickelte Engels im Herbst 1876 bzw. Anfang 1877 im Abschnitt "Philosophie" seiner Schrift "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft". Hier wird sein Verständnis für die historische Leistung des großen Naturforschers, aber auch für deren nur relative Gültigkeit besonders deutlich. Engels verteidigte Darwin gegen Dührings Angriffe und Entstellungen. Mit erstaunlicher Klarsicht erfaßte er in diesem Zusammenhang das Anliegen von Darwin, die Voraussetzungen und Grenzen seiner Theorie. Darwin- so betonte Engels- sehe ab von den Ursachen, die die Veränderungen in den einzelnen Individuen hervorgerufen haben, und handle zunächst von der Art und Weise, "in der solche

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individuelle Abweichungen nach und nach zu Kennzeichen einer Race, Spielart oder Art werden. Für Darwin handelte es sich zunächst weniger darum, diese Ursachen zu finden- die bis jetzt theilweise ganz unbekannt, theilweise nur ganz allgemein angebbar sind- als vielmehr eine rationelle Form, in der sich ihre Wirkungen festsetzen, dauernde Bedeutung erhalten." (Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft. Leipzig 1878. S. 50). Im Text "Kampf ums Dasein" (S. 124/125) erweiterte und vertiefte Engels die differenzierte Betrachtung der tatsächlichen Rolle des inzwischen zum allgemeinen Slogan gewordenen "Kampfes ums Dasein", wies den nur partiellen Charakter des Einflusses der seit Malthus strapazierten Übervölkerung auf die Artenentwicklung nach und verwies auf Unzulänglichkeiten in der Darwinschen Auffassung zu dieser Frage. Hierbei entwickelte er die Dialektik von Fortschritt und Rückschritt und folgerte, "daß jeder Fortschritt in der organischen Entwicklung zugleich ein Rückschritt, indem er einseitige Entwicklung fixirt die Möglichkeit der Entwicklung in vielen andern Richtungen ausschließt. Dies aber Grundgesetz." (S. 125.) ln dem umfangreicheren Fragment "Zufälligkeit und Nothwendigkeit" wird nachgewiesen, daß die unendlichen zufälligen Verschiedenheiten der Individuen innerhalb der einzelnen Arten Darwin zwingen, "die bisherige Grundlage aller Gesetzmäßigkeit in der Biologie, den Artbegriff in seiner bisherigen metaphysischen Starrheit und Unveränderlichkeit in Frage zu stellen" (S. 140). Die Notwendigkeit der Anpassung und Entwicklung setze sich durch die Zufälligkeit durch. Damit habe Darwin die aus dem französischen Materialismus herrührende Denkweise der metaphysischen Trennung und Gegenüberstellung von Notwendigkeit und Zufall unter dem Druck der Tatsachen überwunden, d. h. praktisch dasjenige gemacht, was Hegel als philosophische These aufgestellt habe. Darwin selbst war sich der Tatsache, daß er mit seiner Theorie den alten Artbegriff umgestoßen hatte, bewußt. Er betonte dabei, daß die Bezeichnung "Art" in gewisser Hinsicht willkürlich sei und daß diejenigen Formen, die man als Arten bezeichne, die aber mit anderen Arten durch Zwischenglieder verbunden sind, das größte wissenschaftliche Interesse beanspruchen dürften. Auch Engels widmete den Zwischengliedern, den Übergangsformen, besonders zwischen den Klassen und Ordnungen der Tiere, immer wieder seine Aufmerksamkeit und benutzte nachgewiesene Übergangsformen als Argument gegen verschiedene Momente metaphysischen Denkens. Darwin wurde für Engels zu einem hervorragenden Beispiel dafür, wie ein Naturforscher der objektiven Dialektik der Wirklichkeit Rechnung trägt, wie sich im naturwissenschaftlichen Erkennen aber auch die Grenzen einer spontan dialektischen Denkweise zeigen.

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Aufmerksam verfolgte Engels aktuelle Diskussionen um die Entstehung des Lebens. Sein Interesse galt sowohl den Berichten über neue Funde einfachster Lebensformen als auch verschiedenen Hypothesen, die von naturwissenschaftlicher Seite zu dieser Problematik hervorgebracht wurden. ln der Polemik mit einseitigen Konzeptionen entwickelte er seine Auffassung über die wesentlichen Lebensfunktionen der Eiweißkörper (des Protoplasmas), was ihn zu folgender Bestimmung des Lebens führte: "leben ist die Daseinsweise der Eiweißkörper, deren wesentliches Moment im fortwährenden Stoffwechsel mit der äußeren sie umgebenden Natur besteht und die mit dem Aufhören dieses Stoffwechsels auch aufhört und die Zersetzung des Eiweißes herbeiführt." (S.40.) Beim Vergleich organischer und unorganischer Körper stellte Engels fest, daß der Stoffwechsel bei ersteren "nothwendige Existenzbedingung ist" (S. 40, Fußnote). Diese Gedanken führte Engels in seiner Polemik mit Dühring weiter. (Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft. S. 55-62.) Ein Schwerpunkt der theoretischen Überlegungen von Engels ist die Bedeutung der Arbeit für die Herausbildung des Menschen und die in diesem Zusammenhang geführte Auseinandersetzung mit "Darwinistische[r] Politik und Gesellschaftslehre" (S.174). Dieser Thematik sind das Manuskript "Antheil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" (S. 88 bis 99) sowie einige kleinere Texte (S.49/50, 51/52 und 124/125) gewidmet. Engels überwand die einseitig biologische Erklärung der Menschwerdung, indem er die Untersuchung der Arbeit zum entscheidenden Ansatzpunkt seiner Überlegungen machte. Der grundlegende Unterschied zwischen Mensch und Tier, durch den sich eine mechanische Übertragung biologischer Gesetzmäßigkeiten auf den Menschen und die menschliche Gesellschaft verbietet, ist nach Engels die Arbeit, vermittels deren der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur aktiv und bewußt gestaltet. Engels begründete die entscheidende Rolle der Arbeitstätigkeit bei der Menschwerdung des Affen und analysierte das Wechselspiel von Arbeit, Denken und Sprache unter Berücksichtigung des aufrechten Ganges und der Entwicklung der Hand und des Gehirns (S. 82/83 und 88-99). Er enthüllte die dialektische Natur der Arbeitstätigkeit als Einheit von Umweltveränderung und Selbstveränderung des Menschen und entwickelte, ausgehend von einer kritischen Wertung der in der Geschichte erreichten Umweltveränderungen, grundlegende Ideen für die rationelle Gestaltung der Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft in der sozialistischen Gesellschaft. Mit seiner kritischen Analyse der Phrase vom "Kampf ums Dasein", besonders ihrer malthusianistischen Interpretation, nahm Engels eine grundlegende Kritik des sich erst später entfaltenden Sozialdarwinismus vorweg.

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Wenn es - wie Engels überzeugend nachwies - eine objektive Dialektik der Natur gibt und diese in den Naturwissenschaften widergespiegelt wird, so erwachsen daraus Konsequenzen für den Zusammenhang der Wissenschaften. Ganz am Anfang der Arbeit an der "Dialektik der Natur" formulierte Engels die für dieses Werk grundlegende Idee, daß sich dieser Zusammenhang aus dem Zusammenhang der Bewegungsformen der Materie ergibt (siehe S. 9/10). ln seinem Brief an Marx vom 30. Mai 1873 wurde sie erstmalig zur Diskussion gestellt (siehe Erl.9.11-10.10). Ihr sind eine Reihe weiterer Texte gewidmet, die alle in der ersten großen Periode der Arbeit entstanden (S. 28, 117, 121, 144/145 und 151-154) und die bereits im Abschnitt "Philosophie" von "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" genutzt oder als Ergänzung dazu entworfen wurden. Die darin entwickelte Position wurde zur Voraussetzung der weiteren Arbeit von August 1878 bis Mitte 1882. Als Engelsam Beginn der zweiten großen Arbeitsperiode mit dem "Plan 1878" zunächst eine ausführliche Gliederung des gesamten Werkes niederschrieb, notierte er als vierten Schwerpunkt: "Zusammenhang der Wissenschaften. Mathematik, Mechanik, Physik, Chemie, Biologie. S. Sirnon (Comte) und Hegel" (S. 173). Seine Gedanken über die Beziehung zwischen den Bewegungsformen der Materie und den Zusammenhang der Wissenschaften gingen als ein wesentliches Moment in jene Kapitel ein, in denen er - ausgehend vom "Plan 1880" - die Theorienentwicklung in Physik und Chemie analysierte und zu einer systematischen Darstellung des dialektischen Inhalts der Wissenschaften überging (S. 187-283). Engels berief sich in seinen Betrachtungen über den Zusammenhang der Wissenschaften auf Claude-Henri de Saint-Sirnon und Georg Wilhelm Friedrich Hegel als seine historischen Quellen (S. 28, 75 und 173). Er verglich beide mit den französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts und wertete ihre Ideen als einen bedeutenden Erkenntnisfortschritt (siehe Erl.28.12-13 und 117.13-20). Die neuen Ideen von SaintSirnon wurden bei Engels ebenso verarbeitet wie die in der Hegeischen Naturphilosophie entwickelte Konzeption zur Einteilung der Wissenschaften. Engels unterschied die Wissenschaften nach dem Grad der Einfachheit bzw. Kompliziertheit der in ihnen untersuchten Bewegungsformen und verband dies mit der Feststellung, daß die Untersuchung der Bewegung von deren einfachsten, niedrigsten Formen ausgehen mußte, ehe sie zu den verwickelten, höheren Formen gelangen konnte. Engels stützte sich dabei auch auf seine wissenschaftsgeschichtlichen Studien, die ein wesentliches Moment seiner Arbeit an der "Dialektik der Natur" waren (S. 32 bis 34, 53-56, 60-65 und 67-80). Schon Denis Diderot und Claude-Henri de Saint-Sirnon hatten die Bedeutung der Geschichte der Wissenschaf-

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ten als Ausgangspunkt für deren enzyklopädische Zusammenfassung betont. Die von Engels gewonnene Erkenntnis, daß der Zusammenhang zwischen den Bewegungsformen der Materie die Grundlage für den Zusammenhang zwischen den Wissenschaften bildet, stellt etwas qualitativ Neuartiges dar. Der Erkenntnisfortschritt gegenüber Saint-Sirnon und Hege I wurde möglich, weil Engels die neuen Entdeckungen in Physik, Chemie und Biologie zum Ausgangspunkt seiner philosophischen Überlegungen machte. Von entscheidender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang vor allem seine Studien zur mechanischen Wärmetheorie. Die für sie charakteristische Bestimmung der Wärme als Molekularbewegung und das sich darauf gründende Gesetz von der Erhaltung und Umwandlung der Energie gehören zu den entscheidenden naturwissenschaftlichen Voraussetzungen seiner Gedanken über die Bewegungsformen der Materie und den Zusammenhang der Wissenschaften. ln der "neueren Atomistik" (S.117), wie sie der Thermodynamik zugrunde liegt, erkannte Engels die Basis für modernes wissenschaftliches Denken in Physik und Chemie. Von hier aus entwickelte er seine Vorstellungen darüber, was es bedeutet, den Übergang von einer Bewegungsform zur anderen, von einer Wissenschaft zur anderen dialektisch zu fassen. ln seiner Polemik mit Dühring schrieb er : "Bei aller Allmähligkeit bleibt der Uebergang von einer Bewegungsform zur andern immer ein Sprung, eine entscheidende Wendung. So der Uebergang von der Mechanik der Weltkörper zu der der kleineren Massen auf einem einzelnen Weltkörper; ebenso der von der Mechanik der Massen zu der Mechanik der Moleküle -die Bewegungen umfassend, die wir in der eigentlich sogenannten Physik untersuchen: Wärme, Licht, Elektricität, Magnetismus; ebenso vollzieht sich der Uebergang von der Physik der Moleküle zu der Physik der Atome - der Chemie - wieder durch einen entschiednen Sprung, und noch mehr ist dies der Fall beim Uebergang von gewöhnlicher chemischer Aktion zum Chemismus des Eiweißes, den wir leben nennen." (Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft.

S. 46.) Später wiederholte Engels mehrfach den Gedanken, daß die Physik die Bewegung der Moleküle, die Chemie die Bewegung der Atome untersucht. Mit Befriedigung stellte er fest, daß auch der berühmte Chemiker August Kekule in seiner Rede über "Die wissenschaftlichen Ziele und Leistungen der Chemie" vom Oktober 1877 den Gegenstand beider Wissenschaften in ganz ähnlicher Weise beschrieb. Kekule war zu dieser Beschreibung nach einer ausführlichen Darstellung der atomistischen Grundlagen von Physik und Chemie gelangt. Mit der Atomistik akzeptierte Engels zugleich die relative Berechtigung der Zurückführung

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physikalischer Erscheinungen auf die Mechanik und deren Gesetze. Er sah darin die Basis für ein einheitliches wissenschaftliches Verständnis von Naturerscheinungen, die man in der Vergangenheit isoliert voneinander betrachtet hatte. Zugleich warnte Engels vor einer reduktionistischen Deutung des für das 19. Jahrhundert charakteristischen Forschungsprogramms. ln diesem Zusammenhang übte er Kritik an einer in der "Nature" gegebenen Interpretation der Kekule-Rede, wonach in dieser die unbedingte Reduktion sogar der chemischen Vorgänge auf bloß mechanische gefordert werde. Von einer solchen Interpretation grenzte sich Engels ab, wenn er sowohl den Zusammenhang, die Kontinuität als auch den Unterschied, die Diskretion im Verhältnis der Wissenschaften betonte (S. 151 und 152). Diese Überlegungen sind von allgemeinerer Bedeutung für das Verständnis der Wissenschaftsentwicklung in Vergangenheit und Gegenwart. Ausgehend von der objektiven Tendenz zur Integration der Wissenschaften, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in besonderer Weise entfaltete, interessierte sich Engels vor allem für den Übergang von einer Wissenschaft zur anderen, nahm er Stellung zu den philosophischen Fragen, die über den Rahmen einer Disziplin hinausführten. Nach seiner Einschätzung sind künftig gerade dort die größten Entdeckungen zu erwarten, wo verschiedene Gebiete einander berühren (S. 121 /122). Unter diesem Gesichtspunkt analysierte er unter anderem den Zustand der Elektrizitätslehre und kam dabei zu dem Schluß, daß die Wiederaufnahme der elektrochemischen Theorie zur tieferen Einsicht in die chemischen und elektrischen Vorgänge führen wird (S. 283). Engels forderte von den Naturwissenschaftlern, daß sie in ihrer Tätigkeit negative Auswirkungen der Arbeitsteilung überwinden und der Integration der Wissenschaften bewußt Rechnung tragen (S. 77). Die mit der "Dialektik der Natur" vollzogene Weiterentwicklung der materialistischen Dialektik zeigt sich auch in anderen theoretischen Schriften von Engels. Vor allem über "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft" und "Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie" (erstmalig veröffentlicht in der Zeitschrift "Die Neue Zeit", Stuttgart, Jg. 4, 1886, S.145-157 und 193-209) gelangten viele der in den vorliegenden Manuskripten enthaltenen Ideen schon zu Engels' Lebzeiten an die Öffentlichkeit. Auf diese zwei Schriften stützte sich auch Wladimir lljitsch Lenin zu Beginn unseres Jahrhunderts in seiner Polemik gegen Anhänger des Empiriokritizismus und entwickelte dabei philosophische Auffassungen, die denen von Engels entsprechen. Die Philosophie des Marxismus - so

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betonte er - ist der dialektische Materialismus, und dieser stimmt mit den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften überein. Wie Engels kam auch Lenin zu dem Schluß, daß die Naturwissenschaftlerzur bewußten Anwendung der Dialektik übergehen müssen (siehe W . l. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. ln : Werke. Bd. 14. Berlin 1983. S.249-316). ln seinen intensiven philosophischen Studien von 1914 bis 1916 widmete Lenin der Hegeischen Philosophie besondere Aufmerksamkeit. Er charakterisierte sie- unter ausdrücklichem Bezug auf Marx und Engels- als auf den Kopf gestellten Materialismus und betonte, er bemühe sich im allgemeinen, "Hegel materialistisch zu lesen" (W.I. Lenin: Philosophische Hefte. ln: Werke. Bd. 38. Berlin 1981 . S. 94). Dabei gelangte er zu einem Verständnis von Dialektik, das mit dem von Engels voll und ganz übereinstimmt. Die Notwendigkeit dialektischen Denkens ergibt sich für Lenin aus der Tatsache, daß die Abbildung der Bewegung im Denken immer "eine Vergröberung, ein Abtöten" (ebenda. S. 246) darstellt. Dieser Tendenz könne man nur vermittels der Dialektik entgegenwirken : "Im eigentlichen Sinne ist die Dialektik die Erforschung des Widerspruchs im Wesen der Dinge selbst" (ebenda. S. 240). ln seinem Aufsatz "Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus" formulierte Lenin 1922 eine Aufgabe von weitreichender Bedeutung. Die marxistischen Philosophen sollen ein Bündnis mit jenen Vertretern der modernen Naturwissenschaft herstellen, "die dem Materialismus zuneigen und sich nicht scheuen, ihn entgegen den in der sogenannten ,gebildeten Gesellschaft' herrschenden philosophischen Modeschwankungen zum Idealismus und Skeptizismus zu verfechten und zu propagieren" (W. I. Lenin : Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus. ln : Werke. Bd . 33. Berlin 1982. S. 218/219). ln einem solchen Bündnis sah Lenin eine entscheidende Bedingung für die Durchsetzung der marxistischen Weltanschauung, für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. Um es zu verwirklichen, ist es nach seiner Ansicht notwendig, die Dialektik nach allen Seiten hin auszuarbeiten, "das systematische Studium der Dialektik Hegels vom materialistischen Standpunkt aus" zu organisieren. (Ebenda. S. 219.)

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Editorische Hinweise Im vorliegenden Band werden die von Friedrich Engels zwischen Anfang 1873 und Mitte 1882 verfaßten Manuskripte "Dialektik der Natur", insgesamt 197 einzelne Textstücke, publiziert. Er enthält alle vom Autor in vier Umschlägen hinterlassenen Manuskripte, unabhängig davon, ob sie ursprünglich für die "Dialektik der Natur" verfaßt wurden und ob sie in einer direkten inhaltlichen Beziehung zu diesem Werk stehen. Neu gegenüber allen bisherigen Editionen ist die Einbeziehung von einigen Blättern mit physikalischen und mathematischen Formeln ([142], [143], [168], [172], [173], [174]) und der Formelteil von [175]. Wieder aufgenommen werden eine kurze Notiz über Philipp Viktor Pauli ([185]) sowie die im Band 20 der Marx-Engels-Werke unter den "Materialien zum ,Anti-Dühring'" veröffentlichten Texte "Sklaverei" ([101]) und "Fourier (Nouveau Monde ind. et soc.)" ([103]). Nicht aufgenommen ist lediglich der Beginn des ursprünglichen Entwurfs der Einleitung zu "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft", der sich auf demselben Blatt wie die Texte "Die ewigen Naturgesetze" ([100]) und "Sklaverei" ([101]) befindet und von Engels mit dem für ihn typischen Erledigungsvermerk versehen wurde. Die Publikation des Entwurfs dieser Einleitung, die mit den Worten "Der moderne Sozialismus" beginnt, erfolgt vollständig in MEGA® 1/27. ln den überlieferten Manuskripten gibt es keinen einheitlichen Titel für das gesamte Werk. Die von Engels zuerst niedergeschriebenen Texte [1]-[94] haben jeweils als Bogentitel "Naturdialektik". So bezeichnete Engels in einem Brief an Marx vom 23. November 1882 auch das gesamte Werk. Die vier Umschläge, in denen die Manuskripte überliefert sind, tragen die Bezeichnungen "Dialektik und Naturwissenschaft", "Naturforschung und Dialektik", "Dialektik der Natur" und "Mathematik und Naturwissenschaft. Diversa". Die Termini "Naturdialektik" und "Dialektik der

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Editorische Hinweise

Natur" verwendet Engels im wesentlichen gleichbedeutend im Sinne von objektiver Dialektik in den Naturerscheinungen und -prozessen, die in einem dialektischen Erkenntnisprozeß in den Naturwissenschaften widergespiegelt wird. Mit dem redaktionellen Titel "Dialektik der Natur" setzt der vorliegende Band die bestehende Tradition fort (siehe auch S. 597). Neu gegenüber allen bisherigen Editionen ist vor allem die Anordnung der Manuskripte. Die komplizierte Überlieferungslage, die fragmentarische Form des Werkes und fehlende Hinweise von Engels über eine weitergehende Bearbeitung und endgültige Zuordnung führten zu dem Entschluß, den gesamten Text zweimal wiederzugeben, erstens in einer chronologischen und zweitens in einer systematischen Anordnung. Ausgenommen davon ist der Text "Sklaverei" ([101]), der nur in der chronologischen Anordnung erscheint. Diese zwei Anordnungen, mit denen die Forderung nach originalgetreuer Bewahrung des literarischen Nachlasses von Marx und Engels weitgehend realisiert werden soll, stützen sich auf Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des Werkes, zu den philosophiegeschichtlichen Quellen und naturwissenschaftlichen Voraussetzungen sowie zu den inhaltlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Texten. Neben den Ergebnissen neuererUntersuchungenträgt die Anordnung auch den in Verbindung mit früheren Editionen gewonnenen Erkenntnissen und Positionen Rechnung. Bei der chronologischen Anordnung folgen die Texte so aufeinander, wie sie von Engels mit Sicherheit oder hoher Wahrscheinlichkeit niedergeschrieben wurden. Diese Anordnung widerspiegelt den Prozeß der Entstehung der "Dialektik der Natur", die Entwicklung der darin enthaltenen grundlegenden philosophischen Ideen, die Präzisierung der inhaltlichen Zielstellung von Engels und die Beziehungen zu den historischen Voraussetzungen und Bedingungen dieses Werkes, zu den darin verarbeiteten Quellen. Sie läßt große Arbeitsperioden und darin enthaltene Phasen erkennen und lenkt den Blick auf inhaltliche Beziehungen zwischen den Texten, die in einem bestimmten zeitlichen Zusammenhang stehen. Grundlage für die chronologische Anordnung ist die Datierung aller zur "Dialektik der Natur" gehörenden Texte. Sie konnte mit mehroderweniger großer Sicherheit vorgenommen werden. Der Entstehungszeitraum der einzelnen Texte bzw. Textgruppen, die entsprechenden Argumente für die jeweilige Datierung und der erreichte Grad der Sicherheit (Wahrscheinlichkeit) werden im Teil Entstehung und Überlieferung im Detail mitgeteilt. Aus der Manuskriptbeschaffenheit sich ergebende Anhaltspunkte für die Datierung werden in der Zeugenbeschreibung dargestellt. Man kann davon ausgehen, daß einzelne Texte dann zeitlich aufeinanderfolgen, wenn sie

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Editorische Hinweise

sich auf einem Blatt oder auf einem Bogen befinden bzw. zu einer ganzen Bogenfolge gehören. Bei einigen auf beiden Seiten beschriebenen Blättern ist es schwierig, Vorder- und Rückseite zu bestimmen. Übereinstimmung in bezug auf das verwendete Papier und gemeinsame Abrißkanten können ein Indiz für die Entstehung im gleichen Zeitraum sein. ln einigen Fällen weisen Jahreszahlen in den Wasserzeichen des Papiers auffrühestmögliche Entstehungszeiten hin. Wichtigste Anhaltspunkte für die Datierung waren : wörtliche oder inhaltliche Übereinstimmung von Textstellen mit Formulierungen in zuverlässig datierten Briefen von Engels, erwähnte literaturquellen, deren Erscheinungszeiten bekannt sind oder bei denen der Lesezeitraum eingegrenzt werden kann, zeitlich datierbare wissenschaftliche Ereignisse, die für Engels Anlaß waren, sich bestimmten Problemen zuzuwenden, Äußerungen zu Personen und Sachbeständen analogen Inhalts in anderen Arbeiten (besonders in "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft"). Die Datierung einzelner Textstücke bildete die Grundlage für die Datierung ganzer Blätter oder Bogen der Manuskripte. Die im Ergebnis der Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte festgestellten Arbeitsperioden und -phasen erlaubten die zeitliche Einordnung von solchen Texten, die für sich genommen kaum zu datieren waren. Die chronologische Anordnung gibt die Textstücke der einzelnen Bogen und Blätter auch dann in der Reihenfolge des Originals wieder, wenn einzelne Notizen oder Ergänzungen nachweislich später hinzugefügt wurden. Innerhalb desselben Zeitraumes entstandene Texte, die nacheinander wiedergegeben werden, können auch parallel zueinander oder in anderer Reihenfolge entstanden sein. Nicht immer war mit Sicherheit zu entscheiden, ob es sich um einen zusammenhängenden Text oder um mehrere Textstücke handelt.ln solchen Zweifelsfällen wurde die Interpretation bisheriger Editionen bevorzugt. Um in der chronologischen Anordnung die fragmentarische Form des Werkes so getreu wie möglich zum Ausdruck zu bringen, beginnt die Wiedergabe des Textes eines jeden Textzeugen jeweils mit einerneuen Seite. Die systematische Anordnung der "Dialektik der Natur" hat die Aufgabe, die einzelnen Texte in einen größeren inhaltlichen Zusammenhang zu stellen und so die theoretische Geschlossenheit zu verdeutlichen, die das Werk ungeachtet seiner fragmentarischen Form auszeichnet. Ausgangspunkt der systematischen Anordnung sind die von Engels in verschiedenen Texten (siehe vor allem [1], [2], [164] und [166]) entwickelten Ideen über die konzeptionellen Grundlagen der "Dialektik der Natur", insbesondere seine allgemeinen Vorstellungen über die Struktur bzw.

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Editorische Hinweise

Gliederung des Werkes, die in dem im August oder Anfang September 1878 niedergeschriebenen "Plan 1878" ([164]) enthalten sind. Vor allem dieser Text läßt erkennen, wie sich Engels den gedanklichen Ablauf vorstellte und welche philosophischeD Zielstellungen er mit den einzelnen Abschnitten verband. Deutlicher wird auch der Bezug zu schon vorhandenen Ausarbeitungen. Mit dem "Plan 1878" begann die zweite große Periode der Arbeit an der" Dialektik der Natur". Zu diesem Zeitpunkt lagen fast alle Fragmente und Notizen vor; von den relativ geschlossenen Ausarbeitungen, soweit sie ursprünglich für dieses Werk bestimmt waren, nur die "Einleitung". ln der Folgezeit entstanden vor allem die von Engels als Kapitel bezeichneten Texte. Hauptpunkte des Planes sind eine Wissenschafts- und philosophiegeschichtliche Einführung - einen besonderen Abschnitt will Engels der theoretischen Entwicklung seit Hegel widmen -, allgemeine theoretische Fragen der Dialektik, der Zusammenhang der Wissenschaften, Betrachtungen über den dialektischen Inhalt der Wissenschaften und schließlich eine Reihe von Problemen, die sich aus der aktuellen Auseinandersetzung ergeben und besonders speziellere Aspekte des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses betreffen. Abschließend wirft Engels Fragen des Übergangs von der Natur zur Gesellschaft auf. Die Textanalyse führt zu dem Resultat, daß Engels den "Plan 1878" in seinen Grundlinien tatsächlich realisiert hat. Für alle Hauptpunkte mit Ausnahme von 8 bis 10 liegen entsprechende Ausarbeitungen vor. Neben Notizen und Fragmenten sind dies für einige, wenn auch nicht für alle Hauptpunkte relativ geschlossene Ausarbeitungen (Kapitel). Die systematische Anordnung folgt dem "Plan 1878", der daher allen übrigen Texten vorangestellt ist. Entsprechend den Hauptpunkten 1, 2, 3, 4, 5 und 11 wurden große Abschnitte gebildet, die alle dazugehörigen Manuskripte enthalten, unabhängig davon, wie weit sie ausgearbeitet sind. Bei der Wahl entsprechender redaktioneller Überschriften konnten Formulierungen des "Planes 1878" wortgetreu oder angenähert übernommen werden. Verzichtet wird auf die Bildung besonderer polemischer Abschnitte, obwohl auch dazu bestimmte Materialien vorliegen. Sie entsprechen den Hauptpunkten 6 und 7 des "Planes 1878" und entstanden in der unmittelbaren Auseinandersetzung vor allem mit Carl Wilhelm von Nägeli und Ernst Haeckel. Einen ausgesprochen polemischen Zweck verfolgte Engels auch mit dem Aufsatz "Die Naturforschung in der Geisterwelt", der ursprünglich für einen anderen Zweck geschrieben wurde und im "Plan 1878" keine direkte Erwähnung findet. Ein wesentlicher Beweggrund für den Verzicht auf die Bildung besonderer polemischer Abschnitte war deren unvollständige Ausführung. Offenbar verloren einige der 1878

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Editorische Hinweise

aktuellen Fragen für Engels später an Bedeutung. Darüber hinaus ließen sich die Herausgeber von der Tatsache leiten, daß die in den einschlägigen Texten enthaltenen positiven Darstellungen eine wertvolle Bereicherung der anderen Abschnitte sind. Auf diesen systematischen Zusammenhang sollte bei der Anordnung nicht verzichtet werden. Die zeithistorische Aktualität mußte dahinter zurücktreten. Die Reihenfolge der Texte innerhalb der einzelnen Abschnitte ergibt sich aus folgenden Überlegungen: ln der Regel beginnt ein Abschnitt mit dem dazugehörigen Kapitel bzw. einer ausführlicheren Ausarbeitung. Es folgen die damit in Beziehung stehenden Notizen und Fragmente. Entwürfe für größere Texte werden diesen vorangestellt (so [57] vor [98), [159) vor [161]). An die Spitze der zu einem Abschnitt gehörenden Notizen und Fragmente treten diejenigen Texte, die von allgemeinerer theoretischer Bedeutung sind und denen sich daher andere Ausarbeitungen in gewisser Hinsicht zuordnen lassen. Eine solche Schlüsselfunktion haben z. B. [87) im ersten und [82] im dritten Abschnitt. Nach Möglichkeit werden kleinere Textgruppen gebildet, die sich auf verschiedene Aspekte eines Problems beziehen (siehe [14]-[106] oder [17]-[21]). ln einzelnen Fällen entspricht die Reihenfolge der Texte in der systematischen Anordnung ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge. Dies gilt insbesondere für den vierten Abschnitt. Diese Anordnung zeigt den gedanklichen Reichtum und die theoretische Konsequenz, die Engels bei der Realisierung seines Planes entwickelte. Interpretationen lassen sich bei aller Zurückhaltung dabei nicht völlig ausschließen. Für die Zuordnung einer nicht geringen Zahl vorwiegend kleinerer Texte sowie für ihre Reihenfolge innerhalb der Abschnitte gibt es mehrere Möglichkeiten. Bei der Fixierung einer Möglichkeit ließen sich die Editoren von dem Grundsatz leiten, die seit 1941 gewohnte Anordnung so wenig wie möglich zu verändern. Die jeweils getroffene Entscheidung hebt bestimmte inhaltliche Beziehungen auf Kosten anderer hervor. Die systematische Anordnung der Texte, ausgehend vom "Plan 1878", beginnt mit dem Abschnitt "Historische Einleitung". Darin werden der Entwurf der Einleitung ("Historisches" [57]), die "Einleitung" [98] sowie eine Gruppe von Notizen und Fragmenten wiedergegeben, die als Vorarbeiten bzw. Ergänzungen zum ersten, dem wissenschaftshistorischen Teil der Einleitung angesehen werden können. Auf entsprechende Texte im Zusammenhang mit dem zweiten Teil der Einleitung - er betrifft die Geschichte der Natur- wird bewußt verzichtet. Der erste Abschnitt bekommt damit ein hauptsächlich wissenschaftsgeschichtliches Profil. Bei der Ordnung der Notizen und Fragmente wird [87] als der Text vorangestellt, der den größten zeitlichen Rahmen umfaßt und darüber hinaus eine grundsätzliche Orientierung für wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen ent-

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Editorische Hinweise

hält. Es folgen die anderen Texte entsprechend den in ihnen behandelten Perioden. Der zweite Abschnitt "Gang der theoretischen Entwicklung seit Hegel. Philosophie und Naturwissenschaft" setzt die historische Betrachtung fort, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Wechselbeziehung von Philosophie und Naturwissenschaft in neuerer Zeit. Von grundsätzlicher Bedeutung für diesen Abschnitt ist die "Alte Vorrede zu Dühring. Über Dialektik", in der Engels die Dialektik als die für die neuere Naturwissenschaft wichtigste Denkform charakterisiert und sich mit jenen Philosophen und Naturwissenschaftlern auseinandersetzt, die den rationellen Kern der Hegeischen Dialektik mißachten. Es schließen sich verschiedene Texte bzw. Textgruppen an, in denen Schwierigkeiten aufgedeckt werden, welche Naturwissenschaftler haben, wenn sie das philosophische und theoretische Denken mißachten, vor allem, wenn sie die Dialektik ignorieren ([162]-[97], [40]-[185]). Eine allgemeine inhaltliche Orientierung für alle Notizen und Fragmente enthalten "Büchner" ([1]) und die dazu gehörige Ergänzung [9] sowie "Ausgelassenes aus ,Feuerbach'" ([193]), die daher allen übrigen Texten vorangestellt werden. ln einigen Notizen unterstreicht Engels erneut die Bedeutung der Hegeischen Dialektik und verteidigt sie gegen verschiedene Angriffe ([180]-[190]). Engels' Kritik gilt sowohl dem spekulativen Denken, das die Resultate der empirischen Forschung nicht in gebührender Weise verarbeitet, als auch dem bloß empirischen Vorgehen, das mit der Unterschätzung von Theorie und Philosophie verbunden ist. Er zeigt, daß beide Extreme unter bestimmten Bedingungen ineinander übergehen ([162], [156]-[42]). Einige der in den zweiten Abschnitt eingeordneten Notizen betreffen den Gang der theoretischen Entwicklung vor Hege I. Der dritte Abschnitt "Dialektik als Wissenschaft" bietet eine Zusammenstellung jener Texte, die Engels' grundsätzliche Ausführungen zur Dialektik als Theorie und Methode enthalten. Auf "Dialektik" ([165]) folgen zunächst [82] und [81], in denen Engels noch einmal seine materialistische Ausgangsposition darstellt- das dialektische Denken ist für ihn nur" Reflexder in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen" (S. 361)und Dialektik als jene Denkmethode charakterisiert, die "die Gegensätze vermittelt" (S. 362). Der letzte Absatz von [103] ergänzt [81] durch Belege für dialektisches Denken bei Charles Fourier. Es schließen sich einzelne Texte oder Textgruppen an, die in kritischer Verarbeitung der Hegeischen Lehre vom Wesen entstehen und in denen Engels zeigt, was es heißt, mit philosophischen Begriffen und Kategorien dialektisch zu arbeiten. Es sind dies die Textgruppen [14]-[106], [17]-[21], die in [82] inhaltlich schon vorbereitet werden, sowie [19] und [25]. [179] leitet zu drei weiteren Text-

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Editorische Hinweise

gruppen über: [55]-[24], [145], [36]-[43]. [102] schließlich knüpft an das Kapitel "Dialektik" ([165]) an, in dem Engels drei Gesetze der Dialektik formuliert. Im weiteren werden die Texte [46]-[111] wiedergegeben, in denen er die Bedeutung der Dialektik vor allem für das naturwissenschaftliche Erkennen herausarbeitet. Auch hier stehen am Anfang diejenigen Notizen, die das Problem im allgemeinen behandeln. ln [46] betont Engels die Einheit von Natur und Geist, in [76] entwickelt er den Hegeischen Gedanken, daß dialektisches Denken vernünftiges Denken und nur dem Menschen möglich ist, "weil es die Untersuchung der Natur der Begriffe selbst zur Voraussetzung hat" (S. 375/376). Nichtwenige dieserTexte haben ausgesprochen polemischen Charakter. Dies gilt vor allem für [104]-[86], [12]-[109] und [144]-[111]. ln Auseinandersetzung mit verschiedenen Erscheinungsformen metaphysischen Denkens entwickelt Engels grundlegende Ideen über dialektische Beziehungen der Wirklichkeit und ihre Widerspiegelung im Erkennen. Der vierte Abschnitt "Bewegungsformen der Materie und Zusammenhang der Wissenschaften" enthält jene Materialien, in denen Engels die für die "Dialektik der Natur" grundlegende Idee, der Übergang von einer Wissenschaft zur anderen ergebe sich aus dem Zusammenhang der Bewegungsformen der Materie, begründet und weiterentwickelt. Die Ordnung der Texte innerhalb dieses Abschnittes demonstriert den Übergang von einer allgemeinen philosophischen Idee (vor allem in [2] sowie in [47]) zu ihrer konkreteren Fassung, die auf der philosophischen Verarbeitung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse beruht (vor allem in [159] und [161]). Diese Ordnung entspricht auch der zeitlichen Aufeinanderfolge der Texte. Der fünfte Abschnitt "Dialektischer Inhalt der Wissenschaften" bezieht sich auf den fünften Hauptpunkt des "Planes 1878" und berücksichtigt dessen Weiterentwicklung im Prozeß der Arbeit von Engels. Diese Weiterentwicklung widerspiegelt sich im "Plan 1880", der nach "Dialektik" und vor allen weiteren Kapiteln entstand, sieht man von der bereits 1875/1876 verfaßten "Einleitung" ab. Dieser Plan ist eine Art Konzept für das im Anschluß an ihn entstandene Kapitel "Grundformen der Bewegung". Darüber hinaus zeichnet er- so wie das ganze Kapitel -die Aufeinanderfolge der weiteren Ausarbeitungen (einschließlich der von 1882) vor. Die auf seiner Grundlage entstandenen Manuskripte sind der systematischen Analyse der Theorienentwicklung in den Naturwissenschaften mit dem Ziel gewidmet, deren dialektischen Inhalt aufzudecken. Dies ist sowohl vom Inhalt als auch vom Umfang her mehr, als Punkt 5 des "Planes 1878" vorsah, der nur auf Aperc;us über die einzelnen Wissenschaften und deren dialektischen Inhalt orientierte. Im "Plan 1880" und vor allem in den folgenden Kapiteln stellt Engels konsequenter als zuvor das Problem der gedanklichen

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Editorische Hinweise

Abbildung der realen Bewegung in den naturwissenschaftlichen Theorien in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Hier vor allem müsse sich der dialektische Inhalt der Wissenschaften zeigen. Der Abschnitt "Dialektischer Inhalt der Wissenschaften" beginnt mitdem "Plan 1880". Bestimmend für seine Gliederung sind vor allem die Kapitel. Entsprechend dem "Plan 1880" schließt sich zunächst "Grundformen der Bewegung" an, in dem Engels Bewegung als Widerspruch, als Einheit zweier Grundformen (Attraktion und Repulsion), faßt und seine Existenz in qualitativ verschiedenen Bewegungsformen der anorganischen Natur nachweist. "Grundformen der Bewegung" und "Maß der Bewegung Arbeit" folgen aufeinander, so wie es von Engels vorgesehen war (5.415) und wie sie auch niedergeschrieben wurden. Ihr Zusammenhang wird nur durch eine Gruppe von Notizen und Fragmenten unterbrochen, die Vorarbeiten bzw. Ergänzungen zu "Grundformen der Bewegung" darstellen und in denen verschiedene Aspekte der Einheitvon Materie und Bewegung, der inneren Dialektik der Bewegung, des Zusammenhangs der Bewegungsformen behandelt werden. Auch den anderen Kapiteln werden entsprechende Notizen und Fragmente zugeordnet. Bei "Maß der Bewegung Arbeit" sind dies vor allem dazugehörige Berechnungen. Die Aufeinanderfolge der Notizen und Fragmente ergibt sich aus dem Inhalt der Kapitel. Die Einführung der redaktionellen Zwischenüberschriften "Zur Mathematik", "Zu Mechanik und Astronomie", "Zur Physik", "Zur Chemie" und "Zur Biologie" erfolgte ausgehend von der Tatsache, daß sich Engels in beiden Plänen auf einzelne Wissenschaften orientierte. Bei der Realisierung dieser Pläne ging er allerdings über den Rahmen einzelner Wissenschaften hinaus. Große Bedeutung erlangte für ihn der Übergang von einer Bewegungsform zur anderen, der Zusammenhang der Wissenschaften. Die Materialien des fünften Abschnittes lassen sich daher nur bedingt einzelnen Wissenschaften zuordnen. Die Hinzufügung der Worte "Zu" oder "Zur" in den Zwischenüberschriften ist notwendig, da erstens auch in den vorangehenden Texten Probleme von Mechanik, Astronomie, Physik und Chemie behandelt werden und zweitens nicht der Eindruck entstehen soll, Engels habe eine enzyklopädische Darstellung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes seiner Zeit geben wollen. Der Teilabschnitt "Zur Mathematik" wird dort eingeordnet, wo sich Engels nach dem "Plan 1880" zu dieser Wissenschaft äußern wollte. ln Übereinstimmung mit diesem Plan werden "Wärme" und "Eiektricität" im Teilabschnitt "Zur Physik" zusammengefaßt, obwohl das letztere Kapitel weitgehend Fragen der Elektrochemie behandelt. DerTeilabschnitt"Zur Biologie" endet mit Texten, die auch am Beginn des folgenden Abschnittes stehen könnten; es werden darin Fragen der Beziehung von Natur und

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Editorische Hinweise

Gesellschaft, von Natur- und Gesellschaftswissenschaft behandelt. Um diesen Zusammenhang geht es im letzten Abschnitt "Natur und Gesellschaft". Den Abschluß bilden die Titel der Umschläge und deren Inhaltsverzeichnisse. Entsprechend dem Platz in der chronologischen Anordnung wurden alle Textstücke redaktionell fortlaufend mit Nummern in eckigen Klammern versehen. Eine Konkordanzliste ermöglicht den Übergang von der chronologischen zur systematischen Anordnung. Für jeden Text fixiert sie die entsprechenden Seiten zunächst in der chronologischen, dann in der systematischen Anordnung, seine Zugehörigkeit zu einer Arbeitsperiode und -phase sowie seinen Platz in einem der vier Umschläge (siehe S. 599-607). Da die Aufbewahrung in den vier Umschlägen nicht erhalten geblieben ist, stützen sich die Editoren auf entsprechende Angaben von David Borissowitsch Rjasanow in AM3 2. Grundlage für den Edierten Text ist die von Engels hinterlassene Handschrift; der Edierte Text folgt getreu der Textgrundlage. Die Entzifferung wurde anhand des Originals vorgenommen und gegenüber früheren Ausgaben präzisiert. Neu entziffert wurden die bisher nicht wiedergegebenen Texte und die Mehrzahl der Varianten. Eine Vereinheitlichung oder Modernisierung der Orthographie und Interpunktion wird nicht durchgeführtlediglich bei den griechischen Wörtern im Text [96] wurde aat• AE')'Oll'tE~ OWll, 'tO J.LEv Oll, 'tO &t J.LTJ Oll" 'tOVt(l)ll &t 'tO n-A.ijpes xat crrept:Oll (nämlich 'tcX ä'tOJ.La), 'tO Oll" 'tO &t XEliOll ')'E xat JLaliOV, 'to J.LTJ oll. äw xat ou-ßtv J.LÜA.A.oll 'tO Öll 'tou J.LTJ oll'to~ dllat q>aaw .... Ahta &t 'tWll Oll't(l)ll 'taU'ta, w~ vA. TJll. Kat xa-ßanep ot Ev nowiJV'te~ 'tTJll U?tOXEtJ.LEVTJll OUO"Lall, 'tcX äA.A.a 'tO~ na-ßt: Für das Thatsächliche verlassen wir uns in diesem Kapitel vorwiegend auf Wiedemanns Lehre vom Galvanismus und Elektromagnetismus, 2 Bde in 3 Abthl., 2. Auflage, Braunschweig 1874. In Nature 1882 June 15, wird auf diesen admirable tceatise hingewiesen which in its forthcoming shape, with electrostatics added, will be the greatest experimental treatise on electricity in existence.

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perimentiren vieler Einzelner, die dies unbekannte Gebiet zersplittert angreifen wie ein nomadischer Reiterschwarm angreift. Aber freilich, eine Entdeckung wie die Daltonsche, die der gesammten Wissenschaft einen Mittelpunkt und der Untersuchung eine feste Basis verschafft, ist auf dem 5 Gebiet der Elektricität noch zu machen. Es ist wesentlich dieser, die Feststellung einer umfassenden Theorie einstweilen unmöglich machende, zerfahrene Stand der Elektricitätslehre, der es bedingt daß auf diesem Gebiet die einseitige Empirie vorherrscht, jene Empirie, die sich das Denken möglichst selbst verbietet, und die ebendeßhalb nicht nur falsch denkt, 10 sondern auch nicht im Stande ist den Thatsachen treu zu folgen oder nur sie treu zu berichten; die also in das Gegentheil von wirklicher Empirie umschlägt. Wenn überhaupt denjenigen Herren Naturforschern, die den tollen aprioristischen Spekulationen der deutschen Naturphilosophie nicht Übles 15 genug nachsagen können, die Lektüre zu empfehlen ist nicht nur gleichzeitiger, sondern selbst noch späterer theoretisch-physikalischer Schriften der empirischen Schule, so gilt dies ganz besonders von der Elektricitätslehre. Nehmen wir eine Schrift aus dem Jahre 1840: An Outline of the Seiences of Heat and Electricity, by Thomas Thomson. Der alte Thomson 20 war ja seiner Zeit eine Autorität; er hatte zudem schon einen sehr bedeutenden Theil der Arbeiten des bisher größten Elektrikers, Faraday, zur Verfügung. Und doch enthält sein Buch mindestens ebenso tolle Sachen wie der betreffende Abschnitt der viel älteren Hegeischen Naturphilosophie. Die Beschreibung des elektrischen Funkens z. B. könnte direkt aus der ent25 sprechenden Stelle bei Regel übersetzt sein. Beide zählen alle die Wunderlichkeiten auf die man, vor der Erkenntniß der wirklichen Beschaffenheit und vielfachen Verschiedenheit des Funkens, in diesem entdecken wollte, und die jetzt meist als Specialfälle oder Irrthörner nachgewiesen sind. Noch besser. Thomson erzählt S.416 ganz ernsthaft die 30 Räubergeschichten von Dessaignes, nach denen bei steigendem Barometer und fallendem Thermometer, Glas, Harz, Seide etc. durch Eintauchen in Quecksilber negativ elektrisch werden, bei fallendem Barometer und steigender Temperatur dagegen positiv; daß Gold und mehrere andre Metalle im Sommer durch Erwärmen positiv, durch Abkühlen negativ werden, im 35 Winter umgekehrt; daß sie bei hohem Barometer und nördlichem Wind stark elektrisch sind, positiv bei 11[311 steigender, negativ bei fallender Temperatur usw. Soviel für die Behandlung des Thatsächlichen. Was aber die aprioristische Spekulation angeht, so gibt Thomson uns folgende Konstruktion des elektrischen Funkens zum Besten, die von keinem Geringeren herrührt als 40 von Faraday selbst: "Der Funke ist eine Entladung oder Abschwächung des polarisirten Induktionszustandes vieler dielektrischen Theilchen, vermittelst

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einer eigenthümlichen Aktion einiger wenigen dieser Theilchen, die einen sehr kleinen und begränzten Raum einnehmen. Faraday nimmt an, daß die wenigen Theilchen, an denen die Entladung stattfindet, nicht nur auseinander geschoben werden, sondern einen eigenthümlichen, höchst aktiven (highly exalted) Zustand temporär annehmen; das heißt, daß alle sie umgebenden Kräfte nach einander auf sie geworfen werden, und sie dadurch in eine entsprechende Intensität des Zustandes versetzt werden, die vielleicht derjenigen sich chemisch verbindender Atome gleichkommt; daß sie dann jene Kräfte entladen, ähnlich wie jene Atome die ihrigen, auf eine uns bis jetzt unbekannte Weise; und so das Ende des Ganzen (and so the end of the whole). Die schließliehe Wirkung ist genau als ob ein metallisches Theilchen an die Stelle des entladenden Theilchens getreten wäre, und es scheint nicht unmöglich daß die Aktionsprincipien in beiden Fällen sich einst als identisch erweisen." Ich habe, setzt Thomson hinzu, diese Erklärung Faradays in seinen eignen Worten gegeben weil ich sie nicht klar verstehe. Dies wird nun auch wohl andern Leuten ebenso gegangen sein, geradeso gut wie wenn sie bei Hegel iesen, im elektri~chen Funken gehe "die besondre Matenatur des gespannten Körpers noch nicht in den Prozeß ein, sondern ist darin nur elementarisch und seelenhaft bestimmt", und die Elektricität sei "der eigene Zorn, das eigne Aufbrausen des Körpers", sein "zorniges Selbst" das "an jedem Körper hervortritt wenn er gereizt wird" (Naturphil. § 324, Zusatz). Und doch ist der Grundgedanke bei Hegel und Faraday derselbe.lll41l Beide sträuben sich gegen die Vorstellung, als sei die Elektricität nicht ein Zustand der Materie, sondern eine eigne, aparte Materie. Und da im Funken anscheinend die Elektricität selbstständig, frei, von allem fremden materiellen Substrat abgesondert und dennoch sinnlich wahrnehmbar auftritt, kommen sie, beim damaligen Stand der Wissenschaft, in die Nothwendigkeit den Funken als die verschwindende Erscheinungsform einer von aller Materie momentan befreiten "Kraft" auffassen zu müssen. Für uns ist das Räthsel freilich gelöst, seitdem wir wissen daß zwischen Metallelektroden bei der Funkenentladung wirklich "metallische Theilchen" überspringen und also "die besondre Materiatur des gespannten Körpers" in der That "in den Prozeß eingeht" . Wie Wärme und Licht, so wurden bekanntlich auch Elektricität und Magnetismus anfangs als besondre, imponderable Materien aufgefaßt. Bei der Elektricität kam man bekanntlich bald dahin, sich zwei entgegengesetzte Materien, zwei "Fluida", vorzustellen, ein positives und ein negatives, die sich in normalem Zustand gegenseitig neutralisirten bis sie durch eine sogenannte "elektrische Scheidungskraft" von einander getrennt würden. Man könne dann zwei Körper, den einen mit positiver, den andern mit negativer Elektricität laden ; bei Verbindung Beider durch einen dritten, leitenden

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Körper finde dann die Ausgleichung statt, je nach Umständen entweder plötzlich, oder vermittelst eines dauernden Stroms. Die plötzliche Ausgleichung erschien sehr einfach und einleuchtend, aber der Strom bot Schwierigkeiten. Der einfachsten Hypothese, als bewege sich im Strom jedesmal entweder bloß positive oder bloß negative Elektricität, stellten Fechner und in ausführlicherer Entwicklung Weber die Ansicht gegenüber, daß im Schließungskreis jedesmal zwei gleiche, in entgegen gesetzter Richtung fließende Ströme von positiver und negativer Elektricität neben einander in Kanälen strömen, die zwischen den ponderablen Molekülen der Körper liegen. Bei der weitläuftigen mathematischen Ausarbeitung 1151 dieser Theorie kommt Weber endlich auch dahin, eine hier gleichgültige Funktion mit einer Größe_.!_ zu multipliciren, welches_.!_ "das Verhältniß der Eiekr

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tricitätseinheit zum Milligramm" bedeutet (Wiedemann, Lehre vom Galvanismus etc., 2. Aufl. III p. 569). Das Verhältniß zu einem Gewichtsmaß 15 kann natürlich nur ein Gewichtsverhältniß sein. So sehr hatte die einseitige Empirie also schon über dem Rechnen das Denken verlernt, daß sie die imponderable Elektricität hier bereits ponderabel werden läßt, und ihr Gewicht in die mathematische Rechnung einführt. Die von Weber abgeleiteten Formeln genügten nur innerhalb gewisser 20 Grenzen, und namentlich hat Helmholtz noch vor wenig Jahren Resultate herausgerechnet die mit dem Satz von der Erhaltung der Energie in Konflikt kommen. Der Webersehen Hypothese vom entgegen gerichteten Doppelstrom stellte C. Neumann 1871 die andre gegenüber, daß nur die eine der beiden Elektricitäten, beispielsweise die positive, sich im Strom bewege, die 25 andre, negative, aber mit der Masse des Körpers fest verbunden sei. Hieran schließt sich bei Wiedernano die Bemerkung: "Diese Hypothese könnte man mit der Webersehen vereinen, wenn man zu dem von Weber supponirten Doppelstrom der entgegengesetzten fließenden Massen ± 1/ 2 e noch einen nach Außen unwirksamen Strom neutraler Elektricität hinzufügte, der in der 30 Richtung des positiven Stroms die Elektricitätsmenge ± 1/ 2 e mit sich führte." (III, S. 577). Dieser Satz ist wieder bezeichnend für die einseitige Empirie. Um die Elektricität überhaupt zum Strömen zu bringen, wird sie in positive und negative zerlegt. Aber alle. Versuche, mit diesen beiden Materien den Strom 35 zu erklären, stoßen auf Schwierigkeiten; sowohl die Annahme daß jedesmal nur die eine im Strom vorhanden sei, wie die, daß beide gleichzeitig gegeneinander strömen, und endlich auch die //[6]/ dritte, daß die eine ströme und die andre ruhe. Wenn wir bei dieser letzten Annahme stehn bleiben- Wie erklären wir uns die unerklärliche Vorstellung, daß die negative Elektricität, 40 die in der Elektrisirmaschine und der Leidner Flasche doch beweglich genug

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ist, im Strom fest mit der Masse des Körpers verbunden sei? Ganz einfach. Wir lassen neben dem positiven Strom + 1/ 2 e, der nach rechts, und dem negativen Strom - 1/ 2 e, der nach links den Draht durchfließt, noch einen dritten Strom neutraler Elektricität ± 1/ 2 e nach rechts fließen. Erst nehmen wir an daß die beiden Elektricitäten, um überhaupt fließen zu können, von einander 5 getrennt sein müssen; und um die beim Fluß der getrennten Elektricitäten auftretenden Erscheinungen zu erklären, nehmen wir an daß sie auch ungetrennt fließen können. Erst machen wir eine Voraussetzung um eine gewisse Erscheinung zu erklären, und bei der ersten Schwierigkeit auf die wir stoßen, machen wir eine zweite Voraussetzung, die die erste direkt 10 aufhebt. Wie muß die Philosophie beschaffen sein über die diese Herren ein Recht haben sich zu beklagen? Neben diese Ansicht von der Materialität der Elektricität trat indeß bald eine zweite, wonach sie als ein bloßer Zustand der Körper, eine "Kraft", oder wie wir heute sagen würden, als eine besondre Form der Bewegung gefaßt 15 wurde. Wir sahen oben daß Hegel und später Faraday diese Auffassung theilten. Seitdem die Entdeckung des mechanischen Aequivalents der Wärme die Vorstellung eines besandem "Wärmestoffs" endgültig beseitigt und die Wärme als eine Molekularbewegung nachgewiesen hatte, war der nächste Schritt, die Elektricität ebenfalls nach der neuen Methode zu be- 20 handeln, und die Bestimmung ihres mechail7lnischen Aequivalents zu versuchen. Dies gelang vollkommen. Namentlich durch die Versuche von Joule, Favre und Raoult wurde nicht nur das mechanische und thermische Aequivalent der s. g. "elektromotorischen Kraft" des galvanischen Stroms festgestellt, sondern auch ihre vollständige Aequivalenz mit der durch 25 chemische Prozesse in der Erregerzelle freigesetzten oder in der Zersetzungszelle verbrauchten Energie. Die Annahme, die Elektricität sei ein besondres materielles Fluidum, wurde hierdurch immer unhaltbarer. Indeß war die Analogie zwischen Wärme und Elektricität doch nicht vollkommen. Der galvanische Strom unterschied sich immer noch in sehr 30 wesentlichen Stücken von der Wärmeleitung. Es war noch immer nicht zu sagen, was sich denn in den elektrisch afficirten Körpern bewege. Die Annahme einer bloßen Molekularschwingung, wie bei der Wärme, erschien ungenügend. Es blieb schwer, bei der ungeheuren diejenige des Lichts noch übertreffenden Bewegungsgeschwindigkeit der Elektricität über die Vor- 35 stellung hinweg zu kommen, daß zwischen den Körpermolekülen sich hier irgend etwas Stoffliches bewege. Hier treten nun die neuesten Theorien von Clerk Maxwell (1864) Hankel (1865), Reynard (1870) und Edlund (1872) einstimmig mit der, schon 1846 zuerst von Faraday vermuthungsweise ausgesprochnen Annahme auf, daß die Elektricität eine Bewegung eines den 40 ganzen Raum und somit auch alle Körper durchdringenden elastischen

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Mediums sei, dessen diskrete Theilchen sich nach dem Gesetz des umgekehrten Quadrats der Entfernung abstoßen, also mit andren Worten eine Bewegung der Aethertheilchen, und daß die Körpermoleküle an dieser Bewegung Theil nehmen. Über die Art dieser Bewegung weichen die verschiedneo Theorien von einander ab; diejenigen von Maxwell, Hankel und Reynard, sich an die neueren Untersuchungen über Wirbelbewegungen anlehnend, erklären sie, in verschiedner Weise, ebenfalls aus Wirbeln; sodaß auch die Wirbel des alten Descartes auf stets neuen Gebieten wieder zu Ehren kommen. Wir enthalten uns auf die Einzelheiten dieser Theorien näher einzugehn. Sie weichen stark unter einander ab, !i[S)j und werden sicher noch viele Umwälzungen erfahren. Aber ein entschiedner Fortschritt scheint in ihrer gemeinsamen Grundanschauung zu liegen: daß die Elektricität eine auf die Körpermoleküle rückwirkende Bewegung der Theilchen des alle ponderable Materie durchdringenden Lichtäthers ist. Diese Auffassung versöhnt die beiden früheren. Nach ihr bewegt sich allerdings bei den elektrischen Erscheinungen etwas Stoffliches, von der ponderablen Materie Verschiedenes. Aber dies Stoffliche ist nicht die Elektricität selbst, die vielmehr in der That sich als eine Form der Bewegung erweist, wenn auch nicht als eine Form der unmittelbaren, direkten Bewegung der ponderablen Materie. Während die Aethertheorie einerseits einen Weg zeigt, über die primitiv plumpe Vorstellung von zwei entgegengesetzten elektrischen Fluiden hinauszukommen, gibt sie andrerseits Aussicht aufzuklären was das eigentliche stoffliche Substrat der elektrischen Bewegung ist, was das für ein Ding ist dessen Bewegung die elektrischen Erscheinungen hervorruft. Einen entschiedneo Erfolg hat die Aethertheorie bereits gehabt. Bekanntlich besteht wenigstens ein Punkt, wo die Elektricität direkt die Bewegung des Lichtes ändert: sie dreht seine Polarisationsebene. Clerk Maxwell, gestützt auf seine obige Theorie, berechnet daß das elektrische specifische Vertheilungsvermögen eines Körpers gleich ist dem Quadrat seines Lichtbrechungsindex. Boltzmann hat nun verschiedne Nichtleiter auf ihren Dielektricitätskoefficienten untersucht und gefunden daß bei Schwefel, Kolophonium und Paraffin die Quadratwurzel aus diesem Koefficienten gleich war ihrem Lichtbrechungsindex. Die höchste Abweichung - bei Schwefel - betrug nur 4 %. Soweit ist speciell die Maxwellsehe Aethertheorie also experimentell bestätigt worden. I 191 Es wird indeß noch eine geraume Zeit dauern und viel Arbeit kosten, bis neue Versuchsreihen aus diesen, ohnehin einander widersprechenden Hypothesen, einen festen Kern herausgeschält haben. Bis dahin, oder bis auch die Aethertheorie etwa durch eine ganz neue verdrängt wird, befindet sich die Lehre von der Elektricität in der unangenehmen Lage, sich einer Ausdrucksweise bedienen zu müssen, von der sie selbst zugibt, daß sie falsch

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ist. Ihre ganze Terminologie beruht noch auf der Vorstellung der beiden elektrischen Fluida. Sie spricht noch ganz ungenirt von "in den Körpern fließenden elektrischen Massen", von "einer Scheidung der Elektricitäten in jedem Molekül" usw. Es ist dies ein Übelstand, der großentheils, wie gesagt, unvermeidlich aus dem gegenwärtigen Übergangszustand der Wissenschaft folgt, der aber auch, bei der grade in diesem Zweige der Forschung vorherrschenden einseitigen Empirie, nicht wenig zur Erhaltung der bisherigen Gedankenverwirrung beiträgt. Der Gegensatz von s. g. statischer oder Reibungselektricität und dynamischer Elektricität oder Galvanismus darf nun wohl als vermittelt angesehn werden, seitdem man gelernt hat mit der Elektrisirmaschine dauernde Ströme zu erzeugen und umgekehrt durch den galvanischen Strom s. g. statische Elektricität zu produziren, Leidner Flaschen zu laden usw. Wir lassen hier die Unterform der statischen Elektricität unberührt und ebenso den jetzt ebenfalls als eine Unterform der Elektricität erkannten Magnetismus. Die theoretische Erklärung der hieher gehörigen Erscheinungen wird unter allen Umständen in der Theorie des galvanischen Stroms zu suchen sein, und deßhalb halten wir uns vorwiegend an diese. Ein dauernder Strom kann auf mehrfachem Wege erzeugt werden. Mechanische Massenbewegung erzeugt direkt, durch Reibung zunächst nur statische Elekii[10Jitricität, einen dauernden Strom nur unter großer Energievergeudung; um wenigstens größtentheils in elektrische Bewegung umgesetzt zu werden, bedarf sie der Vermittlung des Magnetismus, wie in den bekannten magneto-elektrischen Maschinen von Gramme, Siemens u. A. Wärme kann sich direkt in strömende Elektricität umsetzen, wie namentlich an der Löthstelle zweier verschiedneo Metalle. Durch chemische Aktion freigesetzte Energie, die unter gewöhnlichen Umständen in der Form von Wärme zu Tage tritt, verwandelt sich unter bestimmten Bedingungen in elektrische Bewegung. Umgekehrt geht diese letztere, sobald die Bedingungen dafür gegeben, in jede andre Form der Bewegung über: in Massenbewegung, in geringem Maß direkt in den elektrodynamischen Anziehungen und Abstoßungen; im Großen wiederum durch Vermittlung des Magnetismus in den elektromagnetischen Bewegungsmaschinen; in Wärme -überall im Schließungskreis des Stroms, falls nicht andre Verwandlungen eingeleitet sind; in chemische Energie - in den in den Schließungskreis eingeschalteten Zersetzungszellen und Voltametern wo der Strom Verbindungen trennt, die auf anderm Wege vergeblich angegriffen werden. In allen diesen Umsätzen gilt das Grundgesetz von der quantitativen Aequivalenz der Bewegung in allen ihren Wandlungen. Oder wie Wiedemann sich ausdrückt: "nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft muß die auf irgend eine Art zur Erzeugung des Stroms verwendete Arbeit äquivalent sein der

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zur Erzeugung aller Stromeswirkungen verwendeten Arbeit." Bei der Umsetzung von Massenbewegung oder von Wärme in Elektricitätx> bieten sich hier keine Schwierigkeiten; es ist erwiesener Maßen die s. g. "elektromotorische Kraft" im ersten Falle gleich der zu jener Bewegung verwendeten Arbeit, im zweiten Fall, "an jeder Löthstelle der Thermokette direkt proportional ihrer absoluten Temperatur", (Wiedem . 111 p. 482) d. h. wieder der an jeder Löthstelle vorhandenen absolut gemessenen Wärmemenge. Auch für die aus chemischer Energie entwickelte Elektricität ist dasselbe Gesetz thatsächlich als gültig erwiesen. 11[11 ll Aber hier stellt sich, für die jetzt gangbare Theorie wenigstens, die Sache nicht so einfach. Gehn wir also etwas näher darauf ein. Eine der schönstenVersuchsreihenüber die durch eine galvanische Säule zu bewirkenden Formverwandlungen der Bewegung ist die von Favre (1857-58). In ein Calorimeter setzte er eine Smeesche Säule von 5 Elementen; in ein zweites eine kleine elektromagnetische Bewegungsmaschine, deren Hauptachse und Riemenscheibe zu beliebiger Verbindung frei herausstand. Bei jedesmaliger Entwicklung von 1 Gramm Wasserstoff resp. Lösung von 32,6gr. Zink (dem alten chemischen Aequivalent des Zinks, gleich dem halben jetzt angenommenen Atomgewicht 65,2 undinGrammen ausgedrückt) in der Säule ergaben sich folgende Resultate: A. Säule im Calorimeter in sich geschlossen, mit Ausschluß der Bewegungsmaschine: Wärmeentwicklung 18682 resp. 18674 Wärmeeinheiten. B. Säule und Maschine im Schließungskreis verbunden, die Maschine aber an der Bewegung gehindert: Wärme in der Säule 16448, in der Maschine 2219, zusammen 18 667 Wärmeeinheiten. C. Wie B, aber die Maschine bewegt sich ohne jedoch ein Gewicht zu heben: Wärme in der Säule 13 888, in der Maschine 4769, zusammen 18 657 Wärmeeinheiten. D. Wie C, aber die Maschine hebt ein Gewicht und thut dabei eine mechanische Arbeit = 131,24 Kilogrammeter: Wärme in der Säule 15 427, in der Maschine 2947, zusammen 18 374 Wärmeeinheiten; Verlust, gegen obige 18 682, = 308 Wärmeeinheiten. Aber die gethane mechanische Arbeit von 131,24 Meterkilogramm, multiplicirt durch 1000 (um die Gramm des chemischen Resultats auf Kilogramm zu bringen) und dividirt durch das mechanische Aequivalent der Wärme = 423,5 Kilogramm-Meter, ergibt x) (Anmerkung.) Ich gebrauche die Bezeichnung: Elektricität im Sinn von elektrischer Bewegung, mit demselben Recht wie auch die allgemeine Bezeichnung: Wärme gebraucht wird um diejenige Bewegungsform auszudrücken die sich unsern Sinnen als Wärme kund gibt. Dies kann um so weniger Anstoß finden, als jede etwaige Verwechslung mit dem Spannungszustand der Elektricität hier im Voraus ausdrücklich ausgeschlossen ist.

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309 Wärmeeinheiten, also genau obigen Verlust, als Wärmeäquivalent der gethanen mechanischen Arbeit. Die Äquivalenz der Bewegung in allen ihren Wandlungen ist also auch für die elektrische Bewegung innerhalb der Gränze der unvermeidlichen Fehlerquellen schlagend erwiesen. lll12ll Und ebenso erwiesen ist, daß die "elektromotorische Kraft" der galvanischen Kette nichts andres ist als in Elektricität umgesetzte chemische Energie, und die Kette selbst nichts andres als eine Vorrichtung, ein Apparat, der freiwerdende chemische Energie in Elektricität verwandelt, wie eine Dampfmaschine ihr zugeführte Wärme in mechanische Bewegung, ohne daß in beiden Fällen der verwandelnde Apparat aus sich selbst noch weitere Energie zuführt. Hier entsteht aber, gegenüber der hergebrachten Vorstellungsweise, eine Schwierigkeit. Diese Vorstellungsweise schreibt der Kette, vermöge der in ihr statthabenden Kontaktsverhältnisse zwischen den Flüssigkeiten und den Metallen, eine "elektrische Scheidungskraft" zu, die der elektromotorischen Kraft proportional ist, also für eine gegebne Kette eine bestimmte Menge Energie repräsentirt. Wie verhält sich nun diese, nach der hergebrachten Vorstellungsweise der Kette als solcher, auch ohne chemische Aktion inhärente Energiequelle, die elektrische Scheidungskraft, zu der durch die chemische Aktion freigesetzten Energie? Und, wenn sie eine von der letzteren unabhängige Energiequelle ist, woher stammt die von ihr gelieferte Energie? Diese Frage, in mehr oder weniger unklarer Form, bildet den Streitpunkt zwischen der von Volta begründeten Kontaktstheorie und der gleich darauf entstandenen chemischen Theorie des galvanischen Stroms. Die Kontaktstheorie erklärte den Strom aus den in der Kette, beim Kontakt der Metalle mit einer oder mehreren Flüssigkeiten, oder auch nur der Flüssigkeiten unter sich entstehenden elektrischen Spannungen, und aus ihrer Ausgleichung, resp. derjenigen der so geschiedenen entgegengesetzten Elektricitäten im Schließungskreis. Die dabei etwa auftretenden chemischen Veränderungen galten der reinen Kontaktstheorie für durchaus sekundär. Dagegen behauptete Ritter schon 1805, ein Strom könne sich nurdann bilden, wenn die Erreger auch schon vor der Schließung chemisch auf einander wirkten. Im Allgemeinen wird diese ältere chemische Theorie von Wiedernano (I, S. 784) dahin zusammengefaßt, daß nach ihr die s. g. Kontaktselektricität "nur dann auftreten soll, wenn zugleich eine wirkliche chemische Einwirkung der einander berührenden Körper, oder doch eine, wenn auch nicht direkt mit chemischen Prozessen verbundne, Störung des chemischen Gleichgewichts, eine ,Tendenz zur chemischen Wirkung' zwischen denselben in Thätigkeit kommt"./ /13/ Man sieht, die Frage nach der Energiequelle des Stroms wird von

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beiden Theilen nur ganz indirekt gestellt, wie das damals auch kaum anders sein konnte. Volta und seine Nachfolger fanden es ganz in der Ordnung, daß bloße Berührung heterogener Körper einen dauernden Strom erzeugen, also eine bestimmte Arbeitohne Gegenleistung ausführen könne. Ritter und seine Anhänger sind ebensowenig im Klaren darüber, wie denn die chemische Aktion die Kette in den Stand setzt, den Strom und seine Arbeitsleistungen zu erzeugen. Wenn aber für die chemische Theorie durch Joule, Favre, Raoult u. A. dieser Punkt längst aufgeklärt ist, so findet das Gegentheil statt für die Kontaktstheorie. Sie steht, soweit sie sich erhalten hat, noch immer wesentlich auf dem Punkt von dem sie ausging. Vorstellungen, die einer längst überwundneo Zeit angehören, einer Zeit, wo man zufrieden sein mußte, für eine beliebige Wirkung die nächstbeste, auf der Oberfläche hervortretende scheinbare Ursache anzugeben, gleichviel ob man dabei Bewegung aus Nichts entstehen ließ- Vorstellungen, die dem Satz von der Erhaltung der Energie direkt widersprechen, leben so in der heutigen Elektricitätslehre immer noch fort. Und wenn dann diese Vorstellungen ihrer anstößigsten Seiten beraubt, abgeschwächt, verwässert, kastrirt, beschönigt werden, so bessert das Nichts an der Sache: Die Verwirrung muß nur umso schlimmer werden. Wie wir sehen, erklärt selbst die ältere chemische Stromtheorie die Kontaktsverhältnisse der Kette für durchaus nothwendig zur Strombildung; sie behauptet nur daß diese Kontakte nie einen dauernden Strom fertig bringen ohne gleichzeitige chemische Aktion. Und es ist auch heute noch selbstredend, daß die Kontaktseinrichtungen der Kette grade den Apparat herstellen, vermittelst dessen freigesetzte chemische Energie in Elektricität übergeführt wird und daß es von diesen Kontaktseinrichtungen wesentlich abhängt ob und wie viel chemische Energie wirklich in elektrische Bewegung übergeht. Wiedemann, als einseitiger Empiriker, sucht von der alten Kontaktstheorie zu retten was zu retten ist. Folgen wir ihm hierbei. "Wenn auch die Wirkung des Kontakts chemisch indifferenter Körper (sagt Wiedernano I, S. 799) z. B. der Metalle, wie man wohl früher glaubte, weder zur Theorie der Säule erforderlich, noch auch dadurch bewiesen ist, daß Ohm sein Gesetz daraus ableitete, welches auch ohne diese Annahme abzuleiten ist, und Fechner, welcher dieses Gesetz experimentell bestätigte, gleichfalls die Kontakttheorie vertheidigte, so dürfte doch die Elektricitätserregung durch MetaJJkontakt, wenigstens nach den jetzt vorliegenden Versuchen, nicht zu leugnen sein, selbst wenn die in quantitativer Beziehung zu erzielenden Resultate in dieser Beziehung wegen der Unmöglichkeit, die Oberflächen der einander berührenden Körper absolut rein zu erhalten, immer mit einer unvermeidlichen Unsicherheit behaftet sein möchten."

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Man sieht, die Kontaktstheorie ist sehr bescheiden geworden. Sie gibt zu, daß sie zur Erklärung des Stroms durchaus nicht erforderlich, auch weder von Ohm theoretisch noch von Fechner experimentell bewiesen ist. Sie gibt sogar zu, daß die s. g. Fundamentalversuche, auf die sie sich dann allein noch stützen kann, in quantitativer Beziehung immer nur unsichre Resultate 5 liefern können, und verlangt schließlich von uns nur noch die Anerkennung, daß überhaupt durch Kontakt - wenn auch nur von Metallen! - eine Elektricitätserregung stattfinde./ /(14]/ Bliebe die Kontaktstheorie hierbei stehn, so wäre kein Wort dagegen einzuwenden. Daß bei dem Kontakt zweier Metalle elektrische Erschei- 10 nungen auftreten, vermöge deren man einen präparirten Froschschenkel zucken machen, ein Elektroskop laden und andre Bewegungen hervorrufen kann, das wird wohl unbedingt zugegeben werden. Es fragt sich zunächst nur: woher stammt die dazu erforderliche Energie? Um diese Frage zu beantworten, werden wir, nach Wiedemann I, S. 14, 15 "etwa folgende Betrachtungen anstellen: Werden die heterogenen Metallplatten A und B bis auf eine geringe Entfernung einander genähert, so ziehen sie sich in Folge der Adhäsionskräfte an. Bei ihrer gegenseitigen Berührung verlieren sie die ihnen durch diese Anziehung ertheilte lebendige Kraft der Bewegung. (Nehmen wir an, daß die Moleküle der Metalle in permanenten 20 Schwingungen sich befinden, so könnte auch, wenn bei dem Kontakt der heterogenen Metalle die ungleichzeitig schwingenden Moleküle einander berühren, hierbei eine Abänderung ihrer Schwingungen unter Verlust von lebendiger Kraft eintreten.) Die verlorne lebendige Kraft setzt sich zum großen Theil in Wärme um. Ein kleiner Theil derselben wird aber dazu 25 verwendet, die vorher nicht getrennten Elektricitäten anders zu vertheilen. Wie wir schon oben erwähnt, laden sich, etwa in Folge einer ungleichen Anziehung für die beiden Elektricitäten, die aneinander gebrachten Körper mit gleichen Mengen positiver und negativer Elektricität." Die Bescheidenheit der Kontaktstheorie wird immer größer. Zuerst wird 30 anerkannt daß die gewaltige elektrische Scheidungskraft, die später solche Riesenarbeit zu leisten hat, in sich selbst keine eigne Energie besitzt, sondern daß sie nicht fungiren kann solange ihr nicht Energie von Außen zugeführt wird. Und dann wird ihr eine mehr als zwerghafte Energiequelle angewiesen, die lebendige Kraft der Adhäsion, die erst auf kaum meßbaren Entfernungen 35 in Wirksamkeit tritt und die Körper einen kaum meßbaren Weg zurücklegen läßt. Doch einerlei: sie besteht unläugi1[15]\bar und verschwindet beim Kontakt ebenso unläugbar. Aber auch diese Minimalquelle liefert noch zu viel Energie für unsern Zweck: ein großerTheil setzt sich in Wärme um, und nur ein kleiner Theil dient dazu, die elektrische Scheidungskraft ins Leben 40 zu rufen. Obwohl nun bekanntlich Fälle genug in der Natur vorkommen, wo

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äußerst geringe Anstöße äußerst gewaltige Wirkungen herbeiführen, so scheint doch Wiedernano selbst zu fühlen daß hier seine kaum noch tropfende Energiequelle schwerlich ausreicht und er sucht eine mögliche zweite Quelle in der Annahme einer Interferenz der Molekularschwingungen der beiden Metalle an den Berührungsflächen. Abgesehn von andern Schwierigkeiten, die uns hier entgegen treten, haben Grove und Gassiott nachgewiesen daß zur Elektricitätserregung wirklicher Kontakt gar nicht einmal erforderlich ist, wie uns Wiedernano eine Seite vorher selbst erzählt. Kurz, die Energiequelle für die elektrische Scheidungskraft versiegt mehr und mehr, je länger wir sie betrachten. Und dennoch kennen wir bis jetzt für die Elektricitätserregung beim Metallkontakt kaum eine andre. Nach Naumann (allg. und phys. Chemie, Beideiberg 1877, S.675) "verwandeln die kontakt-elektromotorischen Kräfte Wärme in Elektricität"; er findet "die Annahme natürlich, daß das Vermögen dieser Kräfte, elektrische Bewegung hervorzubringen, auf der vorhandneo Wärmemenge beruht oder mit andern Worten eine Funktion der Temperatur ist" , was auch durch Le Roux experimentell bewiesen sei. Auch hier bewegen wir \1[16]\ uns ganz im Unbestimmten. Auf die chemischen Vorgänge zurückzugreifen, die an den, stets mit einer dünnen, für uns so gut wie untrennbaren Schicht von Luft und unreinem Wasser beschlagneo Kontaktflächen in geringem Maß unaufhörlich vorgehn, also die Elektricitätserregung aus der Anwesenheit eines unsichtbaren aktiven Elektrolyten zwischen den Kontaktflächen zu erklären, verbietet uns das Gesetz der Spannungsreihe der Metalle. Ein Elektrolyt müßte im Schließungskreis einen dauernden Strom erzeugen; die Elektricität des bloßen Metallkontakts verschwindet im Gegentheil, sobald der Kreis geschlossen wird. Und hier kommen wir auf den eigentlichen Punkt: ob, und in welcher Weise diese von Wiedernano selbst zuerst auf die Metalle beschränkte, ohne fremde Energiezufuhr für arbeitsunfähig erklärte, und dann auf eine wahrhaft mikroskopische Energiequelle ausschließlich angewiesene "elektrische Scheidungskraft" durch Kontakt chemisch indifferenter Körper die Bildung des dauernden Stroms möglich macht. Die Spannungsreihe ordnet die Metalle der Art, daß jedes gegen das vorhergehende elektronegativ und gegen das folgende elektropositiv sich verhält. Legen wir also in dieser Ordnung eine Reihe von Metallstäben, etwa Zink, Zinn, Eisen, Kupfer, Platin aneinander, so werden wir an den beiden Enden elektrische Spannungen erhalten können. Ordnen wir aber die Metallreihe zu einem Schließungs\\17\kreis, sodaß auch das Zink und das Platin sich berühren, so gleicht sich die Spannung sofort aus und verschwindet. "In einem geschlossenen Kreise von Körpern, welche der Spannungsreihe angehören, ist also die Bildung einer dauernden Elektricitätsströmung nicht 249

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möglich." Diesen Satz unterstützt Wiedernano noch durch folgende theoretische Erwägung: "In der That würde, wenn ein dauernder Elektricitätsstrom in dem Kreise aufträte, durch denselben in den metallischen Leitern selbst Wärme erzeugt, die höchstens durch eine Erkältung an den Kontaktstellen der Metalle aufgehoben würde. Es würde jedenfalls eine ungleiche Wärmevertheilung hervorgerufen; auch könnte durch den Strom ohne Zufuhr von Außen dauernd eine elektromagnetische Bewegungsmaschine getrieben und so eine Arbeit geleistet werden, was unmöglich ist, da bei fester Verbindung der Metalle, etwa durch Löthung, auch an den Kontaktstellen keine Veränderungen mehr statthaben können, die diese Arbeit kompensiren." Und nicht genug mit dem theoretischen und experimentellen Beweis, daß die Kontaktselektricität der Metalle allein Keinen Strom erzeugen kann: wir werden auch sehn daß Wiedernano eine besondre Hypothese aufzustellen sich genöthigt sieht um ihre Wirksamkeit auch da zu beseitigen wo sie sich im Strom etwa geltend machen könnte. Versuchen wir also einen andern Weg, um von der Kontaktselektricität zum Strom zu kommen. Denken wir uns mit Wiedernano "zwei Metalle, wie einen Zink- und einen Kupferstab, mit ihren einen Enden verlöthet, ihre freien Enden aber durch einen dritten Körper verbunden, der gegen beide Metalle nichtelektromotorisch wirkt, sondern nur die auf ihren Oberflächen angesammelten entgegengesetzten Elektricitäten leitete, so daß sie sich in ihm ausglichen, so würde die elektrische Scheidungskraft dann stets die frühere Spannungsdifferenz wieder herstellen, und so ein dauernder Elektricitätsstrom in dem Kreise entstehn, der ohne jeden Ersatz eine Arbeit leisten könnte, was wiederum unmöglich ist. Demnach kann es i![18ll keinen Körper geben der ohne elektromotorische Thätigkeit gegen die andern Körper nur die Elektricität leitet." Wir sind nicht weiter als vorher: die Unmöglichkeit, Bewegung zu erschaffen, versperrt uns abermals den Weg. Mit dem Kontakt chemisch indifferenter Körper, also mit der eigentlichen Kontaktselektricität, bringen wir nie und nimmer einen Strom zu Stande. Kehren wir also nochmals um, und versuchen wir einen dritten Weg, den Wiedernano uns zeigt: "Senken wir endlich eine Zink- und eine Kupferplatte in eine Flüssigkeit ein, welche eine s. g. binäre Verbindung enthält, welche also in zwei chemisch verschiedne Bestandtheile zerfallen kann, die sich völlig sättigen, z. B. verdünnte Chlorwasserstoffsäure (H +Cl) usf., so ladet sich nach § 27 das Zink negativ, das Kupfer positiv. Bei Verbindung der Metalle gleichen sich diese Elektricitäten durch die Kontaktstelle hindurch aus, durch welche also ein Strom positiver Elektricität vom Kupfer zum Zink fließt. Da auch die beim Kontakt letzterer Metalle auftretende elektrische Scheidungskraft die

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wird sie plötzlich unterdrückt, gewissermaßen unterschlagen, und der Schein wird angenommen, als existire bloß positive Elektricität. Dann aber wird auf S. 51 wieder das gerade Gegentheil gesagt, denn hier vereinen sich die Elektricitäten in einem Strom, es fließt darin also sowohl negative wie positive! Wer hilft uns aus dieser Verwirrung? I j[20]j 4) "Da auch die beim Kontakt letzterer Metalle auftretende elektrische Scheidungskraft die positive Elektricität in gleichem Sinne fortführt, so heben sich die Wirkungen der elektrischen Scheidungskräfte nicht auf, wie in einem geschlossenen Metallkreise. Es entsteht also ein dauernder Strom" usw.- Dies ist etwas stark. Denn wie wir sehen werden, weist uns wenige Seiten später (S. 52) Wiedernano nach daß bei der "Bildung des dauernden Stroms ... die elektrische Scheidungskraft an der Kontaktstelle der Metalle ... unthätig sein muß"; daß nicht nur ein Strom stattfindet, auch wenn sie, statt die positive Elektricität in gleichem Sinn fortzuführen, der Stromesrichtung entgegen wirkt, sondern daß sie auch in diesem Fall nicht durch einen bestimmten Antheil der Scheidungskraft der Kette kompensirt wird, also wiederum unthätig ist. Wie kann also Wiedernano auf S. 45 eine elektrische Scheidungskraft als nothwendigen Faktor an der Strombildung mitwirken lassen, die er S. 52 für die Dauer des Stroms außer Thätigkeit setzt, und noch dazu durch eine, eigens zu diesem Zweck aufgestellte Hypothese? 5) "Es entsteht also ein dauernder Strom von positiver Elektricität, der in dem geschlossenen Kreise vom Kupfer durch seine Kontaktstelle mit dem Zink zu letzterem, und vom Zink durch die Flüssigkeit zum Kupfer fließt." - Aber es würde bei einem solchen dauernden Elektricitätsstrom "durch denselben in den Leitern selbst Wärme erzeugt", auch könnte durch ihn "eine elektromagnetische Bewegungsmaschine getrieben und so eine Arbeit geleistet werden" was aber ohne Zufuhr von Energie unmöglich ist. Da uns Wiedernano bisher nicht mit einer Silbe verrathen hat, ob und woher eine solche Zufuhr von Energie stattfindet, so bleibt der dauernde Strom bis jetzt ebensosehr ein Ding der Unmöglichkeit wie in den vorher untersuchten beiden Fällen. Niemand fühlt dies mehr als Wiedemann. Er findet es also angemessen, so rasch wie möglich über die vielen kitzliehen Punkte dieser jj2Ij verwunderlichen Erklärung der Strombildung hinwegzueilen und den Leser dafür ein paar Seiten lang mit allerlei elementaren Histörchen über die thermischen, chemischen, magnetischen und physiologischen Wirkungen dieses noch immer geheimnißvollen Stroms zu unterhalten, wobei er ausnahmsweise sogar in ganz populären Ton fällt. Dann fährt er auf einmal fort (S. 49):

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Scheidungskräfte in einem geschlossenen Kreise von zwei Metallen und einer Flüssigkeit, z. B. Zink, Kupfer, Chlorwasserstoffsäure, thätig sind." "Wir wissen, daß die Bestandtheile der in der Flüssigkeit enthaltenen binären Verbindung (HCl) bei dem Hindurchfließen des Stroms sich in der 5 Weise trennen, daß der eine (H) am Kupfer und eine äquivalente Menge des andern (Cl) am Zink frei wird, wobeider letztere sich mit einer äquivalenten Menge Zink zu ZnCl verbindet." Wir wissen! Wenn wir dies wissen, so wissen wir es sicher nicht von Wiedemann, der uns von diesem Vorgang, wie wir sahen, bisher auch nicht 10 eine Silbe verrathen hatte. Und ferner, wenn wir etwas über diesen Vorgang wissen, so ist es dies, daßernichtindervon Wiedernanogeschilderten Weise vor sich gehn kann. Bei der Bildung eines Moleküls HCl aus Wasserstoffgas und Chlorgas wird eine Energiemenge = 22000 Wärmeeinheiten freigesetzt (Julius Thomsen). 15 Um das Chlor aus seiner Verbindung mit dem Wasserstoff wieder loszureißen, muß also für jedes Molekül HCl die gleiche Energiemenge von Außen zugeführt werden. Woher bezieht die Kette diese Energie? Die Wiedernanosehe Darstellung sagt es uns nicht; sehen wir uns also selbst um. 20 Wenn sich Chlor mit Zink zu Zinkchlorid verbindet, so wird dabei eine bedeutend größere Energiemenge freigesetzt als nöthig ist, das Chlor vom Wasserstoff zu trennen. (Zn, Ch) entwickelt 97 210, 2 (H, Cl) 44 000 Wärmeeinheiten (Jul. Thomsen). Und hiermit wird der Vorgang in der Kette erklärlich. Es wird also nicht, wie Wiedemann erzählt, der Wasserstoff ohne 25 Weiteres am Kupfer und das Chlor am Zink frei, "wobei" dann nachträglicher und zufälliger Weise Zink und Chlor sich verbinden. Im Gegentheil: die Verbindung des Zinks mit dem Chlor ist die wesentlichste Grundbedingung des ganzen Prozesses, und solange sich diese nicht vollzieht, wird man am Kupfer vergebens auf Wasserstoff warten. 30 Der Überschuß der Energie, welche bei der Bildung eines Moleküls ZnCh frei wird, über die, welche zur Freisetzung zweier Atome H aus zwei Molekülen HCl verwendet wird, verwandelt sich in der Kette in elektrische Bewegung und liefert die gesammte "elektromotorische Kraft", die im Stromkreis zu Tage tritt. Es ist also nicht eine mysteriöse "elektrische 35 Scheidungskraft" die ohne bisher nachgewiesene Energiequelle Wasserstoff und Chlor auseinanderreißt, es ist der in der Kette sich vollziehende chemische Gesammtprozeß, der die sämmtlichen "elektrischen Scheidungskräfte" und "elektromotorischen Kräfte" des Schließungskreises mit der zu ihrer Existenz nöthigen Energie versieht. 40 Konstatiren wir also einstweilen daß Wiedemanns zweite Stromerklärung ebensowenig vom Fleck hilft wie seine erste, und gehn wir weiter im Text:

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"Dieser Vorgang beweist, daß das Verhalten des binären Körpers zwischen den Metallen nicht mehr allein in einer einfachen überwiegenden Anziehung seiner ganzen Masse gegen die eine oder andre Elektricität, wie bei den Metallen, besteht, sondern hierbei noch eine besondre Wirkung seiner Bestandtheile hinzutritt. Da der Bestandtheil Cl sich da abscheidet, 5 wo der Strom der positiven Elektricität in die Flüssigkeit 11[2211 eintritt, der Bestandtheil H da, wo die negative Elektricität eintritt, nehmen wir an, daß je ein Aequivalent des Chlors in der Verbindung HCl mit einer bestimmten Menge negativer Elektricität geladen sei, die seine Anziehung durch die eintretende positive Elektricität bedingt. Es ist der elektronegative Bestand- 10 theil der Verbindung. Ebenso muß das Aequivalent H mit positiver Elektricität geladen sein und so den elektropositiven Bestandtheil der Verbindung darstellen. Diese Ladungen könnten sich bei der Verbindung von H und Cl ganz ähnlich darstellen wie beim Kontakt von Zink und Kupfer. Da die Verbindung HCl für sich unelektrisch ist, müssen wir dem entsprechend 15 annehmen, daß in derselben die Atome des positiven und negativen Bestandtheils gleiche Mengen positiver und negativer Elektricität enthalten. Wird nun in verdünnte Chlorwasserstoffsäure eine Zinkplatte und eine Kupferplatte eingesenkt, so können wir vermuthen, daß das Zink eine stärkere Anziehung gegen den elektronegativen Bestandtheil (Cl) derselben 20 habe als gegen den elektropositiven (H). In Folge dessen würden sich die das Zink berührenden Moleküle der Chlorwasserstoffsäure so lagern, daß sie ihre elektronegativen Bestandtheile dem Zink, ihre elektropositiven dem Kupfer zukehrten. Indem die so geordneten Bestandtheile durch ihre elektrische Anziehung auf die folgenden Moleküle HCl einwirken, ordnet sich 25 die ganze Reihe der Moleküle zwischen der Zink- und Kupferplatte wie in Fig.IO: Zink Kupfer +

+ + + + + + Cl H Cl H Cl H Cl H Cl H Wirkte das zweite Metall auf den positiven 11[2311 Wasserstoff wie das Zink

auf das negative Chlor, so würde hierdurch die Einstellung befördert. Wirkte es entgegengesetzt, nur schwächer, so bleibt wenigstens die Richtung ungeändert. Durch die influenzirende Wirkung der negativen Elektricität des dem Zink anliegenden elektronegativen Bestandtheils Chlor würde im Zink die Elektricität so vertheilt, daß diejenigen Stellen desselben, welche dem Chlor des zunächst liegenden Säureatoms nahe liegen, sich positiv, die ferner liegenden negativ lüden. Ebenso würden im Kupfer zunächst dem elektropositiven Bestandtheil (H) des anliegenden Chlorwasserstoffatoms die negative Elektricität angehäuft, die positive zu den ferneren Theilen hingetrieben.

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Darauf würde sich die positive Elektricität im Zink mit der negativen des nächstliegenden Atoms Cl und letzteres selbst mit dem Zink verbinden. Das elektropositive Atom H, welches vorher mit jenem Atom verbunden war, würde sich mit dem ihm zugekehrten Atom Cl des zweiten Atoms HCl unter gleichzeitiger Verbindung der in diesen Atomen enthaltenen Elektricitäten vereinen; ebenso verbände sich das H des zweiten Atoms HCl mit dem Cl des dritten Atoms usf., bis endlich am Kupfer ein Atom frei würde, dessen positive Elektricität sich mit der vertheilten negativen des Kupfers vereinte, sodaß es im unelektrischen Zustand entwiche." Dieser Prozeß würde "solange sich wiederholen, bis die Abstoßung der in den Metallplatten angehäuften Elektricitäten auf die Elektricitäten der ihnen zugewandten Bestandtheile des Chlorwasserstoffs grade die chemische Anziehung der letzteren durch die Metalle äquilibrirte. Werden aber die Metallplatten mit einander leitend verbunden, 11[24]1 so vereinen sich die freien Elektricitäten der Metallplatten mit einander, und es können von Neuern die früher erwähnten Prozesse eintreten. Auf diese Weise entstände eine dauernde Strömung von Elektricität. - Es ist ersichtlich, daß hierbei ein beständiger Verlust an lebendiger Kraft stattfindet, indem die zu den Metallen hinwandernden Bestandtheile der binären Verbindung sich mit einer gewissen Geschwindigkeit zu den Metallen hinbewegen und dann, entweder unter Bildung einer Verbindung (ZnCl), oder indem sie frei entweichen (H), zur Ruhe gelangen. (Anmerkung: Da sich der Gewinn an lebendiger Kraft bei der Trennung der Bestandtheile Cl und H durch die bei der Vereinigung derselben mit den Bestandtheilen der nächstliegenden Atome verlorne lebendige Kraft wieder ausgleicht, so ist der Einfluß dieses Prozesses zu vernachlässigen.) Dieser Verlust ist der Wärmemenge äquivalent, welche bei dem sichtbar hervortretenden chemischen Prozeß, also im Wesentlichen bei der Auflösung eines Aequivalents Zink in der Verdünnten Säure frei wird. Diesem Werth muß die auf die Vertheilung der Elektricitäten verwendete Arbeit gleichwerthig sein. Vereinen sich daher die Elektricitäten in einem Strom, so muß, während der Auflösung eines Aequivalents Zink und Abscheidung eines Aequivalents Wasserstoff aus der Flüssigkeit, im ganzen Schließungskreise eine Arbeit, sei es in Form von Wärme, sei es in Form von äußerer Arbeitsleistung hervortreten, die ebenfalls der jenem chemisehen Prozeß entsprechenden Wärmeentwicklung äquivalent ist." "Nehmen wir an - könnten - müssen wir annehmen - können wir vermuthen- würde vertheilt -lüden sich" usw. usw. Lauter Muthmaßlichkeit und Konjunktivus, aus dem nur drei thatsächliche Indikative sich mit Bestimmtheit herausfischen lassen: erstens, daß die Verbindung des Zinks mit dem Chlor jetzt als Bedingung der Freisetzung des Wasserstoffs ausgesprochen wird; zweitens, wie wir jetzt ganz am Schluß und sozusagen

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nebenbei erfahren, daß die hierbei freigesetzte Energie die Quelle, und I 1251 zwar die ausschließliche Quelle, aller zur Strombildung erforderten Energie ist, und drittens, daß diese Erklärung der Strombildung den beiden vorhergegebnen ebenso direkt ins Gesicht schlägt wie diese beiden sich gegenseitig. Weiter heißt es: "Es kann also zur Bildung des dauernden Stroms einzig und allein die elektrische Scheidungskraft thätig sein, welche von der ungleichen Anziehung und Polarisirung der Atome der binären Verbindung in der Erregerflüssigkeit der Kette durch die Metallelektroden herrührt; die elektrische Scheidungskraft an der Kontaktstelle der Metalle, an welcher keine mechanischen Veränderungen stattfinden können, muß dagegen unthätig sein. Daß dieselbe, wenn sie etwa der elektromotorischen Erregung der Metalle durch die Flüssigkeit entgegen wirkt (wie bei Einsenken von Zinn und Blei in Cyankaliumlösung), nicht durch einen bestimmten Antheil der Scheidungskraft an letzteren kompensirt wird, beweist die erwähnte völlige Proportionalität der gesammten elektrischen Scheidungskraft (und elektroii[26]imotorischen Kraft) im Schließungskreis mit dem erwähnten Wärmeäquivalent der chemischen Prozesse. Sie muß also auf eine andre Art neutralisirt werden. Dies würde am einfachsten unter der Annahme geschehn, daß beim Kontakt der Erregerflüssigkeit mit den Metallen die elektromotorische Kraft in einer doppelten Weise erzeugt wird: einmal durch eine ungleich starke Anziehung der Massen der Flüssigkeit und Metalle als Ganzes gegen die eine oder die andre Elektricität; sodann durch die ungleiche Anziehung der Metalle gegen die mit entgegengesetzten Elektricitäten geladenen Bestandtheile der Flüssigkeit. ... In Folge der ersteren, ungleichen Massenanziehung würden sich die Flüssigkeiten ganz nach dem Gesetz der Spannungsreihe der Metalle verhalten, und in einem geschlossenen Kreise eine völlige Neutralisation der elektrischen Scheidungskräfte (und elektromotorischen Kräfte) zu Null eintreten; die zweite, chemische Einwirkung würde dagegen allein die zur Stromesbildung erforderliche elektrische Scheidungskraft und die derselben entsprechende elektromotorische Kraft liefern." (1, S. 52, 53.) Hiermit wäre nun der letzte Rest der Kontakttheorie glücklich aus der Strombildung entfernt, und gleichzeitig auch der letzte Rest der ersten, S. 45 gegebnen, Wiedemannschen Erklärung der Strombildung. Es wird endlich ohne Vorbehalt zugegeben, daß die galvanische Kette ein simpler Apparat ist zur Umsetzung von freiwerdender chemischer Energie in elektrische Bewegung, in s. g. elektrische Scheidungskraft und elektromotorische Kraft, ganz wie die Dampfmaschine ein Apparat ist zur Umsetzung von WärmeEnergie in mechanische Bewegung. Im einen wie im andern Falle liefert der Apparat nur die Bedingungen zur Freisetzung und Formverwandlung der

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Energie, liefert aus sich selbst aber 11[27]1 keine Energie. Dies einmal festgestellt, bleibt uns jetzt noch die nähere Untersuchung der dritten Version der Wiedernanosehen Stromeserklärung. Wie werden hier die EnergieUmsätze im Schließungskreis der Kette dargestellt?/ /28/ Es sei ersichtlich, sagt er, daß in der Kette "ein beständiger Verlust an lebendiger Kraft stattfindet, indem die zu den Metallen hinwandernden Bestandtheile der binären Verbindung sich mit einer gewissen Geschwindigkeit zu den Metallen hinbewegen und dann, entweder unter Bildung einer Verbindung (ZnCI) oder indem sie frei entweichen (H) zur Ruhe gelangen. Dieser Verlust ist der Wärmemenge äquivalent welche bei dem sichtbar hervortretenden chemischen Prozeß, also im Wesentlichen bei der Auflösung eines Aequivalents Zink in der verdünnten Säure frei wird." Erstens wird, wenn der Prozeß rein vor sich geht, in der Kette bei Auflösung des Zinks gar keine Wärme frei; die freiwerdende Energie wird ja grade in Elektricität verwandelt, und erst aus dieser wieder durch den Widerstand des ganzen Schließungskreises in Wärme umgesetzt. Zweitens ist lebendige Kraft das halbe Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit. Der obige Satz würde also lauten: die bei der Auflösung eines Aequivalents Zink in verdünnter Salzsäure freiwerdende Energie = so und so viel Calorien ist ebenfalls gleichwerthig dem halben Produkt der Masse der Ionen in das Quadrat der Geschwindigkeit, mit der sie zu den Metallen hin wandern. So ausgesprochen, ist der Satz augenscheinlich falsch; die in der Wanderung der Ionen erscheinende lebendige Kraft ist weit entfernt davon der durch den chemischen Prozeß freigesetzten Energie gleichwerthig zu sein 1>. Wäre sie es aber, so wäre kein Strom möglich, da keine Energie übrig bliebe für den Strom im Rest des Schließungskreises. Daher wird noch die Bemerkung untergebracht, daß die Ionen zur Ruhe gelangen "entweder unter Bildung einer Verbindung oder indem sie frei entweichen". Wenn aber der Verlust an lebendiger Kraft auch die bei diesen beiden Vorgängen sich vollziehenden Energie-Umsätze einschließen soll, so sind •> (Anmerkung) Neuerdings hat F. Kohlrausch (Wied. Ann. VI, 206) berechnet daß "immense Kräfte" dazu gehören, die Ionen durch das lösende Wasser zu schieben. Um 1 mg den Weg von 1 mm zurücklegen zu lassen, sei eine Zugkraft erforderlich, für H = 32 500 Kg, für Cl = 5200 Kg, also für HCl = 37 700 Kg. - Auch wenn diese Zahlen unbedingt richtig, berühren sie das oben Gesagte nicht. Die Rechnung enthält aber die auf dem Elektricitätsgebiet bisher unvermeidlichen hypothetischen Faktoren und bedarf also der Kontrole durch das Experiment. Diese scheint möglich. Erstens müssen diese "immensen Kräfte", da wo sie verbraucht werden, also in obigem Fall in der Kette, wiedererscheinen als bestimmte Wärmemenge. Zweitens muß die von ihnen verbrauchte Energie geringer sein als die von den chemischen Prozessen der Kette gelieferte, und zwar um eine bestimmte Differenz. Drittens muß diese Differenz im übrigen Schließungskreis verbraucht werden und dort ebenfalls quantitativ nachweisbar sein. Erst nach Bestätigung durch diese Kontrole können obige Zahlenbestimmungen definitiv gelten. Die Nachweisung in der Zersetzungszelle erscheint noch ausführbarer.

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wir erst recht festgefahren. Denn diese beiden Vorgänge zusammengenommen sind es ja grade, denen wir die ganze freiwerdende Energie verdanken, sodaß hier von einem Verlust an lebendiger Kraft absolut nicht die Rede sein kann, sondern höchstens von einem Gewinn.ll29l Es ist also augenscheinlich daß sich Wiedernano bei diesem Satze selbst nichts Bestimmtes gedacht hat, vielmehr der "Verlust an lebendiger Kraft" nur den deus ex machina vorstellt, der ihm den fatalen Sprung aus der alten Kontaktstheorie in die chemische Stromerklärung möglich machen soll. In der That hat der Verlust an lebendiger Kraft jetzt seine Schuldigkeit gethan und wird verabschiedet; von nun an gilt der chemische Vorgang in der Kette unbestritten als einzige Energiequelle der Strombildung, und die einzige noch übrige Sorge unsres Verfassers ist die, wie er den letzten Rest der Elektricitätserregung beim Kontakt chemisch indifferenter Körper, nämlich die an der Kontaktstelle der beiden Metalle thätige Scheidungskraft, auch noch mit guter Manier aus dem Strom los wird./ /[30]/ Wenn man die obige Wiedemannsche Erklärung der Strombildung liest, so glaubt man ein Stück jener Apologetik vor sich zu haben, mit der die ganz und halb gläubigen Theologen vor beinahe vierzig Jahren der philologisch-historischen Bibelkritik von Strauß, Wilke, Bruno Bauer u. A. entgegentraten. Die Methode ist ganz dieselbe. Sie muß es sein. Denn in beiden Fällen handelt es sich um die Rettung der überlieferten Tradition vor der denkenden Wissenschaft. Die exklusive Empirie, die sich das Denken höchstens in der Form des mathematischen Rechnens erlaubt, bildet sich ein nur mit unläugbaren Thatsachen zu hantieren. In Wirklichkeit aber hantiert sie vorzugsweise mit überkommenen Vorstellungen, mit großentheils veralteten Produkten des Denkens ihrer Vorgänger, als da sind positive und negative Elektricität, elektrische Scheidungskraft, Kontaktstheorie. Diese dienen ihr zur Grundlage endloser mathematischer Rechnungen, in denen sich die hypothetische Natur der Voraussetzungen über der Strenge der mathematischen Formulirung angenehm vergessen läßt. So skeptisch diese Art Empirie sich verhält gegen die Resultate des gleichzeitigen Denkens, so gläubig steht sie da vor jenen des Denkens ihrer Vorgänger. Sogar die experimentell festgestellten Thatsachen sind ihr allgemach untrennbar geworden von den zugehörigen überlieferten Deutungen; die einfachste elektrische Erscheinung wird in der Darstellung verfälscht z. B. durch Einschmuggelung der beiden Elektricitäten; diese Empirie kann die Thatsachen nicht mehr richtig schildern, weil die überkommene Deutung mit in die Schilderung unterläuft. Mit einem Wort, wir haben hier auf dem Gebiet der Elektricitätslehre eine ebenso entwickelte Tradition wie auf dem der Theologie. Und da auf beiden Gebieten die Resultate der neueren Forschung, die Feststellung 11[31]1 bisher unbekannter oder bestrittener Thatsachen, und die

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daraus nothwendig sich ergebenden theoretischen Folgerungen der alten Überlieferung unbarmherzig ins Gesicht schlagen, so gerathen die Vertheidiger dieser Überlieferung in die ärgste Klemme. Sie müssen ihre Zuflucht nehmen zu allerhand Winkelzügen, unhaltbaren Ausreden, zu Vers tuschungen unversöhnbarer Widersprüche, und gerathen damit schließlich selbst in ein Gewirr von Widersprüchen aus dem für sie kein Ausweg ist. Es ist dieser Glaube an die ganze alte Elektricitätstheorie, der Wiedernano hier in den rettungslosesten Widerspruch mit sich selbst verwickelt, einfach durch den hoffnungslosen Versuch, die alte Stromerklärung durch "Kon10 taktkraft" mit der neueren durch Freisetzung chemischer Energie rationalistisch zu vermitteln. /[32]/ Man wird vielleicht einwenden, die obige Kritik der Wiedernanoscben Stromerklärung beruhe auf Wortklauberei; wenn Wiedernano sich im Anfang auch etwas nachlässig und ungenau ausdrücke, so gebe er doch 15 schließlich die richtige, mit dem Satz von der Erhaltung der Energie stimmende Darstellung und mache damit Alles gut. Dem gegenüber lassen wir hier ein andres Beispiel folgen, seine Schilderung des Hergangs in der Kette: Zink, verdünnte Schwefelsäure, Kupfer. "Verbindet man die beiden Platten durch einen Draht, so entsteht ein 20 galvanischer Strom ... Es scheidet sich durch den elektrolytischen Prozeß aus dem Wasser der verdünnten Schwefelsäure am Kupfer 1 Aeq. Wasserstoff aus, welcher in Blasen entweicht. Am Zink bildet sich 1 Aeq. Sauerstoff, der das Zink zu Zinkoxyd oxydirt, welches sich in der umgebenden Säure zu schwefelsaurem Zinkoxyd löst." (1, S. 593). 25 Um Wasserstoffgas und Sauerstoffgas aus Wasser abzuscheiden, dazu ist für jedes Wassermolekül eine Energie = 68 924 Wärmeeinheiten erforderlich. Woher kommt nun in obiger Kette die Energie? "Durch den elektrolytischen Prozeß." Und woher nimmt sie der elektrolytische Prozeß? Keine Antwort. 30 Nun aber erzählt uns ferner Wiedernano nicht einmal, sondern mindestens zweimal (1, S.472 und 614) daß überhaupt "nach neueren Erfahrungen das Wasser selbst nicht zersetzt wird", sondern in unserm Fall die Schwefelsäure, H 2S04, die einerseits zu H 2, andrerseits zu S0 3+ 0 zerfällt, wobei H2und 0 unter Umständen gasförmig entweichen !1331 können. Dadurch aber 35 ändert sich die ganze Natur des Prozesses. Das H2 von H2S04 wird direkt ersetzt durch das zweiwerthige Zink und bildet Zinksulfat, ZnS04. Bleibt übrig, auf der einen Seite H 2, auf der andern S0 3+ 0. Die beiden Gase entweichen in den Verhältnissen in denen sie Wasser bilden, das S03 verbindet sich mit Lösungswasser H 20 wieder zu H 2S04, d. h. Schwefelsäure. 40 Bei der Bildung von ZnS04wird aber eine Energiemenge entwickelt, die nicht nur zur Verdrängung und Freisetzung des Wasserstoffs der Schwefelsäure

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hinreicht, sondern noch einen bedeutenden Überschuß läßt, der in unserm Fall zur Strombildung verwendet wird. Das Zink wartet also nicht, bis der elektrolytische Prozeß ihm den freien Sauerstoff zur Verfügung stellt, um sich damit erst zu oxydiren und dann in der Säure zu lösen. Im Gegentheil. Es tritt direkt in den Prozeß ein, der erst durch diesen Eintritt des Zinks überhaupt zu Stande kommt. Wir sehen hier, Wie den veralteten Kontaktsvorstellungen veraltete chemische Vorstellungen zu Hülfe kommen. Nach der neueren Anschauung ist ein Salz eine Säure, worin der Wasserstoff durch ein Metall ersetzt ist. Der hier zu untersuchende Vorgang bestätigt diese Anschauung: die direkte Verdrängung des Wasserstoffs der Säure durch das Zink erklärt den EnergieUmsatz vollkommen. Die ältere Anschauung, der Wiedernano folgt, hält ein Salz für eine Verbindung eines Metalloxyds mit einer Säure, und spricht daher, statt von Zinksulfat, von schwefelsaurem Zinkoxyd. Um aber in unsrer Kette vom Zink und Schwefelsäure zu schwefelsaurem Zinkoxyd zu kommen, muß das Zink erst oxydirt werden. Um das Zink schnell genug zu oxydiren, müssen wir freien Sauerstoff haben. Um zu freiem Sauerstoff zu kommen, müssen wir- da am Kupfer Wasserstoff erscheint- annehmen daß das Wasser zersetzt wird. Um das Wasser zu zersetzen, brauchen wir eine gewaltige Energie, wie zu dieser kommen? Einfach "durch den elektrolytischen Prozeß", der selbst wieder nicht in Gang kommen kann, solange nicht sein chemisches Schlußprodukt, das "schwefelsaure Zinkoxyd" angefangen, sich zu bilden. Das Kind gebiert die Mutter.! ![3411 Auch hier also wird bei Wiedernano der ganze Verlauf total umgekehrt und auf den Kopf gestellt. Und zwar deßwegen, weil Wiedernano aktive und passive Elektrolyse, zwei direkt entgegen gesetzte Prozesse, ohne Weiteres zusammen wirft als Elektrolyse schlechthin.

/[31]/ Bisher haben wir nur die Vorgänge in der Kette untersucht, d. h. denjenigen Prozeß, bei dem ein Überschuß von Energie durch chemische Aktion frei und durch die Einrichtungen der Kette in Elektricität umgesetzt wird. Dieser Prozeß kann aber bekanntlich auch umgekehrt werden: die in der Kette aus chemischer Energie dargestellte Elektricität des dauernden Stroms kann ihrerseits wieder in chemische Energie rückverwandelt werden in der in den Schließungskreis eingesetzten Zersetzungszelle. Beide Prozesse sind augenscheinlich einander entgegengesetzt; und fassen wir den ersten als chemisch-elektrisch, so ist der zweite elektrochemisch. Beide können in demselben Schließungskreise von den gleichen Stoffen vorgehn. So kann die Säule aus Gaselementen, deren Strom durch Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser erzeugt wird, in einer eingeschalteten Zersetzungszelle Wasserstoffgas und Sauerstoffgas in den Verhältnissen liefern,

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in denen sie Wasser bilden. Die übliche Betrachtungsweise faßt diese beiden entgegengesetzten Prozesse zusammen unter den Einen Ausdruck: Elektrolyse, und unterscheidet nicht einmal zwischen einer aktiven und I ll32JI einer passiven Elektrolyse, einer Erregerflüssigkeit und einem passiven Elektrolyten. So behandelt Wiedernano die Elektrolyse im Allgemeinen auf 143 Seiten, und fügt dann am Schluß einige Bemerkungen über "Elektrolyse in der Kette" hinzu, von denen die Vorgänge in wirklichen Ketten noch dazu nur den kleinsten Theil der 17 Seiten dieses Abschnitts einnehmen. Auch in der folgenden "Theorie der Elektrolyse" wird dieser Gegensatz von Kette und Zersetzungszelle nicht einmal erwähnt, und wer in dem sich anschließenden Kapitel: "Einfluß der Elektrolyse auf Leitungswiderstand und elektromotorische Kraft im Schließungskreise" irgend welche Berücksichtigung der Energie-Umsätze im Schließungskreise suchte, der würde bitter enttäuscht werden. /[34]/ Betrachten wir nun den unwiderstehlichen "elektrolytischen Prozeß", der ohne sichtbare Energiezufuhr H2 von 0 trennen kann, und der in den vorliegenden Abschnitten des Buchs dieselbe Rolle spielt wie vorhin die geheimnißvolle "elektrische Scheidungskraft". "Neben dem primären, rein elektrolytischen Prozeß der Trennung der Ionen treten nun noch eine Menge sekundärer, von demselben ganz unabhängiger, rein chemischer Prozesse durch Einwirkung der durch den Strom abgeschiednen Ionen auf. Diese Einwirkung kann auf den Stoff der Elektroden und auf den zersetzten Körper, in Lösungen auch auf das Lösungsmittel stattfinden." (1, S. 481.) - Gehn wir zurück auf obige Kette: Zink und Kupfer in verdünnter Schwefelsäure. Hier sind nach Wiedemanns eigner Aussage die getrennten Ionen das H2 und 0 des Wassers. Folglich ist ihm die Oxydation des Zinks, und die Bildung von ZnS04 ein sekundärer, vom elektrolytischen Prozeß unabhängiger, rein chemischer Vorgang, trotzdem durch ihn der primäre erst möglich wird. Betrachten wir nun etwas im Einzelnen die Verwirrung, die aus dieser Verkehrung des wirklichen Verlaufs nothwendig entstehn muß./ /35/ Halten wir uns zunächst an die s. g. sekundären Prozesse in der Zersetzungszelle, wovon uns Wiedernano einige BeispielexJ vorführt. (S.481.82.) I. Elektrolyse von Na2S04 in Wasser gelöst. Dies "zerfällt ... in 1 Aeq. S03 + 0 ... und 1 Aeq. Na ... letzteres reagirt aber auf das Lösungswasser, und scheidet aus demselben 1 Aeq. Hab, während sich 1 Aeq. Natron bildet und in dem umgebenden Wasser löst". Die Gleichung ist: •> (Anmerkung) Ein für alle Mal sei bemerkt, daß W. überall die alten chemischen Aequivalentwerthe anwendet, HO, ZnCI usw. schreibt. In meinen Gleichungen sind überall die modernen Atomgewichte angewandt, es heißt also H20, ZnCh usw.

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In diesem Beispiel könnte in der That die Zersetzung: Na2S04 = Na2 + S03 + 0 als primärer, elektro~hemischer, und die weitere Umsetzung: Na2+2H20 = 2NaH0+2H als sekundärer, rein chemischer Vorgang gefaßt werden. Aber dieser sekundäre Vorgang wird unmittelbar an der Elektrode bewirkt, wo der Wasserstoff erscheint, die dabei freigesetzte, sehr bedeutende Energiemenge (111810 Wärmeeinheiten für Na, 0, H, Aq. nach Jul. Thomsen) wird daher, wenigstens größtentheils, in Elektricität umgesetzt, und nur ein Theil in der Zelle unmittelbar in Wärme verwandelt. Letzteres kann aber auch der in der Kette direkt oder primär freigesetzten chemischen Energie passiren. Die so verfügbar gewordene und in Elektricität verwandelte Energiemenge subtrahirt sich aber von derjenigen, die der Strom zur fortdauernden Zersetzung des Na2S04liefern muß. Erschien die Verwandlung des Natriums in Oxydhydrat im ersten Moment des Gesammtvorgangs als sekundärer Prozeß, so wird sie, vom zweiten Moment an, wesentlicher Faktor des Gesammtvorgangs und hört damit auf, sekundär zu sein. Nun findet aber noch ein dritter Prozeß in dieser Zersetzungszelle statt: S0 3verbindet sich, falls es nicht mit dem Metall der positiven Elektrode eine Verbindung eingeht, wobei wieder Energie frei würde, mit H20 zu H2S04, Schwefelsäure. Diese Umsetzung geht aber nicht nothwendig unmittelbar an der Elektrode vor sich, und die dabei frei werdende Energiemenge (21 320 W. E., J. Thomsen) verwandelt sich daher ganz oder zum allergrößten Theil in der Zelle selbst in Wärme, und gibt höchstens einen sehr kleinen Theil als Elektricität an den Strom ab. Der einzige wirklich sekundäre Prozeß der in dieser Zelle vorgeht, wird also von Wiedernano gar nicht erwähnt. II. "Elektrolysirt man eine Lösung von Kupfervitriol zwischen einer positiven Elektrode von Kupfer und einer negativen von Platin, so scheidet sich, bei gleichzeitiger Zersetzung von schwefelsaurem Wasser in demselben Stromkreis, an der negativen Platinelektrode auf 1 Aeq. zersetzten Wassers 1 Aeq. Kupfer aus; an der positiven Elektrode sollte 1 Aeq. S04erscheinen; letzteres verbindet sich aber mit dem Kupfer der Elektrode zu 1 Aeq. CuS04, welches sich in dem Wasser der elektrolysirten Lösung auflöst." Wir haben uns den Prozeß in der modernen chemischen Ausdrucksweise also so vorzul![36]istellen: Am Platin schlägt sich Cu nieder; das freiwerdende so4 das als solches für sich nicht bestehn kann, zerfällt in so3 + 0 welches letztere frei entweicht; S03nimmt aus dem Lösungswasser H20 auf und bildet H2S04, welches sich wieder unter Freisetzung von H2 mit dem Kupfer der Elektrode zu CuS04 verbindet. Wir haben hier genau gesprochen, drei Vorgänge: 1) Trennung von Cu und S04; 2) S03+ 0 + H 20 = H2S04+ 0;

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3) H2S04 + Cu = H2 + CuS04. Es liegt nahe, den ersten als primär, die beiden andern als sekundär aufzufassen. Fragen wir aber nach den Energie-Umsätzen, so finden wir daß der erste durch einen Theil des dritten Vorgangs vollständig kompensirt wird: die Trennung des Kupfers von S04 durch die Wiedervereinigung Beider an der andern Elektrode. Wenn wir von der zur Fortschiebung des Kupfers von einer Elektrode zur andern erforderlichen Energie absehn - und ebenso von unvermeidlichem Energieverlust in der Kette durch Umsetzung in Wärme, so haben wir hier den Fall daß der s. g. primäre Vorgang dem Strom keine Energie entzieht. Der Strom liefert Energie ausschließlich zur Ermöglichung der, noch dazu indirekten, Trennung von H 2 und 0, die als wirkliches chemisches Resultat des ganzen Prozesses sich erweist - also zur Durchführung eines sekundären oder gar tertiären Prozesses. In Beiden obigen Beispielen, wie auch in andern Fällen, hat die Unterscheidungvon primären und sekundären Prozessen indeß eine unläugbare relative Berechtigung. So wird beide Male unter Anderm anscheinend auch Wasser zersetzt, und die Elemente des Wassers an den entgegen gesetzten Elektroden abgeschieden. Da nach den neuesten Erfahrungen absolut reines Wasser dem Ideal eines Nichtleiters also auch eines Nicht-Elektrolyts so nahe wie möglich kommt, ist es wichtig nachzuweisen, daß in diesen und ähnlichen Fällen nicht das Wasser direkt elektrochemisch zersetzt wird, sondern daß die Elemente des Wassers aus der Säure- zu deren Bildung hier das Lösungswasser allerdings mitwirken muß - abgeschieden werden.! !371 111. "Elektrolysirt man gleichzeitig in zwei U-förmigen Röhren ... Chlorwasserstoffsäure ... und bedient sich in dem einen Rohr einer positiven Elektrode von Zink, in der andern einer solchen von Kupfer, so löst sich in dem ersten Rohre die Zinkmenge 32,53, in dem zweiten die Kupfermenge 2X31,7." Lassen wir das Kupfer einstweilen bei Seite und halten wir uns ans Zink. Als primärer Prozeß gilt hier die Zersetzung von HCl, als sekundärer die Lösung von Zn. Nach dieser Auffassung also führt der Strom von Außen der Zersetzungszelle die zur Trennung von H und Cl nöthige Energie zu, und nachdem diese Trennung vollzogen, vereinigt sich das Cl mit dem Zn, wobei eine Energiemenge frei wird, die sich von der zur Trennung von H und Cl erforderlichen subtrahirt; der Strom braucht also nur die Differenz zuzuführen. Soweit stimmt Alles aufs schönste; betrachten wir uns aber die beiden Energiemengen näher, so finden wir daß die bei Bildung von ZnCh freigesetzte größer ist als die bei Trennung von 2 HCl verbrauchte; daß also der Strom nicht nur keine Energie zuzuführen braucht, sondern im Gegentheil Energie empfängt. Wir haben gar kein passives Elektrolyt mehr vor uns,

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sondern eine Erregerflüssigkeit; keine Zersetzungszelle, sondern eine Kette, die die strombildende Säule um ein neues Element verstärkt; der Prozeß, den wir als sekundär auffassen sollen, wird absolut primär, wird die Energiequelle des ganzen Vorgangs, und macht ihn unabhängig von dem zugeführten Strom der Säule. Hier sehn wir deutlich, was die Quelle der ganzen, in Wiedemann's theoretischer Darstellung herrschenden Verwirrung ist. Wiedernano geht aus von der Elektrolyse- ob diese aktiv oder passiv, Kette oder Zersetzungszelle, ist einerlei: Pflasterkasten ist Pflasterkasten, wie der alte Major zum "Einjährigen" Doktor der Philosophie sagte. Und da die Elektrolyse in der Zersetzungszelle viel einfacher 11[38]1 zu studiren ist als in der Kette, so geht er thatsächlich aus von der Zersetzungszelle, macht die in ihr sich vollziehenden Vorgänge, ihre theilweise berechtigte Eintheilung in primäre und sekundäre, zum Maßstab der gradezu umgekehrten Vorgänge in der Kette, und merkt dabei nicht einmal, wenn ihm unter der Hand die Zersetzungszelle sich in eine Kette verwandelt. Daher kann er den Satz aufstellen: "die chemische Affinität der ausgeschiedenen Stoffe gegen die Elektroden ist ohne Einfluß auf den eigentlich elektrolytischen Prozeß" (I, 471) ein Satz, der in dieser absoluten Form, wie wir sahen, total falsch ist. Daher denn die dreifache Theorie der Strombildung bei ihm: zuerst die alt-überkommene vermittelst des reinen Kontakts; zweitens die vermittelst der schon abstrakter gefaßten elektrischen Scheidungskraft, die auf unerklärlic~e Weise sich oder dem "elektrolytischen Prozeß" die Energie verschafft, das Hund Cl in der Kette auseinander zu reißen und außerdem noch einen Strom zu bilden; endlich die moderne chemisch-elektrische, die in der algebraischen Summe aller chemischen Aktionen in der Kette die Quelle dieser Energie nachweist. Wie er nicht merkt daß die zweite Erklärung die erste umstößt, ebensowenig ahnt er daß die dritte ihrerseits die zweite über den Haufen wirft. Im Gegentheil, der Satz von der Erhaltung der Energie wird ganz äußerlich an die alte, von der Routine überkommene Theorie angefügt, wie man einen neuen geometrischen Lehrsatz an die früheren anhängt. Keine Ahnung davon, daß dieser Satz eine Revision der ganzen traditionellen Anschauungsweise auf diesem wie auf allen andern Gebieten der Naturwissenschaft nöthig macht. Daher beschränkt sich Wiedemarm darauf, ihn bei der Stromerklärung einfach zu konstatiren und legt ihn dann ruhig bei Seite um ihn erst ganz am Schluß des Buchs, im Kapitel über die Arbeitsleistungen des Stroms, wieder hervorzusuchen. Selbst in der Theorie der Elektricitätserregung durch Kontakt (I, 781 ff) spielt die Erhaltung der Energie in Beziehung auf die Hauptsache gar keine Rolle, und wird nur gelegentlich zur Aufhellung von Nebenpunkten herbeigezogen; sie ist und bleibt ein "sekundärer Vorgang" .1 264

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1[3911 Kehren wir zurück zu obigem Exempel 111. Dort wurde durch denselben Strom in zwei U-förmigen Röhren Chlorwasserstoffsäure elektrolysirt, aber in der einen Zink, in der andern Kupfer als positive Elektrode verwandt. Nach dem Faradayschen elektrolytischen Grundgesetz zersetzt 5 derselbe galvanische Strom in jeder Zelle äquivalente Mengen der Elektrolyte, und die Quantitäten der an beiden Elektroden abgeschiednen Stoffe stehn gleichfalls im Verhältniß ihrer Äquivalente (I, S. 470). Nun fand sich, daß in obigem Fall im ersten Rohr die Zinkmenge 32,53, im andern die Kupfermenge 2 x 31,7 gelöst wurde. "Es ist dies indeß, fährt Wiedernano 10 fort, kein Beweis für die Aequivalenz dieser Werthe. Dieselben werden nur bei sehr wenig dichten Strömen unter Bildung von Zinkchlorid . .. einerseits und von Kupferchlorür . .. andrerseits beobachtet. Bei dichteren Strömen würde für dieselbe gelöste Zinkmenge die Menge des gelösten Kupfers unter Bildung steigender Mengen von Chlorid . .. bis zu 31,7 sinken." 15 Zink bildet bekanntlich nur eine Chlorverbindung, Zinkchlorid ZnCh; Kupfer dagegen zwei, Cuprichlorid CuCh und Cuprochlorid, Cu2Ch. Der Hergang ist also, daß der schwache Strom auf je zwei Chloratome von der Elektrode zwei Kupferatome losreißt, die mit einer ihrer beiden Verbindungseinheiten unter sich verbunden bleiben, während ihre beiden freien Cu-Cl 20 Verbindungseinheiten sich mit den zwei Chloratomen vereinigen: I Cu-Cl Wird der Strom dagegen stärker, so reißt er die Kupferatome ganz von -Cl einander, und Jedes für sich vereinigt sich mit zwei Chloratomen: Cu -Cl Bei Strömen mittlerer Stärke bilden sich beide Verbindungen neben einander. Es ist also lediglich die Stromstärke, die die Bildung der einen oder der 25 andern Verbindung bedingt, und der Vorgang ist daher wesentlich elektrochemisch, wenn anders dies Wort einen Sinn hat. Trotzdem erklärt ihn Wiedernano ausdrücklich für sekundär, also für nicht elektrochemisch, sondern rein chemisch. Der obige Versuch ist von Renault ( 1867) und gehört zu einer ganzen Reihe 30 ähnlicher Versuche, bei denen derselbe Strom in einer U-Röhre durch Kochsalzlösung (positive Elektrode 1![4011 Zink) in einer andern Zelle durch wechselnde Elektrolyte mit verschiedneo Metallen als positiven Elektroden geleitet wurde. Hierbei wichen die auf ein Aequivalent Zink gelösten Mengen der andern Metalle sehr ab, und Wiedernano gibt die Resultate der ganzen 35 Versuchsreihe, die aber in der That meist chemisch sich von selbst verstehn und gar nicht anders sein können. So wurde auf 1 Aeq. Zink nur 2/3 Aeq. Gold in Salzsäure gelöst. Dies kann nur dann verwunderlich erscheinen, wenn man sich wie Wiedemann, an die alten Aequivalentgewichte hält und für Zink265

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chlorid ZnCl schreibt, wonach das Chlor sowohl wie das Zink nur mit einer Verbindungseinheit in dem Chlorid erscheint. In Wirklichkeit stecken darin auf ein Zinkatom zwei Chloratome, ZnCh, und sowie wir diese Formel kennen, sehn wir sofort daß in obiger Bestimmung der Aequivalenzen das Chloratom als Einheit anzunehmen ist und nicht das Zinkatom. Die Formel 5 für Goldchlorid ist aber AuCh, wonach es auf der Hand liegt daß 3 ZnCh genau soviel Chlor enthalten wie 2 AuCh und somit alle primären, sekundären und tertiären Prozesse in der Kette oder Zelle genöthigt sein werden auf einen in Zinkchlorid verwandelten Gewichtstheil Zink nicht mehr und nicht weniger als 2/ 3 Gewichtstheile Gold in Goldchlorid zu verwandeln. Dies 10 gilt absolut, es sei denn daß auch die Verbindung AuCl auf galvanischem Wege herstellbar wäre, in welchem Falle auf 1 Aeq. Zink sogar 2Aeq. Gold gelöst werden müßten, und wo dann auch ähnliche Variationen je nach der Stromstärke eintreten könnten wie oben beim Kupfer und Chlor. Der Werth der Versuche von Renault besteht darin, daß sie aufzeigen wie das Fa- 15 radaysche Gesetz bestätigt wird durch Thatsachen die ihm zu widersprechen scheinen. Was sie aber zur Beleuchtung von sekundären Vorgängen bei der Elektrolyse beitragen sollen, ist nicht abzusehn.l 1411 Das dritte Beispiel aus Wiedernano führte uns bereits wieder von der Zersetzungszelle zur Kette. Und in der That bietet die Kette bei weitem das 20 größte Interesse dar, sobald man die elektrolytischen Vorgänge in Beziehung auf die dabei stattfindenden Umsetzungen von Energie untersucht. So stoßen wir nicht selten auf Ketten in denen die chemisch-elektrischen Prozesse direkt im Widerspruch mit dem Gesetz der Erhaltung der Energie zu stehn und sich entgegen der chemischen Verwandtschaft zu vollziehen 25 scheinen. Nach Poggendorff's Messungen liefert die Kette: Zink, konzentrirte Kochsalzlösung, Platin, einen Strom von der Stärke 134,6. Wir haben hier also eine ganz respektable Elektricitätsmenge, 1/ 3 mehr als im Daniellschen Element. Woher stammt die hier als Elektricität erscheinende Energie? Der 30 "primäre" Vorgang ist die Verdrängung des Natriums aus der Chlorverbindung durch das Zink. Aber in der gewöhnlichen Chemie verdrängt nicht das Zink das Natrium, sondern umgekehrt das Natrium verdrängt das Zink aus Chlor- und andern Verbindungen. Der "primäre" Vorgang, weit entfernt davon dem Strom obige Energiemenge abgeben zu können, bedarf im Gegen- 35 theil, um zu Stande zu kommen, selbst einer Energiezufuhr von Außen. Mit dem bloßen "primären" Vorgang sitzen wir also wieder fest. Sehen wir uns also den wirklichen Vorgang an. Da finden wir daß die Umsetzung ist, nicht Zn+ 2 N aCl = ZnCh + 2 Na, sondern 40 Zn+2NaC1+2H 20 = ZnCh+2NaOH+ H2 •

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Mit andern Worten, das Natrium wird nicht an der negativen Elektrode frei abgeschieden sondern oxydratisirt, wie oben im Beispiel I. (S. ) Um die hierbei stattfindenden Energie-Umsätze zu berechnen, geben uns Julius Thomsen's Bestimmungen wenigstens Anhaltspunkte. Danach haben wir, freigesetzte Energie bei den Verll[42]lbindungen: (Zn, Ch) = 97 210, (ZnCh, aqua) = 15 630, zusammen für gelöstes Zink= W. E. 112 840. chlorid 2 (Na, 0, H, aqua) = W. E. 223620 W. E. 336460 Davon ab Energieverbrauch bei den Trennungen: 2 (Na, Cl, aqua) = W. E. 193020. 2 (H 2 , 0) =" 136 720 329740 Überschuß freigesetzter Energie = Wärme Einh. 6 720 Diese Summe ist offenbar gering für die erlangte Stromstärke, aber sie reicht hin, um einerseits die Trennung des Natriums vom Chlor und anderseits die Strombildung überhaupt zu erklären. Hier haben wir ein schlagendes Beispiel dafür, daß die Unterscheidung von primären und sekundären Vorgängen durchaus relativ ist und uns ad absurdum führt sobald wir sie absolut nehmen. Der primäre, elektrolytische Prozeß kann, allein genommen, nicht nur keinen Strom erzeugen sondern nicht einmal sich selbst vollziehn. Der sekundäre, angeblich rein chemische Prozeß ist es, der den primären erst möglich macht und obendrein den ganzen Energie-ÜberschuB für die Strombildung liefert. Er hat sich also in Wirklichkeit als der primäre, und dieser sich als sekundär erwiesen. Wenn Hegel den Metaphysikern und metaphysicirenden Naturforschern ihre eingebildeten festen Unterschiede und Gegensätze dialektisch in ihr Gegentheil verkehrte, so hieß es, er habe ihnen die Worte im Munde verdreht. Wenn aber die Natur damit ebenso verfährt wie der alte Hegel, so wird es doch wohl Zeit die Sache etwas näher zu untersuchen. I 1431 Mit größerem Recht kann man Vorgänge als sekundär betrachten, die sich zwar in Folge des chemisch-elektrischen Prozesses der Kette, oder des elektrochemischen der Zersetzungszelle vollziehn, aber unabhängig und getrennt davon, die also in einiger Entfernung von den Elektroden stattfinden. Die bei solchen sekundären Prozessen vor sich gehenden EnergieUmsätze treten daher auch nicht in den elektrischen Prozeß ein; weder entziehen sie, noch liefern sie ihm direkt Energie. Solche Vorgänge kommen in der Zersetzungszelle sehr häufig vor; wir hatten oben unter Ex. I ein Beispiel an der Bildung von Schwefelsäure bei der Elektrolyse von Natriumsulfat. Sie haben hier jedoch weniger Interesse. Dagegen ist ihr Auftreten in der Kette von größerer praktischer Wichtigkeit. Denn wenn sie auch dem chemisch-elektrischen Prozeß nicht direkt Energie zufügen oder entziehn, so verändern sie doch die Summe der in der Kette überhaupt vorhandenen verfügbaren Energie, und afficiren ihn dadurch indirekt. 267

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Dahin gehören, außer nachträglichen chemischen Umsetzungen gewöhnlicher Art, die Erscheinungen welche auftreten, wenn die Ionen an den Elektroden in einem andern Zustand abgeschieden werden als der, worin sie gewöhnlich frei auftreten, und wenn sie dann in diesen letzteren übergehn, erst nachdem sie sich von den Elektroden entfernt haben. Die Ionen können dabei eine andre Dichtigkeit oder einen andern Aggregatzustand annehmen. Sie können aber auch in Beziehung auf ihre Molekularkonstitution bedeutende Veränderungen erleiden, und dieser Fall ist der interessanteste. In allen diesen Fällen entspricht der sekundären, in einer gewissen Entfernung von den Elektroden vor sich gehenden chemischen oder physikalischen Veränderung der Ionen eine analoge Wärmeveränderung; meist wird Wärme freigesetzt, in einzelnen Fällen wird sie verbraucht. Diese Wärmeänderung beschränkt sich selbstredend zunächst auf den Ort wo sie eintritt: die Flüssigkeit in der Kette oder Zersetzungszelle erwärmt sich oder kühlt sich ab, der übrige Schließungskreis bleibt davon unberührt. Daher heißt diese Wärme die lokale Wärme. Um das Aequivalent dieser in der Kette erzeugten, positiven oder negativen, lokalen Wärme wird also die für 11[44]1 die Umwandlung in Elektricität disponible, freigesetzte chemische Energie vermindert resp. vermehrt. In einer Kette mit Wasserstoffsuperoxyd und Salzsäure wurde nach Favre 2/ 3 der ganzen freigesetzten Energie als lokale Wärme verbraucht; das Grovesche Element dagegen kühlte sich nach der Schließung bedeutend ab, und führte also dem Stromkreis durch Wärmeabsorption noch Energie von Außen zu. Wir sehen also, daß auch diese sekundären Prozesse auf den primären zurückwirken. Wir mögen uns anstellen wie wir wollen, die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Vorgängen bleibt eine bloß relative und hebt sich in der Wechselwirkung beider auf einander regelmäßig wieder auf. Wenn man dies vergiBt, wenn man solche relativen Gegensätze als absolute behandelt, so fährt man schließlich rettungslos in Widersprüchen fest, wie wir oben gesehn. Bei der elektrolytischen Abscheidung von Gasen beschlagen sich bekanntlich die Metallelektroden mit einer dünnen Gasschicht; die Stromstärke nimmt in Folge dessen ab, bis die Elektroden mit Gas gesättigt sind, worauf der geschwächte Strom wieder konstant wird. Favre und Silbermann haben nachgewiesen, daß in einer solchen Zersetzungszelle ebenfalls lokale Wärme entsteht, die nur daher rühren kann, daß die Gase an den Elektroden nicht in dem Zustand freigesetzt werden in dem sie gewöhnlich auftreten, sondern daß sie, nach ihrer Trennung von den Elektroden, erst in diesen gewöhnlichen Zustand versetzt werden durch einen weiteren mit Wärmeentwicklung verbundenen Prozeß. Aber in welchem Zustand werden die Gase an den Elektroden abgeschieden? Man kann sich hierüber nicht vorsichtiger aussprechen als Wiedernano dies thut. Er nennt ihn "einen gewissen", einen

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"allotropen", einen "aktiven" bei Sauerstoff endlich manchmal einen "ozonisirten" Zustand. Beim Wasserstoff wird noch viel geheimnißvoller gesprochen. Gelegentlich 11[45]1 bricht die Ansicht durch, daß Ozon und Wasserstoffsuperoxyd die Formen sind in denen dieser "aktive" Zustand 5 sich realisirt. Dabei verfolgt das Ozon unsern Verfasser derart, daß er sogar die extrem elektronegativen Eigenschaften gewisser Superoxyde daraus erklärt, daß sie "einen Theil des Sauerstoffs möglicherweise im ozonisirten Zustand enthalten"! (I, S. 57.) Sicher bildet sich bei der s. g. Wasserzersetzung sowohl Ozon wie Wasserstoffsuperoxyd, aber nur in kleinen Mengen. 10 Es fehlt aller Grund, anzunehmen, daß die lokale Wärme im vorliegenden Fall durch, erst Entstehung und dann Zersetzung größerer Mengen obiger beiden Verbindungen vermittelt werde. Die Bildungswärme von Ozon, 0 3, aus drei freien Sauerstoffatomen kennen wir nicht; diejenige des Wasserstoffsuperoxyds aus H20 (flüssig) + 0 ist nach Berthelot = - 21480; die 15 Entstehung dieser Verbindung in größeren Mengen würde also einen starken Energiezuschuß (etwa 30 Prozent der zur Trennung von H2 und 0 erforderlichen Energie) bedingen, der doch auffällig und nachweisbar sein müßte. Endlich aber würden Ozon und Wasserstoffsuperoxyd nur vom Sauerstoff Rechenschaft geben (wenn wir von Stromumkehrungen absehn, wobei beide 20 Gase an derselben Elektrode zusammenkämen), nicht aber vom Wasserstoff. Und doch entweicht auch dieser in einem "aktiven" Zustand, so zwar daß er sich in der Kombination: Kaliumnitratlösung zwischen Platinelektroden, mit dem aus der Säure abgeschiednen Stickstoff direkt zu Ammoniak verbindet. 25 Alle diese Schwierigkeiten und Bedenklichkeiten existiren in der That nicht. Körper "in einem aktiven Zustand" abzuscheiden, ist kein Monopol des elektrolytischen Prozesses. Jede chemische Zersetzung thut dasselbe. Sie scheidet das freigesetzte chemische Element aus zunächst in der Form von freien Atomen, 0, H, N etc. die sich erst nach ihrer Freisetzung zu 30 Molekülen 0 2, H 2, N 2 etc. verbinden können und bei dieser Verbindung eine bestimmte, bisher indeß noch nicht feststellbare Menge Energie abgeben, die als Wärme erscheint. Während des verschwindenden Augenblicks aber, wo die Atome frei sind, sind sie Träger der gesammten Energiemenge, die sie überhaupt auf sich nehmen können; im Besitz ihres Energie-Maximums sind 35 sie frei jede sich ihnen darbietende Verbindung einzugehn. Sie sind also "in einem aktiven Zustand" gegenüber 11[46]1 den Molekülen 02, H2, N2, die bereits einen Theil jener Energie abgegeben haben und in eine Verbindung mit andern Elementen nicht eintreten können, ohne daß diese abgegebne Energiemenge von Außen wieder zugeführt werde. Wir haben also gar nicht 40 nöthig, erst zu Ozon und Wasserstoffsuperoxyd, die selbst erst Produkte jenes aktiven Zustands sind, unsre Zuflucht zu nehmen. Wir können z. B. 269

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die eben erwähnte Ammoniakbildung bei Elektrolyse von Kaliumnitrat auch ohne Kette einfach chemisch vornehmen, indem wir Salpetersäure oder eine Nitratlösung einer Flüssigkeit zusetzen, in der Wasserstoff durch chemische Prozesse frei wird. Der aktive Zustand des Wasserstoffs ist in beiden Fällen derselbe. Das Interessante am elektrolytischen Prozeß ist aber dies, daß hier das verschwindende Dasein freier Atome sozusagen faßbar wird. Der Vorgang theilt sich hier in zwei Phasen: Die Elektrolyse liefert die freien Atome an den Elektroden ab, aber ihre Verbindung zu Molekülen findet statt in einiger Entfernung von den Elektroden. So verschwindend klein diese Entfernung auch für Massenverhältnisse sein mag, sie reicht hin, um die Verwendung der bei der Molekülbildung freigesetzten Energie für den elektrischen Prozeß wenigstens großentheils zu verhindern und damit ihre Verwandlung in Wärme - die lokale Wärme in der Kette - zu bedingen. Hierdurch aber ist konstatirt, daß die Elemente als freie Atome abgeschieden worden sind und einen Moment als freie Atome in der Kette bestanden haben. Diese Thatsache, die wir in der reinen Chemie nur durch theoretische Schlußfolgerungen feststellen können, wird uns hier experimentell bewiesen, soweit dies möglich ist ohne sinnliche Wahrnehmung der Atome und Moleküle selbst. Und darin liegt die hohe wissenschaftliche Bedeutung der s. g. lokalen Wärme der Kette.

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1471 Die Verwandlung der chemischen Energie in Elektricität vermittelst der Kette ist ein Vorgang über dessen Verlauf wir so gut wie nichts wissen und auch wohl erst dann etwas Näheres erfahren werden, wenn der modus operandi der elektrischen Bewegung selbst besser bekannt sein wird. Der Kette wird eine "elektrische Scheidungskraft" zugeschrieben, die für jede bestimmte Kette bestimmt ist. Wie wir gleich am Anfang sahen, ist von Wiedernano zugegeben daß diese elektrische Scheidungskraft nicht eine bestimmte Form der Energie ist. Sie ist im Gegentheil zunächst nichts als das Vermögen, die Eigenschaft einer Kette, in der Zeiteinheit eine bestimmte Menge freigesetzter chemischer Energie in Elektricität umzuwandeln. Diese chemische Energie selbst nimmt in dem ganzen Verlauf nie die Form der "elektrischen Scheidungskraft" an, sondern im Gegentheil sogleich und unmittelbar die der s. g. "elektromotorischen Kraft", d. h. der elektrischen Bewegung. Wenn man im gewöhnlichen Leben von der Kraft einer Dampfmaschine spricht in dem Sinn, daß sie im Stande ist, in der Zeiteinheit eine bestimmte Menge Wärme in Massenbewegung umzusetzen, so liegt darin kein Grund diese Begriffsverwirrung auch in die Wissenschaft einzuführen. Ebensogut könnten wir von der verschiedenen Kraft einer Pistole, eines Karabiners, eines glattläufigen Gewehrs und einer Langgeschoßbüchse sprechen, weil sie bei gleicher Pulverladung und gleichem Geschoßgewicht 270

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verschieden weit schießen. Hier tritt aber die Verkehrtheit des Ausdrucks deutlich vor Augen. Jedermann weiß daß es die Entzündung der Pulverladung ist, die die Kugel forttreibt, und daß die verschiedne Tragweite der Waffe nur bedingt ist durch die größere oder geringere Energieverschwendung je nach der Rohrlänge, nach dem Spielraum des Geschosses und nach seiner Form. Der Fall ist aber derselbe bei der Dampfkraft und bei der elektrischen Scheidungskraft. Zwei Dampfmaschinen - bei sonst gleichbleibenden Umständen, d. h. die in gleichen Zeiträumen in beiden frei werdende Energiemenge gleich gesetzt- oder zwei galvanische Ketten, von denen dasselbe gilt, unterscheiden sich in ihren Arbeitsleistungen nur durch die in ihnen stattfindende größere oder geringere Energieverschwendung. Und wenn die Feuerwaffentechnik \1[48]\ aller Armeen bisher fertig geworden ist ohne die Annahme einer besondern Schießkraft der Gewehre, so hat die Wissenschaft von der Elektricität gar keine Entschuldigung für die Annahme einer, dieser Schießkraft analogen "elektrischen Scheidungskraft", einer Kraft, in der absolut keine Energie steckt und die also auch aus sich selbst kein Milliontel Milligramm-Millimeter Arbeit leisten kann. Dasselbe gilt von der zweiten Form dieser "Scheidungskraft", der von Helmholtz erwähnten "elektrischen Kontaktkraft der Metalle". Sie ist nichts andres als die Eigenschaft der Metalle, bei ihrem Kontakt vorhandene Energie anderer Form in Elektricität umzusetzen. Sie ist also ebenfalls eine Kraft die kein Fünkchen Energie enthält. Nehmen wir mit Wiedernano an, die Energiequelle der Kontaktselektricität liege in der lebendigen Kraft der Adhäsionsbewegung; so existirt diese Energie zuerst in der Form dieser Massenbewegung, und setzt sich bei deren Verschwinden sofort um in elektrische Bewegung, ohne auch nur für einen Moment die Form der "elektrischen Kontaktkraft" anzunehmen. Und nun wird uns noch dazu versichert dieser "elektrischen Scheidungskraft", die nicht nur keine Energie in sich enthält, sondern nach ihrem Begriff gar keine enthalten kann, sei proportional die elektromotorische Kraft, d. h. die als Elektricitätsbewegung wieder erscheinende chemische Energie! Diese Proportionalität zwischen Nicht-Energie und Energie gehört offenbar in dieselbe Mathematik, in der das "Verhältniß der Elektricitätseinheit zum Milligramm" figurirt. Hinter der absurden Form aber, die nur der Auffassung einer simplen Eigenschaft als einer mystischen Kraft ihr Dasein verdankt, steckt eine ganz einfache Tautologie: die Fähigkeit einer bestimmten Kette, freiwerdende chemische Energie in Elektricität zu verwandeln wird gemessen- durch was? Nun, durch die Menge der als Elektricität im Schließungskreis wieder erscheinenden Energie im Verhältniß zu der in der Kette verbrauchten chemischen. Das ist Alles. Um zu einer elektrischen Scheidungskraft zu kommen, muß man den

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Nothbehelf der beiden elektrischen Fluida ernsthaft nehmen. Um diese aus ihrer Neutralität heraus in ihre Polarität zu versetzen, um sie also aus einander zu reißen, dazu gehört ein gewisser Aufwand von Energie - die elektrische Scheidungskraft. Einmal von einander getrennt, können die beiden Elektricitäten bei ihrer Wiedervereinigung dieselbe Energiemenge 5 wieder abgeben- elektromotorische Kraft. Da aber heutzutage kein Mensch mehr, nicht einmal Wiedemann, die beiden Elektricitäten als wirkliche Wesenheiten betrachtet, so hieße es für ein verstorbenes Publikum schreiben, wollte man auf solche Vorstellungsweise des Breiteren eingehn.l 1[49]1 Der Grundirrthum der Kontaktstheorie besteht darin, daß sie sich 10 nicht von der Vorstellung trennen kann, die Kontaktkraft oder elektrische Scheidungskraft sei eine Energiequelle; was allerdings schwer war, nachdem man die bloße Eigenschaft eines Apparats, Energieverwandlung zu vermitteln, in eine Kraft verwandelt hatte; denn eine Kraft soll ja eben eine bestimmte Form der Energie sein. Weil Wiedernano diese unklare Kraft- 15 vorstellung nicht los werden kann, obwohl sich ihm, daneben, die modernen Vorstellungen von unzerstörbarer und unerschaffbarer Energie aufgezwungen haben, deßhalb verfällt er in jene sinnlose Stromerklärung .N'2 1 und in alle die später nachgewiesenen Widersprüche. Wenn der Ausdruck: elektrische Scheidungskraft direkt widersinnig, so 20 ist der andere: elektromotorische Kraft mindestens überflüssig. Wir hatten Thermomotoren lange ehe wir Elektromotoren hatten, und dennoch wird die Wärmetheorie ganz gut fertig ohne eine besondre thermomotorische Kraft. Wie der einfache Ausdruck Wärme alle Bewegungserscheinungen in sich faßt die dieser Form der Energie angehören, so kann es auch der Ausdruck: 25 Elektricität auf seinem Gebiet. Dazu sind sehr viele Wirkungsformen der Elektricität gar nicht direkt "motorisch", das Magnetisiren von Eisen, die chemische Zersetzung, die Umwandlung in Wärme. Und endlich ist es in jeder Naturwissenschaft, selbst in der Mechanik jedesmal ein Fortschritt, wenn man das Wort Kraft irgendwo los wird. 30 Wir sahen daß Wiedernano die chemische Erklärung der Vorgänge in der Kette nicht ohne ein gewisses Widerstreben annahm. Dies Widerstreben verfolgt ihn fortwährend; wo er der s. g. chemischen Theorie etwas anhängen kann, geschieht's gewiß. So "ist es durchaus nicht begründet, daß die elektromotorische Kraft proportional der Intensität der chemischen Aktion ist" 35 (1, 791). Ganz gewiß nicht in jedem Fall, wo aber diese Proportionalität nicht Statt findet, ist dies nur ein Beweis dafür daß die Kette schlecht konstruirt ist, daß in ihr Energievergeudung stattfindet. Und deßwegen hat derselbe Wiedernano ganz Recht, wenn er in seinen theoretischen Ableitungen auf dergleichen Nebenumstände, die die Reinheit des Prozesses fälschen, durch- 40 aus keine Rücksicht nimmt, sondern schlankweg versichert, die elektro-

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motorische Kraft eines Elements sei gleich dem mechanischen Aequivalent der in der Zeiteinheit in demselben, bei der Einheit der Stromintensität, stattfindenden chemischen Aktion. An einer andern Stelle heißt es: "Daß ferner in der Säure-Alkalikette die Verbindung der Säure und des Alkalis nicht die Ursache der Strombildung ist, folgt aus den Versuchen§ 61 (Becquerel und Fechner) lll50JI260 (DüboisReymond) und 261 (Worm-Müller), nach denen in gewissen Fällen, wenn sich dieselben in äquivalenten Mengen finden, kein Strom auftritt und ebenso aus dem § 62 angeführten Versuche (Henrici) daß die elektromotorische Kraft bei Zwischenschaltung von Salpeterlösung zwischen die Kalilauge und Salpetersäure in gleicher Weise auftritt, wie ohne dieselbe." (I, 791). Die Frage ob die Verbindung von Säure und Alkali eine Ursache der Strombildung sei, beschäftigt unsern Verfasser sehr ernstlich. Sie ist in dieser Form sehr einfach zu beantworten. Die Verbindung von Säure und Alkali ist zunächst die Ursache der Bildung von Salzunter Entbindung von Energie. Ob diese Energie ganz oder zum Theil die Form von Elektricität annehmen soll, hängt von den Umständen ab, unter denen sie freigesetzt wird. In der Kette Salpetersäure und Kalilösung zwischen Platinelektroden z. B. wird dies wenigstens theilweise der Fall sein, wobei es für die Strombildung gleichgültig ist, ob man eine Salpeterlösung zwischen Säure und Alkali schiebt oder nicht, da dies die Salzbildung höchstens verlangsamen aber nicht verhindern kann. Macht man aber eine Kette wie die eine von WarmMüller, auf die Wiedernano sich fortwährend beruft, wo Säure und Alkalilösung in der Mitte, an beiden Enden aber eine Lösung ihres Salzes sich befindet und zwar in derselben Koncentration wie die sich in der Kette bildende Lösung, so kann selbstredend kein Strom entstehn weil wegeil der Endglieder- da sich überall identische Körper bilden- keine Ionen entstehn können. Man hat also die Umsetzung der freiwerdenden Energie in Elektricität ebenso direkt verhindert als hätte man den Kreis gar nicht geschlossen; man darf sich also nicht wundern, wenn man keinen Strom erhält. Daß aber Säure und Alkali überhaupt einen Strom erzeugen können beweist die Kette: Kohle, Schwefelsäure (1 in 10 Wasser) Kali (1 in 10 Wasser), Kohle, die nach Raoult eine Stromstärke von 73 x) hat; und daß sie bei zweckmäßiger Einrichtung der Kette eine der bei ihrer Verbindung freigesetzten großen Energiemenge entsprechende Stromstärke liefern können, geht daraus hervor daß die stärksten bekannten Ketten fast ausschließlich auf Bildung von Alkalisalzen beruhen. Z. B. Wheatstone: Platin, Platinchlorid, Kaliumamalgam, Stromstärke 230; Bleisuperoxyd, verdünnte Schwefelsäure, Kaliumamalgam = 326; Mangansuperoxyd statt des Bleisuperoxyds, = 280; '' (Anmerkung) In allen folgenden Angaben über Stromstärke wird das Daniellsche Element = 100 gesetzt.

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wobei jedesmal, wenn statt Kalium\\51\amalgam Zinkamalgam angewandt wurde, die Stromstärke fast genau um 100 abnahm. Ebenso erhielt Beetz in der Kette: fester Braunstein, Kaliumpermanganatlösung, Kalilauge, Kalium die Stromstärke 302; ferner: Platin, verdünnte Schwefelsäure, Kalium = 293,8; Joule: Platin, Salpetersäure, Kalilauge, Kaliumamalgam = 302. Die "Ursache" dieser ausnahmsweise starken Strombildungen ist allerdings die Verbindung von Säure und Alkali, resp. Alkalimetall und die dabei freigesetzte große Energiemenge. Ein paar Seiten weiter heißt es abermals : "Es ist indeß wohl zu beachten, daß nicht direkt das Arbeitsäquivalent der ganzen, an der Kontaktstelle der heterogenen Körper auftretenden chemischen Aktion als Maß für die elektromotorische Kraft im geschlossenen Kreis anzusehn ist. Wenn z. B. in der Säure-Alkalikette (iterum Crispinus !) von Becquerel diese beiden Stoffe sich verbinden, wenn in der Kette: Platin, geschmolzener Salpeter, Kohle, die Kohle verbrennt, wenn in einem gewöhnlichen Element: Kupfer, unreines Zink, verdünnte Schwefelsäure, sich das Zink unter Bildung von Lokalströmen schnell auflöst, so wird ein großer Theil der bei den chemischen Prozessen erzeugten Arbeit (soll heißen: freigesetzten Energie) in Wärme verwandelt und geht so für den gesammten Stromkreis verloren." (1, S. 798) Alle diese Vorgänge führen sich zurück auf Energieverlust in der Kette; sie berühren nicht die Thatsache daß die elektrische Bewegung aus umgewandelter chemischer Energie entsteht, sondern nur die Menge der umgewandelten Energie. Die Elektriker haben eine unendliche Zeit und Mühe darauf verwandt, die verschiedensten Ketten zu komponiren und ihre "elektromotorische Kraft" zu messen. Das hierdurch angehäufte experimentelle Material enthält sehr viel Werthvolles, aber sicher noch viel mehr Werthloses. Welchen wissenschaftlichen Werth haben z. B. Versuche in denen "Wasser" \\[52]\ als Elektrolyt angewandt wird, das wie jetzt durch F. Kohlrausch erwiesen, der schlechteste Leiter also auch das schlechteste Elektrolyt ist, x l wo also nicht das Wasser sondern seine unbekannten Unreinigkeiten den Prozeß vermitteln? Und doch beruht z. B. fast die Hälfte aller Versuche Fechners auf solcher Anwendung von Wasser, sogar sein "experimentum crucis", wodurch er die Kontaktstheorie unerschütterlich auf den Trümmern der chemischen Theorie etabliren wollte. Wie schon hieraus hervorgeht, sind überhaupt in fast allen Versuchen, einige wenige ausgenommen, die chemischen Vorgänge in der Kette, in denen doch die Quelle der s. g. elektromotorischen Kraft liegt, so gut wie unberücksichtigt geblieben. Es gibt aber ' ' Eine Säule des reinsten von K. dargestellten Wassers von 1 mm Länge offerirte denselben Widerstand wie eine Kupferleitung vom gleichen Durchmesser und von der Länge etwa der Mondbahn. Naumann, Allg. Chem . S. 729.

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eine ganze Reihe Ketten, aus deren chemischer Formulirung durchaus kein sicherer Schluß auf die nach der Stromschließung in ihnen vor sich gehenden chemischen Umsätze zu ziehn ist. Im Gegentheil ist, wie Wiedernano I, 796 sagt, "nicht zu läugnen daß wir die chemischen Anziehungen in der Kette durchaus noch nicht in allen Fällen übersehn können". Alle solche Experimente sind also nach der immer wichtiger werdenden chemischen Seite hin solange werthlos bis sie unter Kontrolirung jener Prozesse wiederholt werden. Von einer Berücksichtigung der in der Kette sich vollziehenden EnergieUmsetzungen ist nun erst ganz ausnahmsweise bei diesen Versuchen die Rede. Viele sind gemacht, ehe das Gesetz von der Aequivalenz der Bewegung naturwissenschaftlich anerkannt war, schleppen sich aber gewohnheitsmäßig !1531 unkontrolirt und unabgeschlossen, aus einem Handbuch ins andre fort. Wenn man gesagt hat: die Elektricität hat keine Trägheit (was ungefähr so viel Sinn hat wie: die Geschwindigkeit hat kein specifisches Gewicht) so kann man dies von der Elektricitätslehre keineswegs behaupten. Wir haben bisher das galvanische Element als eine Vorrichtung betrachtet, worin, in Folge der hergestellten Kontaktsverhältnisse, auf eine einstweilen unbekannte Weise, chemische Energie freigesetzt und in Elektricität verwandelt wird. Wir haben ebenso die Zersetzungszelle als einen Apparat dargestellt, in dem der umgekehrte Prozeß eingeleitet, elektrische Bewegung in chemische Energie umgesetzt und als solche verbraucht wird. Wir mußten dabei die von den Elektrikern sosehr vernachlässigte chemische Seite des Vorgangs in den Vordergrund stellen, weil dies der einzige Weg war den Wust der aus der alten Kontaktslehre und der Theorie von den beiden elektrischen Fluiden überkommenen Vorstellungen loszuwerden. Dies einmal erledigt, handelt es sich darum, ob der chemische Prozeß in der Kette unter denselben Bedingungen vor sich geht wie außerhalb derselben, oder ob dabei besondre, von der elektrischen Erregung abhängige Erscheinungen auftreten. Unrichtige Vorstellungen, in jeder Wissenschaft, sind schließlich, wenn wir von Beobachtungsfehlern absehn, unrichtige Vorstellungen von richtigen Thatsachen. Die letzteren bleiben, wenn wir auch die ersteren als falsch nachgewiesen. Haben wir die alte Kontaktstheorie abgeschüttelt, so bestehn noch die festgestellten Thatsachen denen sie zur Erklärung dienen sollte. Betrachten wir diese, und damit die eigentlich elektrische Seite des Vorgangs in der Kette. Daß beim Kontakt heterogener Körper mit oder ohne chemische Veränderungen, Elektricitätserregung stattfindet, die vermittelst des Elektroskops resp. des Galvanometers nachzuweisen ist, darüber wird nicht gestritten. Die Energiequelle dieser an sich äußerst minimalen Bewegungs-

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erscheinungen ist im einzelnen Fall, wie wir schon Anfangs sahen, schwer festzustellen, genug, die Existenz einer solchen, äußeren Quelle ist allgemein zugegeben. Kohlrausch hat 1850-53 eine Reihe von Versuchen veröffentlicht, worin er die einzelnen Bestandstücke einer Kette paarweise zusammenstellt und 5 auf die jedesmal nachweisbaren statisch-elektrischen Spannungen prüft; aus der algebraischen Summe dieser Spannungen soll sich dann die elektromotorische Kraft des Elements zusammensetzen. So berechnet er, die Spannung Zn/Cu = 100 genommen, die relative Stärke des Daniellschen und Groveschen Elements wie folgt: 10 Daniell: Zn/Cu+ amalg. Zn/H2S04 + Cu/S04Cu = 100 + 149- 21 = 228.J J[54]J Grove: Zn/Pt+ amalg. Zn/H2S04 + Pt/HN0 3 = 107 + 149 + 149 = 405 was mit der direkten Messung der Stromstärke dieser Elemente nahezu 15 stimmt. Diese Ergebnisse sind aber keineswegs sicher. Erstens macht Wiedernano selbst darauf aufmerksam daß Kohlrausch nur das Schlußresultat, aber "leider keine Zahlenangaben für die Ergebnisse der einzelnen Versuche angibt". Und zweitens erkennt Wiedernano selbst wiederholt an, daß alle Versuche, die elektrischen Erregungen beim Kontakt von Metallen, 20 und mehr noch von Metall und Flüssigkeit, quantitativ zu bestimmen, wegen der zahlreichen unvermeidlichen Fehlerquellen mindestens sehr unsicher sind. Wenn er trotzdem mehrfach mit Kohlrausch's Zahlen rechnet, so thun wir besser ihm hierin nicht zu folgen, um so mehr als ein andres Bestimmungsmittel vorliegt, gegen das sich diese Einwände nicht machen lassen. 25 Senkt man die beiden Erregerplatten einer Kette in die Flüssigkeit und verbindet sie dann mit den Enden eines Galvanometers zum Schließungskreis, so ist nach Wiedernano "der anfängliche Ausschlag seiner Magnetnadel, ehe chemische Veränderungen die Stärke der elektrischen Erregung geändert haben, ein Maß für die Summe der elektromotorischen Kräfte im 30 Schließungskreise". Verschieden starke Ketten geben also verschieden starke Anfangsausschläge, und die Größe dieser Anfangsausschläge ist proportional der Stromstärke der entsprechenden Ketten. Dies sieht aus, als hätten wir hier die "elektrische Scheidungskraft", die "Kontaktkraft", die unabhängig von jeder chemischen Aktion eine Be- 35 wegung verursacht, handgreiflich vor Augen. So, in der That, meint die gesammte Kontaktstheorie. Und wirklich liegt hiereine Beziehungzwischen elektrischer Erregung und chemischer Aktion, die wir im Vorstehenden noch nicht untersucht haben. Um hierauf überzugehn, wollen wir zunächst das s. g. elektromotorische Gesetz etwas näher betrachten; wir werden dabei 40 finden, daß auch hier die überkommenen Kontaktsvorstellungen nicht nur

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keine Erklärung bieten, sondern den Weg zur Erklärung wieder direkt versperren.! J55l Wenn man in einem beliebigen Element aus zwei Metallen und einer Flüssigkeit z. B. Zink, verdünnte Salzsäure, Kupfer, ein drittes Metall, z. B. eine Platinplatte stellt, ohne sie mit dem äußeren Schließungskreis durch einen Leitungsdrath zu verbinden, so ist der anfängliche Ausschlag des Galvanometers genau derselbe wie ohne die Platinplatte. Sie wirkt also nicht ein auf die Elektricitätserregung. So einfach darf das aber in elektromotorischer Sprache nicht ausgedrückt werden. Es heißt da: "An die Stelle der elektromotorischen Kraft von Zink und Kupfer in der Flüssigkeit ist nun aber die Summe der elektromotorischen Kräfte von Zink und Platin, und Platin und Kupfer getreten. Da der Weg der Elektricitäten durch die Einschiebung der Platinplatte nicht merklich geändert ist, so können wir aus der Gleichheit der Angaben des Galvanometers in beiden Fällen schließen, daß die elektromotorische Kraft von Zink und Kupfer in der Flüssigkeit gleich ist der von Zink und Platin plus der von Platin und Kupfer in derselben. Es entspräche dies der von Volta aufgestellten Theorie der Elektricitätserregung zwischen den Metallen für sich. Man spricht das Resultat, welches für alle beliebigen Flüssigkeiten und Metalle gilt, aus, indem man sagt: Die Metalle folgen bei ihrer elektromotorischen Erregung mit Flüssigkeiten dem Gesetz der Spannungsreihe. Man bezeichnet dies Gesetz auch mit dem Namen des elektromotorischen Gesetzes." (Wiedemann 1,62.) Wenn man sagt das Platin wirkt in dieser Kombination überhaupt nicht elektricitätserregend, so spricht man die einfache Thatsache aus. Wenn man sagt, es wirkt doch elektricitätserregend, aber in zwei entgegengesetzten Richtungen mit gleicher Stärke sodaß die Wirkung sich aufhebt, so verwandelt man die Thatsache in eine Hypothese, bloß um der "elektromotorischen Kraft" die Honneurs zu machen. In beiden Fällen spielt das I J[56]J Platin die Rolle des Strohmanns. Während des ersten Ausschlags existirt noch kein Schließungskreis. Die Säure, unzersetzt, leitet nicht; sie kann nur leiten vermittelst der Ionen. Wirkt das dritte Metall nicht auf den ersten Ausschlag, so kommt dies einfach daher daß es noch isolirt ist. Wie verhält sich nun das dritte Metall nach Herstellung des dauernden Stroms und während seiner Dauer? Die Spannungsreihe der Metalle in den meisten Flüssigkeiten hat das Zink nach den Alkalimetallen so ziemlich am positiven und das Platin am negativen Ende, und Kupfer steht zwischen Beiden. Wird also wie oben Platin zwischen Kupfer und Zink gestellt, so ist es gegen Beide negativ, der Strom in der Flüssigkeit, wenn das Platin überhaupt wirkte, müßte vom Zink und

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vom Kupfer zum Platin fließen, also von beiden Elektroden weg zum unverbundenen Platin; was eine Contradictio in adjecto ist. Die Grundbedingung der Wirksamkeit mehrerer Metalle in der Kette besteht grade darin daß sie nach Außen zum Schließungskreis unter sich verbunden sind. Ein unverbundnes, überzähliges Metall in der Kette figurirt als Nichtleiter; es kann Ionen weder bilden noch durchlassen, und ohne Ionen kennen wir in Elektrolyten keine Leitung. Es ist also nicht bloß Strohmann, es ist sogar im Wege, indem es die Ionen zwingt sich seitwärts an ihm vorbei zu drücken. Ebenso wenn wir Zink und Platin verbinden und das Kupfer unverbunden in die Mitte stellen: hier würde dieses, wenn es überhaupt wirkte, einen Strom vom Zink zum Kupfer und einen zweiten vom Kupfer zum Platin erzeugen, es müßte also als eine Art Zwischenelektrode dienen und an der dem Zink zugekehrten Seite Wasserstoffgas abscheiden, was wiederum unmöglich ist. Schütteln wir die überkommene elektromotorische Redeweise ab, so stellt sich der Fall äußerst einfach. Die galvanische Kette, sahen wir, ist eine Vorrichtung in der chemische Energie freigesetzt und in Elektricität übergeführt wird. Sie besteht in der Regel aus einer oder mehreren Flüssigkeiten und zwei Metallen als Elektroden, die unter sich außerhalb der Flüssigkeiten leitend 1\[57]\ verbunden sein müssen. Damit ist der Apparat hergestellt. Was wir noch sonst in die Erregerflüssigkeit unverbunden eintunken, sei es Metall, Glas, Harz oder was sonst, kann an dem in der Kette vorgehenden chemisch-elektrischen Prozeß, an der Strombildung nicht theilnehmen, solange es die Flüssigkeit nicht chemisch ändert, es kann den Prozeß höchstens stören. Was auch immer die elektrische Erregungsfähigkeit eines dritten, eingetauchten Metalls in Beziehung auf die Flüssigkeit und eine oder beide Elektroden der Kette sein möge, sie kann nicht wirken, solange dies Metall nicht außerhalb der Flüssigkeit mit dem Schließungskreis verbunden ist. Hiernach ist also nicht nur die obige Ableitungdes s. g. elektromotorischen Gesetzes durch Wiedernano falsch; auch der Sinn, den er diesem Gesetz gibt, ist falsch. Weder kann gesprochen werden von einer sich kompensirenden elektromotorischen Thätigkeit des unverbundnen Metalls, da dieser Thätigkeit von vorn herein die einzige Bedingung abgeschnitten ist unter der sie in Wirksamkeit treten kann; noch kann dass. g. elektromotorische Gesetz abgeleitet werden aus einer Thatsache die außer seinen Bereich fällt.\ \[58]\ Poggendorff veröffentlichte 1845 eine Reihe von Experimenten in denen er die elektromotorische Kraft der verschiedensten Ketten, d. h. die von jeder in der Zeiteinheit gelieferte Elektricitätsmenge maß. Darunter sind von besonderm Werth die ersten 27, in deren jedem drei bestimmte Metalle in derselben Erregerflüssigkeit nach einander zu drei verschiedneo Ketten verbunden und diese auf die gelieferte Elektricitätsmenge untersucht und

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verglichen werden. Als guter Kontaktselektriker stellte Poggendorff jedesmal auch das dritte Metall unverbunden mit in die Kette, und hatte so die Genugthuung sich zu überzeugen daß in allen 81 Ketten dieser Dritte im Bunde ein reiner Strohmann blieb. Die Bedeutung dieser Versuche besteht aber keineswegs hierin, sondern vielmehr in der Bestätigung und in der Feststellung des richtigen Sinns des s. g. elektromotorischen Gesetzes. Bleiben wir bei der obigen Reihe von Ketten, wo in verdünnter Salzsäure Zink, Kupfer und Platin je zu Zweien unter sich verbunden werden. Hier fand Poggendorff die gelieferten Elektricitätsmengen, wenn die eines Daniellschen Elements = 100 gesetzt wird, wie folgt: Zink Kupfer = 78,8 Kupfer Platin = 74,3 Summe 153,1 Zink Platin = 153,7 Zink, in direkter Verbindung mit Platin, liefert also fast genau dieselbe Elektricitätsmenge wie Zink-Kupfer + Kupfer-Platin. Dasselbe fand Statt in allen andern Ketten, welche Flüssigkeiten und Metalle auch angewandt wurden. Wenn aus einer !1591 Reihe Metalle in derselben Erregerflüssigkeit Ketten gebildet werden, derart, daß je nach der für diese Flüssigkeit geltenden Spannungsreihe das zweite, dritte, vierte usw. nacheinander als negative Elektrode für das vorhergehende, und als positive für das nächstfolgende dient, so ist die Summe der durch alle diese Kettengelieferten Elektricitätsmengen gleich der Elektricitätsmenge, geliefert durch eine direkte Kette zwischen den beiden Endgliedern der ganzen Metallreihe. Es würden demnach z. B. in verdünnter Salzsäure die von den Ketten: Zink-Zinn, Zinn-Eisen, Eisen-Kupfer, Kupfer-Silber, Silber-Platin, insgesammt gelieferten Elektricitätsmengen gleich sein der von der Kette: Zink-Platin gelieferten; eine Säule, gebildet aus allen Elementen der obigen Reihe, würde, unter sonst gleichen Verhältnissen, durch ein mit entgegengesetzter Stromesrichtung eingeschaltetes Zink-Platin-Element gerade neutralisirt. In dieser Fassung erhält das s. g. elektromotorische Gesetz eine wirkliche und große Bedeutung. Es enthüllt eine neue Seite des Zusammenhangs zwischen chemischer und elektrischer Aktion. Bisher, bei vorwiegender Untersuchung der Energiequelle des galvanischen Stroms, erschien diese Quelle, die chemische Umsetzung, als die aktive Seite des Prozesses; die Elektricität wurde aus ihr erzeugt, erschien also zunächst als passiv. Jetzt kehrt sich dies um . Die, durch die Beschaffenheit der in der Kette in Berührung gesetzten heterogenen Körper bedingte, elektrische Erregung kann der chemischen Aktion Energie weder zusetzen noch entziehn (anders als durch Umsetzung freiwerdender Energie in Elektricität). Aber sie kann, je nach der Einrichtung der Kette, diese Aktion beschleunigen oder verlang-

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'iamen. Wenn die Kette: Zink - verdünnte Salzsäure - Kupfer, in der Zeiteinheit nur halb so viel Elektricität für den Strom liefert wie die Kette: Zink - verdünnte Salzsäure - Platin, so heißt dies, chemisch ausgedrückt, daß die erste Kette in der Zeiteinheit nur halb soviel Zinkchlorid und Wasserstoff liefert wie die zweite. Die chemische Aktion ist also verdoppelt 5 worden, 11[60)1 obwohl die rein chemischen Bedingungen dieselben geblieben sind. Die elektrische Erregung ist zum Regulator der chemischen Aktion geworden; sie erscheint jetzt als die aktive Seite, die chemische Aktion als die passive. So wird es denn verständlich, wenn eine ganze Reihe von früher als rein 10 chemisch betrachteten Prozessen sich jetzt als elektro-chemische darstellen. Chemisch reines Zink wird von verdünnter Säure, wenn überhaupt, nur sehr schwach angegriffen; gewöhnliches käufliches Zink dagegen löst sich rasch unter Salzbildung und Wasserstoffentwicklung; es enthält Beimischung von andern Metallen und Kohle, die an verschiedneo Stellen der Oberfläche 15 ungleich stark vertreten sind. Zwischen ihnen und dem Zink selbst bilden sich in der Säure Lokalströme, wobei die Zinkstellen die positiven, die andern Metalle die negativen Elektroden bilden, an denen die Wasserstoffbläschen sich ausscheiden. Ebenso wird die Erscheinung, daß in Kupfervitriollösung eingetauchtes Eisen sich mit einer Kupferschicht bedeckt, jetzt 20 als eine elektrochemische angesehn: als bedingt durch Ströme die zwischen deri heterogenen Stellen der Eisen-Oberfläche entstehn. Dem gemäß finden wir auch, daß die Spannungsreihen der Metalle in Flüssigkeiten im Ganzen und Großen den Reihen entsprechen, in denen die Metalle einander aus ihren Verbindungen mit den Halogenen und Säureradi- 25 kalen verdrängen. Am äußersten negativen Ende der Spannungsreihen finden wir regelmäßig die Metalle der Goldgruppe: Gold, Platin, Palladium, Rhodium, die schwer oxydirbar sind, von Säuren kaum oder gar nicht angegriffen und aus ihren Salzen durch andre Metalle leicht gefällt werden. Am äußersten positiven Ende stehn die Alkalimetalle, die das grade ent- 30 gegengesetzte Verhalten zeigen: sie sind aus ihren Oxyden unter dem größten Energieaufwand kaum abzuscheiden, kommen in der Natur fast nur in Form von Salzen vor, und haben von allen Metallen bei Weitem die größte Verwandtschaft zu Halogenen und Säureradikalen. Zwischen beiden stehn die übrigen Metalle in etwas wechselnden Reihenfolgen, doch so daß im Ganzen 35 elektrisches und chemisches Verhalten mit einander stimmen. Die Reihenll[61)ifolge der einzelnen darunter wechselt je nach den Flüssigkeiten und ist auch wohl kaum für eine einzige Flüssigkeit endgültig festgestellt. Es ist sogar erlaubt zu zweifeln ob es für eine einzelne Flüssigkeit eine solche absolute Spannungsreihe der Metalle gibt. Zwei Stücke desselben Metalls 40 können in geeigneten Ketten und Zersetzungszellen je als positive und

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negative Elektrode dienen, dasselbe Metall also kann gegen sich selbst sowohl positiv wie negativ sein. In den Thermoelementen, die Wärme in Elektricität umsetzen,. schlägt bei starken Temperaturdifferenzen an den beiden Löthstellen die Stromesrichtung um: das früher positive Metall wird negativ und umgekehrt. Ebenso gibt es keine absolute Reihe nach der die Metalle einander aus ihren chemischen Verbindungen mit einem bestimmten Halogen oder Säureradikal verdrängen; durch Energiezufuhr in Form von Wärme können wir die, für die gewöhnliche Temperatur geltende Reihe in vielen Fällen fast nach Belieben abändern und umkehren. Wir finden hier also eine eigenthümliche Wechselwirkung zwischen Chemismus und Elektricität. Die chemische Aktion in der Kette, die der Elektricität die gesammte Energie für die Strombildung liefert, wird ihrerseits in vielen Fällen erst in Gang gebracht, und in allen Fällen quantitativ regulirt durch die in der Kette eingeleiteten eiektrischen Spannungen. Wenn uns früher die Vorgänge in der Kette als chemisch-elektrische erschienen, so sehn wir hier, daß sie ebensosehr elektrochemische sind. Vom Standpunkt der Bildung des dauernden Stroms erschien die chemische Aktion als das Primäre; vom Standpunkt der Stromeserregungerscheint sie als sekundär, accessorisch. Die Wechselwirkung schließt jedes absolut Primäre und absolut Sekundäre aus; aber ebensosehr ist sie ein doppelseitiger Prozeß, der seiner Natur nach von zwei verschiedneo Standpunkten betrachtet werden kann; um als Gesammtheit verstanden zu werden, muß sie sogar nach einander von beiden Standpunkten aus untersucht werden, ehe das Gesammtresultat zusammengefaßt werden kann. Halten wir aber den einen Standpunkt einseitig als den absoluten 11[62]1 fest gegenüber dem andern, oder springen wir willkührlich, je nach dem momentanen ßedürfniß des Raisonnements, über von dem einen auf den andern, so bleiben wir befangen in der Einseitigkeit des metaphysischen Denkens; der Zusammenhang entgeht uns, und wir verwickeln uns in einen Widerspruch über den andern. Wir sahen oben daß nach Wiedernano der anfängliche Ausschlag des Galvanometers, unmittelbar nach der Eintauchung der Erregerplatten in die Flüssigkeit der Kette, und ehe noch chemische Veränderungen die Stärke der elektrischen Erregung geändert haben, "ein Maß ist für die Summe der elektromotorischen Kräfte im Schließungskreise". Bisher lernten wir die s. g. elektromotorische Kraft kennen als eine Form der Energie, die in unserm Fall aus chemischer Energie in äquivalenter Menge erzeugt war und sich im weitem Verlauf wieder in äquivalente Mengen von Wärme, Massenbewegung etc. umsetzte. Hier auf ein Mal erfahren wir, daß die "Summe der elektromotorischen Kräfte im Schließungskreise" bereits existirt ehe chemische Veränderungen jene Energie

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freigesetzt haben; mit andern Worten, daß die elektromotorische Kraft nichts andres ist als die Kapacität einer bestimmten Kette, in der Zeiteinheit eine bestimmte Quantitätchemischer Energie freizusetzen und in elektrische Bewegung zu verwandeln. Wie früher die elektrische Scheidungskraft, erscheint hier auch die elektromotorische Kraft als eine Kraft die kein Fünkeben Energie enthält. Wiedernano versteht also unter "elektromotorischer Kraft" zwei total verschiedne Dinge: einerseits die Kapacität einer Kette, eine bestimmte Menge gegebner chemischer Energie freizusetzen und in elektrische Bewegung zu verwandeln, andrerseits die entwickelte Menge elektrischer Bewegung selbst. Daß beide einander proportional sind, daß die eine ein Maß für die andre ist, hebt ihre Verschiedenheit nicht auf. Die chemische Aktion in der Kette, die entwickelte Elektricitätsmenge, und die im Schließungskreis, wenn sonst keine Arbeit geleistet wird, aus ihr entstandene Wärme sind noch mehr als proportional, sie sind sogar äquivalent; das thut aber ihrer Verschiedenheit keinen Abbruch. Die Kapacität einer Dampfmaschine von bestimmtem Cylinderdurchmesser und Kolbenhub, eine bestimmte ll63j Menge mechanischer Bewegung aus zugeführter Wärme zu erzeugen, ist sehr verschieden von dieser mechanischen Bewegung selbst, so proportional sie ihr auch ist. Und wenn solche Redeweise zu einer Zeit erträglich war, wo von Erhaltung der Energie in der Naturwissenschaft noch nicht gesprochen wurde, so liegt doch auf der Hand, daß seit Anerkennung dieses Grundgesetzes die wirkliche lebendige Energie unter irgend einer Form nicht mehr verwechselt werden darf mitder Kapacitäteines beliebigen Apparats, freiwerdender Energie diese Form zu ertheilen. Es ist diese Verwechslung ein Korollar der Verwechslung von Kraft und Energie bei Gelegenheit der elektrischen Scheidungskraft; sie beide sind es, in denen die drei einander total widersprechenden Stromeserklärungen Wiedemanns sich harmonisch lösen und die überhaupt allen seinen Irrungen und Wirrungen über die s. g. "elektromotorische Kraft" schließlich zu Grunde liegen. Außer der bereits betrachteten eigenthümlichen Wechselwirkung zwisehen Chemismus und Elektricität findet sich noch eine zweite Gemeinsamkeit, die ebenfalls eine engere Verwandtschaft dieser beiden Bewegungsformen andeutet. Beide können nur verschwindend bestehn. Der chemische Prozeß vollzieht sich, für jede in ihn eintretende Gruppe von Atomen, plötzlich. Nur durch die Gegenwart von neuem Material, das stets von N euem in ihn eintritt, kann er verlängert werden. Ebenso mit der elektrischen Bewegung. Kaum ist sie aus einer andren Bewegungsform erzeugt, so schlägt sie auch schon wieder um in eine dritte Bewegungsform; nur fortwährende Bereitschaft verfügbarer Energie kann den dauernden Strom herstellen, in dem in jedem Augenblick neue Bewegungsmengen die Form der Elektricität annehmen und wieder verlieren.

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Die Einsicht in diesen engen Zusammenhang der chemischen mit der elektrischen Aktion und umgekehrt wird auf beiden Untersuchungsgebieten zu großen Resultaten führen. Sie wird bereits immer allgemeiner. Unter den Chemikern hat Lotbar Meyer und nach ihm Kekule gradezu ausgesprochen daß eine Wiederaufnahme der elektrochemischen Theorie in verjüngter Form bevorstehe. Auch unter den Elektrikern scheint, wie namentlich die jüngsten Arbeiten von F. Kohlrausch andeuten, die Überzeugung 11[6411 endlich durchdringen zu wollen, daß nur eine genaue Beachtung der chemischen Vorgänge in Kette und Zersetzungszelle ihrer Wissenschaft aus der Sackgasse der alten Tradition heraus helfen kann. Und in der That ist nicht abzusehn, wodurch anders der Lehre vom Galvanismus, und damit in zweiter Linie derjenigen vom Magnetismus und von der Spannungselektricität eine feste Grundlage gegeben werden kann, als durch eine chemisch exakte Generalrevision aller überkommenen unkontrollirten, auf einem überwundneo wissenschaftlichen Standpunkt angestellten Versuche, unter genauer Beachtung und Feststellung der EnergieUmsätze, und unter vorläufiger Beiseitsetzung aller traditionellen theoretischen Vorstellungen über die Elektricität.

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[193] [Ausgelassenes aus "Feuerbach"]

[Die vulgarisirenden Hausirer, die in den fünfziger Jahren in Deutschland in Materialismus machten, kamen in keiner Weise über diese Schranke ihrer Lehrer hinaus. Alle seitdem gemachten Fortschritte der Naturwissenschaft 5 dienten ihnen nur] 1161 als neue Argumente gegen den Glauben an den Weltschöpfer; und in der That lag es ganz außerhalb ihres Geschäfts, die Theorie weiter zu entwickeln. Der Idealismus war durch 1848 schwer getroffen; aber der Materialismus, in dieser seiner erneuten Gestalt, war noch tiefer heruntergekommen. Daß Feuerbach die Verantwortlichkeit für diesen 10 Materialismus ablehnte, darin hatte er entschieden recht; nur durfte er die Lehre der Reiseprediger nicht mit dem Materialismus überhaupt zusammenwerfen. Um dieselbe Zeit aber nahm die empirische Naturwissenschaft einen solchen Aufschwung und erreichte so glänzende Resultate, daß dadurch 15 nicht nur eine vollständige Überwindung der mechanischen Einseitigkeit des 18. Jahrhunderts möglich wurde,.sondern auch die Naturwissenschaft selbst durch den Nachweis der in der Natur selbst vorhandenen Zusammenhänge der verschiedneo Untersuchungsgebiete (der Mechanik, Physik, Chemie, Biologie etc.) aus einer empirischen in eine theoretische Wissenschaft, und 20 bei der Zusammenfassung des Gewonnenen, in ein System der materialistischen Naturerkenntniß sich verwandelte. Die Mechanik der Gase; die neugeschaffne organische Chemie, die einer sogenannten Organischen Verbindung nach der andern den letzten Rest der U nbegreiflichkeit abstreifte, indem sie sie aus anorganischen Stoffen herstellte; die von 1818 25 datirende wissenschaftliche Embryologie, die Geologie und Paläontologie; die vergleichende Anatomie der Pflanzen und Thiere - sie alle lieferten neuen Stoff in bisher unerhörtem Maß. Von entscheidender Wichtigkeit aber waren drei große Entdeckungen.

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Die erste war der, von der Entdeckung des mechanischen Äquivalents der Wärme (durch Robert Mayer, Joule und Colding) sich herleitende Nachweis der Verwandlung der Energie. Alle die zahllosen wirkenden Ursachen in der Natur, die bisher als sogenannte Kräfte ein geheimnißvolles, unerklärtes Dasein führten, - mechanische Kraft, Wärme, Strahlung (Licht und strahlende Wärme), Elektricität, Magnetismus, chemische Kraft der Verbindung und Trennung, sind jetzt nachgewiesen als besondre Formen, Daseinsweisen einer und derselben Energie, d. h. Bewegung; wir können nicht nur ihre in der Natur stets vorgehende Verwandlung aus einer Form in die andre nachweisen, sondern sie selbst im Laboratorium und in der Industrie vollführen, und zwar so, daß einer gegebnen Menge von Energie llt71 in der einen Form stets eine bestimmte Menge von Energie in dieser oder jener andern Form entspricht. Wir können so die Wärmeeinheit in Kilogramm-Metern, und die Einheiten oder beliebige Mengen von elektrischer oder chemischer Energie wieder in Wärmeeinheiten ausdrücken und umgekehrt; wir können ebenso den Energieverbrauch und die Energiezufuhr eines lebendigen Organismus messen und in einer beliebigen Einheit, z. B. in Wärmeeinheiten ausdrücken. Die Einheit aller Bewegung in der Natur ist nicht mehr eine philosophische Behauptung, sondern eine naturwissenschaftliche Thatsache. Die zweite - der Zeit nach frühere - ist die Entdeckung der organischen Zelle durch Schwann und Schleiden, der Zelle als der Einheit aus deren Vervielfältigung und Differenzirung alle Organismen, mit Ausnahme der niedrigsten, entstehn und herauswachsen. Erst mit dieser Entdeckung erhielt die Untersuchung der organischen, lebendigen Naturprodukte sowohl die vergleichende Anatomie und Physiologie wie die Embryologie -einen festen Boden. Der Entstehung, dem Wachsthum und der Struktur der Organismen war das Geheimniß abgestreift; das bisher unbegreifliche Wunder hatte sich aufgelöst in einen, nach einem für alle vielzelligen Organismen wesentlich identischen Gesetz sich vollziehenden Prozeß. Aber noch blieb eine wesentliche Lücke. Wenn alle vielzelligen Organismen- Pflanzen wie Thiere mit Einschluß des Menschen - aus je Einer Zelle nach dem Gesetz der Zellenspaltung herauswachsen, woher dann die unendliche Verschiedenheit dieser Organismen? Diese Frage wurde beantwortet durch die dritte große Entdeckung, die Entwicklungstheorie, die zuerst von Darwin im Zusammenhang dargestellt und begründet wurde. So manche Umwandlungen diese Theorie auch noch im Einzelnen durchmachen wird, so löst sie im Ganzen und Großen schon jetzt das Problem in mehr als genügender Weise. Die Entwicklungsreihe der Organismen von wenigen einfachen zu stets mannichfacheren und komplicirteren, wie wir sie heute vor uns sehn, und bis zum Menschen herauf, ist in den großen Grundzügen nachgewiesen; es ist damit nicht nur die Erklärung ermöglicht für den vor-

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gefundnen Bestand an organischen Naturprodukten, sondern auch die Grundlage gegeben für die Vorgeschichte des Menschengeistes, für die Verfolgung seiner verschiedneo Entwicklungsstufen vom einfachen strukturlosen, aber Reize empfindenden Protoplasma der niedrigsten Organismen bis zum denkenden Menschenhirn. Ohne diese Vorgeschichte aber 5 bleibt das Dasein des denkenden Menschenhirns llt81 ein Wunder. Mit diesen drei großen Entdeckungen sind die Hauptvorgänge der Natur erklärt, auf natürliche Ursachen zurückgeführt. Nur eins bleibt hier noch zu thun: die Entstehung des Lebens aus der unorganischen Natur zu erklären. Das heißt auf der heutigen Stufe der Wissenschaft nichts andres als: Ei- 10 Weißkörper aus unorganischen Stoffen herzustellen. Dieser Aufgabe rückt die Chemie immer näher. Sie ist noch weit von ihr entfernt. Wenn wir aber bedenken, daß erst 1828 der erste organische Körper, der Harnstoff, von Wöhler aus unorganischem Material dargestellt wurde, und wie unzählige s. g. organische Zusammensetzungen jetzt künstlich, ohne irgend welche 15 organischen Stoffe dargestellt werden, werden wir der Chemie kein Halt! vor dem Eiweiß gebieten wollen. Bis jetzt kann sie jeden organischen Stoff darstellen, dessen Zusammensetzung sie genau kennt. Sobald die Zusammensetzung der Eiweißkörper einmal bekannt ist, wird sie an die Herstellung von lebendigem Eiweiß gehn können. Daß sie aber von heute auf morgen 20 das leisten soll, was der Natur selbst nur unter sehr günstigen Umständen auf einzelnen Weltkörpern nach Millionen Jahren gelingt- das hieße ein Wunder verlangen. Somit steht die materialistische Naturanschauung heute auf ganz anders festen Füßen als im vorigen Jahrhundert. Damals war nur die Bewegung der 25 Himmelskörper und die von irdischen festen Körpern unter dem Einfluß der Schwere einigermaßen erschöpfend verstanden; fast das ganze Gebiet der Chemie und die ganze organische Natur blieben unverstandne Geheimnisse. Heute liegt die ganze Natur als ein, wenigstens in den großen Grundzügen, erklärtes und begriffenes System von Zusammenhängen und Vorgängen vor 30 uns ausgebreitet. Allerdings heißt materialistische Naturanschauung weiter nichts als einfache Auffassung der Natur so wie sie sich gibt, ohne fremde Zuthat, und daher verstand sie sich bei den griechischen Philosophen ursprünglich von selbst. Aber zwischen jenen alten Griechen und uns liegen mehr als zwei Jahrtausende wesentlich idealistischer Weltanschauung, und 35 da ist die Rückkehr auch zum Selbstverständlichen schwerer als es auf den ersten Blick scheint. Denn es handelt sich keineswegs um einfache Verwerfung des ganzen Gedankeninhalts jener zwei Jahrtausende, sondern um seine Kritik, llt91 um die Losschälung der, innerhalb der falschen, aber für ihre Zeit und den Entwicklungsgang selbst unvermeidlichen idealistischen 40 Form gewonnenen Resultate aus dieser vergänglichen Form. Und wie

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schwer das ist, beweisen uns jene zahlreichen Naturforscher, die innerhalb ihrer Wissenschaft unerbittliche Materialisten sind, außerhalb derselben aber nicht nur Idealisten, sondern selbst fromme, ja orthodoxe Christen. Alle diese epochemachenden Fortschritte der Naturwissenschaft gingen an Feuerbach vorüber ohne ihn wesentlich zu berühren. Es war dies nicht sosehr seine Schuld, als die der elenden deutschen Verhältnisse, Kraft deren die Lehrstühle der Universitäten von hohlköpfigen, eklektischen Flohknackern in Beschlag genommen wurden, während Feuerbach, der sie thurmhoch überragte, in einsamer Dorfabgeschiedenheit fast verbauern mußte. Daher kommt es, daß er über die Natur- bei einzelnen genialen Zusammenfassungen, so viel belletristisches Stroh dreschen muß. So sagt er: "Das Leben ist allerdings nicht Produkt eines chemischen Prozesses, nicht Produkt überhaupt einer vereinzelten Naturkraft oder Erscheinung, worauf der metaphysische Materialist das Leben reducirt; es ist ein Resultat der ganzen Natur." - Daß das Leben ein Resultat der ganzen Natur ist, widerspricht keineswegs dem Umstand, daß das Eiweiß, welches der ausschließliche selbständige Träger des Lebens ist, unter bestimmten durch den ganzen Naturzusammenhang gegebnen Bedingungen entsteht, aber eben als Produkt eines chemischen Prozesses entsteht. Derselben Vereinsamung ist es zuzuschreiben, wenn Feuerbach sich in eine Reihe unfruchtbarer und sich im Kreise drehender Spekulationen über das Verhältniß des Denkens zum denkenden Organ, dem Gehirn, verliert - ein Gebiet worauf ihm Starcke mit Vorliebe folgt. Genug, Feuerbach sträubt sich gegen den Namen Materialismus. Und nicht ganz mit Unrecht; denn er wird den Idealisten nie ganz los. Auf dem Gebiet der Natur ist er Materialist; aber auf dem Gebiet der menschlichen J

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[1941 !Dialektik und Naturwissenschaft! [195] !Naturforschung und Dialektik 1) Noten. a. Über die Urbilder des Math[ematischen] Unendlichen in der

wirklichen Welt. b. Über die "mechanische" Naturauffassung. c. Über Nägeli's Unfähigkeit das Unendliche zu erkennen. 2) Alte Vorrede zu Dühring. Über Dialektik. 4) Antheil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. 5) Ausgelassenes aus "Feuerbach".l

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[196] !Dialektik der Natur. 1) Grundformen der Bewegung

2) 3) 4) 5) 6)

die beiden Maße der Bewegung Elektricität und Magnetismus Naturforschung und Geisterwelt Alte Einleitung Fluthreibung I [197] iMath[ematik] und Naturw[issenschaft] Diversa

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1) Historische Einleitung: in d[er] Naturwissensch[aft] durch ihre eigene Entwicklung die metaphysische Auffassung unmöglich geworden. 2) Gang der theoretischen Entwicklung in Deutschland seit Hegel (alte Vorrede) Rückkehr zur Dialektik vollzieht sich unbewußt, daher widerspruchsvoll und langsam. 3) Dialektik als Wissenschaft des Gesammt-Zusammenhangs. Hauptgesetze: Umschlag von Quantität und Qualität- Gegenseitiges Durchdringen der polaren Gegensätze und Ineinander-Umschlagen wenn auf die Spitze getrieben - Entwicklung durch den Widerspruch oder Negation der Negation - spirale Form der Entwicklung. 4) Zusammenhang der Wissenschaften. Mathematik, Mechanik, Physik, Chemie, Biologie. S. Sirnon (Comte) und Hegel. 5) Aper~us über die einzelnen Wissenschaften und deren dialektischen Inhalt: 1) Mathematik: dialektische Hülfsmittel und Wendungen - das math[ematische] Unendliche wirklich vorkommend. 2) Mechanik des Himmels - jetzt aufgelöst in einen Prozeß. Mechanik: Ausgang von der inertia die nur der negative Ausdruck der Unzerstörbarkeit der Bewegung ist. 3) Physik- Übergänge der molekularen Bewegungen in einander. Claus[ius] und Loschmidt. 4) Chemie: Theorien, Energie. 5) Biologie. Darwinismus. Nothwendigkeit und Zufälligkeit. 6) Die Gränzen des Erkennens. Düb[ois]-Reymond und Nägeli- Helmholtz, Kant, Hume. 7) Die mechanische Theorie. Häckel. 8) Die Plastidülseele - Häckel und Nägeli 293

Dialektik der Natur (Systematische Anordnung)

9) Wissenschaft und Lehre - Virchow 10) Zellenstaat- Virchow 11) Darwinistische Politik und Gesellschaftslehre- Häckel und Schmidt. Differentiation des Menschen durch Arbeit. - Anwendung der Oekonomie auf die Naturwissensch[aft] Helmholtz "Arbeit" (Pop. V. II)

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[Historische Einleitung] [57]

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Die moderne Naturwissenschaft- die einzige von der qua Wissenschaft die Rede sein kann gegenüber den genialen Intuitionen der Griechen und den sporadischen zusammenhangslosen Untersuchungen der Araber - beginnt mit jener gewaltigen Epoche die den Feudalismus durch das Bürgerthum brach, im Hintergrund des Kampfs zwischen Städtebürgern und Feudaladel den rebellischen Bauern und hinter dem Bauern die revolutionären Anfänge des modernen Proletariats, schon die rothe Fahne in der Hand und den Kommunismus auf den Lippen, zeigte - die großen Monarchieen in Europa schuf, die geistige Diktatur des Papstes brach, das Griechische Alterthum wieder heraufbeschwor und mit ihm die höchste Kunstentwicklung der neuen Zeit, die Gränzen des alten Orbis durchbrach und die Erde erst eigentlich entdeckte. Es war die größte Revolution die die Erde bis dahin erlebt hatte. Auch die Naturwissenschaft lebte und webte in dieser Revolution war revolutionär durch und durch, ging Hand in Hand mit der erwachenden modernen Philosophie der großen ltaliäner, und lieferte ihre Märtyrer auf den Scheiterhaufen und in die Gefängnisse. Es ist bezeichnend daß Protestanten wie Katholiken in ihrer Verfolgung wetteiferten- die Einen verbrannten Servet, die Andern Giordano Brun.o. Es war eine Zeit die Riesen brauchte und Riesen hervorbrachte, Riesen an Gelehrsamkeit, Geist und Charakter, die Zeit die die Franzosen richtig die Renaissance, das protestantische Europa einseitig bornirt die der Reformation benannten. Auch die Naturwissenschaft hatte damals ihre U nabhängigkeitserklärung, die freilich nicht gleich im Anfang kam, ebensowenig wie Luther der erste

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Dialektik der Natur (Systematische Anordnung)

Protestant gewesen. Was auf religiösem Gebiet die Bullenverbrennung Luthers, war auf naturwissenschaftlichem des Kopernilrus großes Werk worin er, schüchtern zwar, nach 36jährigem Zögern, und sozusagen auf dem Todtenbett, dem kirchlichen Aberglauben den Fehdehandschuh hinwarf. Von da an war die Naturforschung von der Religion wesentlich emancipirt, 5 obwohl die vollständige Auseinandersetzung aller Details sich noch bis heute hingezogen und in manchen Köpfen noch lange nicht fertig ist. Aber von da an ging auch die Entwicklung der Wissenschaft mit Riesenschritten, sie nahm zu sozusagen im quadratischen Verhältniß der zeitlichen Entfernung von ihrem Ausgangspunkt, gleichsam als ob sie der Welt zeigen wollte daß für 10 die Bewegung der höchsten Blüthe der organischen Materie den Menschengeist das umgekehrte Gesetz gelte wie für die Bewegung unorganischer Materie. Die erste Periode der neueren Naturwissenschaft schließt - auf dem Gebiet des Unorganischen - mit Newton ab. Es ist die Periode der Be- 15 wältigung des gegebnen Stoffs, sie hatte im Bereich des Mathematischen, der Mechanik und Astronomie, der Statik und Dynamik, Großes geleistet, besonders durch Kepler und Galilei, aus denen Newton die Schlußfolgerungen zog. Auf dem Gebiet des Organischen aber war man nicht über die ersten Anfänge hinaus. Die Untersuchung der historisch aufeinander fol- 20 genden und sich verdrängenden Lebensformen sowie die der ihnen entsprechenden wechselnden Lebensbedingungen - Paläontologie und Geologie- existirten noch nicht. Die Natur galt überhaupt nicht für etwas das sich historisch entwickelt, das seine Geschichte in der Zeit hat; bloß die Ausdehnung im Raum kam in Betracht; nicht nach einander, nur nebeneinander 25 waren die verschiedneo Formen gruppirt worden; die Naturgeschichte galt für alle Zeiten wie die Ellipsenbahnen der Planeten. Es fehlten für alle nähere Untersuchung der organischen Gebilde die beiden ersten Grundlagen: die Chemie und die Kenntniß der wesentlichen organischen Struktur, der Zelle. Die Anfangs revolutionäre Naturwissenschaft stand vor einer durch und 30 durch konservativen Natur, in der Alles noch heute so war wie von Anfang der Welt an und in der bis zum Ende der Welt Alles so bleiben werde wie es von Anfang an gewesen. Es ist bezeichnend daß diese konservative Naturanschauung sowohl im Anorganischen wie im Organischen. 35 Pflanzenphysiologie Therapeutik Astronomie Physik Geologie Diagnostik Chemie Paläontologie Thierphysiologie Mechanik Mineralogie Anatomie Mathematik Erste Bresche: Kant und Lapl[ace]. 2te: Geologie und Paläontologie, Lyell, langsame Entwicklung. 31•: Organische Chemie die organische Körper her-

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stellt und die Gültigkeit der chemischen Gesetze für d[ie] lebend[en] Körper darstellt. 4'e: 1842, Mechanische Wärme, Grove. 5'e: Lamarck. Zelle etc., Darwin. (Kampf, Cüvier und Agassiz) 6'e: das Vergleichende Element (Wissenschaftliche Reiseexpeditionen seit Mitte 18. Jhdt) .in Anatomie Klimatologie (Isothermen), Thier- und Pflanzengeographie, überhaupt physikalischer Geographie (Humboldt) das Zusammenbringen des Materials in Zusammenhang. Morphologie (Embryologie- Bär.) Die alte Teleologie ist zum Teufel aber fest steht jetzt die Gewißheit daß die Materie in ihrem ewigen Kreislauf nach Gesetzen sich bewegt die auf bestimmter Stufe- bald hier bald da- in organischen Weseu den denkenden Geist mit Nothwendigkeit produzirt. Die normale Existenz der Thiere gegeben in den gleichzeitigen Verhältnissen, worin sie leben und denen sie sich adaptiren - die des Menschen, sobald er sich vom Thier im engeren Sinn differenzirt sind noch nie dagewesen, erst durch künftige historische Entwicklung herauszuarbeiten. Der Mensch ist das einzige Thier das sich aus dem bloß thierischen Zustand herausarbeiten kann - sein Normalzustand ein seinem Bewußtsein angemessener, von ihm selbst zu schaffender.

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(98] [Einleitung]

Die moderne Naturforschung, die einzige die es zu einer wissenschaftlichen, systematischen, allseitigen Entwicklung gebracht hat im Gegensatz zu den genialen naturphilosophischen Intuitionen der Alten und zu den höchst bedeutenden, aber sporadischen und größtentheils resultatlos dahingegangenen Entdeckungen der Araber- die moderne Naturforschung datirt, wie die ganze neuere Geschichte, von jener gewaltigen Epoche die wir Deutsche, nach dem uns damals zugestoßenen Nationalunglück, die Reformation, die Franzosen die Renaissance und die ltaliäner das Cinquecento nennen, und die keiner dieser Namen erschöpfend ausdrückt. Es ist die Epoche die mit der letzten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts anhebt. Das Königthum, sich stützend auf die Städtebürger, brach die Macht des Feudaladels und begründete die großen, wesentlich auf Nationalität basirten Monarchieen, in denen die modernen europäischen Nationen und die moderne bürgerliche Gesellschaft zur Entwicklung kamen; und während noch Bürger und Adel sich in den Haaren lagen, wies der deutsche Bauernkrieg prophetisch hin auf zukünftige Klassenkämpfe, indem er nicht nur die empörten Bauern auf die Bühne führte -das war nichts Neues mehr- sondern hinter ihnen die Anfänge des jetzigen Proletariats, die rothe Fahne in der Hand und die Forderung der Gütergemeinschaft auf den Lippen. In den aus dem Fall von Byzanz geretteten 298

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Manuskripten, in den aus den Ruinen Roms ausgegrabnen antiken Statuen ging dem erstaunten Westen eine neue Welt auf, das griechische Alterthum; vor seinen lichten Gestalten verschwanden die Gespenster des Mittelalters; Italien erhob sich zu einer ungeahnten Blüte der Kunst, die wie ein Widerschein des klassischen Altertbums erschien, und die nie wieder erreicht worden. In Italien, Frankreich, Deutschland entstand eine neue, die erste moderne, Literatur; England und Spanien erlebten bald darauf ihre klassische Literaturepoche. Die Schranken des alten Orbis terrarum wurden durchbrochen, die Erde wurde eigentlich jetzt erst entdeckt, und der Grund gelegt zum späteren Welthandel und zum Übergang des Handwerks in die Manufaktur, die wieder den Ausgangspunkt bildete für die moderne große Industrie. Die geistige Diktatur der Kirche wurde gebrochen, die germanischen Völker warfen sie der Mehrzahl nach direkt ab und nahmen den Protestantismus an, während bei den Romanen eine, von den Arabern übernommene und von der neuentdeckten griechischen Philosophie genährte, heitre Freigeisterei mehr und mehr Wurzel faßte und den Materialismus des 18. Jahrhunderts vorbereitete. Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. Die Männer die die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren Alles, nur nicht bürgerlich beschränkt. Im Gegentheil, der abenteuernde Charakter der Zeit hat sie mehr oder weniger angehaucht. Fast kein bedeutender Mann lebte damals, der nicht weite Reisen gemacht, der nicht vier bis fünf Sprachen sprach, der nicht in mehreren Fächern glänzte. Leonardo da Vinci war nicht nur ein großer Maler, sondern auch ein großer Mathematiker, Mechaniker, und Ingenieur, dem die verschiedensten Zweige der Physik wichtige Entdeckungen verdanken; Albrecht Dürer war Maler, Kupferstecher, Bildhauer, Architekt und erfand außerdem ein System der Fortifikation das schon manche der weit später durch Montalembert und

und den ausgegrabneo antiken Statuen

Literatur Italien Frankreich Deutschland Musik

Resultat Bourgeoisherrschaft

aus der griechischen Philosophie

Abenteuerlicher unbürgerlicher Charakter der Zeit, die Bourg[eois]herrschaft begründet, Reisen, Sprachkenntnisse

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die neuere deutsche Befestigung wieder aufgenommenen Ideen enthält. Macchiavelli war Staatsmann, Geschichtschreiber, Dichter, und zugleich der erste nennenswerthe Militärschriftsteller der neueren Zeit. Luther fegte nicht nur den Augiasstall der Kirche, sondern auch den der deutschen Sprache aus, schuf die moderne deutsche Prosa und dichtete Text und Melodie jenes siegesgewissen Chorals der die Marseillaise des 16ten Jahrhunderts wurde. Die Heroen jener Zeit waren eben noch nicht unter die Theilung der Arbeit geknechtet deren beschränkende, einseitig machende Wirkungen wir so oft an ihren Nachfolgern verspüren. Was ihnen aber besonders eigen, das ist daß sie fast Alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben und weben, Partei ergreifen und mitkämpfen, der mit Wort und Schrift, der mit dem Degen, Manche mit Beidem. Daher jene Fülle und Kraft des Charakters, die sie zu ganzen Männern macht. Stubengelehrte sind die Ausnahme, entweder Leute zweiten und dritten Rangs, oder vorsichtige Philister die sich die Finger nicht verbrennen wollen. Auch die Naturforschung bewegte sich damals mitten in der allgemeinen Revolution und war selbst durch und durch revolutionär; hatte sie sich doch das Recht der Existenz zu erkämpfen. Hand in Hand mit den großen ltaliänern von denen die neuere Philosophie datirt, lieferte sie ihre Märtyrer auf den Scheiterhaufen und in die Gefängnisse der Inquisition. Und bezeichnend ist daß Protestanten den Katholiken vorauseilten in der Verfolgung der freien Naturforschung. Calvin verbrannte Servet als dieser auf dem Sprunge stand den Lauf der Blutcirkulation zu entdecken; und zwar ließ er ihn zwei Stunden lebendig braten; die Inquisition begnügte sich wenigstens damit, Giordano Bruno einfach zu verbrennen. Der revolutionäre Akt wodurch die Naturforschung ihre Unabhängigkeit erklärte, und die Bullenverbrennung Luthers gleichsam wiederholte, war die Herausgabe des unsterblichen Werks womit Kopernikus, schüchtern zwar und sozusagen erst auf dem Todtenbett, der kirchlichen Autorität in natürlichen Dingen den

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Fehdehandschuh hinwarf. Von da an datirt die Emancipation der Naturforschung von der Theologie; wenn auch die Auseinandersetzung der einzelnen gegenseitigen Anspruche sich bis in unsre Tage hingeschleppt und 5 sich in manchen Köpfen noch lange nicht vollzogen hat. Aber von da an ging auch die Entwicklung der Wissenschaften mit Riesenschritten vor sich und gewann an Kraft, man kann wohl sagen im quadratischen Verhältniß der (zeitlichen) Entfernung von ihrem Aus10 gangspunkt. Es war als sollte der Welt bewiesen werden, daß von jetzt an für das höchste Produkt der organischen Materie, den menschlichen Geist, das umgekehrte Bewegungsgesetz gelte wie für den anorganischen Stoff. 15 Die Hauptarbeit. in der nun angehrochneo ersten Periode der Naturwissenschaft, war die Bewältigung des nächstliegenden Stoffs. Auf den meisten Gebieten mußte ganz aus dem Rohen angefangen werden. Das Alterthum hatte den Euklid und das ptolemäische 20 Sonnensystem, die Araber die Decimalnotation, die Anfänge der Algebra, die modernen Zahlen, und die Alchymie hinterlassen; das christliche Mittelalter, gar nichts. Nothwendig nahm in dieser Lage die elementarste Naturwissenschaft, die Mechanik der irdischen und 25 himmlischen Körper, den ersten Rang ein, und neben ihr, in ihrem Dienst, die Entdeckung und Vervollkommnung der mathematischen Methoden. Hier wurde Großes geleistet. Am Ende der Periode, das durch Newton und Linne bezeichnet wird, finden wir diese 30 Zweige der Wissenschaft zu einem gewissen Abschluß gebracht. Die wesentlichsten mathematischen Methoden sind in den Grundzügen festgestellt; die analytische Geometrie vorzüglich durch Descartes, die Logarithmen durch Neper, die Differential- und lntegral35 rechnungdurch Leibnitz und vielleicht Newton. Dasselbe gilt von der Mechanik fester Körper, deren Hauptgesetze ein für alle Mal klargestellt waren. Endlich in der Astronomie des Sonnensystems hatte Kepler die Gesetze der Planetenbewegung entdeckt und Newton 40 sie unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Bewegungsgesetze der Materie gefaßt. Die andern Zweige der

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Dialektik der Natur (Systematische Anordnung)

Naturwissenschaft waren weit entfernt selbst von diesem vorläufigen Abschluß. Die Mechanik der flüssigen und gasförmigen Körper wurde erst gegen Ende der Periode mehr bearbeitet; die eigentliche Physik war noch nicht über die ersten Anfänge hinaus wenn wir die Optik ausnehmen, deren ausnahmsweise Fortschritte durch das praktische Bedürfniß der Astronomie hervorgerufen wurden. Die Chemie emancipirte sich eben erst durch die phlogistische Theorie von der Alchymie. Die Geologie war noch nicht über die embryonische Stufe der Mineralogie hinaus; die Paläontologie konnte also noch gar nicht existiren. Endlich im Gebiet der Biologie war man noch wesentlich beschäftigt mit der Sammlung und ersten Sichtung des ungeheuren Stoffs, sowohl des botanischen und zoologischen, wie des anatomischen und eigentlich physiologischen. Von Vergleichung der Lebensformen unter einander, von Untersuchung ihrer geographischen Verbreitung, ihrer klimatologischen etc. Lebensbedingungen, konnte noch kaum die Rede sein. Hier erreichte nur Botanik und Zoologie einen annähernden Abschluß durch Linne. Was diese Periode aber besonders charakterisirt, ist die Herausarbeitung einer eigenthümlichen Gesammtanschauung, deren Mittelpunkt die Ansicht von der absoluten Unveränderlichkeit der Natur bildet. Wie auch immer die Natur selbst zu Stande gekommen sein mochte: einmal vorhanden, blieb sie wie sie war, solange sie bestand. Die Planeten und ihre Satelliten, einmal in Bewegung gesetzt von dem geheimnißvollen "ersten Anstoß", kreisten fort und fort in ihren vorgeschriebnen Ellipsen, in alle Ewigkeit oder doch bis zum Ende aller Dinge. Die Sterne ruhten für immer fest und unbeweglich auf ihren Plätzen, einander darin haltend durch die "allgemeine Gravitation". Die Erde war von je her, oder auch von ihrem Schöpfungstage an Ge nachdem) unverändert dieselbe geblieben. Die jetzigen "fünf Welttheile" hatten immer bestanden, immer dieselben Berge, Thäler und Flüsse, dasselbe Klima, dieselbe Flora und Fauna gehabt, es sei denn daß durch Menschenhand Veränderung oder Verpflanzung stattgefunden. Die Arten der Pflanzen und Thiere waren bei ihrer Ent-

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Torricelli bei Gelegenheit der Alpenstromregulirung

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von Vergleiebender Anatomie, klimat[ ologischer] Vertheilung, Thier- und Pflanzengeographie noch keine Rede

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stehung ein für allemal festgestellt, Gleiches zeugte fortwährend Gleiches, und es war schon viel wenn Linne zugab daß hier und dadurch Kreuzung möglicher Weise neue Arten entstehn könnten. Im Gegensatz zur Geschichte der Menschheit, die in der Zeit sich entwickelt, wurde der Naturgeschichte nur eine Entfaltung im Raum zugeschrieben. Alle Veränderung, alle Entwicklung in der Natur wurde verneint. Die Anfangs so revolutionäre Naturwissenschaft stand plötzlich vor einer durch und durch konservativen Natur, in der Alles noch heute so war wie es von Anfang an gewesen und inder-bis zum Ende der Welt oder in Ewigkeit- Alles so bleiben sollte wie es von Anfang an gewesen. So hoch die Naturwissenschaft der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts über dem griechischen Alterthum stand an Kenntniß und selbst an Sichtung des Stoffs, so tief stand sie unter ihm in der ideellen Bewältigung desselben, in der allgemeinen Naturanschauung. Den griechischen Philosophen war die Welt wesendich etwas aus dem Chaos Hervorgegangnes, etwas Entwickeltes, etwas Gewordenes. Den Naturforschern der Periode die wir behandeln, war sie etwas Verknöchertes, etwas Unwandelbares, den Meisten etwas mit Einem Schlage Gemachtes. Die Wissenschaft stak noch tief in der Theologie. Überall sucht sie und findet sie als Letztes einen Anstoß von Außen, der aus der Natur selbst nicht zu erklären. Wird auch die Anziehung, von Newton pompöser Weise allgemeine Gravitation getauft, als wesentliche Eigenschaft der Materie aufgefaßt, woher kommt die unerklärte Tangentialkraft, die erst die Planetenbahnen zu Stande bringt? Wie sind die zahllosen Arten der Pflanzen und Thiere entstanden? Und wie nun gar erst der Mensch, von dem doch feststand daß er nicht von Ewigkeit her dawar? Auf solche Fragen antwortete die Naturwissenschaft nur zu oft indem sie den Schöpfer aller Dinge dafür verantwortlich machte. Kopernikus, im Anfang der Periode, schreibt der Theologie den Absagebrief; Newton schließt sie mit dem Postulat des göttlichen ersten Anstoßes. Der höchste allgemeine Gedanke zu dem diese Naturwissenschaft sich aufschwang, war der der

Schwierigkeit mit dem Menschen der doch nicht von Ewigkeit her existirt. Kopernik[us] schreibt d[er] Theol[ogie] den Absagebrief und Newton endigt mit dem Postulat des

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Zweckmäßigkeit der Natureinrichtungen, die flache Wolfsehe Teleologie wonach die Katzen geschaffen wurden um die Mäuse zu fressen, die Mäuse, um von den Katzen gefressen zu werden, und die ganze Natur, um die Weisheit des Schöpfers darzuthun. Es gereicht der damaligen Philosophie zur höchsten Ehre daß sie sich durch den beschränkten Stand der gleichzeitigen Naturkenntnisse nicht beirren ließ, daß sie - von Spinoza bis zu den großen französischen Materialistendarauf beharrte die Welt aus sich selbst zu erklären, und der Naturwissenschaft der Zukunft die Rechtfertigung im Detail überließ. Ich rechne die Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts noch mit zu dieser Periode, weil ihnen kein andres naturwissenschaftliches Material zu Gebote stand als das oben geschilderte. Kant's epochemachende Schrift blieb ihnen ein Geheimniß, und Laplace kam lange nach ihnen. Vergessen wir nicht daß diese veraltete Naturanschauung, obwohl an allen Ecken und Enden durchlöchert durch den Fortschritt der Wissenschaft, die ganze erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beherrscht hat und noch jetzt, der Hauptsache nach, auf allen Schulen gelehit wird. x> Die erste Bresche in diese versteinerte Naturanschauung wurde geschossen nicht durch einen Naturforscher, sondern durch einen Philosophen. 1755 erschien Kant's Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Die Frage nach dem ersten Anstoß war beseitigt; die Erde und das ganze Sonnensystem erschienen als etwas im Verlauf der Zeit Gewordenes. Hätte die große Mehrzahl der Naturforscher weniger von dem Abscheu vor dem Denken gehabt, den Newton mit der Warnung ausspricht: Physik, hüte dich vor der Metaphysik! -sie hätten aus dieser einen genialen Entdeckung Kant's Folgerungen ziehn müssen, die ihnen endlose Abwege, unermeßliche Mengen in falschen Richtungen vergeux) (Anmerkung) Wie unerschütterlich, noch 1861, ein Mann an diese Ansicht glauben kann, dessen wissenschaftliche Leistungen höchst bedeutendes Material zu ihrer Beseitigung geliefert haben, zeigen folgende klassischen Worte: "Alle.: . in sich." (Mädler, Pop. Astr., Berlin 1861, 5.Aufl. p. 316.)

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göttlichen Anstoßes Teleologie 5

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Die Fertigkeit der alten Naturanschauung lieferte den Boden zur allgemeinen Zusammenfassung der gesammten Naturwissenschaft als ein Ganzes: die franz[ ösische] Encycl[opädie], noch rein mechanisch nebeneinander, dann gleichzeitig S.Simon und die deutsche N aturphilosophie, vollendet durch Heget.

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deter Zeit und Arbeit ersparte. Denn in Kant's Entdeckung lag der Springpunkt alles ferneren Fortschritts. War die Erde etwas Gewordenes, so mußte ihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zustand, mußten ihre Pflanzen und Thiere ebenfalls etwas Gewordenes sein, mußten sie eine Geschichte haben, nicht nur im Raum nebeneinander, sondern auch in der Zeit nacheinander. Wäre sofort in dieser Richtung entschlossen fortuntersucht worden, die Naturwissenschaft wäre jetzt bedeutend weiter als sie ist. Aber was konnte von der Philosophie Gutes kommen? Kant's Schrift blieb ohne unmittelbares Resultat, bis lange Jahre später Laplace und Herschel ihren Inhalt ausführten und näher begründeten, und damit die "Nebularhypothese" allmählig zu Ehren brachten. Fernere Entdeckungen verschafften ihr endlich den Sieg; die wichtigsten darunter waren: die Eigenbewegung der Fixsterne, der Nachweis eines widerstehenden Mittels im Weltraum, der durch die Spektralanalyse geführte Beweis der chemischen Identität der Weltmaterie und des Bestehens solcher glühenden Nebelmassen wie Kant sie vorausgesetzt. Es ist aber erlaubt zu zweifeln, ob der Mehrzahl der Naturforscher der Widerspruch einer sich verändernden Erde, die unveränderliche Organismen tragen soll, sobald zum Bewußtsein gekommen wäre, hätte die aufdämmernde Anschauung daß die Natur nicht ist sondern wird und vergeht, nicht von andrer Seite Sukkurs bekommen. Die Geologie entstand, und wies nicht nur nach einander gebildete und über einander gelagerte Erdschichten auf, sondern auch in diesen Schichten die erhaltenen Schalen und Skelette ausgestorbner Thiere, die Stämme, Blätter und Früchte nicht mehr vorkommender Pflanzen. Man mußte sich entschließen anzuerkennen daß nicht nur die Erde im Ganzen und Großen, daß auch ihre jetzige Oberfläche und die darauf lebenden Pflanzen und Thiere eine zeitliche Geschichte hatten. Die Anerkennung geschah Anfangs widerwillig genug. Cuvier's Theorie von den Revolutionen der Erde war revolutionär in der Phrase und reaktionär in der Sache. An die Stelle der Einen göttlichen Schöpfung

Flutwellenrotationshemmung auch von Kant erst jetzt verstanden.

FixsternbewegungSpektral-Analyse Nebelflecke Widerstehendes Medium des Weltraums

und vergeht

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Dialektik der Natur (Systematische Anordnung)

setzte sie eine ganze Reihe wiederholter Schöpfungsakte, machte das Mirakel zu einem wesentlichen Hebel der Natur. Erst Lyell brachte Verstand in die Geologie, indem er die plötzlichen, durch die Launen des Schöpfers hervorgerufenen Revolutionen ersetzte durch die allmähligen Wirkungen einer langsamen Umgestaltung der Erde.xJ Die Lyellsche Theorie war noch unverträglicher mit der Annahme beständiger organischer Arten als alle ihre Vorgängerinnen. Allmählige Umgestaltung der Erdoberfläche und aller Lebensbedingungen führte direkt auf allmählige Umgestaltung der Organismen und ihre Anpassung an die sich ändernde Umgebung, auf die Wandelbarkeit der Arten. Aber die Tradition ist eine Macht nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch in der Naturwissenschaft. Lyell selbst sah jahrelang den Widerspruch nicht, seine Schüler noch weniger. Es ist dies nur zu erklären durch die inzwischen in der Naturwissenschaft herrschend gewordene Theilung der Arbeit, die Jeden auf sein specielles Fach mehr oder weniger beschränkte und nur Wenige nicht des allgemeinen Überblicks beraubte. Inzwischen hatte die Physik gewaltige Fortschritte gemacht, deren Resultate in dem, für diesen Zweig der Naturforschung epochemachenden Jahr 1842 von drei verschiedenen Männern fast gleichzeitig zusammen gefaßt wurden. Mayer in Heilbronn und Joule in Manchester wiesen den Umschlag von Wärme in mechanische Kraft und von mechanischer Kraft in Wärme nach. Die Feststellung des mechanischen Aequivalents der Wärme stellte dies Resultat außer Frage. Gleichzeitig bewies Grove- kein Naturforscher von Profession sondern ein englischer Advokat - durch einfache Verarbeitung der bereits erreichten, einzelnen physikalischen Resultate die Thatsache daß alle s. g. physikalischen Kräfte, mechanische Kraft, Wärme, Licht, '' Der Mangel der Lyellschen Anschauung- wenigstens in ihrer ersten Form - lag darin daß sie die auf der Erde wirkenden Kräfte als konstant auffaßte, konstant nach Qualität und Quantität. Die Abkühlung der Erde besteht nicht für ihn; die Erde entwickelt sich nicht in bestimmter Richtung, sie verändert sich bloß in zusammenhangsloser, zufälliger Weise.

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zu erklären durch Theilung der Arbeit.

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Elektricität, Magnetismus, ja selbst die s. g. chemische Kraft unter bestimmten Bedingungen die eine in die andre umschlagen, ohne daß irgend welcher Kraftverlust stattfindet, und bewies so nachträglich auf physikalischem Wege den Satz des Descartes daß die Quantität der in der Welt vorhandenen Bewegung unveränderlich ist. Hiermit waren die besondren physikalischen Kräfte, sozusagen die unveränderlichen "Arten" der Physik in verschieden differenzirte und nach bestimmten Gesetzen in einander übergehende Bewegungsformen der Materie aufgelöst. Die Zufälligkeit des Bestehens von so und so viel physikalischen Kräften war aus der Wissenschaft beseitigt, indem ihre Zusammenhänge und Übergänge nachgewiesen. Die Physik war, wie schon die Astronomie, bei einem Resultat angekommen das mit Nothwendigkeit auf den ewigen Kreislauf der sich bewegenden Materie als Letztes hinwies. Die wunderbar rasche Entwicklung der Chemie seit Lavoisier und besonders seit Dalton griff die alten Vorstellungen von der Natur von einer andern Seite an. Durch Herstellung von bisher nur im lebenden Organismus erzeugten Verbindungen auf anorganischem Wege wies sie nach daß die Gesetze der Chemie für organische Körper dieselbe Gültigkeit haben wie für unorganische, und füllte sie einen großen Theil der, noch nach Kant, auf ewig unüberschreitbaren Kluft zwischen unorganischer und organischer Natur aus. Endlich hatten auch auf dem Gebiet der biologischen Forschung namentlich die seit Mitte des vorigen Jahrhunderts systematisch betriebneo wissenschaftlichen Reisen und Expeditionen, die genauere Durchforschung der europäischen Kolonieen in allen Welttheilen durch dort lebende Fachleute, ferner die Fortschritte der Paläontologie, der Anatomie und Physiologie überhaupt (besonders seit systematischer Anwendung des Mikroskops und Entdeckung der Zelle) soviel Material gesammelt daß die Anwendung der vergleichenden Methode möglich und zugleich nothwendig wurde. Einerseits wurden durch die vergleichende physische Geographie die Lebensbedingungen der verschiedneo Floren und Faunen festgestellt, andrerseits die ver-

die Kräfte finden ihre Einheit in der Bewegung der Materie, die Zufälligkeit daß so und so viel Kräfte bestehn, abgeschafft, Einheit in die physikalische Weltanschauung gebracht, und Einklang mit den allgemeinen Resultaten der Forschung: ewiger Kreislauf

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schiednen Organismen nach ihren homologen Organen unter einander verglichen, und zwar nicht nur im Zustand der Reife, sondern auf allen ihren Entwicklungsstufen. Je tiefer und genauer diese Untersuchung geführt wurde, desto mehr zerfloß ihr unter den Händen jenes starre System einer unveränderlich fixirten organischen Natur. Nicht nur daß immer mehr einzelne Arten von Pflanzen und Thieren rettungslos in einander verschwammen, es tauchten Thiere auf wie Amphioxus und Lepidosiren die · aller bisherigen Klassification spotteten und endlich stieß man auf Organismen von denen nicht einmal zu sagen war ob sie zum Pflanzenreich oder zum Thierreich gehörten. Die Lücken im paläontologischen Archiv füllten sich mehr und mehr, und zwangen auch dem Widerstrebendsten den schlagenden Parallelismus auf, der zwischen der Entwicklungsgeschichte der organischen Welt im Ganzen und Großen und der des einzelnen Organismus besteht, den Ariadnefaden der aus dem Labyrinth führen sollte, worin Botanik und Zoologie sich tiefer und tiefer zu verirren schienen. Es war bezeichnend daß fast gleichzeitig mit Kant's Angriff auf die Ewigkeit des Sonnensystems, C. F. Wolff 1759 den ersten Angriff auf die Beständigkeit der Arten erließ und die Abstammungslehre proklamirte. Aber was bei ihm nur noch geniale Anticipation, das nahm bei Oken, Lamarck, Bär feste Gestalt an und wurde genau 100 Jahre später, 1859, von Darwin sieghaft durchgeführt. Fast gleichzeitig wurde konstatirt daß Protoplasma und Zelle, die schon früher als letzte Formbestandtheile aller Organismen nachgewiesen, als niedrigste organische Formen selbstständig lebend vorkommen. Damit war sowohl die Kluft zwischen anorganischer und organischer Natur auf ein Minimum reduzirt, wie auch eine der wesentlichsten Schwierigkeiten beseitigt, die der Abstammungstheorie der Organismen bisher entgegenstand. Die neue Naturanschauung war in ihren Grundzügen fertig: alles Starre war aufgelöst, alles Fixirte verflüchtigt, alles für ewig gehaltene Besondere vergänglich geworden, die ganze Natur als in ewigem Fluß und Kreislauf sich bewegend nachgewiesen.

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Und so sind wir denn wieder zurückgekehrt zu der Anschauungsweise der großen Gründer der griechischen Philosophie, daß die gesammte Natur, vom Kleinsten bis zum Größten, von den Sandkörnern bis zu den Sonnen, von den Protisten bis zum Menschen, in ewigem Entstehen und Vergehen, in 5 unaufhörlichem Fluß, in rastloser Bewegung und Veränderung ihr Dasein hat. Nur mit dem wesentlichen Unterschied daß, was bei den Griechen geniale Intuition war, bei uns Resultat streng wissenschaftlicher erfahrungsmäßiger Forschung ist, und daher auch in viel bestimmterer und klarerer Form auftritt. Allerdings ist der empirische Nachweis dieses Kreislaufs nicht 10 ganz und gar frei von Lücken, aber diese sind unbedeutend im Vergleich zu dem was bereits sicher gestellt ist, und füllen sich mit jedem Jahr mehr und mehr aus. Und wie könnte der Nachweis im Detail anders als lückenhaft sein wenn man bedenkt daß die wesentlichsten Zweige der Wissenschaft - die transplanetarische Astronomie, die Chemie, die Geologie kaum ein Jahr15 hundert, die vergleichende Methode in der Physiologie kaum fünfzig Jahre wissenschaftlicher Existenz zählen, daß die Grundform fast aller Lebensentwicklung, die Zelle, noch nicht vierzig Jahre entdeckt ist! Aus wirbelnden, glühenden Dunstmassen, deren Bewegungsgesetze viel20 leicht erschlossen werden nachdem die Beobachtungen einiger Jahrhunderte uns über die Eigenbewegung der Sterne Klarheit verschafft, entwickelten sich durch Zusammenziehung und Abkühlung die zahllosen Sonnen und Sonnensysteme unsrer, von den äußersten Sternringen der Milchstraße begränzten Weltinsel. Diese Entwicklung ging offenbar nicht überall gleich 25 schnell vorsieh. Die Existenz dunkler, nicht bloß planetarischer Körper, also ausgeglühter Sonnen, in unserm Sternsystem drängt sich der Astronomie mehr und mehr auf (Mädler); andrerseits gehört (nach Secchi) einTheil der dunstförmigen Nebelflecke als noch nicht fertige Sonnen zu unserm Sternsystem; wodurch nicht ausgeschlossen ist daß andre Nebel, wie Mädler 30 behauptet, ferne selbstständige Weltinseln sind, deren relative Entwicklungsstufe das Spektroskop festzustellen hat. Wie aus einer einzelnen Dunstmasse ein Sonnensystem sich entwickelt, hat Laplace im Detail, in bis jetzt unübertroffener Weise nachgewiesen; die spätere Wissenschaft hat ihn mehr und mehr bestätigt. 35 Auf den so gebildeten einzelnen Körpern - Sonnen wie Planeten und Satelliten- herrscht Anfangs diejenige Bewegungsform der Materie vor die wir Wärme nennen. Von chemischen Verbindungen der Elemente kann selbst bei einer Temperatur wie sie heute noch die Sonne hat, keine Rede sein; in wie weit die Wärme sich dabei in Elektricität oder Magnetismus 40 umsetzt, werden fortgesetzte Sonnenbeobachtungen zeigen; daß die auf der Sonne vorgehenden mechanischen Bewegungen lediglich aus dem Konflikt

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der Wärme mit der Schwere hervorgehn, ist schon jetzt so gut wie ausgemacht. Die einzelnen Körper kühlen sich um so rascher ab, je kleiner sie sind. Satelliten, Asteroiden, Meteore zuerst, wie denn ja unser Mond längst verstorben ist. Langsamer die Planeten, am langsamsten der Centralkörper. Mit der fortschreitenden Abkühlung tritt das Wechselspiel der in einander umschlagenden physikalischen Bewegungsformen mehr und mehr in den Vordergrund, bis endlich ein Punkt erreicht wird von wo an die chemische Verwandtschaft anfängt sich geltend zu machen, wo die bisher chemisch indifferenten Elemente sich nach einander chemisch differenziren, chemisehe Eigenschaften erlangen, Verbindungen mit einander eingehn. Diese Verbindungen wechseln fortwährend mit der abnehmenden Temperatur, die nicht nur jedes Element, sondern auch jede einzelne Verbindung von Elementen verschieden beeinflußt, mit dem davon abhängenden Übergang eines Theils der gasförmigen Materie zuerst in den flüssigen dann in den festen Zustand, und mit den dadurch geschaffenen neuen Bedingungen. Die Zeit wo der Planet eine feste Rinde und Wasseransammlungen auf ihrer Oberfläche hat, fällt zusammen mit der, von wo an seine Eigenwärme mehr und mehr zurück tritt gegen die ihm zugesandte Wärme des Centralkörpers. Seine Atmosphäre wird der Schauplatz meteorologischer Erscheinungen in dem Sinne wie wir das Wort jetzt verstehn, seine Oberfläche der Schauplatz geologischer Veränderungen, bei denen die durch atmosphärische Niederschläge herbeigeführten Ablagerungen immer mehr Übergewicht erlangen über die sich langsam abschwächenden Wirkungen nach Außen des heißflüssigen lnnern. Gleicht sich endlich die Temperatur soweit aus, daß sie wenigstens an einer beträchtlichen Stelle der Oberfläche die Gränzen nicht mehr überschreitet in denen das Eiweiß lebensfähig ist, so bildet sich, unter sonst günstigen chemischen Vorbedingungen, lebendiges Protoplasma. Welches diese Vorbedingungen sind, wissen wir heute noch nicht, was nicht zu verwundern, da nicht einmal die chemische Formel des Eiweißes bis jetzt feststeht, wir noch nicht einmal wissen wie viel chemisch verschiedene Eiweißkörper es gibt, und da erst seit ungefähr zehn Jahren die Thatsache bekannt ist daß vollkommen strukturloses Eiweiß alle wesentlichen Funktionen des Lebens, Verdauung, Ausscheidung, Bewegung, Contraktion, Reaktion gegen Reize, Fortpflanzung, vollzieht. Es mag Jahrtausende gedauert haben, bis die Bedingungen eintraten unter denen der nächste Fortschritt geschehn, und dies formlose Eiweiß, durch Bildung von Kern und Haut die erste Zelle herstellen konnte. Aber mit dieser ersten Zelle war auch die Grundlage der Formbildung der ganzen organischen Welt gegeben; zuerst entwickelten sich, wie wir nach der ganzen

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Analogie des paläontologischen Archivs annehmen dürfen, zahllose Arten zellenloser und zelliger Protisten, wovon das einzige Eozoon Canadense uns überliefert, und wovon Einige allmählig zu den ersten Pflanzen, Andre zu den ersten Thieren sich differenzirten. Und von den ersten Thieren aus 5 entwickelten sich, wesentlich durch weitere Differenzirung, die zahllosen Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten der Thiere, zuletzt die Form in der das Nervensystem zu seiner vollsten Entwicklung kommt, die der Wirbelthiere, und wieder zuletzt unter diesen das Wirbelthier, in dem die Natur das Bewußtsein ihrer selbst erlangt- der Mensch. 1o Auch der Mensch entsteht durch Differenzirung. Nicht nur individuell, aus einer einzigen Eizelle bis zum komplicirtesten Organismus differenzirt den die Natur hervorbringt - nein, auch historisch. Als nach jahrtausendlangem Ringen die Differenzirung der Hand vom Fuß, der aufrechte Gang, endlich festgestellt, da war der Mensch vom Affen geschieden, da war der Grund 15 gelegt zur Entwicklung der artikulirten Sprache und zu der gewaltigen Ausbildung des Gehirns, die seitdem die Kluft zwischen Menschen und Affen unübersteiglich gemacht hat. Die Specialisirung der Hand - das bedeutet das Werkzeug, und das Werkzeug bedeutet die specifisch menschliche Thätigkeit, die umgestaltende Rückwirkung des Menschen auf die 20 Natur, die Produktion. Auch Thiere im engernSinn haben Werkzeuge, aber nur als Glieder ihres Leibes- die Ameise, die Biene, der Biber;- auch Thiere produziren, aber ihre produktive Einwirkung auf die umgebende Natur ist dieser gegenüber gleich Null. Nur der Mensch hat es fertig gebracht der Natur seinen Stempel aufzudrücken, indem er nicht nur Pflanzen und Thiere 25 versetzte sondern auch den Aspekt, das Klima seines Wohnorts, ja die Pflanzen und Thiere selbst so veränderte, daß die Folgen seiner Thätigkeit nur mit dem allgemeinen Absterben des Erdballs verschwinden können. Und das hat er fertig gebracht zunächst und wesentlich vermittelst der Hand. Selbst die Dampfmaschine, bis jetzt sein mächtigstes Werkzeug zur Um30 gestaltungder Natur, beruht, weil Werkzeug, in letzter Instanz auf der Hand. Aber mit der Hand entwickelte sich Schritt für Schritt der Kopf, kam das Bewußtsein zuerst der Bedingungen einzelner praktischer Nutzeffekte, und später, bei den begünstigteren Völkern, daraus hervorgehend, die Einsicht in die sie bedingenden Naturgesetze. Und mit der rasch wachsenden Kennt35 niß der Naturgesetze wuchsen die Mittel der Rückwirkung auf die Natur; die Hand allein hätte die Dampfmaschine nie fertig gebracht, hätte das Gehirn des Menschen sich nicht mit und neben ihr und theilweise durch sie correlativ entwickelt. Mit dem Menschen treten wir ein in die Geschichte. Auch die Thiere haben 40 eine Geschichte, die ihrer Abstammung und allmähligen Entwicklung bis auf ihren heutigen Stand. Aber diese Geschichte wird für sie gemacht, und soweit

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sie selbst daran Theil nehmen, geschieht es ohne ihr Wissen und Wollen. Die Menschen dagegen, jemehr sie sich vom Thier im engeren Sinn entfernen, desto mehr machen sie ihre Geschichte selbst, mit Bewußtsein, desto geringer wird der Einfluß unvorhergesehener Wirkungen, unkontrollirter Kräfte auf diese Geschichte, desto genauer entspricht der geschichtliche Erfolg dem vorher festgestellten Zweck. Legen wir aber diesen Maßstab an die menschliche Geschichte, selbst der entwickeltsten Völker der Gegenwart, so finden wir daß hier noch immer ein kolossales MißverhältniS besteht zwischen den vorgesteckten Zielen und den erreichten Resultaten, daß die unvorhergesehenen Wirkungen vorherrschen, daß die unkontrollirten Kräfte weit mächtiger sind als die planmäßig in Bewegung gesetzten. Und dies kann nicht anders sein, solange die wesentlichste geschichtliche Thätigkeit der Menschen, diejenige die sie aus der Thierheit zur Menschheit emporgehoben hat, die die materielle Grundlage aller ihrer übrigen Thätigkeiten bildet, die Produktion ihrer Lebensbedürfnisse, das heißt heutzutage die gesellschaftliehe Produktion, erst recht dem Wechselspiel unbeabsichtigter Einwirkungen von unkontrollirten Kräften unterworfen ist und den gewollten Zweck nur ausnahmsweise, weit häufiger aber sein grades Gegentheil realisirt. Wir haben in den fortgeschrittensten Industrieländern die Naturkräfte gebändigt und in den Dienst der Menschen gepreßt; wir haben damit die Produktion ins Unendliche vervielfacht, sodaß ein Kind jetzt mehr erzeugt als früher hundert Erwachsene. Und was ist die Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend der Massen und alle zehn Jahre ein großer Krach. Darwin wußte nicht welche bittre Satire er auf die Menschen und besonders auf seine Landsleute schrieb als er nachwies daß die freie Konkurrenz, der Kampf ums Dasein, den die Oekonomen als höchste geschichtliche Errungenschaft feiern, der Normalzustand des Thierreichs ist. Erst eine bewußte Organisation der gesellschaftlichen Produktion, in der planmäßig produzirt und vertheilt wird, kann die Menschen ebenso in gesellschaftlicher Beziehung aus der übrigen Thierwelt herausheben wie dies die Produktion überhaupt für die Menschen in specifischer Beziehung gethan hat. Die geschichtliche Entwicklung macht eine solche Organisation täglich unumgänglicher aber auch täglich möglicher. Von ihr wird eine neue Geschichtsepoche datiren in der die Menschen selbst, und mit ihnen alle Zweige ihrer Thätigkeit, namentlich auch die Naturwissenschaft, einen Aufschwung nehmen werden der alles Bisherige in tiefen Schatten stellt. Indeß, Alles was entsteht ist werth daß es zu Grunde geht. MillionenJahre mögen darüber vergehn, Hunderttausende von Geschlechtern geboren werden und sterben; aber unerbittlich rückt die Zeit heran wo die sich erschöpfende Sonnenwärme nicht mehr ausreicht das von den Polen herandrängende Eis zu schmelzen, wo die sich mehr und mehr um den Aequator

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zusammendrängenden Menschen endlich auch dort nicht mehr Wärme genug zum Leben finden, wo nach und nach auch die letzte Spur organischen Lebens verschwindet und die Erde, ein erstorbner, erfrorner Ball wie der Mond, in tiefer Finsterniß und in immer engeren Bahnen um die ebenfalls erstorbne Sonne kreist und endlich hineinfällt. Andre Planeten werden ihr vorangegangen sein, andre folgen ihr; anstatt des harmonisch gegliederten, hellen, warmen Sonnensystems verfolgt nur noch eine kalte todte Kugel ihren einsamen Weg durch den Weltraum. Und so wie unsrem Sonnensystem, ergeht es früher oder später allen andern Systemen unsrer Weltinsel, ergeht es denen aller übrigen zahllosen Weltinseln, selbst denen deren Licht nie die Erde erreicht solange ein Menschliches Aug auf ihr lebt es zu empfangen. Und wenn nun ein solches Sonnensystem seinen Lebenslauf vollbracht und dem Schicksal alles Endlichen, dem Tode verfallen ist, wie dann? Wird die Sonnenleiche in Ewigkeit als Leiche durch den unendlichen Raum fortrollen und alle die ehemals unendlich mannichfaltig differenzirten Naturkräfte für immer in die eine Bewegungsform der Attraktion aufgehn? "Oder", wie Secchi fragt, (p. 810) "sind Kräfte in der Natur vorhanden welche das todte System in den anfänglichen Zustand des glühenden Nebels zurückversetzen und es zu neuem Leben wieder aufwecken können? Wir wissen es nicht." Allerdings wissen wir das nicht in dem Sinn wie wir wissen daß 2 x 2 = 4 ist oder daß die Attraktion der Materie zu- und abnimmt nach dem Quadrat der Entfernung. Aber in der theoretischen Naturwissenschaft, die ihre Naturanschauung möglichst zu einem harmonischen Ganzen verarbeitet, und ohne die heutzutage selbst der gedankenloseste Empiriker nicht vom Fleck kommt, haben wir sehr oft mit unvollkommen bekannten Größen zu rechnen, und hat die Konsequenz des Gedankens zu allen Zeiten der mangelhaften Kenntniß forthelfen müssen. Nun hat die moderne NaturWissenschaft den Satz von der Unzerstörbarkeit der Bewegung von der Philosophie adoptiren müssen; ohne ihn kann sie nicht mehr bestehn. Die Bewegung der Materie aber, das ist nicht bloß die grobe mechanische Bewegung, die bloße Ortsveränderung, das ist Wärme und Licht, elektrische und magnetische Spannung, chemisches Zusammengehn und Auseinandergehn, Leben und schließlich Bewußtsein. Sagen, daß die Materie während ihrer ganzen zeitlos unbegränzten Existenz nur ein einziges Mal, und für eine, ihrer Ewigkeit gegenüber verschwindend kurze Zeit, in der Möglichkeit sich befindet ihre Bewegung zu differenziren und dadurch deren ganzen Reichthum zu entfalten, und daß sie vor und nachher in Ewigkeit auf bloße Ortsveränderung beschränkt bleibt - das heißt behaupten daß die Materie sterblich und die Bewegung vergänglich ist. Die Unzerstörbarkeit der Be-

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wegung kann nicht bloß quantitativ, sie muß auch qualitativ gefaßt werden; eine Materie, deren rein mechanische Ortsveränderung zwar die Möglichkeit in sich trägt, unter günstigen Bedingungen in Wärme, Elektricität, chemische Aktion, Leben umzuschlagen, die aber außer Stande ist diese Bedingungen aus sich selbst zu erzeugen, eine solche Materie hat Bewegung eingebüßt; 5 eine Bewegung die die Fähigkeit verloren hat, sich in die ihr zukommenden verschiedneo Formen umzusetzen, hat zwar noch Dynamis, aber keine Energeia mehr, und ist damit theilweise zerstört worden. Beides aber ist undenkbar. Soviel ist sicher: es gab eine Zeit wo die Materie unsrer Weltinsel eine 10 solche Menge Bewegung- welcher Art, wissen wir bis jetzt nicht- in Wärme umgesetzt hatte daß daraus die zu (nach Mädler) mindestens 20 Millionen Sternen gehörigen Sonnensysteme sich entwickeln konnten, deren allmähliges Absterben ebenfalls gewiß ist. Wie ging dieser Umsatz vor sich? Wir wissen es ebenso wenig wie Pater Secchi weiß ob das künftige caput 15 mortuum unsres Sonnensystems je wieder in Rohstoff zu neuen Sonnensystemen verwandelt wird. Aber entweder müssen wir hier auf den Schöpfer rekurriren, oder wir sind zu der Schlußfolgerung gezwungen daß der glühende Rohstoff zu den Sonnensystemen unsrer Weltinsel auf natürlichem Wege erzeugt wurde, durch Bewegungsverwandlungen die der sich be- 20 wegenden Materie von Natur zustehn und deren Bedingungen also auch von der Materie wenn auch erst nach Millionen und aber Millionen Jahren, mehr oder weniger zufällig, aber mit der auch dem Zufall inhärenten Nothwendigkeit, sich reproduziren müssen. Die Möglichkeit einer solchen Umwandlung wird mehr und mehr 25 zugegeben. Man kommt zu der Ansicht daß die Weltkörper die schließliehe Bestimmung haben in einander zu fallen, und man berechnet sogar die Wärmemenge die sich bei solchen Zusammenstößen entwickeln muß. Das plötzliche Aufblitzen neuer Sterne, das ebenso plötzliche hellere Aufleuchten altbekannter, von dem die Astronomie uns berichtet, erklärt sich am 30 leichtesten aus solchen Zusammenstößen. Dabei bewegt sich nicht nur unsre Planetengruppe um die Sonne, und unsre Sonne innerhalb unsrer Weltinsel, sondern auch unsre ganze Weltinsel bewegt sich fort im Weltraum in temporärem, relativem Gleichgewicht mit den übrigen Weltinseln; denn selbst relatives Gleichgewicht freischwebender Körper kann nur bestehn bei 35 gegenseitig bedingter Bewegung; und Manche nehmen an daß die Temperatur im Weltraum nicht überall dieselbe ist. Endlich: wir wissen daß mit Ausnahme eines verschwindend kleinen Theils die Wärme der zahllosen Sonnen unsrer Weltinsel im Raum verschwindet und sich vergeblich abmüht die Temperatur des Weltraums auch nur um ein Milliontel Grad Celsius zu 40 erhöhen. Was wird ausalldieser enormen Wärmequantität? Ist sie für alle

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Zeiten aufgegangen in dem Versuch den Weltraum zu heizen, hat sie praktisch aufgehört zu existiren, und besteht sie nur noch theoretisch weiter in der Thatsache daß der Weltraum wärmer geworden ist um einen Graddecimalbruchtheil der mit zehn oder mehr Nullen anfängt? Diese Annahme 5 läugnet die Unzerstörbarkeit der Bewegung; sie läßt die Möglichkeit zu, daß durch successives Ineinanderfallen der Weltkörper alle vorhandene mechanische Bewegung in Wärme verwandelt, und diese in den Weltraum ausgestrahlt werde, womit trotz aller "Unzerstörbarkeit der Kraft" alle Bewegung überhaupt aufgehört hätte. (Es zeigt sich hier beiläufig wie schief 1o die Bezeichnung: Unzerstörbarkeit der Kraft, statt Unzerstörbarkeit der Bewegung ist.) Wir kommen also zu dem Schluß, daß auf einem Wege, den es später einmal die Aufgabe der Naturforschung sein wird aufzuzeigen, die in den Weltraum ausgestrahlte Wärme die Möglichkeit haben muß in eine andre Bewegungsform sich umzusetzen, in der sie wieder zur Sammlung 15 und Bethätigung kommen kann. Und damit fällt die Hauptschwierigkeit die der Rückverwandlung abgelebter Sonnen in glühenden Dunst entgegenstand. Übrigens ist die sich ewig wiederholende Aufeinanderfolge der Welten in der endlosen Zeit nur die logische Ergänzung des Nebeneinander-Bestehens 20 zahlloser Welten im endlosen Raum- ein Satz dessen Nothwendigkeit sich sogar dem antitheoretischen Yankee-Gehirn Drapers aufzwingt. x) Es ist ein ewiger Kreislauf in dem die Materie sich bewegt, ein Kreislauf der seine Bahn wohl erst in Zeiträumen vollendet für die unser Erdenjahr kein ausreichender Maßstab mehr ist, ein Kreislauf, in dem die Zeit der 25 höchsten Entwicklung, die Zeit des organischen Lebens und noch mehr die des Lebens selbst- und naturbewußter Wesen ebenso knapp bemessen ist wie der Raum in dem Leben und Selbstbewußtsein zur Geltung kommen; ein Kreislauf, in dem jede endliche Daseinsweise der Materie, sei sie Sonne oder Dunstnebel, einzelnes Thier oder Thiergattung, chemische Verbindung 30 oder Trennung, gleicherweise vergänglich, und worin nichts ewig ist als die ewig sich verändernde, ewig sich bewegende Materie und die Gesetze nach denen sie sich bewegt und verändert. Aber wie oft und wie unbarmherzig auch in Zeit und Raum dieser Kreislauf sich vollzieht, wie viel Millionen Sonnen und Erden auch entstehn und vergehn mögen; wie lange es auch 35 dauern mag bis in einem Sonnensystem nur auf Einem Planeten die Bedingungen des organischen Lebens sich herstellen; wie zahllose organische Wesen auch vorhergehn und vorher untergehn müssen ehe aus ihrer Mitte sich Thiere mit denkfähigem Gehirn entwickeln und für eine kurze Spanne Zeit lebensfähige Bedingungen vorfinden um dann auch ohne Gnade aus40

'' The multiplicity of worlds in infinite space Ieads to the conception of a succession of worlds in infinite time. Draper Hist. Int. Devel. II p.

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gerottet zu werden - wir haben die Gewißheit daß die Materie in allen ihren Wandlungen ewig dieselbe bleibt, daß keins ihrer Attribute je verloren gehn kann, und daß sie daher auch mit derselben eisernen Nothwendigkeit, womit sie auf der Erde ihre höchste Blüthe, den denkenden Geist wieder ausrotten wird, ihn anderswo und in andrer Zeit wieder erzeugen muß.

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[87] Die successive Entwicklung der einzelnen Zweige der Naturwissenschaft zu studiren.- Zuerst Astronomie- schon der Jahreszeiten halber, für Hirten wie Ackerbauvölker absolut nöthig. Astronomie kann sich nur entwickeln mit Hülfe der Mathematik. Diese also ebenfalls in Angriff genommen. Ferner auf einer gewissen Stufe des Ackerbaus und in gewissen Gegenden (Wasserhebung zur Bewässerung in Aegypten) und namentlich mit dem Entstehn der Städte, der großen Bauwerke und der Entwicklung der Gewerbe die Mechanik. Bedürfniß- bald auch für Schiffahrtund Krieg.- Auch sie braucht die Hülfe der Mathematik und treibt so zu deren Entwicklung. So schon von Anfang an die Entstehung und Entwicklung der Wissenschaften durch die Produktion bedingt. Eigentl[iche] wissenschaftliche Untersuchung bleibt während des ganzen Altertbums auf diese 3 Fächer beschränkt, und zwar als exacte und systematische Forschung auch erst in der nachklassischen Periode (die Alexandriner, Arehirnedes etc.). In Physik und Chemie, die in den Köpfen noch kaum getrennt (Elementartheorie, Abwesenheit der Vorstellung eines chemischen Elements) in Botanik, Zoologie, Anatomie des Menschen und der Thiere konnte man bis dahin nur Thatsachen sammeln und sie möglichst systematisch ordnen. Die Physiologie war ein bloßes Rathen, sowie man sich von den handgreifliebsten Dingen - Verdauung und Excretion z. B. - entfernte, wie das nicht anders sein konnte, solange selbst die Cirkulation nicht erkannt. -Am Ende der Periode erscheint die Chemie in der Urform der Alchemie. Wenn nach der finstern Nacht des Mittelalters auf Bisher nur einmal die Wissenschaften neu und in ungeahnter Kraft geprahlt was die erstehn, und mit der Schnelle des Mirakels empor- Produktion der wachsen, so verdankten wir dies Wunder wieder - der Wissenschaft Produktion. Erstens war seit den Kreuzzügen die lndu- verdankt, aber

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strie enorm entwickelt und hatte eine Menge neuer die Wissenmechanischer (Weberei, Uhrmacherei, Mühlen) chemi- schaftverdankt scher (Färberei, Metallurgie, Alkohol) und physikali- der Produktion scher Thatsachen (Brillen) ans Lichtgebracht und diese unendlich mehr. 5 gaben nicht nur ungeheures Material zur Beobachtung sondern lieferten auch durch sich selbst schon ganz andre Mittel zum Experimentiren als bisher und erlaubten die Konstruktion neuer Instrumente; man kann sagen daß eigentl[iche] systematische Experimentalwissensch[aft] jetzt erst möglich geworden. Zweitens 10 entwickelte sich jetzt ganz West- und Mitteleuropa incl. Polen im Zusammenhang, wenn auch Italien noch kraft seiner altüberkommenen Civilisation noch an der Spitze stand. Drittens eröffneten die geographischen Entdekkungen- rein im Dienst des Erwerbs, also in letzter 15 Instanz der Produktion gemacht- ein endloses bis dahin unzugängliches Material in meteorologischer zoologischer botanischer und physiologischer (des Menschen) Beziehung. Viertens war die Presse da. Jetzt- von Mathematik Astronomie und Mechanik abgesehn die schon 20 bestanden - scheidet sich die Physik definitiv von der Chemie (Torricelli, Galilei - ersterer in Abhängigkeit von industriellen Wasserbauten studirt zuerst die Bewegung der Flüssigkeiten, s. Clerk Maxwell). Boyle stabilirt die Chemie als Wissenschaft Harvey durch die Entdeckung der Circulation die Physiologie (des Menschen, resp. der Thiere). Zoologie und Botanik bleiben 25 zunächst Sammelwissenschaften bis die Paläontologie hinzutritt - Cüvier - und bald darauf die Entdeckung der Zelle und die Entwicklung der organischen Chemie. Damit vergleichende Morphologie und Physiologie möglich und von da an Beide wahre Wissenschaften. Ende vorigen Jahrhunderts die Geologie gegründet, neuerdings die schlecht so genannte Anthropologie - 30 Vermittlung des Übergangs von Morphologie und Physiologie des Menschen und seiner Racen zur Geschichte. Weiter zu studiren im Detail und zu entwickeln. [95] Hegel Gesch. d. Phil.- Griech. Phil.- (Naturanschauung der Alten) Bd. I. 35 Von den ersten Philosophen sagt Aristoteles (Metaph. 1,3) sie behaupten, "woraus alles Seiende ist, und woraus es als aus dem Ersten entsteht und worein es als in das Letzte zu Grunde geht, das als die Substanz (oucrta) immer dasselbe bleibt und nur in seinen Bestimmungen ( 1tcd}w~) sich ändert, dies sei das Element (cr'to~xei.ov) und dies das Prinzip (apx-iJ) alles Seienden. 40

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Deßhalb halten sie dafür daß kein Ding werde (oiYn: ')'l:yvw'ÖaL ouöev) noch vergehe, weil dieselbe Natur sich immer erhält." p. 198. Hier also schonganz der ursprüngliche naturwüchsige Materialismus, der ganz natürlich in seinem Anfang die Einheit in der unendlichen Mannichfaltigkeit der Naturerschei5 nungenals selbstverständlich ansieht und in etwas bestimmt-Körperlichem, einem Be sondern sucht, wie Thales im Wasser. Cicero sagt: Thales Milesius ... aquam dixit esse initium rerum, Deum autem eam mentem quae ex aqua cuncta fingeret. De Nat. Deor. I, 10. H. erklärt dies ganz richtig für einen Zusatz des Cic. und fügt hinzu: "allein 10 diese Frage ob Thales noch außerdem an Gott geglaubt, geht uns hier nichts an, es ist nicht von Annehmen, Glauben, Volksreligion die Rede ... Und ob er von Gott als dem Bildner aller Dinge aus jenem Wasser gesprochen, so wüßten wir damit nichts mehr von diesem Wesen ... es ist leeres Wort ohne seinen Begriff." 209. (ca. 600) 15 Die ältesten griechischen Philosophen gleichzeitig Naturforscher: Thales Geometer, bestimmte das Jahr auf 365 Tage, soll eine Sonnenfinsterniß vorhergesagt haben.- Anaximander machte eine Sonnenuhr, eine Art Karte (m:pLIJ..E'tpov) des Landes und Meeres, und verschiedne astronomische Instrumente - Pythagoras Mathematiker. 20 Anaximander aus Milet läßt nach Plutarch Quaest. convival. VIII, 8 "den Menschen aus einem Fisch werden, hervorgehn aus dem Wasser auf das Land". 213. Für ihn die &px-i) xal. 1~ d3lt.D

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